Wollen und Wert: Versuch der systematischen Grundlegung einer psychologischen Motivationslehre 9783111578118, 9783111205601

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Wollen und Wert: Versuch der systematischen Grundlegung einer psychologischen Motivationslehre
 9783111578118, 9783111205601

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Grundlegende definitorische Bestimmungen
Hauptteil. Zur Phänographie von "Wollen und "Wert
A. Einführung
B. Phänographische Analyse der Ziele des Wollens
C. Die Begründung der Ziele des Wollens
D. Spezielle Probleme einer psychologischen Motivationslehre
Literaturverzeichnis
Namenverzeichnis
Sachverzeichnis

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Peter Keiler • Wollen und Wert

Peter Keiler

Wollen und Wert Versuch der systematischen Grundlegung einer psychologischen Motivationslehre

Mit einem Vorwort von Klaus Holzkamp

Walter de Gruyter & Co. Berlin 1970

D 188 Archiv-Nummer 3011 701

©

1970 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . GÖschen'sche Verlags Handlung — J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J . Trübner — Veit & Comp., Berlin 30 Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Budi oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Spiller, 1 Berlin 36

Vorwort Weite Bereiche der psychologischen Motivationslehre — wie der Psychologie überhaupt — sind heute durch eine immer fortschreitende Partikularisierung und Sinnentlehrung theoretischer Ansätze und damit Anhäufung mehr oder weniger isolierter, unüberschaubarer und bedeutungsloser Einzelbefunde gekennzeichnet. Der Rückbezug psychologischen Theoretisierens auf das alltägliche Vorverständnis menschlicher Angelegenheiten und damit auf das, was uns als Menschen in je besonderer historisch-gesellschaftlicher Lage angeht, wird in immer geringerem Maße vollzogen; ebenso unterbleibt in programmatischer, szientistisdier Philosophie-Feindlichkeit das radikale Fragen nach den Grundlagen des eigenen Denkens und damit die Aufdeckung der wissenschaftslogischen Struktur und der historisch vermittelten methodologischen und inhaltlichen Eigenart psychologischer Forschung, wie sie sich heute vorfindet. Gründe dafür liegen etwa in einer besonderen Art von Methoden-Fetischismus, durch welchen die „Exaktheit" der Forschungsverfahren im Kontext einer eingeengten Meß- und Prüfmethodik der Bedeutsamkeit der Forschungsinhalte vorgeordnet ist wie auch in einer Tendenz zur Reduktion psychologischen Theoretisierens auf bloß mathematische und/oder physiologischbiologische Konzepte, durch welche der „Mensch" zum „Organismus" umdefiniert wird und der umfassendere Blick auf menschliches Leben verlorengeht. Peter Keilers Abhandlung über „Wollen und Wert" ist im Zusammenhang der Versuche zu sehen, die Psychologie — in diesem Falle spezieller die psychologische Motivationslehre — aus dem beschriebenen Irrweg herauszuführen. Der Verfasser bemüht sich darum, die Motivationslehre, ausgehend vom alltagstheoretischen Vorverständnis der Motivation, von Grund auf neu zu durchdenken und auf diese Weise zu einer Begriffssystematik zu gelangen, die einen möglichst unverkürzten und unverzerrten Blick auf die mannigfaltigen motivationalen Bedingtheiten menschlichen Handelns und darüberhinaus der Aktivitäten anderer Lebewesen möglich macht. Weiter wird der Versuch unternommen, die philosophischen und weltanschaulichen Voraussetzungen herrschender Motivationstheorien aufzuzeigen, wobei es zu einer kritischen Auseinandersetzung und teilweise scharfen Zurückweisung bestehender motivationstheoretischer Ansätze kommt. Schließlich entwickelt Keiler eine eigene motiva-

V

tionstheoretisdie Konzeption, deren Tragfähigkeit er sowohl durch wissenschaftslogische Analyse wie durch eine Reinterpretation einer Vielzahl vorliegender motivationspsychologischer Experimente erprobt. Grundlage für die phänographischen Analysen des Verfassers ist die — in der Psychologie bisher weitgehend vernachlässigte — Dinglersche Unterscheidung zwischen „Autopsychologie" (Psychologie von je mir) und „Allopsychologie" (Psychologie von den anderen). Keiler kann aufweisen, daß grundlegende psychologische Konzepte unterschiedlich phänographisch gefaßt werden müssen, je nachdem, ob das autopsychologische oder das allopsychologische Bezugssystem thematisiert ist, und kommt auf diese Weise zu sehr erhellenden und sinnvollen Unterscheidungen, wie der Unterscheidung zwischen „Personhaftigkeit" und „Person", „Zustand" und „Zuständlichkeit", „Befindung" und „Befindlichkeit". Auf Grund solcher Analysen ist der Verfasser — in späteren Partien seiner Arbeit — in der Lage, unter Thematisierung des allopsychologischen Bezugssystems phänographische Konzepte auch auf tierpsychologische Befunde anzuwenden, ohne dabei in biologistische Betrachtungsweisen oder naiv-anthropomorphisierende Konzepte abzugleiten. Basis der Keilerschen Konzeption sind die Begriffe „Wert" und „Wollen". Nachdem er den Begriff „Norm" genauer expliziert hat, kommt er zum Aufweis der zentralen Stellung der „Willentlichkeit" als notwendiger Ausprägung der Eigenart menschlichen Seins und damit zu einer Relativierung des „Trieb"-Konzeptes in seiner anthropologischen Relevanz. Der Verfasser weist auf, daß die bewußtseinstranszendente Verankerung von Trieben auf naiv-metaphysisdien Hypostasierungen beruht und daß weder der Rückgriff auf „Arterhaltung" noch auf „Selbsterhaltung" zur Kennzeichnung spezifisch menschlicher Weisen des Wollens geeignet ist. Nach kritischer Zurückweisung der traditionellen „Trieblehren" in ihren verschiedenen Ausprägungen ersetzt Keiler das gebräuchliche Konzept bewußtseinstranszendenter „Triebe" durch sein Konzept bewußtseinsimmanenter „Willensziele", wobei davon ausgegangen wird, daß das Ziel willentlichen Verhaltens die Verwirklichung von „Werten" sei. Werte werden dabei als alltagstheoretische Konzepte dargestellt, die durch die Willentlichkeit menschlichen Verhaltens auf Realisierung drängen; das Problem der Operationalisierbarkeit von Wertkonzepten und der Widerstände, die einer Wertverwirklichung entgegenstehen können, wird diskutiert. Bei dem Versuch einer Systematisierung der Willensziele kommt der Verfasser u. a. zu der Unterscheidung zwischen „Zustandswerten", „Personwerten" und „Fremdwerten", wobei die Herleitung der Unterscheidungsgesichtspunkte stets in Auseinandersetzung mit andersgerichteten VI

Ansätzen erfolgt und weitere subtile begriffliche Differenzierungen vorgenommen werden. Sodann wird das Problem der Begründung der Ziele des Wollens diskutiert, wobei der Verfasser zu einer Zurückweisung sowohl des Wertempirismus wie des Wertabsolutismus als eines „metaphysischen Normativimus" gelangt, indem er zeigt, daß Wertempirismus wie Wertabsolutismus auf unbefragten und unhaltbaren sensualistischen Positionen basieren. Keiler kommt von da aus zu einer weiteren Auswickelung seiner eigenen Position, indem er darlegt, daß der Mensch nicht lediglich irgendwie vorgegebene Werte „erleidet", sondern als aktives und freies Individuum selbst Wertsetzungen vollzieht, wobei dieses Setzen von Werten weder empiristisch noch absolutistisch voll verständlich gemacht werden kann. In einem Exkurs über „Wissenschaft als Wert" veranschaulicht Keiler sodann die Tragfähigkeit seines Ansatzes, wobei exemplarisch die Problematik der Letztbegründung von Willenszielen abgehandelt wird. Auf der Grundlage der voluntaristisch-konstruktivistischen Wissenschaftslehre (Dingler, May, Holzkamp), wird als das „Letzte" in der Wissenschaft der „Wille zur Eindeutigkeit" definiert. Keiler geht dabei in einem wesentlichen Punkt über den Ansatz etwa von Holzkamp (1968) hinaus, indem er fordert, daß im Falle der Realisation einer Theorie die die Realisation möglicherweise behindernden störenden Bedingungen nicht anonym bleiben dürfen ( „ . . . falls keine störenden Umstände vorliegen"); vielmehr soll aus der Theorie ableitbar sein, welche störenden Bedingungen den Effekt verhindern können. Schließlich soll nicht nur nachgewiesen werden, daß unter Herstellung der konstituierenden Bedingungen der erwartete Effekt eintritt, sondern auch, daß bei Einführung der in der Theorie angesprochenen störenden Bedingungen der Effekt n i c h t eintritt. Durch diese Ausweitung des konstruktivistischen Ansatzes schafft Keiler die Möglichkeit, über die nomothetisch-ahistorische Forderung der Herstellung von „reinen Fällen" hinaus in psychologischem Theoretisieren und Experimentieren zur Berücksichtigung der konkreten historisdigesellschaftlidien Lage von Individuen, die bisher als Inbegriff von „Störbedingungen" ausgefiltert wurde, zu kommen. Mit den bei der Analyse des Wertes „Wissenschaft" gewonnenen Begriffen bemüht sich der Verfasser um eine formale Begründung der Werte. Die formale Grundlage aller Werte ist für ihn der „Wille zum Wollen" In diesem Zusammenhang wird die Frage nach der Begründbarkeit einer „Freiheit des Willens" erörtert; dabei kommt Keiler zu der Auffassung, daß das Problem der Freiheit des Willens sich nur auf den Willen zum Wollen beziehen kann, da jedes einzelne konkrete Wollen stets durch den Willen zum Wollen begründet sei. Da die Begründung einer Freiheit des

vn

Willens immer nur unter Anerkennung des Eindeutigkeitsprinzips erfolgen könne, der Wille zum Wollen aber dem Willen zur Eindeutigkeit notwendigerweise logisch vorgeordnet sei, ist nadi Keilers Auffassung das Problem der Freiheit des Willens einem Denken, das sich den Prinzipien der klassischen Logik verpflichtet fühlt, grundsätzlich nicht zugänglich. In den weiteren Partien der Arbeit wird die entwickelte Konzeption auf spezielle Probleme der psychologischen Motivationslehre angewendet, wobei — unter Hinzuziehung zahlreicher Befunde experimenteller Untersuchungen — Konzepte wie „Appetenz-Aversions-Konflikt„sentiment", „Bedürfnis", „Motiv", „Vornahme" reinterpretiert und in einen neuen systematischen Zusammenhang gebracht werden. Im Kontext des Problems der Vereitelung von Wertverwirklichungen diskutiert Keiler abschließend auf der Grundlage seines Ansatzes Konzeptionen wie „Frustration" und „Aggression", „Regression", „Sublimierung", „Substitute response", etc. Die vorliegende Abhandlung Peter Keilers scheint mir den Charakter eines „Zwischenschrittes" zu haben: Die fragwürdigen Positionen der traditionellen positivistischen Motivationslehre mit ihren biologistischen Unterstellungen, ihren restriktiven Ideologemen über den Menschen als „Organismus" und ihrer Unfähigkeit oder Unwilligkeit, nicht nur das „Wie", sondern auch das „Wozu" motivationspsychologischer Forschung umfassend zu problematisieren, sind eindeutig verlassen. Andererseits ist jedoch das Ziel der Entwicklung einer kritisch-psychologischen, auf gesellschaftliche Praxis und die Verbesserung menschlicher Lebensverhältnisse gerichteten Motivationskonzeption hier keineswegs schon erreicht; Keiler ist zum Teil noch zu sehr „Letztbegründungs"-Bemühungen verhaftet und vernachlässigt dabei gelegentlich die Analyse der konkreten historisch-gesellschaftlichen Bedingtheiten des Zustandes und der Veränderungen der Motivationspsychologie. Die Frage, welchen Interessen Motivationsforschung dient und dienen sollte, wird nicht deutlich genug diskutiert und der Verfasser kommt daher auch kaum zu einer kritischdialektischen Reflexion des historischen Stellenwertes seines eigenen Ansatzes. Dabei ist allerdings einzuräumen, daß die Lösung der Motivationspsychologie aus ihrer positivistischen Selbstbegrenzung und ihre Bèfreiung zu praxisbezogener, gesellschaftsrelevanter Forsdiung wohl kaum „in einem Sprung" erreicht werden kann. Mit der Keilersdien Abhandlung sind jedoch unerläßliche Voraussetzungen für alle weitergehenden Bemühungen um eine kritisch-psychologische Motivationslehre geschaffen; die Horizonte einer zukünftigen Psychologie vom „wirklichen, lebendigen Menschen" als potentiellem Subjekt seiner Biographie und Geschichte haben sich verdeutlicht. Berlin-Steglitz im November 1969 vni

Klaus Holzkamp

Inhaltsverzeichnis Vorwort

5

Einleitung: Grundlegende definitorisdie Bestimmungen

i

i . Vorbetrachtung

I

Idi und Welt i

Person und Zuständlichkeit i

2. Personhaftigkeit und Person

2

Unterscheidung zwischen „Psychologie von den anderen" (Allopsychologie) und „Psychologie v o n mir" (Autopsychologie) 2 Die Methode der A u t o p s y chologie 3 D i e Methode der Allopsychologie mit dem Gegenstand „vorwissenschaftliche Psychologien v o n mir" 3 Unterscheidung zwischen Person und Personhaftigkeit im Rahmen einer Allopsychologie mit dem Gegenstand „ P s y chologie von mir" j D i e „Soseinslage" der Person oder der Personhaftigkeit 6

3. Zustand und Zuständlichkeiten

7

D e r systematische O r t von Zustand und Zuständlichkeit 7 Phänographische Kennzeichnung der Zuständlichkeiten (Unterscheidung zwischen Gefühlen und Leiblichkeitsempfindungen) 8 Zuständlichkeiten als Erlebnisletztheit 8 U n terscheidung zwischen „angenehmen" und „unangenehmen" Zuständlichkeiten 10 „Lust — Unlust" in ihrer Unterordnung zu „angenehm — unangenehm" 11 Operationale Kennzeichnung von angenehmen und unangenehmen Zuständlichkeiten 12

4. Befindung und Befindlichkeit

14

D e r systematische O r t von Befindung und Befindlichkeit 14 Befindlichkeit als über Befindung hinausgehend 14 Grundsätzliches zur Tierpsychologie 15 D e r systematische O r t v o n Befindlichkeit in der Autopsychologie und in der Allopsychologie mit dem Gegenstand „Psychologien v o n mir" 16

Hauptteil

Zur Phänographie von "Wollen und Wert A. Einführung 1. Werte und Normen als Verhaltensauslösung und -Steuerung . . . . Die Zielgerichtetheit des Verhaltens 17 Trieb" 18

Gegenüberstellung von

17

„ Z i e l " und

Gegenüberstellung von „ N o r m " und „ W e r t " 18

IX

2. Normen

19

Begriffslogische B e s t i m m u n g e n 19 N o r m e n s o w o h l in sprachlich p o s i t i v e r w i e sprachlich n e g a t i v e r F o r m m ö g l i c h 20 D i e O p e r a t i o n a l i s i e r b a r k e i t v o n N o r men u n d ihre V e r w i r k l i c h u n g 21 „ R e a l e " und „ i r r e a l e " N o r m e n 22 Die „ p a s s i v e n " u n d „ a k t i v e n " W i d e r s t ä n d e g e g e n die V e r w i r k l i c h u n g v o n N o r m e n 22

B. Phänographische Analyse der Ziele des Wollens I. Abhebung des Wollens von den „Trieben" 1. Das Wollen

24

W i l l e n t l i c h k e i t als n o t w e n d i g e A u s p r ä g u n g der E i g e n a r t menschlichen Seins 24 P h ä n o g r a p h i s c h e A n a l y s e d e s W o l l e n s u n d G e f a l l e n s I 24 Phänographische A n a l y s e des W o l l e n s u n d G e f a l l e n s I I 26 D a s P r o b l e m d e r W i l l e n s f r e i h e i t 26

2. Die Triebe

28

NIETZSCHES „ p h y s i o l o g i s c h e W i l l e n s m e t a p h y s i k " 28 G e m e i n s a m k e i t e n der unterschiedlichen T r i e b l e h r e n 29 Biologisch-physiologische K e n n z e i c h n u n g der T r i e b e und ihrer „ Z w e c k e " 30 R e p r ä s e n t a t i o n d e r T r i e b e i m B e w u ß t sein 31 Unterscheidung zwischen „monothematischen", „polythematischen" u n d „ a t h e m a t i s c h e n " T r i e b l e h r e n 32

3. Kritik der Trieblehren

33

K r i t i k des m o n o t h e m a t i s c h e n A n s a t z e s unter Berücksichtigung der FREUDschen m o n o t h e m a t i s c h e n T r i e b l e h r e 33 K r i t i k der p o l y t h e m a t i s c h e n T r i e b lehren 35 Methodische S c h w i e r i g k e i t e n d e r athematischen T r i e b l e h r e n 3 6 „ N a h r u n g s t r i e b " v s . „Scheuen v o n U n l u s t " bei SCHWARZ 37 V e r m e i d u n g v o n unangenehmen Zuständlichkeiten und Realisation v o n angenehmen Zuständlichkeiten als Z i e l e menschlichen V e r h a l t e n s 38 Koppelung von physiologischen S o l l z u s t ä n d e n u n d a n g e n e h m e n und u n a n g e n e h m e n Z u s t ä n d l i c h k e i t e n 39 Elektrische H i r n r e i z u n g u n d Z u s t ä n d l i c h k e i t e n 41 „ L a s t e r " u n d „ S ü c h t e " vs. „ A r t e r h a l t u n g " 44 K r i t i k der A n n a h m e einer „ p r ä s t a b i l i e r t e n H a r m o n i e " bei KRAFT 45 K ö r p e r l i c h e E r f o r d e r n i s s e u n d Z u s t ä n d l i c h k e i t e n 47 A u s b l i c k a u f den H e d o n i s m u s 48

II. Die Willensziele 1. Werte und Wertgegenstände V e r w i r k l i c h u n g v o n W e r t e n als Z i e l w i l l e n t l i c h e n V e r h a l t e n s 49 Unterscheid u n g zwischen W e r t u n d W e r t g e g e n s t a n d 49 D i e logische O r d n u n g v o n W e r t u n d W e r t g e g e n s t a n d 50 N i c h t W e r t e , sondern ihre V e r w i r k l i c h u n g e n sind G e g e n s t a n d des W o l l e n s 50 Begriffslogische B e s t i m m u n g e n über die V e r w i r k lichung v o n W e r t e n (in A n l e h n u n g a n SCHELER) J I D i e O p e r a t i o n a l i s i e r b a r k e i t v o n W e r t e n u n d die W i d e r s t ä n d e , die einer W e r t v e r w i r k l i c h u n g e n t gegenstehen 52 „ G ü t e r " , „ Ü b e l " u n d „ w e r t n e u t r a l e " G e g e n s t ä n d e 54 A u s b l i c k auf d i e inhaltliche A n a l y s e d e r W i l l e n s z i e l e 5 j

X

49

2. Zustandswerte

56

A u s d e h n u n g der erarbeiteten Begriffe a u f die Tierpsychologie — Kennzeichnung v o n angenehmen und unangenehmen Zuständlidikeiten als G ü t e r und Ü b e l 56 N i c h t r ü c k f ü h r b a r k e i t des Wertcharakters v o n angenehmen und unangenehmen Zuständlidikeiten 57 Unterscheidung zwischen „ e x t r e m e n " und „ g e m ä ß i g t e m " Hedonismus 59 D i e Bezogenheit v o n „ S p i e l " auf angenehme Zuständlidikeiten 60 Funktionslust 63 V o r l ä u f i g e Z u r ü c k w e i s u n g des hedonistischen Anspruches auf universelle G ü l t i g k e i t 63

3. Person werte

64

„ P e r s o n " als Gegenstand des W o l l e n s 64 Soseinslage und P e r s o n w e r t („erh ö h t e " und „ v e r m i n d e r t e " Soseinslagen) 65 Phänographisdie Kennzeichnung der „ e r h ö h t e n " Soseinslage einer Person 68 A u s d e h n u n g des P e r s o n w e r t begriffes auf die Tierpsychologie 69 Personenwert vs. „Selbst"- und „ A r t e r h a l t u n g " 7 1 K r i t i k der Ontologisierung des Selbst- und A r t e r h a l t u n g s p r i n zips 73 Selbsterhaltung als P e r s o n w e r t 75 D e r „ W i l l e z u r M a c h t " bei ADLER 75 K r i t i k des universellen Machtwillens bei NIETZSCHE durch SCHWARZ 7 6

„Personwerte"

bei JUNG, ROGERS u n d

ßendes z u m Begriff d e r Personwerte 79 Personwerten als „ E i g e n w e r t e " 80

MASLOW

78

Abschlie-

Kennzeichnung v o n Zustands- u n d

4. Fremdwerte

8r

E i n f ü h r u n g der F r e m d w e r t e 81 rien

(SPENCER,

STIRNER,

Auseinandersetzung mit den E g o i s m u s - T h e o -

NIETZSCHE)

und

ihre

Zurückweisung

81

Hinweis

auf die bisher unzureichende Bestimmung des Wertbegriffs 84 Unterscheidung v o n „ i n d i v i d u e l l e n " und „ ü b e r i n d i v i d u e l l e n " W e r t e n 8 j D i e F r a g w ü r d i g k e i t der Begriffsbestimmung v o n „ A l t r u i s m u s " bei SCHWARZ 86 Eigene U n t e r scheidung zwischen „altruistischen" u n d „inaltruistischen" W e r t e n 88 G r e n z f ä l l e 90 Inhaltliche A n a l y s e altruistischen und inaltruistischen W o l l e n s 91 K r i t i k der KRAFTsdien Thesen über Genese und B e g r ü n d u n g der F r e m d w e r t e 92 Inaltruistisches W o l l e n — D a s „Böse" 96 Z u m „Bereich" d e r F r e m d w e r t e 99 D e r systematische O r t der F r e m d w e r t e 100

5. Unverbindliche Werte

101

E i n f ü h r u n g d e r unverbindlichen W e r t e 101 U n v e r b i n d l i c h e r W e r t und „ T a u s c h w e r t " 102 Indirekter Einfluß v o n unverbindlichen W e r t e n auf das V e r h a l t e n 103 Abschließende Bemerkungen 104

6. Die Vollständigkeit der Willensziele

104

D i e V o l l s t ä n d i g k e i t der v o r g e n o m m e n e n Kategorisierungen 104 Obersicht I I I 105 Ausblick auf die O n t o l o g i e der W e r t e 106

Tabellarische

C. Die Begründung der Ziele des Wollens 1. Das Problem der Seinsverankerung der Werte

107

D i e historischen A n f ä n g e der allgemeinen Wertlehre 107 Apriorität

d e r W e r t e (SCHWARZ, M E I N O N G , SCHELER)

absolutismus"

109

Der

psychologisch

ausgerichtete

D i e Frage nach der

108

SCHELERS

„Wert-

Wertempirismus

110

XI

„Wertabsolutismus" als „metaphysischer Normativismus" und seine Zurückweisung im Rahmen unserer Wertlehre 1 1 2 Zurückweisung der Ansprüche des Wertempirismus 1 1 4 Aufweis der sensualistischen Grundlagen des Wertempirismus und des metaphysischen Normativismus — Eigener Ansatz 1 1 4

2. Wissenschaft als Wert

116

„Theorien" als Gegenstände des Wertes „Wissenschaft" 1 1 6 Integration und Integrationsgrad 1 1 7 Realisation und Realisationsgrad — Exhaustion 1 1 8 Die Verwirklichung des Wertes „Theorie" in Jetzt-und-Hier-Aussagen 120 Das Problem der „Wahrheit" von Jetzt-und-Hier-Aussagen 1 2 1 Begründung von Jetzt-und-Hier-Aussagen durch systemtranszendente Widerspruchsfreiheit 122 Die systembedingte Begründung von Jetzt-und-Hier-Aussagen 126 Begründung des Wertes „Wissenschaft" durch den „Willen zur Eindeutigkeit" (DINGLER)

127

3. Die Begründung der Werte

131

Übernahme der f ü r den Wert „Wissenschaft" gewonnenen Begriffe in die allgemeine Wertlehre 1 j 1 Der „Wille zum Wollen" als formale Grundlage aller Werte 1 3 3 Freiheitsbewußtsein und „existentielle" Angst 136 Das Wollen und das „Nichts" 138 Die Verknüpfung von mittelbaren und unmittelbaren Werten durch Lernen 139 ALLPORTS „Prinzip der funktionellen Autonomie der Motive" 142 Das Problem der Reduktion auf möglichst wenige unmittelbare Werte 144 Eigener systematischer Ansatz 146 Rückblick 147

D. Spezielle Probleme einer psychologischen Motivationslehre 1. Das individuelle Wertsystem

148

Der systematische Ort des individuellen Wertsystems — einige begriffliche Implikationen 148 Die Dimensionen des Wollens 150 Die Sattheit des Gefallens 152 Die Stärke des Gefallens 155 Einführung des Konfliktbegriffs 157 Unmöglichkeit des Konflikts bei nur einem einzigen unmittelbaren Wert 160 Experimentelle Ansätze zum Problem des Appetenz-Aversions-Konflikts 1 6 1 Andere Konfliktarten 164 Die Überwindung von Konflikten und die Folgen mißglückter Konfliktüberwindung 167 Determiniertheit des Verhaltens und Willensfreiheit 170

2. Die Werthaltungen

172

Werthaltung als Disposition zu Wertungen 172 MURRAY ec MORGAN 1 7 3

Der Begriff „sentiment" bei

A b h e b u n g des W e r t h a l t u n g s b e g r i f f s v o m B e g r i f f

„sentiment" 174 Begriffslogische Bestimmung von Werturteilen 175 Werturteil und Werthaltung 177 Begriffslogische Bestimmung von Stellungnahmen 179 Stellungnahme und Gefallen 180 Methodische Implikationen der Annahme einer Verknüpfung von Stellungnahmen und Gefallen 181 Begriffslogische Bestimmung von Bedürfnissen 183 Bedürfnis und Streben 184 „Günstige" Gelegenheiten in ihrer Auswirkung auf Bedürfnisse 185 Die „objektive" Erfassung von Bedürfnissen 186 „Bedürfnis", „Motiv" und „Vornahme" („Vorsatz") 188

XII

3 . V e r w i r k l i c h u n g u n d V e r e i t e l u n g der V e r w i r k l i c h u n g v o n W e r t e n Die Bewertung von Bedürfnissen 189 „Befriedigung", „Aufschub" und „ A u f hebung" von Bedürfnissen 190 „Belohnung" und „Strafe" 192 Die Wandlung des Wollens und Gefallens nach der Bedürfnisbefriedigung 193 „Frustration" und „Aggression" 197 Der Begriff „substitute response" bei

189

DOLLARD et al. 200 „ R e g r e s s i o n " und „ S u b l i m i e r u n g " (FREUD) VS. „substitute response" (DOLLARD et al.) 2 0 1 „ E r s a t z e r l e d i g u n g e n " (LEWIN) 203 Eigene

Begriffsbestimmungen 205

Literaturverzeichnis Namenverzeichnis Sachverzeichnis

Das „Ideal" der Spannungsfreiheit 207

209 216 218

x m

Allein in dieser fundamentalen Entscheidung, ob wir unsere Willentlichkeit wollen oder ob wir sie nicht wollen, ob wir wollende Person oder willenloses Objekt sein wollen, liegt aber die Freiheit des Willens, aus der sich alle übrigen Freiheiten ableiten.

Einleitung Grundlegende definitorische Bestimmungen i. V o r b e t r a c h t u n g Ich und Welt Das sich der Welt und seiner selbst bewußte Ich ist in jedem Augenblick seiner Existenz nicht nur einfach „da", sondern es erlebt sich selbst als irgendwie „befindlich". Befindlichkeit schließt neben dem kognitiven Gegebensein der eigenen Identität, Individualität, zeitlichen Konsistenz und dem Erscheinen für andere das Erlebnis des sich stets in einem bestimmten (wenn auch möglidierweise wechselnden) Zustand Befindens sowie auch die Möglichkeit der Stellungnahme und des Verhaltens zur eigenen Existenz und den Gegebenheiten der Welt „außer mir" ein 1 .

Person und

Zuständlichkeit

Ein Individuum, das sich selbst in seinem Erleben, Verhalten und Erscheinen für andere als identisch, individuell und zeitlich konsistent „hat", bezeichnen wir als „Person". Sofern nicht zu entscheiden ist, ob ein Individuum sich selbst in seinem Erleben, Verhalten und Erscheinen für andere als identisch, individuell und zeitlich konsistent „hat", man sein Verhalten und Erscheinen jedoch als individuell und zeitlich konsistent kategorisieren kann und sich „Erleben" zur besseren Integration und Erklärung des Verhaltens als „ h y p o t h e t i c a l c o n s t r u c t " (vgl. MACCORQUODALE &

MEEHL

1948)

einführen läßt, kann dem in Frage stehenden Individuum „Personhajtigkeit" zugesprochen werden. Die Kennzeichnung eines Individuums von außen als „Person" setzt zunächst „Personhaftigkeit" dieses Individuums voraus. 1

1

W i r befinden uns damit, soweit w i r sehen, in gewisser Hinsicht in Obereinstimmung s o w o h l mit dem HEiDEGGERsdien Daseinsbegriff (HEIDEGGER 1967) als a u d i mit dem Begriff der „ P o s i t i o n a l i t ä t " bei KIRCHHOFF ( 1 9 5 7 ) . Keller, Wollen

I

Eine ähnliche Gegenüberstellung wie die von „Person" und „Personhaftigkeit" läßt sich auch bezüglich des Zustandsbegriffes vollziehen, und zwar ordnen wir den „Zustand" eines Individuums seiner Personhaftigkeit zu, seine „Zuständlichkeiten" hingegen seiner Person. Die Unterscheidung von „Zuständlichkeit" und „Zustand" mit den sich daraus ergebenden psychologischen Implikationen und Konsequenzen wird für uns später noch interessant werden, wenn unsere Überlegungen weiter fortgeschritten sind.

2. P e r s o n h a f t i g k e i t u n d P e r s o n Unterscheidung zwischen „Psychologie von den anderen" (Allopsychologie) und „Psychologie von mir" (Autopsychologie) Die Unterscheidung zwischen Person und Personhaftigkeit sowie Zuständlichkeit und Zustand entspringt einer psychologisch-methodischen Grundhaltung, die durch die Gegenüberstellung zweier Aspekte gekennzeichnet ist: auf der einen Seite die „Psychologie von mir" (Autopsychologie), auf der anderen die „Psychologie von den anderen" (Allopsychologie). Beide Begriffe wurden von dem Naturphilosophen H U G O D I N G L E R in die Wissenschaftssprache eingeführt ( D I N G L E R 1 9 1 3 ) . „Psychologie von mir" befaßt sich stets mit je „meinem" Erleben und je „meinem" Verhalten, wohingegen „Psychologie von den anderen" stets das Erleben und Verhalten der je „anderen" zum Gegenstand wissenschaftlichen Bemühens hat2. Die „Demonstration" einer Zuständlichkeit durch Aufzählung der von mir als konstituierend erlebten Bedingungen zum Zwecke der Kommunikation (vgl. S. 9, 13) wäre z . B . ein Verfahren, das wir mit D I N G L E R als zur „Psychologie von mir" gehörig rechnen würden ( D I N G L E R 1 9 1 3 , S. 135). Die Erfassung des auf eine angenehme Zuständlichkeit gerichteten Verhaltens eines Individuums wäre dementsprechend ein Verfahren der „Psychologie von den anderen", wie wir sie in Abweichung von D I N G L E R definieren. a

Wir gebraudien den Begriff der „Allopsychologie" im Rahmen unserer Untersuchung in einem von der Definition DINGLERS abweichenden Sinne. Für DINGLER ist die Allopsychologie nämlich Teil der umfassenderen Physiologie und erfordert letzlidi biologisch-physiologisdie Meßmethoden, für uns besteht der Gegenstand der Allopsychologie hingegen ausschließlich aus Vorgängen und Zuständen, die psychologischen Meßmethoden zugänglich sind. Als psychologische Meßmethode gilt uns die Erfassung des Verhaltens des jeweiligen in Frage stehenden Individuums. Dieses Verhalten kann mit „hypothetical constructs" in Beziehung gesetzt werden, die etwas anderes als Verhalten sind und dem erfaßten Verhalten entweder als mittelbare oder unmittelbare Ursache oder mittelbare oder unmittelbare Folge „attribuiert" (HEIDER) werden können (z. B. Erfassung der „Angst" durch die „manifest anxiety scale" von TAYLOR

2

1953).

Die Methode der

Autopsychologie

Im Rahmen einer „Psychologie von mir" können nicht nur phänographisdie Aussagen (Identifikation und Kategorisierung bestimmter Erlebnisse und Verhaltensweisen bei je „mir") getroffen werden, wodurch ein intersubjektiver Vergleich zwischen einzelnen „Psychologien von mir" möglich wird, sondern es sind auch „Attributionen" möglich, die Erlebnisse und Verhaltensweisen in Grund-Folge-Beziehungen bringen. „Die kausale Verknüpfung spielt eine große Rolle auch bei der Autopsychologie. Man ist vielleicht krank, und ein kleiner Anlaß bringt eine relativ zur Bedeutung des Anlasses starke seelische Erregung hervor. Man meint zunächst, dieser Anlaß sei der einzige ,Grund' der Erregung, während man später sieht, daß wesentlich das Kranksein als ,Ursache' mitwirkte. Also logisch-kausale Konstruktion, die der Täuschung ausgesetzt ist" ( D I N G L E R 1 9 1 3 , S. 1 4 3 ) . Jedoch ist ein solches System von Beziehungen kein allgemeingültiges, da es ja prinzipiell nur für denjenigen gilt, der es aufstellt. Die „Psychologie von mir" ist also im strengen Sinne eine phänomenal-biographische "Wissenschaft. Nun können jedoch all jene Vorgänge, die wir als zur „Psychologie von mir" gehörig kennzeichnen, anderen zum Gegenstand ihres wissenschaftlichen Interesses werden; dadurch wird die „Psychologie von mir" zum Gegenstand einer „Psychologie von den anderen", und da prinzipiell jede „Psychologie von mir" zum Gegenstand einer „Psychologie von den anderen" werden kann, sind ganz allgemein „Psychologien von mir" ein möglicher Gegenstand einer „Psychologie von den anderen".

Die Methode der Allopsychologie mit dem Gegenstand liche Psychologien von mir"

„vorwissenschaft-

Wenn wir nun den Begriff der Autopsychologie erweitern und ihm nicht nur das Identifizieren, Kategorisieren und das Aufstellen von Grund-Folge-Beziehungen von Erleben und Verhalten bei je „mir" subsumieren, sofern es durch einen Psychologen in wissenschaftlicher Absicht geschieht, sondern auch das „naive", vorwissenschaftliche A u f stellen von „Theorien" über je „mich" und „mein" Funktionieren, wie es im Alltag ständig geschieht, darunter verstehen, so kommen wir zu einer weiteren Unterscheidung: Wir unterscheiden zwischen einer „eigentlichen Psychologie von mir" und einer „vorwissenschaftlichen Psychologie von mir". Auch „vorwissenschaftliche Psychologien von mir" können zum Gegenstand einer „Psychologie von den anderen" werden. Damit haben wir genau den Gegenstand unserer Bemühungen im Rahmen des ersten Teils dieser Untersuchung definiert. Denn wenn wir 1*

3

von „Wertgegenständen" und „Willenszielen" in ihrer Beziehung zum Verhalten des Individuums sprechen, so kommt es uns dabei nicht auf „reale" Beziehungen an, sondern auf Beziehungen, die das in Frage stehende Individuum selbst setzt. Verknüpfungen innerhalb eines je individuellen Lebensraumes, die sich auf eigenes Verhalten und seine Ziele beziehen, gehören aber gemäß unserer Definition in den Bereich „vorwissenschaftlicher Psychologie von mir", zumal wenn sie nicht als gegeben hingenommen werden, sondern infolge eines kognitiven Aktes des Individuums gesetzt werden. Wie ist nun unsere psychologische Methode zu kennzeichnen? „Vorwissenschaftliche Psychologie von mir" ist notwendigerweise Bewußtseinspsychologie, „Psychologie von den anderen" dagegen ist, da sie als Daten lediglich Verhalten in irgendeiner Form gelten läßt, in ihrem Ausgangspunkt notwendigerweise Bebaviorismus oder besser Operationismus (zum Begriff des „Operationismus" vgl. H O L Z K A M P 1964, S. 195 ff. und 1968, S. 282 fr.). So werden im Rahmen einer „Psychologie von den anderen" stets nur jene Aspekte „vorwissenschaftlither Psychologien von mir" zum Gegenstand des Interesses, die in irgendeiner Form operationalisierbar sind. Deshalb können wir unsere Methode, da sie im Vorgehen als operationistisch, im Gegenstand jedoch als bewußtseinspsychologisch3 gekennzeichnet ist, als „bewußtseinspsychologischoperationistische" Methode bezeichnen, wodurch der scheinbare Widerspruch zwischen Operationismus und Bewußtseinspsychologie, der — wie wir meinen — stets nur ideologisch, jedodi nie sachlich begründet war und heute, wenn überhaupt, nur noch aus historischen Gründen besteht, überwunden wird. Aus den vorangegangenen Überlegungen dürfte klar geworden sein, daß das Ziel unserer Bemühungen nicht darin besteht, Aussagen über „wirkliche" Zusammenhänge zwischen Erleben und Verhalten (oder einzelnen Erlebens- oder Verhaltensaspekten) des in Frage stehenden Individuums zu machen, sondern vielmehr Aussagen darüber, welche Zusammenhänge das in Frage stehende Individuum zwischen seinem Er3

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Z w a r ist seit WUNDT, für den „der Begriff einer seelischen Tatsache und der einer Bewußtseinstatsadie ihrem Inhalt nadi völlig zusammenfallen" (1907, II, S. 140, zit. nach GRAUMANN 1966), weshalb die Psychologie auch ihren alleinigen Gegenstand im „Bewußtsein" habe, der Bewußtseinsbegriff immer wieder das Ziel von Begriffskritiken gewesen (der orthodoxe Behaviorismus verzichtet ja ganz auf ihn); daß er sich dennoch innerhalb der psychologischen Wissenschaftssprache bis heute gehalten hat, mag für seine prinzipielle Brauchbarkeit sprechen. Wir verwenden den Begriff „bewußt" in Anlehnung an GRAUMANN mit der Bedeutung a) aufmerkend, bemerkend, bemerkt; b) vorsätzlich, absichtlich, regulativ; c) wissend, inneseiend, gewußt (GRAUMANN 1966, S. 97—106), wobei die Einteilung in a, b und c nicht bedeutet, daß nur jeweils eine dieser Kategorien für die Betrachtung Relevanz besitzt, sie sind vielmehr Aspekte eines in sich geschlossenen einheitlichen Phänomens.

leben und seinem Verhalten (oder einzelnen Erlebens- oder Verhaltensaspekten) stiftet. Deshalb ziehen wir zur operationalen Kennzeichnung von Zuständlichkeiten auch nicht das Verhalten heran, das „wirklich" mit den Zuständlichkeiten eines Individuums in Beziehung steht, sondern jenes, von dem wir annehmen, daß es von dem in Frage stehenden Individuum mit seinenZuständlidikeiten in Beziehung gesetzt wird (s. S. i z f.).

Unterscheidung zwischen Person und Personhaftigkeit im Rahmen einer Allopsychologie mit dem Gegenstand „Psychologie von mir" Darum ist audi der Unterschied zwischen „Person" und „Personhaftigkeit" für uns so wichtig. Wir stehen in dieser Gegenüberstellung dem Persönlichkeitstheoretiker R O G E R S nahe, der den Unterschied zwischen den Begriffen „seif" oder „self-concept" und „self-structure" wie folgt definiert: „The term self or self-concept is more likely to be used when we are talking of the person's view of himself, self-structure when we are looking at this gestalt from an external frame of reference" ( R O G E R S 1959, S. 200)4. In einer „Psychologie von den anderen" ist uns prinzipiell nur die „self-structure" oder, wie wir uns ausdrücken, die „Personhaftigkeit" eines Individuums gegeben; die „Person" oder das „seif" ist dagegen stets ein erschlossenes „hypothetical construct". Anders in der „Psychologie von mir"; hier schließt das „Personsein" notwendig das Erleben der eigenen Personhaftigkeit mit ein (vgl. zu dieser Überlegung auch K I R C H H O F F 1957), kann aber darüber hinaus auch Aspekte umfassen, die in der Personhaftigkeit nicht auftauchen und jeweils nur „mir" gegeben sind. „Psychologie von den anderen" mit dem Gegenstand „vorwissenschaftliche Psychologie von mir" kann zwar auch Aussagen über „Person" machen, aber nur soweit „Person" aus der intersubjektiv gegebenen Personhaftigkeit abzuleiten ist oder in Form eines „hypothetical construct" zur Erklärung von Personhaftigkeit oder speziellem Verhalten herangezogen wird. Hierbei ist es durchaus möglich, daß — die intersubjektive Vergleichbarkeit der involvierten Begriffe vorausgesetzt — „Person" im Rahmen einer „vorwissenschaftlichen Psychologie von mir" und „Person" im Rahmen einer „Psychologie von den anderen" sich inhaltlich decken. In wie starkem Maße dies geschieht, ist einmal abhängig davon, in welchem Grade „Person" in Form von „Personhaftigkeit" operationalisierbar ist, zum anderen davon, wieweit man mit Hilfe der „Personhaftigkeit" zu einem angemessenen sich auf „Person" beziehenden „hypothetical construct" gekommen ist. 4

Weitere Ausführungen über die Persönlichkeitstheorie von Stelle.

ROGERS

folgen an anderer

5

Bei unseren weiteren Überlegungen wird sowohl der Aspekt „Person" als auch der Aspekt „Personhaftigkeit" im Rahmen einer „Psychologie von den anderen" relevant werden, wenn wir versuchen, für die Human- und die Tierpsychologie gemeinsame Kategorien von intendiertem Verhalten aufzustellen. Es wird nämlich zu klären sein, ob man bei Tieren, die die Kriterien der Personhaftigkeit erfüllen (wie das z. B. die Säugetiere tun), hinsichtlich ihres intendierten Verhaltens mittelbar aus dieser Personhaftigkeit die gleichen Konsequenzen ableiten kann wie für Menschen aus deren Personsein.

Die „Soseinslage"

der Person oder der

Personhaftigkeit

Sowohl Person als auch Personhaftigkeit sind notwendig an die Erfüllung des Kriteriums einer über den Augenblick hinausreichenden Erstreckung in der Zeit gebunden; dennoch ist uns jetzt und hier prinzipiell jeweils nur ein ganz geringer Teil dieser zeitlichen Erstreckung zugänglich; wir können also stets nur Person oder Personhaftigkeit „jetzt und hier" erfassen. Diesen zu unterschiedlichen Zeitpunkten zugänglichen Aspekt der Person oder Personhaftigkeit bezeichnen wir in Abhebung von jenen beiden Begriffen sowie den Begriffen des Zustandes und der Zuständlichkeit als „Soseinslage" der Person oder Personhaftigkeit; er bezieht sich also nicht auf Person oder Personhaftigkeit „als solche" und unterscheidet sich von ihnen dadurch, daß er inhaltlich wandelbar ist, ohne Person oder Personhaftigkeit in ihrer Identität zu berühren. Ein und dasselbe Individuum kann sich selbst demnach zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen Soseinslagen der Person „antreffen" oder zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen Soseinslagen der Personhaftigkeit „angetroffen" werden, ohne daß sich dadurch an seinem Personsein oder seiner Personhaftigkeit das geringste änderte. Die Anwendung des Begriffes der „Soseinslage" ist jedoch nicht auf „Person" und „Personhaftigkeit" begrenzt, sondern kann sich auf alles beziehen, das Gegenstand eines „Urteils" im Sinne der klassischen Logik ist. Dabei zielt der Begriff der „Soseinslage" niemals auf den Gegenstand des Urteils „als solchen", sondern erfaßt ihn stets in seinem „jetzt und hier", also in einer genau bestimmbaren „Situation", wobei „Situation" auch der jeweilige kognitive Kontext sein kann, in dem der Urteilsgegenstand eingebettet ist oder in den er durch das Urteil eingebettet wird. Dadurch, daß unterschiedliche Urteilsgegenstände unabhängig voneinander gleiche Soseinslagen einnehmen können, wird der Begriff der „Soseinslage" zu einem weitaus allgemeineren, als es jene Begriffe sind, die einen Urteilsgegenstand „als solchen" anzielen. Eine bestimmte Soseinslage ist demnach nicht an einen bestimmten Urteilsgegenstand gebunden; 6

somit ist der Begriff der „Soseinslage" dem Begriff von einem beliebigen Urteilsgegenstand „als solchem" logisch vor- und übergeordnet, d.h. ein beliebiger Urteilsgegenstand ist stets in einer bestimmbaren Soseinslage anzutreffen, ohne daß die jeweilige Soseinslage in ihrer begrifflichen Fassung durch den jeweiligen Urteilsgegenstand berührt würde. So besteht eine bestimmte „Soseinslage der Person" oder „Soseinslage der Personhaftigkeit" als Begriffskategorie unabhängig davon, ob jemals ein Individuum als Person oder in seiner Personhaftigkeit in diese Kategorie eingeordnet wird oder nicht. Gemäß unserer Unterteilung in „Autopsychologie" und „Allopsychologie" ist der Begriff „Soseinslage der Person" in seiner engeren Bedeutung dem Bereich der „Psychologie von mir" zuzuordnen, der Begriff „Soseinslage der Personhaftigkeit" jedoch dem Bereich der „Psychologie von den anderen". Sind „vorwissenschaftliche Psychologien von mir" Gegenstand einer „Psychologie von den anderen", so kann der Begriff der „Soseinslage der Person" in seiner weiteren Bedeutung in Form eines „hypothetical construct" verwendet werden. 3. Z u s t a n d u n d Z u s t ä n d l i c h k e i t e n Der systematische Ort von Zustand und

Zuständlichkeit

Das Zueinander von Person und Zustand stellt sich nach S C H W A R Z ' „kritisch-realistischer"5 Auffassung wie folgt dar: „Man unterscheidet am Menschen Etwas, das bleibt, und Etwas, das kommt, schwindet, wiederkommt und wieder schwindet. Das Bleibende nennt man Person, das Wechselnde ihren Zustand . . . Bei aller Beharrung der Person wechselt der Zustand, bei allem Wechsel des Zustandes beharrt die Person" ( S C H W A R Z 1900, S. 35). Wir übernehmen für unsere Zwecke vom ScHWARZschen Begriff des Zustandes lediglich den Aspekt der Wechselhaftigkeit, da er uns in seiner Gesamtheit auf der einen Seite zu weit, weil in ihm „alle seelischen Ereignisse, jedes Wahrnehmen, Vorstellen, Urteilen, Wollen, Fühlen" (SCHWARZ 1900, S. 35) miteinbegriffen sind, auf der anderen Seite jedoch mit seiner Beschränkung auf das „je-mirGegebensein" zu eng erscheint. Wir wollen unter Zustand all jene Beschaffenheiten eines Individuums verstehen, die auf Grund ihrer zeitlichen Inkonsistenz nicht zur Kennzeichnung der Personhaftigkeit eines Individuums herangezogen werden können, aber mittelbar oder unmittelbar jetzt und hier intersubjektiv zugänglich sind. Darunter fallen sowohl die augenblickliche (prinzipiell wechselhafte) Beschaffenheit des 8

„Kritisch-realistisch" ist für uns in diesem Zusammenhang ein völlig wertfreier Begriff.

7

Leibes, die durch biologisdi-physiologisdie Meßmethoden intersubjektiv zugänglich ist, als auch das augenblickliche „zuständliche Erleben" (HOFSTÄTTER) des jeweiligen Individuums, sofern es psychologischen Meßmethoden zugänglich ist.

Phänographische Kennzeichnung der Zuständlichkeiten (Unterscheidung zwischen Gefühlen und Leiblichkeitsempfindungen) In den meisten Fällen hat der quasi „objektiv" vorliegende Zustand auch einen Erlebensaspekt, der nur dem jeweiligen in Frage stehenden Individuum zugänglich ist. Diesen prinzipiell „je nur mir" gegebenen Aspekt eines augenblicklichen Zustandes bezeichnen wir als „Zuständlichkeit". Diese Zuständlichkeiten konstituieren sich aus „Gefühlen" (Erlebnisse der Zuständlichkeit des Ich) und „Leiblichkeitsempfindungen" (Erlebnisse des Soseins des eigenen Körpers), deren enger Zusammenhang von VOLKELT und KRUDEWIG in ihren Gefühlsdefinitionen dadurch ausgedrückt wird, daß sie von Gefühlen als „Ichzuständlichkeiten des psychophysischen Ich" sprechen (VOLKELT 1930, KRUDEWIG 1942), wobei mit „physisch" keineswegs die den Erlebnisvorgängen parallellaufenden physiologischen Prozesse angesprochen sind, sondern lediglich auf die Tatsache hingewiesen wird, daß dem erlebenden und fühlenden Ich auch die Leiblichkeit des eigenen Körpers gegeben ist: „Durch die Bestimmung, daß Gefühle erlebte Zuständlichkeiten des psychophysischen Ich sind, ist . . . die Mitgegebenheit von Leiblichkeitsempfindungen beim Gefühlserlebnis gesetzt" (KRUDEWIG 1942, S. 44). Diese Bestimmung gewährleistet, „daß das Ich, in dessen erlebter Zuständlichkeit das Gefühl besteht, das volle und umfassende, nicht ein durch Abstraktion gewonnenes Subjekt ist, als das das menschliche Individuum sich kontinuierlich, wenn auch inhaltlich wandelbar, hat" (S. 44)®.

Zuständlichkeiten

als

Erlebnisletztheit

D a ß Gefühl Erlebnisletztheit, „ d . h . eine eigenartige Form des Bewußtseins und als solche bestimmendes Glied der Erlebniskomplexe" ist, h a t KRUDEWIG ( a . a . O . , S. 1 3 1 ) i m A n s d i l u ß an SULZER, TETENS,

KANT und K . Ph. MORITZ in ihrer ausgezeichneten Untersuchung gegen die A u f f a s s u n g v o n KRUEGER ( 1 9 3 7 ) , GROSSART ( 1 9 3 1 ) u n d M A C D O U • Neben der inhaltlichen Wandelbarkeit sind Zuständlidikeiten auch in bezug auf ihre Intensität Schwankungen unterworfen, so daß sie keineswegs statisches Erleben, sondern immer dynamische Verläufe sind.

8

G A L L (1937) erneut sichergestellt. Hieran ändert auch der Umstand nichts, daß — wie S C H A C H T E R wiederholt nachgewiesen hat — Gefühle in ihrer qualitativen Ausprägung durch Kognitionen determiniert werden können (vgl. S C H A C H T E R 1959, S C H A C H T E R & S I N G E R 1962, S C H A C H T E R 1964). Ein möglicher Einfluß auf die Qualität besagt ja noch nicht, daß Kognitionen die notwendige „Ursache" von Gefühlen oder daß Gefühle aus Kognitionen zusammengesetzt sind — ebensowenig wie etwa mit dem Hinweis auf den Umstand, daß sich die Geschmacksqualität von Kaffee verändern läßt, wenn wir ihm Milch und Zucker beigeben, die Notwendigkeit des Vorhandenseins von Kaffee für das Geschmackserlebnis von Kaffee geleugnet werden kann. Es muß jedoch angenommen werden, daß Kognitionen als hinreichender „Anlaß" für das Auftreten bestimmter Ichzuständlichkeiten dienen können; wir werden auf dieses Problem im Laufe unserer Untersuchung zurückkommen.

Da Gefühle auf keine anderen Bewußtseinsinhalte reduzierbar sind und jeweils immer nur mir als erlebendem Subjekt gegeben sind, ist eine über die oben gegebene Definition hinausgehende nähere Bestimmung prinzipiell unmöglich. Gefühle sind lediglich durch genaue Bedingungsschilderungen für den je einzelnen „erschaubar" zu machen. So ist die Erschaubarkeit eines speziellen Gefühls ausreichend definiert durch die Formulierung: Die Ichzuständlichkeit, in der ich mich befinde, w e n n . . . (Aufzählung der konstituierenden Bedingungen unter Ausschaltung möglicher störender Bedingungen). Dabei ist es unter der Voraussetzung der prinzipiellen Vergleichbarkeit intersubjektiven Erlebens gleichgültig, welcher Art diese Bedingungen sind, sofern sie nur erlebt werden. Hierbei ist jedoch stets zu berücksichtigen, daß die geschilderten Bedingungen zum Aufweis eines speziellen Gefühls nicht mit diesem Gefühl identisch sind. Die Schwierigkeit, daß Gefühle letztlich nur aus sich selbst heraus bestimmbar und verständlich sind und demnach „Letztbedeutungen" im Sinne von MAY verkörpern (MAY 1942), wird auch in den neueren Untersuchungen zur Klassifikation der Gefühle von T R A X E L (1962) und E R T E L (1965 a, b) nicht überwunden. Diese beiden Autoren entscheiden zwar den alten Streit zwischen dualistischen (Lust-Unlust) Gefühlstheorien (etwa K Ü L P E 1922, L I N D W O R S K Y 1927) und abundistisch-pluralistischen Anschauungen ( J A M E S 1890, LIPPS 1 9 0 2 , 1 9 0 7 , W U N D T 1 9 1 I , GROSSART 1 9 3 I , V O L K E L T 1 9 3 4 ,

1937,

KRUE-

1937) zugunsten der letzteren und folgen damit K R U D E W I G (1942), neue Wege zur Bestimmung des Wesens der Gefühle vermögen jedoch auch sie nicht aufzuzeigen. GER

MACDOUGALL

Auch Leiblichkeitsempfindungen, die nach L I N D W O R S K Y (1928) und V O L K E L T (1930) zusammen mit den Gefühlen zu einem einheitlichen Er9

lebniskomplex verwoben sind, sind Erlebnisletztheiten; und so ergibt sich auch hier das Problem der letztlichen deflatorischen Nichtrückführbarkeit. Jedoch wird bei den Leiblichkeitsempfindungen der Aufweis der „Erschaubarkeits"-Bedingungen dadurch erleichtert, daß Leiblichkeitsempfindungen ihrem Wesen gemäß (und das gilt speziell für die Organempfindungen) lokalisierbar sind; so kann ich z. B. „Zahnschmerz" prinzipiell nur in oder an Zähnen haben, „Bauchschmerzen" nur im Bauch erleben usw. Ob Organempfindungen das Charakteristische des komplexen Gefühlserlebnisses ausmachen, wie L I N D W O R S K Y (1928) abweichend von V O L K E L T (1930) meint, soll hier nicht entschieden werden, für uns wesentlich ist, daß sowohl L I N D W O R S K Y wie auch V O L K E L T (und hierin folgt ihnen auch K R U D E W I G ) Gefühle und Leiblichkeitsempfindungen gleichermaßen als zu dem einheitlichen Erlebniskomplex verwoben sehen, den wir als „Zuständlichkeit des Ich" bezeichnen und den auch wir als Erlebnisletztheit betrachten. Uber die prinzipielle definitorische Nichtrückführbarkeit von Zuständlichkeiten darf auch der Umstand nicht hinwegtäuschen, daß in der Sprache des täglichen Lebens anscheinend jeder weiß, was gemeint ist, wenn ich etwa davon spreche, daß ich „midi wohl (schlecht) fühle", daß ich „Zahnschmerz" habe, daß ich „mich freue", daß ich „trauere" usw.

Unterscheidung

zwischen „angenehmen" Zuständigkeiten

und

„unangenehmen"

Gleichzeitig mit dem speziellen Sosein einer Zuständlichkeit ist mir der Grad gegeben, in dem sie auf der Dimension „angenehm-unangenehm" lokalisiert werden kann. Die genaue Lokalisation auf dieser Dimension wird um so einfacher sein, je bestimmender diese für die qualitative Kennzeichnung der Zuständlichkeit ist. Wir können demnach, ohne eine Aussage über ihr spezielles Sosein zu machen, Zuständlichkeiten gemäß dieser Dimension einteilen in „angenehme" (positives Vorzeichen), „unangenehme" (negatives Vorzeichen) und „neutrale" (Zuständlichkeiten, die weder angenehm noch unangenehm sind). Aus der Bestimmung dieser Dimension durch drei Begriffe darf nun nicht angenommen werden, sie bestehe aus drei scharf gegeneinander abgegrenzten Bereichen; die Ubergänge sind vielmehr fließend, wobei der Bereich der neutralen Zuständlichkeiten am wenigsten festzulegen ist. Unsere Einteilung befindet sich, soweit wir sehen, in Ubereinstimmung mit dem begrifflichen Konstruktum, das Y O U N G als „hedonisches Kontinuum" bezeichnet ( Y O U N G 1967). 10

„Lust — Unlust" in ihrer Unterordnung zu „angenehm — unangenehm" Mit dieser begrifflichen Bestimmung umgehen wir die alte Lust-UnlustProblematik (ausführlich abgehandelt bei K R U D E W I G 1942), in der es darum geht, ob Lust und Unlust selbständige, von den anderen zu unterscheidende Gefühle oder ob die je speziellen Gefühle aus einer nur ihnen eigenen sowie der Lust-Unlust-Komponente „zusammengesetzt" seien. Außerdem zeigt sich, daß die einfache Unterscheidung von Lust und Unlust (wie sie etwa als Grundlage des Hedonismus vorliegt) Gefühle gegenüber komplexeren Sachverhalten in ihrer Differenziertheit und damit ihrem Unterschied zu anderen Ichzuständlichkeiten nicht adäquat erfaßt. Diese begriffliche Schwierigkeit ergibt sich etwa bei der Einordnung kognitionsnaher Zuständlichkeiten, wie wir sie in den Gefühlen gegenüber dem Ergebnis des eigenen Handelns (Erfolgs- und Mißerfolgserlebnis, gutes Gewissen und schlechtes Gewissen usw.) vorfinden 7 . Der von hedonistischer Seite (etwa W I N K L E R - H E R M A D E N 1925) eingeführte Begriff der „ideellen Lust", der ähnlich komplexe Zuständlichkeiten wie in den von uns angeführten Beispielen decken soll (bei W I N K L E R - H E R M A D E N ist es das Gefallen am ethischen Handeln anderer; 1925, S. 92ff.), würde die Annahme verschiedener Lust-Unlust-Arten zur Konsequenz haben, wodurch die angestrebte Einheitlichkeit des Begriffes in Frage gestellt wäre. Der von uns vorgeschlagene Begriff der angenehmen (positiven) bzw. unangenehmen (negativen) Zuständlichkeit ist von vornherein umfassender angelegt und soll sowohl „einfache" als auch komplexe kognitionsnahe Phänomene decken. Man denke z. B. an das relativ „einfache" Erlebnis, das der Aussage „ich habe Zahnschmerz" zugrundeliegt, und vergleiche es mit dem komplexeren, das in der Aussage „ich fühle mich wohl" zum Ausdruck kommt. Beides wären unserer Terminologie zufolge Zuständlichkeiten, die auf der Dimension „angenehm — unangenehm" zu lokalisieren sind. (Eine eingehende Kritik des hedonistischreduktionistischen Ansatzes findet sich bei K R A F T 1951, in dem A b schnitt über „Funktionslust und -unlust", S. 82ff.) Ebenso werden durch diese Einteilung Zuständlichkeiten wie „Achtung" und „Ehrfurcht" erfaßt; sie wären, da sie — im allgemeinen — von dem, der sie fühlt, weder als angenehm noch unangenehm erlebt werden, als „neutrale" zu bezeichnen. Sie sind am Nullpunkt der Dimensionsskala „angenehm — unangenehm" lokalisiert. 7

A u f den Umstand, „that cognitive factors are potent determiners of states", hat besonders SCHACHTER hingewiesen.

emotional

11

Gegen eine allgemeine Katalogisierung sämtlicher angenehmer, unangenehmer und neutraler Zuständlichkeiten erhebt sich der Einwand, daß die Einteilung in angenehm, unangenehm und neutral jeweils nur in einer speziellen Situation bezogen auf ein je spezielles Individuum erfolgen kann (so wird zum Beispiel die Zuständlichkeit „Schmerz" im allgemeinen als unangenehm erlebt, dem Masochisten ist sie jedoch durchaus angenehm), ein Umstand, den K R A F T (1951, S. i o i f ï . , n 6 f ï . ) trotz seiner scharfsinnigen Analysen u. E. übersehen hat.

Operationale Kennzeichnung von angenehmen und unangenehmen Zuständlichkeiten Dadurch, daß wir das von einem bestimmten Subjekt mit seinen Zuständlichkeiten in Beziehung gesetzte Verhalten erfassen, wodurch die „je nur mir" gegebene Zuständlichkeit zu einem quasi „objektiven", intersubjektiv zugänglichen „Zustand" wird, ist eine Kennzeichnung der Zuständlichkeiten, die dieses Subjekt hic et nunc hat, als angenehme, unangenehme oder neutrale möglich. Dies geschieht einmal durch Verhalten mit „Zeichencharakter" (Sprache, Ausdrucksverhalten), wobei vorausgesetzt wird, daß eine von Störfaktoren unbeeinflußte „reine" Beziehung Zeichen-Bezeichnetes vorliegt und die Letztbedeutungen der Begriffe „angenehm", „unangenehm" und „neutral" intersubjektiv vergleichbar sind (eine Annahme, die durch die Alltagserfahrung gestützt wird). Zum anderen erfolgt eine Lokalisation von Zuständlichkeiten auf der Dimension „angenehm — unangenehm" an Hand der von dem betreffenden Subjekt erlebten „Grund-Folge-Beziehung" von Verhalten und Zuständlichkeiten 8 . Eine angenehme Zuständlichkeit ist dadurch gekennzeichnet, daß das vom betreffenden Subjekt mit dieser Zuständlichkeit in Grund-FolgeBeziehung gesetzte Verhalten darauf gerichtet ist, diese Zuständlichkeit zu erzeugen, zu erneuern oder beizubehalten. Eine unangenehme Zuständlichkeit ist dementsprechend dadurch gekennzeichnet, daß das vom betreffenden Subjekt mit dieser Zuständlichkeit in Grund-Folge-Beziehung gesetzte Verhalten darauf gerichtet ist, diese Zuständlichkeit nicht zu erzeugen, nicht zu erneuern oder nicht beizubehalten (vgl. hierzu THORNDIKE 1913, S. 2). Ist das vom betreffenden Subjekt mit einer Zu8

Das hier von uns vorgeschlagene Verfahren läßt sich, soweit wir sehen, dem von CRONBACH & MEEHL (1955) eingeführten Begriff der „Konstrukt-Validierung" subsumieren. Danach kann ein psychologisches Konstruktum, das nicht direkt operationalisierbar ist, über das „nomologische N e t z " in Beziehung stehender empirischer Variablen zugänglich gemacht werden.

I2

ständlichkeit in Grund-Folge-Beziehung gesetzte Verhalten weder darauf gerichtet, diese Zuständlichkeit zu erzeugen, zu erneuern oder beizubehalten, noch darauf, sie nicht zu erzeugen, nicht zu erneuern oder nicht beizubehalten (so daß überhaupt keine erlebte Grund-Folge-Beziehung im eigentlichen Sinne besteht), dann sprechen wir von einer neutralen Zuständlichkeit. Diese Bestimmungen gelten nur für von Störfaktoren unbeeinflußte „reine" erlebte Grund-Folge-Beziehungen zwischen Verhalten und Zuständlichkeit. D a im je speziellen Fall von „außen" niemals zu entscheiden ist, ob ein beobachtbares Verhalten überhaupt in einer erlebten Grund-Folge-Bezielung zu Zuständigkeiten steht, außerdem nicht ersichtlich ist, ob dieses Verhalten auf Erzeugung oder Nichterzeugung, Erneuerung oder Nichterneuerung, Beibehaltung oder Nichtbeibehaltung von Zuständlichkeiten gerichtet ist, muß eine erlebte Grund-Folge-Beziehung zwischen Verhalten und Zuständlichkeit vom betreffenden Subjekt „kommentiert" werden, um eindeutig kommunikabel zu werden. Dies geschieht durch Verhalten mit Zeichencharakter 9 . Durch diese operationalen Bestimmungen können Zuständlichkeiten in bezug auf die Dimension „angenehm — unangenehm" zwar psychologisch kennzeichnend erfaßt werden, sie sind durch diese Bestimmungen jedoch keineswegs in ihrem Wesen definiert, was unmöglich ist, da (wie wir oben gezeigt haben) das Wesen von Zuständlichkeiten nicht definierbar, sondern lediglich demonstrierbar ist. Zusammenfassend lassen sich Zuständlichkeiten umschreiben als nur dem betreffenden Subjekt gegebene, auf der Dimension „angenehm — unangenehm" lokalisierbare Gefühle und Leiblichkeitsempfindungen, deren eigentliches Wesen nicht näher bestimmbar ist, da sie Erlebnisletztheiten darstellen und Letztbedeutungscharakter haben. Durch Angabe konstituierender Bedingungen unter Ausschaltung von Störbedingungen ist ihre Demonstration möglich. Die psychologisch kennzeichnende Lokalisation einer Zuständlichkeit auf der Dimension „angenehm — unangenehm" ist durch Erfassung des vom betreffenden Subjekt mit dieser Zuständlichkeit in Beziehung gesetzten Verhaltens möglich. Dadurch wird die „je nur mir" gegebene Zuständlichkeit zu einem intersubjektiv zugänglichen Zustand. 9

D i e hier angeschnittene Problematik ist in klassisch-behavioristischen Lerntheorien (vgl. etwa HULL oder SKINNER) — vermutlich wegen der Ausschaltung sich auf den Lebensraum beziehender Daten — übersehen worden. Die dort ohne Kontrollmöglichkeit vorgenommene eindeutige Verknüpfung der A r t und Stärke des Verhaltens mit „ d r i v e " (definiert durdi ökologische Umstände) ist im Sinne unserer Ausführungen methodisch nicht zulässig, da sie implizite Voraussetzungen enthält, die weder begründet werden nodi Evidenzcharakter besitzen (vgl. HOLZKAMP 1964, S. 224 ff., »Nichtbeachtung der definitorischen Grundvorschrift").

13

4. B e f i n d u n g u n d

Befindlichkeit

Der systematische Ort von Befindung und

Befindlichkeit

„Befindlichkeit" als dem Bereich der „Psychologie von mir" zuzuordnender Begriff bezieht sich, wie wir oben gesehen haben, einmal auf die jeweiligen Zuständlichkeiten des Individuums, zum anderen aber auch auf das kognitive Gegebensein der eigenen Person. D a je „mir" meine Person niemals in ihrer Totalität „als solche" kognitiv gegeben sein kann, sondern nur in Soseinslagen, bezieht sich „Befindlichkeit" in der Bedeutung des „jetzt und hier in der Welt Seins" demnach stets auf die aktuelle Soseinslage je „meiner" Person. Dementsprechend bezieht sich „Befindung" als Begriff aus dem Bereich der „Psychologie von den anderen" einmal auf den jeweiligen Zustand, zum anderen auf die aktuelle Soseinslage der Personhaftigkeit des angezielten Individuums. Als „hypothetical construct" kann jedoch der Begriff der „Befindlichkeit" auch Teil einer „Psychologie von den anderen" sein, die „vorwissenschaftliche Psychologie von mir" zum Gegenstand hat.

Befindlichkeit als über Befindung

hinausgehend

Ergibt sich als dritte Implikation aus dem Begriff der „Befindlichkeit" die Möglichkeit der Stellungnahme und des Verhaltens zur eigenen Existenz und den Gegebenheiten der Welt „außer mir", so ist diese Möglichkeit aus dem Begriff der „Befindung", welcher ein rein behavioristischer ist, analytisch nicht herzuleiten, sondern muß als Erklärungsprinzip synthetisch eingeführt werden 10 . Durch Einführung dieses synthetischen Erklärungsprinzips übernimmt man jedoch notwendig ein anderes, das sich analytisch aus der Möglichkeit der Stellungnahme und des Verhaltens zur eigenen Existenz und zu den Gegebenheiten der Welt ableiten läßt: die Annahme, daß das in Frage stehende Individuum zu „Psychologie von mir" in irgendeiner Form fähig ist. Diese braucht nun natürlich nicht in Form eines verbalisierbaren „Systems" vorzuliegen, sondern kann sich unter Umständen auf „Antizipationen" oder 10

Z w a r schließt der Begriff der „Personhaftigkeit" schon konsistentes Verhalten ein, er sagt jedoch nichts darüber aus, ob dieses Verhalten gerichtet ist oder nicht, und wenn gerichtet, worauf es gerichtet ist. D i e Angabe, daß ein in Frage stehendes Individuum sich zu „seiner Existenz" oder „der Welt" verhalten kann, enthält über die Begriffsanalyse v o n „Personhaftigkeit" hinaus also zusätzliche Information. „Stellungnahme" geht noch über ein bloßes „Verhalten z u " hinaus und bedeutet „Auszeichnung" in irgendeiner Form. Bestimmtes „Verhalten z u " kann als „Auszeichnung" und somit „Stellungnahme" klassifiziert werden. W i r werden später darauf zurückkommen.

14

„Erwartungen" eines bestimmten „Effektes" auf ein vom in Frage stehenden Individuum ausgeführtes Verhalten beschränken. Daß „Erwartungen" streng operationalisierbar sind und damit ihre Vorbelastetheit verlieren, als Bewußtseinstatbestand nur dem Verfahren der Introspektion zugänglich zu sein, hat auf überzeugende Weise H U L L anläßlich seiner Einführung der „fractional antedating goal-responses" ( H U L L 1931) aufgezeigt.

Grundsätzliches zur Tierpsychologie Aus den vorangegangenen Überlegungen ergibt sich, daß eine Tierpsychologie nicht notwendigerweise reiner Behaviorismus sein muß, um in der Methodik ebenso exakt zu sein wie dieser. Daß der Gegenstand unserer Untersuchungen operationalisierbar sein muß, besagt ja nicht, daß allein diese Operationen uns interessieren, sondern gibt uns die Möglichkeit, hypothetische Konstrukte aufzubauen, die Verhalten (Operationen) integrieren und voraussagbar machen. Selbstverständlich müssen diese Konstrukte sinnvoll sein und mehr leisten als beliebige Ad-hocAnnahmen. Es ist deshalb kein naiver „Anthropomorphismus", wenn wir in einer „Psychologie von den anderen", die „vorwissenschaftliche Psychologien von mir" zum Gegenstand hat, auch bei Tieren von „Zuständlichkeit" und „Befindlichkeit" sprechen, welche beiden Begriffe wir analog zu jenen hypothetischen Konstrukten gebrauchen, die in der „Psychologie von den anderen" auftauchen, sobald wir uns mit den „vorwissenschaftlichen Psychologien von mir" bei Menschen befassen. Freilich muß für die in Frage stehenden Tiere das Kriterium der „Personhaftigkeit" ebenso erfüllt sein wie das des „Sich-in-einem-Zustand-Befindens". Gibt man weiterhin die Möglichkeit zu, daß Tiere, denen wir „Personhaftigkeit" und einen „Zustand" zusprechen, sich zu ihren Zuständen oder deren Korrelaten verhalten können, indem ihr Verhalten bestimmte Zustände immer wieder hervorruft und andere vermeidet, so ist es unseres Erachtens durchaus angebracht, für das intendierte Verhalten von Tieren die gleichen Erklärungsprinzipien zu gebrauchen wie für das intendierte Verhalten von Menschen. Die behavioristische Beschränkung, nur „reines Verhalten" als Gegenstand einer „Psychologie von den anderen" gelten zu lassen, scheint uns im Anschluß an MAY unzulässig, da sie Informationen unberücksichtigt läßt, die sich aus der „eigentlichen Psychologie von mir" herleiten. Die Ubertragbarkeit der in der Humanpsychologie anwendbaren Erklärungsprinzipien hat natürlich ihre Grenzen, die eben dann erreicht werden, wenn das Kriterium der „Befindung" nicht mehr erfüllt wird. So will MAY die behavioristische Psychologie, die er als 15

physiologische versteht, legitim nur auf die „niederen" Tiere angewandt wissen: „Für die ,Psychologie' der niederen Tiere versteht sich der Behaviorismus freilich von selbst; denn diese kann immer nur Physiologie sein" (MAY 1949, S. 101). Zwar gibt MAY kein Kriterium an, wie „höhere" von „niederen" Tieren zu unterscheiden seien, doch glauben wir in der „Befindung", welche die Möglichkeit zu gerichtetem, organisiertem Verhalten einschließt, ein hinreichendes Kriterium für diese Unterscheidung gefunden zu haben.

Der systematische Ort von Befindlichkeit in der Autopsychologie und in der Allopsychologie mit dem Gegenstand „Psychologien von mir" Deshalb ist der Begriff der „Befindlichkeit" in zweifacher Bedeutung anzutreffen; einmal als kognitives Gegebensein der eigenen Person und ihrer Zuständigkeiten mit der Möglichkeit der Stellungnahme und des Verhaltens zur eigenen Existenz und zur Welt, der Begriff bezieht sich also auf ein im Rahmen der „eigentlichen Psychologie von mir" Vorgefundenes; in seiner zweiten Bedeutung bezieht er sich auf ein „hypothetical construct", das in einer „Psychologie von den anderen", die „vorwissenschaftlidie Psychologien von mir" zum Gegenstand hat, die gleiche integrierende und erklärende Funktion erfüllt wie der Begriff in seiner ersten Bedeutung in der „eigentlichen Psychologie von mir". Die Anwendung des Begriffes in seiner zweiten Bedeutung setzt die Erfüllung von Kriterien voraus, die sich auf „Personhafligkeit", „Zustand" und die „Möglichkeit zu organisiertem Verhalten" beziehen. In seiner ersten Bedeutung ist er nur auf Menschen anwendbar, in seiner zweiten jedoch auf Tiere, sofern diese die genannten Kriterien erfüllen. Wir werden in der Folge nur dann ausdrücklich hervorheben, ob wir den Begriff in seiner ersten oder seiner zweiten Bedeutung verwenden, wenn uns dies nicht aus dem Zusammenhang eindeutig ersichtlich erscheint.

16

Hauptteil Zur Phänographie von "Wollen und "Wert A Einführung i. W e r t e u n d N o r m e n a l s V e r h a l t e n s a u s l ö s u n g -Steuerung Die Zielgerichtetbeit

des

und

Verhaltens

Mit der Erkenntnis, daß Verhalten auf die Existenz angenehmer und auf die Nichtexistenz unangenehmer Zuständlichkeiten gerichtet sein kann, ergibt sich eine weitere: Das sich seiner selbst in seinen Zuständlichkeiten bewußte Ich nimmt diese nicht einfach als gegeben und als in diesem Gegebensein beliebig auftretend hin, sondern erhebt durch eigene Aktivität ihr Auftreten oder Nichtauftreten aus dem Bereich der Beliebigkeit 11 . Es sind nun aber nicht nur bestimmte Zuständlichkeiten, die das Verhalten dadurch auszeichnet, daß es auf ihre Existenz oder Nichtexistenz gerichtet ist, sondern eine ähnliche Auszeichnung gilt auch für andere erlebnismäßig gegebene Entitäten. So ist etwa unser Verhalten auf bestimmte Erlebnisse (z. B. eine Seereise oder einen Konzertbesuch), auf das Haben bestimmter kognitiver Inhalte (z. B. ein richtiges Urteil), auf ein bestimmtes Sosein von Gegenständen (z. B. in der Kunst), ein bestimmtes Sosein der Welt (z. B. in der Politik) usf. gerichtet. In all dem wird deutlich, daß Verhalten nicht blind und ziellos sein muß (wie zum Beispiel in manchen Reflexen), sondern sich an Bezugspunkten orientieren kann, die in kognitiver Repräsentation sein A u f treten und seinen Verlauf steuern und deren Realisation die betreffenden Verhaltenssequenzen zum Abschluß bringt. Wir bezeichnen dieses ziel11

Mit dem Begriff der „Beliebigkeit" soll hier das gedeckt werden, was der alltägliche Begriff der „ Z u f ä l l i g k e i t " umfaßt, wobei wir letzteren vermeiden, weil er in mathematisch-statistischem Sinne eine engumgrenzte Bedeutung hat, die sich nicht mit der des Alltagsbegriffes deckt.

2 Keiler, Wollen

gerichtete Verhalten als „Streben", dem wir nicht nur „offenes" Verhalten, sondern auch „innere" Vollzüge (etwa Kognitionen) und Verhaltensintentionen subsumieren.

Gegenüberstellung von „Ziel" und „Trieb" Nun ist aber die Betrachtungsweise, die Verhalten als „Streben" ansieht, es also vom »Ziel" oder „Zweck" her erfaßt, nur eine mögliche. Eine andere, der ersten entgegengesetzte, versteht Verhalten als „Getriebensein", als durch bewußte oder bewußtseinsjenseitige angeborene und immer wirkende „Triebe" ausgelöst, deren Forderungen das Individuum nur dann nicht ausgesetzt ist, wenn jene „befriedigt" oder „reduziert" sind. Wir bezeichnen diese Theorie mit S C H W A R Z als „nativistische Trieblehre" 1 2 ( S C H W A R Z 1900), zu deren Mitbegründern unter anderen die Philosophen S C H O P E N H A U E R und N I E T Z S C H E gehören (vgl. S C H O P E N H A U E R S „Die Welt als Wille und Vorstellung" I und II, 1938 a, b, „Uber den Willen in der Natur" 1 9 3 8 c sowie N I E T Z S C H E S „Also sprach Zarathustra", 1925). Nach dieser Ansicht ist all unser Planen und Streben ein bloßer Schein, eine Vorspiegelung des „Bewußtseins". Das eigentlich Treibende sind die körperlichen Vorgänge ( S C H W A R Z bezeichnet N I E T Z S C H E S Lehre auch als „physiologische Willensmetaphysik"). Zwar wäre es im Sinne eines orthodoxen konsequenten Behaviorismus gleichgültig, ob das Verhalten als durch Ziele oder durch Triebe verursacht zu denken sei, da weder die Annahme des einen noch die des anderen Begriffes am hic et nunc vorliegenden offenen Verhalten (das ja dem orthodoxen Behavioristen das einzig Interessante ist) jemals etwas zu ändern vermöchte, ebenso wie es etwa in der Physik bei gleichbleibender Krafteinwirkung gleichgültig für die Bewegung eines Körpers ist, ob man ihn als „gezogen" oder „geschoben" betrachtet. D a die im Rahmen unserer Aufgabe gesteckten Ziele aber notwendigerweise bewußtseinspsychologisch-operationistischer Natur sein müssen, der enge Rahmen der behavioristischen Möglichkeiten also von vornherein definitorisch gesprengt worden ist, genügt uns nicht nur die Aussage, daß menschliches Verhalten bedingt — „motiviert" — sei, sondern wir müssen auch klären, wodurch und auf welche Weise es motiviert ist.

Gegenüberstellung von „Norm"

und „Wert"

Es wird unsere Aufgabe sein, festzustellen, ob das Verhalten einem bewußtseinstranszendenten „Sollen" (das, um im Bild unseres Beispiels 12

18

Die Begründung dieses Begriffes erfolgt weiter unten.

aus der Physik zu bleiben, als ein „Schieben" zu betrachten wäre) folgt, ob die menschliche Aktivität also ausschließlich durch „Normen" bedingt ist, oder aber ob das „wollende" Individuum sich in „Werten" selbst Verhaltensziele setzt, durch die es quasi „gezogen" wird. Nach der Klärung der einander zugeordneten Begriffe „Norm—Sollen" und „Wert—Wollen" wird sich zeigen, daß die Wirksamkeit von Normen nur auf ganz bestimmte im Leben eines Individuums auftretende Situationen, in denen reduzierte Bedingungen vorliegen, die „intendiertes" Verhalten definitionsgemäß nicht zulassen, beschränkt ist. Bei unseren begrifflichen Abgrenzungen soll immer entscheidend sein, wie Normen und Werte in den Kognitionen je konkreter Individuen repräsentiert sind und wie sie sich auf das Sosein je konkreter Gegenstände auswirken. Unsere Untersuchung geht also nicht etwa auf Normen und Werte „an sich". 2. N o r m e n Begriffslogische

Bestimmungen

Von einer Norm wollen wir immer dann sprechen, wenn ein begrifflich Faßbares durch ein formales Urteil folgender Art ausgedrückt wird: S soll P sein, d. h., wenn einem bestimmten Begriff S das P-Sein von außerhalb des Begriffsgegenstandes abgefordert wird, ohne daß dieses P-Sein analytisch im Begriff enthalten wäre und ohne daß dieses P-Sein eine Soseinslageerhöhung des Gegenstandes mit sich brächte, ohne daß dieser Gegenstand jetzt stärker gefällt oder als vor anderen stärker „ausgezeichnet" erlebt wird. Es ist außerdem für eine formale Kennzeichnung einer Norm gleichgültig, von welcher „Instanz" die Forderung an den je speziellen Gegenstand gerichtet wird, sei es ein „höheres" Wesen (Gott), ein Wesen überhaupt oder seien es bewußte oder „unbewußte" (nicht verbalisierbare) „Triebe". Normativ-Urteile sind demnach synthetische Urteile, die auf primär Nichtseiendes gehen, dessen Existenz aber als vom Begriffsgegenstand zu leisten erwartet wird, und zwar zumeist nicht nur einmalig, sondern dauernd. In einem Normativ-Urteil ist definitiv jeweils ein bestimmter Gegenstand oder eine bestimmte Klasse von Gegenständen als Begriffsgegenstand festgelegt. So ist in den zehn Geboten der Bibel der jeweils Angesprochene der Begriffsgegenstand, in der Vorschrift „Fritz soll um sieben Uhr ins Bett gehen" jener Fritz, in der Norm „ein guter Schüler soll nicht auf der Toilette rauchen" alle guten Schüler, in der Forderung „das Denken soll klar sein" eine bestimmte Klasse von Kognitionen usw. Wir sehen, daß Begriffsgegenstand und -prädikat in den verschiedenen 2'

Normativ-Urteilen unterschiedlicher Art sein können; Normativ-Urteile sind also inhaltlich wandelbar, formal jedoch darin gleich, daß sie einem BegrifFsgegenstand S ein bestimmtes P-Sein abfordern. Wird der im Normativ-Urteil angezielte Gegenstand direkt, d. h. in Form eines „du sollst" angesprochen, so nennen wir das im Urteil geforderte Seinsollen ein „imperativisches Sollen" (vgl. hierzu K A N T 1818 sowie S C H E L E R 1930). Normen sowohl in sprachlich positiver wie sprachlich negativer Form möglich Wenn nach S C H E L E R dem Seinsollen stets ein Nichtseinsollen entgegensteht, das „vom Seinsollen eines Nichtseins streng zu scheiden ist" ( S C H E L E R 1930, S. 212), so ist darunter zu verstehen, daß das „positive" Seinsollen nicht die einzige Form ist, eine Norm zu „erfüllen", sondern daß auch im „negativen" Nichtseinsollen eine Norm erfüllt werden kann. In der von uns als Beispiel angeführten Norm „ein guter Schüler soll nicht auf der Toilette rauchen" ist eindeutig definiert, was „nicht sein soll", damit die Norm erfüllt werde. Auch in den zehn Geboten finden wir ja bekanntlich sowohl das „positive" Sollen als auch das „negative" Nichtsollen. Da die Forderung des Sollens oder Nichtsollens immer auf eine bestimmte Form des „Seins" geht, wobei das Sein wohl in seinem „Sosein", nicht aber in seiner „Existenz" berührt wird, geht eine solche Forderung tatsächlich immer auf ein „Seinsollen" oder „Nichtseinsollen" von etwas Existierendem. Die „positive" Forderung nach dem „Seinsollen eines Nichtseins" dagegen geht eindeutig auf die „Nichtexistenz" (das Nichtsein) des angezielten Gegenstandes (in dem von uns angeführten Beispiel wird ja nicht etwa „positiv" gefordert, daß der „Schüler nicht sein soll", sondern es wird gefordert „wie" er nicht sein soll) 13 . So gehen sowohl das Seinsollen als auch das Nichtseinsollen formal gleichberechtigt in die Bildung von Normativ-Urteilen ein (ähnlich macht P F Ä N D E R in seiner „Logik" formal keinen Unterschied zwischen der positiven und der negativen Form der Copula, vgl. P F Ä N D E R 1921, S. 92 f.), nur schließt hier das jeweils kontradiktorisch entgegengesetzte Normativ-Urteil nicht nur einen bestimmten Gegenstand aus der Klasse der diese spezielle Norm erfüllenden Gegenstände aus, sondern weist ihn einer neuen Norm zu. Daher ist es gleichgültig, ob wir eine Norm durch ein positives oder ein negatives Sollensurteil ausdrücken. Die Vorschrift „Fritz soll um sieben Uhr ins Bett gehen" ist als Norm durch die Forderung „Fritz soll nicht um sieben Uhr ins 13

Das Nichtseinsollen ist demnach „als eine verschiedene Qualität des Sollens selbst zu qualifizieren" (SCHELER 1 9 3 0 , S. 2 1 2 ) .

20

Bett gehen" nicht nur aufgehoben, sondern es ist diese Forderung nun ihrerseits eine neue Norm. Zum anderen ist es formal tatsächlich gleichgültig, ob die Norm des „Um-sieben-Uhr-ins-Bett-Gehens" „positiv" durch „Fritz soll um sieben Uhr ins Bett gehen" oder "negativ" durch „Fritz soll nicht zu einer anderen Zeit als sieben Uhr ins Bett gehen" ausgedrückt wird. Auch in der Häufigkeit des Gebrauchs besteht wohl kaum ein Unterschied zwischen „positiven" und „negativen" NormativUrteilen. Da Normen auf das Seinsollen oder Nichtseinsollen bestimmter einzelner Gegenstände oder bestimmter Klassen von Gegenständen gehen, ist die betreffende Norm durch das reale Sosein des Gegenstandes, wie es die Norm fordert, erfüllt; und zwar im ersten Fall völlig, wenn der je einzelne angezielte Gegenstand so ist, wie er sein soll, im zweiten Falle nur für die jeweilige Anzahl der Gegenstände, die so sind, wie sie sein sollen. Nur wenn alle Elemente einer Klasse so sind, wie sie sein sollen, ist für diese Klasse die Norm erfüllt.

Die Operationalisierbarkeit

von Normen und ihre

Verwirklichung

Eine Norm impliziert Handlungsanweisungen, indem sie jene Handlungen fordert, die zur Erfüllung der Norm führen, und jene ausschließt, die der Erfüllung der Norm abträglich sind. Diese impliziten Handlungsanweisungen können sich vom einfachen „Zulassen, daß etwas geschieht" bis zum „bearbeite den angezielten Gegenstand so lange, bis er die Norm erfüllt" erstrecken, d. h., die Art der jeweiligen Handlungsanweisung ist abhängig vom geforderten Sosein des Gegenstandes. Die Norm „eine Schraubenmutter soll ein Rechtsgewinde haben" schließt z. B. zunächst einmal die Handlung des bloßen Zulassens aus, da das Rechtsgewinde einer Schraubenmutter nicht etwas ist, das man vorfindet oder das sich ohne manuellen oder maschinellen Einfluß „entwickelt". Außerdem schließt sie alle Handlungen aus, die ein Linksgewinde zur Folge haben, fordert positiv, daß das Bearbeitungswerkzeug einen Einfluß auf das Sosein des Gegenstandes hat usw. Aus diesen Überlegungen wird klar, daß die aus der inhaltlichen Analyse eines Normativ-Urteils von der Form „S soll P sein" gewonnenen Handlungsanweisungen selber Normen sind, und zwar ist, da sie sich an denjenigen direkt wenden, dessen Handlung durch die Erfüllung der Norm abgeschlossen wird, das darin angesprochene Sollen ein imperativisches, wir können demnach von einer „imperativischen Norm" sprechen. So ergeben sich folgende grundlegende Bestimmungen: i. Die aus der inhaltlichen Analyse eines Normativ-Urteils abgeleiteten Handlungsanweisungen sind selbst Imperativische Normen. 21

2. Die Erfüllung sämtlicher aus der inhaltlichen Analyse der Norm abgeleiteten imperativischen Normen in der geforderten Reihenfolge hat notwendigerweise die Erfüllung der Norm zur Folge. j.

Hieraus ergibt sich, daß eine Norm nur dann erfüllt werden kann, wenn sie operationalisierbar ist. „Reale" und „irreale"

Normen

Das Kriterium der Erfüllbarkeit führt jedoch zu einer weiteren begrifflichen Unterscheidung: Wir bezeichnen Normen, die auf Grund ihrer Operationalisierbarkeit prinzipiell erfüllbar sind, als „reale" Normen, die nicht operationalisierbaren und somit prinzipiell nicht erfüllbaren nennen wir „irreale". So ist die Forderung „der Mensch soll sprechen können" eine reale Norm, die Forderung „die Pflanze soll sprechen können" dagegen eine irreale. Das letzte Beispiel zeigt, daß der Begriff der „irrealen Norm" ein relativer ist; eine reale Norm ist durch einmalige Erfüllung als solche gekennzeichnet; die Kennzeichnung einer Norm als irreal ist jedoch in vielen Fällen nur eine Kennzeichnung auf Zeit, weil wir nur sagen können, daß bisher eine Operationalisierung und damit eine Erfüllung nicht möglich war. Da die Widerstände, die einer Operationalisierung der Normen entgegenstehen, meist in der Materie der in den Normativ-Urteilen angesprochenen Gegenstände liegen, sprechen wir von „materialen" Widerständen. Ganz sicher können nur solche Normen als irreal bezeichnet werden, die in Form und/oder Inhalt eine Aufhebung der Grundsätze der klassischen Logik fordern. Die sich hier entgegenstellenden Widerstände werden als „methodische" bezeichnet. Die „passiven" und „aktiven" Widerstände gegen die Verwirklichung von Normen Wir haben gesehen, daß Normen in Normativ-Urteilen den darin angesprochenen Gegenständen ein bestimmtes aus dem Inhalt der Normen analytisch herleitbares Sosein abfordern. Erfüllung oder Nichterfüllung von Normen sind, wie wir weiter gesehen haben, abhängig von der Operationalisierbarkeit dieser Normen, wobei der Operationalisierbarkeit mehr oder weniger materiale oder methodische Widerstände entgegenstehen. Diese Widerstände können unter den Begriff der „passiven" subsumiert werden — eine notwendige Begriffsbildung, denn es gibt außer ihnen noch Widerstände, die der Erfüllung von Normen entgegenstehen, die wir als „aktive" bezeichnen 22

müssen. Sie sind besonders bei der Erfüllung imperativischer Normen spürbar und hier vor allem, wenn der angesprochene Gegenstand eine Person ist. Bei Personen trifft die Forderung „du sollst" prinzipiell auf ein „ich will"; je stärker das „ich will" und das jeweilige Willensziel dem „du sollst" kontradiktorisch entgegengesetzt sind, um so schwieriger ist die Operationalisierbarkeit und somit die Erfüllung der Norm. Wir sehen also, daß das Sosein von Begriffsgegenständen nicht nur vom Sollen, sondern auch vom Wollen einer Person 14 abhängt. Und dies ist ja zunächst unser zentrales Problem. Bevor wir aber aufzeigen können, wie Sollen und Wollen miteinander oder gegeneinander wirken können, müssen wir Phänomen und Bedeutung der einander zugeordneten Begriffe „Wollen" und „Gefallen" klären.

14

Inwieweit man den Tieren das Prädikat „Person" zusprechen kann, wie es etwa in Konsequenz des STERNschen Personalismus geschieht, soll hier nicht geklärt werden. Es muß jedoch als gegeben hingenommen werden, daß auch Tiere Normen aktiven Widerstand entgegenstellen können. Ob man diesen Widerstand nun auf „Bedürfnisse", „Triebe" oder aber einen „Willen" zurückführen will, ist beim jetzigen Stand unserer Erörterungen nicht entscheidend, wird aber später noch interessieren. 23

B Phänographische Analyse der Ziele des Wollens I. Abhebung des "Wollens von den „Trieben" i. D a s

Wollen

Willentlichkeit als notwendige Ausprägung der Eigenart menschlichen Seins Das Phänomen des „Willens", die Tatsache des Wollenkönnens überhaupt, bildet nach K E L L E R ( 1 9 5 4 ) ein entscheidendes Kernstück im Ganzen des menschlichen Daseins. Die Eigenart des menschlichen Seins hat Willentlichkeit und willentliches Verhalten als mögliche und notwendige Ausprägung. Wenn er sich gegen den Begriff einer „Willensfunktion" im Sinne einer eigenen primären psychologischen Kategorie, wie wir sie etwa noch im Begriff des „Willensvermögens" bei S C H W A R Z finden ( S C H W A R Z 1 9 0 0 ) , wendet, so deshalb, weil für ihn eine Kategorisierung nur zweitrangig „gegenüber der Tatsache des ursprünglichen Wollendseins des menschlichen Daseins . . . " (KELLER 1954, S. 295) ist. Eine Kategorisierung wäre nur eine mögliche Folge dieser primären Tatsache. Phänographische Analyse des Wollens und Gefallens I Unabhängig von jeder Kategorisierung des „Wollens" als Funktion kann jedoch die Frage gestellt werden, ob das Wollen als eigenständiges, originäres psychologisches Phänomen gekennzeichnet werden kann (Autogenese), oder aber, ob das Wollen ein Sekundäres ist, das aus der Verknüpfung anderer, primärer psychologischer Phänomene folgt (Heterogenese). Die zweite Ansicht ist die in der experimentellen Psychologie historisch frühere, sie wird etwa von KÜLPE, der im Wollen einen Komplex mehr oder weniger lebhafter Organempfindungen sieht ( K Ü L P E I 8 9 3 ) , von EBBINGHAUS, für den Gefühle, Empfindungen und Vorstellungen die Komponenten des Willenslebens sind (EBBINGHAUS 1 9 1 1 ) , von ZIEHEN, nach weldiem der Wille im wesentlichen eine Verknüpfung von Vorstellungen und Assoziationen der die Handlungen begleitenden Spannungsempfindungen ist ( Z I E H E N 1 9 1 1 ) , aber auch anderen vertreten. 24

Eine Mittelstellung zwischen heterogenetischen und autogenetischen Willenstheorien nimmt die Lehre von B R E N T A N O ein, der den Willensregungen immerhin eine gewisse Eigenart — sie gelten ihm als mit keinem der übrigen geistigen Vorgänge identisch — zuspricht, sie jedoch für nahe verwandt hält mit den Gefühlen, deren Gattungscharakter sie teilen ( B R E N T A N O 1874). Die Eigenständigkeit des Wollens als primäres phänomenal Unhintergehbares hat schon S C H W A R Z in seiner „Psychologie des Willens" gegen die Auffassung der heterogenetischen Theorien sichergestellt ( S C H W A R Z 1900). Auch A C H vertritt die Meinung, „daß der Willensakt als solcher in seinem unmittelbaren Gegebensein wohl charakterisiert ist und als ein spezifisches Erlebnis angesprochen werden muß" (ACH 1910, S. 247). E R I S M A N N , der sich mit der Frage der Selbständigkeit des Wollens befaßt hat, kommt zu der Ansicht, daß das Wollen ein spezifisches Erlebnis sei, das von allen anderen wesensverschieden ist. „Die einfache Analyse des Willensaktes ergibt ja einleuchtend, daß er sich von einer einfachen Empfindung schon durch seine Transzendenz, sein Gerichtetsein auf eine bestimmte Zukunft hin, unterscheidet; aber auch von einem transzendenten Denkakt unterscheidet er sich, und zwar dadurch, daß er die Zukunft nicht nur zu denken, sondern sie auch zu bestimmen sucht" ( E R I S M A N N 1924, S. 1 1 0 , zit. nach R O H R A C H E R 1 9 J I , S. 524). So unterscheiden auch wir das Wollen von den Zuständlichkeiten des Ich (vgl. S . 7 ff.), es ist ein Vorgang ( R O H R A C H E R 19 51) oder besser ein Akt, in dem das wollende Ich sich ein Ziel setzt. Das heißt, im Haben des Willenserlebnisses ist immer ein dieses Erlebnis Transzendierendes notwendig mitgegeben, wir bezeichnen dies als „Willensziel". Hieraus folgt der allgemeine Grundsatz: Wollen geht auf Willensziele. Diese Willensziele sind im Willensakt als nichtseiend gesetzt, ihre Existenz kann nur mittelbare Folge eines Willensaktes sein. Die Willensregungen, die sich auf Willensziele als Seiendes oder auf die Repräsentationen von Willenszielen in Form von Vorstellungen, Erinnerungen oder Ideen richten, bezeichnen wir als „Gefallen". Wollen und Gefallen sind zwei unterschiedliche Aspekte des übergeordneten Begriffes der Willentlichkeit, wobei Wollen weder ohne Gegenstand noch ohne Gefallen am Gegenstand denkbar ist. Im Unterschied zum zielsetzenden Wollen, das nur auf Nichtseiendes gerichtet sein kann und sich im Augenblick der Verwirklichung seines Zieles selbst aufhebt, ist das Gefallen, obwohl vom wollenden Subjekt ausgehend, den Gegenständen verhaftet, auf die es sich richtet, mögen sie nun in der Vorstellung bestehen oder aber infolge einer Verwirklichung des Willenszieles 25

real sein. Gefallen kann also nur auf Bestehendes in irgendeiner Form gerichtet sein, Wollen hingegen transzendiert das Bestehende in Richtung auf Nichtbestehendes, indem es Ziele setzt. Daraus folgt der Grundsatz: Gefallen kann keine Ziele setzen; was gefällt, kann zum Ziel des Wollens werden; die Ziele des Wollens gefallen. Wird die einzelne auf Bestehendes gerichtete Willensregung als „Gefallen", der einzelne zielsetzende Willensakt als „Wollen" bezeichnet, so verstehen wir unter „Willen" die Gesamtheit der Willensakte oder -regungen eines Individuums. Der Begriff „Wille" ist also ein Oberbegriff und somit ein Allgemeines, wohingegen „Wollen" und „Gefallen" ein je Spezielles meinen.

Phänographische Analyse des Wollens und Gefallens

II

„Die unerläßliche Voraussetzung für die Entstehung eines Wollens ist eine Situation, die mehrere, mindest aber zwei Verhaltensmöglichkeiten bietet" ( R O H R A C H E R 1 9 5 I , S. 486 f.). Das heißt, Wollen tritt immer da auf, wo ein Ich sich für oder gegen die Existenz eines Begriffsgegenstandes entscheidet, wo die implizite oder explizite Verbalisation eines „ich will, daß das so und so ist", oder „ich will nicht, daß das so und so ist", bzw. „das gefällt mir" oder „das mißfällt mir" vorliegt. Im Gegensatz hierzu steht das Sollen, das keine Entscheidung zuläßt, sondern kategorisch eine bestimmte Seins- oder Verhaltensweise fordert oder ausschließt. Im Sollen wird einer Entscheidung vorgegriffen.

Das Problem der

Willensfreiheit

Der Umstand, daß Wollen immer Entscheidung bedeutet, umfaßt die prinzipielle Möglichkeit der Freiheit des Willens. „Und in genau dem Sinn und dem Umfang, in dem für das reflektierende Denken das Wollen zum Problem wird", so meint K E L L E R , „ist es die Freiheit, die den Kern dieser Problematik bildet; das Anliegen besteht in der Ergründung von Sinn, Bewandtnis und Möglichkeit dieses beharrlichen Anspruchs. Ubergreifend gesehen ist der Unterschied, ob die Freiheit im naiven Wollensbewußtsein selbstverständlich vorausgesetzt ist oder ob sie im reflektierenden Denken über das Wollen problematisch wird, nur sekundär gegenüber der Tatsache, daß es eindeutig um sie geht, wo immer es um das Wollen geht. Ob stillschweigend vorausgesetzt oder bewußt geglaubt, ob ausdrücklich bejaht oder gar verneint, ob wie immer bewiesen, bezweifelt oder bestritten, stets ist sie es, in der das Wesensmoment des Wollens liegt" ( K E L L E R 1954, S. 50 f.). 26

Wenn auch die Freiheit des Willens oftmals bestritten wurde (so und in neuerer Zeit etwa R O H R A C H E R ) , SO wird sie doch von bedeutenden Denkern entweder als Notwendigkeit und Folge des menschlichen Seins (so bei K E L L E R 1 9 5 4 ) , als Grundbedingung moralischen Handelns (KANT 18 r8) oder als notwendige Voraussetzung des Tuns, das wir „Wissenschaft" nennen (so bei D I N G L E R 1926, H O L Z K A M P 1968), postuliert. Dadurch, daß man in der experimentellen Psychologie wiederholt „nachwies", daß die Entscheidung für die eine oder andere Möglichkeit des Verhaltens in einer Wahlsituation (eine durchaus legitime Operationalisierung des Begriffes der „Freiheit des menschlichen Verhaltens") abhängig sei von „Trieben" oder „Bedürfnissen" — demnach also auch die dem Verhalten zugrundeliegende Willensentscheidung nicht mehr frei, sondern „determiniert" sei —, glaubte man die Freiheit des Willens ad absurdum geführt zu haben ( R O H R A C H E R 1 9 5 I ) . Das sogenannte „Freiheitsbewußtsein", das von philosophischer Seite immer wieder als Beleg für die Willensfreiheit angeführt wird, sei, so argumentiert R O H R A C H E R , „das Erleben des Fehlens von Motiven" ( 1 9 5 1 , S. 508). R O H R A C H E R , der sich dabei auf eigene Untersuchungen stützt (1932), kommt weiter zu der Ansicht, daß das Freiheitsbewußtsein um so mehr schwinde, je größere persönliche Bedeutung die einzelnen Wahlmöglichkeiten haben, je stärker also „Triebe" und „Interessen" wirksam werden. Nun wird aber nach einiger Überlegung klar, daß es ebenso unsinnig ist, die Freiheit des Willens experimentell „nachweisen" zu wollen wie zu versuchen, den Grundsätzen der klassischen Logik und dem Kausalitätsprinzip eine diese „beweisende" experimentelle Basis zu geben. Die Berechtigung des Begriffes der Freiheit des Willens ist prinzipiell nicht experimentell nachzuweisen, der Begriff impliziert vielmehr eine fundamentale Voraussetzung, die wir, da sie jenseits der Prüfbarkeit der Einzelwissenschaften und sogar auch — wie sich zeigen wird — jenseits der Prüfbarkeit einer Logik oder Wissenschaftstheorie liegt, dem Bereich der Metaphysik zuweisen müssen. Da unsere Aufgabe aber nicht in den Bereich der Metaphysik, sondern in den der Psychologie fällt, die nur empirisch prüfbare Aussagen gelten lassen kann, entschließen wir uns, das Problem der Willensfreiheit zu umgehen, so gut es möglich ist. Dabei wird sich zeigen, wie schwer es oft ist, die Konsequenzen eines solchen Entschlusses zu tragen, zumal wenn man selbst (als Leser oder Autor) ein überzeugter Parteigänger der einen oder der anderen Auffassung ist und Andersdenkende gern von der „Richtigkeit" der eigenen Meinung überzeugen möchte. Innerhalb des Kapitels über die „Begründung der Werte" müssen wir allerdings dem Problem einige formale Überlegungen widmen, bei denen SCHOPENHAUER, N I E T Z S C H E

27

wir uns jedoch durchaus bewußt sind, daß ihre psychologische Relevanz lediglich darin besteht, Grenzen dieser Wissenschaft aufzuzeigen. Vom Problem der Willensfreiheit ist das der Eigenständigkeit des Wollens und der Willensziele zu trennen, d. h. die Frage, ob Willentlichkeit mit ihren Implikationen und Konsequenzen hinreicht, um intendiertes Verhalten in allen seinen Ausprägungen zu erklären und vorauszusagen. Es wird daher zunächst zu prüfen sein, welcher Stellenwert überhaupt der Annahme von „Trieben", die für R O H R A C H E R etwa eine so große Rolle spielen, wenn es um das Phänomen des Willens geht, in einer streng psychologisch konzipierten Motivationslehre zukommt. 2. D i e NIETZSCHES

Triebe

„physiologische

Willensmetaphysik"

,,,Ich', sagst du und bist stolz auf diess Wort. Aber der Grössere ist . . . dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich . . . Dein Selbst lacht über dein Ich und seine stolzen Sprünge. ,Was sind mir diese Sprünge und Flüge des Gedankens?' sagt es sich. Ein Umweg zu meinem Zwecke. Ich bin das Gängelband des Ich's und der Einbläser seiner Begriffe" ( N I E T Z S C H E 1925, S. 36 f.). Mit diesen Worten N I E T Z S C H E S ist jene ganze Forschungsrichtung gekennzeichnet, die die Motivation des menschlichen Handelns von den Ansprüchen des menschlichen Organismus her versteht. Wir bezeichnen diese Grundannahme mit S C H W A R Z als „physiologische Willensmetaphysik" ( S C H W A R Z 1900, S. 1 9 ff.). Darin wird nicht nur angenommen, daß jene Entscheidungen, die wir im täglichen Leben auf das Wirken eines freien Willens zurückführen, lediglich körperlichen Ansprüchen genügen, sondern auch, daß diese Ansprüche „angeboren" seien. Der Wille, so argumentiert man, sei ganz und gar mit angeborenen Zwecken erfüllt; keineswegs eine „tabula rasa", sondern von Anfang an eine vollbeschriebene Tafel, trage er alle die Ziele, auf die er sich während des ganzen Lebens richte, schon von Hause aus in sich. „Der gewöhnliche Name für diese Willensrichtungen, die auf angeborene Zwecke gehen sollen, ist .Triebe'. Die in Rede stehende Auffassung heisst daher passend die Trieblehre oder noch genauer die nativistische Trieblehre. Sollen die angeborenen Willensrichtungen ihren Trägern im Kampfe ums Dasein nützen, so müssen sie unseren leiblichen Lebensbedingungen genau entsprechen. Die Triebe mit den ihnen mitgegebenen Willenszielen, so fährt man daher fort, ständen durchgehends mit körperlichen Erfordernissen in Einklang" ( S C H W A R Z 1900, S. 23 f.). Hierbei vermeidet S C H W A R Z , wie er sagt, absichtlich den Begriff der „körperlichen Bedürf28

nisse", „weil der Begriff des Bedürfnisses ein psychischer ist" (S. 24, Anm. 1). „Als dunkler Drang in uns schaltend, träten sie von Zeit zu Zeit ins Bewusstsein; hiermit zeigten sie diesem an, was das physische Dasein in eben dem Augenblicke am meisten erhalte und fördere. Bei solcher prästabilierten Harmonie, die zwischen unserem leiblichen Nutzen und unseren Willensbethätigungen bestehen soll, gilt nach der strengen monistischen Anschauung, insbesondere nach Nietzsches Lehre, der Wille durchaus als der passive Teil. Er sei in allen seinen angeborenen Richtungen nur das Ab- und Spiegelbild des Leibes, unseres eigentlichen Selbst. Der Leib regiere unseren Willen und durch ihn all unser Thun und Denken, das wir so stolz und eingebildet auf ein freies Ich bezögen" (S. a 4 ). Vergleicht man mit diesen Ausführungen von S C H W A R Z die Definition der Triebe bei R O H R A C H E R , SO findet sich mit der Ausnahme, daß R O H R A C H E R die Begriffe „Trieb" und „Bedürfnis" (wie wir meinen unberechtigterweise) miteinander vermengt, kaum ein Unterschied. „Ein zweites wesentliches Merkmal aller Triebe ist es, daß sie von selbst entstehen. Natürlich hat ihr Auftreten bestimmte Ursachen im Organismus; aber von diesen Ursachen wird nichts bewußt. Die Triebe kommen, ohne daß man sie ruft; sie entstehen autogen. Man kann es noch genauer sagen: sie treten ohne Mitwirkung des Bewußtseins auf, unabhängig vom Wollen und Denken. Sie sind auf einmal da, in einer einschleichenden Art, langsam in ihrer Stärke zunehmend bis zur Kraft von Naturgewalten, gegen die es keinen Widerstand gibt" ( R O H R A C H E R 1 9 5 I , S. 383).

Gemeinsamkeiten

der unterschiedlichen

Trieblehren

Die angeborene physiologisch-metaphysische Grundlage des intendierten menschlichen und (vergleichbar damit) auch tierischen Verhaltens wurde von anderen Autoren als „Instinkt" bezeichnet (so etwa M C D O U G A L L 1908); abgesehen davon, daß in den „Instinkt"-Lehren in der Grundannahme des Getriebenseins noch die Annahme der daraus ableitbaren mehr oder weniger begrenzten Verhaltensweisen miteingeht, ist die physiologisch-metaphysische Grundposition die gleiche wie in den nativistischen Trieblehren. Die Annahme der grundsätzlichen Gelenktheit menschlichen und tierischen Verhaltens durch Erfordernisse des Körpers wird, wenn man von begrifflichen Unterschieden auf anderen Gebieten absieht, übereinstimmend von einer großen Anzahl zeitgenössischer Psychologen vertreten (so Y O U N G MAIER

Auch

1949,

FREUD

1936,

ALLPORT

TINBERGEN

1937,

MASSERMAN

1946,

FREEMAN

1948,

1 9 5 1 , H U L L 1952, aber auch T O L M A N 1932).

glaubte ja, daß die von ihm konzipierte „Libido" letztlich 29

wie alle „psychologischen Vorläufigkeiten" auf physiologische Prozesse reduzierbar sei ( F R E U D 1967 a). Interessant ist, daß S K I N N E R eine Reduktion der in die Analyse des Verhaltens eingehenden Definition auf physiologische Begriffe ablehnt: „The causes to be sought in .the nervous system are, therefore, of limited usefulness in the prediction and control of specific behavior" ( S K I N N E R 1953, S . 28). Dabei steht S K I N N E R S Vorgehen, die Auftretenshäufigkeit bestimmter „operants" dadurch zu beeinflussen, daß er Ratten eine definierte Zeit lang hungern läßt, zumindest in implizitem Widerspruch zu dieser wissenschaftstheoretischen Grundhaltung.

Biologisch-physiologische

Kennzeichnung der Triebe und ihrer

„Zwecke"

Formal gesehen sind die so gekennzeichneten Triebe Normen, die dem handelnden Ich von „außen" Handlungen abfordern, deren Folge ein biologisch-physiologisch definierbarer Sollzustand ist. Treten Abweichungen vom Sollzustand auf, so wird das Individuum dazu „getrieben", jene auszugleichen und diesen wieder herzustellen. Dieser Mechanismus wird im allgemeinen als „Homöostase"15 bezeichnet; dabei ist es gleichgültig, ob dieser Sollzustand auf einen spezifischen Trieb (Hunger, Durst, Sexualtrieb usw.) oder ein unspezifisches „drive-level" (so bei H U L L ) bezogen ist. All diese Triebe, so argumentiert man, hülfen dem jeweiligen Individuum beim Kampf ums nackte Dasein und/oder garantierten die Arterhaltung, wobei entweder offen bleibt, warum das Individuum überhaupt ums Dasein kämpfen oder warum es die Art erhalten soll (es werden nur Mechanismen konzipiert, die beschreiben, wie es das tut), oder aber es werden die Triebe in den Status der „wirksamen Einrichtung der Natur" (wobei letzterer Begriff den Urgrund allen Seins meint, also eine Art Synonym für „Gott" ist) erhoben und damit zu Werkzeugen „höherer" Zwecke, die für uns bisher noch im Dunkel liegen, uns aber vielleicht irgendwann einmal erhellt werden. „Viel interessanter und aufschlußreicher als die Einteilung der Triebe . . . ist die Entwicklungsgeschichte der Triebe; sie zeigt, daß man es dabei mit außerordentlich sinnreichen und höchst wirksamen Einrichtungen der Natur zu tun hat, die den Menschen zu Handlungen veranlassen, die nicht nur zur Erhaltung des 15

Der Begriff wurde von dem Physiologen W . B . CANNON 1 9 3 2 in die Wissenschaftssprache eingeführt. E r bezog sich zunächst auf rein physiologische Prozesse (z. B. die Konstanthaltung der Körpertemperatur innerhalb eines Organismus), w i r d aber heute auch in der Psychologie vielfach angewendet. So ist etwa audi die „sensorytonic field theory" von WERNER und WAPNER ein homöostatisches Modell (vgl. das Postulat I in WAPNER & WERNER I J J J , S. I f.).

30

einzelnen Lebens und der Gattung, sondern auch zur Entstehung der menschlichen Kultur führen" ( R O H R A C H E R 1 9 5 1 , S. 385 f.). Wir haben also auf der einen Seite ein sinn- und zweckloses „Dahinwesen" des seienden Individuums, ohne daß wir etwa sagen könnten, „es sei da, bloß um da zu sein", denn dies wäre eine metaphysische Annahme, deren Berechtigung erst nachzuweisen wäre. Auf der anderen Seite ist das handelnde Individuum eine Marionette im Rahmen einer „Weltmaschine" 18 , deren Zweck wir nicht kennen und deren Initiator uns für ewig verborgen bleibt. In beiden Fällen ist die Möglichkeit, daß das handelnde Ich seine Handlungen aus sich selbst frei bestimmen könnte, ausgeschlossen.

Repräsentation der Triebe im Bewußtsein

Da die Triebe per definitionem auf Grund ihrer biologisch-physiologisch faßbaren Eigenarten „unbewußt", d. h. dem sich und die Welt bewußt habenden Ich nicht gegeben sind, müssen die jeweiligen Abweichungen vom biologisch-physiologischen Sollzustand der „zentralen Instanz" (die wir mit dem bewußtseinspsychologischen Begriff des „Ich" 1 7 bezeichnen), welche die für den Sollzustand jeweils notwendigen Handlungen intendiert und steuert, irgendwie erkennbar sein. Außerdem muß dieser zentralen Instanz erkennbar sein, wann sie eine bestimmte intendierte Handlung oder Handlungsfrequenz abzubrechen hat, da der vorgeschriebene Sollzustand erreicht ist. Diese „Vermittler"-Funktion nehmen z. B. im HuLLschen System die „drive produced Stimuli" ein, deren Auftreten und Abklingen Signal für Beginn, Fortführung oder Beendigung eines bestimmten Verhaltens oder einer bestimmten Verhaltenssequenz sind. In anderen, mehr kognitiven Theorien, werden Gefühle als Begleiter bestimmter biologisch-physiologischer Sollzustände — und/oder Abweichungen davon — angenommen. So zeige in den meisten Fällen ein unlustbetontes Gefühl oder eine unlustbetonte Leiblichkeitsempfindung eine Abweichung von einem Sollzustand an, ein lustbetontes Gefühl oder eine lustbetonte Leiblichkeitsempfindung dagegen sei das Anzeichen dafür, daß der Sollzustand entweder schon erreicht sei oder nach kurzer Zeit ohne Dazutun des Individuums erreicht sein werde. „Allgemein gilt: Befriedigung eines Triebes ist von Lust, der unbefriedigte Trieb von Unlust begleitet" ( R O H R A C H E R 1 9 5 1 , S. 383). Allerdings, so schränkt 18

Vgl. hierzu DINGLER 1 9 3 2 .

17

Unser Begriff des „Ich" deckt sich mit dem ersten der bei ALLPORT 1 9 4 3 (s. S. 4 5 3 f.) abgehandelten acht Ichbegriffe.

31

ein, könne aber auch „ein starkes Trieberleben, wenn Aussicht auf Befriedigung besteht, als ausgesprochen lustvoll empfunden werden" (S. 383). ROHRACHER

Um es in unsere Terminologie zu fassen: Eine Abweichung des biologisch-physiologischen Zustandes eines Individuums vom Sollzustand ist von einer unangenehmen Zuständlichkeit begleitet. Eine Übereinstimmung eines biologisch-physiologischen Zustandes mit dem Sollzustand oder ein Zustand, der diesen Sollzustand antizipiert, ist von einer angenehmen Zuständlichkeit begleitet.

Unterscheidung zwischen „monothematischen", „polythematischen" „athematischen" Trieblehren

und

Bevor wir den physiologisch-willensmetaphysischen Ansatz der nativistischen Trieblehre einer eingehenden Kritik unterwerfen, wollen wir kurz ein anderes Problem behandeln: Die monothematische in Abhebung von der polythematischen Auffassung von den Trieben. Im monothematischen Ansatz wird versucht, das gesamte intendierte menschliche (und auch tierische) Verhalten auf das Wirken eines einzigen Triebes zurückzuführen. Diese Annahmen, die etwa im Selbsterhaltungstrieb oder im Fortpflanzungstrieb das eigentliche Agens des menschlichen Handelns sehen, werden, soweit wir sehen, heute kaum noch vertreten. Stellvertretend für andere Ansätze mag hier die frühe FREUDsche Lehre stehen, die in der „Libido", der „sexuellen Energie", den Antrieb des menschlichen Verhaltens sieht ( F R E U D 1961). In einer späteren Phase wich F R E U D von dieser monothematischen Annahme ab und konzipierte den der Libido konträren „Todestrieb" ( F R E U D 1967c, S. 40 ff.). Im polythematischen Ansatz wird Verhalten als durch eine ganze Anzahl von Trieben bedingt gesehen. Die betreffenden Autoren fassen die von ihnen konzipierten Triebe dann meist in entsprechenden „Listen" zusammen. Eine Aufzählung der in diesen Listen enthaltenen Triebe würde an dieser Stelle zu weit führen, zumal die Listen der verschiedenen Autoren oft mehr oder weniger voneinander abweichen. Als bedeutende Vertreter der polythematischen Trieblehre sind zu nennen: J A M E S (1920), M C D O U G A L L (1937), R O H R A C H E R ( 1 9 5 I ) , M U R R A Y (195I), R O T H A C K E R (1942), L E R S C H ( 1 9 5 1 ) . Eine weder monothematische noch polythematische, sondern athematische Auffassung von Trieb ist uns (jedenfalls in der hier angezielten radikalen und ausschließlich physiologisch-metaphysischen Ausprägung) nicht bekannt. Zwar ist bei H U L L der Begriff des „drive level" allgemein und unspezifisch gehalten, jedoch so konzipiert, daß er sich aus verschie32

denen (operationalisierbaren) Trieben konstituiert, womit der angestrebte Athematismus wieder in Frage gestellt wird. Der bei L E W I N verwendete allgemeine Begriff der „Spannung" kann jedoch auch (so L E W I N 1926) psychischen Ursprungs (etwa eine bestimmte „Vornahme" oder ein allgemeines „Willensziel") sein und ist nicht an biologisch-physiologische Ansprüche gebunden, er fällt also nidit in den Bereich der rein physiologischen Triebansätze. 3 . K r i t i k der

Trieblehren

Kritik des monothematischen Ansatzes unter Berücksichtigung der F R E U D sehen monothematischen Trieblehre Der monothematische Ansatz stößt, wie sich deutlich in der F R E U D schen Libidotheorie zeigt (die hier paradigmatisch für andere stehen soll), sehr bald auf Schwierigkeiten prinzipieller Art. Da versucht werden muß, sämtliches Verhalten als durch eine einzige spezifische Triebfeder 18 verursacht und gesteuert zu erklären, sind oftmals komplizierte und ausgedehnte Kausalketten oder mehr oder weniger ad hoc konzipierte Hilfsannahmen nötig, um Verhalten, das in keiner unmittelbaren Verbindung mit der Befriedigung dieses spezifischen Triebes gesehen wird, zu deuten. So fällt es von der FREUDschen Libidotheorie her schwer, zu erklären, warum denn so viele Menschen in ihren Neigungen und ihrem Verhalten ganz im kulturellen Bereich aufgehen. Warum ein Musikfanatiker ein bestimmtes Musikstück allen anderen vorzieht, ja warum er überhaupt Musik liebt, muß für eine Theorie, die im Sexualtrieb die Kraft sieht, die unser intendiertes Verhalten treibt, unerklärlich bleiben, solange sie in letzter Konsequenz vertreten wird. Eine Möglichkeit, das gesteckte Erklärungsziel doch noch zu erreichen, liegt in der Annahme, die F R E U D anläßlich des Problems der Versagung der Triebbefriedigung macht: „Ferner zeigen die Partialtriebe der Sexualität, ebenso wie die aus ihnen zusammengefaßte Sexualstrebung, eine große Fähigkeit, ihr Objekt zu wechseln, es gegen ein anderes, also auch gegen ein bequemer erreichbares, zu vertauschen; diese Verschiebbarkeit und Bereitwilligkeit, Surrogate anzunehmen, müssen der pathogenen Wirkung einer Versagung mächtig entgegenarbeiten. Unter diesen gegen die Erkrankung durch Entbehrung schützenden Prozessen hat einer eine 18

3

Anfänglich unterschied FREUD nodi eine zweite Art von Trieben, die „Iditriebe", die jedoch für Erklärungszwecke kaum herangezogen wurden. Bedeutsam war lediglidi die objektbezogene „Libido". Durch die Einführung des „ N a r z i ß m u s " (FREUD 1967 a) wurde die ursprüngliche Trennung wieder rückgängig gemacht, im Narzißmus kann das eigene Ich Objekt der Libido sein. Damit wird die FREUDsche Trieblehre endgültig zur rein monothematischen Libidotheorie. Keiler, Wollen

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besondere kulturelle Bedeutung gewonnen. Er besteht darin, daß die Sexualstrebung ihr auf Partiallust oder Fortpflanzungslust gerichtetes Ziel aufgibt und ein anderes annimmt, welches genetisch mit dem aufgegebenen zusammenhängt, aber selbst nicht mehr sexuell, sondern sozial genannt werden muß. Wir heißen den Prozeß ,Sublimierung', wobei wir uns der allgemeinen Schätzung fügen, welche soziale Ziele höher stellt als die im Grunde selbstsüchtigen sexuellen. Die Sublimierung ist übrigens nur ein Spezialfall der Anlehnung von Sexualstrebungen an andere nicht sexuelle" ( F R E U D 1966, S. 3 5 8 ) . Das würde bedeuten, daß alle intendierten Handlungen, die nicht unmittelbar mit einer Triebbefriedigung in Beziehung stehen, ihren Ursprung in der Versagung der prinzipiell angestrebten Befriedigung des einen und einzigen Triebes haben. Gegen diese Argumentation sind gewichtige Einwände zu erheben: 1. Es ist bisher noch niemals empirisch nachgewiesen worden, daß die Intensität der Bemühungen eines Menschen im sozialen oder kulturellen Bereich proportional zum Ausmaß der von ihm erlittenen Versagung der Befriedigung seines Sexualstrebens anzusetzen ist. Die Ergebnisse der Untersuchung von T A Y L O R lassen vielmehr eher die Vermutung zu, daß sexuelle Betätigung und Betätigung im sozialen und/oder kulturellen Bereich positiv miteinander korrelieren, was eindeutig gegen die FREUDsche Sublimierungsannahme sprechen würde ( T A Y L O R 1933). 2. Der zweite Einwand ist ein methodischer. Da aus der angenommenen Möglichkeit der Verschiebung der sexuellen Strebungen auf Objekte, die nicht unmittelbar der Triebreduktion dienen, nicht abzuleiten ist, wie dieser Mechanismus im einzelnen ablaufen soll, wie also „Sublimierung" recht eigentlich vor sich geht, sind weitestreichenden Spekulationen keine Grenzen gesetzt; man benötigt nur die von S C H U L T Z H E N C K E geforderte „Vorstellungsfülle", um alles auf alles zurückführen zu können. 3. Die Einführung des Begriffes der „Sublimierung" stellt zweifellos eine Exhaustion (vgl. hierzu D I N G L E R 1926, H O L Z K A M P 1964, 1968) der ursprünglichen Libidotheorie dar, die von ihr abweichende empirische Befunde nicht mehr zu decken vermochte. Die „sozialen Triebe" sind phänomenal keineswegs sexuell (was in der Begriffserklärung auch zugegeben wird); da F R E U D jedoch nur den Sexualtrieb als einzigen gelten lassen will, ist er genötigt, durch den Vorgang der „Sublimierung" diese phänomenal nichtsexuellen Strebungen genetisch auf sexuelle zurückzuführen, wodurch der monothematische Anspruch gesichert wird, freilich auf Kosten einer eindeutigen Verletzung des logischen Prinzips „vom ausgeschlossenen Dritten". 34

4. Anläßlich der Darstellung der T A Y L O R S c h e n Befunde ( T A Y L O R 1933) wäre der Einwand möglich, die positive Korrelation zwischen sexueller Betätigung und Betätigung im sozialen Bereich schließe nicht aus, daß die sozial aktiven Männer im Verhältnis zu ihren Ansprüchen immer noch mehr Versagungen ihrer sexuellen Bedürfnisse erlebten als sozial nicht so aktive, die auch keine so starken sexuellen Bedürfnisse hätten. Wie soll man das jedoch nachprüfen? Diese Argumentation entzieht das Problem dem Kriterium der empirischen Prüfbarkeit. Vor ähnlichen Schwierigkeiten stehen auch andere monathematische Auffassungen von „Trieb". Wenn man etwa den „Nahrungstrieb" als einziges Konstituens menschlicher und tierischer Motivation postulieren würde, stünde man ebenfalls vor der Aufgabe, Verhalten, das unmittelbar mit Triebbefriedigung nichts zu tun hat, durch weiträumige Kausalketten oder die Annahme ähnlicher, der Spekulation Tür und Tor öffnender Mechanismen wie der FREUDschen „Sublimierung" zu erklären. Abschließend läßt sich sagen: Wenn auf den ersten Blick auch die Einfachheit einer monothematischen Trieblehre besticht, so erkennt man doch bald, daß infolge der Notwendigkeit, durch unüberprüfbare genetische Verknüpfungen oder die Annahme von Hilfshypothesen das gesteckte Erklärungsziel noch zu erreichen, den wissenschaftlichen Wertkriterien zuwidergehandelt wird. Insbesondere ist der Integrationswert ( H O L Z K A M P 1964) der eigentlichen theoretischen Grundannahme entschieden geringer, als man glauben machen möchte. Von daher ist die Annahme monothematischer Triebtheorien als nach wissenschaftlichen Wertgesichtspunkten unzweckmäßig gekennzeichnet.

Kritik der polythematischen

Trieblehren

„Welche Triebe darf man aufstellen und wie viele? Dabei ist offenbar der Willkür ein weiter Spielraum gelassen" ( F R E U D 1967b, S. 2x6). In diesen Worten FREUDS zeigt sich die ganze Problematik der polythematischen Trieblehren. D a es offensichtlich kein verbindliches Kriterium für Anzahl und Zielinhalt der Triebe gibt, bleibt es wiederum der „Vorstellungsfülle" des einzelnen Psychologen überlassen, ob er mit einem „sparsamen" Modell mit zwei Trieben (z. B. die späte FREUDsche Lehre 19 ) auskommt oder ob er ein umfangreicheres in Form einer Triebliste (z. B. die Theorie von M U R R A Y ) aufstellt, um damit die empirische Wirklichkeit zu erfassen. „Wie man sieht, haben verschiedene Forscher nicht nur verschiedene Grundtriebe angenommen, sondern auch verschie19

Es wurde schon darauf hingewiesen, daß die FREUDsche Lehre in ihrer frühesten Fassung auch zwei A r t e n v o n Trieben unterschied.

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dene Anzahlen von solchen zum Triebinventar des Menschen erklärt", meint T O M A N (1954, S. 16), nachdem er in seiner „Dynamik der Motive" die Trieblisten von J A M E S , M C D O U G A L L und M U R R A Y referiert hat. Gewiß lassen sich durch verbale Umformungen einzelne Triebe unterschiedlicher Trieblisten zur Deckung bringen, aber insgesamt herrscht doch der Eindruck einer Uneinigkeit zwischen den einzelnen Forschern vor. In vielen Fällen wird auch der angestrebte biologisch-physiologische Rahmen gesprengt oder nichts darüber ausgesagt, wie das physiologische Korrelat des jeweilig postulierten Triebes zu kennzeichnen sei. Ist es relativ einfach, als physiologische Entsprechung des Sexualtriebes die hormischen Veränderungen innerhalb des Blutkreislaufes anzunehmen oder in Mangelerscheinungen spezifischer Zellen oder des gesamten Organismus die Ursache des Nahrungstriebes zu sehen, so dürfte es doch Schwierigkeiten bereiten, dem „ästhetischen Trieb" ( R O H R A C H E R 1 9 5 1 ) oder den „Strebungen der enthebenden Teilnahme" ( L E R S C H 1 9 5 1 ) ein aufweisbares physiologisches Korrelat zuzuweisen. Hierbei wird immer wieder übersehen, daß diese Schwierigkeiten nicht etwa — wie man vielleicht meinen könnte — „in der Natur der Sache" liegen, sondern daß sie methodischer Art sind. Die Trieblisten sind die Folge einer Klassifikation von menschlichen und tierischen Verhaltensweisen; jeweils einer Anzahl von als zusammengehörig gekennzeichneten Verhaltensweisen wird als erklärendes Prinzip ein „Trieb" unterlegt. In naiver Ontologisierung verlegt man nun das von einem selbst eingeführte begriffliche Erklärungsprinzip als ursprünglich vorgefunden in die Wirklichkeit. Diesem vermögenspsychologischen Irrtum entspringt dann die Suche nach einem „organischen Substrat", das diesem „Trieb" zugrundeliegen muß, da er ja ein „vorgefundenes tatsächlich Seiendes" ist.

Methodische Schwierigkeiten

der athematischen

Trieblehren

Ähnliche Schwierigkeiten hätte eine athematische physiologisch-metaphysische Triebtheorie. Selbst wenn ein ganz „allgemeiner Mangel und/ oder Uberfluß des Organismus" einen „unspezifischen Triebspiegel" bedingen würde, wäre damit noch nichts darüber ausgesagt, warum sich ein Individuum in einer spezifischen Situation ganz speziell verhält, sondern nur, daß es sich überhaupt verhält, womit natürlich nichts erklärt wäre. Und außerdem begibt man sich beim Versuch des Aufweises physiologischer Korrelate wiederum nur allzu leicht in die Gefahr eines vermögenspsydiologischen Irrtums. Läßt man dagegen den „unspezifischen Triebspiegel" sich aus je einzelnen Mangel- oder Überflußerscheinungen konstituieren (so bei H U L L 1952), die dadurch wieder in den physiologischen Sollzustand überführt werden, daß der „unspezifische Triebspiegel"

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spezifisches Verhalten verursacht, so steht man erstens vor den gleichen Schwierigkeiten wie die monothematischen und polythematischen Trieblehren, da man ja immer entscheiden muß, welche Mangel- oder Uberflußerscheinungen den unspezifischen Triebspiegel bedingen sollen und wie dieser unspezifische Triebspiegel spezifisches Verhalten auslösen soll, das triebreduzierend wirkt. Zweitens wäre durch diese Annahme natürlich der Anspruch auf Athematik der Trieblehre verwirkt.

„Nahrungstrieb"

vs. „Scheuen von Unlust" bei SCHWARZ

Bezog sich unsere bisherige Kritik ausschließlich auf das Problem der Thematik der Trieblehren und damit ein inhaltliches Moment, so sollen sich unsere weiteren Überlegungen darauf richten, ob denn überhaupt ein physiologisch-metaphysischer20 Ansatz notwendig ist, wenn es darum geht, Aussagen über die Motiviertheit menschlichen und tierischen Verhaltens zu machen. Richtet sich denn „tatsächlich" unser Verhalten auf bewußseins jenseitige physiologisch-metaphysische Ziele? SCHWARZ schreibt in diesem Zusammenhang: „Der blinde Wille zum L e b e n . . . soll aus unserem Willen zur Nahrung sprechen? Indessen, nicht allein darauf, dass hier ein Wollen in den Dienst des Körpers tritt, muss man sehen, sondern auch darauf, wie es geschieht. — Wie regelt sich nun aber unsere Speisezufuhr? In einer Weise, die im Gegenteil erkennen lässt, dass sich die Strebethätigkeit gar nicht unmittelbar auf die Leibeserfordernisse richt e t . . . Wenn nämlich der Zeitpunkt naht, wo die leiblichen Funktionen ohne erneuerte Nahrungsaufnahme gestört werden würden, . . . haben wir die Organempfindung des Hungers und begleitende Unlustgefühle. Der Stachel dieser Unlust ist das eine Mittel, mit dem die Natur unseren Willen in ihren Dienst zwingt. Unlust aller A r t möchten wir meiden; auch das Schmerzgefühl des Hungers scheuen wir, und die physiologische Verkettung des Nervennetzes giebt schon dem Kinde die Mittel, es los zu werden" (SCHWARZ 1900, S. 27 f.). Wenn dem hungrigen Kind der geeignete Gegenstand von außen dargeboten wird, so gelangt durch Schnapp-, Saug- und Schluckbewegungen neuer Nahrungsstoff in den Magen, der Hunger hört auf und die ihn begleitenden unangenehmen Organempfindungen vergehen. (Unter „geeignetem Gegenstand" soll hier alles verstanden werden, was auf Grund seiner Größe auf natürlichem Wege in den Magen gelangen kann und dort durch chemische Um20

Es muß angemerkt werden, daß FREUD sich des Umstandes, daß seine Trieblehre metaphysisdie Annahmen implizierte, völlig bewußt war. So in den Gesammelten Werken ( X V , 1967f, S. 101): „ D i e Trieblehre ist sozusagen unsere Mythologie. D i e Triebe sind mythische Wesen, großartig in ihrer Unbestimmtheit. Wir können in unserer Arbeit keinen Augenblick von ihnen absehen und sind dabei nie sicher, sie scharf zu sehen." 37

Setzung zu eigentlicher Nahrung wird; daß darüber hinaus das Kind reflektorisch auch nach „nicht geeigneten Gegenständen" schnappt, die entweder auf Grund ihrer Beschaffenheit nicht in den Magen gelangen können oder dort nicht in eigentliche Nahrung umgesetzt werden, kann als Beleg dafür angesehen werden, daß die genannten Schnapp-, Saugund Schluckbewegungen keineswegs gezielt mit den körperlichen Erfordernissen in Beziehung stehen.) „Damit ist die erste Erfahrung von der hungerstillenden Wirkung jenes Gegenstandes, Speise genannt, gemacht. In dem Grade, wie sie öfter gemacht wird, stellt sich ein immer deutlicheres Verlangen nach ihm ein; immer mehr lenkt es die Aufmerksamkeit auf die Mittel hin, Speise zu erlangen. So kommt es, dass der Erwachsene in sich stets zugleich mit dem Gefühl des Hungers das Begehren entdeckt, zu essen. Er wünscht seinen Hunger zu beseitigen und hat gleichzeitig die Vorstellung der Mittel, durch die das geschehen kann 21 . Das zeigt, wie der Wille zu essen erst allmählich entsteht. Er sondert sich nicht ohne weiteres bei Gelegenheit des körperlichen Nahrungserfordernisses aus einem blinden Lebenswillen heraus, der unabhängig von physischem Zwange schon anfangs in uns hauste. Noch führt ihn der Nutzen des Leibes direkt und unmittelbar herbei und spiegelt sich in jenem Willen gleichsam wieder; letzterer hat gar nicht seinen positiven Gegenstand an dem, was das Leben fördert. Sondern wir widerstreben der Unlust des Hungers und wollen positiv nichts weiter als die Mittel, sie los zu werden. W i r sind nicht Wesen, die leben wollen, sondern Wesen, die Unlust fliehen" (SCHWARZ 1900, S. 28).

und Realisation von Vermeidung von unangenehmen Zuständigkeiten angenehmen Zuständlichkeiten als Ziele menschlichen Verhaltens D a unter Abwesenheit störender Bedingungen die Tendenz, Unlust zu vermeiden, eine generelle ist (siehe unsere operationale Kennzeichnung der unangenehmen Zuständlichkeiten, S. 12 f.) und unangenehme Zuständlichkeiten nicht nur organische Ursachen haben, sondern auch nur mit psychologischen Begriffen faßbare, wird dem unbegrenzten Anspruch der nativistisch-physiologischen Triebtheorien, durch willensjenseitige „Triebe" das gesamte intendierte menschliche und tierische Verhalten zu erklären, durch unsere Grundannahme widersprochen: Eines 21

Diese von SCHWARZ im Jahre 1900 formulierten Annahmen decken sich — soweit w i r sehen — was den Lernvorgang betrifft, weitgehend mit den Überlegungen der effektorientierten Lerntheorien neueren Datums, wenn hier auch „mentalistische" Begriffe wie „Begehren" und „Vorstellung" vermieden werden. Den ScHWARZschen Überlegungen scheint uns die Theorie TOLMANS am nächsten zu stehen.

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der Ziele intendierten menschlichen Verhaltens ist die Vermeidung unangenehmen Zuständlichkeiten.

von

Die Vermeidung der bei Abweichung vom biologisch-physiologischen Sollzustande auftretenden unangenehmen Zuständlichkeiten ist also Ziel unseres Verhaltens und nicht der Sollzustand selber. Ebenso ist unser Verhalten auf die angenehmen Zuständlichkeiten gerichtet, die einen Sollzustand begleiten oder kurz vor seiner Realisation auftreten. D a unter Abwesenheit störender Bedingungen die Tendenz, angenehme Zuständlichkeiten anzustreben, eine generelle ist, folgt daraus ein weiterer Grundsatz: Eines der Ziele intendierten menschlichen Verhaltens ist die Realisation angenehmer Zuständlichkeiten. In diesem Grundsatz ist der Umstand einbegriffen, daß unter angenehmen Zuständlichkeiten nicht nur in Verbindung mit einem physiologischen Sollzustande auftretende Leiblidikeitsempfindungen und Gefühle verstanden werden, sondern auch Zuständlichkeiten, deren Ursachen und/oder mit ihnen vom Subjekt in Grund-Folge-Beziehung gebrachten Umstände in psychologischen Begriffen definiert sind.

Koppelung

von physiologischen Sollzuständen und angenehmen unangenehmen Zuständlichkeiten

und

Nun mag der Schluß naheliegen, daß, wie es SCHWARZ ausdrückt, durch die Koppelung von physiologischen Sollzuständen mit angenehmen Zuständlichkeiten und die Koppelung von Abweichungen von jenen mit unangenehmen Zuständlichkeiten „die Natur unseren Willen in ihren Dienst zwingt" (SCHWARZ 1900, S. 27), was wiederum bedeuten würde, daß das handelnde und erlebende Ich doch nur eine „Marionette" in einem „Stück" wäre, in dem es eine Rolle spielt, die ihm ein unbekannter „Autor" und „Regisseur" vorschreiben, ohne daß ihm die Freiheit einer eigenen Interpretation dieser Rolle bliebe. Eine kurze Uberlegung zeigt, daß dieser Standpunkt einige ungeklärte Voraussetzungen impliziert, die ihn von der Sichtweise einer einzelwissenschaftlichen Psychologie her belasten. Was heißt denn „der Natur dienen"? Welchen Inhalt hat denn das „Stück", in dem wir spielen? Was ist der Inhalt der Rolle für jeden einzelnen? Schon allein diese Fragen zeigen daß das Problem die Kompetenzen des einzelwissenschaftlichen Psychologen überschreitet. Macht man sich darüber hinaus klar, daß die zunächst eindeutig scheinende „Mittel-Zweck-Beziehung" von Zuständlichkeiten und Sollzuständen gar nicht eindeutig ist (sind die Zuständlichkeiten „Mittel", um den „Zweck" des Sollzustandes zu erreichen — oder ist der Sollzustand „Mittel", um den „Zweck" der Zuständlichkeit zu erreichen?), so erkennt man, daß wir uns jenseits der theoretischen und empi39

rischen Möglichkeiten der einzelwissenschaftlichen Psychologie im Bereiche unüberprüfbarer Spekulationen bewegen, wenn wir nach einer „Absicht" fragen, die Zuständlidikeit und Sollzustand miteinander koppelt. Wir können im Rahmen der Psychologie nur auf das vorfindbare Phänomen hinweisen, daß unter bestimmten Voraussetzungen Sollzustände und Zuständlichkeiten in raumzeitlidier Kontiguität (zur gleichen Zeit beim gleichen Individuum) vorliegen, Vermutungen über ein „Warum" sind empirisch nicht überprüfbare Spekulation und haben in der Psychologie keinen Ort. Daß diese Koppelung zwischen Sollzuständen und Zuständlichkeiten keine generelle ist, wurde weiter oben schon erwähnt. Wir essen z. B. nicht nur, weil uns die den Hunger begleitenden Zuständlichkeiten unangenehm sind, sondern auch, weil es uns schmeckt, weil wir Lust am Essen haben. „So kommt es, dass wir zuletzt weiter essen, in anderen Fällen weiter trinken, auch wenn das Hunger- und Durst-Gefühl vorüber ist. Ebendeshalb i s t . . . der Gaumen- und Schlundkitzel beim Essen und Trinken... nicht ungefährlich. Er ladet ein, zu viel und zu oft zu essen und zu trinken, so dass das Mittel, das dem Leben des Leibes nützen sollte, leicht dahin'umschlägt, ihm zu schaden" ( S C H W A R Z 1900, S. 29). Diese Überlegungen führen zu der Vermutung, daß in den „klassischen" Effekttheorien des Lernens von H Ü L L (1943) und M I L L E R & D O L LARD (1941) eine unangemessene Auffassung von dem vertreten wurde, was als „Verhalten verstärkend" zu betrachten sei. Denn es sind ja keineswegs die physiologischen Sollzustände (die als Kennzeichen dafür gelten, ob ein „Trieb" vorliegt oder nicht), auf die das Verhalten gerichtet ist, sondern die diese Sollzustände begleitenden oder ihnen vorangehenden angenehmen Zuständlichkeiten. Die Motivation für viele Arten von Verhalten ist also ganz „vordergründig", wir brauchen keinen geheimnisvollen, im Verborgenen wirkenden Triebmechanismus, wenn wir Verhalten erklären wollen, dessen „Reinforcement" in Form der Realisation angenehmer oder der Vermeidung unannehmer Zuständlichkeiten (in der behavioristischen Terminologie würde man von einem „positiven Stimulus" sprechen) offen vor uns liegt. Diese Annahme wird durch die Ergebnisse der bekannten Untersuchung von SHEFFIELD & R O B Y (1950) gestützt, die in einem einfachen Rattenexperiment nachwiesen, daß hungrige Ratten ein Verhalten lernten, dessen zielbildende Endhandlung in der Aufnahme einer stark konzentrierten süßschmeckenden Saccharinlösung bestand, die überhaupt keinen Nährwert hatte, den Hunger also keineswegs reduzierte. Die Vermutung, daß es sich bei dem Belohnungswert der Saccharinlösung um eine „erworbene" verstärkende Eigenschaft des Stimulus handelt, wurde zurückgewiesen: „The possibility that the sweet taste was an acquired 40

reward rather than a primary reward was shown to be extremely unlikely" ( S H E F F I E L D & R O B Y 1950, S . 481). Die Zurückweisung basiert vor allem auf zwei Argumenten: „For one thing, previously experienced sweet tastes (e. g., rat's milk, conversion of starch to sugar in the mouth, etc.) are very unlikely to have been as sweet as the concentrated saccharine solution used. Thus the sweet taste used would be at an unfavorable point on the generalization gradient as an acquired reward stimulus if we make the usual assumption that the generalization gradient falls in either direction from the stimulus intensity reinforced. Moreover, the sweet taste did not lose its reward value throughout the three experiments, with the ingestion of thousands of ccs. of saccharine solution and no doubt millions of instrumental tongue movements. Since the visual, kinesthetic, tactile, and gustatory pattern accompanying this ingestion in all three experiments (drinking from a glass tube protuding from a visible graduated cylinder through quarter-inch wire mesh) received no primary reinforcement, it would be expected that any acquired reward value of a sweet taste would have extinguished for this pattern" S H E F FIELD & R O B Y 1 9 J O , S. 479). Allein die Tatsache, daß das, was ihnen angeboten wurde, süß schmeckte (ihnen also, wie wir annehmen, zu einer angenehmen Zuständlidikeit verhalf), genügte den Ratten, um ihr Verhalten auf dieses Angebotene zu richten. Ob diese Substanz, die süß schmeckte, zur Realisation eines physiologischen Sollzustandes beitrug oder nicht, war völlig irrelevant. Darauf, daß der verstärkende Effekt einer Belohnung in der Qualität der Stimulation liegt, die von der Belohnung hervorgerufen wird, hatte schon T R O L A N D in seiner ziemlich unbekannten „beneceptor"Theorie hingewiesen ( T R O L A N D 1928). "Wir befinden uns aber auch mit der Theorie von T H O R N D I K E (1913) in Einklang, nach der ein „satisfying state of affairs" eine entscheidende Variable bedeutet, die den Erwerb von Verhalten steuert; obwohl der von T H O R N D I K E verwendete Begriff als außerhalb des Rahmens einer Erlebnis- und Bewußtseinspsychologie stehend konzipiert ist, scheint er unter anderem audi das zu decken, was wir als „angenehme Zuständlidikeit" bezeichnen. Elektrische Hirnreizung und Zuständlichkeiten Interessant sind in diesem Zusammenhang die Untersuchungen von (19 J4) und O L D S & O L D S (1965), in denen Ratten ein bestimmtes Verhalten lernten, wenn dieses Verhalten eine elektrische Reizung des Rattenhirns zur Folge hatte. „When electrodes were implanted in the forebrain system and a circuit was arranged to make a brief train of electric stimulation occur OLDS&MILNER

4i

as a regular consequence of some response in the behavior repertory of the rat, that response soon came to predominate, occurring eventually at its maximum possible rate. In this and many other kinds of experiments, the electric stimulation appeared to serve as a maximal source of animal gratification; in the parlance of the behavioral psychologist, it was a source of 'positive.reinforcement'" ( O L D S & O L D S 1965, S. 335 f.). Entscheidend bei dem Experiment von O L D S & M I L N E R war der Umstand, daß die Ratten durch die elektrische Selbst-Stimulation in der SeptalArea keinen explizit definierten „Trieb" reduzierten, also keinen physiologisch aufweisbaren „Sollzustand" herbeiführten. „ . . . as the animals are given free access to food and water at all times except while actually in the Skinner boxes, there is no explicitly manipulated drive to be reduced by electrical stimulation" ( O L D S & M I L N E R 1954, S. 425). Daß die Ratten durch die elektrische Reizung auf irgendeine Weise „positiv affiziert" wurden, läßt der „klinische Eindruck" vermuten, den die Autoren von dem Verhalten der Ratten haben: „As there is no evidence of a painful condition preceding the electrical stimulation... It is perhaps fair in a discussion to report the 'clinical impression' of the Es that the phenomenon represents strong pursuit of a positive stimulus rather than escape from some negative condition" (S. 425 f.). Zwar sind die Autoren um eine rein behavioristische Terminologie bemüht, jedoch dürfte es keine zu eigenwillige Interpretation der Ergebnisse unsererseits sein, wenn wir annehmen, daß die elektrische Reizung der Septal-Area einer Ratte für diese von einer angenehmen Zuständlichkeit begleitet war. Daß wir nicht unberechtigt „mentalistisch" argumentieren, beweist die Verwendung des ebenfalls „mentalistischen" Begriffes „painful" durch O L D S & M I L N E R 2 2 . A U S der Untersuchung folgt demnach eindeutig, daß Verhalten auch dann auf die Realisation von angenehmen Zuständlichkeiten gerichtet sein kann, wenn diese Zuständlichkeiten mit keinem physiologischen Sollzustand in Beziehung stehen, wie wir es ja schon weiter oben postuliert haben. Wer nun behaupten wollte, die Untersuchung von O L D S & M I L N E R besitze keinen Aussagewert im Rahmen unseres Problems, weil die dort eingeführten Bedingungen „nicht natürlich" seien, der macht sich, außer daß er eine unbewiesene Behauptung aufstellt (da er zunächst beweisen müßte, daß die elektrophysiologischen Prozesse, die gleichzeitig mit der Realisation angenehmer Zuständlichkeiten an entsprechender Stelle ablaufen, nicht mit denen identisch sind, die bei elektrischer Reizung von „außen" auftreten), der impliziten Annahme einer prästabilierten Harmonie von physiologischen Sollzuständen und Zuständlichkeiten ver22

Wir werden auf dieses Problem noch näher eingehen.

42

dächtig, die er niemals empirisch psychologisch beweisen könnte, da es sich hierbei wieder um ein metaphysisches Prinzip handelt. „Prästabilierte Harmonie" würde in diesem Zusammenhang bedeuten, daß irgendeine „höhere Instanz" physiologische Sollzustände und Zuständigkeiten einander zuordnet, und zwar immer und notwendigerweise. Dem gegenüber steht unsere Annahme, daß aus dem Umstand der möglichen Zuordenbarkeit von Zuständlichkeiten und Sollzuständen unter bestimmten genau definierbaren Umständen (wobei diese Zuordnung niemals direkt vorgefunden ist, sondern als integrierendes Prinzip vom Forscher eingeführt wird) niemals eine vorgegebene notwendige Zuordnung abzuleiten ist. Vielmehr ist aus den Ergebnissen der zuletzt geschilderten Untersuchungen ersichtlich, daß das Integrationsprinzip der Zuordnung durchaus begrenzt ist. Die Argumentation, das in den Untersuchungen geschilderte Verhalten der Tiere würde „in der Natur" zu einem Aussterben dieser Tiere führen, trifft das Problem aus zwei Gründen nicht: Einmal werden psychologische Aussagen niemals über Vorgänge „in der Natur" gemacht, sondern über Vorgänge unter Bedingungen, die der Psychologe zur Realisation seiner Theorien (vgl. hierzu H O L Z K A M P 1964, 1968) experimentell herstellt. Aussagen über „Natur" werden nur insofern gemacht, als die Bedingungen „in der Natur" den Bedingungen im Experiment entsprechen. Das Verfahren, aus Vorgefundenem konstituierende Bedingungen zu isolieren (wie in der psychologischen oder soziologischen „Feldforschung"), hat weitaus geringere Dignität, da eine echte Kontrolle der konstituierenden und störenden Bedingungen niemals möglich ist, weil man sie ja nicht selbst herstellt. Zum anderen hat die Psychologie das Verhalten und Erleben von Individuen zum Gegenstand, solange diese leben. Ob es sich dabei um ein Individuum handelt, das sich fortpflanzt, oder um eines, das zwei Wochen nach der Untersuchung stirbt, ist völlig irrelevant. (Hier muß eingefügt werden, daß, soweit uns bekannt ist, Ratten, die an Lernexperimenten teilnehmen, gewöhnlich nach Beendigung dieser Experimente getötet werden. Wird deshalb der Behaviorismus zu einer Wissenschaft über aussterbende Tiere?) Wenn wir uns hier und im folgenden gegen die Annahme eines generellen „Arterhaltungsprinzips" oder „-triebes" wenden, so bedeutet das nicht, daß wir gegen die Aufstellung von Theorien sind, die solche E f fekte wie Art- und Selbsterhaltung erklären, sondern nur dagegen, daß man bestimmte Mechanismen durch einen Effekt erklärt, der sich erst am Ende des Medianismus ergibt. Man kann zwar von bestimmten Bedingungen sagen, daß ihr Vorhandensein Art- und Selbsterhaltung oder aber Art- und Selbstvernichtung zur Folge habe, aber nicht, sie seien dazu da, um Art- und Selbsterhaltung oder aber Art- und Selbstvernichtung zu gewährleisten. Im letzteren Falle würde man nämlich den Effekt 43

dem Mechanismus logisch vorordnen. Das wäre so, als ob man etwa auf dem Gebiet der Wahrnehmungspsychologie behaupten wollte, die fundamentale Unterscheidung in Figur und Grund liege „nur" vor, um das Erlebnis der Größenkonstanz zu sichern.

„Laster" und „Süchte" vs.

„Arterhaltung"

Ähnliche Einwände, die mit „Unnatürlichkeit der Bedingungen" argumentieren, sind daher von vornherein ad absurdum geführt, wenn wir im folgenden aufweisen, daß Verhalten auch dann auf die Realisation von angenehmen Zuständlichkeiten gerichtet ist, wenn dieses Verhalten eine extreme Abweichung von physiologischen Sollzuständen zur Folge hat, was dem (metaphysisch postulierten) „Zwecke der Art- und/ oder Selbsterhaltung" eindeutig abträglich wäre. Wir meinen damit all jene Verhaltensweisen und Verhaltenstendenzen, die gewöhnlich als „Laster" oder „Süchte" bezeichnet werden. Hier wird eindeutig Lustgewinn angestrebt bei gleichzeitig auftretendem Verfall des Leibes und der leiblichen Fähigkeiten (als Beispiele mögen hier nur die Rauschgiftsudit und die Alkoholsucht stehen). Gewiß treten bei vielen Süchten neue physiologische Sollzustände auf, die das Individuum durch sein Verhalten herstellt, aber entscheidend ist einmal, daß diese Sollzustände sekundär, d. h. eine nichtintendierte Folge des lustbringenden Verhaltens sind, zum anderen letztlich zu einer vorzeitigen Auflösung des Organismus führen, weil sie von den ursprünglich und primär vorfindbaren physiologischen Sollzuständen zu stark abweichen. Daß das Haben einer angenehmen Zuständlichkeit bei gleichzeitiger Abweichung von primären physiologischen Sollzuständen nicht nur im menschlichen Bereich auftritt, zeigt auf eindrucksvolle Weise ein von O L D S & O L D S (1965) referiertes Experiment mit Ratten, die sich nicht selbst reizten, sondern in regelmäßigen Abständen von „außen" elektrisch gereizt wurden, ohne daß eine erkennbare Beziehung zwischen Verhalten und Reizung vorlag. Die elektrische Stimulation erfolgte am gleichen Ort und auf die gleiche Weise, die sich bei anderen Versuchen als positiv verstärkend herausgestellt hatten. Diese Reizung desorganisierte ein Verhalten der Ratten, durch das sie Futter erlangen konnten. Die Scores des zum Futter führenden Verhaltens wichen um mehr als drei Standardabweichungen von entsprechenden Kontrollwerten ab. Es ist nicht anzunehmen, daß die „Qualität" der Reizung in den beiden Experimenten unterschiedlich war; der Schluß liegt nahe, daß die während der elektrischen Stimulation auftretende angenehme Zuständlichkeit die Ratte davon abhielt, das zum Futter führende und damit den physiologischen Sollzustand hervorrufende Verhalten zu zeigen, da ent44

weder eine durch entsprechende unangenehme Zuständigkeiten signalisierte „subjektive" Abweichung vom physiologischen Sollzustand (bei einer objektiv vorliegenden Abweichung von diesem Sollzustand) nicht gegeben war, weil während der elektrischen Reizung die unangenehmen Zuständlichkeiten nicht existent waren oder sogar eine angenehme Zuständlichkeit vorherrschte (Summationsannahme). Oder aber die Ratte „entschied" sich bei den beiden möglichen Verhaltensmodi „ungeregeltes Verhalten — angenehme Stimulation" gegenüber „geregeltes Verhalten — Reduktion der durch Abweichung vom physiologischen Sollzustand hervorgerufenen unangenehmen Zuständlichkeiten" für den ersten, was als Hinweis auf eine Präferenz und somit eine Hierarchie der Zuständlichkeiten anzusehen wäre (Konfliktannahme). Beide Interpretationen würden unsere These stützen, daß intendiertes Verhalten primär nicht auf die „Erfüllung" physiologischer „Normen", die als organisches Kennzeichen „primärer Triebe" anzusehen wären, gerichtet ist, sondern daß die Realisation angenehmer und das Vermeiden unangenehmer Zuständlichkeiten viel entscheidender sind. Die Untersuchung von OLDS ( 1 9 5 8 ) demonstriert, daß auch bei Tieren „Laster" oder „Süchte" auftreten können, die schließlich eine Schädigung des Organismus zur Folge haben. Ratten, denen Elektroden in den Hypothalamus eingepflanzt worden waren, kamen zu einer ESB-Rate (ESB = electrical Stimulation of the brain) bis zu 1 0 0 0 0 (zehntausend) Selbstreizungen in der Stunde: "5s with hypothalmic electrodes maintained rapid rates until slowed by sheer pbysical exhaustion" (OLDS 1958, S. 676; Hervorhebung v. Ref.). Die Ratten strebten also die angenehmen Zuständlichkeiten auch dcinn an, wenn diese von einem körperlichen Zustand totaler Erschöpfung gefolgt waren; kann man sich einen konsequenteren „Epikuräismus" vorstellen? Die Ergebnisse dieser interessanten Untersuchung, die uns später noch einmal beschäftigen wird, sprechen eindeutig für unser Postulat vom psychologischen Primat der Zuständlichkeit gegenüber dem biologischphysiologischen Zustand.

Kritik der Annahme einer „prästabilierten Harmonie" bei

KRAFT

Damit befinden wir uns im offenen Widerspruch zu den Behauptungen, die K R A F T im Rahmen seiner „Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre" aufstellt. K R A F T sieht die Nahrungssuche und Nahrungswahl als unabhängig von den angenehmen Zuständlichkeiten, die die Nahrung hervorruft: „Die spezifische Nahrung wird in ganz unmittelbarer Weise 45

aus dem Chemismus des Körpers heraus ohne Einfluß des Bewußtseins, von Erfahrung oder von Lustbetonung als annehmbar charakterisiert, als das Nahrungsbedürfnis befriedigend" ( K R A F T 1 9 5 1 , S. 140). K R A F T kommt zu dieser Auffassung anläßlich der Diskussion des Verhaltens einiger Tiere, wenn bei diesen Tieren ein definierbarer Mangel bestimmter Substanzen im Organismus vorliegt. „So fressen Hennen zur Zeit des stärksten Eierlegens gern Eierschalen und überhaupt kalkhaltige Stoffe, während es der Hahn nie tut. Oder Kaninchen fressen bei Beginn der Stillzeit mehr Grünzeug, das dem Blut Eisen zuführt" ( K R A F T , S. 139 f.). Die Argumentation von K A T Z (1932), daß sich auch die Geschmacks- und Geruchscharaktere der Objekte gemäß der Abgestimmtheit des Organismus ändern, daß kalkhaltige Stoffe den Hennen eben gut schmecken, sobald sie sie brauchen, weist K R A F T mit der Begründung zurück, daß wir nicht mehr wissen, „als daß solche Stoffe von den Tieren gern angenommen werden, daß sie ihnen willkommen sind. Darüber, daß ihr Geschmack dann besonders lustvoll ist, wissen wir nichts" ( K R A F T , S. 140). Wir könnten deshalb auch nicht sagen, „daß die Kalkstoffe von den Hennen deshalb so gern gefressen werden, weil sie ihnen so gut schmecken, weil sie besondere Lustgefühle bei ihnen auslösen" (S. 140). Abgesehen davon, daß diese seltsame Auffassung K R A F T S durch die Ergebnisse der Untersuchung von SHEFFIELD & R O B Y (1950) auf eindrucksvolle Weise empirisch widerlegt worden ist (vgl. S. 40 f.), wirft sie noch andere Probleme auf. Zunächst einmal gibt K R A F T keine Auskunft darüber, wie denn „in ganz unmittelbarer Weise aus dem Chemismus des Körpers heraus ohne Einfluß des Bewußtseins, von Erfahrung oder von Lustbetonung" die spezifische Nahrung als annehmbar zu charakterisieren sei. Welches sind die Mechanismen, die unter Ausschaltung des Bewußtseins, der Erfahrung oder der Lustbetonung das Aufsuchen und Finden gerade der „richtigen" Nahrung ermöglichen? Liegt hier eine besondere Form prästabilierter Harmonie vor? Oder ist es etwa ein weiteres Phänomen, das durch den Begriff „außersinnliche Wahrnehmung" gedeckt wird? Zum anderen scheint uns K R A F T hier eine besondere Form von „behavioristischem Solipsismus" zu vertreten: Weil uns die Zuständlichkeiten der Tiere nicht direkt gegeben sind, soll es uns verboten sein, sie als Erklärungsvariable einzuführen. Nun sind K R A F T ja die Z u s t ä n d i g keiten anderer Leute auch prinzipiell nicht gegeben, sondern bestenfalls auf diese Zuständlichkeiten bezogenes Verhalten, aber dennoch widmet er einen großen Teil seines Buches den Phänomenen der Lust und der Unlust, als wären dies allgemeine bei allen Menschen vorfindliche Zuständlichkeiten, während er doch eigentlich nur über „seine" Lust und Unlust schreiben dürfte, da nur diese ihm direkt gegeben sind. Hier scheint uns zumindest eine gewisse einseitige Inkonsequenz vorzuliegen, die durch 46

nichts explizit begründet wird. Ist allein die Tatsache, daß Tiere uns nicht „sagen" können, ob und was sie „fühlen", ausreichend, um der Einführung des Begriffes der Zuständlichkeiten auch für Tiere als Erklärungsmoment jegliche Berechtigung abzusprechen? Giltallein „Sprache" als Kennzeichnung für Zuständlichkeiten? Dann müßte man auch dem Kleinkind, das noch nicht sprechen kann, die Möglichkeit, zu erleben, konsequent absprechen. Wir meinen, daß die Einführung des Begriffes Zuständlichkeit in Form eines „hypothetical construct" (vgl. die Unterscheidung zwischen „intervening variable" und „hypothetical construct" bei MacCoRQUODALE & MEEHL 1948) auch für Tiere theoretisch und empirisch von größerer Bedeutsamkeit und Fruchtbarkeit ist als die Annahme einer alles und nichts erklärenden „unmittelbaren Weise" bei KRAFT. Im übrigen befinden wir uns damit auf gleicher Linie mit moderneren behavioristischen Theorien, die explizit von „drive produced Stimuli" sprechen (etwa HULL 1952). Wir hoffen, im vorangegangenen aufgezeigt zu haben, wie gering der Erklärungswert einer „physiologischen Willensmetaphysik" ist. Statt durch verborgene „Triebmechanismen" kann unser Verhalten viel besser als durch Ziele gesteuert erklärt werden, die explizit aufweisbar sind.

Körperliche Erfordernisse und

Zuständlichkeiten

Nun soll hier keineswegs geleugnet werden, daß die Leiblichkeit unseres psychophysischen Ich Ansprüche an uns stellt (SCHWARZ spricht in diesem Zusammenhang von den „Erfordernissen unserer körperlichen Maschine" — SCHWARZ 1900, S. 29). Gewiß müssen wir das einzige für uns unmittelbar vorfindliche „Werkzeug", das uns zur Erreichung unserer Willensziele dient, „pflegen". A n dieser Stelle sei uns ein veranschaulichendes Beispiel erlaubt, ohne daß wir damit den Standpunkt beziehen wollten, der Mensch sei eine Maschine: Auch ein Auto müssen wir pflegen, müssen es waschen, müssen tanken, ö l wechseln, abschmieren. Gewiß — manchen Leuten wird die Pflege ihres Autos zum Selbstzweck, ebenso wie anderen die Pflege ihres Leibes zum Selbstzweck wird; aber dies ist doch nicht generell so. Wenn wir die uns gesteckten Willensziele erreichen wollen, müssen wir zwar den Ansprüchen unseres Körpers Genüge tun, aber dieser „Vertrag", dem wir uns unser ganzes Leben lang nicht entziehen können, ist ein „Vertrag auf Gegenseitigkeit". Wenn wir den Ansprüchen unserer Leiblichkeit genügen, „handeln" wir dafür die Realisation angenehmer und die Vermeidung unangenehmer Z u s t ä n d i g keiten ein; außerdem wird es uns möglich, andere viel entscheidendere Willensziele zu verfolgen. Wir befinden uns damit in Widerspruch zu 47

NIETZSCHE, der im Wollen des Ichs einen Umweg zum Zwecke des Leibes sieht. Nicht stehen die Ziele des "Willens im „Dienst der Zwecke des Leibes", sondern nur mit einem intakten Leib können wir die „Ziele und Zwecke des Willens" erreichen. Deshalb müssen wir essen, trinken, schlafen23, uns gegen Angriffe verteidigen. Aber weit davon entfernt, unsere eigentlichen Willensziele darzustellen, ist die Realisation der angezielten physiologischen Sollzustände eher geeignet, uns von der Verwirklichung unserer Ziele und somit von intendiertem Verhalten abzuhalten: Die Sollzustände können nicht als Ursache und Steuerung dieses intendierten Verhaltens gelten. Wie oft erzwingt nicht die Intention, die den Hunger und die Müdigkeit begleitenden unangenehmen Zuständlichkeiten zu vermeiden, eine Unterbrechung wichtiger zielgerichteter Tätigkeiten. Das Beispiel von der „Befriedigung des Schlaftriebes", die uns ja bekanntlich ungefähr ein Drittel unseres Lebens zur Inaktivität zwingt, zeigt deutlich, daß das, was man in den Trieblehren als „Antrieb" des Verhaltens ansieht, in sehr vielen Fällen das Verhalten lahmlegt.

Ausblick

auf den

Hedonismus

Nachdem wir somit die Ansprüche der nativistischen physiologisch orientierten Trieblehren zurückgewiesen haben, die all unser Verhalten als durch physiologische „Normen" geprägt ansehen, wird es unsere Aufgabe sein, unsererseits die Ziele intendierten menschlichen und tierischen Verhaltens aufzuzeigen. Auf eines dieser Ziele haben wir schon hingewiesen; es ist die Realisation angenehmer und die Vermeidung unangenehmer Zuständigkeiten. Die Lehre, die in dem Versuch der Verwirklichung dieses Willenszieles den Kern der menschlichen und tierischen Motivation sieht, heißt von alters her „Hedonismus". W i r werden zu untersuchen haben, wieweit nun wiederum der hedonistische Anspruch auf Alleingeltung seiner Annahmen gerechtfertigt ist. Kann das Streben nach angenehmen und das Scheuen vor unangenehmen Zuständlidikeiten alle unsere gewollten Handlungen erklären, oder gibt es noch andere Willensziele? Bevor wir diese Frage beantworten, sind jedoch noch einige einleitende Begriffsklärungen notwendig, in denen wir Rechenschaft über die formale Beschaffenheit von Willenszielen überhaupt ablegen. 23

Das enthaltsame Leben vieler Asketen beweist, daß die Befriedigung sexueller Bedürfnisse nidit unbedingt notwendige Voraussetzung der Verwirklichung von mehr geistigen Willenszielen ist (ohne daß dies freilidi als Argument für die Berechtigung der FREUDsdien Sublimierungsannahme anzuführen wäre).

48

II. Die Willensziele i. W e r t e u n d W e r t g e g e n s t ä n d e Verwirklichung von Werten als Ziel willentlichen Verhaltens Das Wollen hat seinen Gegenstand in Willenszielen. Die umfassende Bezeichnung, die S C H W A R Z allen mittelbaren oder unmittelbaren Willenszielen gibt, ist „Wert" ( S C H W A R Z 1900, S . 34). Wir können demnach von jedem Verhalten, das logisch mittelbar oder unmittelbar auf einen Willensakt folgt, sagen, daß es auf die Verwirklichung der im Willensakt als nichtseiend gesetzten Werte geht24. Daraus folgt der Grundsatz: Jedes Verhalten infolge eines Willensaktes geht auf die Verwirklichung von Werten. Dies wird im folgenden klarer werden, wenn wir uns die begrifflich-logischen Eigenarten des Begriffsgegenstandes „Wert" verdeutlichen. Unterscheidung zwischen Wert und Wertgegenstand Die ScHWARZsche Definition des Wertbegriffes ist insofern unscharf, als sie nicht klar zwischen einem Wert als solchem und dem Gegenstande oder Sachverhalte unterscheidet, in dem sich der als primär nichtseiend gesetzte Wert „verwirklicht". Die von S C H E L E R (1916) getroffene Unterscheidung zwischen Werten und Wertträgern (Wertvollem) — (hierin folgen ihm auch u. a. R I C K E R T 1921, H O N E C K E R 1923, H E Y D E 1926 sowie K R A F T 195 I ) — ist deshalb für eine Analyse des Wertbegriffes eine notwendige Voraussetzung. „Was wertvoll ist, hat Wert, ist aber kein Wert, sondern ein Wertträger, ein Gut. Ein Wertträger ist dasjenige, dem Wert zugeschrieben wird" ( K R A F T 1951, S. 10). Wertträger kann alles empirisch Vorfindbare sein: „Güter sind etwas Konkretes, Individuelles" ( K R A F T , S. I I ) . Sind Wertträger somit ein Spezielles, jetzt und hier Vorfindbares, so verstehen wir unter „Werten" Begriffe, die Wertträger zum „Gegenstand" (im eigentlichen Sinne)25 haben. „Werte im eigentlichen Sinn sind damit allgemeine, begriffliche Gehalte. Wie dem Wertvollen treten die Werte auch den Wertungen gegenüber. Wertungen sind einzelne konkrete Erlebnisse in der Zeit, sind empirische Tatsachen. Die Werte sind etwas, das in den viel14

V g l . unsere Kennzeichnung des Willensaktes auf S. 2$.

25

W i r sprechen in der Folge deshalb statt von „Wertträgern" nur noch von „ W e r t gegenständen", wobei es gleichgültig ist, ob es sich dabei um einen einzelnen oder mehrere reale Gegenstände, einen Sachverhalt oder andere empirische Gegebenheiten (z. B. Erlebnisse) handelt.

4 Keiler, Wollen

49

fachen "Wertungen als dasselbe aufzuweisen ist. Sie sind ihnen gegenüber etwas Einheitliches und etwas Zeitloses. Werte sind .ideelle Bedeutungseinheiten' — eben als Begriffsgehalte. Diese stellen sich in den Wertbegriffen dar" (KRAFT 1 9 j r , S. 11).

Die logische Ordnung von Wert und Wertgegenstand Durch einen Wertbegriff wird ein Wertgegenstand als mittelbar oder unmittelbar einen Wert verwirklichend gekennzeichnet (z. B.: „dieser Gegenstand ist ,schön'" bedeutet „dieser Gegenstand verwirklicht den Wert des , S c h ö n e n ' „ d i e s e r Mensch ist ,gut'" bedeutet „dieser Mensch verwirklicht den Wert des .Guten'" usw.). Auch wenn ich von einem bestimmten realen Urteilsgegenstand sage, er „gefalle" mir, so ist das eine Kennzeichnung dieses Gegenstandes als wertverwirklichend. Wie die Normen ihrer Erfüllung in einem bestimmten Sollsein und/oder einem Sollzustand logisch vor- und übergeordnet sind, sind auch die Werte ihrer Verwirklichung in einem Wertgegenstand logisch vor- und übergeordnet. Das heißt, aus dem Sein und/oder Sosein des Wertgegenstandes ist über die Feststellung hinaus, daß dieser Gegenstand einen bestimmten Wert verwirkliche, nichts weiteres über den begrifflichen Inhalt des Wertes ausgesagt; wir können also nicht vom Wertgegenstand auf den Wert schließen. Ebenso ist es in der Regel nicht möglich, aus einem bestimmten Sollsein und/oder Sollzustand begrifflich die Norm abzuleiten, die darin erfüllt ist. Jedoch gilt die Ausnahme, daß die begriffliche Fassung eines bestimmten Sollseins und/oder Sollzustandes als Norm gilt, wenn eben dieses Sollsein und/oder eben dieser Sollzustand in ihrem Gesamt als einzig mögliche Erfüllung der Norm anzusehen sind, wenn also die Norm einen bestimmten Begriffsgegenstand in seiner Individualität völlig erfaßt. Analog hierzu gilt, daß, wenn ein Wert einen bestimmten Wertgegenstand in seiner Individualität völlig anzielt und allein in diesem Wertgegenstand eine Verwirklichung des Wertes möglich ist, die begriffliche Fassung des Wertgegenstandes den Wert darstellt. Für diesen speziellen Fall gehen sowohl der Anspruch der Norm als auch der Anspruch des Wertes, als allgemeine Begriffe zu gelten, verloren.

Nicht Werte, sondern ihre Verwirklichungen des Wollens

sind

Gegenstand

W a r durch die Setzung einer Norm das Sosein der normerfüllenden Begriffsgegenstände eindeutig festgelegt, ist mit dem Wollen eines Wertes nur das Wollen von Wertgegenständen mitgesetzt, ohne daß 50

individuelle Begriffsgegenstände oder Klassen von Begriffsgegenständen in ihrer Existenz oder ihrem Sosein angezielt wären. Wenn ich den Wert der „Schönheit" will, ist damit noch nichts über jene Frau ausgesagt, die, sobald ich ihrer ansichtig werde, mir gefällt und von mir als den Wert der „Schönheit" verwirklichend beurteilt wird. Das heißt, ich kann von der Verwirklichung eines Wertes sprechen, wenn bestimmte aus dem Wert ableitbare Bedingungen vorliegen, ohne daß jedoch die Erfüllung eben dieser Bedingungen positiv zwingend aus dem Wollen eines Wertes folgt. Aus diesen begrifflichen Festlegungen folgt, daß das Wollen nie auf die speziellen Werte direkt gehen kann (man kann keine Begriffe wollen), sondern nur auf die Verwirklichung von Werten; d. h., ein Willensakt setzt nicht den Wert als Begriff, als ideelle Bedeutungseinheit, sondern setzt diesen Begriff als „zu verwirklichenden". Diese Bestimmung ist nötig, da sonst zwischen der Setzung eines zu verwirklichenden Wertes und der rein kognitiven Setzung eines Begriffes kein Unterschied bestünde.

Begriffslogische Bestimmungen über die Verwirklichung von Werten (in Anlehnung an S C H E L E R ) Welcher Begriff soll nun aber für das Gesamt aller Verwirklichungen von Werten gelten? In Anlehnung an S C H E L E R (1930, S . 21) kommen wir zu der Feststellung, daß in der Verwirklichung von Werten ebenfalls ein Wert zu sehen ist, und zwar ein umfassenderer, als er sich in den speziellen Werten darstellt. Die Verwirklichung von Werten ist somit der allgemeinste Wert, er wird in der Realisation spezieller Werte verwirklicht (wir werden auf dieses Problem anläßlich der Unterscheidung zwischen „realen" und ¿irrealen" Werten zurückkommen). Wie der einzelne Willensakt, die einzelne Willensregung, die einzelne Strebung auf die je spezielle Verwirklichung eines je speziellen Wertes oder auf einen je speziellen Wertgegenstand gehen, geht das Gesamt dieser Willensakte und -regungen, der Wille, auf die Verwirklichung von Werten und auf Wertgegenstände überhaupt. Der positive Gegenstand des Willens sind die Verwirklichung von Werten und Wertgegenstände überhaupt. Nun geht das Wollen aber nicht nur auf das, was ihm als zu Verwirklichendes gilt, sondern auch auf das, was ihm als „nicht zu Verwirklichendes" gilt, auf das, dessen Existenz und/oder Sosein es „nicht will". So stehen den Werten (positiven Werte) Unwerte (negative Werte) gegenüber. Wie wir den Werten Wertgegenstände oder Güter 4.

5i

zuordnen, werden den Unwerten Übel zugeordnet. In den Übeln (die wiederum einzelne oder mehrere reale Gegenstände oder Sachverhalte sein können) werden die negativen Werte oder Unwerte verwirklicht. Das Wollen geht demnach positiv auf die NichtVerwirklichung von Unwerten, auf die Nichtexistenz von Übeln26. Da die Verwirklichung von Unwerten überhaupt als allgemeinster Unwert gelten muß und die NichtVerwirklichung von negativen Werten überhaupt als positives Ziel des Wollens gilt, folgt daraus tautologisch, daß die Nichtverwirklichung eines Unwertes selbst einen positiven Wert darstellt. Da das Wollen einen weiteren negativen Gegenstand in der Nichtverwirklichung positiver Werte hat, ergeben sich in Anlehnung an S C H E L E R folgende Grundsätze.: 1.

Die Verwirklichung Wert.

eines positiven

2. Die NichtVerwirklichung ver Wert. j.

Die Verwirklichung Wert.

SCHELER

1930,

positivet

eines positiven Wertes ist selbst ein negati-

eines negativen Wertes ist selbst ein

4. Die NichtVerwirklichung tiver Wert. (Vgl. hierzu

VPettes ist selbst ein

negativer

eines negativen Wertes ist selbst ein posiS.

21 f.)

So ist in dem Satz „der positive Gegenstand des Willens ist die Verwirklichung von Werten überhaupt" tautologisch der Umstand mitgegeben, daß damit die NichtVerwirklichung von Unwerten überhaupt ebenfalls positiver Gegenstand des Willens ist. Eine analoge tautologische Umformung ist für den Satz „der negative Gegenstand des Willens ist die Verwirklichung von Unwerten überhaupt" möglich27. Die Operationalisierbarkeit von Werten und die Widerstände, die einer Wertverwirklichung entgegenstehen Die Festsetzung, daß Werte in Wertgegenständen und Unwerte in Übeln verwirklicht werden, gibt der Möglichkeit Raum, Werte zu 26

Aus diesen Überlegungen soll klar werden, daß ein Gegenstand nicht schon deshalb zum „ Ü b e l " wird, weil sich das Wollen nidit auf ihn richtet, weil er dem Wollen „gleichgültig" ist, sondern Voraussetzung für ein „ Ü b e l " ist vielmehr, daß es ein „negativer Gegenstand" des Wollens ist, also ein Gegenstand des Wollens überhaupt.

17

A u d i hier muß berücksichtigt werden, daß es sidi bei diesen begrifflichen Festlegungen stets um echte „Gegenstände des Wollens" handelt. Gegenstände, die dem Wollen „gleichgültig" sind, gehen nicht in die Definition ein (vgl. A n m . 26).

52

operationalisieren; und zwar gilt der Satz: Sofern ein Wert als zu verwirklichender gesetzt wird, ist gleichzeitig die Möglichkeit seiner Operationalisierung gesetzt28. Der tatsächliche Erfolg oder Mißerfolg der Operationalisierung und somit der Verwirklichung eines Wertes oder Unwertes entscheiden darüber, ob wir diesen Wert als „realen" oder als „irrealen" bezeichnen. Analog zu den Normen gilt für Werte und Unwerte, daß ein realer Wert oder Unwert durch einmalige Verwirklichung als solcher gekennzeichnet ist. Die Kennzeichnung eines Wertes oder Unwertes als irreal ist jedoch in vielen Fällen nur eine Kennzeichnung auf Zeit, weil wir nur sagen können, daß bisher eine Operationalisierung und damit eine Verwirklichung nicht möglich war. Als allgemeinster Wert wird auf Grund seiner begrifflichen Fassung der Wert der „Verwirklichung von positiven Werten überhaupt" immer dann verwirklicht, wenn ein positiver Wert überhaupt verwirklicht wird, denn sein Wertgegenstand liegt ja per definitionem in der Verwirklichung von positiven Werten überhaupt. Analoges gilt für die Verwirklichung des allgemeinsten Unwertes, der „Verwirklichung von Unwerten überhaupt". So sind unter der Voraussetzung, daß die Verwirklichung von Werten und/oder Unwerten überhaupt möglich ist, der allgemeinste positive und der allgemeinste negative Wert a priori als „reale" Werte gekennzeichnet. Auch die Widerstände, die der Verwirklichung von Werten entgegenstehen, können in „materiale" und „methodische" unterteilt werden (vgl. die Kategorisierung der einer Erfüllung einer Norm entgegenstehenden Widerstände, S. 22). Sofern sie in der „Materie" der angezielten Gegensltände liegen, werden die Widerstände als „materiale" bezeichnet; unter den Begriff der „methodischen" Widerstände fallen z. B. jene, die aus den Prinzipien der klassischen Logik erwachsen, die uns als Grundlage jeder Operationalisierbarkeit gilt. Werte, deren Verwirklichung gegen die Prinzipien der klassischen Logik verstieße, sind somit a priori als „irreale" gekennzeichnet, da sie sich selbst die Möglichkeit der Operationalisierung absprechen und somit als „reale" einen Widerspruch in sich darstellen. Außer materialen und methodischen Widerständen, die wir als „passive" bezeichnen, können der Verwirklichung von Werten Widerstände entgegenstehen, die sich aus der Setzung anderer Werte ableiten, diese werden analog als „aktive" bezeichnet. So erwachsen z. B. einem Arzt, der einen todkranken Patienten durch eine Injektion für immer von seinen unerträglichen Schmerzen erlösen will, Widerstände aus 88

A u f gewisse formale Übereinstimmungen zwischen den Begriffen „Theorie" soll später in einem Exkurs eingegangen werden.

„Wert"

und

53

dem Wert, der in der Erhaltung des menschlichen Lebens seinen Gegenstand hat. Die beiden für den Arzt verbindlichen Werte der „Leidensersparung" und der „Lebenserhaltung" schließen sich in diesem konkreten Fall offensichtlich gegenseitig von der Verwirklichung aus. Wir haben hier die Situation, daß die Verwirklichung oder der Versuch der Verwirklichung eines positiven Wertes die NichtVerwirklichung eines anderen positiven Wertes mit sich bringt, so daß ein „Gut" durch die Existenz eines „Übels" erkauft wird (die NichtVerwirklichung eines positiven Wertes ist selbst ein negativer Wert)29. Daß ein wollendes Individuum in einer solchen Situation meistens dennoch handlungsfähig bleibt, liegt darin begründet, daß in den meisten Fällen für das Individuum entscheidbar ist, welches Gut als das „höhere" und/oder welches Übel als das „geringere" anzusetzen sei, so daß auch aus einer „Konfliktsituation" eindeutig determinierte Handlungen abzuleiten sind. Das Phänomen des Konfliktes und seiner Lösung wird uns später noch beschäftigen, wenn wir das Problem der Rangreihen und Hierarchien der Werte behandeln. „Güter", „Übel" und „wertneutrale"

Gegenstände

Nach diesen begrifflichen Festlegungen können wir empirische Gegebenheiten in drei Kategorien unterteilen: 1. Empirische Gegebenheiten, in denen ein positiver Wert verwirklicht wird („Wertgegenstände", „Güter"). 2. Empirische Gegebenheiten, in denen ein Unwert verwirklicht wird („Übel"). 3. Empirische Gegebenheiten, in denen weder ein Wert noch ein Unwert verwirklicht wird. Diese bezeichnen wir als „wertneutrale Gegenstände"; sie sind weder positiver noch negativer Gegenstand des Wollens. Audi wertneutrale Gegenstände können gemäß unserer Definition einzelne oder mehrere reale Gegenstände, Sachverhalte oder andere empirische Gegebenheiten (z. B. Erlebnisse) sein. Ein durch eine Norm gefordertes Sollsein und/oder ein durch eine Norm geforderter Sollzustand sind per se zunächst wertneutral. Erst wenn die Erfüllung einer Norm positiver Gegenstand des Wollens ist, " Hieraus ergibt sich, daß jenen Werten, deren Verwirklichung den Prinzipien der klassischen L o g i k widerspräche, in der Verwirklichung Widerstände zweifacher A r t entgegenstehen: einmal sind es methodische, zum anderen ist es der Umstand, daß den meisten Leuten explizit (in der Wissenschaft) oder implizit (im A l l t a g ) die Prinzipien der klassischen L o g i k als Werte gelten. 54

wird der die Norm erfüllende Gegenstand zu einem Gut. Analog wird ein eine Norm erfüllender Gegenstand zum Übel, wenn die Erfüllung der Norm negativer Gegenstand des Wollens ist. So sind Normen, die einem positiven Wert entgegenstehen, als negative Werte gekennzeichnet, Normen im Sinne eines positiven Wertes dagegen als positive Werte. Diese Bestimmung hat zur Folge, daß die im Rahmen einer Operationalisierung eines positiven Wertes aus diesem Wert ableitbaren Handlungsanweisungen formal zunächst imperativische Normen sind, die unter Wertgesichtspunkten als positive Werte angesprochen werden müssen, da sie ja als „Normen im Sinne eines positiven Wertes" gekennzeichnet sind. Sofern die Erfüllung einer Norm von einem Subjekt eine intendierte Handlung (die nur einem Willensakt folgen kann) fordert (z.B. in einer imperativischen Norm), kann diese Norm nicht mehr wertneutral sein. Als echter „Gegenstand" (im eigentlichen Sinne) des Wollens ist in diesem Falle die Erfüllung der Norm nur entweder ein „Gut" oder ein „Übel" (Satz vom ausgeschlossenen Dritten). Vom jeweiligen „Vorzeichen" des in der Erfüllung der Norm angezielten Gegenstandes ist es abhängig, ob die in diesen Überlegungen angesprochene Norm als Wert oder Unwert gekennzeichnet ist. Alle Normen, die das intendierte Verhalten eines Subjektes determinieren, sind deshalb notwendigerweise entweder Werte oder Unwerte („ich will, was ich soll" — „ich will nicht, was ich soll"; „ich will, was ich nicht soll" — „icäi will nicht, was ich nicht soll"). Aus dem Umstand, daß die im Rahmen der Operationalisierung eines Wertes aus diesem Wert ableitbaren Handlungsanweisungen imperativische Normen sind, wird deutlich, daß mit dem im Willensakt gesetzten Wert eine Norm gesetzt wird, die sich von anderen Normen dadurch unterscheidet, daß sie eindeutig in einem Wollen ihre Ursache hat und nicht als von „außen" gesetzt dem Wollen als vorgefundener positiver oder negativer Gegenstand entgegensteht.

Ausblick auf die inhaltliche Analyse der Willensziele Nachdem wir den Begriff des Wertes in seiner formalen Eigenart als mittelbares (im Falle eines speziellen Wertes) oder unmittelbares (im Falle des allgemeinsten Wertes der Verwirklichung von Werten überhaupt) Ziel analysiert haben, wollen wir uns nun einer inhaltlichen Analyse dessen widmen, was als Ziel des Wollens und somit des intendierten Verhaltens angesehen werden kann. 55

D a wir wissen, daß das Wollen überhaupt Gegenstände haben kann und wie diese Gegenstände formal beschaffen sind, muß darüber hinaus auch eine inhaltlich-qualitative Kennzeichnung dessen möglich sein, was dem Wollen als positiver oder negativer Gegenstand gilt. Die positiven und negativen Zielinhalte des Wollens aufzuzeigen wird unsere nächste Aufgabe sein.

2.

Zustandswerte

Ausdehnung der erarbeiteten Begriffe auf die Tierpsychologie — Kennzeichnung von angenehmen und unangenehmen Zuständlichkeiten als Güter und Übel Im Rahmen der Zurückweisung des physiologisch-metaphysischen Willensansatzes in Form der „nativistischen Trieblehren" wurde als ein Ziel intendierten menschlichen und tierischen Verhaltens die Realisation angenehmer und die Vermeidung unangenehmer Zuständigkeiten aufgewiesen. D a intendiertes Verhalten tautologisch immer mittelbar oder unmittelbar auf einen Willensakt folgt, ist mit dem Aufweis dieser Willensziele zweierlei ausgesagt: Einmal ergibt sich als logische Folge unserer Einführung des Begriffes „Zuständlichkeit" in Form eines „hypothetical construct" auch für Tiere die Einführung eines weiteren; auch Tieren muß die Möglichkeit, zu „wollen", zugesprochen werden. Hierbei ist es unwichtig, ob tatsächlich jemals der Willensakt eines Tieres als Phänomen aufweisbar ist (auch ein menschlicher Willensakt kann uns ja als Phänomen immer nur in Form eines eigenen Willensaktes gegeben sein; dennoch sprechen wir auch anderen die Möglichkeit, zu „wollen", zu, weil die Einführung dieses Begriffes uns eine bessere Integration in bezug auf Interpretation und Voraussage des Verhaltens anderer ermöglicht), es ist lediglich nachzuweisen, daß wir mit diesem von uns eingeführten Erklärungsprinzip das uns gesteckte Ziel der Erklärung und Voraussagbarkeit tierischen Verhaltens auf kürzerem und eindeutigerem Wege erreichen, als es Theorien möglich ist, die diesen Begriff nicht verwenden 30 . Zum anderen sind die im willentlichen Verhalten angestrebten oder gescheuten Zuständlichkeiten in ihrer allgemeinen begrifflichen Fassung als Werte bzw. Unwerte gekennzeichnet; und zwar gelten uns ange30

Es sei darauf hingewiesen, daß in der Weltsicht der „naiven" Alltags-,,Theorien" dem „Wollendsein" tierischen Verhaltens nicht nur als Erklärungsprinzip, sondern sogar als „vorfindbare Tatsache" Rechnung getragen wird (was in diesem Zusammenhang natürlich nichts beweisen soll, sondern lediglich zeigt, daß dieses K o n struktum nicht völlig aus der Luft gegriffen ist).

56

nehme Zuständlichkeiten (besonders in ihrer extremen Ausprägung als „Lust") als positive, unangenehme dagegen (besonders in ihrer extremen Ausprägung als „Unlust") als negative Werte (Unwerte). D a die Güter bzw. Übei dieser Werte bzw. Unwerte die je einzelnen Zuständlichkeiten sind, bezeichnen wir diese Art von Werten mit S C H W A R Z als „Zustandswerte". Als allgemeinster positiver Zustandswert gilt demnach die Realisation von angenehmen Zuständlichkeiten überhaupt, als allgemeinster negativer die Realisation von unangenehmen Zusitändlichkeiten überhaupt.

Nichtrückführbarkeit des Wertcharakters von angenehmen und unangenehmen Zuständlichkeiten Die Verwirklichung von Zustandswerten ist dem erlebenden Ich in ganz unmittelbarer Weise Gegenstand seines Wollens; warum uns angenehme Zuständlichkeiten wert, unangenehme unwert sind, können wir nicht erklären. Auch der mögliche Hinweis, der Wert oder Unwert liege eben in der „Qualität" des „Angenehmen" oder „Unangenehmen", verschiebt das Problem lediglich auf die Ebene, auf der wir fragen, was denn an diesen „Qualitäten" sei, daß wir sie für unmittelbar wert oder unwert halten. „Einen lustvollen Gefühlszustand halten wir unmittelbar wert, einem unlustvollen schreiben wir unmittelbar Unwert zu; d. h. die Zustände der Lust begehren wir um ihrer selbst willen, vor denen der Unlust beben wir zurück. Die neutralen Gefühle dagegen, wie Staunen, Verwunderung, Ehrfurcht, lenken den Willen überhaupt nicht auf sich; eher sind es die Ursachen jener, die ihn fesseln" ( S C H W A R Z 1900, S. 37). Wir können nicht erklären, warum es nicht umgekehrt ist, warum wir nicht unangenehme Zuständlichkeiten statt angenehmer anstreben 31 ; und zwar ist diese generelle Bevorzugung der angenehmen Zuständlichkeiten gegenüber den unangenehmen so allgemein, daß sich immer dort, wo eine unangenehme Zuständlichkeit als erlebte „Folge" eines intendierten Verhaltens auftritt, nachweisen läßt, daß die unangenehme Zuständlichkeit als Folge entweder nicht mitintendiert oder als „geringeres Übel" einem „höheren Gut" untergeordnet wurde. Warum streben wir nicht „Unlust" um ihrer selbst willen als höchstes Gut an, wo wir doch die Möglichkeit haben, dies zu tun? Wir wissen es nicht; wir wissen nur, daß uns niemand dazu zwingen kann, angenehme Zuständlichkeiten zu wollen und unangenehme nicht zu wollen. D a ß wir es tun, erscheint uns als nicht weiter rückführbares Phänomen. 81

D a ß dem Masochisten „Schmerz" als positives Willensziel gilt, darf hier nicht verwirren, denn es muß angenommen werden, daß dem Masochisten „Schmerz" eine angenehme Zuständlichkeit ist. 57

Hier müssen wir dem möglichen Einwand entgegentreten, wir hätten ja sdion in unserer operationalisierenden Kennzeichnung der angenehmen Zuständlichkeiten als Ziel eines „approach" und der unangenehmen als Ziel einer „avoidance" „defini torisch" festgelegt, warum uns Angenehmes als Wert und Unangenehmes als Unwert gilt; eben weil wir es anstreben und damit wollen, oder aber es vermeiden und damit nicht wollen. Dieser (mögliche) Einwand beruht auf zwei falschen Voraussetzungen: Einmal haben wir Streben und Scheuen nicht zur „Definition" der Begriffe „angenehm" und „unangenehm" verwandt, sondern uns nur die vorgefundene nicht weiter rückführbare Koppelung von „angenehm — Streben" und „unangenehm—Scheuen" für eine operat i o n a l „Kennzeichnung" zunutze gemacht. Zum anderen wird übersehen, daß ja das „Werthalten" nicht sekundäre „Folge" des Verhaltens ist, sondern umgekehrt das Werthalten der Zuständlichkeiten eindeutig „Ursache" des Verhaltens. Warum wir Angenehmes unmittelbar für wert und Unangenehmes unmittelbar für unwert halten, ist mithin immer noch nicht geklärt. Auch Y O U N G vermag in seiner interessanten Arbeit über „affective arousal" ( Y O U N G 1967) dieses Problem nicht zu lösen. Zwar weist er eindrucksvoll Korrelationen zwischen elektrophysiologischen Erregungen bzw. Hemmungen im Bereich des Hypothalamus und angenehmen bzw. unangenehmen Zuständlichkeiten auf, aber über die Feststellung hinaus, daß „available evidence suggests that pleasantness is related to nonspecific excitation and unpleasantness to nonspecific inhibition" (S. 35), vermag er nur die (metaphysisch-biologisierende) Annahme anzubieten, daß „during the long course of evolution, structures have developed that associate unpleasantness with biological harm and pleasantness with biological welfare of individual or species" ( Y O U N G 1967, S. 39). Abgesehen davon, daß diese Behauptung sachlich nicht ganz richtig ist (denn diese Assoziation liegt ja, wie wir gesehen haben, nicht generell und notwendigerweise vor), gibt sie keinen Aufschluß darüber, warum denn nicht generell „biological harm" und „pleasantness" miteinander assoziiert sind, so daß wir zum Zwecke der „biological welfare" „unpleasantness" anstreben. Implizit in alle „KoppelungsAnnahmen" geht nämlich die Voraussetzung ein, daß angenehme Zuständlichkeiten unmittelbar für wert, unangenehme jedoch unmittelbar für unwert gehalten werden. Woher jedoch dieses unmittelbare Werthalten kommt, darüber legt man keine Rechenschaft ab. So muß auch Y O U N G zugeben: „We do not yet know why sugar solutions are immediately accepted and quinine immediately rejected" ( Y O U N G 1967, S. 3 J)-

Diese Überlegungen zeigen, daß audi Versuche, die Grenzen der einzelwissenschaftlichen Psychologie zu überschreiten und Hilfe bei be-

58

nachbarten Disziplinen zu suchen, scheitern, wenn es um die Frage geht, warum wir angenehme Zuständlichkeiten gegenüber unangenehmen bevorzugen. Daß diese Bevorzugung von der „Qualität" der Phänomene her evident ist, sollte uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir sie nicht erklären können.

Unterscheidung zwischen „extremem"

und „gemäßigtem"

Hedonismus

Wir haben im Rahmen der Einführung des Begriffes der Zuständlichkeiten bereits nachgewiesen, daß ein „extremer Hedonismus", der in der Realisation von Lust und der Vermeidung von Unlust die einzigen Willensziele sieht, von vornherein auf Schwierigkeiten stößt. Wir hielten es für eine unangemessene Ausweitung der Begriffe Lust und Unlust, wenn diesen auch kognitionsnähere Zuständlichkeiten,, wie wir sie z. B. in den Gefühlen, die ihre erlebte Ursache in den Ergebnissen des eigenen Handelns haben (z.B. Erfolgs- und Mißerfolgserlebnisse) vorfinden, subsumiert werden. Die Begriffe Lust und Unlust sollten uns nur für jene Zuständlichkeiten gelten, bei denen die Dimension „angenehm — unangenehm" für eine qualitative Kennzeichnung die entscheidendste ist (etwa in den Phänomen des „Schmerzes" oder der „Wollust"). Es soll hier noch einmal betont werden, daß wir in „Lust" und „Unlust" nur Spezialfälle der umfassenderen begrifflichen Bestimmung „angenehme" bzw. „unangenehme Zuständlichkeit" sehen. So wäre denn die Ansicht, die Realisation angenehmer und die Vermeidung unangenehmer Zuständlichkeiten sei das einzige Ziel des Wollens und Handelns, als „gemäßigter Hedonismus"32 zu bezeichnen. Die Beispiele, die für eine Berechtigung der gemäßigten hedonistischen Annahme sprechen, sind vielfältig und überzeugend. Den kurzen Abriß einer einfachen gemäßigten hedonistischen Theorie gibt Y O U N G in dem erwähnten Artikel ( Y O U N G I967). Hier scheint uns das hedonistische Prinzip auf einleuchtende Weise auch in dem Bereich der experimentellen Tierpsychologie konsequent und fruchtbar angewandt. Y O U N G läßt im übrigen keinen Zweifel daran, daß seine hedonistische Theorie auch im Bereich der Tierpsychologie den Wertbegriff involviert: „The preferential behavior of my rats is definitely evaluative and indicative of built-in evaluative mechanisms. These mechanisms can be studied objectively, quantitatively, experimentally, critically. Although complex 32

U m Mißverständnisse zu vermeiden, weisen w i r darauf hin, daß w i r unter „ H e d o nismus" im Rahmen unserer Probleme ein wissensdiaftlidies „Erklärungsprinzip" verstehen, keineswegs die als „Epikuräismus" bekannte Weltanschauung, die im Streben nach Lust die entscheidende Lebensmaxime sieht (z. B. in O . WILDES „Dorian Gray").

59

human evaluations are largely cognitive processes, the primary evaluations of lower animals are mainly affective" ( Y O U N G 1967, S . 39). Bei sehr vielen intendierten Handlungen läßt sich ohne weiteres nachweisen, daß entweder die als „Folge" der Handlung anzusetzende Zuständlichkeit als angenehme oder aber als Vermeidung einer unangenehmen Zuständlichkeit zu kennzeichnen ist. (Hierbei darf natürlich das die angezielten Zuständlichkeiten zur „Folge" habende Verhalten nicht als Kennzeichnung der Zuständlichkeiten verwandt werden, weil dies ein Zirkel wäre, sondern eine legitime Kennzeichnung der Zuständlichkeiten ist nur durch Verhalten mit Zeichencharakter33 — z. B. Sprache oder Ausdruck — oder „Demonstration" möglich.) Gelangt eine gewollte Handlung nicht zum Abschluß, so läßt sich auf dem angegebenen Wege sehr oft nachweisen, daß ihr Ziel in der Verwirklichung eines positiven Zustandswertesoder der NichtVerwirklichung eines Zustandsunwertes lag.

Die Bezogenheit von „Spiel"

auf angenehme

Zuständlichkeiten

Das „Reinforcement" einer gewollten Handlung muß aber nicht unbedingt in der tatsächlichen oder der erwarteten „Folge" einer Handlung liegen, vielmehr zeigt sich im Phänomen des „Spiels", daß Verhalten um seiner selbst willen auftreten kann. Diese Erkenntnis verdanken wir K A R L G R O O S , der sich in seinen beiden Büchern „Die Spiele der Thiere" (1. Aufl. Jena 1896) und „Die Spiele der Menschen" (1. Aufl. Jena 1899) auch mit der Frage nach der Motivation des Spiels befaßt hat. „Als die ursprünglichste psychische Begleiterscheinung des Spiels wird das Lustgefühl bezeichnet werden müssen" ( G R O O S 1896, S. 293). Aus dieser „Begleiterscheinung" wird für ihn das Definitionskriterium für jenes Verhalten, das wir als „Spiel" bezeichnen: „Daher entspricht dem biologischen das psychologische Kriterium: wo eine Thätigkeit rein um der Lust an der Thätigkeit selbst willen stattfindet, da ist ein Spiel vorhanden" ( G R O O S 1899, S. 7), oder in der 3. Auflage der „Spiele der Tiere": „Erst wenn das Lebewesen die Erfahrung gemacht hat, daß die Tätigkeit, um die es sich handelt, ihm Freude bereitet, und wenn es sie dann um ihrer Lustwirkung willen erstrebt und wiederholt, haben wir unserer Begriffsbestimmung nach das Recht, von einem spielenden Verhalten zu reden. Die aus der Erfahrung bekannte Lust ist hier also * 3 Daß bei Tieren der A u f w e i s von Verhalten mit Zeichencharakter wegen des Fehlens einer Sprache i. e. S. z w a r erschwert, aber dennodi möglich ist, zeigen die interessanten Untersuchungen v. FRISCHS ( 1 9 2 3 ) . Auch in den Alltags-„Theorien" gilt ja z. B. das „Schnurren" von Katzen als eindeutiges Zeichen dafür, daß diese sich in einer angenehmen Zuständlichkeit befinden, usw.

60

ein Motiv" ( G R O O S 1930, S. 17). G R O O S führt auch das von B A L D W I N (1898) mit dem Namen „Zirkulärreaktion" belegte Phänomen des sich ständig ohne Ziel und Ende wiederholenden Verhaltens kleiner Kinder auf die erlebte „Freude an der Tätigkeit" zurück ( G R O O S 1930, S. 24). Unter diesem Aspekt werden auch scheinbar „sinnlose" Verhaltensweisen zu sinnvollen gewollten Handlungen. Es ist also ein „Wiederholungsspiel", das K Ö H L E R beschreibt, wenn es von der Schimpansin N U E V A heißt: „Nachdem sie festgestellt hatte, daß sie mit einem kleinen Becher Wasser aus einem größeren Gefäß zu schöpfen vermochte, war sie unermüdlich darin, den Becher zu füllen und das Wasser sogleich zurückzugießen" ( K Ö H L E R 1922, S. 31). Daß in vielen Fällen Verhalten, das sonst nur in Spielsituationen gezeigt wird, ein Tier zu einem Zeitpunkt, „wo es ernst wird", in die Lage versetzt, den „Kampf ums Dasein" erfolgreich zu bestehen und sich fortzupflanzen, mag man G R O O S zugeben, daß aber generell das Spiel als „Vorbereitung auf den Lebenskampf" zu deuten sei, erscheint uns doch eine zu grobe Vereinfachung, die der Vielfalt des Phänomens nicht gerecht wird. So mag man, wenn ein Hund spielerisch einen alten Knochen benagt oder die Katze mit einem Wollknäuel spielt, mit einigem Recht von einer „Übung für den Ernstfall" sprechen, dies aber bei menschlichen Aktivitäten, wie „Kartenspiel", „Fußball" oder „Skispringen", zu tun, scheint uns das Prinzip vom „Kampf ums Dasein" doch über die Maßen zu strapazieren (schon beim Verhalten der erwähnten Schimpansin N U E V A hat man wohl gewisse Schwierigkeiten, sich eine Situation vorzustellen, bei der es „selbst-" oder „arterhaltend" wirken könnte). Übrigens relativiert G R O O S selbst die „Triebbezogenheit" der Spiele, um einen Widerspruch zu seiner Definition zu vermeiden, die das spielerische Verhalten als an keinen „Zweck" gebundene Tätigkeit um ihrer selbst willen versteht: „Und jetzt wollen wir für unsere tierpsychologischen Zwecke das mit dem Nahrungstrieb zusammenhängende Beispiel so umändern, daß es sich nicht um den Wohlgeschmack einer Speise, sondern um die Reize der Kaubewegung handeln soll, die ja bei gesunden Zähnen ebenfalls lustvoll sein kann und es jedenfalls (trotz des Kaugummis) bei einem jungen Tier noch mehr ist als bei einem erwachsenen Menschen. Die Bewegung des Zubeißens kann, isoliert betrachtet, als Reflex bezeichnet werden, ist aber natürlich zugleich ein Glied in der Äußerung des Ernährungsinstinktes. Wenn nun ein gesättigtes junges Raubtier an einem fleisch- und marklosen Knochen oder an einem Stück Holz mit großem Eifer herumnagt, so handelt es sich um ein Spiel, sofern das Tier sich zwar in den Bahnen der ererbten Disposition bewegt, aber doch nicht vom Hunger getrieben ist, sondern die Kaubewegung wegen der mit ihr selbst verbundenen Lust erstrebt und fortsetzt, ohne darum an den weiteren Verlauf der Ernsttätigkeit 61

(z.B. das Schlucken) gebunden zu sein. Man sieht: wir lassen an dem zweiten Merkmal unserer Definition die positive Seite bestehen; die negative Formulierung wird dagegen, um für die Tierpsychologie verwendbar zu sein, dahin verändert, daß nicht der von dem Arbeitszweck ausgehende, sondern der mit dem vollständig entfalteten Instinkt verbundene Zwang gemindert wird. Das geschah bei unserem Beispiel zunächst dadurch, daß die dem ererbten Trieb entspringende Emotion des Hungers nicht mehr das maßgebende Motiv war. Und es ist zweitens bemerkt worden, daß die Instinkthandlung beim Spiel nicht vollständig abzulaufen braucht (das Tier schluckt die Holzsplitter nicht, sondern entfernt sie aus seinem Munde). In ähnlicher Weise wird bei einem Kampfspiel der sonst zu dem Instinkt gehörende wütende Zorn samt seinen zerstörenden Folgen, beim spielenden Gejagtwerden und sich Verstecken die Furcht aus ihrer leitenden Stellung verdrängt, und es bleibt nur das Angenehme der freier gewordenen und sozusagen ,aufgelockerten' Betätigung übrig" ( G R O O S 1930, S. 6 f.). Hier zeigt sidi, daß G R O O S ebenfalls einem vermögenspsyciiologischen Irrtum unterliegt: Die aus einer Klassifizierung des Verhaltens entspringende Ähnlichkeit von Spiel und „Instinkt"-bezogenem Verhalten verleitet ihn zu der naiv-ontologisierenden Annahme, beiden unterliege als „Eigentliches" das gleiche, ein „Trieb". Dabei läßt er unberücksichtigt, daß diese Ontologisierung trotz aller Vorsicht einmal in Widerspruch zur Definition des Spiel-Begriffs steht und zum anderen einen Widerspruch in sich darstellt; denn wie kann ein Verhalten gleichzeitig „triebbezogen" und „doch nicht triebbezogen" sein? Entweder das eine oder das andere; Verhalten, das auf die Erfordernisse der Leiblichkeit geht, ist eben prinzipiell etwas anderes als Spielverhalten, daran ändert die äußere Ähnlichkeit gar nichts. Die Definition, daß Spiel Verhalten um der damit direkt verbundenen Lust willen sei, wodurch natürlich auch der logisch fragwürdige Anspruch auf „Zweckfreiheit" des spielerischen Verhaltens verwirkt ist (logisch fragwürdig deshalb, weil ja auch Verhalten um seiner selbst willen nie zweckfrei wäre, sondern sich selbst zum Zweck hätte), ist zunächst völlig ausreichend für Klassifikation, Interpretation und Voraussage, wenn es um das hier angezielte tierische und menschliche Verhalten geht. Daß diese Definition, die nur die Bezogenheit des Spiels auf angenehme Zuständlichkeiten berücksichtigt, dennoch nicht ausreicht, wenn auch in anderer als in der von G R O O S intendierten Richtung, welche „Triebe" berücksichtigt, wird klarwerden, wenn wir im Rahmen der Einführung des Begriffes der „Personwerte" nachweisen, daß im Spiel auch Personwerte verwirklicht werden. Zunächst interessiert uns jedoch nur das erste Motiv für das Spiel, die „Lustbezogenheit". 62

Funktionslust Aus dem Umstand, daß bestimmte Bewegungen des Körpers oder Bewegungen überhaupt vom erlebenden Ich als „Ursache" angenehmer und umgekehrt Bewegungsmangel als „Ursache" unangenehmer Zuständigkeiten kategorisiert werden, folgt eindeutig, daß diese bestimmten Bewegungen oder Bewegung überhaupt zum positiven Gegenstand des Wollens 34 wird. Der in der Bewegung oder der Tätigkeit verwirklichte Zustandszvert wurde von SCHWARZ als „Thätigkeitslust" (SCHWARZ 1900, S. 30, Anm. 1) und später von BÜHLER als „Funktionslust" 35 bezeichnet (BÜHLER 1918), letzteren Begriff erwähnt dann auch GROOS in der 3. Auflage seiner „Spiele der Tiere" (1930). Durch Einführung dieses Terminus wird die Gültigkeit der hedonistischen Annahme, die ja zunächst nur die angenehmen oder unangenehmen „Folgen" einer Handlung in Betracht zieht, erheblich erweitert, sie kann auch dort noch erklärend wirken, wo die als „Folge" eines Verhaltens anzusetzende Zuständlichkeit als neutral oder gar unangenehm bezeichnet werden muß.

Vorläufige Zurückweisung des hedonistischen Anspruches auf universelle Gültigkeit Trotz dieser Erweiterung muß jedoch eine universelle Gültigkeit der hedonistischen Annahme angezweifelt werden, denn es lassen sich genug Beispiele von intendiertem Verhalten anführen, dessen Folge- und/oder Begleitzuständlichkeiten keineswegs angenehm sind. Es dürfte sdiwer sein, einem politischen oder religiösen Märtyrer nachzuweisen, sein Verhalten sei durch das Streben nach der Verwirklichung von Zustandswerten motiviert (oder sollte man von CHRISTUS und GANDHI wirklich ernsthaft annehmen, sie seien Masochisten gewesen?). Der Märtyrer weiß um die unangenehmen Folgen oder Begleitumstände seines Verhaltens, und dennoch läßt er sich von seinen Handlungen nicht abbringen. Warum? Sieht er etwa, abweichend von anderen Menschen, im Leiden einen Wert und im Wohlbefinden einen Unwert (ohne daß hierbei Leiden und Wohlbefinden für ihn eine andere Qualität haben als für andere Menschen)? Gibt er ein Beispiel dafür, daß prinzi84

45

Unter bestimmten Bedingungen, wenn nämlich die in dem angezielten Verhalten betätigten Organe des Körpers zu lange und zu einseitig betätigt wurden, kann dieses Verhalten unangenehme Zuständlidikeiten als Begleiter haben („Muskelkater"). Das Verhalten wird dadurch zum negativen Gegenstand des Wollens und tritt nicht mehr oder nur selten auf. Nach einer gewissen Zeit, wenn das Verhalten wieder lustvoll ist, richtet sidi das Wollen wieder positiv darauf. „Funktionslust" darf nicht mit dem von UTITZ (1911) verwendeten Begriff der „Funktionsfreuden" verwechselt werden.

63

piell auch unangenehme Befindlichkeiten um eben ihrer selbst willen angestrebt werden können? Wir sagen: nein. Dem Märtyrer mißfällt das Leiden ebenso wie anderen auch, aber sein individuelles Leiden ist ihm ein geringeres Übel verglichen mit dem Gut, das er in der Verwirklichung eines ihm höher stehenden Wertes anstrebt. Die Annahme, daß es sich bei diesem „höheren" Wert um einen allgemeineren Zustandswert handle, muß (zumindest in vielen Fällen) zurückgewiesen werden, denn in der angezielten Situation wird ja nicht nur der je spezielle Zustandswert nicht verwirklicht, sondern — sofern statt dessen kein anderer spezieller Zustandswert verwirklicht wird — der allgemeinste Zustandswert der Verwirklichung von Zustandswerten überhaupt ebenfalls nicht, so daß mit der Verwirklichung des speziellen Zustandsunwertes der allgemeinste Zustandsunwert der Verwirklichung von Zustandsunwerten überhaupt gleichzeitig mitverwirklicht wird. Es muß außer den Zustandswerten also noch andere Werte geben, auf deren Verwirklichung unser Verhalten gerichtet sein kann. Erst wenn wir diese aufgewiesen haben, wird es uns möglich sein, die Zustandswerte als nur eine von mehreren möglichen Wertkategorien darzustellen.

3. P e r s o n w e r t e „Person"

als Gegenstand des Wollens

Der Beliebigkeit des Wechsels der Zuständlichkeiten wird, wie wir gesehen haben, dadurch Einhalt geboten, daß das intendierte Verhalten auf Realisation angenehmer und die Vermeidung unangenehmer Zuständlichkeiten gerichtet ist. Aber dennoch läßt sich nicht abstreiten, daß Zustandswerte nur unter bestimmten Voraussetzungen zu bestimmten Gelegenheiten verwirklicht werden, daß wir also nicht ständig Zustandswerte verwirklichen. Wären die Verwirklichung von Zustandswerten der einzige positive und die Verwirklichung von Zustandsunwerten der einzige negative Gegenstand des Wollens, so bliebe eine große Anzahl von Handlungen als „sinnlos" gekennzeichnet zurück. Wenn wir jedoch nachweisen können, daß sich das Gefallen auch auf Gegenstände richtet, die dauerhafter sind als die Zuständlichkeiten, werden einige der verbleibenden Handlungen zu „sinnvollen". Wir lesen bei S C H W A R Z : „Neben dem blossen Gelegenheitswert oder -Unwert, der in unseren Zuständen liegt und mit ihnen wechselt, haben wir nämlich noch die Vorstellung eines ganz andern Werts und Unwerts, desjenigen unserer Person. Macht, Ruhm, Schönheit z. B. sind solche Personwerte, Schmach, Schuld, Dummheit Personunwerte. Das, was wir Zustandswert und -Unwert nannten, Lust und Unlust, trifft nur das Äussere unseres Wesens, 64

nicht seinen Kern. Vom Zustands-Werte und -Unwerte wissen wir, dass er mit dem Augenblick kommt und stirbt und nicht noch nachher von uns besessen wird. Jener andere Wert und Unwert aber geht auf unser Sein; er trifft uns im Innersten. W i r sind genötigt, ihn an unsere Person zu heften; ja wir können von ihm glauben, er überdauere selbst deren physische Existenz. Wer z. B. für seinen Nachruhm lebt und schafft, thut das für einen Wert, von dem er hofft, er werde sich nach dem Tode an seiner Person verwirklichen" (SCHWARZ 1900, S. 37 f.). In einer Anmerkung läßt SCHWARZ auch Vergangenes als Person wert gelten: „Ähnlich bezüglich der Vergangenheit: eine alternde Frau kann noch immer auf ihre frühere Schönheit stolz sein" (1900, S. 38).

Soseinslage und Personwert („erhöhte"

und „verminderte"

Soseinslagen)

So werden wir selbst, unsere eigene Person, zum positiven oder negativen Gegenstand des Gefallens und ebenso alles, was damit assoziiert ist wie: Fähigkeiten, sozialer Status, Name usf. D a ß die Setzimg von Personwerten ein eigenständiges psychologisches Phänomen ist, das die Existenz eines kognitiv wertenden Bewußtseins notwendig voraussetzt, dürfte aus den vorangegangenen Überlegungen klarwerden. Es sind kognitive Prozesse, in denen wir das erlebte Sosein unseres Selbst mit den angestrebten Möglichkeiten vergleichen und danach unser Verhalten einrichten. Dazu gehört u. a. auch das Innesein des eigenen Könnens und der eigenen Kraft, das Wissen, daß man selbst es ist, der mit seinen Handlungen Veränderungen in der Welt sdiafft. So sieht auch GROOS in den die Bewegungen der Glieder begleitenden angenehmen Zuständlichkeiten nicht die einzige Motivation für das Spiel, als ebenso wichtig gilt ihm die Freude am Ursacbesein' (am Können, an der Macht)" (GROOS 1896, S. 29 j). Z w a r ist die hier angesprochene Freude eindeutig eine angenehme Zuständlidikeit, sie unterscheidet sich jedoch von anderen Zuständlichkeiten dadurch, daß sie sekundär ist und Folge eines kognitiven Prozesses (des Gefallens), der etwas anderes zum Gegenstand hat als eine Zuständlichkait, nämlich die eigene Person 36 . In der Verwirklichung eines Personwertes liegt in diesem Falle der positive Gegenstand des Wollens und nicht in der Realisation der darauffolgenden angenehmen Zuständlichkeit. So liegt zwar in vielen Fällen — jedoch niemals notwendigerweise — eine Koppelung der Verwirklichungen von Zustandswerten und Personwerten vor, aber in den meisten Fällen ist es der Personwert und nicht der Zustandswert, auf dessen Verwirklichung unser Wollen gerich86

A u f das Problem der „sekundären Zuständlidikeiten" werden wir später noch zurückkommen.

5 Keiler, Wollen

65

tet ist. So mag zwar der Bergsteiger Lust aus der Bewegung seiner Glieder schöpfen und sich am Ende seiner Mühen über den gelungenen A u f stieg und die schöne Aussicht freuen, aber all dies, die Funktionslust und die Freude, die er auf anderem "Wege viel leichter und gefahrloser haben kann, gilt ihm nicht so viel wie die Tatsache, daß er etwa als erster diese schwierige Steilwand bezwungen hat, daß er die Widerstände der Realität überwunden hat, daß er mehr kann als andere, daß er einen Personwert verwirklicht hat. „So allgemein ist das Streben nach Personwert, dass jeder, auch der Ärmste und Geringste, Grund zu finden glaubt, ihn sich zuzusprechen. Der eine meint schon dann persönlichen Wert zu besitzen, wenn ihm andere die Versicherung dieses Besitzes glauben (der Prahler). Ein Zweiter schreibt ihn sich auf die leere Einflüsterung dritter zu (er ist Schmeicheleien zugänglich). Die Eiteln, Ehrgeizigen, Tugendsüchtigen, ferner die, die sich selber sehr klug, geschickt, lebensgewandt, talentiert vorkommen, dann die Stolzen, die auf ihre Macht, K r a f t , Mut, Energie, ihre Kenntnis oder ihren Wohlstand pochen, auch sie suchen und finden alle, jeder in seiner Art, etwas, was sie vor sich selbst persönlich hebt" (SCHWARZ 1900, S. 38). In der erlebten „Soseinslageerhöhung der eigenen Person" liegt also, was das qualitativ Einzigartige des Personwertes ausmacht. Analog gilt von einem Personunwert, daß in seiner Verwirklichung eine „mindere Soseinslage der eigenen Person" erlebt wird. Was unter „Soseinslage" allgemein zu verstehen sei, haben wir schon am Anfang dieser Untersuchung klargelegt (vgl. S. 6 f.); was verstehen wir nun aber unter „erhöhter" oder „verminderter" Soseinslage? Das Gesamt der Begriffsbestimmungskriterien für den jeweiligen Urteilsgegenstand stellt die Begriffsbestimmungsnorm dar. Die Erfüllung der Begriffsbestimmungsnorm in einem realen Urteilsgegenstand ist zunädist völlig wertfrei, weil sie unabhängig von einem Wollen lediglich einer begriff slogischen Forderung entspricht, dem in Frage stehenden Urteilsgegenstand wird eine neutrale Soseinslage zugesprochen, er gefällt weder, noch mißfällt er (vgl. unsere Kennzeichnung eines normerfüllenden Urteilsgegenstandes auf S. 19). N u n kann ein in Frage stehender Urteilsgegenstand jedoch in einer je speziellen Situation in einer Soseinslage angetroffen werden, welche nicht nur alle notwendigen und hinreichenden Kriterien der Identität und Individualität des Urteilsgegenstandes erfüllt, sondern darüber hinaus „mehr" ist als „bloßer" Urteilsgegenstand und stärker gefällt, ohne etwas anderes zu sein als dieser Gegenstand. Das soll an einem Beispiel erläutert werden: Damit eine Speise als eben diese identifizierbar ist, muß sie bestimmte Kriterien erfüllen, die sich auf ihre Zusammensetzung und Zubereitung beziehen. Darüber hinaus gibt es jedoch die Möglichkeit, die Speise noch zu würzen, ohne daß dies ein zu erfüllendes Kriterium zur Identifikation der Speise wäre. Indem 66

wir nun die Speise würzen und ihren Wohlgeschmack heben, wird sie „mehr", gefällt sie stärker, ohne jedoch etwas anderes zu sein als diese Speise. So wird die Soseinslage eines Urteilsgegenstandes ganz allgemein dadurch zu einer „erhöhten", daß sie mehr Kriterien erfüllt, als zur Identifikation eben dieses Gegenstandes notwendig und hinreichend wären, und dieses „mehr" positiver Gegenstand eines Wollens ist, ohne daß jedoch dabei der Urteilsgegenstand zu etwas anderem würde als eben diesem Gegenstand. Analog nimmt ein Urteilsgegenstand eine „mindere" Soseinslage ein, wenn er nicht alle notwendigen und hinreichenden Kriterien erfüllt, um als dieser Gegenstand zu gelten, ohne jedoch etwas anderes zu sein als dieser Gegenstand (wenn z. B. der in Frage stehenden Speise eine bestimmte Zutat fehlt, sie dadurch aber nicht zu einer anderen Speise wird). Entscheidend für eine Einstufung als mindere Soseinslage ist jedoch nicht das offensichtliche „weniger", sondern daß dieses „weniger" negativer Gegenstand eines Wollens ist, sich also auch das Gefallen gegenüber dem Urteilsgegenstand in negativer Richtung ändert. Es wäre z. B. auch der Fall denkbar, daß ein Urteilsgegenstand, wenn er mehr Kriterien erfüllt, als zur Identifikation eben dieses Gegenstandes notwendig und hinreichend wären, dadurch auch nicht zu etwas anderem als eben diesem Gegenstand würde, man seine Soseinslage aber dennoch als „verminderte" bezeichnet, weil das Uberschreiten der Kriterien negativer Gegenstand eines Wollens ist und er daher mißfällt. Dieser Fall liegt vor, wenn etwa die in Frage stehende Speise versalzen, also zu stark gewürzt ist. Die Begriffe „Erhöhung" und „Verminderung" dienen zur Abhebung entweder von einer anderen Soseinslage desselben Urteilsgegenstandes oder von den Soseinslagen anderer Urteilsgegenstände. Einstufungen der Soseinslage eines Urteilsgegenstandes als „erhöht" oder „vermindert" werden gewöhnlich durch Wertprädikate gekennzeichnet; so bezieht sich z. B. „schön" oder „gefällig" auf eine erhöhte, „häßlich" oder „mißfallend" auf eine mindere Soseinslage des angezielten Urteilsgegenstandes. Dadurch, daß Erhöhung oder Verminderung zur Abhebung unterschiedlicher Soseinslagen gegeneinander herangezogen werden, werden sie zu relativen Begriffen. Das heißt, die je spezielle Soseinslage eines Urteilsgegenstandes kann als verminderte bezeichnet werden, verglichen mit einer vorangegangenen, die stärker gefiel, obwohl jene die Begriffsbestimmungskriterien durchaus in positiver Hinsicht überschreitet, nur ist eben die vorangegangene Soseinslage dem Wollen ein positiverer Gegenstand als die jetzige 37 , und bekanntlich ist ja „das Bessere der Feind des Guten". Ähnliche Bestimmungen wie für erhöhte Soseinslagen gelten für 37

5'

Es ist natürlich auch eine umgekehrte Bestimmung möglich.

67

die Kennzeichnung einer verminderten Soseinslage, die Einstufung als „minder" gilt auch nie absolut, sondern stets verglichen mit einer weniger minderen oder höheren. So wird zwar ursprünglich jene Soseinslage, die lediglich die notwendigen und hinreichenden Begriffsbestimmungskriterien des Urteilsgegenstandes erfüllt, als „neutrale" bezeichnet, eben weil die Erfüllung dieser Kriterien zunächst nur einer logischen Forderung, also einer Norm, entspricht und als solche unabhängig von einem Wollen besteht. Wird die Erfüllung der Begriffsbestimmungsnormen jedoch als positiver Gegenstand eines Wollens einer minderen Soseinslage, die durch nicht gewollte Nichterfüllung der Kriterien gekennzeichnet ist, gegenübergestellt, bezeichnen wir die ursprünglich neutrale, aber jetzt positiv gewollte Soseinslage als erhöht. Ein Urteilsgegenstand kann jedoch auch eine höhere Soseinslage als vorher einnehmen, wenn er so lange „verändert" wird (sei es durch „echte" Veränderung oder durch Einordnung in einen neuen kognitiven Kontext), bis er nicht mehr in die ursprüngliche Kategorie eingeordnet werden kann, sondern in eine neue, die dem Wollen wertvoller ist als die ursprüngliche. Hat die „Veränderung" die Einordnung in eine Kategorie zur Folge, die dem Wollen weniger wert ist als die ursprüngliche, so ist die entsprechende Soseinslage des Urteilsgegenstandes eine mindere.

Phänographische

Kennzeichnung

der „erhöhten"

Soseinslage einer Person

Ähnliche Bestimmungen wie für die Kennzeichnung erhöhter und minderer Soseinslagen allgemein können wir für den speziellen Fall der erhöhten oder verminderten Soseinslagen einer Person oder eines personhaften Individuums aufstellen. Audi eine Person in erhöhter Soseinslage ist „mehr" als bloße Person, ohne etwas anderes als Person zu sein. LERSCH schließt im „personalen Selbst" die Möglichkeit des „über sich hinaus Seins" ein (LERSCH 19JI), worin nach unserer Terminologie eine Verlagerung auf eine höhere Soseinslage der eigenen Person zu sehen wäre. In vielen Kulturen gilt das Erwachsenwerden als das Hineinwachsen in eine höhere Soseinslage der Person. Der Erwachsene hat gegenüber dem Kind und Jugendlichen entscheidende Vorrechte, er ist „mehr". Dementsprechend wird der Abschied von Kindheit und Jugend oft auch mit großem Aufwand gefeiert. So kann sich ein und dieselbe Person, die sich gestern noch als Kind in einer minderen Soseinslage befand, heute in der erhöhten des Erwachsenen wiederfinden, ohne daß sich ihre Identität geändert hätte. Trifft sich das psychophysische Ich in einer höheren Soseinslage der eigenen Person an, so erlebt es sich selbst als „mehr", „gehoben", „wert68

voll", gefällt sich stärker usw. Ähnlich gilt für ein personhaftes Individuum, das in seinem Verhalten und Erscheinen eine erhöhte Soseinslage einnimmt; auch hier erscheint es in seiner Personhaftigkeit als „mehr", „gehoben", „gefälliger". Wie höhere Soseinslagen der Person oder Personhaftigkeit im einzelnen gekennzeichnet werden können, wird klarer werden, wenn wir einige Aspekte der Persönlichkeitstheorien von A D L E R , J U N G , M A S L O W und R O G E R S weiter unten darstellen. Allgemein gilt jedoch der aus den vorhergehenden Begriffsbestimmungen deduzierbare, empirisch nicht weiter rückführbare Grundsatz: Wir streben hohe Soseinslagen der Person als Verwirklichung von Personwerten an und vermeiden mindere Soseinslagen als Verwirklichung von Personunwerten. Gilt die je einzelne erlebte Soseinslageerhöhung als Verwirklichung eines speziellen Personwertes, so sehen wir in Soseinslageerhöhungen überhaupt den allgemeinsten Personwert verwirklicht. Analoges läßt sich über die Verwirklichung von Personunwerten in je einzelnen erlebten Soseinslageminderungen oder Soseinslageminderungen überhaupt aussagen. Abgesehen von dieser generellen operationalen Kennzeichnung durch Anstreben und Vermeiden kann keine allgemeine Aussage darüber gemacht werden, was im je konkreten Fall als soseinslageerhöhend oder soseinslageminderad angesehen werden kann. Was für den einen eine Soseinslageerhöhung darstellt, kann für den anderen völlig gleichgültig oder gar eine Soseinslageminderung sein. Im je individuellen Fall ist jedoch über die operationale Kennzeichnung durch Anstreben und Vermeiden hinaus von seiten der angezielten Person durch Verhalten mit Zeichencharakter — z. B. Sprache oder Ausdruck — ein Hinweis darauf möglich, ob die in Frage stehende Soseinslage als erhöhte oder verminderte zu kategorisieren sei.

Ausdehnung des Personwertbegriffes auf die Tierpsychologie Ebenso wie das Anstreben der Verwirklichung von Zustandswerten ist unserer Ansicht nach das Streben nach Verwirklichung von Personwerten nicht nur auf den Bereich menschlicher Willenshandlungen beschränkt. Auch bei Tieren gibt es Verhaltensweisen, die nur durch Attribution einer angestrebten Soseinslageerhöhung als „sinnvoll" interpretiert werden können, wie z. B. in den Balzspielen mancher Vögel oder den Vorbereitungsakten bei Rivalenkämpfen. Zwar wird man nicht annehmen können, daß auf Tiere sämtliche bewußtseinspsychologischen und philosophischen Implikationen des Wertbegriffes anzuwenden sind, es erscheint uns aber dennoch zweckmäßig, in Analogie zum mensch69

liehen Verhalten auch für Tiere den Begriff „Personwert" einzuführen. Einmal scheint uns dies durch die Möglichkeit begründet, den Begriff „Personhaftigkeit" intersubjektiv sowohl für Menschen als auch für Tiere durch konsistentes Verhalten und Verhaltensdispositionen zu definieren, zum anderen folgen wir damit nur konsequent einer früheren Festsetzung, die auch Tieren das Anstreben von Zustandswerten zusprach (wir wollen deshalb hier nicht noch einmal begründen, warum eine solche Festsetzung auch aus methodischen und ökonomischen Gründen durchaus berechtigt ist, vgl. S. 56). Dennoch bleibt ein Vorbehalt bestehen: Wir verwenden den Begriff „Personwert" für Tiere nur als Analogon zum menschlichen Personwert-Begriff, er gilt uns nicht als dasselbe, weil wir nicht entscheiden können, ob Tieren die von „außen" attribuierte Konsistenz ihres Verhaltens „kognitiv gegeben" ist, ob sie wie Menschen „Personen" sind. Deshalb impliziert in der Folge der von uns verwendete Begriff des Personwertes hinsichtlich der Tiere immer ein „vergleichbar mit menschlichen Per sonwerten", er ist somit ein „uneigentlicher" Begriff. Bei einigen Handlungen wird man zugeben müssen, daß die Verwirklichung des Personwertes nur Mittel zum Zweck der Verwirklichung von Zustandswerten ist (die etwa aus sexuellen Vorrechten oder Vorrechten der Nahrungsaufnahme erwachsen) und darüber hinaus selbstund arterhaltend wirken kann, aber dies muß nicht generell und notwendigerweise so sein. Als Beispiel hierfür mag das Verhalten von Schimpansen stehen, wie es K Ö H L E R in unnachahmlicher Weise in seinen „Intelligenzprüfungen an Menschenaffen" beschreibt38: „Eine große Anzahl verschiedener Gegenstände wird gern am eigenen Körper irgendwie angebracht. Fast täglich sieht man ein Tier mit einem Seil, einem Fetzen Zeug, einer Krautranke oder einem Zweig auf den Schultern dahergehen. Gibt man Tschego eine Metallkette, so liegt diese sofort um den Nacken des Tieres, Gestrüpp wird mitunter in größeren Mengen auf dem ganzen Rüdken ausgebreitet getragen. Seil und Zeugfetzen hängen dabei gewöhnlich zu beiden Seiten des Halses über die Schultern zu Boden; Tercera läßt Schnüre auch um den Hinterkopf und über die Ohren laufen, so daß sie zu beiden Seiten des Gesichtes herunterbaumeln. Fallen die Dinge immer wieder ab, so werden sie auch mit den Zähnen gehalten oder unter das Kinn geklemmt, aber baumeln müssen sie auf jeden Fall. . . . Die Bedeutung dieser Dinge geht aus den Umständen und dem Verhalten der Tiere unzweideutig hervor: Sie spielen..(KÖHLER 1963, S. 66 f.). K Ö H L E R läßt auch keinen Zweifel daran, daß er in diesen Dra38

H i e r b e i ist uns selbstverständlich k l a r , daß die Beschreibungen KÖHLERS

durchaus

methodisch anfechtbar u n d die „ G r ü n d e " , die er f ü r das V e r h a l t e n der Schimpansen angibt, nicht beobachtet, sondern „ a t t r i b u i e r t " sind; seine Schilderungen gelten uns jedoch als anschauliches Beispiel, ohne d a ß w i r uns direkt mit den KÖHLERS identifizieren.



Ausführungen

pierungen Handlungen um ihrer selbst willen sieht, daß sich seinem Eindruck nach die Schimpansen mit den Gegenständen, die sie am Körper tragen „schmücken": „Sehen wir von Sultans Blechtopf und Chicas Athletenstein ab, bei denen starke Zweifel möglich sind, so gilt von den meisten übrigen Fällen — und der Zuschauer kann sich diesem Eindrucke durchaus nicht entziehen — , daß die am Körper hängenden Gegenstände Schmuckfunktion im weitesten Sinne haben. Das Trotten der behängten Tiere sieht nicht nur mutwillig aus, es wirkt auch als naiv-selbstgefällig. Freilich darf man kaum annehmen, daß die Schimpansen sich eine optische Vorstellung von ihrem eigenen Aussehen unter dem Einflüsse der Toilette machen, und nie habe ich gesehen, daß die äußerst häufige Benutzung spiegelnder Flächen irgend Beziehung auf das Behängen angenommen hätte; aber es ist sehr wohl möglich, daß das primitive Schmücken gar nicht auf optische Wirkungen nach außen rechnet — ich traue so etwas dem Schimpansen nicht zu — , sondern ganz auf der merkwürdigen Steigerung des eigenen Körpergefühls, Stattlichkeitseindrucks, Selbstgefühls beruht, die auch beim Menschen eintritt, wenn er sich mit einer Schärpe z. B. behängt oder lange Troddelquasten an seine Schenkel schlagen. Wir pflegen die Selbstzufriedenheit vor dem Spiegel zu erhöhen, aber der Genuß unserer Stattlichkeit ist durchaus nicht an dem Spiegel, an optische Vorstellungen unseres Aussehens oder an irgend genauere optische Kontrolle überhaupt gebunden; wie sich so etwas mit unserem Körper mitbewegt, fühlen wir ihn reicher und stattlicher" ( K Ö H L E R 1963, S. 67 f.). Zwar muß hier klargestellt werden, daß diese Schilderungen K Ö H L E R S keineswegs Beweischarakter haben, sondern eher den Status einer mehr kontemplativen vorwissenschaftlichen Alltagstheorie für sich beanspruchen können. Wir sind jedoch der Ansicht, daß man auch unter Anlegung strengerer methodischer Maßstäbe das von K Ö H L E R angeführte Verhalten von Schimpansen am besten durch Bezug auf Verwirklichung von „Personwerten" erklären kann. Insbesondere scheint uns die Attribution der „Schmuckfunktion" der umgehängten Gegenstände theoretisch und empirisch fruchtbar.

Personwert vs. „Selbst"-

und

„Arterhaltung"

Im Sich-Schmücken sehen wir eine Möglichkeit zur Verwirklichung von Personwerten, die so allgemein ist, daß sie nicht nur in den verschiedenen Kulturen unabhängig voneinander beobachtet wird, sondern auch Tieren attribuiert werden kann. Die Art, sich zu schmücken, ist freilich von Individuum zu Individuum und von Kultur zu Kultur verschieden und innerhalb einer Kultur oft von einem Phänomen abhängig, das wir als „Mode" bezeichnen. 71

Daß wir es beim Schmuck tatsächlich mit der Verwirklichung eines Personwertes zu tun haben, dürfte kaum zweifelhaft sein. Warum jemand vorzugsweise ein schwarzes Hemd mit türkisfarbenen aufgedruckten Rosen trägt, läßt sich sicherlich weder von der Erfüllung einer physiologischen Norm (also einer bewußtseinstranszendenten „Triebbefriedigung") noch von der Verwirklichung eines Zustandswertes her erklären. (Es wäre absurd, anzunehmen, ein schwarzes Hemd mit türkisfarbenen aufgedruckten Rosen halte wärmer oder rufe eine angenehmere Hautempfindung hervor als ein einfarbiges schwarzes; daß jedoch der Träger eines solchen Hemdes sich durch das Tragen in einer erhöhten Soseinslage der Person erleben kann, leuchtet unmittelbar ein.) Einige andere Beispiele sollen zeigen, daß „Tüchtigkeit im, Lebenskampf" sowie „Selbst-" und „Arterhaltung", die man uns als „eigentliche Zwecke" der Verwirklichung von Personwerten entgegenhalten könnte, in vielen Fällen selbst „Mittel zum Zweck" sind. Bei den Kwakiutl, einem Indianerstamm, der entlang der Küste der Vancouver-Insel lebt, wird z. B. Kinderreichtum als Druckmittel im ständigen Kampf um einen höheren sozialen Status eingesetzt (vgl. die Arbeiten über die Kwakiutl von B O A S 1925 und G O L D M A N 1937). Je mehr Kinder ein Mann in eine Geheimgesellschaft einführen kann, um so besser für ihn. Auch Eigentum erwerben die Kwakiutl nicht, um es in zweckmäßiger Weise zu benutzen, sondern um damit einen Rivalen „auszuschalten". Hierzu schreibt N E W C O M B : „Ansprüche auf adlige Stellung macht man geltend, indem man Eigentum, Decken und Kästen verteilt und Feste g i b t . . . Bei diesen Festen werden große Mengen wertvoller Güter vor aller Augen zerstört... Eigentum häuft man vor allem zu dem Zweck an, es einem Rivalen zu geben" ( N E W C O M B 1959, S. 34). Das Streben nach Gewinn und Kinderreichtum ist also nicht Selbstzweck, sondern dient indirekt einer Soseinslageerhöhung der eigenen Person. Interessant sind in diesem Zusammenhange die Untersuchungen von (1904, 1905), W I N T E R B O T T O M (1953) sowie die Analysen von M C C L E L L A N D (1966), in denen versucht wird, das unterschiedliche Leistungsstreben bei Protestanten und Katholiken auf deren unterschiedliche Einstellung zur eigenen Person und deren Befindlichkeit in der Welt zurückzuführen. So wird Leistungsstreben zum Zwecke der Personwertverwirklichung u. a. besonders bei den Calvinisten angetroffen, denen der Erfolg im „Lebenskampf" als Indiz für ihre Auserwähltheit in religiöser Hinsicht gilt. Erfolgreiches Bestehen im Kampf ist in vielen kriegerischen Kulturen Voraussetzung für Personwertverwirklichungen, und zwar gilt das nicht nur für eine erfolgreiche Verteidigung des eigenen Lebens, sondern in besonderem Maße für ein siegreiches Bestehen bei einem Angriff, den diejenige Person ausführt, die ihr Ansehen erhöhen will. K A R D I N E R schreibt WEBER

72

über den Indianerstamm der Comanchen: „ W a r was the main activity of Comanche m e n . . . T h e life story of the average old Comanche is nothing but a long collection of w a r stories. Other events — marriages, deaths — are mentioned casually as having taken place between such and such raids. W a r parties were constantly going out, either for loot or for honor, frequently both . . . In addition, the young men went out continually on their own, to gain honors. In the old days, any band of the Comanche w o u l d have t w o or three w a r parties out at the same time" (KARDINER 1963, S. 61). In einer kriegerischen K u l t u r ist Selbstbehauptung im K a m p f mit Feinden und damit Selbsterhaltung überhaupt die Voraussetzung, daß der kämpfende Mann als „mächtig", „stark", „großer Krieger", „furchteinflößend", als die positiven Personwerte überhaupt verwirklichend beurteilt wird, „schwach und hilflos" oder gar „ f e i g e " zu sein gilt in einer soldien K u l t u r dementsprechend als „Schande". „ A brother-in-arms w h o l e f t his brother wounded on the field of battle w o u l d lose respect completely" (KARDINER, 1963, S. 62). W e r nun behaupten wollte, die in diesen Beispielen angeführten Personwerte seien lediglich ein Mittel, um die Verwirklichung der „eigentlichen" Werte 3 9 , der Selbst- und Arterhaltung, „attraktiver" zu machen, muß, sofern er keine metaphysisch prästabilierte Harmonie zwischen Selbst- und Arterhaltung auf der einen und der Verwirklichung von Personwerten auf der anderen Seite annimmt, begründen, w a r u m denn die „eigentlichen W e r t e " überhaupt noch „ a t t r a k t i v " gemacht werden müssen, da sie dies doch eigentlich gemäß der Definition durch ihre Setzung als „ W e r t " v o n selbst sind. Außerdem bliebe zu erklären, warum die erhöhte „ A t t r a k t i v i t ä t " durch eine Koppelung gerade mit Personwerten zustande kommt, deren Eigenständigkeit und Eigenwirksamkeit ja damit anerkannt werden muß, da eine Koppelung nur zwischen nichtidentischen Gegebenheiten möglich ist. Auch Begriffe w i e „ u n b e w u ß t " oder „bewußtseinstranszendent" sind hier fehl am Platze, denn in allen Beispielen sind Selbst- b z w . Arterhaltung bewußte Zwischenziele auf dem Wege zur Verwirklichung v o n Personwerten (die ja per definitionem „ b e w u ß t " , weil „ g e w o l l t " sind), in einigen Fällen werden sie sogar bewußt aufs Spiel gesetzt, um einen Personwert zu verwirklichen.

Kritik

der Ontologisierung

des Selbst- und

Arterhaltungsprinzips

W i r sehen also immer wieder, in welche „Sackgassen der Wissenschaft" man sich verirrt, wenn man einmal dem vermögenspsychologi59

Sofern man Selbst- und Arterhaltung als intendierten „ Z w e c k " des Verhaltens eines Organismus und nicht als bloß beliebige Folge dieses Verhaltens ansieht, sind gemäß unserer Definition Selbst- und Arterhaltung notwendigerweise als Werte gekennzeichnet

(vgl.

GOLDSTEIN

1965).

73

sehen Irrtum unterlegen ist, in naiver Ontologisierung dem von einem selbst in die Wissenschaft eingeführten Erklärungsprinzip seine Eigenart als theoretisches Konstruktum abzusprechen und es in den Status eines empirisch vorgefundenen Seienden zu erheben (vgl. H O L Z K A M P 1964, S. 179 ff.). Wenn man sich in den Reihen der biologisch-evolutionstheoretisch ausgerichteten Psychologen endlich darüber klar wäre, daß es sich bei „Selbst-" und „Arterhaltung" lediglich um von Wissenschaftlern eingeführte Erklärungsprinzipien handelt (die ebenso begrenzt sein können wie andere Erklärungsprinzipien auch) und nicht um etwas unabhängig von einer Wissenschaft in der Wirklichkeit Vorfindbares, wäre man nicht genötigt, Erscheinungen, die man von der Genese her als „art-" und/oder „selbsterhaltend" versteht, die aber de facto eher als „art-" und/oder „selbstzerstörend" zu deuten sind (vgl. das von uns auf S. 44 ff. als „Süchte" oder „Laster" bezeichnete Phänomen und besonders die in diesem Zusammenhang referierten Untersuchungen von O L D S und Mitarbeitern), mit fragwürdigen und die eigentliche Grundannahme überschreitenden Argumenten „wegzuerklären". Außerdem scheint man sich kaum darüber im klaren zu sein, daß „art-" und „selbsterhaltend" alles andere als wertfreie Begriffe sind. Implizit ist mit der Art- bzw. Selbsterhaltungsannahme nämlich die Festsetzung von „Art-" und „Selbsterhaltung" als positive Werte mitgegeben, ohne daß man Rechenschaft darüber ablegt, warum. Wir haben hier die paradoxe Situation, daß der Wissenschaftler aus seinem eigenen Wertsystem bewußt ein Prinzip ableitet, dem er ontologisierend ein „unbewußtes" organisches Substrat unterlegt. Hieraus wäre verständlich, warum die FREUDsche Lehre vom „Todestrieb" im Gegensatz zu den Lehren, die die Begriffe „Selbst-" und/oder „Arterhaltung" involvieren, niemals populär wurde. Selbstund Arterhaltung sind den meisten Menschen Werte, und sie sind sich dessen vollauf bewußt, hingegen sind Sterben und Tod fast durchweg unwertbezogen. Mit dieser Feststellung widersprechen wir keineswegs unseren vorangegangenen Ausführungen, denn es ist prinzipiell etwas anderes, ob man Selbst- und Arterhaltung als unbewußten alles wirkenden Trieben entspringend oder aber als bewußte, weil gewollte Werte unter anderen Werten versteht. Wir folgen keinem dunklen „Drang zum Leben", sondern wir wollen leben; diejenigen, die nicht leben wollen, denen Leben als Unwert gilt, verwirklichen im „Selbstmord" den Wert der eigenen Nichtexistenz. (Dieses Phänomen, daß jemand nicht leben will, ist durch die Argumentation von evolutionstheoretischer Seite, der „sterbe dann ja auch aus", natürlich nicht erklärt, sondern es wird nur die Folge dieses Wollens aufgewiesen, was lediglich teleologischen Erklärungswert hätte, der, soweit wir unterrichtet sind, auch bei Evolutionstheoretikern nicht hoch im Kurs steht.) 74

Selbsterhaltung als Personwert Damit ist „Selbsterhaltung", sofern sie positiver Gegenstand des Wollens ist, als Personwert gekennzeichnet, da „Selbsterhaltung" ein Wert ist, der an der eigenen Person als Gegenstand verwirklicht wird. Die Existenz der eigenen Person ist zwar notwendige Voraussetzung aller Personwerte überhaupt, aber in der bloßen Weiterexistenz der eigenen Person erschöpfen sich nicht alle Möglichkeiten des Gefallens, das die eigene Person zum Gegenstand hat; in der Verwirklichung anderer Personwerte ist noch eine Erhöhung dieser Existenz über ihre ursprüngliche Soseinslage hinaus möglich, die in der bloßen Existenz der Person besteht. Insofern scheint N I E T Z S C H E das Problem nicht richtig gesehen zu haben, wenn er Z A R A T H U S T R A in der Rede „Von der Selbst-Überwindung" sagen läßt: „Der traf freilich die Wahrheit nicht, der das Wort nach ihr schoss vom ,Willen zum Dasein': diesen Willen — giebt es nicht! Denn: was nicht ist, das kann nicht wollen; was aber im Dasein ist, wie könnte das noch zum Dasein wollen!" ( N I E T Z S C H E 1925, S. 1 4 9 ) ; denn aus der Unmöglichkeit eines „Willens zur Existenz" ist notwendigerweise noch nichts über die Möglichkeit eines „Willens zur Weiterexistenz" ausgesagt, diese kann, da sie ja im Augenblicke des Willensaktes als nichtseiend gesetzt ist (in der Zukunft liegt), durchaus positiver oder negativer Gegenstand des Wollens sein. Daher ist unsere Formulierung vom „Wollen der Selbsterhaltung" logisch legitim. Steht dem Wert der Weiterexistenz als Unwert die Nichtexistenz der Person, der Tod, gegenüber, so besteht prinzipiell auch die umgekehrte Möglichkeit: dem Tod als Wert steht die Weiterexistenz der eigenen Person als Unwert gegenüber. Audi hier ist die Existenz der Person zunächst Voraussetzung, da ja ein Nichtexistierendes weder seine Existenz noch seine Nichtexistenz wollen kann. Wird von einem wollenden Subjekt der Tod als Wert gesetzt, so begibt sich dieses Individuum mit der Verwirklichung dieses Personwertes jeder Möglichkeit, noch andere Personwerte zu verwirklichen, sofern diese nicht unmittelbar mit dem Tod selbst oder seinen Umständen verbunden sind (z. B. Selbstaufopferung für andere).

Der „Wille zur Macht" bei

ADLER

Dem „Willen zum Dasein" stellt N I E T Z S C H E den „Willen zur Macht" entgegen: „Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein. Dass dem Stärkeren diene das Schwächere, dazu überredet es sein Wille, der über noch Schwächeres Herr sein w i l l . . . also gibt sich auch das Grösste noch hin und setzt um der Macht willen — das Leben dran" ( N I E T Z S C H E 75

1925, S. 148). D a „Macht", wie sie N I E T Z S C H E versteht, nach unserer Definition eine Soseinslageerhöhung der „mächtigen" Person mit sich bringt, ist sie ebenfalls dem Begriff des „Personwertes" zu subsumieren; „Schwäche" oder „Unterlegenheit" wären demnach „Personunwerte", sofern dem wollenden Subjekt die Ausübung von Macht positiver Gegenstand des Wollens ist. Ist bei N I E T Z S C H E der „Wille zur Macht" etwas Primäres, so versteht der Tiefenpsychologe A D L E R diesen Machtwillen als Reaktion auf ein ursprüngliches Erleben der eigenen „Minderwertigkeit" (zunächst als „Organminderwertigkeit" verstanden, vgl. hierzu A D L E R 1927). Der Wille zur Überlegenheit ist lediglich eine „neurotische Zwecksetzung" zur „Uberkompensation" dieser ursprünglichen Unterlegenheit. „Am Anfang der Entwicklung zur Neurose steht drohend das Gefühl der Unsicherheit und Minderwertigkeit und verlangt mit Macht eine leitende, sichernde, beruhigende Zwecksetzung, um das Leben erträglich zu machen. Was wir das Wesen der Neurose nennen, besteht aus dem vermehrten Aufwand der verfügbaren psychischen Mittel. Unter diesen ragen besonders hervor: Hilfskonstruktionen und Fiktionen im Denken, Handeln und Wollen" ( A D L E R 1 9 1 9 , S. 6). „Als diese neurotische Zwecksetzung hat sich uns die Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls ergeben, dessen einfachste Formel im übertriebenen ,männlichen Protest' zu erkennen ist. Diese Formel: ,ich will ein ganzer Mann sein!' ist die leitende Fiktion in jeder Neurose, f ü r die sie in höherem Grade als für die normale Psyche Wirklichkeitswerte beansprucht. Und diesem Leitgedanken ordnen sich auch Libido, Sexualtrieb und Perversionsneigung, wo immer sie hergekommen sein mögen, ein. N I E T Z S C H E S ,Wille zur Macht' und ,Wille zum Schein' umfassen vieles von unserer A u f fassung. . . " ( A D L E R 1 9 1 9 , S. 4 f.). Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Feststellung, daß der „Wille zur Macht" für A D L E R nicht organischen Ursprungs ist, sondern eine psychologisch zu deutende Reaktion auf erlebte Minderwertigkeit (diese ist allerdings in den meisten Fällen nach A D L E R organischer Natur) darstellt 40 .

Kritik

des universellen

Machtwillens

bei

NIETZSCHE

durch

SCHWARZ

Solange man das „Wollen von Macht" lediglich als eine Möglichkeit unter vielen auf dem Wege zu einer „höheren Soseinslage der eigenen Person" betrachtet, also „Macht" als nur einen Personwert unter vielen anderen möglichen, mag man N I E T Z S C H E und A D L E R (und diesem auch 40

Es muß darauf hingewiesen werden, daß w i r uns nicht mit dem tiefenpsydiologischen Ansatz v o n ADLER identifizieren, er soll uns lediglich als Beispiel einer extrem personwertzentrierten Motivationslehre dienen, ohne daß w i r ihn in seinen Einzelheiten bewerten wollen.

76

im „normalen" nichtpathologischen Bereich) zustimmen. Darüber hinaus gibt es gewiß Leute, denen Macht und Überlegenheit über andere als höchster Personwert oder höchster Wert überhaupt gilt; aber daraus eine Allgemeingültigkeit zu machen und im Streben nach Macht die einzigen Willenshandlungen zu sehen, das scheint uns genauso verfehlt wie die Annahme einer monothematischen Trieblehre (vgl. unsere Kritik der monothematisdien Trieblehren auf S. 33 ff.). Wir folgen in dieser Auffassung S C H W A R Z , der in seiner Kritik des „Willens zur Macht" (der ihm im Sinne N I E T Z S C H E S als angeborener „physiologisch-metaphysischer Trieb" gilt) die begriffslogische Unmöglichkeit einer „Einheit" des Machtstrebens nachweist und das Machtstreben auf das viel allgemeinere „Wollen persönlichen Wertes" zurückführt: „Dazu kommt, dass die angeborenen Triebe an Bestimmtheit verlieren, sobald wir sie näher betrachten. 2 . B. der Wille zur Macht soll einer sein. Aber das, was wir Macht nennen, ist vieles und verschiedenes. Wir besitzen materielle Macht über andere, wenn uns die äusseren Machtmittel dazu eignen. Wir können Menschen auch durch geistigen Einfluss beherrschen. Oder wir können mit der sittlichen Macht des Vorbilds auf sie wirken, indem wir uns selber an große Ziele hingeben und dadurch Nacheiferung wecken. Wieder eine andere ist die Macht über Tiere und Sachen... Da der angeborene Machtwille einer sein soll, so kann er sich nicht auf alle diese konkreten Machtarten zusammen richten. Müssten wir sie doch auch erst erfahren haben, um sie zu kennen und zu schätzen... Das Ziel jenes Machtwillens kann also höchstens das gemeinsame sein, was alle jene Arten zur Gattung vereinigt: die Steigerung des eigenen, persönlichen Wertes, indem man über irgend etwas anderes herrscht... So bleibt vom Willen zur Macht nur das leere Wollen persönlichen Wertes ü b r i g . . . Bei gründlicher Prüfung wird jener .angeborene Machtwille' (Oberwille) auch in anderer Hinsicht einer blossen Anlage immer ähnlicher, die freilich seltsamerweise nicht ruht, sondern thätig, aktuell sein müsste. In welchem Verhältnis mögen zu ihm jene einzelnen Machtbestrebungen (Unterwillen) stehen, die wir oben kennen lernten, die durch ihre Inhalte konkret sind und später in uns auftreten? Bilden sie sich neben ihm und unabhängig von ihm, indem besondere Vorstellungen oder Gefühle auf uns wirken? Gäbe man das zu, so wäre der Oberwille überflüssig" ( S C H W A R Z 1 9 0 0 , S. 6 2 f.). So wird für S C H W A R Z der angeborene Machtwille zur „psychologischen Ungestalt", ebenso wie der Wille zur Zeugung, zur Betätigung, zum Wissen usw. Aus den vorangegangenen Überlegungen sollte klar geworden sein, daß im „Machtstreben" lediglich eine der vielen Möglichkeiten zur Verwirklichung von Personwerten überhaupt zu sehen ist. Im Phänomen der Macht wird jener Aspekt der Person angesprochen, den man als „Potenz" bezeichnen könnte. Die Einführung dieses Begriffes in un77

seren Problemkreis scheint uns berechtigt, da die Anwendung der von E R T E L aufgeführten Begriffe, die sich in der Faktorenanalyse als hoch mit dem „Anmutungs"-Faktor „Potenz" geladen erwiesen hatten (vgl. besonders E R T E L 1965 a, 1965 b), auf eine reale Person genau das deckt, was wir in unseren Ausführungen meinten. In einer Erhöhung der eigenen „Potenz" sehen wir also eine Möglichkeit unter anderen, Personwerte zu verwirklichen.

„Personwerte" bei

JUNG, ROGERS

und

MASLOW

In anderen Theorien wird das Wollen der Verwirklichung von Personwerten allgemeiner gefaßt; hier richtet sich das Wollen nicht nur auf einzelne Aspekte der Person wie „Potenz", „Aussehen", „soziales Verhalten" usw., sondern auf eine Soseinslageerhöhung der Person überhaupt. Bei dem Tiefenpsychologen J U N G geschieht das in dem Prozesse der „Individuation", dem Finden zu sich selbst. „Je mehr man sich aber durch Selbsterkenntnis und dementsprechendes Handeln seiner selbst bewußt wird, desto mehr verschwindet jene, dem kollektiven Unbewußten aufgelagerte Schicht des persönlichen Unbewußten. Dadurch entsteht ein Bewußtsein, das nicht mehr in einer kleinlichen und persönlich empfindlichen Ich-Welt befangen ist, sondern an einer weitern Welt, am Objekte, teilnimmt" ( J U N G 1938, S. 99). Das Zentrum der Persönlichkeit, die den Individuationsprozeß erfolgreich durchlaufen hat, liegt — so G O L D B R U N N E R — „nicht mehr im Ich, als der Summe der Bewußtseinsinhalte, sondern in einem virtuell gedachten Punkt zwischen Bewußtsein und Unbewußtem. Ihn nennt Jung das Selbst... Individuation bezweckt die Bildung des Selbst, weshalb man audi Selbstwerdung oder Selbstauszeugung sagen kann" ( G O L D B R U N N E R 1949, S. 139). An diesem Selbst sind die „Persona" (die äußere Erscheinung im sozialen Kontext), das „Ich", das „persönliche Unbewußte", die „Anima" sowie das „kollektive Unbewußte" mit seinen „Archetypen" widerspruchsfrei beteiligt. Da das „Selbst", dem eine höhere Soseinslage der Person entspricht, nicht von Anfang an existiert, ist seine Existenz dem wollenden Individuum ein positiver Gegenstand des Wollens, eine „Aufgabe"; der Verwirklichung dieses Wertes unterzieht es sich im Prozeß der Individuation. Der Nachteil der JuNGschen Konzeption liegt in der schweren empirischen Uberprüfbarkeit der involvierten Annahme, so daß sich J U N G ZU einer eher kontemplativen analogisierenden Methode bekennen muß, von der er selbst zugibt, daß sie nicht unbedingt überzeugend ist: „Ich kann daher nichts Überzeugendes vorbringen, d. h. nichts, was den Leser so überzeugt, wie es den überzeugt, dem es eigenstes Erlebnis ist. Wir müssen es ihm schon glauben

78

in Analogie mit dem, was wir selber erfahren haben. Schließlich — wenn alles fehlt — können wir doch das Endresultat, nämlich die Veränderung der Persönlichkeit, unzweifelhaft wahrnehmen" ( J U N G 1938, S. 174 f.). Auch R O G E R S läßt in seiner Theorie vom Selbst Raum für eine „Erhöhung" der Person: „Ideal self (or self-ideal) is the term used to denote the self-concept which the individual would most like to posses, upon which he places the highest value for himself. In all other respects it is defined in the same way as the self-concept" ( R O G E R S 1959, S. 200). „Self-concept" wird von R O G E R S synonym auch mit „seif", "concept of self" bezeichnet. „These terms refer to the organized, consistent conceptual gestalt composed of perceptions of characteristics of ,1* or ,me' and the perceptions of the relationships of the ,IC or ,me' to others and to various aspects of life, together with the values attached to these perceptions. It is a gestalt which is available to awareness though not necessarily in awareness. It is a fluid and changing gestalt, a process, but a any given moment it is a specific entity which is at least partially definable in operational terms by means of a Q sort or other instrument or measure. The term self or self-concept is more likely to be used when we are talking of the person's view of himself, self-structure when we are looking at this gestalt from an external frame of reference" ( R O G E R S 1959, S. 200). M A S L O W sieht in dem Bedürfnis nach „Selbstaktualisierung" (selfactualisation) das Motiv, das die Handlungen des Subjekts steuert, wenn die „fundamentaleren" Bedürfnisse befriedigt sind: „Even if all these needs are satisfied, we may still often (if not always) exspect that a new discontent and restlessness will soon develop, unless the individual is doing what he is fitted for. A musician must make music, an artist must paint, a poet must write, if he is to be ultimately happy. What a man can be, he must be. This need we may call self-actualisation... It refers to the desire for self-fulfillment, namely, to the tendency for him to become actualized in what he is potentially. This tendency might be phrased as the desire to become more and more what one is, to become everything that one is capable of becoming" ( M A S L O W 1943, S.382).

Abschließendes zum Begriff der

Personwerte

Nun muß das Streben nach Verwirklichimg von Personwerten nicht notwendigerweise auf das Gesamt der Person gerichtet sein, sondern kann sich, wie wir am Beispiel des Machtstrebens gesehen haben, auch auf Teilaspekte der Person richten. „Der Geizige misst gerne viele einzelne Freuden des Lebens, um seinen Reichtum zu erhalten und zu ver79

mehren, der ihm wie ein Stück des eigenen Ich geworden ist und dessen Sein hebt; der Eitle opfert seine Bequemlichkeit, um seine Schönheit zu pflegen, der Mutige verachtet die Furcht in Gefahren usw." (SCHWARZ 1900, S. 39).

In den vorangegangenen Abschnitten sollte keine „Theorie der Personwerte" abgehandelt werden, das kann im Rahmen unseres Problems nicht geschehen, sondern lediglich eine begriffslogische Voraussetzung geschaffen werden, die die Interpretation und Voraussage von Verhalten ermöglicht, das unter hedonistischen Gesichtspunkten „sinnlos" erscheinen muß. Die Kurzdarstellung einiger Theorien, in denen der Begriff des Personwertes (wenn auch in anderen Formulierungen) auftaucht, diente der Veranschaulichung des von uns Gemeinten.

Kennzeichnung von Zustands- und Personwerten als „Eigenwerte" Da sich die in den beiden letzten Kapiteln abgehandelten Werte immer entweder auf die eigene Person (Personwerte) oder aber auf die Zuständlichkeiten der eigenen Person (Zustandswerte) beziehen, scheint es uns berechtigt, sie mit SCHWARZ zur Kategorie der Eigenwerte zusammenzufassen, wodurch eine bessere Abhebung von einer weiteren Wertkategorie, nämlich der Fremdwerte, möglich ist, die wir im nächsten Kapitel einführen wollen. Nachfolgende tabellarische Ubersicht soll das Verständnis der von uns getroffenen formal-inhaltlichen Einteilung der Eigenwerte erleichtern:

Tabellarische Übersicht I Formal-inhaltliche Einteilung der Eigenwerte Vorzeichen des Gegenstandes

Gegenstand

Bezeichnung des Wertes

Zuständlichkeit : angenehme Zuständlidikeit

+

unangenehme Zuständlidikeit

Zustandswert Zustandsunwert

Soseinslage der Person (Personhaftigkeit) :

+

erhöhte Soseinslage verminderte Soseinslage

Personwert Personunwert

(Die Tabelle ist von links nach rechts zu lesen) 80

4- F r e m d w e r t e Einführung der Fremdiverte Die Klassifikation menschlicher und tierischer Verhaltensweisen als die Verwirklichung von Zustands- und/oder Personwerten intendierend oder die Verwirklichung von Zustands- und/oder Personunwerten vermeidend ermöglicht uns in vielen Fällen eine Voraussage und Erklärung des jeweiligen zu erwartenden Verhaltens, sofern wir Aussagen darüber machen können, welche speziellen Zustands- und/oder Personwerte oder -unwerte involviert sind und wie deren Verwirklichung oder NichtVerwirklichung operational zu kennzeichnen ist. Es gibt jedoch Verhalten, das wir mit Rekurs auf die Verwirklichung von Zustandsoder Personwerten nicht erklären und voraussagen können, das aber dennoch als zielgerichtet zu klassifizieren ist, wenn wir die handelnden Personen befragen. D a gemäß unserer Definition zielgerichtetes Verhalten nur auf einen Willensakt folgen kann und in einem Willensakt stets ein Wert gesetzt wird, muß es außer den bisher aufgeführten Wertkategorien noch eine dritte geben, die sich mit den beiden ersten nicht überschneidet. „Denn nur ein Teil unserer Wollungen geht auf persönlichen (Eigen-)Wert. Andere zielen darauf, Fremdes zu verwirklichen, zu fördern oder zu erhalten. Wenn wir ringen in der Kunst, uns mühen in der Wissenschaft, nicht aus Rücksicht auf Lohn oder Nutzen oder auf Ehre und Ruhm, sondern um hier Wahrheit, dort Echtheit des Ausdrucks zu finden, so bethätigen wir solche Willensregungen. Wenn wir dem Elenden helfen, nicht weil wir unsere eigne sympathische Unlust an seinem Zustande los werden wollen, noch weil wir hoffen, Lohn von ihm zu ernten, noch weil wir uns damit bei uns selber eines Verdienstes schmeicheln möchten, so ist es auch hier wieder ein unmittelbarer, mächtiger Impuls, der Herrschaft über unseren Willen gewinnt" (SCHWARZ 1900, S. 41 f.). In einer Anmerkung weist SCHWARZ darauf hin, daß es psychologisch notwendig sei, „auch die Ziele der wissenschaftlichen und künstlerischen Bethätigung als Fremdwerte anzusprechen" (S. 41, Anm. 1). Er rechnet sie den inaltruistischen zu, die er von altruistischen abhebt, „welche letzteren wir als ein Gutes denken, das man seinen Mitmenschen thut oder gönnt" (S. 41, Anm,. 1).

Auseinandersetzung

mit den Egoismus-Theorien

NIETZSCHE) und ihre

(SPENCER, STIRNER,

Zurückweisung

Bei der Setzung eines Fremdwertes wird völlig von der eigenen Person und ihren Zuständlichkeiten abgesehen. „Arbeitend, helfend, 6 Keiler, Wollen

gj

schenkend, dienend geben wir uns an Fremdes hin. Wer Zustandswerte (Lust aller Art) begehrt, will geniessen. Wer Person wert (Macht, Schönheit, Ehre, Reichtum usw.) erstrebt, will besitzen. Sdiaffen will, wer sich einem Fremdwerte weiht. Ein Fremdes wird ihm zum Werte, indem dessen Vorstellung unmittelbar auf seinen Willen wirkt; dieses zu verwirklichen, zu erhalten, in seinem Sein zu fördern, ist der Sinn und das Werk seines Schaffens" ( S C H W A R Z 1 9 0 0 , S. 4 2 ) . Wirkt das, was wir zunächst als Verwirklichung eines Fremdwertes ansahen, in irgendeiner Form auf die wollende Person zurück und war dieses Zurückwirken von dem wollenden Subjekt intendiert (wenn wir z. B. jemandem in der Hoffnung etwas schenken, er würde wiederschenken), so war das, was wir als Verwirklichung eines Fremdwertes ansahen, nicht der eigentliche Gegenstand des Wollens, sondern nur Mittel zum Zwecke der Verwirklichung eines Zustands- oder eines Person wertes; dadurch wird der Anspruch auf Verwirklichung eines Fremdwertes verwirkt. Das gilt auch, wenn ein Rüdewirken auf die eigene Person zwar intendiert war, aber nicht erfolgte. Denn in einem Fremdwert setzt sich das wollende Ich ein Ziel, dessen Verwirklichung zwar ursächlich an dieses Ich gebunden scheint, das jedoch, wenn einmal verwirklicht, ohne Beziehung auf das Ich bestehen kann, auf dessen Wollen es mittelbar (nämlich durch eine Handlung) folgt. Nach Ansicht der Egoismus-Theoretiker (z. B. S P E N C E R , S T I R N E R , ist alles Streben nach Fremdwerten Täuschung, ein Umweg zum eigentlichen Ziele, das im Ich des einzelnen den alleinigen Gegenstand des Wollens hat. Bei S P E N C E R und S T I R N E R ist das Wohl des je einzelnen der Zweck; die Gesellschaft das Mittel zur Erreichung dieses Zweckes. Für S P E N C E R ist Altruismus nur Anlaß zu höherem egoistischen Genuß, deshalb gilt ihm Selbstlosigkeit als ausgereifter Egoismus ( S P E N C E R 1 8 9 6 ) . S T I R N E R S „Der Einzige und sein Eigentum" ist geradezu als ein Manifest des Egoismus anzusehen; da man in der Absicht, einem höheren Ziele als dem eigenen Selbst zu dienen, doch nur dem Egoismus eines anderen oder einer Sache diene, sei es doch eigentlich besser, sein Bemühen auf sich zu richten, da die anderen ja das gleiche täten. „Ich brauche gar nicht an jedem, der seine Sache Uns zuschieben möchte, zu zeigen, dass es ihm nur um sich, nicht um Uns, nur um sein Wohl, nicht um das Unsere zu thun ist. Seht Euch die Übrigen nur an. Begehrt die Wahrheit, die Freiheit, die Humanität, die Gerechtigkeit etwas anderes, als dass Ihr Euch enthusiasmiert und ihnen dient?" ( S T I R N E R 2. Aufl. 1892, S. 13). „Fort denn mit jener Sache, die nicht ganz und gar Meine Sache ist! Ihr meint, Meine Sache müsse wenigstens die ,gute Sache' sein? Was gut, was böse! Ich bin ja selber Meine Sache, und Ich bin weder gut noch böse. Beides hat für Midi keinen Sinn. Das Göttliche ist Gottes Sache, das Menschliche Sache ,des Menschen'. Meine Sache ist NIETZSCHE)

82

weder das Göttliche noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Gute, Recht, Freie usw., sondern allein das Meinige, und sie ist keine allgemeine, sondern ist — einzig, wie Ich einzig bin. Mir geht nichts über M i c h ! " (STIRNER 1892, S. 14).

Für NIETZSCHES Zarathustra entspringt die Nächstenliebe nur einem Mangel an Eigenliebe: „Ihr haltet es mit euch selber nicht aus und liebt euch nicht genug: nun wollt ihr den Nächsten zur Liebe verführen und euch mit seinem Irrthum v e r g o l d e n . . . Ihr ladet euch einen Zeugen ein, wenn ihr von euch gut reden wollt; und wenn ihr ihn verführt habt, gut von euch zu denken, denkt ihr selber gut von euch" (NIETZSCHE 1925, S. 74 f.). D a infolgedessen in Abwandlung eines Sprichwortes „jeder sich selbst der Fernste" ist, sieht Zarathustra in der Eigenliebe eine Zwischenstation auf dem Wege zum „Ubermenschen", deshalb lehrt er: „Meine Brüder, zur Nächstenliebe rathe ich euch nicht: ich rathe euch z u r Fernsten-Liebe" (NIETZSCHE 1925, S. 76).

Nun, wäre es tatsächlich so, wie die Egoismus-Theoretiker behaupten, dann hätte die Kategorie der Fremdwerte freilich nur eine rein theoretische systematische Bedeutung, ohne jemals den Anspruch erheben zu können, auf Realität angewandt zu werden. Eine kurze Betrachtung der Egoismus-Theorien zeigt jedoch, daß sie sich keineswegs ausschließlich auf „Tatsachen" beziehen, namentlich STIRNER und NIETZSCHE41 fordern ja erst einen weltweiten Egoismus, der also noch gar nicht vorhanden sein kann, um in seiner Allgemeingültigkeit das Streben nach Fremdwerten als nicht existent ad absurdum zu führen. Die Gegenüberstellung von Eigenwerten und Fremdwerten mit dem Hinweis, das Streben nach jenen sei doch recht eigentlich höher zu werten als das Streben nach diesen, beweist doch lediglich, daß es mindestens einen Menschen geben muß, dem Fremdes höher gilt als Eigenes (oder für den zumindest Fremdes ohne Bezug auf Eigenes besteht), sonst wären Gegenüberstellung und Hinweis sinnlos. Und auch SPENCER scheint uns einen entscheidenden Irrtum zu begehen, wenn er im „Genuß" an der Verwirklichung von Fremdwerten ein egoistisches Ziel sieht. Gewiß affiziert das Gefallen an Wertverwirklichungen unsere Zuständlichkeiten positiv, gewiß freuen wir uns über Fremdwertverwirklichungen, aber diese sekundären angenehmen Zuständigkeiten, namentlich die Freude, sind doch nicht unser eigentliches Willensziel, sondern treten sozusagen „automatisch" auf (man versuche einmal, sich über eine Fremdwertverwirklichung zu ärgern!), wie sie ganz allgemein sekundär durch das 41

Für LAUTERBACH (Einführung zu „Der Einzige und sein Eigentum", z. A u f l . 1892) ist Zarathustras „Übermensch" ein „Descendent" des „Einzigen" bei STIRNER. Er kommt zu dieser Ansicht, obwohl er meint, daß NIETZSCHE „aller Wahrscheinlichkeit nach" den „Einzigen" nicht gekannt habe.

83

kognitive Erfassen einer Wertverwirklichung hervorgerufen werden (vgl. S C H A C H T E R 1 9 6 4 , S . 5 2 f.)- Daß die durch. Wertverwirklichungen hervorgerufenen angenehmen Zuständlichkeiten — wir werden später näher darauf eingehen — eine entscheidende Rolle bei der Bestätigung einer tatsächlichen Fremdwertverwirklichung spielen, soll hier nicht geleugnet werden, aber ihre Bestätigungsfunktion erhebt sie doch nicht in den Rang eines primären Willenszieles! Deshalb stellen wir mit S C H W A R Z in Widerspruch zu den EgoismusTheoretikern die Kategorie der Fremdwerte als eine eigenständige Kategorie neben die der Eigenwerte. Fremdwertverwirklichung gilt uns prinzipiell als etwas anderes denn Eigenwertverwirklichung. War in der Setzung von Eigenwerten (Person- und Zustandswerten) das Ziel des Wollens auf die wollende Person beschränkt, war in irgendeiner Form diese Person selbst Gegenstand des Wollens, so ist im Fremdwert der Gegenstand des Wollens notwendigerweise „ichtranszendent", „über das Ich hinausgehend". Das Wollen von Fremdwerten ist deshalb stets auf „Welt außer mir" gerichtet; das wollende Ich kann nur Verursacher von Fremdwertverwirklichungen sein, niemals wird es der Verwirklichung seiner Fremdwerte teilhaflig (bei der Verwirklichung von Eigenwerten wird das wollende Ich notwendigerweise dieser Verwirklichung teilhaftig, denn das Wollen zielt ja auf die eigene Person und nichts „außer ihr"). So besteht der gewollte Urteilsgegenstand fort, ohne daß dieses Weiterbestehen dem Ich, dessen Wollen er mittelbar entsprang, auch weiterhin positiver Gegenstand oder überhaupt Gegenstand des Wollens zu sein braucht.

Hinweis auf die bisher unzureichende Bestimmung des Wertbegriffs Durch diese Bestimmung könnte der Eindruck entstehen, wir seien der Ansicht, ein Wertgegenstand könne als solcher unabhängig von einem Wollen überhaupt bestehen, sofern sein Dasein nur einmal gewollt sei und diesem Wollen mittelbar die Verwirklichung des angezielten Wertes folge. Das ist jedoch mit unserer Bestimmung keineswegs ausgesagt, sie bezieht sich lediglich auf das Wollen desjenigen, der als Verursacher des Wertgegenstandes gilt. Mit dem Umstand, daß jemand etwas „außerhalb seiner Person" und deren Zuständlichkeiten will, ist nämlich noch nicht festgelegt, daß dieses Etwas „außerhalb" von ihm Gegenstand allein seines Wollens ist. Sofern es sich um einen Urteilsgegenstand handelt, der prinzipiell auch dem Wollen anderer zugänglich ist, besteht die Möglichkeit, daß auch andere in ihm einen Gegenstand ihres Wollens sehen. So kann mein Wollen in bezug auf einen bestimmten Urteils84

gegenständ, der der „Welt für uns alle" 4 2 angehört (also auch intersubjektive Ideen und Wissenschaftssysteme), mit dem Wollen eines anderen oder aller anderen übereinstimmen oder ihm widersprechen. Im ersten Fall besteht unabhängig von meinem Wollen der Urteilsgegenstand als Gut weiter, im zweiten Fall gilt er, der positiver Gegenstand allein meines Wollens war, unabhängig von meinem Wollen den anderen als Übel. Hier scheint trotz unserer Bemühungen um Eindeutigkeit der Wertbegriff mehrdeutig und schillernd zu sein. Der Eindruck eines Wertrelativismus verstärkt sich noch, wenn wir berücksichtigen, daß ja auch unsere Zuständlichkeiten und unsere Person dem Wollen anderer zum Gegenstand werden können. Das, was uns an unserer Person als Gut gilt, kann anderen, die uns übelwollen, durchaus ein Übel sein. Auch der Einwand, unsere Zuständlichkeiten und unsere Person, wie wir sie erleben, könnten ja niemals einem anderen Gegenstand seines Wollens werden, da sie ihm ja als solche prinzipiell nicht gegeben seien, sondern ihm nur ein erschlossenes „hypothetical construct" sein können, bewahrt uns vor einem Relativismus nur so lange, wie wir schlüssig nachweisen können, daß sich unsere Erlebnisse und die sie anzielenden „hypothetical constructs" formal und inhaltlich prinzipiell nicht decken. D a eine solche Annahme, die aus methodologischen Gründen (die wir hier nicht alle aufzählen wollen) weder zu beweisen noch zu widerlegen ist, im Widerspruch zu unseren Überlegungen am Anfang dieser Untersuchung (s. S. 5) stehen würde, können wir sie nicht akzeptieren. Dort hatten wir ja festgelegt, daß eine inhaltliche Deckung möglich sein kann. Es muß also unter Beibehaltung unserer Voraussetzung diese Form des Wertrelativismus überwunden werden, wenn wir uns nicht in neue Widersprüche verwickeln wollen. Was wäre auch schließlich durch diesen fragwürdigen Kunstgriff gewonnen, der sich ja doch nur auf die Eigenwerte bezöge und das Problem der Relativität der Fremdwerte überhaupt nicht berührt?

Unterscheidung von „individuellen"

und „überindividuellen"

Werten

Eine genauere Analyse zeigt, daß wir es hier recht eigentlich mit einem Scheinproblem zu tun haben. Indem wir nämlich nur einen inhaltlichen Aspekt der Wertbegriffe berücksichtigen, ließen wir unbemerkt die Tür für Widersprüche offen, über die wir jetzt stolpern. 42

D e m Terminus „Welt für uns alle" stellt HOLZKAMP den Begriff der „ W e l t für jeden einzelnen" gegenüber. Die Annahme einer „Welt für uns alle" stellt nicht nur eine Absage an jede Form von Solipsismus dar, sondern ist unseres Erachtens die V o r aussetzung für jede A r t v o n intersubjektiver Wissenschaft (vgl. HOLZKAMP 1964, S. 66 f.).

85

Die früher von uns getroffene Bestimmung der "Werte als Willensziele besagt ja lediglich, daß überhaupt ein Wollen vorhanden sein muß, damit wir von einem Wert sprechen können; ob dieses Wollen nun ein allgemeines oder individuelles zu sein hat, war nicht festgelegt. Aber jetzt erweist sich die Frage nach dem Allgemeinheitsgrad der Werte als notwendig, um die Eindeutigkeit des Wertbegriffes (insbesondere des Fremdwertbegriffes) zu gewährleisten. Gilt die Verwirklichung eines bestimmten Wertes nur dem Wollen eines einzigen Individuums als Gegenstand, so sprechen wir von einem individuellen Wert. Der entsprechende Wertgegenstand wird je nachdem, ob er positiver oder negativer Gegenstand des individuellen Gefallens ist, als individuelles Gut oder individuelles Übel bezeichnet. Stimmen mehrere oder alle Individuen in ihrem Wollen in bezug auf einen bestimmten Gegenstand überein, so bezeichnen wir den in Frage stehenden Wert als überindividuellen Wert. Die auf überindividuelle Werte bezogenen Wertgegenstände werden je nach Vorzeichen als überindividuelle Güter oder überindividuelle Übel bezeichnet. Gemäß dieser Einteilung sind Eigenwerte individuelle Werte. Sind meine Zuständlichkeiten oder meine Person nicht nur Gegenstand meines Gefallens, sondern auch des der anderen, werden sie zu überindividuellen Wertgegenständen. Eine entsprechende Einteilung ist auch für Fremdwerte möglich, auch diese können individuell oder überindividuell sein. So klären sich denn auch die scheinbaren Widersprüche: Es ist niemals ein identisches Wollen, das sich in einem Urteilsgegenstand gleichzeitig ein Gut und ein Übel setzt, sondern es ist stets das Wollen verschiedener Individuen; außerdem ist der jeweilige Urteilsgegenstand je nachdem, von welchem Individuum man ausgeht, unterschiedlichen Wertbereichen zuzuordnen. So enthält der Umstand, daß eine bestimmte Zuständlichkeit meiner Person für mich ein Gut darstellt, während sie anderen oder einem anderen als Übel gilt, keinen Widerspruch. Das eine ist das Wollen eines individuellen Eigenwertes, das andere das Wollen eines überindividuellen oder individuellen Fremdwertes. Und da aus der Definition des Wertbegriffes nicht abzuleiten ist, daß alle, dasselbe wollen, ist die Eindeutigkeit des Wertbegriffes nicht gefährdet. Die Fragwürdigkeit

der Begriffsbestimmung

von „Altruismus"

bei

SCHWARZ

So besteht eine z. B. „gute T a t " unabhängig von dem Weiterbestehen (sei es physisch, sei es im Andenken der Mitmenschen) und Gefallen des „Wohltäters" als solche nur weiter, wenn sie auch anderen (zumin86

dest demjenigen, an dem sie verwirklicht wurde) positiver Gegenstand des Gefallens ist. A u f diese Weise kann ein identisches Geschehen unter den verschiedenen Wertgesichtspunkten gleichzeitig positiv und negativ wertbesetzt sein: dem Handelnden gilt seine Tat als Verwirklichung eines Fremdwertes; der, an dem er handelt, erlebt darin eine Soseinslageminderung der eigenen Person, also die Verwirklichung eines EigenUnwertes. Dies geschieht etwa, wenn wir die wirtschaftliche Lage einer Person verkennen und ihr z. B. Kleidung schenken, die sie aus ihrer Sicht gesehen gar nicht nötig hat. Wir glauben, ihr damit wohlzutun, und sie sieht darin eine Demütigung. Aus diesen Überlegungen geht hervor, daß die Trennung von Fremdwerten in altruistisches und inaltruistische gar nicht so problemlos ist, wie es SCHWARZ anzunehmen scheint, wenn er festlegt: „Es sind altruistische Fremdwerte, wenn wir das Wohl von Mitmenschen wollen; es sind inaltruistische, genauer inaltruistisch-ideelle Fremdwerte, wenn uns z. B. der Gedanke der Wahrheit, Schönheit, Sittlichkeit zum Handeln bewegt" (SCHWARZ 1900, S. 42). Woran kann ich denn erkennen, ob es das „Wohl" des Mitmenschen ist, das ich will, wo doch das, was ich „gut" meine, von anderen „übel" aufgefaßt werden kann. Liegt das „Wohl" des anderen in dem, was er will, oder habe ich das Recht, zu behaupten, der andere wisse nicht, was eigentlich gut für ihn ist, während ich dieses Wissen habe? Welches sind die Kriterien jener Leute, die von sich behaupten, sie wüßten um die wahren Bedürfnisse und Wünsche des Volkes und wären in der Lage, ihm diese Wünsche auch zu erfüllen? Gibt es als entscheidendes Kriterium einen „Gesamtwillen", wie ihn etwa ROUSSEAU und WUNDT annehmen, und wodurch wird er begründet? Ist er überindividueller Ausdruck des tatsächlichen Wollens aller in einer bestimmten Gesamtpopulation, einer Mehrheit, einer Elite? Oder besteht er zeitlos und überindividuell in dem Wollen eines jeden wollenden Subjektes überhaupt? Wir berühren mit diesen Fragen ein Problem, das wir innerhalb unserer psychologischen Wertlehre von vornherein als Randproblem zu kennzeichnen haben, denn hier geht es nicht mehr um Werte als Gegenstand eines faßbaren Wollens (als legitimer Gegenstand der Psychologie), sondern losgelöst davon um Werte als ideelle „Dinge an sich". Wir können zwar im Rahmen unserer A b handlung klären, wie Werte formal und inhaltlich als Gegenstände des Wollens konkreter Individuen zu erfassen sind, aber wir können als Psychologen keine Auskunft darüber geben, ob das, was wir als die Handlungen eines bestimmten Subjektes auslösend und steuernd bezeichnen, losgelöst von dem Wollen dieses Individuums „gültig" sei. Wir können mit den Methoden unserer psychologischen Wissenschaft nicht klären, ob es „wahre" Werte gibt oder nicht. Das ist Aufgabe einer

87

Wertmetaphysik, der wir in einem späteren Kapitel einige Überlegungen widmen wollen, wenn es um die historische Gegenüberstellung von Wertempirismus und Wertabsolutismus geht. Und auch dort wird uns lediglich ein kritischer Vergleich möglich sein, ohne daß wir uns auf eine der beiden Positionen festlegen.

Eigene Unterscheidung zwischen „altruistischen" und „inaltruistischen" Werten Da wir uns in unseren Ausführungen auf empirisch Prüfbares beschränken, aber dennoch nicht den Begriff des „altruistischen" Fremdwertes aufgeben wollen, weil er uns für eine differenzierte Unterscheidung zielgerichteten Verhaltens nützlidi scheint, muß es uns möglich sein, „altruistisch" unabhängig von einem allgemeingültigen „Guten" zu definieren. Hier scheint uns ein hinreichendes Kriterium in der erlebten oder erwarteten Konkordanz oder Diskordanz unseres Wollens eines fremden Zustands- oder Personwertes mit dem Wollen des angezielten Individuums bezüglich eben dieses Zustands- oder Personwertes als Eigenwert zu liegen. Erleben wir unser Wollen mit dem des betreffenden Subjekts als konkordant, so sprechen wir von einem altruistischen Fremdwert, und zwar ist er positiv altruistisch, wenn der Gegenstand des konkordanten Wollens ein positiver ist, und negativ altruistisch, wenn der Gegenstand des konkordanten Wollens ein negativer ist. Damit beschränkt sich unsere Definition eindeutig auf eine im Rahmen der Psychologie mögliche operationalisierbare Bestimmung, ohne daß darüber entschieden wird, ob der Gegenstand des konkordanten Wollens unabhängig von diesem Wollen ein „Gut" oder ein „Übel" darstellt. Wie sind nun aber — im Gegensatz zu den altruistischen — die inaltruistischen Fremdwerte zu bestimmen? Hier scheint uns folgende Festlegung empirisch fruchtbar: Immer dann, wenn die Verwirklichung eines individuellen oder überindividuellen Fremdwertes als diskordant dem Wollen desjenigen Urteilsgegenstandes erlebt oder erwartet wird, an dem er verwirklicht wird oder verwirklicht werden soll, oder wenn die Verwirklichung nicht Gegenstand des Wollens des involvierten Urteilsgegenstandes ist, sprechen wir von einem inaltruistischen Fremdwert. Damit sind einmal jene Handlungen als Verwirklichung oder versuchte Verwirklichung eines inaltruistischen Fremdwertes gekennzeichnet, deren zugrundeliegendes Wollen bezüglich der Zuständlichkeiten oder Person eines anderen Subjekts dem Wollen eben dieses Subjekts widerspricht. Zum anderen sprechen wir von einem inaltruistischen Fremdwert, wenn der Gegenstand des Wollens die Soseinslageminderung oder Soseinslageerhöhung einer „Sache" ist, die nicht wollen kann, 88

womit das zweite mögliche Kriterium erfüllt wäre. Ein inaltruistischer Fremdwert ist positiv, wenn seine Verwirklichung positiver Gegenstand des Wollens desjenigen ist, der den Wert setzt, er ist negativ, wenn seine Verwirklichung negativer Gegenstand des Wollens desjenigen ist, der den Wert setzt. Nachfolgende tabellarische Übersicht soll das Verständnis der von uns getroffenen formalen Einteilung der Fremdwerte erleichtern:

Tabellarische Übersicht I I Formale

Einteilung

Vorzeichen des Gegenstandes

Gegenstand

altruistisch:

konkordant 4 ® dem Wollen des angezielten Subjektes (oder der angezielten S u b jekte) bezüglich seiner (oder ihrer) Eigenwerte

+

Fremdwerte

Allgemeinheitsgrad des Wollens —>

inaltruistisch:

Bezeichnung des Wertes

individuell

individueller altruistischer Wert

überindividuell

überindividueller altruistischer W e r t

individuell

—»

individueller altruistischer Unwert

überindividuell

—>

überindividueller altruistischer Unwert individueller inaltruistischer

individuell

+ diskordant 4 ' dem Wollen des angezielten Subjektes (oder der angezielten S u b jekte) bezüglidi seiner (oder ihrer) Eigenwerte oder Soseinslage einer „Sache" (oder mehrerer „Sachen"), die nicht wollen kann (können)

der

—>

—>

Wert

überindividuell

— »

überindividueller inaltruistischer Wert

individuell

~*

individueller inaltruistischer Unwert

überindividuell

überindividueller inaltruistischer Unwert

Die Tabelle ist von links nach rechts (Pfeilrichtung) zu lesen. 43

Indem wir als Kriterium der Kategorisierung „altruistisch" oder „inaltruistisch" die erlebte oder erwartete Konkordanz oder Diskordanz unseres Wollens mit dem der anderen wählten, schlössen wir die Möglichkeit einer Täuschung aus, die den R a h men des Lebensraumaspektes überschritten hätte. Es ist also nicht entscheidend, was der andere „wirklich" will, sondern wie uns sein Wollen gegeben ist. Diese Bestimmung läßt jedoch die Möglichkeit offen, daß ein Wollen meinerseits zu verschiedenen Zeitpunkten einmal als konkordant, das andere Mal als diskordant dem Wollen der anderen beurteilt werden kann. Wir werden auf dieses Problem später zurückkommen.

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Grenzfälle So ist eine Zuordnung zu altruistischen oder inaltruistischen Werten in den meisten Fällen eindeutig möglich; es gibt jedoch Zweifelsfälle, in denen eine Entscheidung nicht so ohne weiteres möglich ist. Handeln wir altruistisch oder inaltruistisch, wenn wir in der Sorge um die menschliche Gemeinschaft aufgehen? SCHWARZ sagt in diesem Zusammenhang: „Nach der Meinung mancher Ethiker, jener der utilitaristischen Schule, dächten wir an unsere Mitmenschen, während wir all das wollten. Wir hätten d a b e i . . . das Wohl der ungezählten Einzelnen im S i n n e . . . , wie ja auch alle soziale Organisation ausgesprochen oder stillschweigend darauf ziele, dass sich die Menschen gegenseitig hülfen oder förderten. Altruistische Fremdwerte wären es daher, für die wir in allen den genannten Fällen einträten. — Anderes lehrt WUNDT. Nach ihm sollen wir hier ganz und gar nicht an die Mitmenschen . . . denken, sondern wir weihten uns einem übergreifenden Gesamtwillen... Er lebe in jeglicher sozialer Gemeinschaft und schaffe sich seine Zwecke, ohne dass er im Wollen aller Gesamtheitsglieder seinen Wiederhall zu finden brauche. — Unstreitig etwas Unpersönliches hiesse nach dieser letzteren Auffassung Gesamtwille; und so wären es eben danach inaltruistische Fremdwerte, deren Vorstellung das Handeln in obigen Beispielen regierte" (SCHWARZ 1900, S. 43). Wenn SCHWARZ sich bei den angeführten Beispielen — zwar abweichend von WUNDT, gegen dessen „Gesamtwillen" er sich wendet, der ihm nicht realer ist „als der W a l d neben den einzelnen Bäumen" — gegen die utilitaristische Auffassung eindeutig für die inaltruistischen Werte entscheidet, was er dadurch begründet, daß der Wille des Einzelnen durch die „Vorstellung eines Ganzen (totum) gefangen" sei (1900, S. 44), so können wir ihm nicht zustimmen, da eine generelle Bestimmung unserer Ansicht nach nicht eindeutig möglich ist. Z w a r hebt SCHWARZ diese A r t der inaltruistischen Werte von anderen dadurch ab, daß er sie als „inaltruistisch-soziale" bezeichnet, aber damit ist u. E. das Problem nicht zufriedenstellend gelöst. Warum sollen in den genannten Fällen nicht vielen Menschen altruistische Werte vorschweben, warum soll sich das nur, wie SCHWARZ annimmt, auf „wenige Theoretiker" erstrecken? Und wäre nicht auch schon die Werthaltung „weniger Theoretiker" ein entscheidendes Hindernis für die Annahme, daß in den aufgeführten Beispielen generell die Verwirklichung inaltruistischer Werte angestrebt würde? W i r meinen, es kommt immer auf den Gesichtspunkt an, unter dem das Wollen ansetzt: Habe ich mit meinen Bemühungen das Wohl der Mitglieder einer Gemeinschaft, die ich als Individuen mit ihren Wünschen respektiere, im Auge (und daß dies in der Wirklichkeit auch tatsächlich vorkommen kann, wird keiner leugnen) und kogniziere ich mein Wollen

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als dem Wollen dieser Individuen konkordant, so ist zweifelsfrei die Anwendung des altruistischen Wertbegriffes berechtigt. Sehe ich jedodi vom Wollen der Individuen einer Gemeinschaft ab, fasse ich die Gemeinschaft als von den Individuen losgelöstes Abstraktum auf (was, wie jeder zugeben wird, in der Wirklichkeit auch vorkommen kann), so strebe ich per definitionem die Verwirklichung eines inaltruistischen Wertes an, da ja ein Abstraktum nicht wollen kann. Inaltruistisch ist der Wert auch dann, wenn ich bei der Verwirklichung zwar Zuständlichkeiten oder Person der die Gemeinschaft bildenden Individuen im Auge habe, aber mein Wollen dem dieser Individuen diskordant ist.

Inhaltliche Analyse altruistischen und inaltruistischen

Wollens

Läßt sich über diese formale Einteilung der Fremdwerte in altruistische und inaltruistische hinaus noch eine inhaltliche Bestimmung treffen, die eine bessere Differenzierung ermöglicht? Wenn wir die Bedeutung des altruistischen Wertbegriffes analysieren, zeigt sich, daß bei der Verwirklichung eines individuellen oder überindividuellen altruistischen Wertes tautologisch die Realisation angenehmer Zuständlichkeiten oder die Soseinslageerhöhung einer Person oder eines personhaften Individuums angestrebt wird. Altruistische Unwerte beziehen sich demnach meistens auf die Realisation unangenehmer Zuständlichkeiten oder die Soseinslageminderung einer Person oder eines personhaften Individuums. H a t unser inaltruistisches Wollen die Veränderung der Soseinslage einer „Sache" zum Gegenstand, so geht unser Verhalten in den meisten Fällen auf eine Soseinslageerhöhung der „Sache" als Verwirklichung eines individuellen oder überindividuellen inaltruistischen Wertes. Die Soseinslageminderung einer „Sache" ist dementsprechend zumeist ein individueller oder überindividueller inaltruistischer Unwert. Dort, wo unser Wollen bezüglich der Zuständlichkeiten oder der Person eines anderen Subjektes als diskordant dem Wollen dieses Subjektes kogniziert wird, wir also ebenfalls die Verwirklichung eines inaltruistischen Wertes anstreben, ist unser Verhalten ebenfalls in den meisten Fällen auf etwas gerichtet, das wir als Soseinslageerhöhung der Person oder Personhaftigkeit des anderen oder als angenehme Zuständlichkeit kognizieren, nur bezieht sich unser Wollen nicht auf einen Gegenstand in der Gegenwart, sondern auf etwas in der Zukunft, d. h., wir können durchaus für den Augenblick eine Soseinslageminderung der Person eines anderen (z. B. eine Demütigung) oder eine unangenehme Zuständlichkeit eines anderen wollen (und somit das augenblickliche Wollen des anderen als unserem Wollen diskordant kognizieren) in der Hoffnung, daß der Verwirklichung dieser negativen Werte die Verwirklichung positiver 91

Werte folgt, die den Wert der augenblicklich möglichen Verwirklichung positiver Werte um ein beträchtliches übersteigt. Dies geschieht z. B., wenn wir von jemandem verlangen, daß er sich für ein begangenes Unrecht entschuldigt (was die wenigsten Leute gern tun), um danach die Soseinslage seiner Person zu erhöhen, indem wir ihn wieder in Ehren aufnehmen. So kann auch der A r z t den Schmerz eines Patienten wollen, wenn er ihn operiert, um sein Leben zu erhalten oder ihn von anderen Schmerzen zu befreien. Eine genauere Analyse der beiden letzten Beispiele läßt Zweifel aufkommen, ob wir hier überhaupt berechtigt sind, von „inaltruistischen" Werten zu sprechen, denn unser Gefallen geht ja beide Male nicht eigentlich auf die augenblickliche Zuständlichkeit oder die augenblickliche Soseinslage des anderen, sondern auf etwas, das in der Zukunft liegt und von dem wir hoffen, daß unser Wollen konkordant dem Wollen des anderen ist, an dem wir im Augenblick Unwerte verwirklicht sehen wollen. Es sind also demnach altruistische Werte, die unser Handeln auslösen und steuern, denn das inaltruistische Willensziel war ja lediglich Mittel zum Zweck eines altruistisdien. Ebenso ist es, wenn wir Leben und Ehre einer fremden Person um der „guten Sache" willen opfern und diese Person weder Ehre noch Leben opfern will. Hier ist das, was wir als „gute Sache" sehen, das eigentliche Willensziel und nicht die zur Erreichung dieses Ziels notwendige Soseinslageminderung des anderen. Das, was man als negativ bewerten müßte, wenn es um seiner selbst willen geschähe, wird ja von uns gar nicht als negativ bewertet, weil es im Dienste eines positiven Wertes steht. Negativ bewerten wir unsere Handlung am anderen erst, wenn sich herausstellt, daß auch das eigentliche Ziel dem Wollen des anderen widerspricht oder sich die angeblich „gute" Sache zu einer „schlechten" entwickelt oder wir sie unter neuen Gesichtspunkten als „schlecht" erkennen. Dann wird jedoch auch nachträglich die unangenehme Zuständlichkeit oder die Soseinslageminderung der Person des anderen zum negativen Gegenstand unseres Wollens, wir bereuen unsere Tat und wünschen, sie ungeschehen zu machen.

Kritik der

K R A F T sehen

Thesen über Genese und Begründung der Fremdwerte

So scheint unser Wollen in bezug auf unsere Mitmenschen stets altruistisch zu sein, sofern Zuständlichkeiten oder Person des anderen der tatsächliche Gegenstand unseres Gefallens sind und nicht lediglich eine Zwischenstation auf dem Wege zum eigentlichen Willensziel. Wie kommt es zu dieser Konkordanz des Wollens, warum sind uns die 92

angenehmen Zuständlichkeiten oder die Seinserhöhung der Person eines anderen positiver Gegenstand des Gefallens, wo sie doch ebensogut negativer Gegenstand sein könnten? Geht es uns (wie die EgoismusTheoretiker meinen) letztlich gar nicht um den anderen, sondern um uns und unsere Zuständlichkeiten, die sekundär auf das Erleben einer Wert- oder Unwertverwirklichung an einem anderen folgen? Dieser Meinung scheint KRAFT zu sein, der in der „Einfühlung" das Erklärungsprinzip für jene Phänomene sieht, die wir als Setzung eines altruistischen Wertes bezeichnen. „Der Mensch kann, wenn jemand anderer in einer bestimmten Situation vor ihm steht, ganz unmittelbar die dieser Lage entspringenden Gefühle und Strebungen in sich erleben, und weil man nicht sich, sondern den anderen in dieser Lage weiß, introjiziert man diesem solche Gefühle und Strebungen. Man weiß so unmittelbar, wie ihm zumute ist. Dadurch ergibt es sich, daß auch dasjenige, was dem andern Unlust oder Lusit bringt, was dem andern unwillkommen oder erwünscht ist, was den andern schädigt oder fördert, ebenfalls positiv oder negativ ausgezeichnet wird. Aus der Einfühlung ergeben s i c h . . . Strebungen, das Leid und das Unerwünschte abzuwehren, die Lust und das Erwünschte herbeizuführen. Wer diesen Strebungen Erfüllung bringt, wird dadurch ebenfalls ausgezeichnet. . . . Es ist nur eine Verallgemeinerung dessen, was so an individuellen Fällen erlebt und bewußt geworden ist, wenn sich diese Strebungen zur Forderung des Altruismus verdichten. . . . Jedenfalls wird man durch Mitgefühl dazu geführt, daß man das, was man für sich selber wünscht, auch für andere wünscht — und in der Ausgestaltung zum Ideal des Altruismus auch für die anderen wünscht. . . . Ein solches selbstgesetztes und freiwillig anerkanntes Ideal hat seinen Wertcharakter nicht mehr lediglich von außen her erhalten, sondern er wurzelt im Persönlichen, in den Lebenserfahrungen und in ursprünglichen Stellungnahmen dazu. Es ist die eigentliche Grundlage des sittlichen Wertes" (KRAFT 1951, S. 179 f.). Diese Ausführungen KRAFTS sind in verschiedenen Punkten durchaus anfechtbar: Einmal gibt KRAFT keine Auskunft darüber, wie denn der Mechanismus dieser „Einfühlung" zu denken sei und warum er eindeutig und notwendig ein konkordantes Erleben zur Folge habe, das ja laut KRAFT Voraussetzung der Bewertung ist. Das führt in einigen Fällen, w o wir Diskordanz zwischen unseren Zuständlichkeiten und denen anderer feststellen müssen, zu Paradoxien, die KRAFT mit seinem Ansatz nicht auflösen kann. Wie kommt es z. B., daß dem Sadisten die Leiden der anderen eine Quelle der Lust sind? Etwa weil er eigentlich selbst leidet? Warum bin ich traurig, wenn andere mich auslachen, usw.? Und gibt man KRAFT die Bewertung durch „Einfühlung" trotz der gewichtigen Einwände zu, die seit Einführung dieses Begriffes durch LIPPS (1907) immer wieder erhoben wurden (vgl. besonders HOLZKAMP 93

1957)5 8 0 widerspricht das eindeutig seiner eigenen Formulierung, daß es sich beim Altruismus um ein „freiwillig anerkanntes Ideal" handele; denn wenn die positive oder negative Bewertung abhängig von meinen Gefühlen erfolgt, so ist sie nicht mehr freiwillig, sondern durch diese Gefühle erzwungen. Außerdem gibt K R A F T ZU, daß der Mechanismus der „Einfühlung" kein primärer ist (was er sein müßte, wenn er den Erklärungswert haben soll, den K R A F T ihm zuschreibt), sondern in einem kognitiven Prozeß der „Einsicht" und „Verallgemeinerung" erst aufgebaut werden muß; der eigentliche Mechanismus, welcher der altruistischen "Wertsetzung zugrundeliegt, ist also kein emotionaler, sondern ein kognitiver. Hier zeigt sich auch, daß K R A F T sekundäre Zuständigkeiten als Ursache der Bewertung ansieht, also die bloße Begleiterscheinung für die Ursache nimmt. Denn wir „fühlen" nicht unmittelbar durch eine besondere parapsychologische Fähigkeit die Gefühle der anderen, sondern beziehen ihr zielgerichtetes Verhalten oder ihr Ausdrucksverhalten auf ihre Zuständlichkeiten (was ein kognitiver Prozeß ist); gemäß dem vermuteten Vorzeichen der Zuständlichkeiten beurteilen wir diese als Verwirklichung eines positiven oder negativen Wertes, der uns, sofern unser "Wollen als konkordant dem Wollen des anderen kogniziert wird, zum positiven oder negativen altruistischen Wert wird (was wiederum ein kognitiver Prozeß ist), und als Folge dieser Bewertung tritt dann schließlich eine sekundäre Zuständlichkeit auf (diese ist emotional)44. Die Bewertung ist also nicht Folge unserer Zuständlichkeiten, die auf dem geheimnisvollen Wege der „Einfühlung" in uns entstehen, sondern vielmehr die Ursache sekundärer Zuständlichkeiten. Hiermit stellen wir uns mit S C H W A R Z auf den Standpunkt, daß das Gefallen an altruistischen Gütern eine unmittelbare von Zuständlichkeiten unabhängige Willensregung ist, dem allerdings als Begleiterscheinung Zuständlichkeiten folgen können. Der von S C H W A R Z in diesem Zusammenhang gewählte Begriff der „nachahmenden Lust- oder Unlustgefühle" ( S C H W A R Z 1900, S. 38, Anm. z) scheint uns jedoch irreführend, denn es wird ja nicht unterscheidungslos jedes Gefühl eines anderen „nachgeahmt", wie die oben erwähnten Beispiele (Gefallen des Sadisten an den Leiden der anderen, meine Traurigkeit, wenn andere mich auslachen) gezeigt haben. Entscheidend ist vielmehr — und hier legt sich auch S C H W A R Z eindeutig fest —, daß die Ursache unserer „sympathischen" Gefühle im Erlebnis einer Wert- oder Unwertverwirklichung zu sehen ist. „Sehen wir zuständlichen Wert oder Unwert, Lust oder Unlust anderer, so erfüllt uns das mit nachahmenden Lust- oder Unlustgefühlen. Wir erleiden Mitfreude oder Mitleid, die sogenannten symphatischen Gefühle" ( S C H W A R Z ebd.). Hier scheint uns in der Freude über die 44

Diese funktionale Kennzeichnung der altruistischen Wertung schließt nicht aus, daß uns phänomenal die Zuständlichkeit des anderen unmittelbar gegeben scheint.

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Freude des anderen und im Leid wegen des Leides des anderen ein Sonderfall eines schon weiter oben angeführten allgemeinen Phänomens vorzuliegen: Das Erlebnis von Wert- oder Unwertverwirklichungen affiziert allgemein unsere Gefühle. Das Vorzeichen dieser in ihrer Qualität kognitiv determinierten Zuständlichkeiten bestimmt sich aus dem Vorzeichen des verwirklichten Wertes. Es kommt nämlich zu einem Mitleiden oder Mitfreuen nur dort, wo unser Wollen als dem Wollen jener Person konkordant kogniziert wird, an der wir einen Zustandswert oder -unwert verwirklicht sehen. Von daher wird meine Zuständlichkeit der Traurigkeit verständlich; obwohl die anderen sich freuen, also eine angenehme Zuständlichkeit realisieren, gilt mir diese Zuständlichkeit als negativer Gegenstand meines Gefallens, denn sie ist die Reaktion auf eine verminderte Soseinslage meiner Person und somit unwertbesetzt. Dem Sadisten ist dementsprechend das Leid der anderen die Verwirklichung eines positiven Wertes, die seine Gefühle positiv affiziert. In beiden Fällen kognizieren wir unser Wollen als dem Wollen der anderen diskordant; so leiden wir, wo andere sich freuen, und genießen, wo andere leiden. Der von uns angenommene Mechanismus wäre auch auf die Setzung anderer inaltruistischer Werte anwendbar, wodurch wir uns K R A F T gegenüber entschieden im Vorteil befinden, denn er kann ja die bei der Bewertung von „Sachen" auftretenden angenehmen oder unangenehmen Zuständlichkeiten nicht auch auf „Einfühlung" zurückführen; bei uns sind in beiden Fällen die Zuständlichkeiten Folge der wertenden Stellungnahme, die von uns als primär gesetzt wird. Es bleiben schließlich noch zwei weitere Einwände gegen K R A F T S Auffassung: Wäre unsere Stellungnahme von unseren Zuständlichkeiten abhängig, so werteten wir eindeutig einen Eigenwert und unser angeblich altruistisches Verhalten wäre gar nicht altruistisch (auf den anderen) ausgerichtet, sondern auf uns selbst. Immer wenn wir vorgäben, einen altruistischen Wert zu verwirklichen, ginge es uns in Wahrheit um einen Eigenwert ( K R A F T scheint sich hier auf einer Linie mit SPENCER ZU befinden). Dadurch wird der Begriff des Altruismus, der sich auf einen Fremdwert bezieht, überflüssig und irreführend. Daß es aber tatsächlich Verhalten gibt, das sich nur durch seine Bezogenheit auf altruistische Fremdwerte erklären und voraussagen läßt, scheint uns in überzeugender Weise SCHELER aufgezeigt zu haben, der nachweist, daß es im Phänomen der Liebe, primär um die Soseinslageerhöhung der geliebten Person geht (SCHELER 1923) 45 . Ginge es uns jedoch bei der Verwirklichung von altruistischen Werten in Wahrheit um die Verwirklichung von Eigenwerten in Form angenehmer Zuständlichkeiten, so wäre das, um mit K R A F T ZU reden, tatsächlich ein „raffinierter Epikuräismus" (was bei K R A F T ein durchaus negativ besetzter Wertbe45

Bei F R O M M hat Liebe sowohl einen Fremdwertaspekt als audi den Aspekt der Selbstverwirklidiung ( F R O M M 1 9 6 8 ) . 95

griff ist, den er allerdings nicht auf seine Auffassung der altruistischen Werte anwendet). Inaltruistisches Wollen — Das „Böse" Auf der anderen Seite ist es fraglich, ob wir in bezug auf andere Personen überhaupt inaltruistisch wollen. Daß die theoretische Möglichkeit besteht, die wir in unserer Begriffsbildung vorgesehen haben, ist ja noch lange kein Beweis dafür, daß diese Einteilung mehr als nur einen formalen Zweck erfüllt. Tritt der Fall der Diskordanz unseres Wollens mit dem Wollen anderer in bezug auf deren Eigenwerte denn auch in Wirklichkeit auf? Wir meinen, ja. Wenn uns die Handlungen einer Person als zur Realisation einer unangenehmen Zuständlichkeit oder Soseinslageminderung der Person oder des personhaften Individuums führend erscheinen, ist die Verhinderung dieser Handlungen in den meisten Fällen positiver Gegenstand unseres Wollens. Und zwar ist unser Wollen dem der angezielten Person nicht nur in den Fällen diskordant, wo diese Person die Folgen der Handlung in bezug auf ihre Eigenwerte nicht realisiert, sondern auch dort, wo sich ihr in einer Umkehrung der Werte das, was ihr bisher als Unwert galt, zum Wert wird (z. B. wenn jemand den eigenen Untergang zum positiven Gegenstand seines Wollens macht und Selbstmord verübt). Hier hat unser Wollen, wenn wir den Selbstmord verhindern, einen Zweck, der gemeinhin als „sittlich" bezeichnet wird, auch wenn unser Wollen als dem des anderen diskordant kogniziert wird. Daß es sich tatsächlich um einen inaltruistischen Wert handelt, der hier verwirklicht wird, beweist der Umstand, daß wir bemüht sind, auch wiederholte Selbstmordversuche zu verhindern, das Wollen des anderen sich also als konsistent diskordant unserem Wollen herausstellt. Daß wir bei unseren Handlungen nicht aus Eigennutz den anderen von der Verwirklichung seiner Werte abhalten, dürfte unmittelbar einleuchten. Und in den meisten Fällen geht es uns auch bei einer Lebensrettung nicht um eine abstrakte Idee, die wir in unserer Tat verwirklichen; es zählt für uns allein das, was wir als „Wohl" des anderen ansehen. Es gibt auch den umgekehrten Fall, wo wir Elend und Untergang des anderen wollen, wo wir — diskordant dem Wollen des anderen — einen „unsittlichen" Zweck verfolgen oder zulassen, daß dem anderen ein Leid oder eine Demütigung widerfährt. „Das Zweckwidrige im sittlichen Leben hat zwei Quellen: die sittliche Schwäche und die sittliche Bosheit . . . Jene führt zu dem Zweckwidrigen in negativer Form, der Unterlassung des Guten, diese zum Zweckwidrigen in positiver Form, der Erzeugung des Schlechten. Wer einen Nebenmenschen den er retten könnte umkommen läßt, weil er Gefahr oder Ungemach für sich selbst 96

fürchtet, handelt sittlich schwach; wer einem Andern nachstellt, weil dieser dem eigenen Vortheil im Wege steht, handelt schlecht. Beide Formen des Zweckwidrigen können natürlich in den verschiedensten Gradabstufungen vorkommen" ( W U N D T 1886, S. 435). Wenn wir auch W U N D T S Terminologie nicht völlig zustimmen, da sie die begriffliche Anerkennung des „Gesamtwillens" voraussetzt, die wir nicht nach vollziehen, so nehmen wir doch seine Bestimmung des auf den Untergang oder das Elend des anderen bezogenen Verhaltens als Kennzeichnung dessen, was man gewöhnlich als inaltruistisches Wollen mit dem Ziel der Verwirklichung eines negativen Eigenwertes eines anderen ansehen wird. Für L O R E N Z entspringt das „sogenannte Böse" einem „Aggressionstrieb", dem er arterhaltende Funktion zuspricht, und zwar soll dieser „Aggressionstrieb" nicht nur für aggressives Verhalten innerhalb einer Art (Rivalenkämpfe) verantwortlich sein, sondern soll auch Aggressionen zwischen den einzelnen Arten erklären. Davon abgesehen, daß die ständige Heranziehung des Arterhaltungsprinzips in der LoRENZSchen „Verhaltenslehre" manchmal die merkwürdigsten psycho-lamarckistischen46 Blüten treibt — wenn er etwa von Nahrungspflanzen spricht, „die sich durch Einlagerung von Kieselsäure und andere Schutzmaßnahmen gegen das Zerkautwerden nach Möglichkeit schützen" ( L O R E N Z 1963, S. 39) —, erklärt die Hypostasierung eines „Aggressionstriebes" natürlich gar nichts, am allerwenigsten das Phänomen der Bosheit, das durch Annahme eines arterhaltenden „Triebes" einfach „wegerklärt" wird; denn wie kann etwas „Arterhaltendes"47 böse sein? Viele der von L O R E N Z angeführten Beispiele lassen sich zudem durch die „Frustrations-AggressionsHypothese" ( D O L L A R D et. al. 1961; vgl. S. 197 ff. dieser Untersuchung), für einen Psychologen viel überzeugender erklären als durch einen „Aggressionstrieb". Falls man nicht gerade konsumatorische Akte wie „Fressen" und „Schlingen" sowie die diesen Akten vorangehenden Verhaltensweisen als „bösartig" oder „aggressiv" bezeichnen will, so bleibt von der „arterhaltenden" Funktion des „Bösen" nichts übrig. Nicht im mindesten „arterhaltend", aber durchaus „boshaft" erscheint dagegen das Verhalten von Schimpansen beim Spiel mit Hühnern, wie es K Ö H L E R beschreibt. Die Abfälle des Brotes, das die Schimpansen in der Nähe des Drahtgitters ihres Käfigs fraßen, lockten mit Regelmäßigkeit die Hühner des Nachbargrundstückes an das Gitter, weil vermutlich bisweilen Krumen durch die Maschen des Netzes fielen, die sie dann aufpickten. „Da die Schimpansen sich ihrerseits für die Hühner interessieren, so macht es sich, daß nun die Affen ihr Brot dicht am Gitter zu verzehren pflegen und dabei die Vögel mustern oder auch durch 46

LORENZ selbst bezeichnet sich im übrigen als „guten Darwinisten" ( 1 9 6 3 , S. 48).

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Z u unserer Kritik der unangemessenen Ausweitung und Anwendung des Arterhaltungsprinzips siehe S. 7 1 ff.

7 Keiler, Wollen

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einen Tritt gegen das Netz verscheuchen. Daraus haben sich drei Spiele entwickelt . . . i. Der Schimpanse hält zwischen einem Biß und dem nächsten sein Brotstück in die weite Masche des Netzes, das Huhn nähert sich zum Picken, und wie es gerade zufahren will, zieht der A f f e das Brot schnell wieder f o r t . . . 3. Das Huhn wird mit dem Brot am Gitter nähergelockt, aber in dem Augenblick, w o es arglos zupicken will, rennt ihm die freie Hand desselben Schimpansen oder ein anderer, der daneben hockt, einen Pfahl oder, noch schlimmer, einen starken Draht in den ungeschützten Leib" (KÖHLER1963, S. 61). Zur Interpretation (nicht zur Erklärung) dieses Verhaltens zieht sich KÖHLER nicht wie LORENZ auf einen „Trieb" zurück, sondern verweist statt dessen auf eine vergleichbare menschliche Boshaftigkeit: „Weshalb? N u r Gassenjungen, welche an fremden Häusern klingeln und dann fortlaufen oder andere derartige Dinge treiben, können vielleicht diese Frage beantworten" (KÖHLER 1 9 6 3 , S. 6 0 ) . Im Grunde erscheint also boshaftes Verhalten „sinnlos", es erfüllt keinen „Zweck", das wollende und handelnde Individuum „will" ganz einfach „Böses", ohne dabei auf die Verwirklichung eines Eigenwertes oder eines anderen Fremdwertes zu reflektieren. Von daher gesehen ist das Wollen, das WUNDT als „schlecht" bezeichnet, nicht „bösartig", denn es geht uns ja dabei recht eigentlich nicht um den anderen, sondern um "uns und unsere Eigenwerte, deren Verwirklichung wir durch den anderen gefährdet sehen. Ebenso ist es mit der Aggression bei LORENZ; diese verliert mit dem Hinweis auf ihre (bewußte oder unbewußte) „arterhaltende" Funktion das Anrecht, als Verwirklichung eines Fremdwertes eingestuft zu werden. Zur Kennzeichnung unseres Wollens als boshaft-inaltruistisch sind wir nur dann berechtigt, wenn unangenehme Zuständlichkeiten oder eine mindere Soseinslage der Person eines anderen der eigentliche Gegenstand unseres Gefallens ist. So kann für mich ohne weiteres der Schmerz anderer positiver Gegenstand des Gefallens sein, ohne daß für mich Schmerz eine angenehme Zuständlichkeit ist oder ich dem anderen unterstelle, Schmerz sei für ihn angenehm; ebenso kann ich danach trachten, das Ansehen eines anderen zu schmälern, die Soseinslage seiner Personhaftigkeit zu mindern, ohne daß der andere darin die Verwirklichung eines Personwertes erblickt. Und dies alles, ohne Konsequenzen für meine Person oder meine Zuständlichkeiten daraus abzuleiten. Gewiß wird in vielen Fällen die Hoffnung auf Soseinslageerhöhung der eigenen Person oder die Realisation angenehmer Zuständlichkeiten bei mir der eigentliche Grund sein, wenn für mich die unangenehmen Zuständlichkeiten oder die Soseinslageminderung der Person oder Personhaftigkeit eines anderen positiver Gegenstand des Wollens ist; aber wenn ich ein schwaches Tier quäle und Gefallen an seinem Leid finde, so doch nicht deshalb, weil 98

das Sosein meiner Person dadurch erhöht wird oder ich mich besonders „wohl" fühle; vielmehr ist mir das Leid des Tieres unmittelbarer Gegenstand meiner Bestrebungen. Sind sie dagegen — wie bei WUNDT und LORENZ — lediglich ein Zwischenziel auf dem Wege zu einer Wertverwirklichung, deren wir teilhaftig werden, so treffen die Begriffe „altruistisch" oder „inaltruistisch" den Sachverhalt keineswegs. Und so läßt sich in vielen Fällen, wo wir inaltruistisches Wollen mit dem Ziel der Realisation unangenehmer Zuständlichkeiten oder einer verminderten Soseinslage der Person oder Personhaftigkeit eines anderen zu sehen glauben, nachweisen, daß sie nicht das eigentliche Ziel des Wollens ist, sondern lediglich eine Zwischenstation auf dem Wege zur Verwirklichung eines Eigenwertes oder eines nicht auf diese Person oder dieses personhafte Individuum bezogenen Fremdwertes. So ist z. B. dem Sadisten das Leid des anderen nicht Selbstzweck, sondern Anlaß zu eigener Lust, ein Geschäftsmann zieht aus dem Ruin des anderen Vorteil für sich selbst usw. Trotz dieser Vorbehalte bleibt jedoch die Möglichkeit, daß es auch an „Bosheit" im eigentlichen Sinne orientierte Werthaltungen geben kann. Davon geht etwa die christliche Moraltheologie aus, die dem göttlichen Prinzip der Liebe und Güte das stets verneinende Prinzip des Bösen gegenüberstellt (vgl. auch GOETHES „Faust"). Zwar muß angenommen werden, daß die Kognition einer tatsächlichen Fremdwertverwirklichung des „Bösen" die Zuständlichkeiten des wollenden Individuums ebenso positiv affiziert wie die Kognition einer tatsächlichen Fremdwertverwirklichung des „Guten", sofern sie dem in Frage stehenden Individuum positiver Gegenstand des Wollens ist; aber diese sekundären angenehmen Zuständlichkeiten sind im Falle des „Bösen" ebensowenig das eigentliche Willensziel wie im Falle des „Guten". Wir nehmen also an, daß es neben dem „Willen zum Guten, Schönen, Wahren" auch den „Willen zum Bösen, Häßlichen und Falschen" geben kann.

Zum „Bereich" der Fremdwerte So ist unser Wollen bezüglich fremder Personen entweder altruistisch (konkordant dem Wollen dieser Personen) oder aber in diskordantem Wollen einmal auf angenehme Zuständlichkeiten oder eine Soseinslageerhöhung der anderen gerichtet, zum anderen auf unangenehme Zuständlichkeiten oder Soseinslageminderungen fremder Personen oder personhafter Individuen (diese Bestimmungen gelten, wie weiter oben festgestellt, nur für den Fall, daß es uns in unserem Wollen tatsächlich nur um den anderen und nichts außer ihm geht). Ähnlich steht es mit unserem Wollen hinsichtlich von „Sachen" oder „Abstrakta" (Ideen, Urteile, T

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Wissenschaftssysteme usw.); auch hier •wollen wir positiv, wenn es uns wirklich nur um diesen Gegenstand als Teilhaber der Verwirklichung eines Fremdwertes geht, zumeist eine Erhöhung der Soseinslage. Das heißt, von „Sachen" wollen wir, daß sie „schön" sind oder „originell", von Urteilen wollen wir nicht nur, daß sie formuliert werden, sondern auch, daß sie „richtig" (in Übereinstimmung mit den Regeln der klassischen Logik) und/oder „wahr" (in Übereinstimmung mit dem angezielten Sachverhalt) sind. Auch ganze Wissenschaftssysteme wollen wir „richtig" und „empirisch brauchbar". In der Kunst geht unser Wollen auf „Neuheit" (Originalität) und „Harmonie" (zwei Seinsaspekte, die HENLE [1962] als wesentlich für jegliches kreative Schaffen ansieht) oder ganz allgemein auf „Schönheit". Gegenstand unseres Wollens ist in allen genannten Beispielen stets eine Seinserhöhung der „Welt außer uns". D a ß in vielen Fällen die Verwirklichung angeblicher Fremdwerte lediglich zum Zwecke der Verwirklichung von Eigenwerten erfolgt, ist kein Hinderungsgrund dafür, daß ebenso oft tatsächlich der Fremdwert im Mittelpunkt unseres Wollens steht, es uns also tatsächlich um die „Sache selbst" zu tun ist. Das mögliche Wollen einer Soseinslageminderung um ihrer selbst willen muß auf der anderen Seite ebenso zugestanden werden. Die Falschheit eines Urteils wäre für uns dann kein negativer Gegenstand des Wollens, sondern ein positiver, eben weil ein falsches Urteil „höheren" Wert hätte als ein „richtiges". Ein „häßlicher" Gegenstand hätte eine höhere Soseinslage als ein „schöner", und so wollten wir auch „ H ä ß lichkeit" um ihrer selbst willen, sie wäre für uns nicht negativer Gegenstand des Wollens.

Der systematische Ort der Fremdwerte Läßt sich die Genese des Wollens von „Schönheit" eindeutig dort zurückverfolgen, wo „Schönheit" mit „Zweckmäßigkeit" gepaart ist, so bleibt sie uns dort unverständlich, wo ein Gegenstand bloß „schön" ist, ohne überhaupt „zweckmäßig" zu sein. Und warum bevorzugen wir bei zwei Gegenständen, die gleich zweckmäßig sind, den schöneren? Warum wollen wir über die auf unsere Person bezogene Soseinslage eines anderen oder einer „Sache" hinaus eine Soseinslageerhöhung der Person des anderen oder der Sache48? Warum sind für uns überhaupt Dinge „außer uns", die sich in keiner Weise auf unsere Person oder ihre Zuständlichkeiten beziehen, Gegenstand des Wollens? Wir müssen eingestehen, daß wir nicht erklären können, warum wir überhaupt die Verwirklichung 48

Die gleichen Fragen können natürlidi bezüglich des Wollens von „Häßlichem" oder »Bösem" gestellt werden.

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von Fremdwerten wollen und warum für uns in den meisten Fällen gerade angenehme Zuständlichkeiten und Soseinslageerhöhung der Person des anderen positiver Gegenstand des Wollens sind und nur selten unangenehme Zuständlichkeiten und Soseinslageminderung. Erscheint es einleuchtend, daß unsere Zuständlichkeiten und unsere Person Gegenstand unseres Wollens werden, weil wir uns dem Erlebnis der eigenen Zuständlichkeiten und dem Erlebnis der eigenen Person niemals völlig entziehen können, so wäre in bezug auf die Außenwelt nur eine Beschränkung unseres Wollens unmittelbar auf jene Gegenstände verständlich, die sich auf unsere Zuständlichkeiten oder unsere Person beziehen. Die gleiche Beschränkung müßte für wissenschaftliches Bemühen gelten. Stellt man sich jedoch auf diesen Standpunkt, so kommt man lediglich bis zur Erklärung der „Zweckmäßigkeit". Warum wir „Schönheit um der Schönheit willen" oder „Erkenntnis um der Erkenntnis willen" wollen, muß letztlich unerklärt bleiben. So bleibt schließlich als empirisch nicht rückführbarer Grundsatz, daß wir unabhängig von unserer Person und ihren Zuständlichkeiten unser Wollen auf Welt „außer uns" richten können. Und indem wir Fremdes wollen, geht unser Streben zumeist auf Realisation angenehmer Zuständlichkeiten und die Soseinslageerhöhung Kennzeichnung von Eigen- und Fremdwerten als „verbindliche" Werte der Person des anderen oder auf eine Soseinslageerhöhung von „Sachen". Damit ist nach der Einführung der Fremdwerte die Kategorisierung der „verbindlichen" Werte abgeschlossen. Jede intendierte und somit auf einem Wollen beruhende Handlung ist eindeutig klassifizierbar als entweder einen Eigenwert oder einen Fremdwert betreffend. Dennoch scheint uns unsere Einteilung noch nicht vollständig, da wir bisher nicht den Fall berücksichtigt haben, daß mir Wertsetzung durch das Wollen eines anderen kognitiv gegeben ist, ohne daß ich den von einem anderen gesetzten Wert als für mich verbindlich anerkenne. Der genauen Kennzeichnung dieser „unverbindlichen" Werte soll unser nächstes Kapitel gewidmet sein. j. U n v e r b i n d l i c h e

Werte

Einführung der unverbindlichen

Werte

Wir haben bisher immer nur den Fall berücksichtigt, daß ein bestimmter Wertgegenstand dem jeweils angezielten Subjekt als Gut oder Übel Gegenstand seines Wollens ist. Die hier involvierten Werte haben wir, da sie für eben dieses Subjekt verbindlich sind, als „verbindliche" Werte bezeichnet. Nun ist jedoch die Situation denkbar, daß ein bestimmter Gegenstand zwar nicht Gegenstand meines Wollens (also für mich wertneutral) ist, aber IOI

dennoch einem oder mehreren anderen als Wertgegenstand gilt. Sofern mir diese Art der Wertbezogenheit kognitiv gegeben ist, ist für midi der involvierte Wert je nach seinem Allgemeinheitsgrad ein unverbindlicher individueller oder ein unverbindlicher überindividueller Wert. Dem entsprechend heißen die Wertgegenstände unverbindliche individuelle oder überindividuelle Güter oder Übel. Hierbei ist das kognitive Gegebensein der „Wertbezogenheit des Gegenstandes für andere" notwendiges Kriterium der Kennzeichnung dieses Objektes als „unverbindlicher Wertgegenstand"; wird dieses Kriterium nicht erfüllt, so ist der Gegenstand für mich eindeutig wertneutral. Ebenso wie die verbindlichen können auch die unverbindlichen Werte in Eigen- und Fremdwerte unterteilt werden. Ein unverbindlicher Eigenwert liegt dann vor, wenn ich zwar um das Streben eines Individuums nach bestimmten Zustands- und Personwerten weiß, das Streben nach eben diesen Eigenwerten aber nicht Gegenstand meines Wollens ist. Ein unverbindlicher Fremdwert ist dadurch gekennzeichnet, daß ich zwar um die z. B. künstlerischen, sozialen und wissenschaftlichen Bestrebungen eines Individuums weiß, ohne daß jedoch diese Bestrebungen Gegenstand auch meines Wollens sind. Unverbindliche Werte sind somit keine Werte im eigentlichen Sinne. Als Beispiel unverbindlicher überindividueller Wertgegenstände sollen hier ausländische Banknoten oder Münzen stehen, bei denen ich weder Gelegenheit habe, sie in gültige Valuta umzutauschen noch über dritte irgend etwas dafür einzuhandeln, das mir als Wertgegenstand gilt. Unverbindliche individuelle Wertgegenstände dagegen wären solche, die lediglich für ein anderes Subjekt von Interesse sind, weil sie für eben dieses Subjekt ein nur ihm eigenes Wertsystem repräsentieren. Unverbindlicher Wert und „Tauschwert" Sofern ich mir die Wertbezogenheit für andere von Objekten, die bisher nicht Gegenstand meines Wollens waren, bezüglich meiner Eigenund Fremdwerte zunutze mache, weil ich sie zu Mitteln für die Erreichung des Zweckes der Verwirklichung von verbindlichen Werten erhebe, werden die bisher unverbindlichen Wertgegenstände zu verbindlichen. Dies ist z. B. der Fall, wenn ein Kaufmann für ihn völlig wertlose Glasperlen bei afrikanischen Eingeborenen gegen Elfenbein oder Edelholz eintauscht, das den Eingeborenen im Vergleich zu den Glasperlen als geringerer Wertgegenstand gilt. Für den Kaufmann repräsentieren Elfenbein und Edelholz dagegen den höheren Wert. Aus diesem Beispiel geht hervor, daß der Tauschwert eines Objektes nicht so sehr davon abhängig ist, daß er Gegenstand des eigenen Wollens, sondern daß er Gegenstand eines fremden Wollens ist. 102

Diese Überlegung führt zu der Konsequenz, daß der Aufweis „echter" unverbindlicher Wertgegenstände sehr schwer sein dürfte, da ein Objekt, solange es Gegenstand überhaupt eines Wollens ist, für den, der es besitzt, dessen Wollen sich jedoch nicht darauf richtet, immer nodi einen „Tauschwert" hat und somit ein verbindlicher Wertgegenstand ist. Es gibt auch Situationen, in denen ein Objekt zwar prinzipiell „Tauschwert" hat andere Bedingungen jedoch einen Einsatz des Objektes als „Tauschmittel" unmöglich machen, sei es durch räumlich« Entfernung oder soziale „Barrieren". So wurde in einer unserer Untersuchungen zum Problem der Akzentuierung ( H O L Z K A M P , K E I L E R & P E R L W I T Z 1968) in der Kontrollgruppe die Information gegeben, daß die vorhandenen Stimulusobjekte (weiße Plastikstäbchen) in anderen Gruppen als Zensuren für Schulleistungen dienten, ohne daß wir befürchten mußten, das Wissen um eine Wertbezogenheit in diesen anderen Gruppen würde auch in der Kontrollgruppe zu einer Wertbesetzung führen. D a die Gruppen räumlich getrennt waren und über die Anzahl der in der Kontrollgruppe ausgeteilten Stäbchen Buch geführt wurde, konnten diese für die Vpn auch keinen „Tauschwert" bekommen und blieben somit unverbindliche Wertgegenstände. Prinzipiell bleibt jedoch der Einwand bestehen, daß Gegenstände, die man selbst besitzt, dadurch zu verbindlichen Wertgegenständen werden können, daß sie zwar nicht Gegenstand des eigenen Wollens sind, sondern — weil sie von anderen begehrt werden — „Tauschwert" haben. N u r bei jenen Gegenständen, die wir nicht haben und deren Besitz wir auch nicht anstreben, die aber für andere Gegenstand des Wollens sind, können wir mit einiger Berechtigung von unverbindlichen Wertgegenständen sprechen, sofern uns die Wertbezogenheit für andere kognitiv gegeben ist. Jedoch sind auch hier Einschränkungen zu machen: Es wäre z. B. denkbar, daß die intendierten Handlungen eines Individuums darauf gerichtet sind, anderen zur Verwirklichung ihrer Werte zu verhelfen. D a dieses Verhalten eindeutig als Verwirklichung eines Fremdwertes zu kategorisieren wäre, ist in diesem Falle die Kennzeichnung als Verwirklichung eines unverbindlichen Wertes in sich widersprüchlich. So können die Handlungen eines Individuums lediglich „absichtslos" der Verwirklichung von unverbindlichen Werten dienen, beabsichtigte Handlungen in dieser Richtung hingegen sind gewollt und somit auf die Verwirklichung eines verbindlichen Wertes gerichtet. Indirekter Einfluß von unverbindlichen Werten auf das Verhalten Aber die nichtintendierten Folgen meiner Handlung bleiben nur so lange unverbindlicher Wertgegenstand für mich, wie ich zwar weiß, daß durch meine Handlung für einen anderen ein Wert oder Unwert ver103

wirklicht worden ist, jedoch diese meine Handlung nicht selbst werte. In dem Augenblick, in dem ich meine eigene Handlung bezüglich ihrer nichtintendierten Folgen nachträglich gutheiße oder verwerfe, erhebe ich sie aus dem Status der Verwirklichung eines unverbindlichen Wertes in den der Verwirklichung eines verbindlichen Wertes. Da diese kognitive Einordnung Konsequenzen bezüglich des verbindlichen Wertsystems hat, folgt daraus, daß das Ziel der Verwirklichung des allgemeinsten Wertes der Verwirklichung von Werten überhaupt am ehesten dann erreicht wird, wenn die möglichen nichtintendierten Folgen einer Handlung, die einen unverbindlichen Wert verwirklichen, entweder niemals zum Gegenstand des eigenen Wollens werden (also immer unverbindlich bleiben) oder bezüglich des verbindlichen Wertsystems als positiv beurteilt werden. Das erste ist der Fall bei Individuen, deren Wollen extrem auf die Verwirklichung von Eigenwerten zentriert ist, denen also die Wertsysteme anderer Individuen als möglicher Gegenstand von Fremdwerten gleichgültig sind. Die zweite Möglichkeit ergibt sich aus der altruistischen Ausrichtung der nichtintendierten Folgen des eigenen Handelns, sofern das eigene Wollen auch auf die Verwirklichung von Fremdwerten gerichtet ist. Abschließende

Bemerkungen

Hieraus wird verständlich, daß unser intendiertes Verhalten nicht nur von der Setzung primär verbindlicher Werte ausgelöst und gesteuert wird, sondern stets auch Werte berücksichtigt, die zwar primär unverbindlich, jedoch — da sie mit verbindlichen Fremdwerten in Beziehung stehen — sekundär verbindlich sind. Auslösung und Steuerung eines Verhaltens lediglich durch das kognitive Gegebensein einer Wertbezogenheit für andere ist, das dürfte aus den vorangegangenen Überlegungen klar geworden sein, nicht möglich; erst wenn zu diesem kognitiven Gegebensein die Beteiligung des eigenen Wollens kommt, wir das Wollen des oder der anderen befürworten oder ablehnen und somit in das eigene Wertsystem integrieren, berücksichtigt unser Verhalten auch das, was primär nicht Gegenstand unseres Wollens war. 6. D i e V o l l s t ä n d i g k e i t d e r Die Vollständigkeit der vorgenommenen

Willensziele Kategorisierungen

Indem wir nachwiesen, daß sich unser Wollen auf Eigenwerte in Form von Zustands- und Personwerten, auf Fremdwerte in Form von altruistischen und inaltruistischen Werten richtet, haben wir — das zeigt 104

eine Analyse der eingeführten Wertbegriffe — deutlich gemacht, daß intendiertes Verhalten sich auf alle Aspekte eines je individuellen Lebensraumes (im Sinne von LEWIN) ausrichten kann. Somit ist jedes Streben eindeutig in den Dienst der Verwirklichung irgendeines Wertes gestellt, dessen formale und inhaltliche Kategorisierung gemäß den von uns angeführten Kriterien möglich ist. Tabellarische Übersicht III D a somit jedes zielgerichtete Verhalten (das gemäß unserer Definition nur auf einen Willensakt folgen kann) eindeutig einordenbar ist, können wir den Anspruch erheben, sämtliche möglichen Willensziele begriffslogisch erfaßt zu haben. Nachfolgende Aufstellung soll als Veranschaulichung der Ergebnisse der Überlegungen der letzten Kapitel dienen: I Verbindliche Werte a) Eigenwerte Das Wollen des Individuums ist auf die Verwirklichung von Zustandswerten (Streben nach Realisation angenehmer und Vermeidung unangenehmer Zuständlichkeiten) und die Verwirklichung von Personwerten (Streben nach Soseinslageerhöhung der eigenen Person und Vermeidung der Soseinslageminderung der eigenen Person) gerichtet. b) Fremdwerte Das Wollen eines Individuums oder mehrerer Individuen ist auf die Verwirklichung altruistischer Werte gerichtet (Streben konkordant mit dem Wollen eines Individuums oder mehrerer Individuen bezüglich dessen oder deren Personwerte). Das Wollen eines Individuums oder mehrerer Individuen ist auf die Verwirklichung inaltruistischer Werte gerichtet (Streben diskordant mit dem Wollen eines Individuums oder mehrerer Individuen bezüglich dessen oder deren Personwerte — oder Streben bezüglich der Soseinslage einer Sache oder mehrerer Sachen). II Unverbindliche

Werte

Die unter a) und b) aus dem jeweiligen Wertbegriff analytisch ableitbaren Gegenstände sind nicht Gegenstand des Wollens des jeweilig betrachteten Individuums oder mehrerer jeweilig betrachteter Individuen, sondern dieWertbezogenheit der Gegenstände für andere ist diesem Individuum oder diesen Individuen lediglich kognitiv gegeben. Unverbindliche Werte sind somit keine Werte im eigentlichen Sinne. 105

Ausblick auf die Ontologie der Werte Nachdem wir die Ziele des Willens und des intendierten Verhaltens formal und inhaltlich gekennzeichnet haben, wollen wir im nächsten Kapitel die beiden wertphilosophischen Richtungen des „Wertempirismus" und des „Wertabsolutismus" gegenüberstellen. Diese Gegenüberstellung wird zwar über den Rahmen psychologischer Argumentation hinausgehen. Es erscheint uns aber gerade deshalb sinnvoll, diese Frage im folgenden zu behandeln, weil wir dadurch die Möglichkeit haben, Wertpsychologie und Wertontologie besser gegeneinander abzugrenzen. Beschäftigten wir uns in unserer in der Begriffswahl psychologisch orientierten Wertlogik bisher hauptsächlich mit der phänographischen Bestimmung der Werte, so versucht die Wertontologie die Frage nach der vom wertenden Subjekt unabhängigen Herkunft der Werte und ihrer interindividuellen „Gültigkeit" zu beantworten. Danach ist die Klärung der Seinsverankerung der Werte, wie sich zeigen wird, kein wertpsychologisches, sondern ein wertmetaphysisches Problem.

106

C Die Begründung der Ziele des Wollens I. D a s P r o b l e m d e r S e i n s v e r a n k e r u n g Die historischen Anfänge der allgemeinen

der

Werte

Wertlehre

Als „jüngste philosophische Disziplin" ( K R A F T 1 9 5 1 , S. 1) war die allgemeine Wertlehre zunächst ausschließlich psychologisch orientiert. Sie sah in den tatsächlichen Beziehungen zwischen je einzelnen Objekten und einem je individuellen Fühlen, Auszeichnen und Begehren das, was Werte ausmacht. Wegbereiter dieser Ansicht war vor allem B R E N T A N O , dem „Werten" gleichbedeutend war mit „Lieben" und „Hassen" ( B R E N T A N O 1874, 1889); aber auch schon L O T Z E nahm an, daß Werte im Gefühlt bewußt werden ( L O T Z E 1896). „Dass das Prädikat des Wertes nur mit Bezug auf ein wertendes Bewusstsein oder ein Wertsubjekt von einem Objekt ausgesagt werden kann; dass, kurz gesagt: nichts einen Wert haben kann ohne einen, für den es wertvoll wäre", war für K R U E G E R „ein Gedanke, der. ..unter den Psychologen beinahe zu den Selbstverständlichkeiten gerechnet werden darf" ( K R U E G E R 1898, S. 54). Dabei hat jedoch für K R U E G E R in Abweichung von B R E N T A N O das Gefühl keinen Anteil am Werten, dieses ist vielmehr eine „eigene Form des Willenslebens", zu der es sich „unmittelbar ohne Vermittlung irgendeines logischen Gesetzesbewusstseins... gestaltet" ( K R U E G E R 1 9 0 1 , S. 286). Da auch bei moralischer Abwertung des Strebens nach angenehmen Zuständlichkeiten (bei K R U E G E R „Luststreben") dieses anhält, kann es selbst kein Werten sein, da es sonst ja durch das moralische Abwerten aufgehoben würde (vgl. hierzu auch K R U D E W I G 1942, S. 101). Im Anschluß an v. E H R E N F E L S sind für K R U E G E R Wertungen relativ konstante, regelmäßig wiederkehrende Begehrungen. Neben den aktuellen Wertungen läßt er jedoch auch Wertungen als besondere psychische Dispositionen zu konstanten Begehrungen gelten ( K R U E G E R 1898). Hierbei wird eindeutig das Wertvolle vom Angenehmen abgegrenzt, dieses wird auf Grund einer aktuellen „Lust" oder einer bewußten „Lusterwartung" begehrt, jenes dagegen wird relativ konstant erstrebt. Bei S C H W A R Z wird diese Trennung von Wertvollem und Angenehmem aufgehoben, sowohl aktuelles Begehren als auch zeitlich konsistentes Streben sind ihm Zeichen einer Wertbesetztheit des jeweiligen Urteils107

gegenständes. SCHWARZ führt darüber hinaus eine eindeutige Begriffsabgrenzung zwischen Streben und Begehren ein, dieses geht auf Zustandswerte, jenes auf Person- oder Fremdwerte; Wertbesetztheit allgemein wird durch „Gefallen" angezeigt, das für ihn eine eigenständige Willensregung ist.

Die Frage nach der Apriorität der Werte (SCHWARZ, MEINONG,

SCHELER)

Von SCHWARZ wird jedoch schon die psychologische Begrenzung der Werttheorie durch die Frage nach dem „Normzwang" des Willens überschritten. Er will die Ethik ebenso wie die Logik unabhängig von der Empirie auf Normen gründen. „Handelt es sich in Sittlichkeit und Kunst um Schätzungen, die nur von äusseren Umständen abhängen und sich mit diesen w a n d e l n . . . Oder handelt es sich um solche, die wir auf Grund eines Masstabes vollziehen, der unserem Wollen und anschaulichen Vorstellen mitgegeben ist?" (SCHWARZ 1900, S. 16). Bei SCHWARZ kündigt sich also schon der Umbruch an, der auch in den späteren Schriften MEINONGS zum Ausdruck kommt. Für diesen konstituiert sich der Wert nicht in der emotionalen Beziehung, sondern er wird durch das Gefühl nur „präsentiert"; „Wert" hat also für MEINONG zwei Bedeutungen: Eine gründet sich auf die Beziehung des Objektes zum Subjekt, die zweite ist relationsfrei, sie faßt den Wert als objektiv, als absolut (MEINONG

1917).

In seiner „Philosophie der Werte" hatte schon MÜNSTERBERG (1908) solchen Werten, die durch das Begehren von Subjekten bedingt sind, unbedingte Werte gegenübergestellt, die ohne Rücksicht auf je spezielle Individuen und ihre Wünsche, unabhängig von Lust und Unlust gültig sein sollten. Trotz dieser eindeutigen Forderungen blieb zunächst unklar, was für eine A r t von Gegenstand und von Erkenntnis der „absolute" Wert darstelle. SCHELER, für den das Sein der Werte letztlich unabhängig von Dingen, Gütern und Sachverhalten ist, versucht den Weg zur Erfassung der absoluten Werte dadurch aufzuzeigen, daß er jene Gesichtspunkte, die HUSSERL in seiner antipsychologistischen Kritik und seinem aprioristischen Neuaufbau der Logik und Erkenntnistheorie entwickelte, auf die Wertlehre überträgt. Für ihn sind Werte „ideale Bedeutungseinheiten", die identisch und zeitlos den vielfachen und unterschiedlichen Wertungserlebnissen individueller Subjekte gegenüberstehen. Sie sind „schon als Wertphänomene . . . echte Gegenstände" (SCHELER 1930, S. 14). Die Hierarchie der Werte besteht a priori gegenüber der betreffenden Güterwelt: „Die vorhandenen Güter stehen bereits unter der Herrschaft 108

dieser Rangordnung. Sie ist nicht von ihnen abstrahiert oder eine Folge ihrer" ( S C H E L E R 1930, S . 18). Da aber die empirisch vorfindlichen Werthierarchien in den verschiedenen Epochen durchaus voneinander abweichen, teilweise sogar entgegengesetzte Wertauffassungen vertreten werden, dies aber nicht der Fall sein dürfte, wenn es sich um zeitlich überdauernde „ewig" gültige Werte handelte, trennt S C H E L E R zwischen einer „absoluten" und einer „herrschenden" Rangordnung der Werte. Das System der herrschenden Rangordnung wird in der Sphäre der ästhetischen Werte als „Stil", in der Sphäre der praktischen Werte als „Moral" bezeichnet. Werte werden nicht durch ein individuelles wollendes Subjekt gesetzt, sondern „haften" den Wertgegenständen gleichsam „an" und affizieren das Gefühl des Wertenden: „Wohl aber müßte man sie als Kräfte ansehen oder als Fähigkeiten oder als in den Dingen gelegene Dispositionen, durch die in fühlenden und begehrenden Subjekten sei es gewisse Gefühlszustände, sei es Begehrungen kausiert werden" (SCHELER 1 9 3 0 , S. 1 0 ) .

SCHELERS

„Wertabsolutismus"

So wie spezifische Qualitäten (etwa Farbqualitäten) „durch den Gehalt einer unmittelbaren Anschauung zur Selbstgegebenheit kommen", so werden nach S C H E L E R die Werte unmittelbar im Fühlen und Vorziehen erkannt, das 'Werturteil folgt erst sekundär. Bei diesen Überlegungen stützt er sich auf K A N T : „Kant selbst hat eine besondere Untersuchung über Lust und Wert nicht angestellt. Aber es geht aus seiner Darstellung klar hervor, daß er annimmt, es sei der Tatbestand, daß ein Ding einen Wert habe, gleichbedeutend damit, daß wir ihm in Form einer Beurteilung einen solchen zuschreiben, und dies geschähe dann, wenn das Ding durch seine Wirkung auf den psychophysischen Organismus in uns einen Zustand der Lust veranlasse" ( S C H E L E R 1930, S. 246). Damit bilden Fühlen und Vorziehen eine legitime Art des Erkennens; a priori werden in ihnen Werte und ihr Rang erkannt. Durch explizite Umgehung kognitiver Kategorisierungsprozesse wird der Wertabsolutismus zu einer Wertmetaphysik, da er nicht angeben kann, durch welchen — den Methoden der empirischen Psychologie zugänglichen — Mechanismus Gefühl und Begehren so „unmittelbar" affiziert werden (wir werden später darauf zurückkommen). Durch S C H E L E R S Bestimmung des Wertbegriffes als eines „an sich" seienden „a priori" sind Werte aus der Relativität empirischer (und somit wechselhafter) Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt herausgehoben worden in die Sphäre absoluter Sicherheit und Endgültigkeit. 109

Das Motiv des Wertabsolutismus ist damit vor allem ein ethisches. Unter der Voraussetzung einer möglichen absoluten Sicherheit und Endgültigkeit kann natürlich auch eine Sicherung der Unbedingtheit der sittlichen Werte versucht werden, die jenseits aller Moral-Relativität immer und für jeden gültig ist. Danach ist es nicht Aufgabe der Ethik, zu erkennen, was im Rahmen einer je bestehenden sozialen Geltung als „gut" und „böse" anzusehen sei, sondern was „gut" und „böse" ist. Ähnliche Festlegungen wären dann ebenso im Bereich der Ästhetik möglich. Unabhängig von jeglicher Erfahrungswirklichkeit besteht ein Wert an und für sich, entzogen dem Streit um jeweilige Stilrichtungen und Moralsysteme. Das absolut „Gute" wäre auch dann immer das „Gute", wenn es nie als „gut" gegolten hätte und niemals als Wert erkannt würde. Für H A R T M A N N haben deshalb Werte den Rang und die Seinsweise von platonischen Ideen (vgl. H A R T M A N N 1935), sie werden nicht vom Menschen gesetzt, sondern bestehen unabhängig von den werterfassenden Akten an sich. In diesen Bestimmungen wird — abgesehen von der metaphysischen Grundhaltung — der formale Unterschied zwischen der Wertauffassung des Wertabsolutismus und unserer eigenen psychologischen Wertlehre klar: Dadurch, daß „Werte" unabhängig von je meinem Wollen existieren und ich ihnen in intuitiver Erfassung durch das Gefühl sozusagen „ausgeliefert" bin, trifft die wertabsolutistische Definition von „Wert" nicht die unsere, vielmehr weist sie uns die ästhetischen und ethischen „a priori" als Forderungen und somit als Normen aus. „Alles positiv Wertvolle soll sein, und alles negativ Wertvolle soll nicht sein" ( S C H E L E R 1930, S. 210). Das Wollen als aktive Instanz wird ersetzt von einem „Begehren", das eine „Reaktion" auf die „unmittelbare Ansdiauung" des „Wertes" darstellt. Aber auch wenn er mein Begehren nicht auslöst, mein Gefühl nicht von ihm affiziert wird, bleibt der „Wert" an und für sich bestehen, stets bereit, das Begehren von jemand anderem zu entfachen oder dessen Gefühle zu affizieren. So bleiben die „Werte", wie sie der Wertabsolutismus versteht, recht eigentlich stets etwas Unpersönliches, formal vergleichbar mit den bewußtseinstranszendenten physiologischen Sollzuständen der nativistischen Trieblehren. Der psychologisch ausgerichtete Wertempirismus Dieser Auffassung von „Wert" steht die des Wertempirismus entgegen. „Er geht davon aus, daß das Tatsächliche am Wertphänomen die Werterlebnisse bilden. Werte kommen erst in ihnen zustande, sie sind bloß aus den Wertungen abstrahiert. Werte bestehen nur für den wer110

tenden Menschen. Den Werten ist die Beziehung zu einem wertenden Subjekt wesentlich. Werte konstituieren sich lediglich auf Grund von Werterlebnissen, und sie lassen sich darum, auch empirisch, psychologisch und soziologisch, untersuchen" ( K R A F T 1 9 5 1 , S. 8). So zeigt sich wohl der hauptsächlichste Unterschied zwischen Wertabsolutismus und Wertempirismus darin, daß für diesen das Wertvollsein erst in den Werterlebnissen zustande kommt und ihm von daher die Beziehung zu einem wertenden Subjekt wesentlich ist, wohingegen jener das Wertvollsein nur auf einer Beziehung zu an sich bestehenden oder geltenden Werten beruhen läßt, unabhängig von einem je individuellen Werterlebnis (vgl. K R A F T 1 9 J I , S. 9). K R A F T selbst scheint sich in der Bewertung der beiden philosophischen Positionen zunächst nicht recht schlüssig zu sein, er zerlegt nämlich die „Werte" in zwei voneinander unabhängige Komponenten, den eigentlichen „Wertcharakter", die „Auszeichnung" und den „sachlichen Gehalt". Der „reine Wertsinn" ist ihm „logisch etwas Letztes, Ursprüngliches, das sich nicht mehr auf einen anderen Begriff logisch zurückführen, daraus konstituieren läßt. Der Wertcharakter kann nur noch durch eine psychologische Analyse aufgehellt werden" ( K R A F T 1 9 5 1 , S. 28). „Nur der eigentliche Wertcharakter, die Auszeichnung ist etwas Letztes, nicht die Werte. Denn diese lassen sich j a . . . zerlegen in den Wertcharakter und einen sachlichen Gehalt. Und auch die Auszeichnung kann nur in psydiologisdi-deskriptiver Hinsicht als etwas Letztes gelten; genetisch braucht man sie deshalb nicht als etwas Ursprüngliches und Unzurückführbares hinzunehmen" ( K R A F T 1 9 5 1 , S. 65 f.). An einer späteren Stelle glaubt K R A F T allem Wertabsolutismus „den Boden entzogen" zu haben, indem er zeigt, wie das Kind sowohl den sachlichen Gehalt als auch die Allgemeinheit der Auszeichnung im Zuge sozialen Lernens „erwirbt". „Dazu tritt dann der Sinn des Lobes und des Tadels, den das Kind aus den Stellungnahmen der Erwachsenen gewinnt. Wie diese zu ihm selbst und zu den gemeinsamen Gegenständen Stellung nehmen, freundlich oder feindlich, daraus bilden sich ihm die Begriffe Lob und Tadel und das gibt ihm das Verständnis für den lobenden oder tadelnden Sinn der Wertbezeichnungen und -begriffe" ( K R A F T 1 9 5 I , S. 70). Mit dem Hinweis auf den „Erwerb" der individuellen Wertsysteme durch Einflüsse der Kultur und Erziehung ist natürlich keineswegs, wie K R A F T meint, dem Wertabsolutismus „der Boden entzogen", sondern lediglich das Problem der absoluten Gültigkeit der Werte (oder besser: „Normen") weiter zurück in die Vergangenheit verschoben: Wie kommen denn die Eltern zu ihren Stellungnahmen, und deren Eltern usw.? Schließlich kommt man doch zu dem Punkt, wo man fragen muß: Wie kam das erste wertende Subjekt zu seinen Stellungnahmen und Auszeichnungen? Trotz seiner programmatischen Absage an den Wertabsolutismus vertritt K R A F T in seinem Kapitel über die „Quellen in

der Auszeichnung" eine ähnliche metaphysische Grundhaltung, wenn er bei der „Lust-Unlust-Betonung von Gestalten" für die Auszeichnung „ästhetische Elementargefühle" zuläßt. Woher weiß ich denn, welche Proportionen visueller und akustischer Gestalten „harmonisch" sind und welche nicht? ( K R A F T 1951, S. 81 f.). Wie steht es mit der von K R A F T angeführten „Lust-Unlust-Betonung von Sinnesqualitäten" ? Liegt sie nicht als Quelle der Auszeichnung direkt „in" oder „an" den Gegenständen. Wir meinen, daß K R A F T sich mit diesen Bestimmungen eindeutig zum Fürsprecher eines Wertabsolutismus macht, anstatt ihm, wie er behauptet, den Boden zu entziehen.

„Wertabsolutismus" als „metaphysischer Normativismus" und seine Zurückweisung im Rahmen unserer Wertlehre Welche Aussagen lassen sich nun aus unserer ausschließlich psychologisch ausgerichteten Wertlehre bezüglich der Gültigkeit von Werten ableiten? Zunächst einmal wollen wir uns mit den Ansprüchen des Wertabsolutismus auseinandersetzen. Rein formal gesehen macht er keinerlei Aussagen über Werte in unserem Sinne, sondern bezieht sich ausschließlich auf metaphysische Normen, deshalb werden wir ihn in der Folge als „metaphysischen Normativismus" bezeichnen. „Werte", so behauptet der metaphysische Normativismus, bestünden unabhängig von Wollen und Urteil in der Sphäre des absolut Gültigen, sie könnten nur „erschaut" werden. Als Anzeichen einer „Werterschauung" gelte das Gefühl und das Begehren. Was uns jetzt interessiert, ist: wessen Gefühl und wessen Begehren, wer kann legitim „Werte erschauen"? Hier zeigt sich, daß der metaphysische Normativismus bei dem Versuch, die absolute Gültigkeit der „Werte" zu sichern, dem Relativismus, den er überwinden wollte, Tür und Tor geöffnet hat. Denn nicht nur die interindividuell unterschiedlichen Gefühle und Begebungen führen zu einander widersprechenden Wertbegriffen, was unterschiedliche Auffassungen von „Moral" und „Stil" zur Folge hat, sondern auch die durchaus wechselhaften Gefühle und schwankenden Begehrungen innerhalb eines wertenden Subjektes machen eine genaue Bestimmung unmöglich, welches ein „wahrer" und welches ein „falscher Wert" ist. Es ist ebenso unsinnig, die Gültigkeit und Wahrheit von Werten durch Gefühl und Begehren zu begründen wie die Prinzipien der klassischen Logik durch „Evidenz". Aber auch wenn man diese Art der Begründung zuließe, würde der metaphysische Normativismus sein Ziel, eine für alle verbindliche Ethik und Ästhetik zu ermöglichen, nicht erreichen; denn das „unmittelbare Erschauen", das „Erkennen" der 112

„Werte" bzw. idealiter gesetzter Normen hat ja nicht notwendigerweise die Anerkennung ihrer Gültigkeit zur Folge. Was wäre, wenn ich den Forderungen, die sich aus den Normen ableiten, meinen Willen entgegensetzte, sie also nicht anerkennen wolltef Die Beziehung zwischen „Wert" und Wirklichkeit ist eine unbestimmte, da ja aus der bloßen „Erschauung" noch nicht eindeutig die Verwirklichung abzuleiten ist. Außerdem befindet sich der metaphysische Normativismus in einer prekären Situation, wenn er erklären soll, wie es gerade zur Setzung je bestimmter Normen als anzuerkennende Werte und nicht zur Setzung beliebiger anderer gekommen ist. Schließlich bleibt die entscheidende Frage offen: Wer hat diese Normen gesetzt? So kann der metaphysische Normativismus letztlich nicht die Ansprüche erfüllen, die man berechtigterweise an ihn stellt; denn was hilft uns der Hinweis, bestimmte Normen seien als „Werte" gültig, eben weil sie „gültig" seien? Indem sich seine Grundannahmen der empirischen Prüfbarkeit entziehen, hat er keinen Ort in einer psychologisch ausgerichteten Wertlehre. Eine eigene A r t von Wertmetaphysik vertritt LORENZ. Er möchte die Gültigkeit des Werterlebens mit dem Arterhaltungsprinziß in Beziehung bringen. D a ß uns die Bewegungen z. B. beim Eiskunstlauf oder Tanz als „schön" erscheinen, daß alles, „was über die Maßen gut getan wird", für uns „berückende Schönheit" habe, will er als andressierenden Mechanismus für arterhaltende Funktionen ansehen. „Als strenge Vertreter der psycho-physiologischen Parallelismuslehre müssen wir ernstlich die Möglichkeit erwägen, daß unser ästhetisches Wertempfinden nichts anderes als die Erlebnisseite der eben diskutierten Funktionen sei. Ebenso aber müssen wir uns klar sein, daß, auch wenn diese Erklärung richtig sein sollte, sie der Wirklichkeit und dem Werte des Schönen keinen Abbruch täte" (LORENZ 1961, S. 166). Abgesehen davon, daß sich das Arterhaltungsprinzip (das selbst Wertcharakter hat) nur mit einer begrenzten Anzahl von anderen Werten in Beziehung bringen läßt (wie wir mehrfach aufgezeigt haben), bleibt uns LORENZ die Auskunft über die genaue Form der gedachten Verknüpfung zwischen Arterhaltung und Ästhetik schuldig. Ist die Arterhaltung Anlaß zur Verwirklichung ästhetischer Werte, oder stehen die ästhetischen Werte im Dienste der Arterhaltung? Beides ist empirisch nicht zu klären, noch weniger das Problem, wie es denn im Laufe der stammesgeschichtlichen Entwicklung zu dieser Verknüpfung gekommen sei. Schließlich bekennt sich LORENZ zur „Wirklichkeit" des Schönen; sollte etwa das Schöne a priori Gültigkeit haben, völlig unabhängig von der Verknüpfung mit dem Arterhaltungsprinzip? Warum wird dieses denn dann erst zur „Erklärung" herangezogen? 8 Keiler, Wollen

II}

Zurückweisung der Ansprüche des Wertempirismus Es scheint so, als ließe sich unsere Wertpsychologie widerspruchslos in das allgemeine Konzept des Wertempirismus eingliedern; auch für uns ist ja der entscheidende Aspekt des Wertphänomens die empirisch prüfbare Beziehung zwischen Wert und wertendem Subjekt. Darüber hinaus gehen jedoch abweichend von unserem Konzept in den Wertempirismus einige Annahmen ein, die noch zu prüfen sind, bevor wir unsere eigene Haltung klar gegen den metaphysischen Normativismus und den Wertempirismus abgrenzen können. Zunächst einmal ist auf die logische Unmöglichkeit hinzuweisen, durch „Induktion" aus je speziellen Wertungen und Werterlebnissen einen allgemeinen Wertbegriff zu abstrahieren. Ein Werterlebnis oder eine Wertung ist schließlich als solche nur dann zu kategorisieren, wenn ich den Wertbegriff schon in irgendeiner Form „habe". Weiter ist die Einengung auf das Werterleben problematisch, denn ich kann nur etwas erleben, was mir als Erlebbares gegeben ist. Erleben von „Welt" setzt zwar immer Subjekt und Objekt voraus, aber gleichzeitig auch das Bestehen des Objektes unabhängig vom Subjekt, welches erlebt. Außerdem bleibt unberücksichtigt, daß Werte nicht nur in Wertgegenständen erlebt, sondern unabhängig von bestimmten Objekten als solche gedacht werden können, sie können also dem wertenden Subjekt in „kognitiver Repräsentation" vorliegen. Wie es kommt, daß die meisten Menschen unabhängig voneinander angenehme Zuständlichkeiten anstreben und unangenehme meiden, kann der Wertempirismus ebensowenig erklären wie den Umstand, daß in den meisten Kulturen eine „Demütigung" (gleich welcher Form) als Personunwertverwirklichung gilt. Hier hilft auch nicht der Einwand, das sei eben durch „kulturelle Einflüsse gelernt", denn das führt zu einem Regreß, der im übrigen nicht im geringsten die interkulturellen Übereinstimmungen erklären kann. Schließlich liegt in der Tatsache, daß der metaphysische Normativismus bisher noch keine befriedigende Möglichkeit des Nachweises absoluter idealiter gesetzter Normen gefunden hat, kein hinreichender Grund, anzunehmen, daß diese Normen nicht doch eines Tages erkannt werden können. Indem der Wertempirismus diese Möglichkeit von vornherein ausschließt, ist er ebenso dogmatisch wie der metaphysische Normativismus, da er keine Methode angibt, welche die Falsifizierbarkeit seiner Grundannahme zuläßt.

Auf weis der sensualistischen Grundlagen des Wertempirismus und des metaphysischen Normativismus — Eigener Ansatz Wir haben mit unserer Bestimmung der Werte als Willensziele sowohl die Annahmen des metaphysischen Normativismus, für den 114

„Werte" willenstranszendente Normen sind, als auch jene des Wertempirismus umgangen, für den Werte von Werterlebnissen abhängig sind. Damit widersprechen wir der empirisch nicht belegten Grundannahme, die beiden Systemen zu eigen ist, nämlich dem sensualistischen Irrtum, das erlebende und handelnde Individuum „erleide" ausschließlich die Werte. Für eine mögliche Spontaneität, eine aktive Setzung der Werte, ist weder im metaphysischen Normativismus noch im Wertempirismus Platz. Das Schaffen neuer, noch nie dagewesener Werte bleibt sowohl dem metaphysischen Normativismus als auch dem Wertempirismus unerklärlich, ja beide leugnen sogar überhaupt die Möglichkeit einer Neuschöpfung, jener, weil er meint, die „Werte" bestünden in ihrer Vollständigkeit unabhängig von jeder Erkenntnis von Anbeginn, dieser, weil er Werte stets als erlebbar und somit in irgendeiner Form schon vorhanden annehmen muß. Dem gegenüber steht unsere Annahme, daß dem Wollen nicht nur jene Urteilsgegenstände als Werte oder Wertgegenstände gelten, die dem wertenden Subjekt in irgendeiner Form von „außen" angeboten werden, sondern daß das Subjekt als Schaffendes auch aus sich selbst heraus Werte und somit Wertgegenstände setzen kann. Und auch wenn dem Subjekt von „außen" Urteilsgegenstände als mögliche Wertgegenstände angeboten werden, setzt die Übernahme des Urteilsgegenstandes als Wertgegenstand das „Haben" des 'Wertbegriffes voraus, niemals kann der Wertbegriff als Allgemeines im Sinne des Wertempirismus aus Wertgegenständen als Speziellem abstrahiert werden 49 . Ein Wertgegenstand wird ja erst zu einem solchen, wenn er in Beziehung zu einem Wert gesetzt wird, der dem Wertgegenstand logisch vorgeordnet ist. Wir vertreten also ähnlich dem metaphysischen Normativismus den Standpunkt der Apriorität des Wertbegriffes gegenüber dem Wertgegenstand, ohne jedoch die metaphysische Verankerung dieser Apriorität zu übernehmen. Mit der Feststellung, daß Wert und Wirklichkeit nur über Wertgegenstände in Beziehung gebracht werden können, stehen wir im Einklang sowohl mit dem metaphysischen Normativismus als auch mit dem Wertempirismus, nur daß wir die Art der Beziehung durch die Unterscheidung von „realen" und „irrealen" Werten, wie wir meinen, adäquater erfassen. Indem wir Werte ausschließlich auf Wollen zurückführen, liegt die Letztbegründung der Werte in der empirisch nicht weiter rückführbaren Willentlichkeit des menschlichen Daseins, über deren etwaige metaphysische Verankerung wir nichts sagen können. Für uns sind 49

D e r Sonderfall, daß ein bestimmter Wert durch den logisdi legitimen V o r g a n g der „vollständigen Induktion" aus Wertgegenständen gewonnen werden kann, wurde weiter oben erwähnt (vgl. S. 50). „Vollständige Induktion" im oben erwähnten Sinne deckt als Begriff jedoch nicht das, was der Empirismus unter „Abstraktion" oder „Induktion" versteht.



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Werte ohne Willentlidikeit nicht denkbar und somit stets an ein wollendes Individuum gebunden, wie etwa der spezielle Wert der „Wissenschaft" nicht denkbar ist ohne jemanden, der ihn verwirklicht. Ob es unabhängig von der Willentlidikeit metaphysisch verankerte Normen gibt, die als ständige Forderungen immer und überall Gültigkeit haben, wie der metaphysische Normativismus behauptet, kann von uns nicht entschieden werden, da wir keine Möglichkeit sehen, diese Behauptung zu überprüfen. Sollten diese Normen jedoch „wirklich" bestehen und in ihrer Seinsverankerung auch erkennbar sein, so können sie erst zu Werten werden, wenn sie zum positiven Gegenstand eines individuellen oder überindividuellen Wollens werden; andernfalls bleiben sie entweder wertneutrale Normen oder aber werden im Falle, daß sie negativer Gegenstand eines individuellen oder überindividuellen Wollens sind, zu Unwerten. Daß damit die Wertlehre nicht, wie man meinen könnte, völlig einem Wertrelativismus anheimfällt, werden wir aufzeigen, wenn wir im Rahmen eines Exkurses an Hand des speziellen Wertes „Wissenschaft" die Beziehung zwischen Wert und Wirklichkeit noch etwas deutlicher herausgearbeitet haben, wobei für uns dann auch der Begriff der Letztbegründung etwa im Sinne von D I N G L E R , M A Y und H O L Z K A M P bedeutsam wird.

2. W i s s e n s c h a f t a l s „Theorien"

Wert

als Gegenstände des Wertes „Wissenschaft"

Wissenschaft als besondere Weise und besonderes Ziel menschlichen Bemühens fällt als primär Nichtseiendes, aber in der Existenz Angestrebtes eindeutig unter den Wertbegriff; gemäß unserer Begriffssystematik ist sie in die Kategorie der inaltruistischen Werte einzuordnen (vgl. S C H W A R Z 1900, S . 41, Anm. 1 ) . Wissenschaft „geschieht" also nicht einfach, sondern ist stets gewollt, sie beginnt dort, wo der „Wille zur Wissenschaft" ( H O L Z K A M P 1968, S . 25 f.) vorliegt, ohne diesen ist sie nicht denkbar. Wissenschaft zerfällt wie jeder Wert in zwei Aspekte, einen formalen und einen inhaltlichen. Formal ist ein Wert als Gegenstand eines Wollens ausgezeichnet, der inhaltliche Aspekt trifft den sachlichen Gehalt, das „Was". Als „Streben über den Alltag hinaus" ( H O L Z K A M P 1968, S. 23) versucht Wissenschaft sprachliche Systeme zu erstellen, die in den Sprachsystemen des Alltags noch nicht enthalten sind. Sofern wir den allge116

meinen Urteilsgegenstand wissenschaftlicher Sprachsysteme global als „Welt" 50 bezeichnen können, sind sie nicht selbst „Welt", sondern „Aussage über Welt". Nach H O L Z K A M P soll das in Form von Aussagen angestrebte Wissen über „Welt" vollständig, klar und verbindlich sein (vgl. H O L Z K A M P 1968, S. 33—40). Die beiden ersten Kriterien lassen sich, wie wir sehen werden, zum Kriterium der Integration zusammenfassen, das letzte fällt mit dem Anspruch von Wissenschaft zusammen, als realer Wert zu gelten. Wissenschaftliche Sprachsysteme sind also integrative Systeme mit dem Anspruch auf Realgeltung. Indem Aussagen über bestimmte Ausschnitte von „Welt" gemacht, also definierbare „Gegenstände" isoliert werden, können die unterschiedlichen Einzelwissenschaften gegeneinander abgegrenzt werden. Diese wiederum lassen sich weiter in Aussagen über bestimmte Problemgebiete aufgliedern, die geringeren Erstreckungsgrad haben als der allgemeine „Gegenstand" der jeweiligen Einzelwissenschaft. In diesen Aussagen über spezielle Problemgebiete, die als „Theorien" bezeichnet werden, wird der Wert „Wissenschaft" verwirklicht. Auf den abstrakten Wert „Wissenschaft" bezieht sich also als Wertgegenstand stets eine je konkrete „Theorie". „Theorien... enthalten, über allgemeine wissenschaftssprachliche Ordnungsgesichtspunkte hinaus, Annahmen über die Beschaffenheit konkreter realer Verhältnisse. Präzisierend läßt sich sagen, daß (diese Annahmen immer Annahmen über Beziehungen sind, sofern man den Begriff der ,Beziehung' nur weit genug faßt: Beziehungen' das heißt hier, Zusammenhänge und Unterschiede, simultan und sukzessiv, von verschiedenster formaler und materialer Eigenart. Dabei muß beachtet werden, daß hier nicht bloß systemimmanente Beziehungen, etwa innerhalb von Begriffspyramiden oder axiomatischen Hierarchien gemeint sind: Zwar hat man auch die in theoretischen Annahmen formulierten Beziehungen als gedacht, als gesetzt zu betrachten, sie sind jedoch als in systemtranszendenter Realität auffindbar oder herstellbar, als realisierbar gesetzt und damit der empirischen Nachprüfung überantwortet" ( H O L Z K A M P 196$,

S. 39 f.).

Integration und Integrationsgrad Nun kann nicht jede beliebige Allgemeinaussage den Anspruch erheben, als den Wert Wissenschaft verwirklichende „Theorie" zu gelten, vielmehr ist eine Theorie an die Erfüllung bestimmter Kriterien gebunden, wenn sie ein „echter" Wertgegenstand sein soll. Das erste Kriterium wird von H O L Z K A M P als „Integrationswert" bezeichnet ( H O L Z K A M P 1964, 50

Zur näheren Unterscheidung von „Welt für uns alle" und „Welt f ü r jeden einzelnen" siehe HOLZKAMP 1 9 6 4 , S. 66 ff., und 1968, S. 16 f. " 7

1965, 1968); da die hier gemeinte Bedeutung von „Wert" im Sinne von „Meßwert" oder „Punktwert" nicht das deckt, was wir unter Wert verstehen, bezeichnen wir dieses Kriterium nach Absprache mit H O L Z KAMP als „Integrationsgrad" und hoffen, dadurch Begriffsunklarheiten zu vermeiden. Der Integrationsgrad einer Theorie „ h ä n g t . . . davon ab, wie groß die Mannigfaltigkeit an Realität ist, die von der Theorie unter einheitlichen Prinzipien erfaßt wird. Die Auffassung, daß Wissenschaft einen vereinheitlichenden Effekt haben müsse, ist von alters her bis in die Neuzeit unter verschiedenen Stichworten (Harmonieforderung, Ökonomieprinzip, Sparsamkeitssatz, Einfachheitsforderung) und mit verschiedenen Begründungen vertreten und, soweit wir sehen, kaum jemals ernsthaft angezweifelt worden" ( H O L Z K A M P 1965, S. 40). Theorien mit einem geringen Integrationsgrad bestehen aus isolierten, zusammenhangslosen „Ad-hoc-Annahmen", sie repräsentieren höchst unvollkommen den Wert Wissenschaft und verlieren damit den Anspruch, als Wertgegenstände zu gelten. Theorien sind ihrem begrifflichen Sosein nach nicht nur einfach Wertgegenstände, in denen der Wert Wissenschaft verwirklicht wird, sondern, indem sie als sprachliche Systeme nicht die „Dinge selbst" sind, auf die sie sich beziehen, selbst Werte — freilich Werte geringerer Ordnung als der ihnen vor- und übergeordnete Wert Wissenschaft, aus dem sie nur abgeleitet sind. Zwar sind sie formal zunächst einmal Normen, die unter Angabe definierter Bedingungen das reale Vorhandensein von Beziehungen fordern (eine Theorie konstatiert ja nicht nur die durch sie angezielten Beziehungen einfach als „gegeben", sondern fordert sie als „notwendige" Folge von Bedingungen, sie ist somit eine begründete Norm); dadurch, daß sich diese Normen aber positiv auf einen Wert beziehen, aus ihm abgeleitet sind, werden sie selbst zu Werten.

Realisation und Realisationsgrad

— Exhaustion

Da eine Theorie auf Grund ihrer begrifflichen Eigenart sowohl als Norm wie auch als Wert den Anspruch erhebt, als „real" zu gelten (und zwar in dem Sinne „real", daß sie nicht selbst wieder in allgemeinen Begriffen oder Begriffssystemen erfüllt oder verwirklicht wird), unterliegt sie dem Kriterium der „Realisation" ( D I N G L E R , M A Y , H O L Z KAMP). Was ist hierunter zu verstehen? H O L Z K A M P gibt zwei Möglichkeiten an, eine Theorie zu realisieren: 1. Das Aufsuchen der in der Theorie angesprochenen Bedingungen in der Wirklichkeit bei gleichzeitiger Nachprüfung, ob die als notwendige Folge dieser Bedingungen geforderten Beziehungen tatsächlich vorliegen; 2. das Herstellen der angesprochenen Bedingungen im Experiment. " 8

Die zweite Möglichkeit, das experimentelle Vorgehen, ist nach HOLZKAMP „das wirksamste Verfahren zur Eindämmung der Beliebigkeit des Annehmens und Verwerfens von Feststellungen über reale Verhältnisse" (HOLZKAMP 1965, S. 41), da sie gegenüber dem Aufsuchen der Bedingungen in der Wirklichkeit den Vorteil hat, daß konstituierende Bedingungen besser von störenden isoliert werden können, so daß die Wahrscheinlichkeit einer „Scheinrealisation" geringer wird. (Bei einer Scheinrealisation werden zwar die in der Theorie angesprochenen Beziehungen „aufgezeigt", sie sind jedoch nicht durch die in der Theorie angesprochenen konstituierenden Bedingungen verursacht, sondern durch andere, die, da sie den eigentlich angezielten Effekt verwischen, als „störende" Bedingungen bezeichnet werden.) HOLZKAMP spricht in diesem Zusammenhang vom „empirischen Wert" einer Theorie, dieser „bemißt sich zunächst nach der Operationalisierbarkeit der aus ihr hergeleiteten Annahmen, d. h. danach, wieweit empirisch-wissenschaftliche Operationen zur Prüfung der Annahmen möglich sind. Zunächst gibt es Annahmen, die prinzipiell nicht operationalisierbar sind, weil durch die Art ihrer Formulierung eine empirische Prüfung ausgeschlossen ist" (HOLZKAMP 1 9 6 J , S. 40). Auch hier erscheint uns die Verwendung des Begriffes „Wert" als irreführend, wir bezeichnen deshalb in Einverständnis mit HOLZKAMP das Maß der Operationalisierbarkeit einer Theorie sowie das Ausmaß, „wieweit die in den Annahmen formulierten Beziehungs-Behauptungen empirisch bestätigt werden konnten" (HOLZKAMP 1965, S. 41), als „Realisationsgrad" einer Theorie. Die Widerstände, die sich der Realisation einer Theorie entgegenstellen können, sind wie bei allen Normen und Werten zweifacher Art; methodischer Art sind sie z. B., wenn sich die Theorie infolge ihrer Formulierung von der empirischen Prüfung selbst ausschließt und sich somit dem Kriterium der empirischen Falsifizierbarkeit verschließt, oder aber gegen die Prinzipien der klassischen Logik verstößt. Materialer Art ist die „Widerständigkeit der Realität", sie zeigt sich z. B. in der Nichtdeckung der aus der Theorie abgeleiteten Voraussage oder Aussage überhaupt mit der durch sie angezielten Realität. Bei Widerständigkeit der Realität, die über das genannte Beispiel hinaus ebenfalls vorliegen kann, wenn auf Grund technischer Schwierigkeiten eine Operationalisierbarkeit der theoretischen Annahmen erschwert wird, ist es — wie bei anderen Normen und Werten auch — möglich, den Anspruch der Realitätsgeltung einer Theorie mit Hinweis auf das Vorhandensein störender Bedingungen aufrechtzuerhalten, dieses Vorgehen wird als „Exhaustion" (vgl. DINGLER, MAY, HOLZKAMP) bezeichnet. D a das Prinzip der E x -

haustion bei wissenschaftlichem Tun ständig angewandt wird ohne Rücksicht darauf, ob man die ihm zugrundeliegende wissenschaftstheoretische Haltung bejaht oder ablehnt, ist es nach HOLZKAMP formal notwendig, 119

theoretische Annahmen stets in Form von Konditionalsätzen zu formulieren: Unter Abwesenheit störender Bedingungen soll dieses oder jenes gelten ( H O L Z K A M P 1964, 1965, 1968). Theorien sind demnach formal gesehen konditionale Normen, die auf Grund ihrer Bezogenheit auf den übergeordneten Wert Wissenschaft selbst zu Werten werden. Im Rahmen dieser Untersuchung kann das Problem der Exhaustion nicht ersdiöpfend abgehandelt werden, der Leser muß deshalb auf die grundlegenden Untersuchungen von D I N G L E R (1926), M A Y (1942) sowie H O L Z K A M P (1964, 1968) verwiesen werden. Die Verwirklichung

des Wertes „Theorie"

in

Jetzt-und-Hier-Aussagen

Theorien als Allgemeinaussagen beziehen sich niemals direkt auf reale Beziehungen, da diese ja stets etwas Individuelles sind. Das entscheidende Bindeglied zwischen Theorie und Wirklichkeit sind aus der Theorie ableitbare „Jetzt-und-Hier-Aussagen", die mit der Realität in Einklang stehen sollen, also im Sinne der klassischen Logik „wahr" sind. In diesen „wahren" Jetzt-und-Hier-Aussagen wird eine Theorie als Wert recht eigentlich verwirklicht; Jetzt-und-Hier-Aussagen heben, da sie als „Äußerungen" (gleich welcher Art) intersubjektiv und somit quasi „objektiv" sind, die Uberprüfbarkeit einer angeblichen Realisation einer Theorie aus dem Bereich des Subjektiven in die Sphäre intersubjektiver Wissenschaft. An Hand von Jetzt-und-Hier-Aussagen, die den Anspruch auf „Wahrheit" erheben, wird die Anwendung eines weiteren Prinzips der Wissenschaft gewährleistet: die Wiederholbarkeit von Experimenten; sie geben Auskunft darüber, durch welche Operationen die in der Theorie angesprochene Realität wiederholt aufgesucht oder hergestellt werden kann. Jetzt-und-Hier-Aussagen der genannten Art gestatten auch eine Bestimmung der „Repräsentanz" ( H O L Z K A M P ) der in der Wirklichkeit aufgesuchten oder im Experiment hergestellten Bedingungen für die in Frage stehende Theorie, d. h. eine Aussage darüber, wieweit die aufgesuchten oder hergestellten Bedingungen dem in der Theorie angezielten „reinen Fall" ( L E W I N 1927) angenähert sind; sie lassen das Vorhandensein von etwaigen Störbedingungen und/oder Scheinrealisationen erkennen. So sind nicht etwa die hergestellten oder aufgesuchten Bedingungen und die daraus folgenden Beziehungen der eigentliche Gegenstand des Wertes Theorie oder des übergeordneten Wertes Wissenschaft, sondern jene Einzelaussagen über reale Verhältnisse. Sofern die „Wahrheit" von Jetzt-und-Hier-Aussagen gesichert ist, werden sie zu zeitlich überdauernden Wertgegenständen; die durch sie angezielte Realität hat dagegen nicht das Prädikat der zeitlichen Dauer, sondern ist stets nur kurzfristig aufsuchbar oder herstellbar. Jetzt-undHier-Aussagen, deren „Wahrheitsgehalt" noch zu prüfen ist, werden 120

als „hypothetische Annahmen" bezeichnet, ihnen gegenüber stehen „empirisch verifizierte Annahmen". Wie ist nun aber zu erkennen, ob eine Jetzt-und-Hier-Aussage „wahr" oder ob sie „falsch" ist? Diesem Problem der Letztbegründung von Jetzt-und-Hier-Aussagen, das die engen Grenzen des speziellen Wertes Wissenschaft überschreitet und für unsere Wertlehre allgemein relevant ist, wollen wir unsere nächsten Uberlegungen widmen, bevor wir uns der Frage nach der Letztbegründung wissenschaftlicher Allgemeinaussagen als spezieller Werte und der Letztbegründung von Werten allgemein zuwenden. Das Problem der „Wahrheit" von

Jetzt-und-Hier-Aussagen

Der „Satz vom zureichenden Grunde" besagt, daß ein Urteil, um als „wahr" zu gelten, hinreichend begründet sein muß. Ein „wahres" Urteil unterscheidet sich also von einer „beliebigen" Aussage dadurch, daß es systemimmanent kein Letztes, Unzurückführbares ist, sondern stets seine Berechtigung von einer Instanz ableitet, die unabhängig von ihm besteht und selbst innerhalb des Systems entweder ein Letztes, oder aber ein aus einem Letzten mittelbar oder unmittelbar Abgeleitetes ist. So sind Sätze, die aus einer Prämisse oder mehreren Prämissen, deren Gültigkeit gesichert ist, widerspruchsreif hergeleitet werden, nicht nur „richtig" (im Sinne von „logisch stimmig"), sondern notwendigerweise „wahr". Das ist z.B. immer dann der Fall, wenn aus gültigen Allgemeinaussagen Einzelaussagen abgeleitet werden, wie etwa in den Syllogismen der klassischen Logik. Solche hergeleiteten, analytischen Urteile machen über die Gültigkeit der Allgemeinaussage hinaus keine neu gültige Aussage, sondern „fächern" recht eigentlich nur die Bedeutung der Allgemeinaussage auf; sie sind formal „Tautologien". Diesen durch die Gültigkeit von Allgemeinaussagen gesicherten analytischen Urteilen stehen die synthetischen gegenüber, deren „Wahrheit" nicht aus anderen Sätzen hergeleitet ist, sondern durch die „Wirklichkeitsverankerung" des Urteils bestimmt wird; es sind dies Aussagen über reale Beziehungen (wobei wir den Begriff „Beziehung" in seiner weitestmöglichen Bedeutung verstanden wissen wollen). Der „zureichende Grund" für die „Wahrheit" einer auf Wirkliches gerichteten Aussage liegt in der tatsächlichen Beschaffenheit der wirklichen Beziehungen, die durch das Urteil angezielt werden; „deckt" ein Urteil die von ihm angezielte Beziehung, so gilt es als „ w a h r " 5 1 . 61

Wir halten uns mit dieser Definition der „Wahrheit" eines Jetzt-und-Hier-Urteils an die in der klassischen Logik übliche Definition (vgl. PFÄNDER 1 9 2 1 ) , ohne daß wir damit das von HOLZKAMP (1968, S. 56 ff.) zu recht kritisierte „naiv-transzendente Zutreffenskriterium" übernehmen, das davon ausgeht, man könne die „Wahrheit" eines solchen Urteils ganz einfach dadurch feststellen, daß man Objekt oder Sachverhalt direkt mit dem ihn anzielenden Satz vergleicht.

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Es ist von alters her eines der zentralsten Probleme der Erkenntnistheorie gewesen, eine unangreifbare Methode zu finden, um die tatsächliche Übereinstimmung von synthetischer Jetzt-und-Hier-Aussage mit der durch sie angezielten Wirklichkeit nachzuweisen; wie sehr nämlich synthetische Urteile der Möglichkeit des Irrtums unterliegen, wird überall dort klar, wo wir ernsthaft versuchen, sie auf ihren "Wahrheitsgehalt zu prüfen. Wie wenig wir dabei „unseren Augen trauen" dürfen, zeigen nicht nur widersprüchliche Zeugenaussagen über ein und denselben Sachverhalt vor Gericht (ohne daß die sich widersprechenden Zeugen dabei die Absicht haben müssen, den wahren Sachverhalt zu verschleiern), sondern auch in manchmal nahezu grotesker Weise die sogenannten „geometrisch-optischen Täuschungen", die sich seit den frühen Tagen der Gestaltpsychologie innerhalb der verschiedenen organisationstheoretisch orientierten Wahrnehmungspsychologien fast unveränderter Popularität erfreuen. Wir wollen versuchen, an Hand des Phänomens der geometrisch-optischen Täuschungen den Kern des Problems der Letztbegründung von Jetzt-und-Hier-Aussagen zu erläutern.

Begründung von Jetzt-und-Hier-Aussagen durch Widerspruchsfreiheit

systemtranszendente

Bei den geometrisch-optischen Täuschungen (etwa der Müller-LyerTäusdiung) stehen sich stets zwei Jetzt-und-Hier-Aussagen, die sich auf den gleichen Tatbestand beziehen, kontradiktorisch gegenüber 52 : Das „anschauliche" Urteil bezeichnet die beiden kritischen Linien der MüllerLyer-Anordnung als verschieden lang, das „metrisch-physikalische" hingegen als gleich lang. Nach dem Satz „vom Widerspruch" können nicht beide zugleich „wahr", nach dem Satz „vom ausgeschlossenen Dritten" muß eines der beiden Urteile „wahr" sein. Man entschließt sich gewöhnlich in einem solchen Falle dazu, dem metrisch-physikalischen Urteil ein höheres Gewicht beizulegen als dem anschaulichen, deshalb gibt man ersterem das Prädikat der „Wahrheit", letzterem hingegen spricht man es ab, da es auf einer „Täuschung" beruhe. Die stärkere Verläßlichkeit eines metrisch-physikalischen Urteils wird durch die Annahme einer weitgehenden Konstanz der metrisch-physikalischen Welt gegenüber der Inkonstanz der anschaulichen Welt begründet, diese An52

Die Beschränkung auf die Gegenüberstellung v o n Sätzen impliziert die (u. a. auch bei HOLZKAMP [1968] vertretene) Auffassung, daß ein D i n g oder ein Sachverhalt nie direkt mit dem ihn anzielenden Urteil verglichen werden kann, weil Sätze eben nicht Tatsachen und Tatsachen nicht Sätze sind (vgl. HEINTEL 1949, S. 70), und „immer nur Aussagen mit Aussagen in Beziehung gesetzt werden" können (HOLZKAMP 1968, S . 69).

122

nähme ist aber selbst nicht weiter rückführbar. D a ß die sensualistische Grundannahme, die metrisch-physikalische sei die „eigentliche", in sich konstante Welt, die anschauliche hingegen bloßes Abbild jener und somit der Möglichkeit des Irrtums unterworfen, beliebig und keineswegs in der Wirklichkeit verankert ist, dürfte nicht zuletzt bei Betrachtung der Phänomene der Größen- und Formkonstanz klar werden, wo das anschauliche Urteil sich in Abhebung vom metrisch-physikalischen mit der „Wirklichkeit" viel stärker in Ubereinstimmung befindet. Verfolgt man darüber hinaus noch die Frage, was denn eigentlich ein metrischphysikalisches Urteil sei, so kommt man zu der Einsicht, daß uns eine metrisch-physikalische Welt recht eigentlich nirgendwo gegeben ist und daß die auf einen meßtechnischen Ableseprozeß folgende Jetzt-undHier-Aussage ebenfalls stets ein anschauliches Urteil sein muß, das den gleichen Irrtumsmöglichkeiten unterliegt wie jedes andere anschauliche Urteil auch (vgl. die Bemühungen, physikalische Meßinstrumente zu konstruieren, bei denen keine Parallaxe auftritt). D a also eine Nachprüfung der Gültigkeit von metrisch-physikalischen Jetzt-und-HierAussagen unabhängig von anschaulichen Jetzt-und-Hier-Aussagen nicht erfolgen kann, können sie auch nicht den Anspruch erheben, diese zu fundieren und ihnen logisch vor- und übergeordnet zu sein. Die „Wahrheit" metrisch-physikalischer Urteile a priori zu fordern, ist also ebenso fragwürdig, wie wenn man ein Gleiches für alle anschaulichen Urteile behaupten wollte. A m Ende des hier angedeuteten Gedankenganges, den wir nicht in aller Ausführlichkeit vollziehen wollen (man vgl. hierzu besonders die Untersuchungen von MAY 1937 und 1942 sowie HOLZKAMP 1968), steht die Erkenntnis, daß die Gültigkeit oder „Wahrheit" einer Jetzt-und-Hier-Aussage prinzipiell nicht beweisbar ist (hieran vermögen auch die scharfsinnigen Überlegungen und Argumente von MAY nichts zu ändern), gleichgültig, ob es sich dabei um ein anschauliches, metrischphysikalisches oder anders geartetes Jetzt-und-Hier-Urteil handelt. D a ß die von MAY (1937) eingeführten „Letztbedeutungen" zwar ein notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium für die Wirklichkeitsverankerung einer Jetzt-und-Hier-Aussage darstellen und daß auch die Möglichkeit der Anwendung von Sagbarem auf Unsagbares (vgl. ZILSEL 1932/33) das Problem der Letztbegründung von Jetzt-und-HierAussagen nicht löst, muß auch HOLZKAMP (1968) zugeben. D a also die Gültigkeit oder „Wahrheit" von synthetischen Urteilen sich als prinzipiell nicht überprüfbar erweist und, soweit wir sehen, das Problem der Letztbegründung von Jetzt-und-Hier-Aussagen sich nur dort als relevant erweist, wo zwei synthetische Urteile, die sich auf denselben Sachverhalt beziehen, den Anspruch auf „Wahrheit" erheben, dabei jedoch kontradiktorisch entgegengesetzt sind, verbleibt nur eine „Umgehung" des Problems, wie sie in den empirischen Wissenschaften tatsächlich ge"3

handhabt wird: Man versucht auftretende Widersprüche dadurch aufzulösen, daß man erklärt, unter welchen Bedingungen sie Zustandekommen und daß es sich dabei recht eigentlich nicht um Widersprüche, sondern um Aussagen über unterschiedliche Sachverhalte handelt, die nicht in Widerspruch stehen können. Daß dieses Verfahren nicht mit dem von Neopositivisten, Vertretern des logischen Empirismus und Operationisten befürworteten Konsensuskriterium identisch ist, dürfte klar werden, wenn man überlegt, daß auch einem durch „Absprache" als „gültig" festgelegten synthetischen Urteil widersprochen werden kann. Wir halten an der Auffassung fest, daß synthetische Urteile über „Welt jetzt und hier" möglich sind, wobei wir als einziges Kriterium der Wirklichkeitsbezogenheit eines solchen Urteils allein die Verwendung von Letztbedeutungen angeben können. Nur an Hand der involvierten Letztbedeutungen ist eine Entscheidung darüber möglich, ob es sich um eine Aussage über Wirkliches oder Unwirkliches handelt. Akzeptiert man diese Bestimmung, so tritt das Problem der Gültigkeit in seiner Bedeutung zurück; entscheidend wird nämlich nun nicht, wie man erkennen kann, ob ein Urteil „wahr" ist, sondern wie Widersprüche sich auf einen identischen Tatbestand beziehender Urteile aufgelöst werden können (daß dies nicht wieder durch Jetzt-und-Hier-Aussagen geschehen kann, dürfte klar sein). Da Wissenschaft ihr Ziel u. a. in verbindlichen Aussagen über Realität hat und Verbindlichkeit letztlich nur durch Widerspruchsfreiheit zu erreichen ist, bekommt das Problem der Letztbegründung von Jetzt-und-Hier-Aussagen durch Wirklichkeitsverankerung für den Wissenschaftsprozeß einen neuen Aspekt, wenn man als einzigen hinreichenden Grund einer Jetzt-und-Hier-Aussage für empirisch-wissenschaftliche Zwecke nur die absolute Unmöglichkeit eines Widerspruchs anerkennt; da dies aber niemals zu gewährleisten ist; weil die absolute Unmöglichkeit des Widerspruchs hinsichtlich auf Realität bezogener Jetzt-und-Hier-Aussagen eben allein durch gesicherte Verankerung in der Wirklichkeit erreicht werden kann, dies aber, wie wir gesehen haben, niemals möglich ist, muß der Anspruch herabgesetzt werden auf den ständigen Versuch, Widersprüche zu vermeiden oder aufzulösen. Die einzige „echte" Beziehung, die zwischen Wissenschaft und Wirklichkeit besteht, liegt also darin, daß Wissenschaft unter Verwendung von Begriffen mit Letztbedeutungscharakter Aussagen über von ihr unabhängige Wirklichkeit macht, ohne jedoch durch Wirklichkeit begründbar zu sein. Der Wertgegenstand des Wertes Wissenschaft liegt daher niemals in der Wirklichkeit selbst, sondern immer in absolut widerspruchsfreien Aussagen über Wirklichkeit. Damit ist das wissenschaftliche Strebensziel, zu verbindlichen — weil widerspruchsfreien — Aussagen über Realität zu kommen, als letztlich unerreichbar gekennzeichnet, da Widerspruchsfreiheit immer nur annähernd erreicht werden 124

kann. Die Verwirklichung des Wertes Wissenschaft in auf Realität bezogenen Jetzt-und-Hier-Aussagen ist daher immer eine vorübergehende, je zur Zeit am besten mögliche, niemals jedoch absolut gültige. Damit bekennen wir uns nicht etwa, wie man vielleicht meinen könnte, zum „Kohärenzkriterium", welches das Zutreffen eines Satzes „durch Hinweis auf das widerspruchsfreie Zusammenstimmen mit anderen Sätzen, auf das harmonische Eingepaßtsein in theoretische Ordnungssysteme" ( H O L Z K A M P 1968, S. 58) zu begründen sucht. Wenn R E I C H E N B A C H meint, daß „Wahrheit für die Naturwissenschaft nicht Übereinstimmung mit dem Ding — das wäre eine unmögliche Forderung —, sondern innere Widerspruchslosigkeit dieses Begriffssystems" (1921/22, S. 348) bedeute, so kennzeichnet er damit u.E. lediglich eine notwendige, nicht jedoch eine hinreichende Voraussetzung für die Gültigkeit eines Jetzt-und-Hier-Urteils, denn es sind ja unendlich viele widerspruchsfreie Systeme denkbar, „ohne daß durch die Widerspruchsfreiheit allein entscheidbar wäre, welches von diesen Systemen auf Reales zutreffen soll" ( H O L Z K A M P 1968, S. 5 8 ) . Wir fordern vielmehr über die systemimmanente Stimmigkeit hinaus eine „systemtranszendente Widerspruchsfreiheit", die in Realisationsversuchen aus dem jeweiligen System herzuleitender Einzelaussagen immer wieder in Frage gestellt werden können muß. Stehen z. B. bezüglich eines bestimmten Sachverhaltes zwei Jetzt-und-Hier-Aussagen kontradiktorisch gegenüber, so kann zwar niemals entschieden werden, welche der beiden Aussagen „wahr" ist, aber es können Konstrukte entweder aus dem System hergeleitet oder neu erstellt werden, die erklären, wie es zu diesem vermeintlichen Widerspruch kommt (indem man etwa den Widerspruch zwischen der Aussage „dieses Ding ist grün" und der Aussage „dieses Ding ist rot" durch Rekurs auf „Farbenblindheit" eines oder beider urteilender Subjekte auflöst). Aus diesem Konstruktum muß zur Aufhebung des Widerspruchs der vermeintlich identische Sachverhalt aufzugliedern sein in zwei nichtidentische Sachverhalte; die sich angeblich widersprechenden Jetzt-und-Hier-Aussagen werden dann auf die zwei nichtidentischen Sachverhalte bezogen, womit der Widerspruch eindeutig aufgelöst wäre. Ein solches Konstruktum ist jedoch nur solange von Wert, wie es unabhängig von dem beschriebenen Spezialfall, zu dessen Erklärung es erstellt wurde, dem Kriterium der Realisation unterworfen werden kann (Forderung des „Außenkriteriums"). Der neuerliche Versuch, die Realgeltung des Konstruktums in Realisationen zu erweisen, setzt dieses Konstruktum wiederum der Möglichkeit des Widerspruchs aus usf. Das Vorgehen von Wissenschaft ist somit ein dialektisches, die Möglichkeit des Widerspruchs suchendes Vorgehen, das an seinem Ende (welches freilich in der Zeit nicht abzusehen ist) die abso125

lute, d. h. systemimmanente und systemtranszendente Widerspruchsfreiheit (Eindeutigkeit) bei höchstmöglichem Integrationsgrad hat. Die Forderungen des Integrationskriteriums stehen einer beliebigen Aufstellung und Ausweitung von theoretischen Konstrukten entgegen. Eine besondere Form, den Widerspruch zweier auf einen identischen Sachverhalt bezogener Jetzt-und-Hier-Aussagen aufzulösen, besteht darin, daß man einem der beiden Subjekte oder beiden Subjekten unterstellt, sie sagten bewußt die „Unwahrheit", wollten also positiv eine Nichtdeckung von Urteil und durch das Urteil angezielter Beziehung. Diese Art der Erklärung wird man jedoch immer erst dann heranziehen, wenn keines der anderen möglichen Konstrukte seine Realgeltung erweisen konnte, denn es hat, für sich genommen, keinen Erklärungswert. Auch das Konstruktum der „Lüge" muß operationalisierbar und somit in seiner Realgeltung überprüfbar sein.

Die systembedingte Begründung von

Jetzt-und-Hier-Aussagen

Indem wir als zureichenden Grund für ein auf Realität bezogenes Jetzt-und-Hier-Urteil die absolute Unmöglichkeit des Widerspruchs angaben (was tautologisch einer gesicherten Verankerung dieses Urteils in der Wirklichkeit gleichkommt), haben wir nur ein Kriterium berücksichtigt, das beliebige Jetzt-und-Hier-Aussagen von jenen unterscheidet, die den Anspruch erheben, den Wert Theorie und damit den Wert Wissenschaft zu verwirklichen. Auch absolut widerspruchsfreie auf Realität bezogene Jetzt-und-Hier-Aussagen können „sinnlos" sein, wenn sie außerhalb eines Zusammenhanges gemacht werden; „sinnvoll" wird eine Jetzt-und-Hier-Aussage immer dann, wenn ihre Notwendigkeit begründet wird. Wir können eine historische und eine systembedingte Notwendigkeit unterscheiden. Historisch notwendig begründet ist z. B. eine Jetzt-und-Hier-Aussage, die als Glied einer in der Zeit verlaufenden Kette von Ereignissen verstanden werden kann, etwa die Antwort auf die Frage: „Wie spät ist es?" Hingegen ist ein Jetzt-und-Hier-Urteil als systembedingt notwendig begründet, wenn es aus einer Allgemeinaussage hergeleitet ist — wie etwa die Einzelaussage „diese beiden Körper A und B fallen gleich schnell" aus der Allgemeinaussage „alle Körper fallen gleich schnell". Für den Wissenschaftsprozeß, der auf Grund seines Strebens nach Integration immer innerhalb eines integrierenden Systems verläuft, ist demgemäß stets systembedingte Notwendigkeit relevant. Die Heranziehung biographischer Daten mag zwar individualpsychologisch interessant sein, sie ist jedoch für die Geltungsbegründung von wissenschaftlichen Allgemeinaussagen irrelevant. 126

So ist eine bestimmte Jetzt-und-Hier-Aussage nicht mehr beliebig, sondern ein „echter" Wertgegenstand des Wertes Wissenschaft, wenn sie einmal absolut (systemtranszendent) widerspruchsfrei, zum anderen durch eine Theorie systembedingt begründet ist. Aus diesen Überlegungen folgt der Grundsatz: Wissenschaftliche Einzelaussagen sind stets zweifach begründet, einmal durch systemimmanente Notwendigkeit, zum anderen durch systemtranszendente Widerspruchsfreiheit. Bei systembedingter Begründung werden wissenschaftliche Einzelaussagen, wie wir gesehen haben, aus wissenschaftlichen Allgemeinaussagen, aus Theorien, hergeleitet. Woher bestimmt sich nun die Gültigkeit von wissenschaftlichen Allgemeinaussagen? Es würde Umfang und Zweck dieser Untersuchung bei weitem überschreiten, wenn wir uns eingehend mit dem Versuch der Geltungsbegründung von Allgemeinaussagen durch das empiristische Induktionsprinzip auseinandersetzten, zumal wir den grundlegenden Überlegungen von D I N G L E R , M A Y und H O L Z K A M P nichts Neues hinzuzufügen haben; deshalb sei der Leser auf die Untersuchungen dieser Autoren verwiesen, die in ihren Analysen die Fragwürdigkeit des Induktionsprinzips in aller Klarheit aufgezeigt haben. Für unsere Zwecke ist es lediglich notwendig, darauf hinzuweisen, daß bei dem von uns gewählten Ansatz der Versuch, die Geltung von wissenschaftlichen Allgemeinaussagen durch Induktion aus wissenschaftlichen Einzelaussagen herzuleiten, einen Zirkel bedeuten würde, da diese ja durch jene systembedingt notwendig begründet werden. (Daß das induktionistische Verfahren recht eigentlich ein historisch begründendes Vorgehen ist, soll nur am Rande erwähnt werden.) Damit bekennen wir uns einmal mehr zum Primat des Allgemeinen gegenüber dem Speziellen; aus wissenschaftlichen Einzelaussagen als Speziellem können niemals (auch nicht durch die Angabe von Wahrscheinlichkeitswerten) wissenschaftliche Allgemeinaussagen als allgemeingültig abgeleitet werden, sondern immer nur umgekehrt.

Begründung des Wertes „ Wissenschaft" durch den „Willen zur Eindeutigkeit" ( D I N G L E R ) Verfolgt man diese Überlegungen weiter und zieht man dabei vor allem in Betracht, daß wissenschaftliche Allgemeinaussagen als Werte notwendigerweise stets gewollt sind, so kommt man zu dem Schluß, daß die Geltung von Allgemeinaussagen letztlich durch nichts anderes begründet sein kann als durch das Wollen ihrer Geltung, wobei dieses Wollen hier zunächst als formaler „Entschluß" verstanden werden soll, der notwendigerweise am Beginn eines jeden wissenschaftlichen Handelns stehen muß. „Wissenschaft wollen" ist gleichbedeutend mit „Geltung von 127

Allgemeinaussagen wollen". N u n sind wissenschaftliche Allgemeinaussagen, wie wir gesehen haben, ja nicht in beliebiger Form gewollt, sondern das wissenschaftliche Wollen richtet sich auf Integration; dieses Ziel fällt jedoch letztlich mit dem Ideal der Widerspruchsfreiheit (Eindeutigkeit) zusammen. Im Idealfall würden sich nämlich alle Einzelaussagen aus einer einzigen Allgemeinaussage herleiten lassen, wobei die Einzelund Allgemeinaussagen verbindenden „spezielleren" Aussagen einmal zwingend aus den allgemeineren ableitbar sein müssen, zum anderen ihrerseits Verknüpfungsprinzipien zur Herleitung noch speziellerer Sätze darstellen. „ D a ein Verknüpfungsprinzip dem Streben nach systemimmanenter Eindeutigkeit in um so höherem Maße genügt, je mehr verschiedenartige speziellere Sätze zwingend aus ihm herleitbar sind, kann man die Mannigfaltigkeit der in den aus einer Theorie deduzierbaren, direkt auf Realität gerichteten Jetzt-und-Hier-Aussagen zum Kriterium dafür machen, wieweit eine Theorie der Forderung nach systemimmanenter Eindeutigkeit entspricht (die Einführung jedes neuen Verknüpfungsprinzips stellt ja logisch gesehen einen Willkürakt dar und läuft demgemäß der Eindeutigkeitsforderung zuwider). A u f Grund dieser Überlegung ist — auf der Basis des im Konstruktivismus, etwa von Dingler und May, stark akzentuierten 'Einfachheits'-Kriteriums — der Integrationswert (bzw. — in Keiler'scher Version — Integrationsgrad) einer Theorie zum Kriterium dafür genommen worden, in welchem Maße die Theorie der Forderung nach systemimmanenter Eindeutigkeit genügt" (HOLZKAMP unveröff. Skript, S. i o f . ) . D a mit maximaler Erfüllung des Kriteriums der Eindeutigkeit tautologisch der Wert der Widerspruchsfreiheit verwirklicht ist, ergibt sich schließlich als Fundament der Wissenschaft der „Wille zur Eindeutigkeit" (DINGLER), der einmal Allgemeinaussagen begründet, zum anderen aber auch empirische Jetzt-und-Hier-Aussagen fundiert (ohne daß dadurch über die „Wahrheit" dieser Jetzt-und-HierAussagen entschieden wäre). Als formal „freier Entschluß" ist der Wille zur Wissenschaft und somit der Wille zur Eindeutigkeit innerhalb einer Wissenschaftstheorie ein letztlich Unhintergehbares, er ist der notwendige und hinreichende Grund bei jeder wissenschaftlichen Handlung. H a t sich wissenschaftliches Wollen formal auf Eindeutigkeit festgelegt, so ist es inhaltlich frei; die sachlichen Ziele von auf Wirklichkeit bezogener Wissenschaft sind ebenso unbegrenzt wie die Wirklichkeit selbst. In seiner inhaltlichen Fixierung wird jedoch das Wollen von Eindeutigkeit erst eigentlich sinnvoll, das rein formale Eindeutigkeitswollen ist hingegen sinnleer. Notwendig mit diesem Wollen ist also stets mitgegeben, was eindeutig sein soll, in bezug auf welchen Bereich der Wirklichkeit Eindeutigkeit angestrebt wird. 128

Die unterschiedlichen Bereiche der Wirklichkeit sind nun aber auch anderen Strebungen als der nach Eindeutigkeit und unabhängig von Eindeutigkeit zugänglich (z.B. in der Kunst oder Politik), deshalb ist die Wirklichkeit jenen theoretischen Systemen historisch und formal vorund übergeordnet, deren Sätze den Anspruch erheben, eindeutig auf diese Wirklichkeit zu zielen. Da Wirklichkeit prinzipiell den verschiedensten Wollungen von Fremd werten ausgesetzt ist, bleibt es unvermeidbar, daß der Wert Wissenschaft die Bereiche anderer Werte tangiert und mit ihnen in Konflikt geraten kann. Die Möglichkeit der Verwirklichung des Wertes Wissenschaft wird daher um so größer sein, je weniger passive (materiale und methodische) und aktive (Forderungen aus anderen Werten) Widerstände dieser entgegenstehen. Sofern die aus den Forderungen anderer Werte entstehenden Widerstände zu groß sind, bleibt der Wert Wissenschaft in bezug auf den durch die anderen Werte angezielten Bereich der Wirklichkeit so lange ein entweder irrealer Wert oder Unwert, bis diesen anderen Werten vom wollenden Subjekt die Realitätsgeltung abgesprochen wird, oder aber sie ihm zu Unwerten werden. So steht Wissenschaft nicht nur dem Anspruch gegenüber, Eindeutigkeit in bezug auf die gesamte Wirklichkeit zu erlangen, sondern auch dem Umstand, daß ihr bestimmte Bereiche der Wirklichkeit durch die Bestimmungen anderer Werte zeitweilig oder für immer verschlossen sind. Diese Überlegungen machen deutlich, daß die wissenschaftlichen Strebensziele in der Zeit nicht erreichbar sind (vgl. D I N G L E R 1 9 1 3 sowie H O L Z K A M P 1 9 6 8 ) ; weder können wir vollständig Eindeutigkeit noch jemals Vollständigkeit unseres Wissens über die Wirklichkeit erreichen. Wir können uns diesen Zielen lediglich annähern, indem wir versuchen, in widerspruchsfreien auf Wirklichkeit bezogenen Jetzt-und-Hier-Aussagen wissenschaftliche Allgemeinaussagen zu realisieren, um den Anspruch einer Beliebigkeit der Geltungsfestsetzung dieser Aussagen zurückzuweisen. Daß dies jedoch nur geschehen kann, wenn Wissenschaft als Handlung fordernd begriffen wird, als Wert, den es zu verwirklichen gilt, hat H O L Z K A M P ( 1 9 6 8 ) in aller Deutlichkeit aufgezeigt. „Handeln" heißt in diesem. Falle Experimentieren, Bedingungen herstellen und kontrollieren; und nichts, so meinen wir, macht uns den Sinn des experimentellen Vorgehens deutlicher als die von D I N G L E R in diesem Zusammenhang eingeführten Prinzipien der „Realisation" und „Exhaustion"; sie sind vielleicht der stärkste Ausdruck eines Wollens, das eindeutige (und somit widerspruchsfreie) Allgemeinaussagen über Realität zum Gegenstand hat. Und doch scheint uns sowohl das D i N G L E R s c h e als auch das H O L Z Konzept der Realisation und Exhaustion noch nicht vollständig dem Eindeutigkeitskriterium integriert. Gemessen am Ideal der Eindeutigkeit i s t nämlich d i e H o L Z K A M P s c h e Forderung, theoretische Annah-

KAMPsche

9 Keiler, Wollen

IZ9

men als unbestimmte Konditionalsätze zu formulieren, zu unscharf. In dem Satz „Sofern bestimmte, in der theoretischen Annahme formulierte, konstituierende Bedingungen realisiert sind, und sofern keine störenden Bedingungen vorliegen, treten bestimmte, nämlich die in der theoretischen Annahme behaupteten, empirische Effekte auf" ( H O L Z K A M P unveröff. Skript, S. n ) ist zwar die Exhaustionsmöglichkeit einer theoretischen Annahme durch Rekurs auf störende Bedingungen im Falle einer mißlungenen Realisation von vornherein logisch verankert, und durch das Streben nach größtmöglicher Integration ist der Beliebigkeit in der Formulierung von Post-hoc-Interpretationen eine Grenze gesetzt, aber durch die Anonymität der im theoretischen Satz angesprochenen „störenden" Bedingungen wird der Eindeutigkeitsforderung zuwidergehandelt. Will man tatsächlich Eindeutigkeit, dann genügt es nicht, einfach „auf Verdacht" auf die mögliche Existenz von Störfaktoren hinzudeuten und sich erst im Falle der mißlungenen Realisation der theoretischen Annahme zum Zwecke der Exhaustion die Mühe zu machen, die jeweiligen Störfaktoren zu benennen und aufzuweisen, um dann genauso unbekümmert das nädiste Experiment zu planen. Eindeutig ist eine theoretische Allgemeinaussage erst dann, wenn sich nicht nur nach Realisation der darin angesprochenen konstituierenden Bedingungen der erwartete Effekt ergibt, sondern dieser Effekt ausbleibt, wenn wir die aus der gleichen theoretischen Allgemeinaussage herleitbaren störenden Bedingungen realisieren. Dazu müssen die störenden Bedingungen natürlich vor dem Realisationsversuch verbalisiert sein, wobei der Beliebigkeit der Formulierung durch die Forderungen nach Integration und Realisierbarkeit gesteuert wird. Unserem Konzept nach hat also Wissenschaft nicht nur die Aufgabe, eindeutige Sätze über Bedingungen zu formulieren, unter denen ein bestimmter Effekt auftritt, sondern — so paradox es zunächst klingen mag — aus dem gleichen Prinzip der Eindeutigkeit heraus auch die Pflicht, Sätze über Bedingungen zu formulieren, unter denen dieser Effekt nicht auftritt. Damit unterstützen wir nicht etwa das „Falsifikations-Konzept", wie es P O P P E R (etwa 1966) vertritt, sondern halten am konstruktiven Prinzip der „Realisation" fest,_ nur sind unsere Kriterien strenger als bei D I N G L E R , M A Y und H O L Z K A M P . Den Anspruch auf Eindeutigkeit kann es erst dann geben, wenn die bisher vernachlässigten „störenden" Bedingungen ebenso legitimer und systematischer Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung und Aussage geworden sind wie die „konstituierenden" Bedingungen, denen bislang das Hauptaugenmerk galt 53 . (Wir sind uns im klaren, daß wir damit den Begriff der störenden Bedingungen ad absurdum führen.) 5*

In etwas abgewandelter Form w i r d das v o n uns postulierte K o n z e p t schon seit jeher beim wissenschaftlichen H a n d e l n vertreten. Es ist nämlich üblich (und gerade die Psychologie ist hier beispielhaft), bestimmte Effekte, die sich aus der Realisation

130

Zwar gilt der „Wille zur Wissenschaft" — oder besser: „Wille zur Eindeutigkeit" — innerhalb der Wissenschaftstheorie als ein Letztes, im Rahmen einer Wertlehre muß jedoch das Wollen von Eindeutigkeit, da es ja ein spezielles Wollen neben anderem Wollen ist, mit dem es stimmig in Relation gebracht werden muß, auf ein allgemeineres Prinzip zurückzuführen sein. D a der Aufweis dieses Prinzips mit der Letztbegründung der Werte zusammenfallen muß (denn der „Wille zur Eindeutigkeit" als höchste Abstraktionsstufe eines bestimmten inaltruistischen Wollens kann formal nur noch auf das Wollen von Fremdwerten überhaupt reduziert werden), wenden wir uns jetzt dem Problem der Letztbegründung der Werte überhaupt zu, wobei — wie wir sehen werden — sich nicht die Wirklichkeitsverankerung der Werte als relevant erweist (wie der metaphysische Normativismus und in gewisser Weise auch der Wertempirismus annehmen), sondern vielmehr die Willentlichkeit des Sich-in-der-Welt-Befindens.

3. D i e B e g r ü n d u n g

der

Werte

Übernahme der für den Wert „Wissenschaft" gewonnenen Begriffe in die allgemeine Wertlehre Die anhand des speziellen Fremdwertes Wissenschaft erarbeiteten Kriterien haben über den engen Bereich der Wissenschaftstheorie hinaus für eine Wertlehre allgemein Gültigkeit. So bemißt sich z. B. der „Integrationsgrad" eines Wertes danach, wie groß die Mannigfaltigkeit an Willenszielen (Wertgegenständen) ist, die von dem Wert unter einheitlichen Prinzipien erfaßt werden 54 . (Den höchsten Integrationsgrad für verbindliche Werte hätte demnach in unserem System die Kategorisierung in „Eigen-" und „Fremdwerte".) Sofern sie Ansprüche auf Realgeltung erheben, unterliegen Werte tautologisch dem. Kriterium der Realisation; der „Realisationsgrad" (d. h. die Angabe, wieweit der in Frage stehende Wert als „realer" Wert gelten kann) bezeichnet einmal einer Theorie, die von der eigenen abweicht, ergeben, wegzuexperimentieren, indem m a n in einem „Wiederholungsexperiment" v o m Kontrahenten nicht berücksichtigte „Störvariablen" so lange systematisch variiert, bis v o m ursprünglichen Effekt nichts mehr übrig bleibt. 2 w a r belebt dieses gängige Verfahren die sonst wohl zu trockene Atmosphäre der Wissenschaft und kann von den Beteiligten nach Belieben fortgeführt werden, wodurch sich die Anzahl der Publikationen der betreffenden Forscher beträchtlich erhöht, es hat nur den Nachteil, daß es nicht nur unökonomisch ist, sondern auch den Wissenschaftsbetrieb aufhält. M

B*

W i r halten uns mit Absicht eng an die HoLZKAMPsche Diktion, um die allgemeine Brauchbarkeit der bisher nur im Rahmen der Wissenschaftstheorie verwendeten B e griffe für unsere Wertlehre klarer herauszustellen.

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als notwendige Voraussetzung das Maß der Operationalisierbarkeit des Wertes durch die aus ihm herzuleitenden Wertgegenstände, zum anderen das Ausmaß, in dem die angezielten Güter empirisch vorfindbar oder herstellbar sind. In bezug auf einen je speziellen Urteilsgegenstand, der mit dem Anspruch auftritt, als auf einen bestimmten Wert bezogenes „ G u t " zu gelten, erhebt sich stets auch die Frage der „Repräsentanz", d. h. die Frage danach, wieweit der aufgesuchte oder hergestellte Urteilsgegenstand dem im Wert angezielten „reinen Fall" angenähert ist. Lassen mißglückte Versuche, einen in Frage stehenden Wert in einem speziellen Wertgegenstand zu verwirklichen, sich auf das Vorhandensein materialer Widerstände zurückführen (störende Bedingungen), die prinzipiell überwindbar sind, so besteht nach den im vorigen Kapitel angegebenen Kriterien die Möglichkeit der „Exhaustion" der Realgeltung des jeweiligen Wertes. Die Feststellung, daß der Fremdwert Wissenschaft seinen eigentlichen Gegenstand nicht etwa in hergestellten oder aufgesuchten realen Bedingungen und den daraus folgenden Beziehungen hat, sondern in Einzelaussagen über reale Verhältnisse, kann jedoch nicht für alle Werte übernommen werden. Wertgegenstände sind vielmehr in den meisten Fällen reale „Sachen" oder ganz allgemein „Bestandteil der Welt". Somit ergibt sich das Problem der Wirklichkeitsverankerung für Wertgegenstände im allgemeinen nicht, da sie ja als „Verwirklichung" eines Wertes notwendigerweise stets Teil der Wirklichkeit und somit Wirklichkeit selbst sind. Indem wir infolge eines Willensaktes handeln und die Widerständigkeit der Realität überwinden, verwirklichen wir per definitionem Werte. Das soll im folgenden an Beispielen klarer werden. D a der Gegenstand eines Zustandswertes z. B. in angenehmen Zuständlichkeiten liegt, verwirklichen wir einen Zustandswert immer dann, wenn wir eine angenehme Zuständlichkeit (etwa „Lust") realisieren. Das „wirkliche" oder „wahre" Sosein einer Zuständlichkeit kann auf Grund ihrer Eigenart als Erlebnis, das man entweder „hat" oder „nicht hat", für mich niemals zum sinnvollen Gegenstand einer Frage werden. Ähnlich verhält es sich mit den Soseinslagen meiner Person; auch diese sind ja stets „Phänomen" und beziehen sich nicht etwa auf eine „Sache selbst". Schließlich sind die Gegenstände eines Fremdwertwollens auch stets die „Sache selbst" und nicht etwas, das sich auf eine "Sache selbst" bezieht. Dabei ist jedoch die Annahme, daß man „Sachen selbst" durch Handlung beeinflussen und/oder verändern kann, eine notwendige Voraussetzung, um ein Tun als sinnvoll bezeichnen zu können. (Schließlich wird bei einem Experiment, das ja „reale" Bedingungen herstellen soll, auch von der Voraussetzung ausgegangen, daß dies überhaupt möglich ist.) Allerdings ist die Gültigkeit oder „Wahrheit" eines auf eine jetzt und hier vorliegende Verwirklichung eines Wertes zielenden WertUrteils 132

ebenso problematisch wie die Gültigkeit oder „Wahrheit" von Jetztund-Hier-Aussagen überhaupt. Der „Wille zum Wollen" als formale Grundlage aller Werte Da somit die Frage nach der Seinsverankerung der Wertgegenstände sich im allgemeinen als irrelevant erweist, da Wertgegenstände immer Seiendes in irgendeiner Form sind, verbleibt nur noch die Frage nach der Begründung der Werte als solcher. Das Problem kann einmal systemimmanent (Begründung durch systembedingte Notwendigkeit), zum anderen jedoch unter genetisch-psychologischem Aspekt (Begründung durch historische Notwendigkeit) angegangen werden. Im Gegensatz zur Wissenschaftstheorie ist für eine psychologisch ausgerichtete Wertlehre nicht nur die systembedingte Notwendigkeit der Wertbegründung relevant, sondern in gleichem Maße auch die historische Notwendigkeit, d. h. wir werden auch zu klären haben, wie das wollende Subjekt zu seinen Werten kommt. Der Wert Wissenschaft ist, wie wir gesehen haben, systembedingt notwendig durch das Wollen von Wissenschaft begründet, der Wert Kunst durch das Wollen von Kunst usw. So ist jeder Wert systemimmanent letztlich dadurdi begründet, daß seine Verwirklichung Gegenstand des Wollens ist. Haben wir nun in diesem Wollen den eigentlichen Grund der Werte erkannt, oder läßt sich das Wollen von Werten noch auf ein Allgemeineres zurückführen? Wir meinen ja. Die Tatsache des Wollens ist nämlich selbst Gegenstand des allgemeinsten Wollens überhaupt, des „Willens". Wir wollen diesem Problem unsere nächsten Uberlegungen widmen. Die Tatsache der menschlichen Willentlichkeit ist ein in der Psychologie nicht weiter rückführbares Phänomen; Willentlichkeit ist die Voraussetzung eines jeden Wollens und kann als Voraussetzung nicht selbst Gegenstand des Wollens sein. Kraft der mir gegebenen Willentlichkeit ist jedodi eine Entscheidung darüber möglich, ob ich die aus meiner Willentlichkeit erwachsenden Konsequenzen auf mich nehmen will, d. h., ob ich in meinem Wollen einen Wert oder einen Unwert sehe; ich kann also sowohl mein Wollen als auch mein Nichtwollen wollen (das endgültige Nichtwollen ist z. B. das höchste Willensziel des Buddhismus, setzt aber — wie jedes Willensziel — zunächst Willentlichkeit voraus). Aus dieser Bestimmung ergibt sich als logische Folge, daß ich Werte nur dann setzen kann, wenn ich mein Wollen positiv will; die formale Grundlage eines jeden Wertes ist demnach der Wille zum Wollen. Im rein formalen Bereich nun wäre man berechtigt, die Frage nach der Determiniertheit oder Determinierbarkeit des Willens zum Wollen (denn 1

53

allein hierin sehen wir das Problem der Willensfreiheit) aufzuwerfen, die — wie wir eingangs eingestehen mußten — außerhalb des psychologischen Geltungsbereichs abgehandelt werden muß, denn in der Psychologie ist etwas so Allgemeines wie der „Wille" nie direkt, sondern nur auf dem Umwege über einzelne Willensakte und -regungen erfaßbar. Aber auch formal entzieht sich der Wille zum Wollen, den wir im Anschluß an die Überlegungen von D I N G L E R (1926) als notwendige formale Voraussetzung eines jeden Wollens und Handelns erkannt haben, dem Versuch einer kausalen Bestimmung. Da er nämlich pragmatisch sowohl dem Willen zur Eindeutigkeit als auch dem, für jeden Sachverhalt einen zureichenden Grund zu erstellen (i. e., jeden Sachverhalt kausal zu hinterfragen), vorgeordnet ist, würden wir in einen „pragmatischen Zirkel" ( D I N G L E R ) geraten, wenn wir versuchten, den Willen zum Wollen bedingungsanalytisch zu hinterfragen. D I N G L E R selbst scheint schon beim „Willen zur Eindeutigkeit" diese Gefahr nicht gesehen zu haben, wenn er schreibt: „Aus unserem Willen heraus nach einfachster rationaler Beherrschung der Realität stellen wir die reine Synthese auf. Dieser Wille ist völlig frei, wie wir gelegentlich unserer Betrachtung des Willens sahen, in dem Moment, wo ich ihn fasse und gemäß seinen Befehlen handle. In der Vergangenheit und etwa an einem Nebenmenschen mit der Absicht rationaler Erklärung betrachtet, wird dieser bei mir selbst als letzte und unmittelbarste Realität erlebte Wille zu einem gegebenen Geschehen meiner von mir unabhängigen Gesamtwelt und wird als solches Objekt meiner rationalen Konstruktion, im systematischen Falle also der reinen Synthese. Dort also werde ich diesen Willen als eine Erscheinung zu behandeln haben, die dem physiologisch-biologischen Geschehensteile angehört und durch die Mittel dieser Wissenschaften erklärt werden muß. Er wird dort eben diejenige Erklärung erhalten, die sich in dem Worte Artdauererhaltungstrieb ausspricht. Wenn ich ihn selbst dagegen als letzte Realität, als reinen Willen erlebe, hat er natürlich keinerlei seine A r t oder Herkunft charakterisierende Färbung, kann solche als reiner Wille gar nicht haben — was natürlich nicht ausschließt, daß ich mir nebenbei bewußt werde, daß, wenn ich diesen Willen kausal in meine Weltkonstruktion einordnen wollte, ich ihn auch dem Artdauererhaltungstriebe ein- und zurechnen müßte" (1926, S. 377 f.). Z u dieser in sich widersprüchlichen Auffassung (etwas kann nicht nach Belieben erklärbar oder nicht erklärbar sein, es sei denn, es sei nicht mit sich identisch) kommt D I N G L E R u. E., weil er ein unhinterfragtes Phänomen aus dem Bereich der „vorwissenschaftlichen Psychologie von mir" auf Grund seiner Eigenart als Phänomen zum Grundstein seiner Wissenschaftstheorie macht55. Das heißt aber, daß schließlich alles im Erlebnis der Freiheit be55

In einer späteren Schrift („Metaphysik als Wissenschaft v o m L e t z t e n " , München 1929) nähert sich DINGLER allerdings der v o n uns vertretenen A u f f a s s u n g , indem er

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gründet sein soll. Anders bei KANT: Er „rettet" die Freiheit des reinen Willens, der ihm gleichbedeutend ist mit praktischer Vernunft, indem er ihn nicht dem Bereich der Erscheinungen zuordnet, sondern ihn zum „Ding an sich" erklärt (KANT 1818, S. 8IFT., 163 ff.). Die Kategorie der Kausalität soll aber nur in bezug auf „Phänomene" Anwendung finden. Damit ist die Annahme eines „freien Willens" weder verifizierbar noch falsifizierbar. weder evident noch absurd — vielmehr erscheint uns nach den vorangegangenen Überlegungen, die uns über die Unentscheidbarkeit des Problems belehrt haben, die Frage nach der „Freiheit" oder „Unfreiheit" des Willens selbst sinnlos. Jeder Versuch einer Antwort muß notwendig entweder zu Antinomien, d. h. zu Widersprüchen, oder unendlichen Regressen führen oder von Antinomien ausgehen; z. B., wenn man behaupten wollte, die Tatsache, daß man die Freiheit des Willens wollen kann, sei ein Beweis für die tatsächliche Freiheit des Willens, oder aber wie CAMUS im „Mythos von Sisyphos" (1966) den Ausgangspunkt der Freiheit im Erlebnis der Absurdität der Freiheit findet. Wie immer man sich wendet, Begriff und Phänomen der Willentlichkeit bleiben letztlich unhinterfragbar; und auch in die „Erschaubarkeit" der Freiheit, die uns vielleicht die Phänomenologen (aber auch DINGLER) anbieten könnten, dürfen wir kein großes Vertrauen setzen, denn die „unmittelbare Anschauung" war von uns ja kritisiert worden, als wir den metaphysischen Normativismus abhandelten. So müssen wir denn zugeben, daß wir zu diesem Problem nichts aussagen können. Psychologisch relevant und hinterfragbar sind nichtsdestoweniger die einzelnen Willensakte und -regungen. Damit ist aber das Wollen nicht mehr frei, denn formal ist es einmal notwendigerweise durch den Willen zum Wollen begründet, zum anderen dadurch, daß es auf Grund seiner begrifflichen Implikationen niemals ungerichtet sein kann; ein Wollen ohne Ziel stünde in Widerspruch zu unserer Definition. D a Wollen also stets mit einem inhaltlich festgelegten Ziel gekoppelt und als individuelles Wollen stets nur an seinem Ziel erkenntlich ist, muß ihm auch die inhaltliche Unbestimmtheit abgesprochen werden. Ferner ist das Wollen insofern nicht mehr frei, als es sich in der Verwirklichung seines Zieles selbst aufhebt (vgl. S. 2$) und somit formal und inhaltlich letztlich auf Selbstaufhebung festgelegt ist. Diese Bestimmungen treffen jedoch für den Willen zum Wollen keineswegs zu. Da es sein Ziel ist, daß stets gewollt wird, kann er sich niemals selbst aufheben. Er kann nur aufgehoben werden, wenn ich kraft meiner Willentlichkeit den Willen zum Nichtwollen dagegensetze. Indem sich das Subjekt auf Grund seiner Willentlichkeit für den Willen zum Wollen entscheidet, begibt es sich einer möglichen Freiheit den sogenannten „Voreindeutigkeitsstandpunkt" einführt. D a ß er dabei jedodi weiter von „Freiheit" spricht, halten wir für inkonsequent.

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und erkennt die daraus herleitbaren Konsequenzen als gültig an, es stellt sich vor allem der Forderung des „ Stets-wollen-Müssens". Diese Forderung erwächst ihm jedoch nicht von „außen", sondern ist notwendige Folge seiner Willentlichkeit, diese aber ist losgelöst von einem Subjekt nicht denkbar, eine „Willentlichkeit an sich" ist unsinnig. Die Gesetzmäßigkeiten des Wollens liegen daher ausschließlich in der Willentlichkeit des wollenden Subjekts selbst begründet.

Freiheitsbewußtsein

und „existentielle"

Angst

Demnach können Werte für uns keine von außerhalb unserer Willentlichkeit gesetzten „Ideale" sein, denen wir quasi „ausgeliefert" sind und die uns als Normen ein bestimmtes Sollsein abfordern, aber auch nicht ein in empirischen Gegenständen — unabhängig von uns bestehendes — Vorgefundenes, sondern sie sind stets ein Gegenstand und Ziel je meines Wollens, das seinen letzten Grund in meiner Willentlichkeit hat. Keine Ziele, Zwecke und Werte gelten uns daher außer denen, die positiver Gegenstand unseres Wollens sind. Sofern das wollende Ich diese Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit erkennt, wird das Bewußtsein der Freiheit möglich, d. h., innerhalb einer „vorwissenschaftlichen Psychologie von mir" vertritt das betreffende Individuum die Hypothese der eigenen Freiheit, vor allem der eigenen Willensfreiheit (ohne daß damit freilich etwas über die objektive Gültigkeit der Annahme einer Willensfreiheit ausgesagt wäre). Die plötzliche oder allmähliche Uberzeugung des „bewußten Menschen" ( C A M U S ) , in keiner Weise festgelegt oder determiniert zu sein, ist eines der Hauptprobleme der Existenzphilosophie; vor allem für K I E R K E G A A R D (1923) und H E I D E G G E R (1929, 1 9 3 1 ) ist das Erlebnis der Freiheit des Nur-sich-selbst-Ausgeliefertseins, die „Befindlichkeit vor dem 'Nichts'" der entscheidende Augenblick im Selbstverständnis des Individuums und im Verständnis der „Welt" durch das Individuum: Es ist der Augenblick der existentiellen Angst. Wie ist diese nun zu kennzeichnen? Ihr entscheidendes phänomenales Charakteristikum besteht darin, daß sie irrational ist, „daß sie sich durch alle vernünftigen Überlegungen nicht wegdisputieren läßt. Sie bleibt mit unwiderstehlicher Hartnäckigkeit bestehen und bleibt als körperliches Gefühl der Beklemmung selbst dann noch spürbar, wenn man sich in gesteigerter Geschäftigkeit bemüht, sie zu vergessen. Aber diese Grundlosigkeit und Unbestimmtheit im Gegenstand, die man zunächst gegen die Angst auszuspielen versucht sein könnte, muß man als zu ihrem tieferen Wesen gehörig begreifen" ( B O L L N O W 1 9 5 J , S . 66 f . ) . 136

Sieht man von der Angst als ontischer Kategorie ab, als die sie in der Existenzphilosophie ihre besondere Bedeutung gewinnt, so stellt sich die Frage, ob denn nicht wenigstens eine „Einkreisung" des Phänomens versucht werden kann, wenn auch eine genaue Lokalisation seiner Ursache per definitionem nicht möglich ist. Zunächst einmal ist die existentielle Angst gegen die Resignation des Skeptizismus und Relativismus abzugrenzen, die aus der Erkenntnis erwächst, daß es keine „Objektivität" gebe und daß die logisdien Apriori ebensowenig im Sein verankert seien wie jede beliebige Jetzt-und-HierAussage. Der „Voluntarismus" (DINGLER) überwindet den Relativismus dadurch, daß er die Frage nach der „Objektivität" überhaupt nicht stellt und die Gültigkeit der Apriori mit Rekurs auf ein Wollen von Geltung festsetzt. Dadurch ist er jedoch nicht mehr kontemplativ erklärend, sondern konstruktiv ( H O L Z K A M P bezeichnet deshalb auch die von D I N G L E R , MAY und ihm vertretene Wissenschaftstheorie als „Konstruktivismus"). Das konstruktive Vorgehen leitet seine Berechtigung aus dem Bewußtsein der freien Entscheidbarkeit (d. h. einem freien „Willen zum Wollen") ab, nichts hat mehr Geltung, dessen Geltung nicht gewollt ist. Die existentielle Angst kann also nur auftreten, wenn die Resignation anläßlich der Erkenntnis der Unmöglichkeit einer Objektivität überwunden und der Ahnung oder dem Bewußtsein der Freiheit gewichen ist. Angst als „Schwindel der Freiheit" (KIERKEGAARD) wäre zugleich Befindlichkeit und Zuständlidikeit, d. h. sowohl kognitiv als auch emotional. Das Individuum sieht sich in der Situation des Nicht-festgelegtSeins, der Freiheit schlechthin, eben in der Situation, die für uns durch den inhaltlich nicht determinierten Willen zum Wollen gekennzeichnet ist. Wenn das Individuum jedoch nicht festgelegt ist, so verantwortet es seine Absichten und Handlungen vor niemandem außer sich selbst, es ist stets sein eigener Richter. „Das unangenehme, schwere, nagende Gefühl der Verantwortung", das für M A K A R E N K O „seiner Natur nach unvernünftig" ist (1963, S. Ji6), kann sicherlich als ein weiterer Aspekt der existentiellen Angst angesehen werden; das Individuum erlebt sich in letzter Konsequenz selbst als Bedrohung. Nun ist aber das wollende Individuum nur bedingt dieser Bedrohung „ausgeliefert"; da sie nämlich eine mögliche Folge der Willentlichkeit ist, kann sie durch eben diese wieder überwunden werden. Denn es kann ja letztlich keine Verantwortung als die vor sich selbst und den Instanzen geben, die man kraft seiner Willentlichkeit selbst setzt. Das bedeutet aber wiederum, daß ich, wenn ich diese Verantwortung nicht tragen will, sie jederzeit auf Widerruf einem anderen oder mehreren anderen übertragen kann, ich mir also nicht mein eigenes Wollen, sondern das eines oder mehrerer anderen zum Wert setze. Schließlich bleibt mir als letzter Weg,

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wenn ich auf Grund meiner Freiheit, zu wollen, diese Freiheit nicht mehr will, immer noch die Möglichkeit, meiner eigenen Existenz ein Ende zu setzen und midi damit unwiderruflich der Freiheit zu begeben, denn was nicht ist, kann auch nicht frei sein.

Das Wollen und das

„Nichts"

Ist „Angst als Schwindel der Freiheit" ( K I E R K E G A A R D ) letztlich nur dadurch überwindbar, daß ich midi kraft der Willentlichkeit der Freiheit begebe, bleibt noch die Frage nach der „Angst als Grundbefindlichkeit vor dem Nichts" ( H E I D E G G E R ) . Wir haben im Laufe unserer Untersuchung das Wollen als die Instanz erkannt, die die Werte setzt. Mit dieser formalen Festlegung ist aber noch nicht mitgegeben, was als Wert gesetzt wird und wo die betreffenden Wertgegenstände zu lokalisieren sind. Indem wir die möglichen Gegenstandsbereiche der Werte in die Kategorien der Zustands-, Person- und Fremdwerte einteilten, schlössen wir explizit die Möglichkeit aus, daß das Subjekt als wollendes jemals dem „Nichts" oder nur sich selbst gegenübersteht, vielmehr ist das menschliche Dasein nur als „Befindlichkeit" in einer „Welt" i. w. S. denkbar, so daß das Wollen niemals genötigt ist, aus dem „Nichts" heraus in das „Nichts" hinein Ziele zu setzen. Das Wollen kann also nicht aus sich selbst Werte schaffen. Es werden nämlich dem Wollen stets von außerhalb seines eigenen Bereiches Gegenstände „angeboten", sei es, daß es sich auf Erlebnisse oder Vorstellungen, sei es, daß es sich auf Denkinhalte oder ganz allgemein auf „Welt" richte; innerhalb des ihm von „außen" Angebotenen vermag das Wollen jedoch zu wählen. Von daher gesehen ist „Angst als Grundbefindlichkeit vor dem Nichts" psychologisch nicht begründbar, zumal die H E i D E G G E R S c h e Annahme, daß das Nichts das Sein transzendiere, sich jeder empirischen Prüfbarkeit entzieht. Diese Form der Angst muß also — dort, wo sie auftritt — als Urphänomen angesehen werden. Damit ist das Wollen jedoch in Auftreten und Auswirkung begrenzt. Einmal kann es seine Ziele nicht selbst verwirklichen, da in der Willentlichkeit solches nicht mitgegeben ist, sondern muß Verhalten in seinen Dienst zwingen; zum anderen ist es auf „Zubringerdienste" anderer kognitiver Abläufe oder auf das Auftreten von Zuständlichkeiten notwendig angewiesen. Wollen setzt also nicht nur Existenz von „Welt", sondern auch Gegebenheit von „Welt" voraus. Hiermit widersprechen wir nun aber keineswegs unserer Grundannahme, daß Wollen sich auf primär Nichtseiendes richte; denn das Wollen von Zustandswerten richtet sich ja niemals auf eine eben jetzt realisierte Zuständlichkeit (was sinnlos wäre), sondern etwa darauf, daß diese Zuständlichkeit beibe138

halten oder daß an ihrer Stelle eine andere realisiert werde. In bezug auf „Welt" richtet sich Wollen niemals auf „Welt jetzt und hier", sondern stets auf „Welt" als in eben diesem Zustand beizubehaltende, oder aber zu verändernde. Schließlich setzt das Wollen des Beharrens in einer bestimmten Soseinslage der Person das Vorhandensein eben dieser Soseinslage voraus, auch eine veränderte Soseinslage ist stets nur aus der Befindlichkeit in einer Soseinslage überhaupt anstrebbar. Ähnlich können Vorstellungen von Vergangenem oder Zukünftigem, aber auch Denkprozesse dem Wollen ein inhaltliches Ziel geben. Zwar ist der im Prozeß der „Kreativität" vom schöpferischen Individuum selbständig gesetzte und schließlich verwirklichte Wert stets gewollt, aber seine inhaltliche Fixierung geschieht unabhängig vom Wollen, das lediglich über die „Existenzwürdigkeit" der inhaltlichen Fixierung entscheidet. Von daher kann „Angst als Erfahrung des Nichts" niemals Ursache für den kreativen Akt sein, da sich das Subjekt in seiner Weltgegebenheit niemals dem „Nichts" gegenübersieht; vertretbar wäre lediglich eine „Furcht vor dem Nichts" (vgl. etwa H U L B E C K 1953), die sich dann einstellt, wenn spezielles Wollen sich in der Verwirklichung seiner Ziele selbst aufhebt und nur der allgemeine Wille zum Wollen verbleibt, der den Unwert der NichtVerwirklichung seines Gegenstandes (das ständige Wollen) antizipiert. Diese „Furcht vor dem Nichts" ist lediglich durch ein neues Wollen zu überwinden, das sich seine Ziele aus der Kreativität des Individuums herleitet, oder aber sie von Instanzen außerhalb des Individuums (z. B. gesellschaftlichen oder kulturellen Normen und Idealvorstellungen) übernimmt. Die Verknüpfung von mittelbaren und unmittelbaren durch Lernen

Werten

Die Frage, in wie starkem Maße die für ein Individuum je aktuellen Wertsysteme als Folge von Lernprozessen während des Sozialisierungsvorganges anzusehen sind, muß für eine psychologische Wertlehre von entscheidender Bedeutung sein. Hierbei wird es im Rahmen unserer Untersuchung nicht so sehr auf die Darstellung je spezieller Lerntheorien ankommen, sondern wir werden unser Augenmerk darauf zu richten haben, wie sich die Möglichkeit des Erwerbs von Werten durch Lernen innerhalb unseres Systems erklären läßt. Wir müssen dazu einige grundsätzliche Überlegungen voranstellen, die uns das begriffliche Rüstzeug für die Erfassung je spezieller Aspekte des Lernens von Werten liefern sollen. Jeder Wert hat, so nahmen wir an, seinen letzten Grund im Willen zum Wollen, der selbst nicht weiter rückführbar ist, also auch nicht z

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gelernt sein kann. Die Gegenstände, so haben wir weiter gesehen, kann sich das Wollen nicht selbst schaffen, sondern es ist stets auf Gegebenheit von „ W e l t " i. w. S. angewiesen. Notwendige Voraussetzung für den Erwerb von Werten ist daher auf der einen Seite ein willentliches Subjekt, auf der anderen „Welt" i. w. S.; diese Voraussetzung ist jedoch nicht hinreichend, denn aus ihr ist keineswegs herzuleiten, wie sich aus der bloßen Gegenüberstellung von willentlichem Subjekt und „Welt" 1. w. S. ein spezielles Wollen von je speziellen Gegenständen ergibt. Man muß also, will man überhaupt weiterkommen, annehmen, daß zumindest eine Verknüpfung von Wollen und Gegenstand von vornherein vorliegt, wobei eine Entscheidung, ob es sich hier um eine „angelegte" oder „produktiv geschaffene" Verknüpfung handelt, innerhalb der Psychologie prinzipiell nicht möglich ist. (Hier würden wir auch den Einwand nicht gelten lassen, die Tatsache, daß die meisten Menschen unmittelbar nach der Verwirklichung von Zustandswerten streben, sei ein hinreichender Beleg, daß dieses Streben „angelegt" sei; mit dem gleichen Recht könnte man nämlich behaupten, diese Tatsache sei darauf zurückzuführen, daß alle Menschen in der gleichen Richtung „kreativ" seien.) D a die Annahme einer solchen primären Verknüpfung sich zwar als notwendig erweist, sich aber vorläufig inhaltlich nicht hinreichend begründen läßt, ist die Festlegung auf eine bestimmte Art von Verknüpfung zunächst prinzipiell beliebig. N u r wenn es möglich wäre, einen der drei potentiellen Wertbereiche (Zuständigkeiten, Person, Fremdes) als vor den beiden anderen ausgezeichnet herauszustellen, indem man etwa nachweist, daß er dem Subjekt früher als die beiden anderen zugänglich ist, wäre der Beliebigkeitsanspruch bezüglich der inhaltlichen Festlegung der Verknüpfung zurückzuweisen. Ist die Annahme einer primären (nicht gelernten) Strebung gesichert, kann versucht werden, sämtliche anderen Willensziele als sekundär auf das ursprüngliche Willensziel zurückzuführen, indem man sie als im Laufe der Versuche, den primären Wert zu verwirklichen, „erworben" ausweist. Diese sekundären Willensziele sind gemäß unserer Terminologie mittelbare Werte, sie können auf zweifache Weise im unmittelbaren Wert verankert sein: i. Sie sind Strahlwerte (im Sinne von STERN) und leiten ihren Wertcharakter aus der Kontiguität (raumzeitlidie Nähe) mit der Verwirklichung des primären Wertes her. Dieses Prinzip wird vor allen Dingen in den effektorientierten Lerntheorien unter der Bezeichnung „sekundäres Reinforcement" zur Interpretation v o n V e r h a l t e n h e r a n g e z o g e n ( z . B . MILLER & D O L L A R D , H U L L , SKINNER).

2. Sie sind logisch im unmittelbaren Wert verankert, d.h. sie werden durch die analytische Auffächerung des unmittelbaren Wertes erhellt. D a die zweite Form der Verankerung keinen „Erwerb" im eigentlichen Sinne darstellt — denn die durch analytisch-logische Operationen ge140

wonnenen Werte führen im Grunde nicht über den primären Wert hinaus — , erweist sie sich für das Problem der Übernahme von Werten durch Lernen nur in Sonderfällen des „indirekten" Lernens als relevant (vgl. S. 142). Es verbleiben also — sofern man von der prinzipiellen Möglichkeit einer kreativen Neuschaffung von Werten absieht, die trotz der Erkenntnisse der neueren Kreativitätsforschung (vgl. das Sammelreferat von ULMANN 1968) immer noch einen Hauch des Unbestimmbaren hat — für die nähere Betrachtung die Strahlwerte. Ist ein Strahlwert einmal hinreichend in einem unmittelbaren Wert verankert, so ist es prinzipiell möglich, neue Strahlwerte von ihm abhängig zu machen (Prinzip des tertiären usw. Reinforcement) und verzweigte Wertsysteme aufzubauen. Ein solches System muß aber in dem Augenblick zusammenbrechen, in dem die ursprüngliche Verknüpfung von durch das Wollen bedingtem Verhalten und Verwirklichung des primären Wertes nicht mehr gegeben ist (Extinktion). Ebenso verliert das Wertsystem, das sich aus Strahlwerten zusammensetzt, seine Berechtigung, wenn das ursprüngliche Streben nicht mehr vorhanden ist. Hier liegt aber eine entscheidende Schwäche der effekttheoretischen Lerntheorien, die mit der Annahme mittelbarer Verstärkung arbeiten, da aus dem Prinzip des sekundären, tertiären usw. Reinforcement nicht herzuleiten ist, wie diese ursprünglich mittelbaren Verstärker losgelöst von ihrem Ankerwert effektiv sein können, wenn das primäre Wollen mit seiner primären Verknüpfung nicht mehr als effektiv nachgewiesen werden kann. Eine besondere Form von Strahlwert liegt vor, wenn der jeweilige Wertgegenstand seinen Wertcharakter aus mehr oder weniger starker Ähnlichkeit mit einem Gegenstand des primären Wollens herleitet („Stimulus-Generalisation"), hier entspringt die Auszeichnung einer mangelhaften Unterscheidbarkeit zwischen „echtem" und „unechtem" Wertgegenstand. Ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte Situation kann jedoch auch dann mittelbar wertbesetzt werden, wenn das in Frage stehende Subjekt nicht selbst agiert, sondern das Verhalten anderer Individuen als wertverwirklichend 56 kogniziert. Dieses stellvertretende oder „vicarious reinforcement" hat nach Ansicht von HILL (i960) in den Lerntheorien nidit die entscheidende Bedeutung, welche die Begriffe des primären und sekundären Reinforcement auszeichnet. Er räumt jedoch ein, daß „some such process appears necessary in order to explain some important human learning. Vicarious reinforcement involves the gene66

A u f dem gleichen Wege können natürlich auch negative Willensziele gelernt werden. Damit wirkt nicht nur Erfolgsverhalten von anderen als positives, sondern entsprechend auch Mißerfolgsverhalten als negatives „vicarious reinforcement". 141

ralization of reinforcing effects from others to oneself, hence learning from the reinforcers which others receive" ( H I L L i960, S . 321). Experimentelle Befunde unterstützen die Annahme dieses stellvertretenden Lernens (etwa L E W I S & D U N C A N 1958, D A R B Y SC R I O P E L L E 1959 und besonders die Untersuchungen von B E R G E R 1961, 1962). Formal handelt es sich bei den durch „vicarious reinforcement" erworbenen Werten nicht um Strahlwerte, sondern, da ihre Übernahme funktional stets „logische Verarbeitung" (im Sinne von D I N G L E R ) voraussetzt (seien es Analogieschlußprozesse oder andere logische Operationen), um logisch verankerte Werte. Bevor wir in der Folge exemplarisch einige theoretische Ansätze anführen, die sich mit dem Erwerb von Wertsystemen durch Lernen in irgendeiner Form befassen, wollen wir die Bedeutsamkeit eines Phänomens würdigen, das von A L L P O R T (1937) als „funktionelle Autonomie der Motive" bezeichnet worden ist.

ALLPORTS

„Prinzip

der funktionellen

Autonomie der

Motive"

A L L P O R T weist darauf hin, daß erworbene Motive auch dann noch wirksam sind, wenn die eigentlich treibende Ursache, in der der Erwerb dieser sekundären Strebung verankert war, längst nicht mehr wirkt. „Gehen wir aus von naheliegenden Tatsachen: Ein alter Seemann hat ein Bedürfnis nach der S e e . . . Nun, der Seemann kann seine Liebe zur See zufällig bekommen haben, als er Geld verdienen mußte; die See war nur ein bedingter Reiz, der mit der Befriedigung des ,Nahrungsbedürfnisses' verbunden war. Aber jetzt ist der alte Seemann vielleicht ein wohlhabender Bankier; das ursprüngliche Motiv ist fortgefallen; trotzdem existiert der Hunger nach der See ungemildert, ja, er nimmt an Intensität zu, je mehr er sich von dem ,Segment der Ernährung' entfernt" ( A L L P O R T 1949, S. 196). Aus den Beispielen, die A L L P O R T programmatisch zu einem „Beweis" der funktionellen Autonomie zusammenstellt, wird klar, daß in den klassischen Effekttheorien des Lernens eine notwendige Unterscheidung zwischen primärem Streben als „Ursache" und primärem Streben als „Anlaß" für neues („erworbenes") Streben nicht getroffen wurde 57 . Ungeprüfte Voraussetzung ist, daß die neu entstandene Verknüpfung zwischen „primärem" und „sekundärem" Streben eine rein mechanische durch Kontiguität verursachte sei, in der die „primäre" Strebung als notwendige und hinreichende Bedingung für den Erwerb der „sekundären" Strebung gilt. Die Möglichkeit, daß diese 57

Vgl. die Kritik an ALLPORTS „Prinzip der funktionellen Autonomie" bei MILLER & DOLLARD (1941).

142

angeblich „sekundäre" Strebung anläßlich des Versuchs der Verwirklichung eines unmittelbaren Wertes ebenfalls als unmittelbares Wollen auftreten kann und somit eigentlich „primär" ist, wurde überhaupt nicht zugelassen. Wir wollen diesen Gedankengang etwas klarer ausführen. Wenn wir davon ausgehen, daß unmittelbares Wollen sich nur auf Gegenstände richten kann, die ihm unmittelbar angeboten werden, so folgt daraus, daß unmittelbares Streben als aus dem unmittelbaren Willensakt folgend nur auf die Verwirklichung unmittelbarer Werte und nichts sonst gerichtet sein kann. Nun ist es durchaus denkbar, daß auf dem Wege zur Wertverwirklichung neue Gegenstände und mögliche Ziele das Interesse des wollenden Subjekts wecken, da sich das Subjekt auf dem Wege zum Willensziel neuen und anderen Aspekten der „Welt" gegenübersieht. Richtet sich nun das Wollen direkt auf diese neuen Gegenstände, so tut es das unabhängig vom primären Willensziel, das neue Wollen ist also ein unmittelbares. In diesem Falle wäre das primäre Reinforcement als Anlaß zwar eine hinreichende, aber keine notwendige Bedingung für das Auftreten einer neuen Strebung, die einen eigenen Wert verwirklicht. Anders beim primären Reinforcement als Ursache: Hier löst sich das Wollen niemals von seinem ursprünglichen Gegenstand, die sekundäre Strebung kann daher nicht unabhängig von der primären auftreten. Im letzten Fall kann die neue Strebung als Repräsentant eines echten Strahlwertes extingiert werden, wenn die Verwirklichung des primären Willenszieles in Frage gestellt ist. Der unmittelbare Wert ist hier notwendige und hinreichende Bedingung für den mittelbaren. Im ersten Fall hat die Vereitelung des ursprünglichen Willenszieles keinen Einfluß auf das Anstreben der Verwirklichung des neuerworbenen Wertes, da dieser selbst ein unmittelbarer ist. D a ß das Prinzip der „funktionellen Autonomie der Motive" unabhängig von Resistenz gegen Extinktion 58 operationalisiert werden kann, soll weiter unten aufgezeigt werden; ein näheres Eingehen an dieser Stelle würde die Zielsetzung dieses Kapitels überschreiten. Wir werden jedoch nachweisen, daß sich ein weiteres Kriterium durchaus aufstellen und experimentell prüfen läßt. Abschließend läßt sich sagen, daß das Prinzip der funktionellen Autonomie, wie wir es verstehen, immer dort fruchtbar angewandt werden kann, wo sich eine aktuelle Strebung als wertverwirklichendes Verhalten nicht auf einen anderen Wert als notwendige und hinreichende Bedingung gründen läßt (d. h. besonders dort, w o die beiden als voneinander unabhängig zu kennzeichnenden Strebungen verschiedenen Wertbereichen zugeordnet werden). Nach ALLPORT macht dieses Erklärungsprinzip „den Weg frei für eine wirklich dyna58

Würde man allein dieses Kriterium zulassen, so sähe man sidi in den Fällen, w o man Resistenz gegen Extinktion erklären wollte, zu Zirkelargumentationen gezwungen. 143

mische Psychologie der Eigenschaften, Haltungen, Interessen und Gesinnungeny die nun als letzte und wahre Dispositionen der reifen Persönlichkeit betrachtet werden können" (1949, S. 206).

Das Problem der Reduktion auf möglichst wenige unmittelbare Werte Mit der Bestimmung, daß zumindest ein unmittelbares Willensziel unabhängig von Lernen vorliegen muß, damit das Lernen neuer Werte möglich wird, kommen wir formal wieder auf das Problem der Trieblehren zurück, ob man nur einen oder eine beliebige Anzahl von ursprünglichen Trieben annehmen müsse. Z w a r meinen wir mit unserer Wertlehre die metaphysische und erkenntnistheoretische Problematik der Trieblehren allgemein überwunden zu haben, jedoch bleibt auch für uns die Frage relevant, wie viele unmittelbare Willensziele man denn ansetzen muß, um das gesteckte Ziel der Erklärung des Soseins aktueller Wertsysteme zu erreichen. Für F R E U D ist ein je individuelles aktuelles Wertsystem letztlich auf das Streben nach sexueller Lust (wir beziehen uns hier auf F R E U D S monothematische Motivationslehre) zurückzuführen. Die ursprünglich sexuelle „Libido" kann jedoch durch eine Reihe von Prozessen „desexualisiert" werden und sich neue Ziele suchen. So kann es z. B. durch „Sublimierung", die als unmittelbare Folge einer Versagung sexueller Bedürfnisreduktion anzusehen ist, zur Setzung neuer nicht-sexueller Ziele kommen (die genetisch aber dennoch stets sexuell bedingt sind); eine Verwirklichung dieser mittelbaren Werte hat denn auch nur den Charakter von Ersatzbefriedigungen. Oder aber als weitere Möglichkeit: Das in Frage stehende Subjekt „introjiziert" im Kindesalter durch „Identifikation" mit einem Elternteil oder mit beiden Elternteilen deren schon bestehende Wertsysteme, die sowohl soziale Ziele als auch Moralbegriffe enthalten; dadurch wird das aufgebaut, was F R E U D als „Überich" bezeichnet (zum Begriff der „Sublimierung" siehe F R E U D 1967 b, zu „Identifikation" und „Introjektion" F R E U D 1967 c, f). Der Sublimierungsbegriff ist von uns schon weiter oben kritisiert worden; auch der IntrojektionsbegrifF erscheint uns auf Grund seiner geringen Spezifikation nicht recht brauchbar, zumal er das Problem des Aufbaus je individueller Wertsysteme lediglich von einer Generation auf die vorangegangene verschiebt. Bedeutsam für uns erscheint jedoch der Umstand, daß F R E U D mit seinen Annahmen eine eindeutige Kulturabhängigkeit nicht-sexueller Werte impliziert. Der Begriff der „Identifikation" wird von M I L L E R SC D O L L A R D (1941) durch „Imitation" ersetzt. Durch primäres Reinforcement erwirbt das Individuum die generalisierte Tendenz, das Verhalten anderer „nach144

zuahmen". Auf diese Weise sollen kulturabhängige Wertsysteme aufgebaut werden. C H U R C H (1957) zeigte, daß auch Ratten imitatives Verhalten hervorbringen, indem sie auf die gleichen Stimuli reagieren wie die "Leader-Ratte"; S O L O M O N SC C O L E S (1954) hingegen konnten Imitation bei Tieren nicht nachweisen. B A N D U R A &C H U S T O N (1961) greifen den Begriff der „Identifikation" wieder auf, sie sehen darin einen inzidentellen Lernvorgang. Gerade in dieser Untersuchung zeigt sich jedoch die Schwäche der Identifikations- und Imitationsannahme in ihrer allgemeinen Form; muß bei M I L L E R SC D O L L A R D „Imitation" zunächst überhaupt erst einmal auftreten, um dann durch Belohnung verstärkt zu werden, so weisen B A N D U R A SC H U S T O N nach, daß das dem eigentlichen Versuch vorangehende freundliche oder ablehnende Verhalten des Versuchsleiters einen entscheidenden Einfluß auf imitatives Verhalten der Versuchspersonen im Versuch hat, und zwar imitierten die freundlich behandelten Versuchspersonen den Versuchsleiter stärker als die ablehnend behandelten. Tritt bei M I L L E R SC D O L L A R D Imitation zunächst beliebig auf, so lassen die Ergebnisse der Untersuchung von B A N D U R A SC H U S T O N die Vermutung zu, daß Identifikation und Imitation durchaus nicht beliebig, sondern extrem selektiv sind. Wir wollen daher die empirisch zu prüfende Annahme machen, daß Imitation und Identifikation immer dort auftreten, wo das „Modell" als einen vom jeweiligen Subjekt schon als gültig gesetzten Wert verwirklichend kogniziert wird. Auf Grund dieser Annahme wären dann die Begriffe „Imitation", „Identifikation" und „vicarious reinforcement" ineinander zu überführen. Abschließend ist zu sagen, daß die Imitationshypothese bei M I L L E R SC D O L L A R D zwar von der Wirksamkeit primärer Verstärker ausgeht, ohne sich jedoch eindeutig auf eine inhaltlich begrenzte Anzahl von primären Verstärkern zu beziehen. Ähnlich sind in Theorien, die mit dem Prinzip der sekundären Verstärkung die Übernahme von Wertsystemen erklären könnten (z. B. H U L L 1 9 J 2 , S K I N N E R 1 9 5 3 ) keine definitiven Angaben darüber enthalten, wie viele unmittelbare Strebungen anzusetzen seien, die als Verankerungen sekundärer Verstärkung dienen. (Auch für S K I N N E R muß ja der Umstand, daß bestimmte „operants" häufiger als andere und bei verschiedenen Individuen unabhängig voneinander unmittelbar auftreten, durchaus problematisch werden.) Für L E W I N (1926) gibt es zwar „echte" Bedürfnisse (Triebbedürfnisse), ohne daß er jedoch eine Auskunft darüber gibt, ob Anzahl und Inhalt der „echten" Bedürfnisse definiert seien. Hinzu kommen für ihn noch die „Vornahmen" oder „Vorsätze", die unabhängig von jenen „echten" Bedürfnissen wirken können, zu denen er auch „übergreifende Willensziele" zählt. 10 Keiler, Wollen

145

MCCLELLAND (1963) sieht den Grund für Wissenschaftsmotivation (die uns hier als Beispiel für das allgemeine Wollen von Fremdwerten stehen soll) weder in einer allgemeinen Leistungsmotivation noch in einem sublimierten Sexualtrieb, sondern in Versagungserlebnissen im emotionalen Bereich überhaupt. Wissenschaftliches Streben wäre demnach für MCCLELLAND ebenso wie für FREUD das Suchen nach einer Ersatzbefriedigung.

Eigener systematischer

Ansatz

Die Uberprüfung der im Rahmen dieser Untersuchung mehr exkursorisch dargestellten Motivationslehren hat zu keinem befriedigenden Ergebnis geführt; offensichtlich ist keine Einigung darüber zu erzielen, welches Wollen man als unmittelbar und welches man als mittelbar zu klassifizieren habe, zumal die Annahme von unmittelbaren Willenszielen bezüglich Anzahl und Inhalt prinzipiell beliebig ist. Was läßt sich nun hinsiditlidi des Problems der Anzahl und des Inhaltes unmittelbarer Werte aus unserem eigenen System herleiten? a) Die Annahme der Möglichkeit von unmittelbarem Wollen ist notwendige Voraussetzung für die Einführung von mittelbarem (erworbenem) Wollen. Unmittelbares Wollen kann sich prinzipiell auf die drei Bereiche der Zustands-, Person- und Fremdwerte richten. b) Mittelbares Wollen kann einmal in Form von Strahlwerten durch Kontiguitäts- und Ähnlichkeitslernen, zum anderen durch logische Prozesse mit unmittelbarem Wollen verknüpft werden. c) Einmal als gültig gesetzte mittelbare Werte können als für andere mittelbare Werte dienen.

Ankerwerte

Unsere Wertlehre sagt also nichts darüber aus, welches Wollen inhaltlich als unmittelbares anzusetzen sei, sondern nur etwas darüber, wie unmittelbares und mittelbares Wollen miteinander verknüpft sind. An Hand dieser Verknüpfungsprinzipien ist es jedoch unter Einbeziehung der drei Kategorien der Zustands-, Person- und Fremdwerte möglich, in Frage stehende Willensziele zu klassifizieren und an Hand der aufgewiesenen Verknüpfungsprinzipien als mittelbare auf andere Willensziele zurückzuführen. Diese können nun wieder so lange auf andere als notwendige und hinreichende Bedingung anzusetzende Werte zurückgeführt werden, bis eine weitere Reduktion unter Zuhilfenahme der angegebenen Prinzipien nicht mehr möglidi ist. Das auf diese Weise durch Reduktion eruierte Wollen muß definitionsgemäß ein unmittelbares sein. Entsprechend muß ein Wollen, das in einem anderen Wollen als „Anlaß" zwar seinen hinreichenden, aber nicht seinen notwendigen Grund 146

hat, als unmittelbares Wollen bezeichnet werden. Je mehr Willensziele wir durch den Aufweis gelernter oder durch logische Prozesse bedingter Verknüpfungen als mittelbar und somit auf ein allgemeineres Wollen gegründet kennzeichnen können, um so geringer wird die Anzahl der von uns anzusetzenden unmittelbaren Willensziele und um so höher der Integrationsgrad unserer Werthierarchie. Da die Aufgabe dieser Untersuchung eine systematische ist, können wir den Anspruch zurückweisen, auf dem angegebenen Wege nun selbst inhaltlich unmittelbares Wollen fixieren zu müssen; es ist hinreichend, daß wir den Weg gewiesen haben, wie das geschehen kann. Setzen die bisher aufgestellten Motivationslehren a priori für alle Individuen mehr oder weniger verbindlich inhaltlich fixiert ein unmittelbares Strebensziel oder mehrere unmittelbare Strebensziele an, um damit das zielgerichtete Verhalten von Individuen allgemein zu erklären, so läßt unsere Wertlehre, die vom individuell auftretenden zielgerichteten Verhalten ausgeht, um es auf immer allgemeinere Willensziele zu reduzieren, die Möglichkeit zu, daß verschiedene Individuen durchaus unterschiedliche unmittelbare Willensziele haben können. Unsere Theorie ist also sowohl auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten als auch auf eine differenzielle Betrachtungsweise ausgerichtet. Außerdem läßt sie in Abweichung vom metaphysischen Normativismus und vom Wertempirismus eine Neuschaffung von Werten (besonders im Bereich der Fremdwerte) zu.

Rückblick Damit haben wir im vorliegenden Kapitel gezeigt, wie man in einer psychologisch ausgerichteten Wertlehre Werte sowohl systembedingt notwendig als auch historisch notwendig begründen kann, ohne daß man auf die empirisch nicht prüfbaren Spekulationen des metaphysischen Normativismus auf der einen und des Wertempirismus auf der anderen Seite zurückgreifen muß. Zudem glauben wir, das Problem der Freiheit der Willentlichkeit in einer dem Zweck dieser Untersuchung angemessenen Weise dargestellt und nachgewiesen zu haben: daß die Annahme eines Willens zum Wollen einmal als Implikation einer Willenslehre vertretbar ist, zum anderen dennoch (oder gerade deshalb) eine Begründung individueller Willensakte und somit die Begründung von Werten überhaupt ermöglicht wird.

10'

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D Spezielle Probleme einer psychologischen Motivationslehre i. D a s i n d i v i d u e l l e

Wertsystem

Der systematische Ort des individuellen Wertsystems — einige begriffliche Implikationen Auf der Grundlage der im vorangegangenen Kapitel erarbeiteten allgemeinen Bestimmungen kann man für ein je in Frage stehendes Subjekt formal und inhaltlich ein individuelles Wertsystem erstellen, das Vergleiche mit anderen individuellen Wertsystemen zuläßt. (Hierbei ist ein Vergleich zwischen menschlichen und tierischen Wertsystemen innerhalb unserer Wertlehre durchaus legitim.) Ein solches System ist nun aber — das dürfte aus den Überlegungen, die sich mit der methodischen Grundhaltung dieser Untersuchung befassen, klar geworden sein — niemals ein Vorgefundenes oder aus einem Vorgefundenen Abgeleitetes (wird also niemals „aufgedeckt"), sondern es handelt sich dabei um ein „hypothetical construct" (im Sinne von M C C O R Q U O D A L E & M E E H L ) , das validiert werden kann, falls es gelingt, daraus Operationen in Form von beobachtbaren Verhaltensweisen abzuleiten. Ein individuelles Wertsystem besteht — je nachdem ob es nur einen unmittelbaren oder mehrere unmittelbare Werte enthält — aus einer oder mehreren Werthierarchien, wobei der Begriff „Hierarchie" zunächst nicht im Sinne eines „niedriger" oder „höher" zu verstehen ist, sondern sich vorerst auf Abhängigkeiten unterschiedlichen Grades bezieht. Hierbei fungieren die unmittelbaren Werte als Grundlage der von ihnen abhängigen mittelbaren Werte. Die Abhängigkeiten sind entweder logisch oder durch die Prinzipien der Kontiguität und Ähnlichkeit begründet (wobei diese beiden Prinzipien auf das den meisten Individuen eigene Bestreben zurückzuführen sind, die Ereignisse des eigenen Lebensraumes möglichst ökonomisch zu kategorisieren, d. h. zu integrieren und zu vereindeutigen). Logische Abhängigkeit liegt z. B. vor, wenn ein bestimmtes Ding oder ein bestimmter Sachverhalt sich bei der Analyse des grundlegenden Willenszieles als notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung eben dieses Willenszieles ergibt (wenn ich etwa erst Geld benötige, um mir etwas zu essen zu kaufen, um dann meinen Hunger zu stillen). In 148

solchen Fällen ist gemäß dem Prinzip der „pragmatischen Ordnung" ( D I N G L E R ) zwar der abhängige Wert in seiner Verwirklichung historischpragmatisch der Verwirklichung des eigentlichen Willenszieles vorgeordnet, seinen Wertcharakter leitet er aber logisch aus dem eigentlichen Wert ab. Ohne Bezogenheit auf diesen wäre das jeweilige Ding oder der jeweilige Sachverhalt im einfachsten Falle wertneutral, durch logische Bezogenheit aber wird er zum Gut oder (bei umgekehrtem Vorzeichen) zum Übel. Eine vergleichbare Zuordnung ergibt sich, wenn aus einem unmittelbaren Willensziel dadurch ein mittelbares wird, daß es historisch-pragmatisch der Verwirklichung eines anderen unmittelbaren Willenszieles vorgeordnet erscheint. Ein ursprünglich negativer Wert kann so zu einem mittelbar positiven werden und umgekehrt. Und zwar bleibt der jeweilige Wertcharakter so lange erhalten, wie die pragmatische Ordnung, auf die er sich stützt, sich als in ihrer Aufrechter haltung notwendig erweist; logisch abhängige Werte dieser Art sind somit als Zwischenziele auf dem Weg zur Verwirklichung von grundlegenden Werten gekennzeichnet. Löst man ein solches Zwischenziel aus seiner logischen Abhängigkeit, so erhält es seine ursprüngliche Wertbesetztheit zurück. Aber nicht nur Zwischenziele sind logisch abhängige Werte, sondern auch all jene Willensziele, die sich aus Implikationen von Wertklassen ergeben, ohne daß diese Implikationen bei der ursprünglichen Wertsetzung realisiert zu sein brauchen, wie etwa in der Wertsetzung von „Sport" noch nicht unbedingt die Wertsetzung von „Boxen" mitgegeben sein muß, diese Wertsetzung aber erfolgen kann, weil ich eben „Sport überhaupt" als erstrebenswert ansehe. Ist eine bestimmte Sportart im Wollen von „Sport überhaupt" analytisch enthalten, so ist manches Beiwerk beim Sport (etwa möglichst farbenfrohe Trikots) nicht auf eine logische Verankerung gegründet, sondern entweder selbst unmittelbares Ziel des Wollens oder aber durch Kontiguität mit dem unmittelbaren Willensziel, dem Sport, verbunden. Letzteres ist z.B. immer dort der Fall, wo eine bestimmte Eigenart als einzigen realen Grund die „Tradition" hat, wie überhaupt der Hinweis auf Tradition zumeist ein Beleg dafür ist, daß die in Frage stehende Abhängigkeit nicht logischen Ursprungs ist, sondern Kontiguitätscharakter hat. Da Kontiguität aber mehr oder weniger zufällig und somit die Wertbezogenheit eine zufällige ist, verliert ein Gegenstand immer dort seinen Wertcharakter, wo diese Kontiguität nicht mehr vorliegt (vgl. das Phänomen der Extinktion). Auch wenn der in Frage stehende Strahlwert seinen Wertcharakter seiner Ähnlichkeit mit dem eigentlichen Willensziel verdankt (wobei diese Ähnlichkeit ebenfalls eine zufällige ist), erlischt die Wertbezogenheit, sobald das betreffende Subjekt die 149

„Kategorisierung infolge Ähnlichkeit" als „Fehlkategorisierung" kogniziert; durch Diskriminationslernen und differentielle Verstärkung kommt das Individuum dann zu einer Unterscheidung zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem. Ebenso wie Wertbezogenheit infolge Kontiguität oder Ähnlichkeit durch entsprechendes Gegenlernen aufgehoben werden kann, ist eine Differenzierung logisch begründeter Wertsysteme möglich. Der Wert „Sport überhaupt" kann z. B. dadurch eingeschränkt werden, daß eine bestimmte Sportart ganz und gar nicht mein Gefallen findet, wenn ich sie einmal kennenlerne, sondern mir zum Übel wird. Dann wird der vormalige Wert differenziert in „Sport überhaupt mit Ausnahme der und der Sportart" oder aber in „manche Sportarten". Indem ich bestimmte Begriffe ausklammere, wird die ursprünglich durch mein Wollen angezielte Kategorie immer weniger umfassend und integrativ.

Die Dimensionen des Wollens Durch Kombination von unmittelbaren und mittelbaren Werten in Form von logisch abhängigen oder aber durch Kontiguität oder Ähnlichkeit begründeten Werten wird die Erstellung eines je individuellen Wertsystems möglich. Hierbei ist prinzipiell jede Form der Kombination zulässig; es können also mittelbare Werte von ein und demselben unmittelbaren Wert sowohl logisch als auch durch Kontiguität und/oder Ähnlichkeit abhängig sein, ebenso wie die Verbindung zwischen mittelbaren Werten entweder durch logische Operationen oder aber durch Kontiguität und/oder Ähnlichkeit hergestellt wird, wobei der historisch frühere Wert als in geringerem Grade abhängig einzustufen ist. Durch diese Bestimmungen sind jedoch noch nicht alle Dimensionen eines Wertsystems erfaßt. Bisher konnte der Eindruck entstehen, als sei der Willensakt ein Alles-oder-nichts-Vorgang, der keine Abstufungen zuläßt, so als sei „wertbesetzt" stets gleich „wertbesetzt". Bei näherer Analyse unserer eigenen je individuellen Wertsysteme müssen wir jedoch feststellen, daß es sehr wohl Abstufungen von „höher" und „geringer" gibt, und zwar derartig viele, daß man von einem Kontinuum sprechen kann. Da die kontinuierliche Unterscheidbarkeit der Werthaftigkeit von Gegenständen nicht in den Gegenständen selbst liegen kann (wie wenn sie etwa gemäß Form, Farbe, Größe und Gewicht unterscheidbar sind) und wir in bezug auf eine Wertsetzung keine andere Instanz anerkennen als die unseres Willens, muß das Kontinuum der Werthaftigkeit von Gegenständen einem Kontinuum des Willens oder eines Willensaspektes entspringen. Da die Setzung oder Nichtsetzung eines Zieles not150

wendigerweise diskontinuierlich, d. h. absolut, ist, muß das Kontinuum der Werthaftigkeit in einem anderen Aspekt liegen, der allgemeiner als jede individuelle Wertsetzung ist, weil er in jede einzelne Wertsetzung eingeht. Jeder Willensakt hat darüber hinaus, daß er sich ein Ziel setzt, in dessen Verwirklichung er sich selbst aufhebt, eine je ihm eigene Stärke, d. h., wir wollen die Verwirklichung verschiedener Werte unterschiedlich intensiv. Da ein Ziel in seiner Zielhaftigkeit absolut und nicht veränderbar, also niemals „mehr" oder „weniger" Ziel ist, die Stärke des Wollens jedoch irgendeinen Einfluß auf sein Ziel haben muß, unterscheiden wir „höhere" und „niedere" Willensziele oder Werte, und zwar gilt, daß die Stärke des Wollens proportional der Höhe des Wertes ist. Analoges gilt von den Unwerten; je intensiver wir die NichtVerwirklichung eines Unwertes wollen, desto höher ist der Unwert. Hierbei lassen sich innerhalb einer Werthierarchie eindeutige Zuordnungen zwischen Abhängigkeit und Höhe eines Wertes machen, und zwar wollen wir die Verwirklichung eines Wertes um so intensiver, je unmittelbarer er ist. Daraus folgt: Innerhalb einer Hierarchie von Werten ist der grundlegende unmittelbare Wert der höchste, der am meisten mittelbare hingegen der geringste Wert. Diese Bestimmung gilt sowohl für die logisch abhängigen als auch für die durch Kontiguität und/oder Ähnlichkeit begründeten mittelbaren Werte, d. h., ich will die Erreichung eines Zwischenzieles, das nahe am eigentlichen Ziel liegt, intensiver als die Erreichung eines Zwischenzielas, das weiter davon entfernt ist; desgleichen ist mein Wollen stärker auf jene Ziele gerichtet, die eine größere Kontiguität mit dem unmittelbaren Wert haben, als auf jene, die eine geringere Kontiguität aufweisen; dasselbe gilt für Ähnlichkeit: je größer die Ähnlichkeit, desto stärker das Wollen. Daraus folgt aber, daß das Wollen um so stärker wird, je näher es sich an seinem Ziel befindet, es ist am stärksten im Moment der Verwirklichung des unmittelbaren Wertes, um sich in dieser Verwirklichung dann selbst aufzuheben. Damit haben wir innerhalb der vorliegenden Wertlehre ein Prinzip erarbeitet, das trotz unserer in vielen Punkten von H U L L abweichenden Terminologie in letzter Konsequenz mit dessen Prinzip des „Zielgradienten" identisch ist (vgl. H U L L 1932, 1934, 1952), wir übernehmen deshalb diesen Begriff in unser System. (Über Versuche, den Zielgradienten durch zielgerichtetes Verhalten — dessen Intensität proportional der Höhe des Willenszieles sein müßte — zu operationalisieren, werden wir weiter unten berichten.) Ebenso wie für die positiven Ziele des Willens gibt es auch für die negativen Werte Zielgradienten, und zwar gilt, daß das negative Wollen um so stärker wird, je näher es sich an seinem Ziel befindet. 151

Läßt sich die Stärke des Wollens und somit die Höhe des Wertes innerhalb einer Hierarchie von mittelbaren und unmittelbaren Willenszielen a priori eindeutig bestimmen, so sind die Bestimmung der Höhe zweier oder mehrerer unmittelbarer Werte und der Vergleich der Höhe mittelbarer Werte, die von verschiedenen unmittelbaren Werten abhängig sind, nur empirisch durch die Beobachtung von Wahlverhalten (sei es zielgerichtet oder habe es Zeichencharakter) möglich. Jedoch gibt es auch hier a priori eine formale Festsetzung dergestalt, daß ein Wert — verglichen mit einem anderen mit gleich starkem Ausgangswollen — um so höher ist, je näher seine Verwirklichung herannaht. Aus der Erkenntnis, daß die Höhe eines Wertes von der Nähe seiner Verwirklichung abhängt, lassen sich Schlüsse auf die unterschiedliche Höhe von Werten mit unterschiedlicher Aussicht auf Realisation ziehen; und zwar gilt ein Wert mit größerer Aussicht auf Verwirklichung höher als einer mit geringerer Realisationsaussicht: Reale Werte sind gegenüber den irrealen die höheren Werte. Das bedeutet, daß uns etwa eine Lebensplanung, die die Möglichkeiten der Realität berücksichtigt, höher steht als das „Bauen von Luftschlössern". Da — wie wir annehmen — die Intensität eines zielgerichteten Verhaltens proportional der Stärke des Wollens ist, durch das es ausgelöst wird, entspricht die Stärke der jeweiligen Strebung der Höhe des betreffenden Wertes, wodurch die Hierarchie der Strebungen der Höhe der Werte direkt zugeordnet ist. Versteht man das individuelle Wertsystem als eine sämtliche mittelbaren und unmittelbaren Willensziele zusammenfassende übergreifende Rangreihe, so entspricht die Hierarchie der zielgerichteten Verhaltensweisen eben jener Rangreihe der Werte, d. h., in jeder beliebigen Situation streben wir den jeweils höchsten Wert an. Aus der begrifflichen Eigenart des Wollens, dessen Stärke mit der Nähe der Verwirklichung seines Zieles zunimmt, im Moment der Verwirklichung ihren Höhepunkt hat und dann schlagartig abnimmt, wodurch dieses spezielle Wollen aufgehoben wird, ergibt sich die Hierarchie der Strebungen als ein dynamisches System; dementsprechend ist auch die übergreifende Rangreihe der Werte dynamisch.

Die Sattheit des Gefallens Lassen sich an den auf Werte und deren Verwirklichung gerichteten Willensakten sowohl die Dimension der Qualität (in Form einer inhaltlichen Ausrichtung) als auch jene der Intensität (in Form einer Stärke des Wollens) unterscheiden, so muß eine ähnliche Unterscheidung 152

auch für die auf die jeweiligen Wertgegenstände gerichteten Willensregungen zu treffen sein. Qualitativ können wir, wie sich bei der Unterscheidung von Wert und Wertgegenstand gezeigt hat, zwei auf Wertgegenstände gerichtete Willensregungen unterscheiden, die einander diametral entgegengesetzt sind: Gefallen und Mißfallen. Die Gegenstände eines positiven Wertes gefallen uns, die eines negativen Wertes mißfallen uns; daraus ergibt sich eine Zuordnung von Wollen und Gefallen sowie Nichtwollen und Mißfallen. Hierbei sind Wollen und Gefallen auf der einen sowie Nichtwollen und Mißfallen auf der anderen Seite als zwei verschiedene Aspekte des einen Phänomens, des Willens überhaupt, formal zu trennen, wodurch eine getrennte Analyse möglich wird. So können wir also den Akt der Zielsetzung des Wollens unterscheiden vom Gefallen oder Mißfallen an diesem Ziele. Dabei ist das Wollen weder ohne Gegenstand noch ohne Gefallen oder Mißfallen des Gegenstandes denkbar. Im Unterschied zum zielsetzenden Wollen, das nur auf Nichtseiendes gerichtet sein kann und sich im Augenblick der Verwirklichung seines Zieles selbst aufhebt, ist das Gefallen — obwohl vom wollenden Subjekt ausgehend — den Gegenständen verhaftet, auf die es sich richtet, mögen sie nun in der Vorstellung bestehen oder aber infolge einer Wertverwirklichung real sein. Das zielsetzende Wollen, so hatten wir festgestellt, kann seine Ziele nicht selbst schaffen, sondern sie müssen ihm angeboten werden, damit es sich auf sie richte. Nun können die Ziele dem Wollen ja nicht als reale, d. h. schon existierende, angeboten werden, sondern es kann dies nur in Form von Repräsentationen oder Zeichen — mit anderen Worten: in Form von Vorstellungen, Erinnerungen oder Ideen — geschehen. Das zielsetzende Wollen transzendiert nun diese Vorstellungen, Erinnerungen und Ideen in Richtung auf ihre Verwirklichung in realen Wertgegenständen. Da Vorstellungen, Erinnerungen und Ideen im Falle ihres Auftretens existent sind, können sich Gefallen und Mißfallen in gleichem Maße auf sie richten wie auf die durch sie repräsentierten Gegenstände; damit ist die Willensregung des Gefallens zeit- und gegenstandsmäßig weiter erstreckt als die des zielsetzenden Wollens. Denn Gefallen setzt vor dem zielsetzenden Wollen ein, indem es die dem Zielsetzungsakt vorangehenden Geschehnisse zum Gegenstand hat, und bleibt bestehen, wenn das zielsetzende Wollen in der Verwirklichung seines Zieles längst aufgehoben ist. So wie wir die Werte und ihre Verwirklichung in der Stärke des Wollens unterschiedlich hoch einschätzen, so bewerten wir auch die jeweiligen Güter oder Übel unterschiedlich, indem uns das eine Gut stärker gefällt als das andere und ein Übel stärker mißfällt als ein anderes; 153

und zwar können wir die Stärke des Gefallens oder Mißfallens direkt in Beziehung setzen zu der Höhe des jeweiligen Wertes oder Unwertes, d. h. direkt zu der Stärke des betreffenden Wollens. Ein starkes Wollen eines Wertes und seiner Verwirklichung entspricht einem starken Gefallen an seiner Verwirklichung und seinem Gegenstande, ein schwaches Wollen entspricht einem schwachen Gefallen. N u n ist aber die Stärke des Wollens in zweifacher Hinsicht für das Willensgeschehen bedeutsam; einmal bezieht sie sich auf die unterschiedliche Intensität von Willensregungen mit verschiedenen Zielen, zum anderen beinhaltet sie einen Wechsel der Intensität einer Willensregung mit gleichbleibendem Ziel in Abhängigkeit von der Entfernung zum Ziel. Welcher dieser beiden Aspekte ist nun für die Stärke des Gefallens bedeutsam? Bei näherer Überlegung wird deutlich, daß es sich hier nicht um den Wechsel der Intensität einer Willensregung mit gleichbleibendem Ziel handeln kann, denn ein Rückgriff auf die Erfahrungen des täglichen Lebens lehrt uns, daß die Stärke des Gefallens an einem Wertgegenstand sich in der Situation des Habens nicht von der in der Situation des Nichthabens unterscheidet, d. h., ein identischer Wertgegenstand gefällt in der Situation des Habens und des Nichthabens gleich gut. Weder gefallen vorgestellte Güter gegenüber realen weniger stark, noch ist das ursprüngliche Gefallen stärker als das anläßlich der Wertverwirklichung (sofern wir voraussetzen können, daß die Wirklichkeit des Wertgegenstandes die Erwartung weder übertrifft noch hinter ihr zurücksteht). Und dennoch muß sich das Gefallen hier und dort unterscheiden, denn sonst wäre es ja keineswegs besser, einen Wertgegenstand wirklich zu haben, anstatt ihn sich bloß vorzustellen. Worin besteht nun aber der Unterschied zwischen dem Gefallen an der Vorstellung eines Gutes und dem Gefallen am realen Vorliegen des Gutes? Wenn wir S C H W A R Z folgen, läßt sich das Kontinuum des Gefallens bzw. Mißfallens an einem identischen Gut bzw. Übel mit dem Kontinuum der Sättigung von Farben vergleichen. Geht man hierbei von dem Modell des Farb-Oktaeders aus, wie es in der Farbwahrnehmungslehre verwendet wird, so sind die Farben des Regenbogens und des Spektrums, die in diesem Modell an der Peripherie gelagert sind und somit den weitestmöglichen Abstand von der Schwarz-Weiß-Achse haben, die sattesten, die wir kennen. Alle anderen Farben scheinen stets eine mehr oder weniger starke Beimischung von Schwarz, Weiß oder Grau zu haben, was im Modell durch entsprechende Nähe zur SchwarzWeiß-Achse symbolisiert wird. Je weiter ab sie vom Eindruck des Schwarz-Weißen stehen, um so gesättigter erscheinen sie uns. Wenn wir den Sättigungsbegriff im Anschluß an S C H W A R Z auch auf die Willensregungen des Gefallens und Mißfallens übertragen, so lassen i54

sich Gefallens- und Mißfallensregungen unterschiedlichen Sättigungsgrades feststellen, die eng an das Vorstellen oder Haben eines Wertgegenstandes gebunden sind. „Das Begehrte, das wir haben, sättigt unser Gefallen; so lange wir es begehren, ohne es zu haben, bleibt unser Gefallen ungesättigt" (SCHWARZ 1900, S. 97 f.). Daraus folgt aber, daß es dort, wo ein gesättigtes Gefallen vorliegt, also ein Wert verwirklicht ist, kein zielsetzendes Wollen geben kann. Zielsetzendes Wollen kann immer nur dort auftreten, wo das Gefallen ungesättigt ist. Gleichzeitig mit der Verwirklichung seines Zieles hat also das zielsetzende Wollen die Sättigung des Gefallens zum Gegenstand. Von daher wird verständlich, daß wir uns nicht nur mit dem Vorstellen eines Gegenstandes, der uns gefällt, begnügen, sondern daß wir seine Verwirklichung wollen, denn je mehr wir uns der Verwirklichung annähern, um so gesättigter wird das Gefallen. Für das Mißfallen gelten analoge Bestimmungen. Es wird um so gesättigter, je mehr wir uns der Verwirklichung eines Unwertes annähern. Alle Unwertverwirklichungen mißfallen schon in der Vorstellung in hohem Maße und werden nicht eigentlich mißfälliger, je näher sie kommen; tritt die befürchtete Unwertverwirklichung dann aber ein, so unterscheidet sich das Mißfallen gegenüber dem Realen doch entschieden von dem gegenüber dem Vorgestellten: es ist satt. Sind sich Gefallen und Mißfallen darin gleich, daß sie um so gesättigter sind, je näher sich das Individuum der jeweiligen Wert- oder Unwertverwirklichung kogniziert, so unterscheiden sie sich doch wesentlich hinsichtlich des sie begleitenden zielsetzenden Wollens. Wird im gesättigten Gefallen das zielsetzende Wollen aufgehoben, so ruht es beim ungesättigten Mißfallen. Entsprechend ist das Wollen dort am stärksten, wo das Gefallen am ungesättigsten und das Mißfallen am gesättigsten ist.

Die Stärke des Gefallens Die wechselnde Stärke des Wollens in Abhängigkeit von der Entfernung vom Willensziel geht also nicht in die Stärke des Gefallens ein, sondern in dessen Sättigung. D a die Stärke des Gefallens oder Mißfallens an einem identischen Wertgegenstand stets gleich bleibt (sofern dieser nicht in ein völlig neues kognitives Bezugssystem eingeordnet wird o. ä.) und sich nur die Sättigung ändert, muß — sofern überhaupt ein Zusammenhang zwischen Stärke des Wollens und Stärke des Gefallens besteht — die Stärke des zielsetzenden Wollens unabhängig von seiner Zielnähe direkt vergleichbar sein mit der Stärke des Gefallens; denn die Stärke des Gefallens, die ja auf dem Weg zum Ziel stets gleich bleiben soll, kann nicht bei ihrem ersten Auftreten die Stärke des Wollens am 155

Ziel oder dicht vor dem Ziel antizipieren. Daraus folgt, daß die Stärke der individuellen Gefallensregungen proportional der Rangreihe der Werte ist. Das heißt: in jeder einzelnen Werthierarchie gefallen die Gegenstände des unmittelbaren Wertes stärker als die der mittelbaren Werte und die Gegenstände der in geringerem Grade mittelbaren stärker als die der in höherem Grade mittelbaren Werte. Ebenso gefallen die Gegenstände unterschiedlicher unmittelbarer Werte und der von ihnen abhängigen mittelbaren Werte gemäß ihrer Höhe unterschiedlich stark. Nun ist die Stärke des Gefallens ebensowenig statisch wie die des Wollens. Wenn wir davon ausgehen, daß die Gegenstände des jeweils ranghöchsten — also in seiner Verwirklichung am stärksten gewollten — Wertes auch das stärkste Gefallen finden und diese Stärke jeweils maximal ist, so daß die Gegenstände der jeweils höchsten Werte im Laufe des Lebens eines Individuums stets gleich stark gefallen, so folgt daraus, daß, wenn ein neuer Wert den bisher höchsten verdrängt, weil dieser sich etwa in der Verwirklichung seines Zieles selbst aufgehoben hat, die Gegenstände des neuen höchsten Wertes nicht stärker gefallen als vormals die des abgelösten höchsten Wertes, sondern daß diese nun nicht mehr so stark gefallen wie vorher. Die Stärke des Gefallens an einem Gut kann also niemals die des Gefallens am Gegenstand des jeweils höchsten Wertes übersteigen59. Ebenso wie die Stärke des Wollens bezüglich eines vormals hohen Wertes absinken kann, ist eine Steigerung der Stärke für einen Wert, dessen Rangplatz sich positiv ändert, bis zur maximalen Intensität möglich. Analoge Bestimmungen lassen sich für die Kennzeichnung der Stärke des Mißfallens an einem Übel machen; das Mißfallen ist um so stärker, je höher der jeweilige Unwert in der Rangreihe der Unwerte steht. Ganz allgemein lassen sich Stärkeunterschiede des Gefallens und Mißfallens analog zu den Stärkeunterschieden des Wollens dreifach begründen: I. durch unterschiedliche Anzahlen desselben Wertgegenstandes: drei Goldstücke sind besser als eines (drei Schläge sind schlechter als einer); II. durch unterschiedliche Höhe in der Rangreihe: ein Goldstück ist besser als ein Silberstück (ein amputierter Arm ist schlechter als eine amputierte Zehe); 59

SCHWARZ scheint diese Möglichkeit, daß ein vormals starkes und beherrschendes Wollen in seiner Stärke nachlassen kann, wenn es von einem anderen Wollen in seinem führenden Rang abgelöst wird, nidit gesehen zu haben. Für ihn bleibt die Stärke stets gleich, der neue Vorrang entspreche einem Unterschied in der Sattheit des Gefallens (vgl. SCHWARZ 1900, S. 100 f.). W i r können SCHWARZ in diesem Punkt nicht folgen, sondern lassen im Falle der Ablösung des bislang höchsten Wertes der Rangreihe durdi einen anderen Wert die Möglichkeit des Absinkens der Stärke des Wollens zu.

156

III. durch unterschiedliche Anzahlen verschiedener Wertgegenstände: ein Goldstück und ein Silberstück zusammen sind besser als ein Goldstück oder ein Silberstück allein (ein amputierter Arm und eine amputierte Zehe zusammen sind schlechter als ein amputierter Arm oder eine amputierte Zehe allein). Die Sättigung des Gefallens hingegen ist — unabhängig von seiner Stärke — allein davon abhängig, wie nahe die Verwirklichung des jeweiligen Willenszieles ist. Sättigung des Gefallens wird nur durch Wirklichkeit des Wertgegenstandes erzielt; vorgestellte Wertgegenstände gefallen dagegen ungesättigt: ein Goldstück in der Hand gefällt satter als eines in der Vorstellung (Schläge, die man erleidet, mißfallen satter als vorgestellte). Da das Gefallen in Abweichung vom Wollen in zwei Dimensionen variiert, können die Wertgegenstände gemäß diesen Dimensionen auch in zwei voneinander unabhängige Rangreihen gebracht werden: einmal in die Rangreihe der Stärke, zum anderen in die der Sättigung. Von daher können zwei Wertgegenstände bei gleicher Sattheit des Gefallens unterschiedlich stark und bei gleicher Stärke des Gefallens unterschiedlich satt gefallen; hierbei gibt der Grad der Sättigung die Entfernung vom Ziel, die Stärke hingegen den Rangplatz des Wertes an.

Einführung des Konfliktbegriffs Da im Einzelfall das je in Frage stehende Wertsystem sich auf den gesamten Lebensraum eines Subjektes erstrecken kann, bleibt es nicht aus, daß in bezug auf einen bestimmten Urteilsgegenstand oder eine bestimmte Situation gleich oder ähnlich starke konkurrierende Willensregungen auftreten und das Subjekt zu entscheiden hat, hinsichtlich welchen Willenszieles sein Verhalten auszurichten sei. Diese abwägende Haltung gegenüber konkurrierenden Werten mit gleich hohem oder nahezu gleich hohem Rangplatz wird als „Konflikt" bezeichnet; gemäß der unterschiedlichen formalen Zusammensetzung der je individuellen Wertsysteme sind auch verschiedene Formen von Konflikten zu unterscheiden. Ganz allgemein liegt ein Konflikt dann vor, wenn in einer bestimmten Situation die möglichen Verhaltensweisen stets gleichzeitig einen Wert und einen in der Höhe vergleichbaren Unwert verwirklichen, weil entweder die aktive Verwirklichung des einen Wertes die aktive Verwirklichung des anderen ausschließt („you can't bave a cake and eat it too") — wodurch der Grundsatz berührt wird, daß die Niditverwirklichung eines positiven Wertes selbst ein negativer Wert ist — oder aber ein bestimmtes Tun oder Lassen, Aktivität oder Passivität gleichzeitig *57

wert- und unwertbesetzt sind (wenn z. B. ein Kranker die Wahl hat zwischen der Einnahme der ihm vom Arzt verordneten übelschmeckenden Medizin, die ihn gesund machen soll, und der Verweigerung, die ihn zwar vor dem üblen Geschmack bewahrt, sich aber negativ auf sein Befinden auswirkt). Zwar ist ein Konflikt nur in Form von sich gegenseitig ausschließenden Verhaltensweisen operationalisierbar (seien sie „offen" oder Verhaltensweisen mit Zeichendiarakter), recht eigentlich involviert er jedoch zumindest zwei sich in bezug auf ihre Realgeltung gegenseitig ausschließende — weil widersprechende — Werte mit identischer oder nahezu gleicher Höhe. Insofern fällt das dem B U R I D A N U S zugeschriebene Paradigma von dem Esel, der — von zwei gleich großen Heuhaufen gleich weit entfernt — jämmerlich verhungern müsse, weil er nicht entscheiden könne, zu welchem Heuhaufen er hingehen soll, um seinen Hunger zu stillen, nicht unter den Konfliktbegriff, denn es bezieht sich nicht auf die Konkurrenz zweier Werte, sondern nur darauf, daß es Situationen geben kann, in denen ein identischer Wert auf zweifache Weise verwirklicht werden kann, wobei die eine Weise die andere ausschließt. Der Esel wird auf alle Fälle einen der beiden Heuhaufen fressen, es wird ihm nicht einfallen, zu verhungern (wie das B U R I D A N U S annimmt, der in diesem Beispiel die Determiniertheit des Tieres der Willensfreiheit des Menschen gegenüberstellen will), denn das würde ja zweifelsfrei die Verwirklichung eines Unwertes bedeuten, wohingegen die Entscheidung für einen der beiden Heuhaufen immer den gleichen Effekt der Verwirklichung des einen positiven Wertes zur Folge hätte. Hier von einem „AppetenzAppetenz-Konflikt" zu sprechen, wie das H O F S T Ä T T E R (1963, S. 182) tut, halten wir für falsch, da dieser Begriff ein Phänomen kaschiert, das so selten ist, daß es in seiner Existenz gewürdigt werden muß: Sofern nämlich keine anderen Willensregungen in die Situation eingehen, ist prinzipiell eine Voraussage unmöglich, für welchen der beiden Heuhaufen der Esel sich entscheiden wird, weil sich ja keine Wahl begründen läßt. Da eine etwaige Entscheidung aber undeterminiert, das Verhalten also frei wäre, schafft das Paradigma des B U R I D A N U S eine Situation, in der das Kausalitätsprinzip nicht anwendbar ist, denn es ließe sich ja prinzipiell kein hinreichender Grund für diese Entscheidung finden (vgl. auch S. 159). Auch statistische Voraussagen würden nur die Unmöglichkeit zu verschleiern suchen, das Entscheidungsverhalten des Esels zu determinieren. Es ist jedoch eine naive Ontologisierung des Kausalitätsprinzips, aus der Unmöglichkeit, beim Vorliegen eines „reinen Falles" das Verhalten des Esels kausal zu bestimmen, eine Handlungsunfähigkeit des Esels herzuleiten. Da Kausalität wie jedes andere wissenschaftliche Erklärungsprinzip keineswegs aus der Wirklichkeit herleitbar, sondern von Menschen erfunden ist, kann der Versuch einer Anwendung 158

prinzipiell auf Widerstände der Realität stoßen, zumal wenn diese Realität so definiert ist, daß sie einen Determinismus ausschließt. Von der Wirklichkeit zu erwarten, daß sie sich in ihrem Sosein dem von uns aufgestellten Prinzip fügt, unabhängig davon, ob dessen Anwendung in der jeweiligen Situation sinnvoll ist oder nicht, d. h. im vorliegenden Falle, zu postulieren, der Esel werde überhaupt nicht handeln, nur weil man eine Handlung nicht determinieren kann, setzt u. E. einen naiven Glauben an die magische Wirkung von auf Realität bezogenen Erklärungssätzen voraus. D a auch beim Vorliegen einer echten Konfliktsituation, d. h. beim Auftreten zweier gleich starker auf unterschiedliche Wertverwirklichungen und Wertgegenstände gerichtete Willensakte und -regungen, eine eventuelle Entscheidung des Subjekts für einen der beiden Werte kausal nicht zu begründen ist, man aber in einem solchen Fall das Kausalitätsprinzip dennoch anwenden möchte, verbleibt nur die Möglichkeit, nachzuweisen, daß in den scheinbar „reinen" Fall identifizierbare Störfaktoren eingegangen sind, die eine Entscheidung des Subjekts determiniert haben60. Wäre man trotz unserer Einwände geneigt, den KonfliktbegrifF für die konstruierte Situation mit dem Esel aufrechtzuerhalten, würde man den Widerspruch eines Wertes mit sich selbst postulieren, denn der Esel stünde ja in dem Konflikt zwischen „Fressen" und „Fressen", wobei „Fressen" „Fressen" ausschließt. Wir hoffen, das Absurde dieser Annahme aufgewiesen zu haben. Realiter wird der Esel erst einen Haufen Heu fressen (wobei wir weder voraussagen noch erklären können, welchen), und wenn er dann noch hungrig ist, wird er sich über den anderen hermachen. A u f keinen Fall wird er dem Kausalitätsprinzip zuliebe verhungern! Die logische Unmöglichkeit eines Appetenz-Appetenz-Konfliktes, dessen Komponenten auf einen identischen Wert bezogen sind, liegen u. E. klar auf der Hand. Daraus folgt, daß ganz allgemein eine Situation niemals konfliktgeladen sein kann, wenn sie lediglich für einen einzigen unmittelbaren Wert oder für die aus diesem unmittelbaren Wert hergeleiteten mittelbaren Werte relevant ist, da ein Wert niemals in Widerspruch zu sich selbst stehen kann. 60

Der v o n M I L L E R (1959) im Zusammenhang des Konfliktproblems gebrauchte Begriff der „Oszillation" erscheint uns als schwacher und wenig überzeugender Versuch, das Kausalitätsprinzip auch für die Erklärung von Konfliktsituationen brauchbar zu machen. D i e heuristische Unfruchtbarkeit des Begriffes liegt darin begründet, daß er nur im Nachhinein eine Entscheidung erklären kann, und z w a r jede Entscheidung — dadurch entzieht sich jedoch der Begriff der „Oszillation" einer echten Realisationsprüfung, denn die Annahme seiner Berechtigung ist prinzipiell nicht falsifizierbar. *59

Unmöglichkeit

des Konflikts bei nur einem einzigen unmittelbaren

Wert

Basiert die gesamte Werthierarchie eines Individuums auf einem einzigen unmittelbaren Wert, so können tautologisch all jene mittelbaren Willensziele nicht in Konflikt miteinander stehen, die logisch durch das primäre Wollen begründet sind; d. h., sowohl die Zwischenziele als auch die Wertklassen-Implikationen sind notwendigerweise in sich und untereinander widerspruchsfrei. Ebensowenig können logisch begründete Werte im Widerspruch zu dem sie begründenden unmittelbaren Willensziel stehen; treten bei der Analyse eines zunächst unscharf definierten unmittelbaren Wertes Widersprüche auf, weil die unscharfe Definition durch Wertklassen-Implikation auch Willensziele enthält, die mir etwa zum negativen Gegenstand des Wollens werden (vgl. das Beispiel mit den Sportarten auf S. 149 f.), so wird die Widerspruchsfreiheit dadurch erhalten, daß die fraglichen Willensziele als nichtgewollt aus der übergeordneten Wertklasse ausgeklammert werden. Durch den Vorgang der Ausklammerung wird gleichzeitig der Begriff des jeweiligen unmittelbaren Wertes schärfer definiert. Wird ein bestimmter Begriff als explizit „nichtgewollt" aus der übergeordneten Wertkategorie ausgeklammert und wird er damit zum negativen Gegenstand meines Wollens, so enthält mein Wertsystem nicht mehr nur einen unmittelbaren Wert, sondern deren zwei, da ja die NichtVerwirklichung jenes Nichtgewollten positiver Gegenstand meines Wollens und somit ein Wert ist. Erfolgt dagegen der Ausschluß lediglich mit der Folge, daß der betreffende Urteilsgegenstand nun weder in positiver noch in negativer Hinsicht Gegenstand meines Wollens ist, so besteht mein Wertsystem auch weiterhin aus nur einem unmittelbaren Wert. Auch Strahlwerte — begründen sie ihren Wertcharakter nun durch Kontiguität oder durch Ähnlichkeit mit dem unmittelbaren Wert — können in einem Wertsystem, das nur auf einem einzigen unmittelbaren Wert basiert, niemals zu Konflikten miteinander oder mit dem primären Willensziel führen, da ihre Anknüpfung an den grundlegenden Wert niemals Gegenstand eines Widerspruches sein kann, sondern stets nur ein „sowohl als auch" möglich ist. Das gilt auch für den Fall, wo man das Paradigma von BURIDANUS durch die Einführung sekundärer Verstärker komplizierter gestalten würde. Machen wir folgendes Gedankenexperiment 61 : Eine Ratte lernt in einem Labyrinth, daß sie immer dort Futter bekommt, w o ein rotes Licht leuchtet. In einem anderen Labyrinth lernt sie, daß blaues Licht ebenso viel Futter bedeutet. Dann wird sie in ein einfaches T-Labyrinth 61

Ein ähnliches Experiment, das die von uns erwarteten Ergebnisse einbrachte, wurde I9i9

160

V O N

KLEBANOFF

durchgeführt.

gesetzt, dessen beide Abzweigungen jeweils durch rotes und blaues Licht gekennzeichnet sind. Nach BURIDANUS würde die Ratte zwischen zwei gleich vollen Freßnäpfen verhungern, unserer Erwartung nach wird sie sich ziemlich rasch für eine der beiden Möglichkeiten entscheiden, ohne daß wir jedoch voraussagen oder erklären könnten, für welche (vorausgesetzt ist hier natürlich der „reine Fall" ohne das Einwirken etwaiger Störfaktoren wie Links-rechts-Präferenz o. ä.). Ebenso hat die Uberführung zweier Signale ineinander keinen Konflikt zur Folge, wenn das eine Signal Wertverwirklichung bedeutet, das andere jedoch lediglich Wertneutralität. Hierbei denken wir an eine einfache Umkehrung des als „Diskriminationslernen" bekannten Vorganges. Man gehe von zwei Reizen aus, die einander extrem unähnlich sind, von denen Reiz A „Futter" bedeutet, R e i z B hingegen wertneutral ist. Wenn wir jetzt B dem Signal A immer ähnlicher gestalten, wird endlich ein Punkt erreicht werden, an dem B dem Reiz A so ähnlich ist, daß das betreffende Subjekt A und B nicht mehr unterscheiden kann. Dann wird die Nichtbelohnung von B nicht mehr als solche erkannt, sondern der gesamte Vorgang neu kategorisiert in „intermittierende Belohnung von A " . Das hat zur Folge, daß das Subjekt nun auch ständig auf B reagiert, w o es vorher nur auf A reagiert hat. Ein Konflikt ist deshalb nicht möglich, weil während des ganzen Versuches niemals eine Wertkonkurrenz auftritt. Es geht ja stets um die Verwirklichung eines einzigen Wertes, die per definitionem gegenüber seiner NichtVerwirklichung selbst wertbesetzt ist. Je mehr B dem belohnten Reiz ähnelt, um so stärker wird es wertbesetzt und löst die gleichen Reaktionen aus, die sonst nur A auslöst. (Wir befinden uns hier formal in völliger Übereinstimmung mit dem in den Lerntheorien verwendeten Begriff der „Generalisation".) Die vorangegangenen Überlegungen zeigen, daß in einem Wertsystem, das lediglich durch einen einzigen unmittelbaren Wert begründet ist, Konflikte niemals möglich sind. Diese Bestimmung gilt sowohl für logisch begründete Wertsysteme als auch für jene, die nach den Prinzipien der Kontiguität und/oder Ähnlichkeit aufgebaut sind.

Experimentelle Ansätze zum Problem des

Appetenz-Aversions-Konflikts

Sobald ein individuelles Wertsystem aus zwei oder mehr Werthierarchien besteht, d.h. aus zwei oder mehr unmittelbaren Werten mit den durch logische Begründung bzw. Kontiguität und/oder Ähnlichkeit davon abhängigen mittelbaren Werten, ist die Möglichkeit eines Konflikts gegeben. Konflikte können sowohl zwischen unmittelbaren Willenszielen auftreten als auch zwischen mittelbaren, die durch unterschiedliche unmittelbare Willensziele begründet sind, aber auch zwischen unmittel11 Keiler, Wollen

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baren und mittelbaren Willenszielen, sofern diese der Hierarchie eines anderen unmittelbaren Wertes angehören, maßgeblich ist in jedem Fall die jeweilige Stärke des Wollens. Durch diese und die vorangegangenen Bestimmungen haben wir ein weiteres Instrument zur Unterscheidung von mittelbaren und unmittelbaren Werten geschaffen, das als Außenkriterium über die Extinktionsresistenz hinaus zur Operationalisierung der „funktionalen Autonomie der Motive" herangezogen werden kann. Wir haben im vorangegangenen Kapitel zwischen unmittelbaren Werten als Ursache und unmittelbaren Werten als Anlaß für den Erwerb neuer Werte unterschieden; ist der unmittelbare Wert Ursache für den neuen Wert, so ist dieser als Strahlwert oder logisch abhängiger Wert ein mittelbares Willensziel; ist der unmittelbare Wert hingegen lediglich Anlaß für den Erwerb des neuen Wertes, so ist dieser selbst ein unmittelbares Willensziel. Diese unmittelbaren Willensziele sind resistent gegenüber einer Extinktion, wenn entweder der ursprüngliche Wert aufgehoben wird, weil etwa das Ziel des Wollens — die Selbstaufhebung — erreicht ist, oder aber sich die Verbindung (sei sie logischer Natur oder durch Kontiguität und/oder Ähnlichkeit bedingt) zwischen dem ursprünglichen und dem neuen Wert als irrelevant erweist. Nun sind die anläßlich des Strebens nach Verwirklichung eines unmittelbaren Wertes erworbenen neuen unmittelbaren Werte nicht nur extinktionsresistent, sondern sie können auch mit dem ursprünglichen Wollen in Konflikt stehen, denn sie sind ja recht eigentlich unabhängig von diesem und können daher eine vergleichbare Stärke haben. Wir wollen die aus diesen Erkenntnissen erwachsenden Möglichkeiten, die uns neue Aspekte verschiedener entwicklungs- und lernpsychologischer Probleme aufzuzeigen scheinen (insbesondere erscheint die Uberprüfung der Brauchbarkeit solcher Begriffe wie „Sublimierung" und „funktionale Autonomie" in einem neuen Licht), an dieser Stelle nicht weiterverfolgen, sondern uns einigen experimental-psychologischen Ergebnissen zum Konfliktproblem zuwenden, die im Rahmen unserer Wertlehre zu deuten sind. Appetenz-Aversions-Konflikte, d. h. die abwägende Haltung gegenüber einer Situation, in der ein bestimmtes Verhalten an seinem Ende gleichzeitig immer die Verwirklichung eines Wertes und eines in der Höhe vergleichbaren Unwertes hat, sind für die effektorientierte Lerntheorie von besonderem Interesse. M I L L E R hat auf dem von H U L L stammenden Begriff des „Gradienten" ein empirisch brauchbares Modell mit hohem Integrationsgrad aufgebaut (vgl. M I L L E R 1959). Der Begriff „Gradient" beschreibt den Umstand, daß sich hinsichtlich eines jeden Verhaltenszieles (das in unserer Terminologie gleichbedeutend ist mit „Willensziel") ein Kontiguitäts-Ähnlichkeits-Kontinuum bestimmen läßt, dem ein vergleichbares Kontinuum von Verhaltensstärken zuzu162

ordnen ist (wobei Zwischenziele, die unserer Terminologie zufolge als logisch abhängige Werte zu kennzeichnen sind, gemäß der klassischen Lerntheorie auf dem Kontinuum der Kontiguität zu lokalisieren sind). Die Zuordnung läßt sich in einem cartesischen Koordinatensystem graphisch darstellen; die Abszisse repräsentiert das Kontiguitäts-Ähnlichkeits-Kontinuum, die Ordinate die Verhaltensstärke (die in unserem System der Stärke des Wollens proportional ist). Je höher der Integrationsgrad eines Wertes, desto flacher ist der als graphische Abbildung darzustellende Gradient (nach M I L L E R keine Gerade, sondern eine Kurve), dessen Höhe — abhängig von der jeweiligen Lokalisation eines Verhaltenszieles auf dem Kontiguitäts-ÄhnlichkeitsKontinuum — das „Reaktionspotential" ( H U L L 1943) symbolisiert, d. h. die Stärke des zum Ziel führenden Verhaltens. Ein solcher Gradient, der Auskunft darüber gibt, wie stark das jeweils zum Ziel führende Verhalten und wie hoch der Integrationsgrad des jeweiligen Verhaltenszieles sind, läßt sich sowohl für positive als auch für negative Verhaltensziele, also sowohl für Werte als auch Unwerte konstruieren; dabei wird von der nicht weiter rückführbaren Annahme ausgegangen, daß in bezug auf ein identisches Kontiguitäts-ÄhnlichkeitsKontinuum der Aversionsgradient steiler abfällt als der Appetenzgradient 62 . Experimentell nachgeprüft wurde diese Annahme von B R O W N (1942, 1948), der bei zwei Gruppen von Ratten mit Hilfe von ZugfederVorrichtungen die Stärke des Hinstrebens zum bzw. Wegstrebens vom Ziel maß, an dem die eine Gruppe Futter, die andere jedoch ein elektrischer Schlag erwartete. Z u einer Konfliktsituation kann es dann kommen, wenn die Ratten am Ziel nicht entweder Futter oder einen elektrischen Schlag bekommen, sondern beides, so daß hinsichtlich des Zieles gleidi starke positive und negative Willensregungen konkurrieren. Da der Aversionsgradient steiler abfällt als der Appetenzgradient, wirkt vom Startpunkt an zunächst nur das positive Wollen auf das Verhalten der Tiere ein, es kommt zu einem Streben in Richtung Ziel. Sobald die Ratten jedoch in den Bereich des Aversionsgradienten gelangen und zu dem positiven Wollen ein negatives Wollen hinzukommt, das ebenfalls auf das Verhalten einwirkt, „verlangsamt sich ihre Fortbewegung . . . , bis sie schließlich noch vor dem Z i e l . . . wie gebannt stehenbleiben. A n dieser Stelle halten die beiden Gradienten einander die Waage. Das gehemmte Verhalten der Versuchstiere madit jetzt einen n

ll'

D i e Feststellung, ein Individuum strebe stets die Verwirklichung v o n positiven W e r ten stärker an als die NichtVerwirklichung von negativen, wäre keine Erklärung f ü r die unterschiedliche Steilheit der Gradienten, sondern lediglich eine tautologische Umformung.

sehr ängstlichen Eindruck" ( H O F S T Ä T T E R 1963, S. 184). Diese Verhaltensabfolge kann jedoch nur auftreten, wenn sich das positive und das negative Willensziel in ihrer Werthöhe unterscheiden, d. h., wenn das Ziel einen höheren negativen als positiven Zielwert hat. Sind der positive und der negative Wert dagegen gleich, so kommt es bei ständigem Hinstreben zum Ziel — wenn überhaupt — erst im Ziel zu einem. Konflikt; ist hingegen der positive Zielwert höher als der negative, so kommt es auf Grund der größeren Steilheit des Aversionsgradienten zwar in der Nähe des Ziels zu einer Minderung der Verhaltensintensität, ein Konflikt tritt jedoch nicht auf. Entsprechend läßt sich eine Verhaltensabfolge aufbauen, die vom Ziel ausgeht. Im ersten Fall (bei höherer negativer Wertigkeit des Zieles) wird das Individuum zunächst mit großer Intensität vom Ziel fortstreben, um dann — immer langsamer werdend — im Konfliktpunkt zum Stillstand zu kommen. Im zweiten Fall (positive und negative Wertigkeit des Zieles sind gleich stark) wird das Individuum durch zwei widerstreitende Willensregungen im Ziel festgehalten, ohne daß ein bestimmtes Verhalten voraussagbar wäre. Im dritten Fall (bei höherer positiver Wertigkeit des Zieles) wird das Individuum im Ziel den positiven Wert verwirklichen, der ihm ja höher gilt als der negative und deshalb nicht so stark auf das Verhalten einwirkt.

Andere

Konfliktarten

Appetenz-Aversions-Konflikte sind immer nur dort möglich, wo der positive und der negative Wert sich hinsichtlich ihrer Verwirklichung auf einem identischen Kontiguitäts-Ähnlichkeits-Kontinuum befinden. (Bezüglich ihrer realen Nähe zum Ziel fallen die logisch abhängigen Werte unter den Begriff der Kontiguität — obwohl formal ein entscheidender Unterschied zwischen Kontiguität und logischer Abhängigkeit besteht.) Bei Appetenz-Appetenz- oder A versions-Aversions-Konflikten ist hingegen die Situation notwendigerweise so beschaffen, daJß das Individuum sich zwischen zwei unterschiedlichen Kontiguitäts-Ähnlichkeits-Kontinua, die jedoch in bezug auf ihren Anstieg und ihre Höhe im Konfliktpunkt vergleichbare Gradienten haben, für ein wertverwirklichendes Verhalten entscheiden muß. Ein Appetenz-AppetenzKonflikt liegt vor, wenn eine Ratte in einem einfachen T-Labyrinth am Wahlpunkt angekommen ist und sich zwischen zwei gleich starken, sich aus unterschiedlichen Werthierarchien herleitenden Belohnungen entscheiden muß, wobei eine Belohnung die andere ausschließt. Zu einem Aversion-Aversions-Konflikt kommt es, wenn die Ratte sich am Wahlpunkt des T-Labyrinths zwischen zwei gleich starken Strafen, die sich 164

aus unterschiedlichen Unwerthierarchien herleiten, „entscheiden" muß, weil ihr der Rückweg versperrt ist und ein Verbleiben im Wahlpunkt einen Unwert verwirklichen würde, der mindestens ebenso hoch ist wie die durch die Strafen in den Zielboxen repräsentierten Unwerte. Wir sehen, daß der entscheidende Unterschied zwischen einem Appetenz-Appetenz- und einem Aversions-Aversions-Konflikt darin besteht, daß letzterer nur auftreten kann, wenn mindestens drei annähernd gleich hohe Unwerte auf die Wahlsituation einwirken, von denen der eine in seiner Verwirklichung an das Verbleiben in der Wahlsituation gebunden ist. Ist das Verbleiben in der Wahlsituation nicht unwertbesetzt, ist das Individuum auch nicht genötigt, sich für einen der beiden angebotenen Unwerte zu entscheiden, denn in der Nichtverwirklichung eines negativen Wertes würde es ja einen positiven Wert verwirklichen und deshalb im Wahlpunkt bleiben. Bei AppetenzAppetenz-Konflikten ist ein Verbleiben in der Wahlsituation meist deshalb schon unwertbesetzt, weil die NichtVerwirklichung der angebotenen Werte selbst ein Unwert ist, daher braucht kein anderer Unwert mehr auf die Wahlsituation einzuwirken. Durch tautologische Umformungen kommt man zu der Bestimmung, daß bei Appetenz-Appetenz-Konflikten d a s Individuum ebenso wie bei Aversions-Aversions-Konflikten recht eigentlich immer zwischen drei Möglichkeiten (anstatt, wie man meinen könnte, zwei) wählen muß, die alle drei (zumindest indirekt) negativ wertbesetzt sind (beim AppetenzAppetenz-Konflikt schließt ja die Verwirklichung des einen positiven Wertes die NichtVerwirklichung des anderen positiven Wertes ein, wodurch ein negativer Wert verwirklicht wird 6 3 ). Eine besondere Form von Konflikten liegt vor, wenn die beiden konkurrierenden Werte auf Kontiguitäts-Ähnlichkeits-Kontinua zu lokalisieren sind, die sich nur bis zur Verwirklichung eines der beiden Werte decken, so daß historisch-pragmatisch die Verwirklichung oder der Zeitpunkt der Verwirklichung des einen Wertes der Verwirklichung oder dem Zeitpunkt der Verwirklichung des anderen vorgeordnet ist. D a s ist z. B. der Fall, wenn ich damit rechnen muß, daß eine bestimmte wertverwirklichende Handlung nach der Wertverwirklichung sehr wahrscheinlich von einer Unwertverwirklichung gefolgt ist, wobei BS

Die Tautologie stellt sich demnadi folgendermaßen dar: wird bei einem AppetenzAppetenz-Konflikt Wert A verwirklicht, so wird gleichzeitig mit der NichtVerwirklichung des Wertes B ein Unwert verwirklicht. Eine entsprechende Bestimmung gilt für den Fall, wo statt dessen WertB verwirklicht wird. Verbleibt das Individuum hingegen im Wahlpunkt und verwirklicht es weder den Wert A noch den Wert B, so ergibt sich die dritte mögliche Unwertverwirklichung. 165

die beiden unterschiedlichen Wertverwirklichungen durch eine im einzelnen bestimmbare Zeitspanne getrennt sind. Dabei ist für die Determination des Verhaltens als „hinstrebend" oder „wegstrebend" nicht nur die Höhe des Wertes und des Unwertes entscheidend, sondern auch die zeitliche Differenz zwischen den Wertverwirklichungen (vgl. „delay in reinforcement", H U L L 1952). Hier sind — wie für alle anderen Kognitionen hinsichtlich Werten — nicht „objektive" Verknüpfungen oder Zeitabfolgen maßgebend, sondern die Verknüpfungen und Zeitabfolgen, wie sie im Lebensraum des Subjekts repräsentiert sind. Von daher ist die weiter in der Zukunft liegende Wertverwirklichung nicht nur zeitlich weiter entfernt, sondern es besteht auch für das Subjekt eine geringere Aussicht auf Realisation als bei der zeitlich näher liegenden Wertverwirklichung (vgl. S. 1 5 1 f.). Indem das Individuum sein Verhalten in die Zukunft hinein plant, muß es auch unvorhergesehene Ereignisse mit einplanen, welche die weiter in der Zukunft liegenden Wertverwirklichungen vereiteln können, und zwar wird die subjektive Wahrscheinlichkeit einer Vereitelung um so größer werden, je größer die zeitliche Entfernung zwischen Zielsetzung und Wertverwirklichung ist. Gemäß unseren Bestimmungen sind jedoch Werte mit geringerer Realisationsaussicht gegenüber jenen mit höherer Realisationsaussicht auch die geringeren Werte, deren Wirkung auf das Verhalten entsprechend weniger stark ist. So kann ich bezüglich einer Handlung, die kurzfristig einen positiven Wert verwirklicht, Reue antizipieren, sofern ich voraussehe, daß meine Handlung notwendig langfristig einen negativen Wert verwirklicht, und dann diese Handlung dennoch vollziehen, weil die Verwirklichung des negativen Wertes, der ebenso hoch oder gar höher als der positive Wert ist, so weit in der Zukunft liegt, daß sich Appetenz- und Aversionsgradient nicht schneiden, es also zu keinem echten Konflikt kommt. Ich kann midi z. B. für die angenehmen Zuständlichkeiten infolge eines Alkoholrausches entscheiden, obwohl ich für den nächsten Tag die schlimmsten Nachwirkungen antizipieren muß, da ich weiß, daß ich Alkohol nicht vertrage. Ebenso ist die Entscheidung zwischen „ein Wertgegenstand jetzt" „mehrere Wertgegenstände der gleichen Art später" nicht nur von Differenz der Anzahlen der Wertgegenstände, sondern auch davon hängig, wie weit dieses „später" in der Zukunft liegt (das gilt Güter in gleichem Maße wie für Übel).

und der abfür

Liegt die Verwirklichung eines positiven Wertes raum-zeitlich hinter einer Unwertverwirklichung, so gilt die gleiche Bestimmung; entscheidend für ein Streben nach der Verwirklichung des positiven Wertes sind nicht nur das Ausmaß des zu überwindenden Übels und die Höhe des anzustrebenden Gutes, die raum-zeitlidie Entfernung des Gutes vom Übel geht in die Entscheidung mit ein. 166

Zu einem Konflikt kann es in den genannten Fällen nur dann kommen, wenn sich die Gradienten der beiden unterschiedlichen "Werte irgendwo schneiden oder aber sich sogar über eine gewisse Strecke decken. Die Überwindung von Konflikten und die Folgen mißglückter überwindung

Konflikt-

Ein Konflikt bleibt so lange bestehen, wie sich zwei oder mehrere konkurrierende Wertgradienten die Waage halten; Verhalten, das auf eines der involvierten Ziele gerichtet ist, läßt sich aus einem Konflikt nicht eindeutig determinieren (daraus jedoch eine Unmöglichkeit von zielgerichtetem Verhalten abzuleiten, halten wir — wie weiter oben näher ausgeführt wurde — für eine naive Ontologisierung des Kausalitätsprinzips). Tritt in einer als „Konflikt" klassifizierten Situation ein Verhalten auf, das die Verwirklichung eines der involvierten Werte intendiert, so wird man, sofern man dieses Verhalten kausal begründen will, die Kategorisierung der Situation als „Konflikt" rückgängig machen und sagen, es habe kein echter Konflikt vorgelegen und die vermutete "Wertkonkurrenz sei nur eine scheinbare. In diesem Fall gibt es prinzipiell drei Möglichkeiten der Erklärung: Einmal kann die Analyse der involvierten Werte ergeben, daß der Konflikt nur scheinbar ist, weil entgegen dem ersten Eindruck doch eines der "Willensziele geringfügig stärker positiv oder schwächer negativ als die anderen ist und deshalb das Verhalten bestimmt; zum anderen kann anfänglich zwar ein echter Konflikt vorliegen, der sich aber dadurch auflöst, daß sich das "Wollen hinsichtlich eines der beteiligten Werte verstärkt (wie etwa die Aversion gegen den elektrischen Schlag überwunden wird, wenn das Tier immer hungriger wird und deshalb das Futter einen höheren Wert repräsentiert als am Anfang); schließlich kann der Fall vorliegen, daß sich die Gradienten der konkurrierenden Werte ändern, weil entweder der Zeitpunkt der Verwirklichung des einen oder des anderen Wertes näherrückt, ohne daß das Individuum einen Einfluß auf dieses Näherrücken hätte, oder aber eines oder mehrere der beteiligten Güter oder Übel durch äußere Einflüsse weniger gefällig bzw. mißfällig wird. Die drei beschriebenen Möglichkeiten erklären die „legitime" Überwindung eines Konflikts durch „Auflösung". Was geschieht nun aber, wenn der Konflikt sich nicht überwinden, d. h. nicht auflösen läßt? Dazu müssen wir zunächst die Konfliktsituation als solche etwas genauer erfassen. Indem ein Individuum als Folge seiner Handlungen die Verwirklichung eines Unwertes antizipiert, empfindet es die unangenehme Zu167

ständlichkeit „Furcht"; Furcht ist immer eindeutig auf eine Ursache bezogen. Je weniger eindeutig die Gerichtetheit der Antizipation einer Unwertverwirklichung ist, desto diffuser wird die Bezogenheit der unangenehmen Zuständlichkeit. Unangenehme Zuständlichkeiten mit diffuser Bezogenheit infolge uneindeutig gerichteter Antizipation der Verwirklichung eines Unwertes bezeichnen wir in Abhebung von Furcht als „Angst" (vgl. die Unterscheidung zwischen „Furcht" und „Angst" in der Existenzphilosophie). Dieser Bestimmung gemäß muß ein Konflikt zu Angst führen, denn die Antizipation der Unwertverwirklichung ist nicht eindeutig, sondern unbestimmt, da stets mehrere Unwertverwirklichungen möglich sind. In extremen Konfliktsituationen, in denen Nichtentscheidung ebenso unwertbesetzt ist wie die Entscheidung, wird die Angst in ihrer intensivsten Ausprägung erlebt; das in Frage stehende Individuum fühlt sich nämlich nicht nur durch die Umwelt, sondern auch durch sich selbst in der eigenen Existenz bedroht, weil es selbst ja in jedem Falle das auslösende Moment für die Unwertverwirklichung ist. Z w a r spielen Konflikte für das Entstehen von Angst eine große Rolle; Angst ist jedoch nicht, wie HOFSTÄTTER (1963, S. 184) vereinfachend annimmt, in ihrem Auftreten an Konflikte gebunden. Sie ist z. B. auch in Situationen möglich, in denen das betreffende Individuum zwar eine Unwertverwirklichung antizipiert, ohne diese jedoch lokalisieren zu können. Gerade die Unbestimmtheit ist es jedoch, die die Angst von der Furcht unterscheidet. Innerhalb des Appetenz-Aversions-Gradienten-Modells, das — soweit wir sehen — bisher am ausgiebigsten experimentell geprüft wurde, läßt sich der Bereich der Angst dem Bereich auf dem KontiguitätsÄhnlichkeits-Kontinuum zuordnen, der zwischen der ersten Antizipation des negativen Willenszieles und dem Konfliktpunkt liegt, wobei die Angst immer stärker wird, je mehr sich das Individuum dem Konfliktpunkt nähert. Ist dieser einmal in Richtung Ziel überschritten, so schlägt die Angst in Furcht um, denn die Antizipation ist nun eindeutig auf nur eine einzige Unwertverwirklichung gerichtet. Die in einer Konfliktsituation auftretende Angst wird als sekundäre unangenehme Zuständlichkeit, die als Verwirklichung eines negativen Zustandswertes entsprechend der Höhe der involvierten Unwerte und der Entfernung vom negativen Willensziel mehr oder weniger stark und satt mißfällt, zum Gegenstand eines sekundären Scheuens, das mit der Angst auch die Konfliktsituation zu meiden sucht. Das in Frage stehende Individuum hat nun über das ursprüngliche, sein Verhalten steuernde Willensziel hinaus ein neues: das Entkommen aus der Konfliktsituation. D a eine legitime Überwindung der Konfliktsituation nur möglich ist, wenn der Konflikt aufgelöst wird, verbleiben dem Individuum 168

bei Unauflösbarkeit des Konfliktes Ersatzlösungen, die im allgemeinen dadurch gekennzeichnet sind, daß sie einen Verzicht auf das ursprüngliche Willensziel darstellen, sich mit diesem jedoch zumeist auf dem gleichen Kontiguitäts-Ähnlichkeits-Kontinuum befinden (also in irgendeiner Form mittelbare Werte sind). Von den FREUDschen Mechanismen sind in diesem Zusammenhang „Verschiebung", „Sublimierung" und „Regression" interessant (vgl. T O M A N 1954, S. 37fr.), wobei die beiden ersten nicht notwendig an eine Lokalisation des Ersatzzieles auf dem Kontiguitäts-Ähnlichkeits-Kontinuum des ursprünglichen Willenszieles gebunden sind. L E W I N bezeichnet die neuen, nicht auf das ursprüngliche Ziel gerichteten Handlungen als „Ersatzerledigungen" ( L E W I N 1926); die in einer Konfliktsituation gesetzten, von den ursprünglichen mehr oder weniger abweichenden Ziele werden dementsprechend als „Ersatzziele" bezeichnet. Die Flucht vor der Angst des Konflikts kann jedoch nur erfolgreich sein, wenn die Ablösung vom ursprünglichen Ziel vollständig ist, d. h. das ursprüngliche Ziel entweder seines Wertcharakters entkleidet oder gar zum negativen Gegenstand des Wollens wird. In beiden Fällen hat das neue Kontiguitäts-Ähnlichkeits-Kontinuum im Ersatzziel sein Ende; das in seinem Streben auf Wertverwirklichung gerichtete Individuum kann nicht mehr in die ursprüngliche Konfliktsituation kommen, da es auf das Ersatzziel „fixiert" ist. Erfolgt die Ablösung vom ursprünglichen Willensziel nicht und ist deshalb die Fixation auf den Ersatzwert nicht vollständig, so werden die Gegenstände des Ersatzwertes, die auf Grund ihrer Bezogenheit auf einen mittelbaren Wert nur schwach gefallen, Ausgangspunkt eines fortdauernden Strebens nach dem ursprünglichen Willensziel, woraus sich die Möglichkeit eines neuerlichen Konfliktes ergibt, der wiederum zu Angst führt, die nur durch eine erneute Ersatzzielwahl oder eine Auflösung des Konflikts überwunden werden kann. In manchen Konfliktsituationen ist die Wahl eines Ersatzzieles nicht möglich und es kommt zu Verhaltensäußerungen, die über die zeitliche Erstreckung der Konfliktsituation hinaus anhalten und oft „sinnlos" erscheinen müssen. Experimentell untersucht wurden solche „sinnlosen", durch unauflösliche Konflikte hervorgerufenen Verhaltensweisen zuerst an Hunden ( P A W L O W 1927), sie werden als „experimentelle Neurosen" bezeichnet. Experimentelle Neurosen werden hervorgerufen, indem das Versuchstier zunächst zwischen zwei Reizen zu unterscheiden lernt, von denen einer die Verwirklichung eines positiven, der andere die Verwirklichung eines negativen Wertes repräsentiert. Wenn das Versuchstier die beiden Reize einwandfrei unterscheiden kann, werden sie vom Versuchsleiter systematisch angenähert, bis das Tier sie von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr unterscheiden kann. Bei P A W L O W wurden ein Kreis und eine Ellipse einander in ihrer Form angenähert; bei einem 169

Adisenverhältnis von 9:8 erfolgte Desorganisation des Verhaltens der Hunde: sie bellten, bissen, verweigerten die Nahrung, bekamen Kreislaufstörungen, gerieten in sexuelle Erregung und zeigten bisweilen sogar Lähmungserscheinungen. Ähnliche Äußerungen konfliktgestörten Verhaltens beobachteten G A N T T (1938, 1953) an Hunden, L I D D E L L & B A Y N E (1927) an Schafen, M A S S E R M A N (1964) an Katzen, M A S S E R M A N & P E C H T E L (1952) an Affen und M A I E R (1939, 1949) an Ratten. Eine besondere Form des desorganisierten Verhaltens in Konfliktsituationen ist die oft beobachtete „Flucht nach vorn", in der das Individuum die unbestimmte Angst des Konflikts gegen die eindeutig gerichtete Furcht vor nur einer Unwertverwirklichung eintauscht und vom Konfliktpunkt aus das negative Ziel anstrebt. Gewiß sind die an Tieren gewonnenen Untersuchungsergebnisse nicht in letzter Konsequenz auf das Konfliktverhalten von Menschen übertragbar, sie scheinen uns jedoch einen ernst zu nehmenden Einblick in die Genese und den Mechanismus von „Neurosen" überhaupt zu gewähren. Ein methodischer Nachteil besteht jedoch hinsichtlich des Phänomens der experimentellen Neurose und der Neurose überhaupt: Es ist, soweit wir sehen, bisher qualitativ nicht voraussagbar und nur im Nachhinein interpretierbar. Wir nehmen jedoch an, daß prinzipiell auch hier die Möglichkeit einer Voraussage gegeben ist, obwohl der Versuch einer inhaltlichen Voraussage „neurotischen" Verhaltens den Bereich unserer psychologischen Wertlehre überschreiten müßte. Deshalb soll hier auch nicht entschieden werden, ob Ersatzhandlungen und die Wahl von Ersatzzielen schon dem Bereich des neurotischen Verhaltens zuzuordnen seien und welches Verhalten überhautp „neurotisch" sei, da die Frage einer Klassifizierung als „ neuro tisch" nicht auf Werte bezogen ist, sondern gewöhnlich an Hand empirischer Normen erfolgt. Determiniertheit

des Verhaltens und

Willensfreiheit

Der Umstand, daß ein Individuum in Wahlsituationen (zu denen auch Konflikte gehören) meist nicht untätig bleibt, sondern sich für eine der vorgegebenen Verhaltensmöglichkeiten entscheidet (indem es z. B. den Konflikt „auflöst"), wobei die Wahl eben dieser Möglichkeit voraussagbar und erklärbar ist, erscheint R O H R A C H E R hinreichend, dem „Willen" jegliche Freiheit abzusprechen: „Die Frage, ob der Wille des Menschen frei sei, ist daher psychologisch exakt formuliert die Frage, ob der Mensch in einer gegebenen Wahlsituation jede Verhaltensmöglichkeit wählen könne; oder, noch genauer, die Frage: kann sich, der Mensch in einer gegebenen Situation für jede Wahlmöglichkeit entscheiden? Könnte er es, so wäre er frei... Bei dieser präzisen Formulierung ist die Antwort einfach. Sie lautet: nein; der Mensch kann in einer 170

gegebenen Wahlsituation nicht jede beliebige Verhaltensmöglichkeit wählen. Die Triebe, Interessen und Gefühle, die in ihm in dieser Situation auftreten, bestimmen ihn, eine bestimmte Verhaltensmöglichkeit allen anderen vorzuziehen und sich für sie zu entscheiden" (1951, S. 507). Wir meinen, daß R O H R A C H E R sich seinen „Beweis" etwas zu einfach gemacht und das Problem nicht adäquat durchdrungen hat. Einmal besagt die Entscheidung für eine bestimmte Verhaltensweise unter Einwirkung von „Trieben", Interessen und Gefühlen streng genommen nur, daß Verhalten in Wahlsituationen deterministisch begründet werden kann. Erkennt man darüber hinaus unsere Bestimmung an, daß intendiertes Verhalten notwendig einem Willensakt folgen müsse, wobei dieses Verhalten (zumindest indirekt) immer auf Verwirklichung des jeweils höchsten Wertes gerichtet sei, so erfahren wir durch Wahlverhalten lediglich etwas über die „Rangreihe" der in der jeweiligen Wahlsituation repräsentierten Werte und ihrer korrespondierenden Willensakte und -regungen. Die Frage der Freiheit des Willens, die sich — wie wir meinen — allein im Willen zum Wollen oder Nichtwollen äußern kann, wird durch Versuche über Wahlverhalten überhaupt nicht berührt, diese können ausschließlich zur Konstruktvalidierung des „hypothetical construct" der „Rangreihe" eines individuellen Wertsystems herangezogen werden. Zum anderen begeht R O H R A C H E R in seiner Argumentation einen schwerwiegenden methodologischen Fehler: indem er nämlich die „Beweis"-Situation so definiert, daß nur eine kausale Erklärung möglich ist, läßt er die Möglichkeit eines Indeterminismus überhaupt gar nicht erst zu, d. h., der empirische Gültigkeit beanspruchende Satz über die „Unfreiheit" ist innerhalb der von R O H R A C H E R angegebenen Situationen hinsichtlich seiner empirischen Gültigkeit überhaupt nicht prüfbar, da ihm durch empirische Befunde prinzipiell nicht widersprochen werden kann. Eine solche theoretische Annahme kann aber auf Grund der real nicht vorhandenen Möglichkeit des Widerspruches den Wert Wissenschaft nicht verwirklichen und ist daher zu verwerfen. Sind nun aber in diesem Fall Experimente zuzulassen, in denen auftretendes Verhalten nicht determiniert werden kann, wie es z. B. beim BuRiDANischen Esel bei einwandfreier Kontrolle der Bedingungen keine kausale Erklärung des Verhaltens geben darf, dieses also tautologisch indeterminiert ist64? Bei genauerer Betrachtung erweist sich das BuRiDANische Modell — sofern realisierbar — ebensowenig als legitimer Prüfstein für die Frage, ob alles Verhalten kausal begründbar 64

BURIDANUS geht es z w a r eigentlich nur um die menschliche Willensfreiheit; unsere methodischen Überlegungen müssen sich aber auch auf die Voraussagbarkeit und E r klärbarkeit von Tierverhalten erstrecken, da w i r es mit den gleichen Prinzipien interpretieren wollen wie menschliches Verhalten.

171

ist. Innerhalb dieser Modellsituation kann die Behauptung von der Indeterminiertheit niemals eindeutig falsifiziert werden, weil ja ein eventuelles Ausbleiben von Verhalten überhaupt nichts „beweist"; der Esel müßte prinzipiell ja auch darin frei sein, kein Verhalten zu zeigen. Verfolgt man den hier angefangenen Gedankengang weiter, so kommt man zu der Erkenntnis, daß das Kausalitätsprinzip — denn um dieses geht es hier recht eigentlich — niemals experimentell beweisbar ist (vgl. S. 27). Sofern man es anerkennt, muß man jede Situation deterministisch begründen; zweifelt man es an, wird man immer Bedingungen bestimmen können, unter denen es per definitionem nicht anwendbar ist. Damit ist aber das Kausalitätsprinzip letztlich der Beliebigkeit, d. h. der Freiheit, der Entscheidung überantwortet, wodurch sich „Kausalität" als eine mittelbare Folge des freien Willens ergibt, denn ich bin frei, „Kausalität" zu wollen oder nicht zu wollen. Würde man nun einwenden, die Entscheidung für oder gegen „Kausalität" sei selbst kausal begründet, dann stünde man vor der Aufgabe, zu erklären, wie ein Prinzip imstande sei, sich unmittelbar selbst aufzuheben; wenn nämlich meine Entscheidung, künftig nur noch final zu erklären, von mir nach dieser Entscheidung kausal nicht mehr begründet werden kann, dann gibt es für mich das Prinzip der „Kausalität" nicht mehr. Sofern man aber dem Fehler verfällt, „Kausalität" naiv zu ontologisieren, wie das ROHRACHER tut, indem er behauptet, die Entscheidungen innerhalb einer Wahlsituation beruhten alle auf organischen Prozessen, in den organischen Prozessen aber „sei" alles Geschehen kausal bestimmt (1951, S. 507), kann es prinzipiell nichts anderes als „Kausalität" geben, denn diese wäre ja — als von einer Instanz außer uns gesetzt — ewiger Bestand der Wirklidikeit. Ein Versuch, die allseitige Gültigkeit des Kausalitätsprinzips zu bezweifeln, käme einem Verstoß gegen die Vernunft und somit der wissenschaftlichen Ketzerei gleich; das wäre aber der erste Schritt zum Glauben an die „ Weltmaschine" mit einem Verzicht auf die Möglichkeit einer Freiheit, auf die wir nur verzichten können, eben weil wir uns der Freiheit der Entscheidung bewußt sind, ob wir Wissenschaft als passive Kontemplation verstehen wollen oder aber als schöpferische Handlung, die nur dem Menschen möglich ist, der in seiner Freiheit einen Wert sieht und der bereit ist, sich der Verantwortung, die ihm aus der Freiheit notwendig erwächst, zu stellen.

2. D i e

Werthaltungen

Werthaltung als Disposition zu Wertungen Indem wir die Verwirklichung von Zustandswerten, Personwerten und Fremdwerten wollen und an ihren Gegenständen Gefallen finden, 172

äußert sich ein besonderer Aspekt von Befindlichkeit: wir werten „ W e l t " einschließlich uns selbst. Kann man die einzelnen Wertungen in Form von Willensakten und Willensregungen als dynamische „Geschehen" bestimmen, die nicht ständig, sondern nur von Zeit zu Zeit auftreten, so sind diese dynamischen Geschehen in der Folgerichtigkeit ihres A u f tretens und Ablaufs niemals aus sich verständlich, sondern auf Interpretation durch ein übergreifendes Konstruktum angewiesen, das als mehr oder weniger zeitlich konsistente „Disposition" zu verstehen wäre. Eine Disposition zu wertendem Verhalten wollen wir als „Werthaltung" bezeichnen, Werthaltungen kennzeichnen die jeweilige Befindlichkeit eines Individuums gegenüber dem eigenen Wertsystem und seinen Gegenständen. Der

Begriff

„sentiment"

bei M U R R A Y &

MORGAN

„Werthaltung" scheint sich auf den ersten Blick in der Bedeutung weitgehend mit der psychologischen Bedeutung des Begriffs „sentiment" bei MURRAY & MORGAN ( 1 9 4 5 ) z u decken. N a c h MURRAY &

MORGAN

ist „sentiment" „a more or less enduring disposition (predilection or readiness) in a personality to respond with a positive or a negative affect to a specified entity" (1945, S. 11). Unter „affect" verstehen sie einen hypothetischen physikalischen Prozeß, der „when positive, manifests itself subjectively as a feeling of attraction or sympathy, of liking, desiring, valuing, enjoying, loving, admiring, favoring, or approving of, a given entity (in actuality or in the imagination); and when negative manifests itself subjectively as a feeling of aversion or antipathy, of disliking, not wanting, not valuing, not enjoying, hating, scorning, being disgusted, annoyed or bored by, dreading, or wishing to escape from, a given entity (in actuality or in the imagination)" (S. 11). D a wir den Begriff „sentiment" nur in seiner engeren, wie wir meinen, eigentlich „psychologischen", Bedeutung für unsere Zwecke als relevant erachten, gehen wir auf die Bestimmung von „affect" als primär physiologische Variable, die auch „unbewußt" vorliegen kann (das Subjekt „may not feel the feeling") 65 , nicht ein und befassen uns nur mit dem, was von den Autoren als „direkte subjektive" Manifestation von „sentiment" verstanden wird. D a „affects" eigentlich nur der Methode der Introspektion zugänglich sind und intersubjektiv lediglich als „intervenierende Variable" aus objektiven Kriterien („expressive speech and movements") erschlossen werden können, müssen sie auch indirekt in Form von objektiv gegebenen Operationen aufweisbar sein. „Indirekt", d. h. operational, definieren MURRAY & MORGAN „sentiment" •* Die beiden Autoren sind sich der Tatsache bewußt, daß „an unfelt feeling" eigentlich eine „paradoxical notion" ist (MURRAY & MORGAN 1945, S. 11, Fußnote).

!73

als „more or less enduring disposition to respond to a specified entity with a positive or negative conative trend" (194 j , S. 12). Dabei verstehen sie unter „positive conative trend" eine Art „Triebspannung", die sich äußert „(a) by verbal or physical activity that brings the subject closer to the entity in order to enjoy it (adient vector), or (b) by verbal or physical activity at a distance that promotes the welfare of the entity" (S. 13). Entsprechend äußert sich „negative conative trend" „(a) by activity that separates the subject from the entity (abient vector), or by activity that brings the subject closer to the entity in order to belittle, injure or eliminate it (contrient vector); or (b) by activity at a distance that is antagonistic to the welfare of the entity" (S. 13). „Conative trends" decken sich u. E. in ihrer offenen Auswirkung mit den „Bezugswendungen" bei K A F K A (1937). „Conative trends,, stellen M U R R A Y & M O R G A N „intellective trends" an die Seite. „A positive intellective trend is exhibited by a thought process which associates or rationally integrates the given entity with entities that are appealing or respected; whereas a negative intellective trend is a thought process which associates or rationally integrates the given entity with entities that are repellent or condemnable. Such thought processes are manifested in word associations, in discussing, characterizing, or analyzing the entity, or in arguing for or against its significance or worth" ( M U R R A Y & M O R G A N 1945, S. 13). So klar und einleuchtend die begrifflichen und operationalen Bestimmungen bezüglich des Begriffes „sentiment" zunächst auch erscheinen mögen, so können wir sie doch nicht in unsere Systematik übernehmen, weil sie u. E. zum Teil sehr unsystematisch sind, da die Autoren ohne nähere Begründung Zuständlichkeiten, Willensakte und Willensregungen in eine Kategorie bringen, wodurch der Begriff „sentiment" den der „Werthaltung", wie wir ihn verstehen, in letzter Konsequenz nicht deckt.

Abhebung des Werthaltungsbegriffs vom Begriff

„sentiment"

So verwenden wir „Werthaltung" in Abhebung von „sentiment" und kommen entsprechend auch zu etwas anderen operationalen Bestimmungen als M U R R A Y SC M O R G A N . Als „Befindlichkeit gegenüber dem eigenen Wertsystem und dessen Gegenständen" kann „Werthaltung" sich äußern in „Werturteilen", „Stellungnahmen" und „Bedürfnissen". Wertverwirklichendes Verhalten ist nicht selbst Werthaltung, sondern durch Werthaltung verursacht, es kann zur Validierung des Konstruktums „Werthaltung" herangezogen werden, ist diesem jedoch sowohl logisch als auch historisch unter- und nachgeordnet.

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Werturteile und Stellungnahmen unterscheiden sich von Bedürfnissen dadurch, daß sie sich auf den Akt eines zielsetzenden Wüllens oder die Willensregung eines Gefallens beziehen, ohne dabei über die Feststellung „hier liegt ein Wert vor" oder „hier liegt ein Wertgegenstand vor" hinauszugehen. Bedürfnisse hingegen sind als aktuelle Tendenz, einen Wert zu verwirklichen, zu verstehen, sie implizieren stets ein Werturteil oder eine Stellungnahme, ohne in ihnen enthalten zu sein. Bedürfnisse sind das notwendige Bindeglied zwischen dem zielsetzenden Wollen und der wertverwirklichenden Handlung; von daher erklärt sich unsere Bestimmung, daß eine zielverwirklichende Handlung stets nur mittelbare Folge eines Willensaktes sein kann (vgl. S. 2$); die historische Abfolge verläuft demnach vom zielsetzenden Willensakt (ungesättigtes Gefallen) über das Bedürfnis, den als Ziel gesetzten Wert zu verwirklichen, bis zur Verwirklichung des Wertes in einem Wertgegenstand (gesättigtes Gefallen). Eine entsprechende Bestimmung ist für negative Werte zu machen; auch hier setzt die tatsächliche NichtVerwirklichung das Bestehen eines Bedürfnisses notwendig voraus. Hinsichtlich eines schon verwirklichten Wertes sind nur noch Werturteile oder Stellungnahmen, jedoch keine Bedürfnisse möglich; Bedürfnisse sind stets an ein Wollen gebunden, wo dieses schweigt (weil es etwa in der Verwirklichung seines Zieles aufgehoben ist), kann es auch kein Bedürfnis geben. Wir wollen im folgenden die drei zu unterscheidenden Begriffe „Werturteil", „Stellungnahme" und „Bedürfnis" etwas näher untersuchen.

Begriffslogische Bestimmung von Werturteilen Ein Werturteil als Operation, die sich auf Werte als ideelle Bedeutungseinheiten wie auch gleichermaßen auf Wertgegenstände als empirische Verwirklichung solcher ideellen Bedeutungseinheiten beziehen kann, unterscheidet sich von einem anderen Urteil dadurch, daß es einem Urteilsgegenstand oder Sachverhalt nicht ein beliebiges Prädikat zuordnet, sondern notwendig ein Prädikat in Form eines Wertbegriffes. Einem bestimmten Urteilsgegenstand S wird entweder das Wert-Sein oder das Wertgegenstand-Sein prädikativ unmittelbar zugeordnet. Zielt ein Werturteil direkt auf einen Wert, so ist seine allgemeinste Form „S ist ein Wert" (z. B. „Freiheit...", „Freundschaft...", „Schönheit..." usw.); damit wird ausgedrückt, daß dasjenige Subjekt, welches dieses Urteil abgibt, einen bestimmten Begriff nicht nur setzt, sondern seine Verwirklichung will und Gefallen an den Gegenständen hat, in denen er sich verwirklicht. Wird durch ein Werturteil ein Wertgegenstand angezielt, ist die allgemeinste Formulierung „S ist wertvoll" oder "S 175

verkörpert einen Wert" (z.B. „Gold...", „Nahrung...", „Lust..." usw.); damit wird ausgesagt, daß der angezielte Urteilsgegenstand nicht selbst ein Wert ist, sondern einen Wert verwirklicht. Ein Werturteil kann jedoch auch dann vorliegen, wenn das urteilende Subjekt den angezielten Urteilsgegenstand nicht direkt als Wert oder wertverwirklichend bezeichnet, sondern ihn auf sich oder ein anderes urteilendes Subjekt bezieht und Urteile folgender Form abgibt: „Gegenstände, die S verwirklichen, gefallen mir" (z.B. „Gegenstände, die den Begriff Kunst verwirklichen, gefallen mir") oder „S gefällt mir" (z.B. „dieses Bild gefällt mir"). Im ersten Fall wird der betreffende Begriff als Wert gekennzeichnet, im zweiten Fall ist der angesprochene Gegenstand ein Gut. Diese formalen Bestimmungen gelten mit umgekehrten Vorzeichen auch für Unwerte; Werturteile können also gleichermaßen Werte und Güter wie Unwerte und Übel kennzeichnen. Ein bestimmter Begriff, der bisher wertneutral war, kann Wertcharakter erhalten, wenn er vergleichend mit einem schon bestehenden Wertbegriff in Beziehung gesetzt wird, z.B. „das ist w i e . . . " , oder sich nachträglich als logische Implikation des schon bestehenden Wertbegriffes herausstellt, z. B. „Psychologie ist ein Wert, weil sie der Wert Wissenschaft logisch impliziert", oder schließlich dadurch, daß die „Nähe" oder „Ferne" des Begriffes oder seiner Gegenstände zu Wertbegriffen oder Wertgegenständen aufgezeigt wird, z. B. „Graphologie ist beinahe schon Wissenschaft". Wenn wir den Urteilsmechanismus näher untersuchen, der Begriffen oder Gegenständen mittelbar Wertcharakter verleiht, so sehen wir, daß hier die gleichen Prinzipien vorliegen wie bei den Beziehungen zwischen mittelbaren und unmittelbaren Werten: inhaltlicher Vergleich (Ähnlichkeit), Nähe oder Ferne (Kontiguität), logische Abhängigkeit. Werturteile können sich auch auf Unterschiede in der Rangreihe der Werte oder Wertgegenstände beziehen, indem sie etwa von einem Gegenstand aussagen, er sei „wertvoller", „schöner", „besser" oder gefalle „mehr" oder „stärker" als ein anderer. Eine entsprechende Bestimmung ist auch für Kennzeichnungen durch Rangunterschiede von Unwerten möglich, hier kann ein Gegenstand z.B. „häßlicher", „schlechter", „ekliger" sein oder „mehr" oder „stärker" mißfallen als ein anderer. Wird einem Wertgegenstand seine Werthaftigkeit im allgemeinen in Form eines Attributes zugeschrieben (z.B. „S ist schön", „S ist gut", „S ist wertvoll" usw.), so kann ein Wertgegenstand, indem man seinen Begriff in ein Attribut umformt, selbst Quelle einer wertenden Auszeichnung werden (z. B. „göttlich", „teuflisch", „schurkisch" usw.); der Bestand dieser aus der Umformung eines Wertgegenstands-Begriffes in 176

ein Attribut erwachsenen Wertbegriffe ist teilweise vom historischen Wandel des Sprachgeschehens abhängig. Darüber hinaus können primär wertneutrale Begriffe, Begriffszusammensetzungen oder Wortneuschöpfungen infolge einer „Mode" zu Wertbegriffen werden und ihren Wertcharakter nach Abklingen dieser „Mode" wieder verlieren. In zwanzig bis dreißig Jahren werden solche Wertbegriffe wie „Wuchtbrumme", „großer Heuler", „schau", „heiß" wohl kaum noch ihre wertende Bedeutung haben oder sogar gänzlich vergessen sein, obwohl sie vor ein paar Jahren zum ständig gebrauchten Wertbegriff-Repertoire bei vielen jungen Leuten gehörten und auch vereinzelt noch heute gehören 66 . Zuweilen kommt die Umkehrung von Wertbegriffen in ihr Gegenteil vor: wenn z. B. ein bestimmter Wertbegriff noch gesteigert wird, indem ihm ein Wertattribut mit umgekehrtem Vorzeichen vorangesetzt wird („schrecklich schön", „herrlich dumm" usw.); der begriffslogische Widerspruch erhöht die Auszeichnung. W i r d die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe vom urteilenden Subjekt als wert- oder unwertverwirklichend kogniziert, so kann der Name der Gruppe selbst zu einem Wertbegriff werden. Gewöhnlich ist für das Mitglied einer Gruppe der Name dieser Gruppe auch Inbegriff eines positiven Wertes, für Außenstehende kann er hingegen einen negativen Wert repräsentieren.

Werturteil und

Werthaltung

D a Werturteile stets Wertbegriffe involvieren, sind sie notwendig an „Sprache" in irgendeiner Form gebunden; das ganz kleine Kind, das das Instrument der Sprache noch nicht beherrscht, kann auch noch keine Werturteile abgeben (vgl. KRAFT 1 9 J I , S. 42ff.). Indem es aber die Sprache seiner Kultur lernt, übernimmt 6 7 es auch jene Begriffe, die ihm eine eindeutige Artikulation und Kommunikation seiner Werthaltungen 86

F ü r den Leser, dem diese Begriffe nicht bekannt sind, hier die Bedeutungen: „Wuchtbrumme" bedeutet im allgemeinen „attraktives M ä d c h e n " ; ein „großer H e u l e r " kann praktisch jeder Wertgegenstand v o n der Schallplatte bis zum Bungalow oder Düsenklipper sein; die Begriffe „schau" und „heiß" ersetzen sämtliche anderen W e r t a t t r i bute wie „schön", „ a t t r a k t i v " , „modern", „hervorragend" „ausgezeichnet" usw. O b wohl diese modebedingten Wertbegriffe in ihren Bedeutungen gewöhnlich sehr vage sind, bestehen innerhalb einer Population von Individuen, die diese Begriffe in ihren Urteilen verwenden, kaum Verständigungsschwierigkeiten.

67

Audi die Neusdiöpfung von Wertbegriffen (vgl. die „Mode"-Wertbegriffe) setzt das Vorhandensein v o n interindividuell gültiger Sprache voraus, da ein neuer W e r t begriff immer nur in Bezogenheit auf Sprache kommunizierbar ist.

12 Keiler, Wollen

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ermöglichen, welche ja etwa aus dem Streben nach Lust und dem Vermeiden von Unlust schon vor Auftreten eines Sprachverhaltens erschließbar sind. K R A F T gibt in dem Kapitel über „Die Bildung des Wertcharakters" ( 1 9 5 1 , S. 48 ff.) eine Darstellung jener Wertbegriffe, die Kinder gewöhnlich vom Ende des zweiten Lebensjahres an verwenden; leider verweist er dabei nur auf Literatur älteren Datums, so daß es sehr leicht möglich ist, daß das Repertoire der Wertbegriffe von Zweijährigen im Jahre 1968 sich von dem der Zweijährigen in den Jahren 1920 bis 1930 unterscheidet. Da unsere Aufgabe eine systematische ist, verzichten wir auf eine eigene inhaltliche Aufstellung und den Aufweis der historischen Entwicklung von Wertbegriffen bei Kindern, zumal eine solche Aufstellung nur für den Augenblick gültig sein könnte, weil die Wertbegriffe als Teil der Sprache ebenso wie diese historisch „geworden" sind und einer ständigen Wandlung unterliegen. Da für die Kennzeichnung eines Werturteils die Verwendimg von Wertbegriffen ein notwendiges Kriterium ist, können Ausrufe wie „ah", „oh" oder „ih" noch nicht als Werturteile gelten, obwohl sie zur Operationalisierung einer Werthaltung herangezogen werden können. Daraus folgt, daß nicht jede verbale Äußerung und nicht jedes Verhalten mit Zeichencharakter, die sich auf eine Werthaltung beziehen, als Werturteil zu kennzeichnen sind: nicht jede Werthaltung führt notwendig zu einem Werturteil. Die Beziehung Werthaltung — Werturteil ist jedoch auch in umgekehrter Richtung nicht eindeutig; wir können ohne weiteres ein Werturteil abgeben, ohne daß diesem Urteil eindeutig eine Werthaltung entsprechen muß. Einmal können wir mit einem Werturteil nicht nur die für uns verbindlichen, sondern auch die unverbindlichen Werte und Wertgegenstände kennzeichnen. Das Urteil „S ist schön" braucht nicht meine eigene Werthaltung gegenüber „ S " zu betreffen, sondern kann sich ebensogut auf die vermutete Werthaltung der „Allgemeinheit" (als Inbegriff der anderen außer mir) beziehen, wobei meine Werthaltung von der vermuteten der „Allgemeinheit" durchaus abweichen kann. Zum anderen kann ich das Urteil „S ist wertvoll" auch fälschlich abgeben, um andere zu täuschen; dann heuchele ich eine positive Werthaltung, obwohl der betreffende Gegenstand mir stark und satt mißfällt oder weder mein Gefallen noch Mißfallen findet. Eine entsprechende Bestimmung hinsichtlich der Diskrepanz zwischen Werturteil und eigener Werthaltung ist in bezug auf „Heuchelei" und die Darstellung der Werthaltung der „Allgemeinheit" auch für Werturteile in negativer Form möglich. Aus der Erkenntnis, daß Werturteile — der sprachlichen Entwicklung und „Mode" folgend — inhaltlich wandelbar sind, wobei dieser Wandel nicht notwendig einer Änderung von Werthaltungen entspre178

dien muß, sowie aus der Feststellung, daß sehr wohl eine Diskrepanz zwischen Werturteil und Werthaltung bestehen kann, kommen wir zu der Bestimmung, daß Werthaltungen allein durch Werturteile nicht eindeutig zu operationalisieren sind. Werturteile für sich genommen sind beliebig und austauschbar; um als diagnostisches Mittel valide zu sein, müssen sie im Einklang mit den Stellungnahmen hinsichtlich eines bestimmten Wertes oder Wertgegenstandes stehen.

Begriffslogische Bestimmung von

Stellungnahmen

Als Stellungnahmen gelten all jene Aktivitäten, in denen sich eine Werthaltung „darstellen" kann, ohne daß sie „Darstellung" transzendieren oder als Werturteile zu klassifizieren sind68. Stellungnahmen können als Wahlverhalten (Vorziehen, Nachsetzen) oder zustimmende bzw. ablehnende Mimik, Gestik oder Sprachäußerung, die nicht Werturteil ist (z.B. das zustimmende „ah" und das ablehnende „ih"), operationalisiert werden. Unter die stellungnehmenden verbalen Aktivitäten fallen u. a. auch affektive Sprachäußerungen, die — da sie oft nur aus einem von zustimmender bzw. ablehnender Mimik oder Gestik begleiteten Wort bestehen — noch nicht als Werturteile gelten können. Die Ausrufe „schön!", „herrlich!", „prima!" und auch negativ-affektive Äußerungen, wie z. B. gewisse Abwandlungen von „Mist!" oder „Dreck!", sind — da sie nicht eindeutig einem. Gegenstand oder Sachverhalt S ein Wertprädikat zuordnen — noch keine Werturteile, sondern positive oder negative Stellungnahmen. Stellungnahmen als quasi objektiv vorliegende Operationen mit Darstellungsfunktion richten sich niemals direkt auf Werte als ideelle Bedeutungseinheiten, sondern stets auf Wertgegenstände und deren Repräsentationen oder aber auf Verhalten, das direkt mit Werten oder deren Verwirklichung in Beziehung steht. Damit entsprechen Stellungnahmen als objektiver Tatbestand dem subjektiven Tatbestand des Gefallens, und zwar äußert sich Gefallen in positiver Stellungnahme, Mißfallen hingegen in negativer. Von daher kommen wir zu einer weiteren Unterscheidung zwischen Werturteil und Stellungnahme; Werturteil erfordert nicht nur Sprache, sondern ist inhaltlich differenziert, indem es etwa einen Gegenstand einem bestimmten Wertbereich zuordnet (z. B. sagen wir von einer Speise nicht, daß sie „schön", sondern daß sie „wohlschmeckend" sei). Stellungnahme, die sich eindeutig auf Gefallen be68

D a m i t unterscheidet sidi unsere Bedeutung von „Stellungnahme", die sich an die V e r w e n d u n g dieses Begriffes bei KRAFT ( 1 9 5 1 ) anlehnt, von der alltagssprachlichen Bedeutung, die keinen expliziten Unterschied zwischen „Werturteil" und „Stellungnahme" kennt.

12'

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zieht, kennt diese inhaltliche Differenzierung nicht, sondern unterscheidet lediglich zwischen positiven und negativen Stellungnahmen, die sich — bezogen auf Gefallen oder Mißfallen — gegenüber den verschiedenen Wertbereichen unterschiedslos in „Zustimmung" bzw. „Ablehnung" äußern69. Da in einer „Psychologie von den anderen" die Verknüpfung des „objektiven" Tatbestandes „Stellungnahme" mit dem „hypothetical construct" eines „subjektiven Gefallens" nicht vorgefunden wird, sondern Folge einer „logischen Verarbeitung" (im Sinne von D I N G L E R ) ist, kann sie — wie jedes Produkt einer „logischen Verarbeitung" — einer Täuschung unterliegen. Das gilt sowohl für Mimik, Gestik und affektive Sprachäußerung wie auch für Wahlverhalten; in allen genannten Fällen muß nicht notwendigerweise das zustimmende oder ablehnende Verhalten ein entsprechendes Gefallen repräsentieren. Stellungnahme

und

Gefallen

Eine Verknüpfung zwischen Stellungnahme und Gefallen kann mit stärkerer Berechtigung angenommen werden, wenn die Stellungnahme in ein Werturteil differenziert werden kann, das das gleiche Vorzeichen wie die Stellungnahme hat. Da sich sowohl Stellungnahme als auch Werturteil auf eine identische Werthaltung beziehen sollen, müssen sie das gleiche Vorzeichen haben. Mit dieser Bestimmung vollziehen wir nicht etwa eine Zirkeldefinition, denn wir sagen weder von Werturteilen aus, daß sie Stellungnahmen begründen, noch von Stellungnahmen, daß sie Werturteile begründen, beide stützen sich lediglich gegenseitig in ihrer Validität hinsichtlich der durch sie dargestellten Werthaltung. "Werturteile und Stellungnahmen können ineinander überführt werden. Indem wir ein bestimmtes Wahlverhalten, eine bestimmte zustimmende oder ablehnende Gestik verbal begründen, ist diese verbale Begründung notwendig ein Werturteil (z. B.: „ich habe A gegenüber B vorgezogen, weil A wertvoller als B ist" oder „ich habe ablehnend die Hände vorgestreckt, weil der Gegenstand S eklig ist"). Ebenso kann etwa das Werturteil „der Gegenstand S ist schön" in die zustimmende 69

Insofern gehört die Äußerung „der Gegenstand S gefällt mir" sowohl zu den Stellungnahmen wie den Werturteilen, wie überhaupt die Ubergänge zwischen Werturteil und Stellungnahme nicht scharf, sondern fließend sind. So ist die Äußerung: „ein schönes Tier" eher ein Werturteil als eine Stellungnahme, obwohl Urteilsgegenstand und Copula nidit explizit gegeben sind, sondern aus der jeweiligen Situation erschlossen werden müssen. Trotz dieser Unklarheiten in Zweifelsfällen hoffen wir doch, mit den getroffenen Bestimmungen die Unterscheidung zwischen Werturteil und Stellungnahme erleichtert zu haben.

180

Stellungnahme „ah" überführt werden. Werden Stellungnahmen in Werturteile überführt, so bedeutet das eine Vereindeutigung der repräsentierten Werthaltung in bezug auf den Gegenstand und die inhaltliche Differenzierung. Der umgekehrte Vorgang, die Uberfühung eines Werturteils in eine Stellungnahme, hebt die Eindeutigkeit der inhaltlichen Differenzierung und des Gegenstandes der Werthaltung auf und kennzeichnet diese nur in ihrer allgemeinsten Form als positive oder negative Befindlichkeit. Zwar „begründet" eine Stellungnahme ein Werturteil niemals eindeutig (ich kann einem zustimmenden „ah" durchaus das negative Werturteil „der Gegenstand S ist häßlich" folgen lassen, um andere zu täuschen), sofern sich aber ein positives Werturteil eindeutig auf eine positive Werthaltung bezieht, impliziert es notwendig eine zustimmende Stellungnahme. Eine umgekehrte Bestimmung (notwendige Implikation eines positiven Werturteils durch eine zustimmende Stellungnahme, die sich eindeutig auf eine positive Werthaltung bezieht) ist hingegen nicht gegeben; selbst bei übereinstimmendem Vorzeichen geht die inhaltliche Differenzierung des Werturteils stets über die lediglich zustimmende oder ablehnende Stellungnahme hinaus und kann nicht durch sie impliziert werden.

Methodische

Implikationen der Annahme einer Verknüpfung Stellungnahmen und Gefallen

von

Man wird zwar eine größere „Nähe" (im weitesten Sinne) zwischen Stellungnahme und Gefallen als zwischen Werturteil und Gefallen annehmen können, zumal interkulturelle Vergleiche die sprachfreien Stellungnahmen (etwa Mimik und Gestik) als weniger beliebig und austauschbar erscheinen lassen als Werturteile; außerdem mag man einwenden, die Plötzlichkeit der Spontaneität vieler affektiver Sprachäußerungen (etwa das „ih" des Ekels oder das „ah" der Bewunderung) lassen die Hypothese der „Lüge" oder „Verstellung" als abwegig erscheinen. So plausibel diese Einwände auch sein mögen, sie ändern nichts an dem Umstand, daß in einer „Psychologie von den anderen" eine Verknüpfung zwischen „subjektiver" Willensregung und „objektiver" Verhaltensweise stets Folge einer „logischen Verarbeitung" ist und niemals als „bestehend" vorgefunden werden kann. Warum stellen wir diese Verknüpfung dann überhaupt her, anstatt uns auf die Katalogisierung jener offenen Verhaltensweisen zu beschränken, die wir als Stellungnahmen bezeichnen wollen? Dafür gibt es u. E. zwei Gründe: Einmal ist eine Bestimmung von Verhaltensweisen als „zustimmende" oder „ablehnende" Stellungnahme keineswegs eindeutig, sondern beliebig, solange wir diese Verhaltensweise aus ihrem Kontext lösen und für sich 181

betrachten. Ob das Zertrümmern eines Fernsehapparates überhaupt eine Stellungnahme und wenn, ob sie dann zustimmend oder ablehnend ist, kann aus dem Zertrümmern selbst niemals abgeleitet werden. M U R R A Y & M O R G A N haben offensichtlich die in dieser Richtung möglichen Einwendungen bei der operationalen Bestimmung der „conative trends" nicht gesehen, da sie so tun, als sei „welfare" oder „antagonistic to the welfare of the entity" (1945, S. 13) ohne Bezug auf ein „wertendes Bewußtsein" objektiv feststellbar. In dem von uns angeführten Beispiel kann die Zertrümmerung des Fernsehapparates Folge eines ungerichteten oder unkontrollierten Verhaltens sein; ist die Zertrümmerung eine Stellungnahme, kann sie sowohl zustimmend (z. B. Freude über einen großen Lotteriegewinn) als auch ablehnend (z. B. Ärger über das schlechte Fernsehprogramm) sein. Auf jeden Fall muß das in Frage stehende Verhalten mit etwas in Beziehung gebracht werden, das es selbst nicht ist, wenn es begründet bestimmbar und kategorisierbar sein soll; der Versuch einer Bestimmung und Kategorisierung des Verhaltens aus sich selbst ist beliebig. Indem wir also Verhalten darstellend auf Werthaltung oder Gefallen beziehen, schaffen wir die notwendige Begründung für die Bestimmung eben dieses Verhaltens als Werturteil oder als Stellungnahme. Jeder Versuch, diese Verknüpfung nicht zuzulassen, würde der Beliebigkeit der Bestimmungen Tür und Tor öffnen, denn prinzipiell kann, wie wir gesehen haben, jede Sprachäußerung Wertbegriff und jedes offene Verhalten Stellungnahme sein. Der hinreichende Grund für die Annahme einer Verknüpfung zwischen Gefallen und Stellungnahme bzw. Werturteil und Werthaltung erwächst aus der allgemeinen Problemstellung dieser Untersuchung, die als „Psychologie von den anderen" zum Gegenstand „vorwissenschaftliche Psychologien von mir" hat. Aus den „vorwissenschaftlichen Psychologien von mir" wissen wir, daß bei introspektivem oder retrospektivem Vorgehen (im Rahmen der Autopsychologie eine legitime Methode im Dienste der Phänographie) sich oftmals eine Verknüpfung von Gefallen und Stellungnahme oder Werthaltung und Werturteil unmittelbar vorfinden läßt, zunächst nur in Form einer bloß assoziativen (Kontiguitäts-) Verknüpfung, die bei methodischerem Vorgehen jedoch infolge „logischer Verarbeitung" (die ja nach D I N G L E R auch in der „Psychologie von mir" vorliegen kann, vgl. S. 3 dieser Untersuchung) in eine GrundFolge-Beziehung umgewandelt wird; und zwar gelten Stellungnahme und Werturteil als „Folge" einer Werthaltung oder eines Gefallens. Wenn wir nun in eine Allopsychologie, welche „vorwissenschaftliche Psychologien von mir" zum Gegenstand hat, eine Verknüpfung zwischen „subjektiver" Werthaltung und „objektivem" Verhalten einführen, so 182

scheint uns dieses Vorgehen durch die aus „Psychologien von mir" stammenden Informationen hinreichend begründet. Ein Verzicht auf diese Einführung würde relevante Daten unintegriert lassen, womit gegen das Integrationsprinzip verstoßen würde, das wir ja als verbindlich anerkannt haben.

Begriffslogische Bestimmung von

Bedürfnissen

Bedürfnisse als notwendiges Bindeglied zwischen dem zielsetzenden Wollen und der wertverwirklichenden Handlung haben nicht so sehr Darstellungsfunktion in bezug auf Werthaltungen, wie man sie den Werturteilen und Stellungnahmen zuschreiben kann, sondern richten als aktiver Aspekt von Werthaltungen Verhalten-jetzt-und-hier auf sein Ziel aus. Damit ist „Bedürfnis" für uns ein rein psychologischer Begriff, keineswegs vergleichbar mit dem Trieb-Begriff der physiologischen Willensmetaphysik. Wir folgen hierin S C H W A R Z , der die Formulierung „körperliche Erfordernisse" gegenüber der Formulierung „körperliche Bedürfnisse" vorzieht, „weil der Begriff des Bedürfnisses ein psychischer ist" ( S C H W A R Z 1 9 0 0 , S. 2 4 , Anm. 1 ) . So bleibt ein Bedürfnis, das sich auf körperliche Erfordernisse richtet (wie z. B. „Schlaf", „Nahrung", „Wärme"), stets ein Bedürfnis und wird durch seine spezielle inhaltliche Ausrichtung nicht etwa zu einem „körperlichen Bedürfnis" oder gar einem „Trieb". Damit sind körperliche Erfordernisse anderen von außerhalb unseres Willens gesetzten Normen gegenüber nicht besonders ausgezeichnet, sondern gleichberechtigte Normen unter anderen (z. B. „sozialen" Normen), deren Erfüllung unserem Wollen positiver oder negativer Gegenstand oder aber ihm durchaus gleichgültig sein kann. (Dem Asketen, der alles Irdische verachtet, sind die körperlichen Erfordernisse ebenso „objektive, gültige" Normen wie anderen auch, nur daß ihre Erfüllung ihm im Gegensatz zu den meisten seiner Mitmenschen negativer Gegenstand des Wollens ist; der Künstler oder Wissenschaftler hingegen, der so von seiner Arbeit gefangen ist, daß er es nicht einmal bemerkt, wenn er zwölf oder vierzehn Stunden nichts gegessen hat, steht den körperlichen Erfordernissen indifferent gegenüber, da sie überhaupt nicht zum Gegenstand seines Wollens werden.) Die von L E W I N in seinem Aufsatz über „Vorsatz, Wille und Bedürfnis" ( 1 9 2 6 ) aufrechterhaltene Trennung zwischen „echten Bedürfnissen" (z. B. „Triebbedürfnissen") und „Quasibedürfnissen" (als Wirkung von „Vornahmeakten") erscheint uns lediglich „formal" begründet, da L E W I N sich die gesamte Untersuchung über nachzuweisen bemüht, daß „echte" und „Quasi"-Bedürfnisse phänomenal durchaus vergleichbar 183

sind und hinsichtlich der Wahrnehmung der auf sie bezogenen Gegenstände parallele Auswirkungen haben: sowohl „echte" als auch „Quasi"Bedürfnisse führen nach L E W I N ZU „ A u fforderungscharakteren" der beteiligten Gegenstände (192.6, S. 350), solange sie wirksam, und zum Schwinden der „Aufforderungscharaktere" (S. 352), sobald sie befriedigt sind. D a nach L E W I N Bedürfnisse auch auf „zentrale Wollungen" oder „zentrale Willensziele" (S. 349, 353) zurückgehen können (z.B. „Berufswille") und dann ebenfalls als „echte" zu gelten haben, scheint uns auch eine „formale" Trennung nicht mehr berechtigt. Daß eine Unterscheidung zwischen „Bedürfnis" und „Vornahme" dennoch sinnvoll sein kann, wollen wir nachzuweisen versuchen, wenn wir den Begriff des Bedürfnisses näher bestimmt haben,

Bedürfnis

und

Streben

Phänomenal sind Bedürfnisse, die wir vorläufig als „aktuelle Tendenz, einen Wert zu verwirklichen" operationalisiert haben, als „innerer in eine bestimmte Richtung gehender Druck, ein innerer Spannungszustand, der auf... Ausführung. .. hindrängt" ( L E W I N 1926, S. 348) zu kennzeichnen. Hierbei verstehen wir „Druck" und „Spannung" in ihrer alltagssprachlichen Bedeutung, die sich primär auf spezielle unreduzierbare „innere" Erlebnisqualitäten anläßlich der kognizierten Diskrepanz zwischen einem „Soll" und einem „Ist" und erst in zweiter Linie auf bestimmte theoretische Konstrukte in der Physik erstreckt. Damit ist der Begriff des Bedürfnisses in seiner phänomenalen Bedeutung eindeutig dem Bereich der „eigentlichen" und der „vorwissenschaftlichen Psychologien von mir" zuzuordnen. Als solcher kann er in eine Allopsychologie, welche „vorwissenschaftliche Psychologien von mir" zum Gegenstand hat, nur als „intervening variable" Eingang finden; die Annahme von Bedürfnissen ist jedoch — darauf wurde schon wiederholt von uns hingewiesen — notwendig, da sonst nicht zu erklären wäre, wie sich ein zielsetzendes Wollen in eine Verwirklichung eben dieses Zieles umsetzen kann. Gehen wir davon aus, daß ein bestimmtes Subjekt durch Akte des zielsetzenden Wollens ein Wertsystem aufgebaut hat, das formal die von uns festgesetzten Bestimmungen erfüllt, dann können wir bisher zwar entscheiden, welche Werte höher sind und welche Wertgegenstände stärker und satter gefallen, wir können aber noch nichts darüber aussagen, welcher Wert als nächster verwirklicht wird; denn die formale Feststellung, daß ein Wert hoch ist und die betreffenden Wertgegenstände stark, aber ungesättigt gefallen, beinhaltet ja noch nicht den „inneren Spannungszustand", der jetzt und hier auf Ausführung drängt. Nun 184

scheint es so, als hätten wir uns in dieser Hinsicht durch die Bestimmung, das Individuum strebe in jeder beliebigen Situation die Verwirklichung des jeweils höchsten Wertes an, schon festgelegt (vgl. S. 152). In den wenigsten Fällen ist jedoch das eigentliche Willensziel auf direktem Wege erreichbar, in den meisten Fällen ist die Verwirklichung von pragmatisch vorgeordneten Zwischenzielen notwendig. Um diese zu verwirklichen, muß aber ein Bedürfnis bestehen, sie zu verwirklichen. Folglich kann ich in dem Bestreben, den jeweils höchsten Wert zu verwirklichen, durchaus das Bedürfnis haben, einen dem höchsten Wert historisch-pragmatisch vorgeordneten Wert zu verwirklichen; das augenblickliche Bedürfnis eines Gefangenen nach Nahrung steht so lange nicht in Widerspruch zu seinem ständigen Streben nach Freiheit als höchstem Wert, wie die Erfüllung der körperlichen Erfordernisse der Verwirklichung des Wertes der Freiheit historisch-pragmatisch vorgeordnet ist (wenn mir Freiheit als das Höchste gilt, erweist sich das Uberleben meiner Person als notwendige historische Voraussetzung für die Verwirklichung des Wertes der Freiheit; Streben nach noch nicht verwirklichter Freiheit kann es nicht mehr geben, wenn ich schon Hungers gestorben bin). Damit haben wir aber eine wichtige Feststellung getroffen: zwar müssen augenblickliche Bedürfnisse — als aktuelle Tendenz, einen Wert zu verwirklichen — nicht notwendig inhaltlich mit dem Streben nach dem jeweils höchsten Wert identisch sein, sie dürfen ihm aber auch nicht widersprechen. Daraus folgt: ein Bedürfnis steht stets im Einklang mit dem Streben nach der Verwirklichung des jeweils höchsten Wertes, d. h., ein Bedürfnis wird stets vom Streben nach der Verwirklichung des jeweils höchsten Wertes transzendiert, sofern es nicht selbst aktuelle Tendenz ist, den höchsten Wert zu verwirklichen.

„Günstige"

Gelegenheiten in ihrer Auswirkung auf

Bedürfnisse

Hierbei scheint das Eintreten von bestimmten „günstigen" Gelegenheiten einen Einfluß auf die Entstehung von Bedürfnissen zu haben, wohingegen das Streben keine Rücksicht auf „günstige" oder „ungünstige" Gelegenheiten nimmt. Das wird besonders deutlich bei Bedürfnissen, die „periodisch" auftreten (z. B. „Hunger" oder „Müdigkeit"). „Hunger" ist als Bedürfnis, das sich auf körperliche Erfordernisse richtet, in seinem Auftreten nicht so sehr ein Abbild der körperlichen Erfordernisse (wie man vielleicht meinen könnte), sondern eher ein Abbild der in der jeweiligen Kultur üblichen Essenszeiten. Wir haben nicht deshalb immer mittags Hunger, weil zu diesem Zeitpunkt sich der Körper gerade in einem Mangelzustand befindet, sondern weil wir gelernt haben, daß sich mittags gewöhnlich die günstigste Gelegenheit ergibt, das Be185

dürfnis des Hungers zu stillen. Man mache einmal den Versuch, das Mittagsmahl zu überspringen und sich zur gewohnten Essenszeit ernsthaft mit etwas anderem zu beschäftigen, und man wird feststellen, daß schon einige Zeit danach das Bedürfnis, etwas zu essen, nicht mehr vorhanden ist, obwohl man doch eindeutig den körperlichen Erfordernissen nicht Genüge getan hat. Umgekehrt können wir am frühen Morgen ein wahrhaft üppiges Mahl zu uns nehmen, das unseren körperlichen Erfordernissen bis zum Abend entspricht, aber dennoch verspüren wir um die Mittagszeit den gewohnten Hunger. Ähnliche Beobachtungen lassen sich hinsichtlich des Schlafbedürfnisses machen; wie oft zeitigt der Versuch, „auf Vorrat zu schlafen", nicht den gewünschten Erfolg — man wird zur gewohnten Zeit müde — während man unter Beibehaltung der sonst üblichen Schlafgewohnheiten eine ganze Nacht ohne Schlaf durchstehen kann, wenn man einmal den „toten Punkt" überwunden hat. Diese Beispiele sollen erläutern, wie sehr Bedürfnisse von Gelegenheiten abhängig sind, während ein korrespondierendes Streben (im Falle der Beispiele das Streben nach der Verwirklichung von Zustandswerten) von diesen Gelegenheiten nahezu unberührt bleibt (indem ich meinen Hunger auf die angegebene Art „überwinde", setze ich ja nicht das Streben nach der Verwirklichung von Zustandswerten außer Kraft). Die Stärke eines Bedürfnisses, so wird man annehmen können, ist abhängig von der Stärke des korrespondierenden Wollens bzw. der Höhe des betreffenden Wertes. So wird das Bedürfnis, das eigentliche Willensziel zu verwirklichen, stärker sein als das, einen abhängigen Wert zu verwirklichen; und das Bedürfnis, einen ranghöheren Wert zu verwirklichen, stärker als das einen rangniederen betreffende. Die von uns angeführten „günstigen" oder „ungünstigen" Gelegenheiten beziehen sich bei näherem Hinsehen auf den von uns schon eingeführten Begriff der „Realisationsaussicht eines Wertes", bei „günstiger" Gelegenheit wären die Aussichten auf eine Realisation des betreffenden Wertes hoch, bei „ungünstiger" hingegen niedrig. Die „objektive"

Erfassung von

Bedürfnissen

Wie ist nun ein phänomenal als „innerer Spannungszustand" und operational als „aktuelle Tendenz, einen Wert zu verwirklichen" definiertes Bedürfnis „objektiv" zu erfassen? Wir sehen hier zunächst drei Möglichkeiten, die — jede für sich genommen — nicht hinreichen, aber in Kombination miteinander eine durchaus valide Bestimmung des Vorliegens eines Bedürfnisses ermöglichen. Einmal ist der phänomenale „innere Spannungszustand" in einer „Psychologie von mir" durch Introspektion eindeutig erfaßbar; man kann demnach in einer Allopsycho186

logie, die „Psychologien von mir" zum Gegenstand hat, Aussagen zulassen, die sich auf die Introspektion eines solchen „inneren Spannungszustandes" beziehen, wobei mit der Möglichkeit gerechnet werden muß, daß das betreffende Subjekt „falsche" Aussagen macht. Zweitens wissen wir seit L E W I N (1926), daß Objekte, die mit Bedürfnissen in Beziehung stehen, andere Wahrnehmungsurteile auf sich ziehen als jene, die nicht mit Bedürfnissen in Beziehung stehen, L E W I N spricht in diesem Zusammenhang von „Aufforderungscharakteren" (ähnliches auch schon bei A C H 1 9 1 0 ) . Wir wollen an dieser Stelle nicht erschöpfend auf diese Möglichkeit eingehen, da sie uns noch im zweiten Teil dieser Untersuchung ausgiebig beschäftigen wird. Die dritte Möglichkeit besteht darin, daß wir an Hand eines vermuteten Bedürfnisses Verhaltensvoraussagen machen, die die „Befriedigung" dieses Bedürfnisses betreffen, und dann die Voraussagen mit den Aussagen über das tatsächliche Verhalten vergleichen; der Nachteil der Anwendung lediglich der letzten Methode liegt klar auf der Hand, durch sie ist es nämlich niemals möglich festzustellen, ob „jetzt und hier" ein Bedürfnis vorliegt, sondern immer nur, daß zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Bedürfnis vorgelegen hat. Da aber gemäß unserer Definition zielgerichtetes Verhalten stets auf ein Bedürfnis zurückgehen muß, sieht man sich ständig der Gefahr eines möglichen Zirkelschlusses ausgesetzt, sofern man „Bedürfnis" durch Verhalten operationalisiert, das in seiner qualitativen Ausprägung erst durch das „Bedürfnis" erklärt werden soll. Die Kombination der drei angegebenen Verfahren scheint uns jedoch — zumindest in der Humanpsychologie — ein durchaus brauchbares Verfahren, das auch Zirkelschlüsse vermeiden kann, da es ja stets mehr als nur ein Außenkriterium zuläßt. Ein in der behavioristischen Tierpsychologie angewandtes mehr indirektes Verfahren, Bedürfnisse zu kontrollieren, besteht darin, die Zeitspanne zwischen der letzten Befriedigung eines „periodischen" Bedürfnisses (z. B. „Hunger") und dem Zeitpunkt der Untersuchung zu messen, in die das Bedürfnis „Hunger" als Variable eingehen soll, und diese Zeitspanne dann als Äquivalent des Bedürfnisses anzunehmen. Indirekt ist das Verfahren deshalb, weil ja die Zeitspanne zwischen Bedürfnisbefriedigung (bezogen auf körperliche Erfordernisse) und Untersuchung eigentlich höchstens einen Einfluß auf die körperlichen Erfordernisse haben kann, die nicht unbedingt den Bedürfnissen als „inneren Spannungszuständen" oder „aktuellen Tendenzen, einen Wert zu verwirlichen", parallel laufen müssen. Deshalb ist diese Methode auch nur eingeschränkt anwendbar; da z. B. beim „Hunger" das Bedürfnis kurz nach der gewohnten Zeit der Befriedigung entschieden schwächer sein kann als kurz vor dem gewohnten Befriedigungszeitpunkt, ohne daß das Bedürfnis befriedigt worden wäre, ist eine einfache Zuordnung von 187

Zeitabstand zwischen letzter Bedürfnisbefriedigung und Untersuchungszeitpunkt auf der einen Seite und Stärke des Bedürfnisses oder überhaupt einem Bedürfnis auf der anderen nicht zulässig. Ergänzend kann in einem solchen Fall das Verfahren von B R O W N (1942, 1948) angewandt werden, indem man nämlich Bedürfnis als „aktuelle Tendenz zu zielgerichtetem Verhalten" etwa mit Hilfe von Zugfeder-Vorrichtungen direkt mißt. Alternativ oder kombinativ zu diesem Vorgehen können auch die Ansätze zu zielgerichtetem Verhalten in einfachen Wahlsituationen zur Kennzeichnung eines Bedürfnisses herangezogen werden (hier muß natürlich — wie bei B R O W N — nur der Verhaltenstfmdfz berücksichtigt werden, während die Ausführung des Verhaltens bis zum Ziel vereitelt wird; andernfalls würde ja in der Verwirklichung des Verhaltenszieles das Bedürfnis selbst verändert werden). In der Verwirklichung des Willenszieles wird nämlich mit dem Wollen auch das betreffende Bedürfnis aufgehoben, wir sprechen dann davon, daß das Bedürfnis „befriedigt" sei. Das Ziel des Wollens ist also über die Verwirklichung eines Wertes und die Erreichung der höchstmöglichen Sättigung des Gefallens hinaus stets die Befriedigung eines Bedürfnisses. Phänomenal stellt sich Bedürfnisbefriedigung als Nachlassen der „inneren Spannung" dar.

„Bedürfnis",

„Motiv"

und „Vornahme"

(„Vorsatz")

Worin unterscheidet sich nun ein Bedürfnis von einer „Vornahme"} Bedürfnis sei, so sagten wir, die aktuelle Tendenz, einen Wert zu verwirklichen. Nun kann ein bestimmter Wert (z. B. der Zustandswert der „Lust") oftmals auf mehrfache und unterschiedliche Weisen verwirklicht werden, die in einem Bedürfnis, das ja gegenüber einem allgemeinen Streben nach Verwirklichung von Werten überhaupt viel spezifizierter ist, nicht inhaltlich expliziert sind. Das Bedürfnis nach Nahrung z. B. beinhaltet ja nicht, daß dieses Bedürfnis notwendig durch Brot befriedigt wird, sondern nur, daß es überhaupt auf Befriedigung drängt, wodurch — das ist zunächst gleichgültig. Wird ein Bedürfnis auf eine bestimmte Verhaltensweise oder ein bestimmtes Objekt eingeschränkt, wie etwa das Bedürfnis, im Sommer zu verreisen, sich schließlich auf einen Urlaub in einem ganz bestimmten Gebirgsort einengen kann, so sprechen wir nicht mehr von einem „Bedürfnis", sondern von einem „Motiv". Das Motiv ist die kleinstmögliche Einheit einer auf die Verwirklichung eines Wertes gerichteten Verhaltenstendenz. Wenn man die in den Lerntheorien übliche Unterscheidung 188

zwischen „molekularem" und „molarem" Ansatz, Verhalten zu erfassen, für unsere Unterscheidung zwischen „Bedürfnis" und „Motiv" übernehmen will, dann wäre „Motiv molekular" und „Bedürfnis molar". Sowohl Bedürfnisse als auch Motive sind in ihrer Kennzeichnung von einem übergeordneten Wert abhängig. Nun ist der Fall denkbar, daß die aktuelle Tendenz, einen Wert zu verwirklichen, von vornherein auf nur eine einzige Handlung und nur ein einziges Objekt gerichtet ist und daß in eben dieser Handlung hinsichtlich eben dieses Gegenstandes der in Frage stehende Wert in letzter Konsequenz operationalisiert und somit verwirklicht ist. Dieser Sachverhalt scheint uns treffend durch die bei L E W I N verwendeten Begriffe der „Vornahme" und des „Vorsatzes" erfaßt. In einer Vornahme (einem Vorsatz) decken sich vollinhaltlich Willensakt, Bedürfnis und Motiv. Alle Verhaltensweisen, die sich keinem Bedürfnis oder Wert zuordnen lassen, deren Kategorisierung als „intendiert" man aber dennoch beibehalten möchte, beruhen gemäß dieser Bestimmung notwendig auf „Vorsätzen" oder „Vornahmen". Vorsätze oder Vornahmen sind der notwendige und zureichende Grund für nicht weiter rückführbares Willkürverhalten. Damit verstehen wir aber die beiden Begriffe in einer etwas anderen Bedeutung als L E W I N , dessen „Vornahme" oder „Vorsatz" sich eher mit unserem Begriff des „Motivs" deckt.

3. V e r w i r k l i c h u n g u n d V e r e i t e l u n g d e r lichung von Werten Die Bewertung von

Verwirk-

Bedürfnissen

Wie das Streben nach der Verwirklichung eines Wertes in einer „zielbildenden Endhandlung" (vgl. G U T H R I E 1940, 1942 sowie L O R E N Z 1961) seine intensivste Ausprägung hat und sich zugleich selbst durch diese Handlung aufhebt, ist auch das korrespondierende Bedürfnis im Moment der Befriedigung am stärksten, um sich in der Befriedigung dann selbst aufzuheben; denn wo kein Wollen ist, kann auch kein Bedürfnis sein. Das Ende eines Wollens bedeutet demnach stets auch das Ende eines Bedürfnisses. Daß diese Bestimmung nicht auch notwendig in umgekehrter Richtung gültig ist, haben wir im vorangegangenen K a pitel aufgezeigt, als wir darauf hinwiesen, daß nicht für jedes Willensziel ständig die aktuelle Tendenz besteht, es zu verwirklichen. Das Nichtvorhandensein eines Bedürfnisses berechtigt also nicht zu der Annahme, daß auch ein entsprechendes Wollen nicht vorhanden sei, denn nicht jedes Wollen führt zu einem Bedürfnis. 189

Daraus folgt aber, daß das Ende eines Bedürfnisses nicht notwendigerweise durch eine Befriedigung herbeigeführt wird — in der das entsprechende Wollen sich in der Verwirklidiung seines Zieles selbst aufhebt — , sondern daß das Bedürfnis auch ganz einfach irrelevant werden kann, wenn das korrespondierende Wollen in seiner Stärke nachläßt. Wir haben daher zu unterscheiden zwischen der „Befriedigung", dem „Aufschub" und der „Aufhebung" eines Bedürfnisses; das soll im folgenden näher ausgeführt werden. Fassen wir zunächst ein Bedürfnis ins Auge, das auf die Erfüllung körperlicher Erfordernisse gerichtet ist — etwa „Hunger". Ich kann meinen Hunger befriedigen, indem ich esse; ich kann ihn aufschieben, indem ich mich konzentriert mit der Verwirklichung eines anderen Wertes (etwa „Klavierspielen") befasse; ich kann ihn aufheben, indem ich euphorisierende Drogen zu mir nehme, die nicht nur meine Magenschmerzen aufhören lassen, sondern mir darüber hinaus zu angenehmen Zuständlichkeiten verhelfen 70 . Oder ein anderes Beispiel: Ich habe das Bedürfnis, heute abend ins Kino zu gehen. Ich kann dieses Bedürfnis befriedigen, indem ich mir einen Film ansehe; ich kann es aufschieben, indem ich mich selbst auf morgen abend vertröste und heute abend tanzen gehe; ich kann es aufheben, indem ich mir klar mache, daß InsKino-Gehen eigentlich nicht die richtige Beschäftigung für mich sei, daß ein Theaterbesuch höher zu bewerten und deshalb vorzuziehen sei. Diese Beispiele lassen sich beliebig fortsetzen, ohne daß neue entscheidende Gesichtspunkte dabei zutage treten; eines implizieren sie jedoch in jedem Falle: sofern ein Bedürfnis auftritt, besteht niemals eindeutig die Notwendigkeit, es zu befriedigen; wir scheinen vielmehr ein beträchtliches Maß an Spielraum zu haben, über das „Schicksal" eines Bedürfnisses zu entscheiden. Damit unterliegen Bedürfnisse, die in ihrer Eigenart als Äußerungen von Werthaltungen als „Wertungen" zu klassifizieren sind, selbst wieder Wertungen. Indem ich ein Bedürfnis befriedige, werte ich es anders, als wenn ich es aufschiebe oder gar aufhebe. Diese Wertung kann nun aber nicht aus den Bedürfnissen selbst kommen, sondern muß einem Prozeß entspringen, der die drei vorgegebenen Möglichkeiten und ihre Konsequenzen mit dem übergeordneten individuellen Wertsystem in Beziehung setzt.

„Befriedigung",

„Aufschub"

und „Aufhebung"

von

Bedürfnissen

Ein Bedürfnis als aktuelle Tendenz, einen Wert zu verwirklichen — so hatten wir festgelegt (vgl. S. 175) — , muß notwendig mit dem jeweils 70

Vgl. in diesem Zusammenhang etwa auch die Experimente von OLDS et al. (S. 41 ff.).

190

höchsten Wert in Einklang stehen, es wird stets von ihm transzendiert. Die Befriedigung eines Bedürfnisses wird daher um so zwingender, je entscheidender sie für die Verwirklichung des höchsten Wertes ist. Das ist etwa der Fall, wenn die Bedürfnisbefriedigung mit der Wertverwirklichung direkt zusammenfällt oder aber die Bedürfnisbefriedigung notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung des Wertes, ihm also historisch-pragmatisch vorgeordnet ist. Der Aufschub eines Bedürfnisses ist dann zwingend, wenn die Analyse des Wertsystems ergibt, daß das in Frage stehende Bedürfnis zwar in Einklang mit dem ranghöchsten Wert steht, daß aber seine Befriedigung in der historisch-pragmatischen Reihenfolge der Befriedigung eines anderen Bedürfnisses nachgeordnet ist. Es kann jedoch auch sein, daß das in Frage stehende Bedürfnis nur dem ersten Anschein nach mit dem ranghöchsten Wert in Einklang stand, dieser Wert sich dann jedoch nachträglich gegenüber einem anderen als rangniedrigerer herausstellt; in diesem Falle wird das Bedürfnis bis nach der Verwirklichung dieses anderen Wertes aufgeschoben. Als drittes ergibt sich die Möglichkeit, durch einen eigenen Willensakt den dem Bedürfnis korrespondierenden Wert seiner Ranghöhe zu entheben und durch einen anderen Wert zu ersetzen. Ich kann z. B. ein Bedürfnis dadurch aufschieben, daß ich „beweisen" will, daß ein Aufschub möglich ist, oder aber um zu „beweisen", daß ich einen „starken Willen" habe, etc. In allen genannten Fällen gilt jedoch die Bestimmung, daß — wie es in der Alltagssprache heißt — „aufgeschoben nicht aufgehoben" sei. Zwingend aufgehoben wird ein Bedürfnis, wenn die Annahme, es stehe mit dem jeweils ranghöchsten Wert in Einklang, sich als Täuschung herausstellt, wenn ich also „falsche" Hypothesen über die Struktur meines eigenen Wertsystems hatte. Aufgehoben wird ein Bedürfnis aber auch dann, wenn ich einen neuen unmittelbaren Wert setze, der höher ist als der, welcher dem Bedürfnis korrespondiert, und zudem noch in Widerspruch zu ihm steht. Ähnliches kann bei einer völligen Umstrukturierung eines schon bestehenden Wertsystems vorkommen, wenn ich mein gesamtes Wertsystem auf einmal in Frage stelle. Zwar mag eine Umkehrung der Werte in der „unbearbeiteten" Realität nur selten vorkommen — und aus ethischen Prinzipien verbietet sich eine eingehende experimentelle Untersuchung des Problems —, dennoch möchten wir an dieser Möglichkeit festhalten, da sie zumindest einmal in der Literatur überliefert ist. Wir sprechen hier von der „inneren Wandlung" des Christenverfolgers S A U L U S in den Apostel P A U L U S , wie sie in der Apostelgeschichte des L U K A S (9, i f f . ; 22, 6 ff.; 26, i 2 f f . ) , aber auch von P A U L U S selbst (Gal. 1, 15 ff.; 1. Kor. 9, 1 ; 15, 8) erwähnt wird. In Anspielung auf dieses Ereignis redet man in der Alltagssprache auch davon, daß „aus dem Saulus ein Paulus" geworden sei, wenn man auf 191

eine positiv zu wertende tiefgreifende Änderung der Personhaffcigkeit eines anderen hinweisen möchte71. „Belohnung"

und

„Strafe"

Man wird jedoch annehmen können, daß Befriedigung von Bedürfnissen weitaus häufiger ist als Aufschub oder gar Aufhebung. Der Unterschied liegt aber auch noch auf einer anderen Ebene; Befriedigung ist sozusagen analytisch aus dem BedürfnisbegrifF herzuleiten, denn das eigentliche Ziel eines Bedürfnisses ist seine Befriedigung. Phänomenal stellt sich das als eine Tendenz zur „Entspannung" dar; daraus folgt die phänomenale Bestimmung: Jede Bedürfnisspannung drängt auf eine Entspannung12. Indem wir ein Bedürfnis aufschieben oder aufheben, „umgehen" wir diese dem Bedürfnis eigene Tendenz kraft einer Instanz außerhalb des Bedürfnisses, es kommt auch nicht zu einer Entspannung, sondern im Falle des Aufschubes zu einer „Verschiebung" der Spannung auf einen anderen zeitlichen Punkt des individuellen Lebensraumes, im Falle der Aufhebung hingegen zu einer inhaltlichen „Substitution" der Spannung. Wie das Wollen hat also auch das Bedürfnis sein Ziel in der Selbstaufhebung, woraus die operationale Bestimmung folgt, daß nach der Verwirklichung eines Wertes nicht mehr die aktuelle Tendenz besteht, ihn zu verwirklichen. Hierbei ist nicht entscheidend, ob der Wert tatsächlich verwirklicht ist, sondern daß das in Frage stehende Individuum den betreffenden Wert als verwirklicht kogniziert. So kann die Befriedigung eines Bedürfnisses durchaus auf einer „Täuschung" beruhen und dennoch das wertverwirklichende Verhalten abschließen. Ebenso kann das Subjekt mit seinen Versuchen, den betreffenden Wert zu verwirklichen, über die eigentliche Verwirklichung hinaus fortfahren, wenn es die schon erfolgte Verwirklichung des Wertes nicht als solche kogniziert. Von daher kommen wir zu einer eigenen Definition des Belohnungsbegriffes: Als „Belohnung" gilt die tatsächliche oder scheinbare Verwirklichung eines Wertes, sofern sie vom in Frage stehenden Individuum als tatsächliche Verwirklichung des betreffenden Wertes kogniziert 71

Ähnlich läßt sich das sogenannte „ 2 . - J u n i - E r l e b n i s " einordnen (gemeint sind damit die Auswirkungen des Schah-Besudies am 2. J u n i 1 9 6 7 in Berlin auf die politischen Werthaltungen vieler deutscher Studenten und Hochschullehrer).

71

D a m i t ist „ S p a n n u n g " nicht notwendig als „unangenehme Zuständlichkeit" definiert, denn einmal ist nicht jede „ S p a n n u n g " unangenehm, zum zweiten können w i r Z u ständlichkeiten nicht die gleiche Eigendynamik zuschreiben w i e der „ S p a n n u n g " , die v o n selbst auf „ L ö s u n g " oder „Ausgleich" drängt. „ F r e u d e " oder „ E h r f u r c h t " z. B. implizieren weder eine zeitliche Begrenzung noch einen „Ausgleich".

192

wird; eine Belohnung äußert sich in sattem Gefallen. Als „Bestrafung" gilt dementsprechend die tatsächliche oder scheinbare Verwirklichung eines Unwertes, sofern sie vom in Frage stehenden Individuum als tatsächliche Verwirklichung des betreffenden Unwertes kogniziert wird; eine Bestrafung äußert sich in sattem Mißfallen. (In den Bestrafungsbegriff wird gemäß unseren begrifflichen Bestimmungen auch die kognizierte NichtVerwirklichung eines Wertes aufgenommen, wie auf der anderen Seite der Belohnungsbegriff auch die kognizierte NichtVerwirklichung eines Unwertes impliziert.) Somit ist unser Belohnungs- bzw. Bestrafungsbegriff in erster Linie kognitiv konzipiert und erst in zweiter Linie emotional, wenn w i r berücksichtigen, daß die angenehmen bzw. unangenehmen Zuständlichkeiten anläßlich von Wert- oder Unwertverwirklichungen lediglich eine Folge des auf die Wert- oder Unwertverwirklichungen gerichteten satten Gefallens bzw. Mißfallens sind (vgl. SCHACHTER 1964). Damit stehen wir, soweit w i r sehen, dem ToLMANschen „confirmation"-Begriff näher als dem „reinforcement"-Begriff der klassischen Effekttheorien des Lernens (vgl. TOLMAN 1952). Die durch ein Gefallen oder Mißfallen in der qualitativen Ausprägung beeinflußten angenehmen oder unangenehmen Zuständlichkeiten haben daher in unserem System keine Ziel-, sondern eine Bestätigungsfunktion (vgl. S. 84). Durch Belohnung wird für das betreffende Individuum ein bestimmtes Verhalten als wertverwirklichend, durch Bestrafung als direkt oder indirekt (einen positiven Wert nicht verwirklichend) unwertverwirklichend gekennzeichnet. Belohnungen und Bestrafungen lassen die in einer „vor Wissenschaft liehen Psychologie von mir" entwickelten „ H y p o thesen" über die Beziehungen zwischen je „meinem" Verhalten und den Verwirklichungen je „meiner" Werte als adäquat oder weniger adäquat erscheinen 73 . In eine Allopsychologie mit dem Gegenstand „vorwissenschaftliche Psychologien von mir" können Belohnungen und Bestrafungen, da sie Bestandteil des je individuellen Lebensraumes sind, nur als „intervening variable" (im Sinne von MacCoRQUODALE & MEEHL) eingehen, sie sind niemals direkt beobachtbar.

DieWandlung

desWollens

und Gefallens nach der

Bedürfnisbefriedigung

D i e Kognition einer Wertverwirklichung, d. h. die Befriedigung eines Bedürfnisses in der Ausführung eines Motivs, hat nicht nur einen Ein" Mit diesen Implikationen decken, soweit wir sehen, der Belohnungs- und der Bestrafungsbegriff auch jene experimentellen Befunde, die von den effektorientierten behavioristisdien Lerntheorien zur Stützung des Verstärkungs- und Extinktionskonzepts herangezogen werden.

13 Keiler, Wollen

193

fluß auf das Bedürfnis und das korrespondierende zielsetzende Wollen, sondern macht sich auch im Gefallen am Wertgegenstand bemerkbar. Solange der Wertgegenstand nicht real vorliegt, der Wert also noch nicht verwirklicht ist, bleibt die Stärke des Gefallens gleich, nur der Sättigungsgrad ändert sich mit der raum-zeitlichen Nähe oder Entfernung vom Willensziel. H a t das Wollen jedoch erst einmal sein Ziel gefunden und liegt der betreifende Wertgegenstand in seiner Identität real vor, so erreicht das Gefallen den höchsten Grad der Sattheit, der unverändert bleibt, solange der Wertgegenstand real unverändert vorliegt. Statt dessen ändert sich jedoch die Stärke des Gefallens; und zwar gefällt ein Wertgegenstand um so schwächer, je „verankerter" er in der Realität ist, d. h., je länger und gesicherter er als dieser Gegenstand, dessen Realisation einmal Ziel des Wollens war, unabhängig vom Wollen besteht. Denn seinen Wertcharakter leitet er ja sowohl aus seiner ursprünglichen Nichtexistenz als auch dem Umstand her, daß seine Existenz Gegenstand des Wollens ist. Dementsprechend gefällt er um so stärker, je abhängiger er in seiner Existenz vom zielsetzenden Wollen und den diesem Willensakt korrespondierenden Handlungen, d. h., je unsicherer seine Wirklichkeitsverankerung ist. Mit diesen Überlegungen stehen wir im Gegensatz zu denen von SCHWARZ, der für das Gefallen lediglich unterschiedliche Sättigungsgrade zulassen will und jedem Gefallen bzw. Mißfallen die gleiche Stärke zumißt (1900, S. 106). Für uns wird die Unterscheidung zwischen Stärke und Sättigung des Gefallens jedoch in dem Augenblick wichtig, wo wir erklären wollen, wie es dazu kommen kann, daß ein Gegenstand, den ich doch begehrte, solange ich ihn nicht hatte, für mich „alltäglich" wird oder gar mein Mißfallen erregt, wenn ich ihn erst einmal besitze, obwohl er in der Realität genauso ist, wie ich ihn mir vorgestellt habe. Die Sattheit des Gefallens kann sich gemäß unseren früheren Bestimmungen nur mit der Verwirklichungsnähe oder -ferne des Gegenstandes ändern und ist von nichts sonst abhängig. Doch selbst wenn man eine mögliche Änderung der Sättigung bei Vorliegen eines Wertgegenstandes zulassen wollte, wäre daraus keineswegs eine qualitative Wandlung einer Willensregung von Gefallen in Mißfallen herleitbar (wie wenn man auf dem Gebiet der Farbwahrnehmung, aus dem der Sättigungsbegriff ja ursprünglich stammt, etwa behaupten wollte, „grün", „gelb" und „blau" unterscheiden sich von „rot" und untereinander nur durch ihre Sättigung). Gefallen und Mißfallen unterscheiden sich prinzipiell voneinander und nicht nur durch Unterschiede der Sättigung; sie sind, sofern sie sich auf den gleichen Gegenstand beziehen, stets entgegengesetzten Willensakten zugeordnet. Die Wandlung von Gefallen in Mißfallen läuft also stets mit einer Umstrukturierung oder Neudefinition von Willenszielen einher und ist ohne eine solche Umstrukturierung oder Neudefinition von Willenszielen nicht denkbar. Die je 194

individuellen Willensziele sind aber stets dann einer Umstrukturierung und/oder Neudefinition unterworfen, wenn ein Willensziel verwirklicht ist; in erster Linie sind davon das verwirklichte Ziel selbst und die ihm zugeordneten Gegenstände betroffen, da sie ja in letzter Konsequenz jetzt nicht mehr wert-, d. h. ideenbezogen, sondern wirklichkeitsbezogen sind. J e stärker die Wirklichkeitsverankerung eines Zieles in den ihm zugeordneten Gegenständen ist, um so weniger ausgeprägt ist aber, wie wir bereits festgestellt haben, das Streben nach Verwirklichung dieses Zieles: Ein Streben, das auf etwas gerichtet ist, dessen Wirklichkeit unabhängig von diesem Streben gesichert ist, ist paradox. Ein verwirklichter Wert kann nicht verwirklicht werden. Da der Befriedigung eines Bedürfnisses stets die Spezifizierung in ein Motiv vorangehen muß und in der Ausführung des Motivs auch das Bedürfnis befriedigt wird, kommen wir zu der Bestimmung, daß ein Bedürfnis zu einer gegebenen Zeit nur einmal befriedigt werden kann (man kann sich nicht mehr als „satt" essen). Sobald ein Bedürfnis, auf ein Motiv eingeengt, befriedigt ist und der dieser Bedürfnisbefriedigung korrespondierende Gegenstand in seiner Identität für dauernd in der Wirklichkeit verankert ist, ergeben sich hinsichtlich des zielsetzenden Wollens, das ja auf primär Nichtseiendes gerichtet ist, bezüglich dieses identischen Gegenstandes prinzipiell zwei Möglichkeiten: einmal kann das Wollen ihn unberührt lassen, in diesem Falle ist er wertneutral; zum anderen kann sich das Wollen negativ auf ihn richten, indem es sich die Nichtexistenz dieses Gegenstandes zum Ziel setzt, dann ist dieser negativ wertbesetzt. Bei auf die Wertverwirklichung folgender Wertneutralität des Gegenstandes nimmt die Stärke des Gefallens an diesem Gegenstand — während die Sättigung gleichbleibt — allmählich ab, bis schließlich nur noch „Interesselosigkeit" zurück bleibt. Die Zeitdauer dieses Prozesses muß sich — gemäß unseren früheren Überlegungen — aus der subjektiven Sicherheit oder Unsicherheit über die Verankerung des Gegenstandes in der Wirklichkeit herleiten lassen; je unsicherer das betreffende Individuum über die Stärke der Wirklichkeitsverankerung ist, um so länger wird das Gefallen andauern. Bei absoluter subjektiver Sicherheit müßte sich das Gefallen gleich dem zielsetzenden Wollen sofort nach der Verwirklichung des betreffenden Wertes in Interesselosigkeit wandeln; mit dem Schwinden der Stärke des Gefallens wird auch die Sättigung aufgehoben; Sattheit ohne etwas, das satt ist, wäre widersinnig. Geht das zielsetzende Wollen hinsichtlich des einmal bestehenden Gegenstandes auf dessen Nichtexistenz, entweder unmittelbar oder als eine Antwort auf Forderungen, d. h. „Normen", die sich aus dem eigenen Wertsystem oder aber von außerhalb des Wollens stellen, so schlägt 13'

x

95

das Gefallen in Mißfallen um; und zwar kann dies allmählich oder auch schlagartig geschehen, je nachdem wie hoch der Rangplatz des verwirklichten Wertes verglichen mit dem der anderen ihm widersprechenden ist. Analoge Bestimmungen wie die vorangegangenen lassen sich für die Wandlung von Mißfallen in Interesselosigkeit oder Gefallen aufstellen. Audi das Mißfallen nimmt, je länger es gesättigt andauert, in der Stärke ab, wenn die Wirklichkeitsverankerung des Gegenstandes einmal gesichert ist (je länger ein Unrecht besteht, desto weniger drückend ist es, ja es kann nach einiger Zeit — wenn es erst einmal als Faktum akzeptiert ist — den Charakter des Unrechts und somit einer Unwertverwirklichung gänzlich verlieren). Eine Wandlung von Mißfallen in Gefallen kann dann auftreten, wenn das ursprüngliche Mißfallen dem individuellen Wertsystem widerspricht oder aber eine von außerhalb des Wollens stammende Forderung nach Wandlung positiv gewertet wird. Eine interessante Analyse der Wandlung von Gefallen an Wertgegenständen (und korrespondierend damit der Wandlung von Wertbezogenheit) gibt L E W I N , indem er die Wandlung von „Auf forder ungscharakteren" nach einer Bedürfnisbefriedigung beschreibt: „Der Leckerbissen, der noch vor kurzem einen starken Reiz ausgeübt hat, wird neutral, sobald die betreffende Person gesättigt ist. Bei Übersättigung tritt sogar typisch ein Aufforderungscharakter mit entgegengesetztem Vorzeichen ein: Was noch eben gelockt hat, stößt ab. Eine Übersättigung kann sogar zu einer dauernden Fixierung dieses negativen Aufforderungscharakters führen. (Eine bevorzugte Speise, an der man sich einmal den Magen verdorben hat, wird mitunter Jahre hindurch nicht mehr angerührt.) Jedenfalls ist für derartige Aufforderungscharaktere das rhythmische Auf und Ab gemäß dem; periodischen Ansteigen und Abfallen des betreffenden Bedürfnisses typisch" ( L E W I N 1926, S. 3$2) 74 . Bei „periodischen" Bedürfnissen (z. B. den Bedürfnissen, die sich auf körperliche Erfordernisse richten, denen immer nur für eine gewisse Zeit Genüge getan werden kann) ist auch das Gefallen periodischen Schwankungen unterworfen. Solange ich satt bin, vermag in den meisten Fällen nicht das leckerste Mahl mein Gefallen zu wecken; bin ich jedoch hungrig, dann findet auch eine Scheibe trocknen Brotes mein Gefallen. Gerade die „periodischen" Bedürfnisse illustrieren so treffend die Bestimmung, daß ein Bedürfnis zu einer gegebenen Zeit in der Ausführung eines Motivs nur einmal befriedigt werden kann; man versuche einmal, 74

D e r v o n LEWIN in diesem Z u s a m m e n h a n g gebrauchte B e g r i f f der

„Ubersättigung"

d a r f hier nicht v e r w i r r e n . E r ist keineswegs mit dem v o n SCHWARZ u n d uns wendeten

Sättigungsbegriff

vergleichbar,

der sich aus dem

Gebiet

der

nehmung herleitet, sondern bezieht sich eindeutig auf den U m s t a n d des

ver-

Farbwahr„Zu-viel-

g e g e s s e n - H a b e n s " . G a n z allgemein gilt die LEWiNsche A n a l y s e f ü r alle Situationen, w o m a n „ z u v i e l des G u t e n " hat.

196

nachdem man sich gründlich ausgeschlafen hat, sofort wieder das Bedürfnis nach Schlaf zu befriedigen, oder, nachdem man sich gerade sattgegessen hat, sich noch einmal satt zu essen. In beiden Fällen wird man feststellen, daß man das Bedürfnis gar nicht befriedigen kann, weil es überhaupt nicht mehr besteht. Nun gibt es aber Situationen, in denen ein Bedürfnis durch die Ausführung eines Motivs nur für ganz kurze Zeit befriedigt wird, ohne daß wir es deshalb als „periodisches" Bedürfnis bezeichnen würden. Wie solche Bedürfnisse in unsere Wertlehre einzuordnen sind, wird zu klären sein, nachdem wir auf das Problem, wie das wollende Individuum auf die Vereitelung der angestrebten Verwirklichung seiner Werte reagiert, eingegangen sind.

„Frustration"

und

„Aggression"

Der Befriedigung eines Bedürfnisses und somit der Verwirklichung eines Wertes können nämlich zahlreiche Widerstände entgegenstehen, die einen an und für sich realen (d. h. realisierbaren) Wert zumindest vorübergehend zu einem irrealen (d. h. nidit realisierbaren) machen. Wir sprechen hier im besonderen von den Widerständen, die bei der Ausführung eines Motivs oder einer Vornahme in Form von Hindernissen oder von „außen" kommender Störungen auftreten und die Verwirklichung des an und für sich realen Wertes jetzt und hier vereiteln. Man bezeichnet diesen Vorgang der Vereitelung als „Versagung" oder „Frustration , 1 1 6 — 1 2 3 , 12$, 1 2 7 — 1 3 1 , 137 Honecker, M. 49 Hulbedc, C R . 139 H u l l , C . L. 13, 15, 29—32, 36, 40, 141, 145, 151, 163, 166 Husserl, E. 108 Huston, A . C . 145 James, W . 9, 32, 36 Jung, C . G . 69, 78 f. K a f k a , G . 174 K a n t , I. 8, 20, 27, 109, 13 j Kardiner, A . 72 f. K a t z , D . 46 Keiler, P. 103, 128 Keller, W . 24, 26 f. Kierkegaard, S. 136—138 Kirchhof!, R . 1, 5 K l e b a n o f f , S. G . 160 Köhler, W . 61, 70 f., 97 f., 205 K r a f t , V . 11 f., 4 5 — 4 7 , 49 f., 9 2 — 9 j , 107, i n f., 177—179

Krudewig, M . 8 — n , Krueger, F . 8 f., 1 0 7 Külpe, O. 9, 24

107

Rohradier, H .

Lauterbadi, P. 83 Lersch, P . 32, 36, 68 Lewin, K . 33, IOJ, 120, 1 4 J , 169, 1 8 3 f., 187, 189, 196, 2 0 3 — 2 0 5 ,

207

Lewis, D . J . 1 4 2 Liddell, H . S. 1 7 0 Lindworsky. J . 9 f. Lipps, T .9, 93 Lorenz, K . 9 7 — 9 9 , 1 1 3 ,

3 1 f., 3 6 ,

170

bis

Saulus 1 9 1 Sdiachter, S. 9, 1 1 , 84, 1 9 3 Scheler, M . 20, 49, 51 f., 9 J , 1 0 8 — n o Schopenhauer, A . 18 Schultz-Hencke, H . 3 4 Schwarz, H . 7, 18, 24, 28, 3 7 — 4 0 , 47, 49,

189, 205

5 7 , 6 3 — 6 6 , 76 f . , 8 0 — 8 2 , 8 4 , 8 6 f . , 9 0 ,

Lotze, H . 1 0 7 Lukas 1 9 1

107—108,

Spencer, H . 8 1 — 8 3 , Stirner, M .

Miller, N . E. 40, 1 4 1 f., 1 4 4 f., 159,

162,

20,121

Reidhenbach, H . 1 2 5 Rickert, H . 4 9 Riopelle, A . J . 1 4 2 R o b y , T. B. 40 f. Rogers, C . R . 5, 69, 78 f.

81—83

Taylor, J . A . 2 Taylor, W . S. 34 f. Tetens, J . N . 8 Thorndike, E . L . 1 2 , 41 Tinbergen, N . 2 9 Tolman, E . C . 29, 38, 193 Toman, W . 36, 169, 2 0 1 Traxel, W . 9 Troland, L . T . 4 1 Ulmann, G . 1 4 1 Utitz, E . 63

Newcomb, T. M. 72

Popper, K . R . 1 3 0

95

127,

}97 Milner, P. 4 1 f., 44 Morgan, C . D . 1 7 3 f., 1 8 2 Moritz, K . P. 8 Mowrer, O. H . 1 9 7 Münsterberg, H . 108 Murray, H . A . 32, 3 5 f., 1 7 3 f., 1 8 2

Paulus 1 9 1 P a w l o w , I. P . 169 Perlwitz, E . 1 0 3

196

Sulzer, J . G . 8

^ o , 137 Meehl, P . E . 1, 1 2 , 47, 148, 193 Meinong, A . 108

Olds, J . 4 1 f., 44f., 74 Olds, M . 4 1 f.,

183, 194,

Stern, W . 23, 1 4 0

M a y , E . 9, 1 5 f., 1 1 6 , 1 1 8 — 1 2 0 , 1 2 3 ,

N i e t z s d i e , F . 1 8 , 28 f., 48, 7 5 — 7 7 ,

154—156,

Sears, R . R . 1 9 7 Sheffield, F . D . 4 0 f . Singer, J . 9 Skinner, B. F. 1 3 , 30, 1 4 1 , 1 4 5 Solomon, R . L . 1 4 5

McClelland, D . C . 7 2 , 146 MacCorquodale, K . 1, 47, 148, 193 McDougall, W . 8 f., 29, 32, 36 Maier, N . R . F . 29, 1 7 0 Makarenko, A . S. 1 3 7 Maslow, A . H . 69, 78 f. Masserman, J . H . 29, 1 7 0

Pfänder, A .

2$—29,

172 Rosenfeld, G . 207 f. Rothacker, E . 3 2 Rousseau, J . J . 87

81—83

Volkelt, H .

8—10

Wapner, S . 30 Weber, M . 7 2 Werner, H . 30 Wilde, O. 59 Winkler-Hermaden, V . 1 1 Winterbottom, M . R . 7 2 Wundt, W . 4, 9, 87, 90, 9 7 — 99 Young, P. T.

10, 29,

58—60

Zarathustra 7 5 , 83 Ziehen, T . 24 Zilsel, E . 1 2 3

217

Sachverzeichnis Ähnlichkeit 1 4 8 — 1 5 1 , 160 f. Aggressionstrieb 97 A l l o p s y c h o l o g i e 2 f., 5, 7, 16, 182, 184, 186 f., 193 A n i m a 78 A n k e r w e r t e 146 Angst in F o l g e eines K o n f l i k t e s 168 f. Anthropomorphismus i j Appetenz - A p p e t e n z - K o n f l i k t 158 f., 164 f . - A v e r s i o n s - K o n f l i k t 161 ff. - gradient 163 A r c h e t y p e n 78 Arterhaltungsprinzip K r i t i k a m - 43 f., 71 ff. Attribution 3 Aufforderungsciiaxakter(e) 184, 187, 196 Auszeichnung 14, 1 1 1 A u t o p s y c h o l o g i e 2, 3, 7, 16, 182 Aversions - A v e r s i o n s - K o n f l i k t 164 f. - gradient 163

E i n f ü h l u n g 93 f . Epikuräismus 45, 59, 95, Erfordernisse, körperliche 28 f., 37, 183, 185 f . Erlebnisletztheiten Zuständlichkeiten als - 8, 13 Ersatzerledigungen 169, 203 ff. Ersatzlösungen 169 E x h a u s t i o n 34, 118 ff., 129 f., 132 Existenzphilosophie 136 ff., 168 E x i n k t i o n 1 4 1 , 143, 149

47,

F a l s i f i k a t i o n s - K o n z e p t 130 F o r t p f l a n z u n g s t r i e b 32 f r a c t i o n a l antedating goal-responses i j Frustrations-Aggressions-Hypothese 97, 197 ff. Furcht 168 G e f ü h l e 8, 9, 31, 39, 9J G e s a m t w i l l e n 87, 90 G ü t e r 51 f., 64, 86, 108, 153, 166 f., 176 Harmo-nie, prästabilierte 29, 42 f., 45 f.,

Bedingungen, Bedingungen, Bedürfnis(se) Befindlichkeit Befindung 14

konstituierende 1 1 9 , 130 störende 1 1 9 f., 130 23, 27, 29, 174 f., 183 ff. 1, 14 ff., 137, 173 ff.

Behaviorismus 4, 13, i j f . , 18, 43 B e w u ß t s e i n 4, 18, 29, 31, 78 Bewußtseinspsychologie 4 bewußtseinsspychologisch-operationistisch 4, 18 Comanchen 73 C o n f i r m a t i o n 193 C o p u l a 20 DiskrimLnationslernen 161 d r i v e - l e v e l 30, 32 drive p r o d u c e d Stimuli 31 218

73 hedonisches K o n t i n u u m 10 Hedonismus 1 1 , 48, 59 f . H o m ö o s t a s e 30 h y p o t h e t i c a l construct 1, 2, 85 Befindlichkeit als - 14, 16 Person als - $ Soseinslage der Person als - 7 Wertsysteme als - 148 Zuständlichkeit als - 47, j 6 Ich 1, 17, 26, 28 ff., 78 Identifikation 144 f. Imitation 144 f. I n d i v i d u a t i o n 78 I n d u k t i o n 1 1 4 f., 127 volls t ä n d i g e - 11 $ Instinkt 29 intervening v a r i a b l e 184, 193

Introjektion 144 Introspektion i j , 186 Irrtum, vermögensspychologischer 36, 62, 73 f-

Kampf ums Dasein 28, 30, 61 Kausalitätsprinzip 27, 158, 167, 172 Kohärenzkriterium 125 Konsensuskriterium 124 Konstruktivismus 128, 137 Konstrukt-Validierung 12 Kontiguität 140, 148 ff., 160 f. Kontiguitäts-Ähnlichkeits-Kontinuum 163 ff., 168 Kreativität 139 Kwakiutl 72 Leiblichkeitsempfindungen 8 ff., 13, 31, 39 Letztbedeutungen 9, 13, 123 Libido 29, 32 f., 76, 144 Libidotheorie 33 f. Logik, klassische 22, 27, J3 f., 100, 112, 119, 121 Lust 1 1 , 31, 46, 57, 59, 107, 109 Lust-Unlust-Problematik 11 Metaphysik 27 Moral 109, 1 1 2 Narzißmus 33 Neurosen 170 experimentelle - 169 f. Nichtseinsollen 20 f. Norm, Imperativische 21 f., 23, 55 Normativismus, metaphysischer 1 1 2 ff. Normativ-Urteil 19 ff. Ontologisierung, naive 36, 62, 73 f., 158, Operationismus 4 Organempfinidung(en) 10, 37 Organminderwertigkeit 76 Oszillation 159 Person 1 f., $ f., 14, 16, 64 fr., 10$, 208 Persona 78 Personhaftigkeit 1 f., 5 ff., 14 ff., 70 phänographisdie Aussagen 3 physiologisch-metaphysisch 29, 32, 37 Positionalität 1 Potenz 77 f. Psychologie - von den anderen 2, 7, 1 j f., 181 f.

- von mir 2, j, 7, 14, 16, 182 ff., 186 f. - von mir als phänomenal-biographische Wissenschaft 3 - von mir, vorwissenschaftliche 3 f., 7, 14 ff-. I3 6 . 1 8 2 . 184, 193 psychophysisches Ich 8, 47, 68 Quasibedürfnisse 183 Rangreihe der Werte 152, ij6 Reaktionspotential 163 Realisation von Theorien 43, 118 ff., i 2 9 f . Regression 169, 201 ff. Reinforcement 40, 60, 193 sekundäres - 140 vicarious - 141 f., 145 Repräsentanz 120, 132, 207 f. Schimpansen 61, 70 ff., 97 Schmuck 71 f. Seinsollen 20 f. Selbst 78 f. Selbst, personales 68 Selbstaktualisierung 79 Selbsterhaltungstrieb 32 seif 5, 79 - concept 5, 79 - ideal 79 - structure j , 79 sensory tonic field theory 30 sexuelle Energie 32 Sexualtrieb 33 f., 36, 76 Solipsismus, behavioristischer 46 Sollen 18 ff. Sollen, imperativisches 20 f. Sollzustand, biologisch-physiologischer 30 ff,. 39 ff., 1 1 0 Soseinslage 6 f. -erhöhte 6j ff., 88, 91 f., 99 ff., ioj - verminderte 6} ff., 91 f., 96, 99 ff., ioj Soseinslageerhöhung 19 Spannung 33, 184, 188, 192, 198 f., 203 Stellungnahme(n) 14, 174 f., 179 ff. Stil 109, 1 1 2 Stimulus-Generalisation 141, 161 Strahlwerte 140 ff., 146, 149, 160 Streben 18, 184 f. Sublimierung 34 ff., 47, 144, 169, 201 ff. Täuschungen, geometrisch optische 122 Tierspychologie 6, i j f . , 56, 59 ff., 69 ff., 187 f. Todestrieb 32, 74 Trieb(e) 18 f., 23, 27 ff., 32, 36, 38, 62 219

Trieblehre(n) athematische - 32, 36 monothematische - 32 nativistische - 18, 28, polythematische - 32,

f. ff., 77 38, 48, 1 1 0 35 f .

Übel j 2 , 64, 86, 1 5 3 , 166 f., 1 7 6 Überich 144 Unbewußtes kollektives - 78 persönliches - 78 Unlust 1 1 , 3 1 , 37 f., 46, 57, 59 Urteil anschauliches - 1 2 2 f . metrisch-physikalisches - 1 2 2 Utilitarismus 90 Versagung 3 3 , 1 9 7 , 202 Voluntarismus 1 3 7 Vornahme 33, 1 4 5 , 188 f . Welt f ü r uns alle 85, 1 1 7 Webmaschine 3 1 , 1 7 2 Werte irreale - 53, 1 5 2 , 1 9 7 reale - 53, i j 2 , 1 9 7 unverbindliche - 1 0 1 ff., 105 verbindliche - 1 0 1 , 1 0 j Wertabsolutismus 1 0 6 , 109 ff.

220

Wertbegriffe 1 7 6 ff. Wertempirismus 106, n o f f . Werthierarchie 148, 1 5 1 f., 160 f . , 108 f . Wertrealtivismus 85 Werturteil(e) 1 7 4 ff. Widerstände materiale - 22, 53 , 1 1 9 , 1 2 9 methodische - 22, 53, 1 1 9 , 1 2 9 Widerständigkeit der Realität 1 1 9 Willensfreiheit Problem der - 1 3 4 fr., 1 7 0 ff. Willensmeeaphysik, physiologische 18, 28, 47. 1 8 3 Wissenschaftstheorie 27, 1 1 6 ff., 1 3 4 Wollen(s) D i s k o r d a n z des - 88 f., IOJ K o n k o r d a n z des - 88 f., 92, 1 0 5 S t ä r k e des - 1 5 1 f., 1 $3 ff. Zielgradient 1 5 1 , 1 6 2 f . Zirkulärreaktion 6 1 Zustand 1 f., 7 f . , 1 2 f., i j f., 32 Zuständlichkeit(en) 1 f . , J , 7 f . , 1 0 ff., 1 5 ff., 40 ff. angenehme - 1 0 ff., 1 7 , 32, 38 ff., 56 ff., 105

sekundäre - 94 unangenehme - 1 0 ff., 1 7 , 32, 38 ff., 56 ff., I O J

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