Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts [Reprint 2012 ed.] 9783110807264, 9783110161571

The History of German Studies in Portraits presents a sober, critical, modern and vivid account of the discipline, toget

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German Pages 305 [308] Year 2000

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Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts [Reprint 2012 ed.]
 9783110807264, 9783110161571

Table of contents :
Vorwort
Georg Friedrich Benecke (1762-1844) von Birgit Wägenbaur
Jacob Grimm (1785-1863) von Horst Brunner
Karl Lachmann (1793-1851) von Uwe Meves
Karl Rosenkranz (1805-1879) von Werner Röcke
Moriz Haupt (1808-1874) von Edith Wenzel
Karl Bartsch (1832-1888) von Dieter Seitz
Wilhelm Dilthey (1833-1911) von Tom Kindt
Michael Bernays (1834-1897) von Michael Schlott
Wilhelm Scherer (1841-1886) von Hans-Harald Müller
Hermann Paul (1846-1921) von Ulrike Hass-Zumkehr
Erich Schmidt (1853-1913) von Wolfgang Höppner
Oskar Walzel (1864-1944) von Walter Schmitz
Andreas Heusler (1865-1941) von Ulrich Wyss
Carl von Kraus (1868-1952) von Johannes Janota
Friedrich Panzer (1870-1956) von Ingrid Kasten
Friedrich Gundolf (1880-1931) von Ernst Osterkamp
Eduard Berend (1883-1973) von Hanne Knickmann
Helmut de Boor (1891-1976) von Ulrich Wyss
Käte Hamburger (1896-1992) von Gesa Dane
Walter Muschg (1898-1965) von Karl Pestalozzi
Richard Alewyn (1902-1979) von Klaus Garber
Benno von Wiese (1903-1987) von Gerhard Lauer
Friedrich Beißner (1905-1977) von Norbert Oellers
Wolfgang Kayser (1906-1960) von Wilhelm Voßkamp
Emil Staiger (1908-1987) von Werner Wögerbauer
Wilhelm Emrich (1909-1998) von Lorenz Jäger
Hugo Kuhn (1909-1978) von Walter Haug
Außenseiter. Eine Skizze von Barbara Hahn
Über die Autoren
Namenverzeichnis

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Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts

Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts Herausgegeben von

Christoph König, Hans-Harald Müller und Werner Röcke

w DE

G

Walter de Gruyter · Berlin · New York

2000

Eine Veröffentlichung der Arbeitsstelle fur die Erforschung der Geschichte der Germanistik im Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar Redaktion: Andreas Bässler

Abbildungen auf dem Einband (von links nach rechts) Vorderseite 1. Reihe: 2 . Reihe: 3 . Reihe: 4 . Reihe:

Käte Hamburger, Friedrich Gundolf, Karl Lachmann Richard Alewyn, Georg Friedrich Benecke, Erich Schmidt, Eduard Berend Friedrich Panzer, Emil Staiger, Benno von Wiese Wolfgang Kayser

Rückseite 1. Reihe: 2 . Reihe: 3. Reihe: 4 . Reihe:

Wilhelm Dilthey, Moriz Haupt, Andreas Heusler Karl Bartsch, Oskar Walzel, Friedrich Beißner Michael Bernays, J a c o b Grimm, Helmut de Boor, Hermann Paul Walter Muschg, Wilhelm Scherer

Θ

Gedruckt auf säurefreiem Papier,

das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche Bibliothek — CIP

Einheitsaufnahme

Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts : [eine Veröffentlichung der Arbeitsstelle fur die Erforschung der Geschichte der Germanistik im Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar] / hrsg. von Christoph König . . . . - Berlin ; New York : de Gruyter, 2000 ISBN 3-11-016157-5

© Copyright 2000 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechdich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: W B - D r u c k , Rieden/Allgäu Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin Datenkonvertierung: Readymade, Berlin Einbandgestaltung: +malsy, Kommunikation und Gestaltung, Bremen

Vorwort Die Geschichte der Wissenschaft ist die Wissenschaft selbst [...]. Goethe Von Goethes Vertrauen in die Identität der Wissenschaft mit ihrer Geschichte trennt die heutige Germanistik annähernd 200 Jahre Geschichte ihrer Disziplin. Im Verlauf dieser Geschichte haben sich die politischen, kulturellen und institutionellen Rahmenbedingungen des Fachs ebenso radikal verändert wie dessen Funktion in der Gesellschaft. Ein Interesse an der Wissenschaftsgeschichte kann heute nicht einmal mehr im Fach selbst vorausgesetzt werden. „Warum", schreibt der große britische Anthropologe Jack Goody, „sollte jemand ein Buch über eine kleine Gruppe von Akademikern lesen oder schreiben wollen, deren Schicksal vielleicht nur die Vertreter des eigenen Fachs interessiert?"1 Seine Antwort lautet: zum einen, weil so ein Buch die Entstehung und Geschichte einer Disziplin veranschaulicht, die von großem Einfluß auch auf andere Wissensgebiete gewesen ist, zum anderen, weil es ein interessantes Licht auf die allgemeine Geistesund Sozialgeschichte wirft. Überlegungen wie die Goodys haben uns vor gut fünf Jahren dazu gebracht, die vorliegende Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts zu konzipieren. Anstöße erhielt dieser Plan unter anderem durch Vorarbeiten und internationale Symposien des Marbacher Arbeitskreises fur Geschichte der Germanistik,2 begleitet wurde er von den - fur die Herausgeber und Verfasser hilfreichen - Arbeiten am Internationalen Germanistenlexikon 1800-1950, das mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Deutschen Literaturarchiv entsteht.3 Gerade die jüngste Entwicklung innerhalb der Fachgeschichte beförderte dieses Buch. Diese Entwicklung ist von einer Innovationskrise geprägt: Innovationen wird in den historisch-philologischen Disziplinen kein Vertrauen mehr entgegenbracht. Neue Ansätze zählen mittlerweile, unabhängig von ihrem Innovationswert, zur Normalität der Wissenschaft, das Publizieren von ständig Neuem gehört zum Althergebrachten, und das Neue veraltet immer rasanter. Der unablässige Wechsel des Allerneuesten 1 2

3

Jack Goody, The Expansive Moment. The rise of sodai anthropology in Britain and Africa 1918-1970, Cambridge 1995, S. 1. Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910-1925, hrsg. von Christoph König und Eberhard Lämmert, Frankfurt am Main 1993 (Fischer Taschenbuch 11471). Germanistik in Mittel- und Osteuropa 1945-1992, hrsg. von Christoph König, Berlin 1995. Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, hrsg. von Wilfried Barner und Christoph König, Frankfurt am Main 1996 (Fischer Taschenbuch 12963). Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900, hrsg. von Christoph König und Eberhard Lämmert, Frankfurt am Main 1998 (Fischer Taschenbuch 14262). Internationales Germanistenlexikon 1800-1950, hrsg. von Christoph König. Bearb. von Birgit Wägenbaur in Zusammenarbeit mit Andrea Frindt, Hanne Knickmann, Volker Michel und Karla Rommel, 3 Bde., Berlin, New York: Walter de Gruyter [voraussichtlich 2002].

VI

Vorwon

desorientiert das Fach kognitiv und in seinen Normen. Vor allem aber verlieren literaturwissenschaftliche Theorieansätze zusehends an Legitimation: Die alten und die alten neuen gelten als überholt, die neuen neuen, deren Innovationswert meist ungeprüft bleibt, werden nicht beachtet. Von dieser Innovationskrise fuhrt kein Weg zurück zu sicheren Besitzständen der Philologien vergangener Zeiten, wohl aber kann der Blick auf die Fachgeschichte hilfreich sein, um das Neue in der gegenwärtigen Situation zu erkennen und in seiner Bedeutung abzuwägen. Aus der Wissenschaftsgeschichte lassen sich keine Handlungsdirektiven fur die Gegenwart entnehmen, aber die Orientierungsfunktion, die sie hier leisten kann, ist weithin unterschätzt. Die Wissenschaftsgeschichte kann unser allgemeines Problembewußtsein vertiefen, sie kann die Herausbildung der gegenwärtigen Differenzierung und Spezialisierung des Fachs und seine aktuellen Krisen rekonstruieren und sie kann schließlich viele gegenwärtige Probleme historisch verfremden und damit einer Bearbeitung leichter zugänglich machen. Der Wissenschaftshistoriker ist notwendig Historiker, Philosoph und Wissenschaftstheoretiker. In diesen Rollen tritt er seinem Fach, in dessen Grenzen er sich sonst bewegen können muß, kritisch von außen entgegen. Zur Innovationskrise tritt die problematisch gewordene Einheit des Fachs, die stets prekär war, und wenn sie bestand, dann weniger aufgrund einer besonderen Struktur der Disziplin, sondern kraft nationaler Werte und Ideen. Die unter der Idee der Nation integrierten Teilgebiete haben sich bereits am Ende des 19. Jahrhunderts dezidiert auseinanderentwickelt und - das gilt fur die Linguistik wie für die Mediävistik und die neuere Literaturwissenschaft - sich anderen Wissenschaften angenähert, was sich bis heute in der Organisation der Universität und des Studiums kaum niederschlägt. Die Gravitation der europäischen Einigung wird zudem an der äußeren nationalstaadichen Gliederung der Philologien zerren. In dieser durch den Trend zur Medienwissenschafi noch unübersichdicheren Situation wird es unausweichlich, die Wissenschaftsgeschichte im Hinblick darauf zu untersuchen, wie die Germanistik in der Vergangenheit mit komplexen neuen Problemen und Herausforderungen umgegangen ist, welche Erfahrungen sie mit forcierten theoretischen Anleihen bei Vorbild- oder Nachbarwissenschaften gesammelt oder auch bei Integrationsanstrengungen in neue Wissenschaftskonfigurationen gemacht hat. Ziel unserer Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts ist es, eine nüchterne und kritische, eine aktuelle und anschauliche Skizze der Geschichte unseres Faches vorzulegen, einschließlich seiner problematischen nationalsozialistischen Vergangenheit. Die in ihren Anfängen mit dem Liberalismus, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Nationalliberalismus verknüpfte Germanistik gehörte bis zum Ende des Jahrhunderts zu den entscheidenden gesellschaftlichen Sinnproduzenten. Sie büßte diese Rolle um die Jahrhundertwende ein und kompensierte, was sie aus eigener Kraft an Sinn nicht mehr hervorzubringen vermochte, durch eine immer rückhaltlosere Identifikation mit einem imperialistischen Nationalismus. Politisch relevante Reformansätze, die es selbstverständlich auch gegeben hat, vermochten sich weder im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg, noch in der Weimarer Republik durchzusetzen. Das Jahr 1933 bildet folgerichtig in der Fachgeschichte keine grundlegende Zäsur. Ähnliches gilt für das Jahr 1945.

Vorwort

VII

Daß die Germanistik spätestens seit fünfzig Jahren ihre einheitsstiftende Funktion verloren hat, wird in Wissenschaft und Feuilleton immer noch als Verlust beklagt. Warum begrüßt man den Verlust nicht als Entlastung von einem Anspruch? Denn die Wissenschaftler müssen sich deshalb nicht gleich resignativ hinter die Fachgrenzen zurückziehen und Geltungsansprüche aufgeben. Die Geltung der Germanistik resultiert im Gegenteil aus der wissenschaftlichen Arbeit, die es offensiv zu zeigen gilt, zumal da, wo sie einen von ihrem Gegenstand her überzeugenden Beitrag zur politisch-moralischen Reflexion leisten kann und gar durch die ästhetische Qualität ihrer eigenen Texte zu überzeugen vermag. Für die Form des wissenschaftsgeschichdichen Porträts haben wir uns vor allem wegen ihrer größeren Anschaulichkeit entschieden; der Porträtband bildet ein Komplement zu dem Lexikon, das den gleichen Zeitraum im Auge hat, aber eben biographische, bibliographische und nachlaßbezogene Daten sammelt und strukturiert. Die Gefahr, die Wissenschaftsgeschichte zu biographisieren, suchen wir durch eine aufs Allgemeine zielende Darstellungsform in den einzelnen Beiträgen zu bannen. Derzeit fehlt uns eine wissenschaftstheoretisch und empirisch unstrittige Konzeption, Wissenschaftsgeschichte zu schreiben. Die Artikel spiegeln daher die Vielfalt germanistischer Traditionen; denn diese bedingen jeweils ihre eigene Methode der Fachgeschichte. Gleichzeitig dokumentieren die Artikel, daß man — bei aller Heteronomie - von der Bildungs-, Universitäts- und Mentalitätsgeschichtsschreibung der letzten zehn Jahre gelernt hat. Über die ideologiekritische Germanistik der siebziger Jahre ist man hinaus. Wissenschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen kann man heute vielfältiger und geschmeidiger miteinander verknüpfen. Zwei Ziele verfolgen wir. Erstens gilt es zu verdeutlichen, daß es sich bei den theoretisch und soziologisch relevanten wissenschaftsgeschichdichen Entwicklungen um sehr langfristige Prozesse handelt, die sich zumeist hinter dem Rücken der beteiligten Subjekte abspielen, zum anderen soll die Rolle herausgearbeitet werden, die Wissenschaftler in ihrer Disziplin bei der Entwicklung und (partiellen) Realisierung ihrer Zielvorstellungen in solch langfristigen Entwicklungen spielen können. Daher folgt die Auswahl der zu behandelnden Germanisten dem Prinzip, die wichtigsten Teilfächer, Methoden, Kanonbildungen und Wertvorstellungen in den großen Gelehrten der Zeit zu repräsentieren. Da Wissenschaft und institutionelle Macht nicht identisch sind, haben wir einen eigenen Beitrag zu den Außenseitern des Faches aufgenommen. Natürlich enthält die Auswahl der Porträtierten ein Moment der Willkür; dagegen stand der zeidiche Rahmen fest: Die Porträts setzen mit den Anfängen der Germanistik ein, die man heute um 1800 ansiedelt, und insofern die Porträtierten ihre Habilitation vor 1933 abgeschlossen haben mußten, endet das Buch mit der Weimarer Republik. Die Auswahl verlangt nach Ergänzung, die zeitliche Grenze nach Fortsetzung - möge das Buch nicht nur die Wißbegierde stillen, sondern auch diese Wünsche wecken. Den Verfasser(inne)n der Beiträge sei an dieser Stelle herzlich fur ihre Mitarbeit gedankt, Herrn Andreas Bässler für die sorgfältige Redaktion und fur das Register; unsere Cheflektorin Brigitte Schöning hat das Buch kreativ und tatkräftig begleitet. Christoph König

Hans-Harald Müller

Werner Röcke

Inhaltsverzeichnis Vorwort

V

Georg Friedrich Benecke (1762-1844) von Birgit Wägenbaur

1

Jacob Grimm (1785-1863) von Horst Brunner

11

Karl Lachmann (1793-1851) von Uwe Meves

20

Karl Rosenkranz (1805-1879) von Werner Röcke

33

Moriz Haupt (1808-1874) von Edith Wenzel

41

Karl Bartsch (1832-1888) von Dieter Seitz

47

Wilhelm Dilthey (1833-1911) von Tom Kindt

53

Michael Bernays (1834-1897) von Michael Schlott

69

Wilhelm Scherer (1841-1886) von Hans-Harald Müller

80

Hermann Paul (1846-1921) von Ulrike Hass-Zumkehr

95

Erich Schmidt (1853-1913) von Wolfgang Höppner

107

Oskar Walzel (1864-1944) von Walter Schmitz

115

Andreas Heusler (1865-1941) von Ulrich Wyss

128

Carl von Kraus (1868-1952) von Johannes Janota

141

Friedrich Panzer (1870-1956) von Ingrid Kasten

152

Friedrich Gundolf (1880-1931) von Ernst Osterkamp

162

Eduard Berend (1883-1973) von Hanne Knickmann

176

Helmut de Boor (1891-1976) von Ulrich Wyss

180

Käte Hamburger (1896-1992) von Gesa Dane

189

Walter Muschg (1898-1965) von Karl Pestalozzi

199

Richard Alewyn (1902-1979) von Klaus Garber

211

Benno von Wiese (1903-1987) von Gerhard Lauer

221

Friedrich Beißner (1905-1977) von Norbert Oellers

228

Wolfgang Kayser (1906-1960) von Wilhelm Voßkamp

235

Emil Staiger (1908-1987) von Werner Wögerbauer

239

χ

Inhaltsverzeichnis

Wilhelm Emrich (1909-1998) von Lorenz Jäger

250

Hugo Kuhn (1909-1978) von Walter Haug

259

Außenseiter. Eine Skizze von Barbara Hahn

273

Über die Autoren

280

Namenverzeichnis

285

BIRGIT W Ä G E N B A U R

Georg Friedrich Benecke (1762-1844) Wilhelm Scherer verglich Benecke „mit einem Naturforscher [...], der von einer Entdeckungsreise heimkehrt und die neugefundenen Arten und Familien beschreibt und bestimmt: so hat er aus der Blüthezeit der mittelhochdeutschen Poesie in verschiedenen Beutezügen Wörterschätze geholt und eingeheimst."1 Auch wenn um 1800 bereits fast alle mittelhochdeutschen Texte bekannt waren, so herrschte doch in der Tat eine Art Schatzgräbermentalität. Neue Handschriften — in den Briefwechseln als „Schätze" bezeichnet - wurden gefunden, die mit den bereits bekannten Textfassungen verglichen werden wollten. Ein neues Land Schloß sich hier auf, das es wissenschafdich zu erforschen galt. Benecke gehörte zu den ersten, die fur eine kritische Beschäftigung mit der - wie es im damaligen Sprachgebrauch hieß — altdeutschen, d.h. althochdeutschen und mittelhochdeutschen, Sprache und Literatur eintraten, und die an einer deutschen Universität über dieses Thema lasen. Als Korrespondenzpartner der einschlägigen Sammler und Gelehrten seiner Zeit, als Freund der Brüder Grimm und Lehrer Karl Lachmanns zählt er zu den Gründervätern der deutschen Philologie. Georg Friedrich Benecke wurde am 10. Oktober 1762 in Mönchsroth bei Dinkelsbühl im bayerischen Fürstentum Oeningen als Sohn eines Oberamtmanns geboren.2 Nach der Schulzeit in Nördlingen und Augsburg studierte er von 1780 bis 1784 in Göttingen Theologie, nebenbei hörte er bei C. G. Heyne klassische Literatur. Auf Wunsch der Familie kehrte er Ostern 1784 als Kandidat der Theologie nach Hause zurück. Doch zum sicheren, aber eingeschränkten Leben eines Landpfarrers fühlte er sich nicht berufen, statt dessen drängte es ihn zur Wissenschaft. So richtete er im Sommer desselben Jahres einen Hilferuf an Georg Christoph Lichtenberg, bei dem er Physik-Vorlesungen sowie ein Privatissimum im Englischen besucht hatte. Lichtenberg sicherte ihm seine Unterstützung zu, und ab Herbst 1784 war Benecke wieder in Göttingen und verdiente sich dort seinen Lebensunterhalt durch englischen und deutschen Sprachunterricht. Diese zeitaufwendigen Privatstunden setzte er neben seinen übrigen Tätigkeiten bis ins hohe Alter fort. Außerdem übernahm er Übersetzungen aus dem Englischen. Nach fünf Jahren freier Gelehrtenexistenz erhielt er 1789 auf Empfehlung Heynes eine feste Anstellung an der Göttinger Universitätsbibliothek. Don stieg er im Laufe der Jahre vom Akzessisten zum Sekretär, dann zum 1 2

[Wilhelm] Scherer, „Benecke, George Friedrich", in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 2, Berlin 1875, S. 324. Zur Biographie: „Georg Friedrich beneckt",in: Neuer Nekrolog der Deutschen 22,1844 (1846), S. 602604. Alexander Reifferscheid, „Beiträge zur Biographie und Charakteristik George Friedrich Beneckes", in: Anzeigerfiir deutsches Altertum!!, 1896, S. 117-128, bes. S. 117-120. Albert Leitzmann, Der kleine Benecke. Lexikalische Lesestücke aus Georg Friedrich Beneckes mhd. Spezialwörterbüchem, Halle an der Saale 1934, S. 2-8.

2

Birgit Wägenbaur

Kustos, Unterbibliothekar und Bibliothekar auf, bis er schließlich 1836 die Aufgaben eines Oberbibliothekars übernahm. Mehrere Stellenangebote anderer Bibliotheken schlug er aus, darunter dasjenige der Advocate Library in Edinburgh, wo er Principal Librarian hätte werden können. Dieses Angebot muß für Benecke auch insofern besonders ehrenvoll gewesen sein, als er ein wahrer Anglomane war - als solcher zumindest galt er in Deutschland. Meist schrieb er seinen ersten Vornamen englisch „George". Im Oktober 1805 wurde Benecke zum außerordendichen Professor, 1813 zum ordentlichen Professor an der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen ernannt. Aufgrund der damals in Göttingen noch üblichen Lehrfreiheit stand ihm die Wahl seines Faches frei. 3 Neben Einführungen in die englische Sprache und Literatur unterrichtete er ältere deutsche Sprache und Literaturgeschichte. Zwar wurde „Litterärgeschichte" an deutschen Universitäten auch schon früher gelehrt, diese beinhaltete jedoch keine wissenschaftliche Einfuhrung in die mittelalterliche Literatur. 4 Beneckes ,.Anleitung zur Kenntniß der ältern Deutschen Literatur, und zum Verständnisse der besonders aus dem Schwäbischen Zeitalter übrigen Gedichte", so der Titel der Veranstaltung, die er vom Sommersemester 1806 bis zum Wintersemester 1843/44 in regelmäßigen Abständen anbot, war daher eine absolute Novität. Ihm gebührt das Verdienst, die alt- und mittelhochdeutsche Philologie an deutschen Universitäten eingeführt zu haben. So betont schon Jacob Grimm im Jahr 1851, daß Benecke „überhaupt der erste" gewesen sei, „der auf unsern Universitäten eine grammatische kenntnis altdeutscher spräche weckte".5 Mit der wissenschaftlichen Behandlung der alten deutschen Sprache und Literatur und der damit einhergehenden Text- und Editionsphilologie sind die Anfänge der Germanistik bezeichnet. Obwohl bzw. gerade weil Benecke keine Nominalprofessur innehatte, wird er von mancher Seite als erster Professor fur deutsche Philologie betrachtet - noch vor Friedrich Heinrich von der Hagen. 6 Selbst die Zeitgenossen erkannten, daß Georg Friedrich Benecke fur die Herausbildung des Faches eine maßgebliche Rolle spielte. Wenn der Geschichtsprofessor Heinrich Leo, der sich auch um die germanische Altertumskunde verdient gemacht hatte, ihm zum fünfzigjährigen Dienstjubiläum mit den Worten gratulierte, „eine ganz neue Wissenschaft, deren Ahnherr und frischgrünender Vertreter Sie zu gleicher Zeit sind, ist unter Ihren Anregungen, unter Ihrer Pflege und Mitpflege erwachsen",7 so ist dies nur ein — wenn auch etwas blumiges — Beispiel unter vielen.

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5 6

7

Vgl. Karl Stackmann, „Die Anfange der Germanistik in Göttingen", in: ders., Ulrich Hunger und Eva Willms, Drei Kapitel aus der Geschichte der Göttinger Germanistik, Göttingen 1991,S. 9-47,hier S. 12. Vgl. das Kapitel „Litterärhistorie und Literaturgeschichte" in: Klaus Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts-, München 1989, S. 107-148. Speziell zu Göttingen: Stackmann, „Die Anfange der Germanistik in Göttingen" (Anm. 3), S. 16-19. Jacob Grimm, „Rede auf Lachmann", in: ders., Kleinere Schriften, Bd. 1: Reden und Abhandlungen, Hildesheim 1965, S. 149. So z.B. von Stackmann oder von Weimar. Auch Uwe Meves wägt Für und Wider, wem der Vorrang als erster Amtsinhaber gebühre, sorgsam ab. Vgl. Uwe Meves, „Zur Einrichtung der ersten Professur fur deutsche Sprache an der Berliner Universität (1810)", in: Zeitschrift fiir Deutsche Philologie 104, 1985, S. 161-184, hierS. 163f. Briefe aus der Frühzeit der deutschen Philologie an Georg Friedrich Benecke, hrsg. von Rudolf Baier, Leipzig 1901, S. 104.

Georg Friedrich Benecke

3

Karl Lachmann war Beneckes bedeutendster Schüler. Sein Interesse an altdeutscher Literatur war im Wintersemester 1812/13 durch Beneckes Einführungsveranstaltung geweckt worden. 8 Benecke war sich später durchaus der bahnbrechenden Leistung seines Schülers bewußt. So schrieb er am 1. Januar 1825 an Joseph von Laßberg: „Er [Lachmann] ist ein gelehrter, scharfsinniger und fleißiger Mann, und ich denke nicht ohne wahre Freude daran, daß ich das Glück gehabt habe, durch meinen Unterricht einen solchen Kopf für unsere vaterländische Kunst zu wecken und zu gewinnen. Den meisten meiner Zuhörer genügt erleichterter Genuß des vorhandenen; Lachmann ist dazu gemacht, das ganze Gebäude fester zu begründen, und seiner Vollendung - auch in den kleinsten Einzelheiten - näher zu bringen."9 Legte Lachmann — Benecke zufolge — das Fundament fur die wissenschaftliche Behandlung mittelhochdeutscher Literatur, so bereitete Benecke - Lachmann zufolge den Boden dafür. In der Vorrede zur zweiten Auflage der gemeinsam veranstalteten 7w«»-Ausgabe rühmte Lachmann Benecke als denjenigen, der „mit sinn und bescheidner Sorgfalt zuerst ein ganz neues Verständnis der mittelhochdeutschen poesie eröffnet" habe: „das philologische Verständnis".10 In dieser „verspäteten Gründungsurkunde" 11 der deutschen Philologie stilisierte Lachmann Benecke zum prototypischen Vertreter eines neuen Wissenschaftsethos, dem „seine wissenschaftliche aufgabe zur herzenspflicht" geworden sei und der sich durch „Wahrhaftigkeit und sich selbst vergessende strenge Sorgfalt" auszeichne. 12 Die neue „Berufsethik", die sich bis heute erhalten hat, 13 prägte das wissenschaftliche Selbstverständnis einer kleinen, aber maßgeblichen Gruppe von Gelehrten, deren innerer Kern zunächst aus Benecke, Lachmann und den Brüdern Grimm bestand. 14 Die Abgrenzung nach außen, vor allem gegenüber Laien, die dadurch erst zu solchen gemacht wurden, stabilisierte das Verhältnis der Gelehrten untereinander und stiftete eine eigene Gruppenidentität. Eine Sonderstellung unter den Dilettanten und Autodidakten behaupteten vermögende Sammler wie Joseph von Laßberg oder Karl Hartwig Gregor von Meusebach, deren Ehrgeiz sich nicht auf eine wissenschaftliche 8 9

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14

Vgl. Stackmann, „Die Anfänge der Germanistik in Göttingen" (Anm. 3), S. lOf. [Franz Pfeiffer], „Zur Geschichte der deutschen Philologie. Briefe an Joseph Freiherrn von Laßberg. 1. Briefe von G. Fr. Benecke", in: Germania. Vierteljahrsschrift für Deutsche Alterthumskunde N.F. 1, 1868, S. 118-127, hier S. 122f. Wiederabdruck in: Britfe von Geo. Fr. Benecke, Jacob und Wilhelm Grimm, Carl Lachmann, Johann A. Schmeller und K. H. G. von Meusebach an Joseph Freiherrn von Lassberg 1818-1849, nach Franz Pfeiffers Anordnung hrsg. v. J. M. Wagner, Wien 1868. Iwein. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, mit Anmerkungen von G. F. Benecke und K. Lachmann, 2. Ausg., Berlin 1843, S. III. Jürgen Fohrmann, „Von den deutschen Studien zur Literaturwissenschaft", in: ders. und Wilhelm Voßkamp (Hg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart, Weimar 1994, S. 1-15, hierS. 5. Iwein (Anm. 10), S. V. Vgl. dazu: Rainer Kolk, „Wahrheit - Methode - Charakter. Zur wissenschaftlichen Ethik der Germanistik im 19. Jahrhundert", in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 14, 1989, S. 50-73, hier S. 52f. Vgl. als Indiz der auch von den Beteiligten selbst so verstandenen Gruppenzugehörigkeit Lachmanns Widmung in seiner Wolfram von Eschenbach-Edition von 1833: „Drei Freunden in Göttingen. Ge. Fried. Benecke Jac. Grimm Wilh. Grimm. Zum Gedächtniss treues Mitforschens gewidmet".

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Birgit Wägenbaur

Karriere richtete. Durch die „Akkumulation großer Fachbibliotheken und Handschriftensammlungen" standen diese ihren „Fachkollegen anregend, vermittelnd und helfend zur Seite".15 Auch Benecke pflegte einen guten Kontakt mit dem Freiherrn von Laßberg. Dieser stellte ihm verschiedentlich Handschriften aus seiner Sammlung zur Verfugung, wie etwa die des Barlaam und Josaphat des Rudolf von Ems. Benecke rekonstruierte damit eine im Druck zerrüttete Stelle und bat von Laßberg, die korrigierte Fassung in der Sammlung Der Liedersaal abzudrucken.16 Im Gegenzug beantwortete er bereitwillig dessen lexikalische und andere Verständnisfragen. Beneckes eigene editionsphilologische Prinzipien - soweit von Prinzipien überhaupt gesprochen werden kann 17 — gewannen durch die Verständigung mit Gleichgesinnten an Kontur. Die intensivste Auseinandersetzung fand im Briefwechsel mit Jacob und — sporadischer - mit Wilhelm Grimm statt, in dem neben editionstechnischen Fragen auch solche der historischen Grammatik oder der Lexikographie verhandelt wurden. Seit 1807 kannten sich Benecke und die Brüder Grimm. Konkreter Anlaß war der dritte Band von Achim von Arnims und Clemens Brentanos Des Knaben Wunderhorn, an dem auch Jacob und Wilhelm Grimm mitwirkten. Für ihre Arbeit benötigten sie Bücher aus der Göttinger Bibliothek, die ihnen Benecke zur Verfügung stellte.18 Auf die erste Anfrage hin entwickelte sich bald eine freundschaftliche Korrespondenz, in der fachliche Themen im Vordergrund standen. Benecke unterstützte z.B. später Jacob Grimm bei der Ausarbeitung der Deutschen Grammatik (1819), deren zweiter Teil von 1826 ihm gewidmet ist.19 Er selbst hatte 1819 seine Wigalois-Ausgabe „Seinem Freunde Jacob Grimm dem Gründer der Deutschen Grammatik" zugeeignet. Zum 80. Geburtstag - dazwischen liegt die Entlassung der Göttinger Sieben, bei der Benecke nicht für seine Freunde Stellung bezog - erhielt er von Jacob Grimm die Glückwunschschrift Frau Aventiure klopft an Beneckes Thür, die dieser mit den Worten eröffnet: „vor zwölf jähren [...] dachten wir beide nicht, daß [...] uns das schicksal wieder von einander gerückt haben würde, was aber vermag es über unsere freundschaft, die in der ferne desto größere sehnsucht gewinnt!"20 1829 hatte Benecke den Brüdern Grimm zu einer Anstellung an der Göttinger Universitäts-

15 Ulrich Hunger, „Romantische Germanistik und Textphilologie: Konzepte zur Erforschung mittelalterlicher Literatur zu Beginn des 19. Jahrhunderts", in: Deutsche Vierteljahrsschriftftir Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 61, 1987, Sonderheft, S. 42-69, hier S. 46. 16 Vgl. [Pfeiffer], „Zur Geschichte der deutschen Philologie" (Anm. 9), S. 121. 17 Zur Fragwürdigkeit des Begriffs Prinzip bei fehlender methodischer Reflexion vgl. Magdalene LutzHensel, Prinzipien der ersten textkritischen Editionen mittelhochdeutscher Dichtung. Brüder Grimm — Benecke — Lachmann. Eine methodenkritische Analyse, Berlin 1975 (Philologische Studien und Quellen 77), S. 15-17. 18 Vgl. Wilhelm Schoof, „Georg Friedrich Benecke und die Brüder Grimm", in: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 56, 1964, S. 225-235, hier S. 226. Außerdem: Βήφ der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm an Georg Friedr. Benecke aus den Jahren 1808-1829, hrsg. von Wilhelm Müller, Göttingen 1889. 19 Außerdem widmeten ihm die Brüder 1812 eine gemeinsame Ausgabe des Hildebrandslieds und des Wessobrunner Gebets und 1834 widmete Wilhelm „seinem verehrten Freunde" eine Edition von Vridankes Bescheidenheit. 20 Jacob Grimm, Frau Aventiure klopft an Beneckes Thür. II. Aug. MDCCCXLII, Berlin [1842]; Vorspann ohne Seitenangabe.

Georg Friedrich Benecke

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bibliothek verholfen, die sie bis zum Eklat im Jahr 1837 innehatten. 21 Am deutlichsten realisierte sich die enge Zusammenarbeit zwischen ihnen in den sogenannten Adversarien, die sie von 1819 bis 1826 austauschten: Benecke notierte seine Fragen auf der linken Seite des Blattes, Jacob Grimm antwortete auf der rechten Seite.22 Ein sachbezogener, äußerst produktiver Dialog war auf diese Weise zwischen den Freunden möglich. Neben seinen bibliothekarischen Pflichten, seinen privaten und universitären Lehrveranstaltungen war Benecke außerdem fur das, wie Klaus Weimar formuliert, „altdeutsche Fach" im Rezensionswesen der Göttingischen gelehrten Anzeigen zuständig. 23 Diese Tätigkeit verschaffte Benecke trotz der zusätzlichen Arbeitsbelastung große Möglichkeiten der Einflußnahme. Als Kritiker eines der damals wichtigsten Rezensionsorgane übte er kontrollierenden und steuernden Einfluß auf die Publikationstätigkeit der ersten Germanistengeneration aus. So besprach er z.B. seit 1811 alle Veröffentlichungen der Brüder Grimm durchwegs positiv. Zugleich schufen die Besprechungen neue Kontakte. Sie bildeten u.a. auch einen Anknüpfungspunkt mit Moriz Haupt, dem Schüler Lachmanns, der sich im Oktober 1839 bei Benecke fiir die Anzeige seiner •£>w-Ausgabe bedankte und diesem dann drei Jahre später eine andere HartmannEdition widmete. 24 Benecke wiederum veröffentlichte 1841 und 1842 in den beiden ersten Jahrgängen von Haupts Zeitschriftfìir deutsches Alterthum, die bald zum maßgeblichen Publikationsforum der Germanistik wurde, zwei seiner wenigen Aufsätze und verlieh dieser durch seinen Namen Glanz. 25 Beneckes Position im sich herausbildenden Sozialsystem der deutschen Philologie ist unbestritten. Zur maßgeblichen Autorität avancierte er durch seine Editionen mittelhochdeutscher Texte und die diesen beigegebenen Wörterbücher. 26 Das eigentlich Neue, wodurch sich Beneckes Ausgaben von allen vorangehenden mittelhochdeutschen Editionen unterschieden, bestand darin, daß es ihm auf die sprachliche Gestalt der Texte ankam. Während es im 18. Jahrhundert noch darum ging, die vergessene mit-

21 Vgl. Schoof, „Georg Friedrich Benecke und die Brüder Grimm" (Anm. 18), S. 231-233. 22 Eine Zeittafel zu den insgesamt über 1200 Adversarien, die in der Göttinger Universitätsbibliothek aufbewahrt werden, findet sich bei Lutz-Hensel, Prinzipien der ersten textkritischen Editionen (Anm. 17), S. 453. Dort auch ein Beispiel aus dem Jahr 1820, S. 457-466. 23 Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts (Anm. 4), S. 228. 24 Hartmann von Aue, Die Lieder und Büchlein und der arme Heinrich, hrsg. von Moriz Haupt, Leipzig 1842: „Georg Friedrich Benecke zum III August MDCCCXLII in treuer Verehrung gewidmet". Vgl. außerdem die Briefe Haupts an Benecke (Brirfe [Anm. 7], S. 93-99,103,105) sowie die von Friedrich Kauffmann im Anschluß an seine Kurzrezension von Baiers Briefausgabe mitgeteilten Briefe Beneckes an Haupt, in: Zeitschriftßr Deutsche Philologie, 34, 1902, S. 400-404. 25 Im ersten Jahrgang 1841: „Über ein mittelhochdeutsches Wörterbuch", S. 39-56, und im zweiten Jahrgang eine kleine Edition: „Marienlied", S. 193-199. 26 Es handelt sich um insgesamt vier - bzw., wenn man die mit Lachmann gemeinsam veranstaltete/^«'«Ausgabe dazurechnet - fünf Editionen und drei Wörterbücher. Einen einführenden Überblick gibt Leitzmann im zweiten Abschnitt seiner Einleitung: Mittels umfangreicher Zitate aus den verschiedenen Vorreden läßt er Benecke selbst zu Wort kommen. Auch Urteile von Kritikern werden wortgetreu wiedergegeben. Der Leser erhält dadurch einen lebhaften Eindruck der Anfänge wissenschaftlicher Methodenreflexion und von deren Rezeptionsgeschichte. Leitzmann, Der kleine Benecke (Anm. 2), S. 8-24.

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telalterliche Literatur breiteren Leserschichten nahe zu bringen und deren Inhalte zu vermitteln, begriff Benecke die Texte von vornherein als Sprachdenkmale. Hierin wich er etwa von Friedrich Heinrich von der Hagen ab, der - von der klassischen Altertumskunde herkommend - diese vorrangig als Zeugnisse einer vergangenen Kultur und Lebensweise verstand.27 Sein editorisches Verfahren orientierte sich bereits in seiner ersten Publikation, den Beyträgen zur Kenntniss der Altdeutschen Sprache und Litteratur,28 an der klassischen Philologie. Durch diese Orientierung erübrigten sich fur Benecke methodologische Überlegungen - übrigens ein Kennzeichen der gesamten frühen germanistischen Editorik. Ihm genügte die Forderung, „daß fur das gründliche Studium unserer alten vaterländischen Litteratur nichts erspriesslicher seyn kann, als wenn wir uns die genaue critische Sorgfalt zum Muster nehmen, die man mit so vielem Scharfsinn und unermüdet fortgesetztem Fleisse auf die Schriften der Griechen und Römer verwandt hat. Je sorgfältiger der Acker bestellt wird, desto erfreulicher wird die Ernte seyn."29 Wenig sorgfältig waren, was die Textüberlieferung betrifft, Bodmer und Breitinger verfahren, deren 1759 erschienene Sammlung von Minnesingern aus dem schwaebischen Zeitpuncte CXL Dichter enthaltend den Anlaß fur Beneckes Beyträge gab. Diese hatten, allein auf Popularisierung der Inhalte bedacht, einen mangelhaften Abdruck der handschriftlichen Fassungen geliefert, ohne eigene Auslassungen kenndich zu machen.30 Benecke monierte zu Recht, „daß die Herausgeber vollständige Lieder in unverständliche Bruchstücke verwandelten, und [...], daß sie manches schöne Lied ganz übergingen."31 Im Vergleich mit Melchior Goldasts um ca. 1600 angefertigter Abschrift des Codex Manesse, die Benecke in seinem „Vorbericht" eingehend charakterisierte solche Handschriftenbeschreibungen behielt er in allen weiteren Editionen bei —, hatte er die Unvollständigkeit der Ausgabe der Schweizer festgestellt. In den Beyträgen lieferte er getreu nach Goldast die Ergänzung der Sammlung von Minnesingern, so der Paralleltitel seiner Edition: ein nahezu diplomatischer Abdruck der bei Bodmer und Breitinger fehlenden Lieder. Die wenigen Berichtigungen eindeutig korrumpierter Textstellen wurden kenntlich gemacht und vergleichend die Lesart der Handschrift angegeben. Benecke, der im „Vorbericht" sein Vorgehen detailliert erläuterte, legte größten Wert auf methodische Transparenz. Die einzige wirkliche Neuerung gegenüber der Handschrift war die von ihm eingeführte Interpunktion, die er mit dem 27 Vgl. Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts (Anm. 4), S. 225. Uwe Meves zeigt, daß der Gegensatz zwischen von der Hagens Orientierung an der (klassischen) Altertumswissenschaft und Beneckes Ausrichtung an der (klassischen) Philologie das Fach Germanistik bis in die fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts prägte. Vgl. Uwe Meves, „Zum Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie: Die Periode der Lehrstuhlerrichtung", in: Fohrmann und Voßkamp (Hg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik (Anm. 11 ), S. 115-204, hier S. 129 und S. I49f. 28 George Friederich Benecke, Beyträge zur Kenntniss der Altdeutschen Sprache und Litteratur, Bd. 1, Tl. 1, Göttingen 1810 (Minnelieder. Ergänzung der Sammlung von Minnesingern). Der zweite Teil der Beyträge, der die Lieder Neidharts von Reuental umfaßt, erschien erst 1832. 29 Ebd., S. X 30 Vgl. zu den einzelnen Mängeln: Lutz-Hensel, Prinzipien der ersten textkritischen Editionen (Anm. 17), S. 92ff. 31 Benecke, Beyträge (Anm. 28), S. Vif.

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Hinweis auf die bessere Verständlichkeit der Texte rechtfertigte. Trotz des Primats wissenschaftlicher Genauigkeit bei der Textwiedergabe - es ist die Rede von der „größten möglichen Richtigkeit des Textes" 3 2 - richteten sich die Beyträgedennoch an eine „größere Anzahl von Lesern". 33 Benecke hatte vor allem die Anfänger im Auge: Er wollte all denjenigen, die das Mittelhochdeutsche noch nicht beherrschten, die „erste Bekanntschaft mit den alten Denkmahlen des Deutschen Gesanges" erleichtern. 34 Auch in seiner zweiten Edition, Boners Edelstein,35 lieferte Benecke in didaktischer Absicht Worterklärungen speziell für Anfänger. Gerade hier zeigt sich jedoch der entscheidende Unterschied zu den popularisierenden Ausgaben des 18. Jahrhunderts. Noch 1810, also nur sechs Jahre vor Benecke, hatte Johann Joachim Eschenburg eine Neuedition der Bonerschen Fabeln vorgenommen, die ganz in herkömmlicher Tradition stand. Entsprechend betonte Benecke im „Vorbericht des Herausgebers", daß sich Eschenburgs Ausgabe nur an Leser richte, „welche durch die alte Sprache zurück geschreckt werden, während die gegenwärtige Ausgabe einzig und allein fur solche Leser bestimmt ist, welche durch die alte Sprache angezogen werden, und welche wünschen, den alten Dichter in seiner eigenthümlichen Gestalt kennen zu lernen. So wie es also dort darauf ankam, dass Alles Allen verständlich sey, so kam es hier darauf an, dass Alles, so viel als möglich, echt sey." 36 Damit ist der entscheidende Satz gefallen. Im Gegensatz von Verständlichkeit und Echtheit konkretisierte sich das neue, philologische Textverständnis. In diesem Sinne waren Beneckes Bedeutungserklärungen im Edelstein vor allem für angehende Wissenschaftler gedacht. Das erhellt sich u.a. aus der Tatsache, daß er diese nicht als Fußnoten in die Edition mithineinnahm, sondern in dem eigens angehängten Wörterbuch vom Text separierte. Damit sollte dem Leser die Möglichkeit gegeben werden, den Sinn eines Wortes allein auf der Basis des Textes, aus dem Kontext heraus, zu erschließen. Die pädagogische Maxime dahinter lautete: „Das Bequemere dem Gründlichen vorziehen bringt kein Gedeihen; und wer nur erst sucht, findet gar oft manches, das ihm sonst, nicht ohne Nachtheil, unbekannt geblieben wäre." 37 Hilfestellungen gab Benecke nur da, wo „das Wort in der Sprache geblieben ist, aber die Bedeutung sich geändert hat" 3 8 oder wo der grammatische Bezug zwischen den Worten nicht eindeutig war. Er erkannte als erster die besondere Schwierigkeit gerade des scheinbar Einfachen: also derjenigen Wörter, die im Neuhochdeutschen noch gebräuchlich sind, deren Bedeutung sich jedoch über die Jahrhunderte hin wandelte. Die Zahl dieser Wörter sei weit größer, als man gewöhnlich annehme. Nur wer auf diese achte, könne den „Werth des wirklich Vortrefflichen" der alten Dichtung wahrnehmen. 39 Solche Bedeutungsverschiebungen waren z.B. in 32 33 34 35 36

Ebd., S. IX. Ebd., S. VIII. Ebd., S. D t Der Edel Stein getichtet von Bonmus, aus Handschriften berichtiget und mit einem Wörterbuche versehen von George Friederich Benecke, Berlin 1816. Ebd., S. XI.

3 7 Ebd., S . X V f . 38 Ebd. (Herv. i. Org.) 3 9 Auch in seiner nächsten Edition widmete Benecke diesem Problem einen Abschnitt seines Vorworts: Wigalois. Der Ritter mit dem Rade. Getihtet von Wimt von Gravenberch, hrsg. von George Friederich Benecke, Berlin 1819, S. LII.

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Eschenburgs Boner-Ausgabe nicht erkennbar, da dieser unter dem Gesichtspunkt der „Verständlichkeit" Lesarten verschiedener Handschriften miteinander kompiliert und in neuhochdeutscher Orthographie vereinheitlicht hatte, ohne auf semantische Differenzen bei gleichlautenden Wörtern zu achten.40 Erst in der Wigalois-Ausga.be von 1819 verwirklichte Benecke durch Handschriftenwertung und den Einsatz grammatikalischer Kriterien annähernd ein nach heutigem Verständnis textkritisches Verfahren. Sein Text folgte der ältesten überlieferten Handschrift, die — auf das erste Viertel des 13. Jahrhunderts datiert — möglicherweise noch zu Lebzeiten Wirnts von Grafenberg entstanden war. Eine zweite niederdeutsche Handschrift zog er zu Verbesserungen heran.41 Dank des Alters und der Sorgfalt beider Handschriften war er davon überzeugt, den Wigalois in „seiner ursprünglichen Echtheit und Vollständigkeit" wiederhergestellt zu haben.42 Benecke ging es, will man sein editorisches Verfahren charakterisieren, vorrangig um die Dokumentation des Vorgefundenen. Wieder dachte er an die Anfänger. Während der kritisch hergestellte Text fur den „vollendeten Kenner Alt-Deutscher Sprache und Kunst" gedacht war, richteten sich Anmerkungen und Wörterbuch an ein „künftiges Geschlecht" von werdenden Wissenschaftlern.43 In den knapp 80 Seiten umfassenden Erläuterungen übersetzte Benecke schwierige Passagen, führte Parallelstellen aus anderen Dichtern an oder erklärte kulturgeschichtliche Sachverhalte. Im Jahr 1827 gaben Benecke und Lachmann gemeinsam Hartmanns Iwein heraus.44 Die Ausgabe wurde zum Vorbild der gesamten späteren Editionsphilologie. Nachdem Benecke sich jahrelang mit dem Gedanken daran getragen hatte, wurde das Projekt schließlich in Zusammenarbeit mit Lachmann realisiert. Dieser hatte schon 1820 den Wunsch geäußert, daß Beneckes .Ausgabe des Iwein die erste kritische eines Altdeutschen Gedichtes werden möchte."45 Lachmann, der für die Textherstellung verantwordich war, setzte dann im Iwein unter Heranziehung aller damals bekannten Handschriften (oft in Abschriften Beneckes) seine „Grundsätze der Kritik" um. Der 120 Seiten lange Apparat - ein ausfuhrlicher Zeilenkommentar - stammte dagegen von Benecke. Sechs Jahre später erschien separat sein Wörterbuch zum Iwein:46 eine lexikographische Glanzleistung. Beneckes innovative Leistung auf diesem Gebiet stand außer Frage. So rühmte z.B. Wilhelm Scherer: „In der Exegese zeigen die Anmerkungen zum Wigalois und Iwein, in der Bedeutungslehre die Wörterbücher zum Bonerius, Wigalois und Iwein [...] seine unbestrittene Meisterschaft. Anmerkungen und Wörterbücher arbeiten sich natürlich in die Hände. [...] Man darf sagen: das meiste was er lexikalisch behandelte ist ein für alle Mal festgestellt." 47 40 Vgl. Lutz-Hensel, Prinzipien der ersten textkritischen Editionen (Arim. 17), S. 97f. 41 Vgl. Beneckes Handschriftencharakterisierung - insgesamt arbeitete er mit vier Handschriften - und Offenlegung des editorischen Verfahrens im „Vorbericht" zum Wigalois. Außerdem: Lutz-Hensel, Prinzipien der ersten textkritischen Editionen (Anm. 17), S. 263ff. 42 Wigalois (Anm. 39), S. XXXVIIf. 43 Ebd., S. XXXIX. 44 Iwein. Der Riter mit dem Lewen. Getihtet von dem Hern Hartman Dienstman ze Ouwe, hrsg. von G. F. Benecke und K. Lachmann, Berlin 1827. 45 Briefe (Anm. 7), S. 36. 46 Geo. Friedr. Benecke, Wörterbuch zu Hartmannes Iwein, Göttingen 1833. 47 Scherer, „Benecke, George Friedrich" (Anm. 1), S. 323f. (Herv. i. Org.).

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Schon Lachmann hatte Benecke gegenüber betont, wie sehr der im Entstehen begriffenen Gemeinschaft deutscher Philologen damit geholfen wäre, „wenn Sie uns mit einem vollständigen Mittelhochdeutschen Wörterbuch beschenken wollten!" 48 Daß er selbst voraussichdich niemals „Zeit und Musse" zu einem solchen Werk werde finden können, 4 9 war Benecke jedoch spätestens seit dem Wigalois bewußt. Doch lieferte er mit seinen drei Spezialwörterbüchern die beste Grundlage dafür. Schon das Wörterbuch zu Boners Edelstein, das nach Rudolf von Raumer „den Anfang der wahrhaft wissenschaftlichen mittelhochdeutschen Lexikographie" darstellte, 50 bewies sein untrügliches Gespür fur Bedeutungsvarianten. Während Benecke sich hier noch ausschließlich auf die zugrundeliegende Ausgabe beschränkte, zog er im Wörterbuch zum Wigalois zusätzlich Beispiele aus anderen Dichtern heran, um auf der Basis eines möglichst breiten Sprachgebrauchs die Bedeutungsvielfalt der einzelnen Wörter zu beleuchten. Dem Anfänger sollte auf diese Weise ein „Vorrath von Sprachkenntnissen" vermittelt werden. 51 Wieder einen anderen Weg schlug er im Wörterbuch zum Iwein ein, das alle im Text vorkommenden Wörter mit sämtlichen Stellenangaben enthält. Angestrebt war Vollständigkeit „im strengsten sinne des Wortes."52 Benecke wollte damit die Voraussetzung schaffen für eine grundlegende Erforschung mittelhochdeutscher Sprache und Syntax, die - weil Hartmanns „richtige hofmässige Sprache" bereits als normgebend eingestuft wurde — nicht nur für dessen Dichtung Gültigkeit haben, sondern für eine allgemeine Norm des Mittelhochdeutschen als einer potentiellen Sprache Geltung beanspruchen sollte.53 Der Vergleich zwischen den drei Wörterbüchern läßt also eine zunehmende Ausführlichkeit und Genauigkeit der Begriffserklärungen erkennen. Benecke hegte die Hoffnung, daß der zukünftige Herausgeber eines vollständigen Wörterbuchs „meinen Vorarbeiten nicht alle Brauchbarkeit absprechen, und meinen redlichen Bemühungen die gebührende Gerechtigkeit nicht versagen werde". 54 Dieser Wunsch ging in Erfüllung. Wilhelm Müller übernahm nach Beneckes Tod dessen Nachlaß und setzte unter Mitarbeit von Friedrich Zarncke die Arbeit systematisch fort. In der Vorrede zum ersten Band des zwischen 1854 und 1866 erschienenen Wörterbuchs, das bis heute als Standardwerk gilt, berichtete Müller vom Umfang und von der Art der Vorarbeiten, auf die er zurückgreifen konnte. Methodisch folgte er seinem Vorgänger: „Benecke hatte beabsichtigt ein mittelhochdeutsches Wörterbuch in etymologischer Ordnung mit besonderer berücksichtigung des Sprachgebrauchs der dichter zu liefern [...]. Ich schloss mich diesem plane möglichst genau an."55 48 Briefe (Anm. 7), S. 36. 49 Wigalois (Anm. 39), S. LIV. 50 Rudolf von Raumer, Geschichte der Germanischen Philologie vorzugsweise in Deutschland, München 1870, S. 457. 51 Wigalois (Anm. 39), S. L. 52 Benecke, Wärterbuch (Anm. 46), S. Ulf. 53 Lutz-Hensel weist auf das dialektische Verhältnis zwischen Edition und Wörterbuch hin: zwischen der Bewahrung von Stileigenheiten auf der einen Seite und dem Anspruch auf ein Regelsystem auf der anderen. Lutz-Hensel, Prinzipien der ersten textkritischen Editionen (Anm. 17), S. 209f. 54 Wigalois (Anm. 39), S. LIV. 55 Mittelhochdeutsches Wörterbuch, mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke. Ausge-

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Angesichts der schon zu Beneckes Lebzeiten publizierten Wörterbücher und seines Beitrags zum Mittelhochdeutschen Wörterbuch bleibt nur mit Karl Stackmann zu sagen: „Die nachhaltigste Wirkung hat Benecke durch seine lexikographischen Arbeiten geübt."56 Benecke erlebte eine mehrfache Würdigung seiner Verdienste um die deutsche Philologie: 1807 wurde ihm das Doktor-Diplom der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen verliehen; etwa zur selben Zeit wurde er zum Ehrenmitglied des „Frankfurtischen Gelehrten-Vereins fiir teutsche Sprache" gewählt. Außerdem war er Mitglied in der „Berliner Gesellschaft fur deutsche Sprache" sowie seit 1830 Mitglied der „Königlichen Societät der Wissenschaften in Göttingen" und der „Königlichen Akademie der Wissenschaften in München". 1820 wurde er zum Hofrat ernannt und 1842 erhielt er den Guelphenorden 4. Klasse. Der niedrige Rang des Ordens wurde allgemein von den Freunden bemängelt. Am 21. August 1844 starb Georg Friedrich Benecke im Alter von knapp 82 Jahren.

arbeitet von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. Nachdruck der Ausg. Leipzig 1854-1866 mit einem Vorwort und einem zusammengefaßten Quellenverzeichnis von Eberhard Nellmann sowie einem alphabetischen Index von Erwin Koller, Werner Wegstein und Norbert R. Wolf, Stuttgart 1990, Bd. 1, S. VIII. 56 Stackmann, „Die Anfänge der Germanistik in Göttingen" (Anm. 3), S. 20.

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Jacob Grimm (1785-1863) Jacob Grimm ist der berühmteste aller Germanisten. Neben Lachmann (und vor seinem Bruder Wilhelm und Georg Friedrich Benecke) wird er als bedeutendster Gründungsvater des Faches angesehen. 1 Die rühmenden Äußerungen über ihn stellen eine beinahe unendliche Reihe dar. 2 Am Tag seines Begräbnisses schrieb der junge Wilhelm Scheret über ihn: „Wir suchen die Größe des Verlustes zu ermessen, der uns betroffen, und wir finden: er ist unermeßlich." 3 Freilich fehlt es hin und wieder auch nicht an kritischen oder gar abschätzigen Worten, die zeigen, daß Person und wissenschaftliches Schaffen ein schwieriges Erbe darstellen. So schrieb noch jüngst, 1997, der angesehene Frankfurter Skandinavist Klaus von See in einem in jeder Hinsicht ungerechten und kurzsichtigen Pamphlet: „ G r i m m s Werk ist in seinen wissenschaftlichen Methoden veraltet, in seinen politischen Implikationen höchst anstößig. Überhaupt scheint es, daß J a c o b G r i m m weniger ein wirklich innovativer Forscher war als ein ungemein schreibfleißiger, kenntnisreicher Sammler und - soweit es u m Neuerungen ging - eher ein sorgsamer Verwerter fremder Anregungen [...] Hinzu k o m m t der Mangel an Urbanität, die engherzige Selbstgerechtigkeit, das Nichtgeltenlassen anderer Meinungen, der doktrinäre Starrsinn, die nachtragende Unversöhnlichkeit - alles Eigenschaften, die auch J a c o b G r i m m s Charakter als nicht unbedingt erfreulich erscheinen lassen." 4

„Von kleiner, hagerer Gestalt, mit scharfgeschnittenem Gesicht, durchdringenden blauen Augen und gewelltem, früh ergrautem Haar war Jacob Grimm im Äußeren kein ohne weiteres repräsentativer Mann. Doch eine natürliche Schlichtheit, geistige Beweglichkeit und die Fähigkeit, auf einen Partner einzugehen, vereinigten sich bei ihm zu einem faszinierenden Persönlichkeitsbild. Seine Religiosität war calvinistisch nüchtern und praktisch. Rechtschaffenheit, Familiensinn, Vertrauen auf das Gute waren seine undogmatisch und unauffällig gehaltenen Gesetze." 5 Jacob Grimm wurde am 4. Januar 1785 im hessischen Hanau als Sohn eines Richters und Verwaltungsbeamten geboren, sein Bruder Wilhelm, mit dem er zeitlebens zusammenwohnte, am 14. Februar 1786 - beide waren die ältesten von sechs (überlebenden) Kindern. 1791 1

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Vgl. dazu jetzt Lothar Bluhm, Die Brüder Grimm und der Beginn der Deutschen Philologie. Eine Studie zu Kommunikation und Wissenschaftsbildung im frühen 19. Jahrhundert, Hildesheim 1997 (Spolia Berolinensia 11). Vgl. zum Grimm-Bild zusammenfassend Ulrich Wyss, Die wilde Philologie. Jacob Grimm und der Historismus, München 1979, 1. Kapitel. Wilhelm Scherer, Jacob Grimm, 2. Aufl., Berlin 1885, S. 342. Klaus von See, Die Göttinger Sieben. Kritik einer Legende, Heidelberg 1997 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 3. Folge 155), S. 88. Ludwig Denecke, Jacob Grimm und sein Bruder Wilhelm, Stuttgart 1971 (Sammlung Metzler 100), S. 43.

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zog die Familie nach Steinau, bereits 1796 starb der Vater. Ab 1798 besuchten die Brüder die Schule in Kassel; 1802 zog Jacob, ein Jahr später Wilhelm zum Jurastudium nach Marburg. Für den späteren wissenschaftlichen Lebensweg entscheidend wurde hier die Begegnung mit dem Juristen Carl Friedrich von Savigny (1779-1861), dem Begründer der Historischen Schule der Rechtswissenschaft. Ihm verdankten die Brüder den historischen Ansatz, in seiner Bibliothek wurde Jacob erstmals auf die Literatur des deutschen Mittelalters aufmerksam. Deren Studium begann man damals, angesichts politischer Verhältnisse, die man nur als tiefste Erniedrigung empfinden konnte, nicht zuletzt aus patriotischer Begeisterung. Als Assistent Savignys ging Jacob der sein Studium nie durch ein Examen abschloß - 1805 nach Paris. Dank seiner Französischkenntnisse wurde er 1806/07 Sekretär beim hessischen Kriegskollegium. 1808 wurde er Bibliothekar des in Kassel residierenden Königs von Westphalen Jérôme Bonaparte. Nach erneuten Aufenthalten als Legationsrat 1813/14 und 1815 in Paris es ging nach dem Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft um die Rückgewinnung entführten Kulturgutes - und der (enttäuschenden) Teilnahme am Wiener Kongreß 1814/15 kehrte Jacob nach Kassel zurück. Nunmehr amtierte er zusammen mit Wilhelm als Bibliothekar des Kurfürsten von Hessen. Vom wachsenden wissenschaftlichen Ruhm der Brüder, die 1812 und 1814 gemeinsam die durch die Zusammenarbeit mit Clemens Brentano und Achim von Arnim angeregten Kinder- und Hausmärchen herausgegeben hatten, zeugt die Verleihung des Ehrendoktors der Universität Marburg an beide 1819; juristische Ehrendoktoren erhielt Jacob in Berlin (1828) und Breslau (1829), Mitgliedschaften in zahlreichen in- und ausländischen Akademien und hohe Orden folgten mit zunehmendem Ruhm und Alter. 1829 quittierten die Brüder - Wilhelm war seit 1825 verheiratet - als Reaktion auf berufliche Zurücksetzung den kurfürstlichen Dienst. Im folgenden Jahr wurden sie als Bibliothekare und Professoren nach Göttingen berufen. Als Folge des gemeinsam mit fiinf Kollegen - den Staatsrechtlern Dahlmann und Albrecht, dem Historiker Gervinus, dem Orientalisten Ewald und dem Physiker Weber — vorgebrachten Protestes gegen die Aufhebung der 1833 erlassenen Verfassung fur das Königreich Hannover durch den neuen König und der Weigerung, einen Huldigungseid zu unterschreiben, wurden sie Ende 1837 ihrer Amter enthoben. Der Protest der Göttinger Sieben erregte in ganz Deutschland Aufsehen und bewirkte engagierte Parteinahme. Die Brüder zogen erneut nach Kassel. 1840 wurden sie als Mitglieder der Preußischen Akademie nach Berlin berufen. 1846 fungierte Jacob als Vorsitzender der ersten Germanistenversammlung zu Frankfurt am Main. Im Mai 1848 wurde er als Abgeordneter in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt, in der er einen Ehrenplatz einnahm: „Er saß genau gegenüber dem Rednerpult im Mittelgang auf einem eigens dahingestellten Sessel. Dieser hervorgehobenen Rolle wurde er nie gerecht. Mit dem parlamentarischen Betrieb konnte er sich nie anfreunden."6 Bereits im Herbst gab er das Mandat 6

Karl Otmar von Aretin, „Die Brüder Grimm und die Politik ihrer Zeit", in: Jacob und Wilhelm Grimm. Vorträge und Ansprachen in den Veranstaltungen der Akademie der Wissenschaften und der Georg-AugustUniversität in Göttingen anläflich der200. Wiederkehr ihrer Geburtstage am 24., 26. und28. Juni 1985 in der Aula der Georg-August-Universität Göttingen, Göttingen 1986 (Göttinger Universitätsreden 76), S. 49-66, hier S. 64.

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wieder auf: „Über die Entwicklung nach 1848 verfiel er in tiefe Resignation." 7 Jacob Grimm starb am 20. September 1863 zu Berlin; sein Bruder war ihm bereits am 16. Dezember 1859 vorausgegangen. Mit stupendem Fleiß, erfüllt von „Sammel- und Ordnungstrieb" 8 , zugleich mit „starkem Intellekt" 9 erarbeitete Jacob Grimm in beinahe sechzig Schaffensjahren ein riesiges Lebenswerk, das in eine große Zahl von Forschungsgebieten ausgriff: Literaturgeschichte, Sprachwissenschaft, Volkskunde, Rechtsgeschichte, Religionsgeschichte. Die meisten seiner größeren Werke umfassen zwei oder mehr Bände, allein die Sammlung der Kleineren Schriften, die 1864-1871 und 1882-1890 herauskam, füllt acht dickleibige Bände. Hauptantrieb zu all diesen Unternehmungen war die „glühende Vaterlandsliebe", 10 die die Brüder seit der Zeit der Franzosenherrschaft und der Befreiungskriege erfüllte - in einer Zeit wie der unseren, in der Patriotismus vielen als eher unanständig, auf alle Fälle als völlig überholt gilt, mag dieses Programm höchst unzeitgemäß erscheinen; gleichwohl stand es an der Wiege der Germanistik als Wissenschaft.' 1 Die Brüder wünschten - wie weite bürgerliche Kreise in der Zeit des Vormärz ein einiges Deutschland, das möglichst alle deutschen Länder einschließen sollte, sie waren fur Gleichheit vor dem Recht und sie vertraten den Gedanken der Freiheit. Als Abgeordneter in der Paulskirche beantragte Jacob Grimm die Abschaffung von Adel und Orden, was freilich ebenso abgelehnt wurde wie sein berühmter Vorschlag, als 1. Artikel der künftigen Verfassung zu formulieren: „Alle Deutschen sind frei, und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei." 12 Einigendes Band aller Deutschen war nach Jacob Grimms Vorstellung vor allem die Sprache - je weiter man in der Sprachgeschichte zurückgehe, desto geringer seien die Unterschiede zwischen den germanischen Sprachen. Diese Erkenntnis mußte, wie die Widmung zur Geschichte der deutschen Sprache (1848) ausführt, letzdich zu erneuter politischer Einheit führen, ja sogar in die Ferne politischer Utopie: „Mein blick sucht in lichte zukunft einzudringen [... ] vielleicht, bevor einige menschenalter vergangen sind, werden sich nur drei europäische Völker in die herschaft theilen: Romanen, Germanen, Slaven. U n d wie aus der letzten feindschaft zwischen Schweden und Dänen der schlummernde trieb ihres engen Verbandes erwacht ist, wird auch unser gegenwärtiger hader mit den Scandinaven sich umwandeln zu brüderlichem bunde zwischen uns und ihnen, welchen der spräche gemeinschaft laut begehrt." 1 3

Auch Volksdichtung, Recht und Religion bewiesen, je weiter man zurückgehe, die Einheit aller „Deutschen", so zersplittert sie in der Gegenwart auch sein mochten. Germanistik war in ihren Anfängen ein idealistisch-politisches Programm, national und patriotisch, aber keineswegs nationalistisch oder gar chauvinistisch, sondern 7 8 9 10 11

Ebd., S. 65. Denecke, Jacob Grimm (Anm. 5), S. 44. Ebd. Von Aretin, „Brüder Grimm" (Anm. 6), S. 50. Vgl. auch die bei Karl-Wilhelm von Wintzingerode-Knorr, Hoffmann-von-Fallersleben-Museum zur Geschichte deutscher Dichtung und Demokratie im 19. Jahrhundert, Wolfsburg o.J., S. 3, berichtete Anekdote von der Begegnung Hoffmanns mit Jacob Grimm. 12 Von Aretin, „Brüder Grimm" (Anm. 6), S. 64. 13 Jacob Grimm, Geschichte der deutschen Sprache, Bd. 1, 3. Aufl., Leipzig 1868, S. Vf.

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durchaus auch weltbürgerlich, darauf gerichtet, den Geist des eigenen Volkes zu ergründen. Angesichts der Frustrationen, die das deutsche Bürgertum nach den Befreiungskriegen erfuhr, der nationalen Zersplitterung, der Fürsten- und Adelsherrschaft mit ihrer politischen Repression schlimmsten Ausmaßes ging es darum, das einigende Band zwischen allen Deutschen darzustellen. Dies galt außer für die Grimms auch fur andere Fachvertreter, etwa fiir Georg Gottfried Gervinus (1805-1871) oder fìir August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798-1874), die dann auch in deutlicher Distanz zur von ihnen noch erlebten Reichsgründung von 1871 standen. Dies war nicht das Deutschland, das sie sich ersehnt und erhofft hatten. Das Mittelalter wurde von diesen Germanisten nicht zuletzt deshalb erforscht und romantisch idealisiert, weil es als eine Epoche erschien, in der Einheit und Freiheit in höherem Ansehen standen als in der Gegenwart und in der mächtige Kaiser das Ansehen des Reiches mehrten und es vor Fürstenherrschaft und Zersplitterung bewahrten. Relativ am wenigsten folgenreich waren Jacob Grimms literarhistorische Arbeiten, obwohl sein erstes Buch Lieber den altdeutschen Meistergesang (1811) einem literaturgeschichtlichen Thema gewidmet war. Später überließ er die Literaturgeschichte mehr und mehr Wilhelm, der hier sein zentrales Betätigungsfeld fand. 14 Gemeinsam gaben die Brüder einige Editionen heraus: das HiUlebrandslied und das Wessobrunner Gebet (1812), deren stabreimenden Charakter sie erkannten, ferner Hartmanns von Aue Armen Heinrich und die Lieder der altnordischen Edda (1815). AufJacob allein zurück gehen eine viel beachtete Ausgabe altspanischer Romanzen in der Originalsprache (1815), ferner die Ersteditionen der althochdeutschen Interlinearversion zu den Murbacher Hymnen (1830) und Act Merseburger Zaubersprüche (1842). All diese Editionen wurden später von denen anderer überholt, ebenso die gemeinsam mit Johann Andreas Schmeller (1785-1852) publizierte Ausgabe lateinischer Gedichte mit Waltharius, Ruodlieb, Ecbasis captivi und weiteren Texten (1838). Von Lachmanns textkritischer Methode hielten beide Brüder sich fern; dies erklärt auch ihre überwiegende Beschränkung auf unikal überlieferte Texte, bei denen diese Methode ja nicht in Frage kommt. Zentral für das Literaturverständnis der Brüder Grimm wie für die Epoche der Romantik überhaupt war die auf Herder und Friedrich Schlegel zurückgehende Differenzierung von Volks- oder Naturpoesie einerseits und Kunstpoesie andererseits. In der seit den ältesten Zeiten existierenden epischen Volksdichtung sind demnach Poesie und Geschichte eine untrennbare Verbindung eingegangen; sie werde mündlich als Sage tradiert und könne stets vom Volk neu realisiert werden. Hingegen könne das Volkslied jederzeit unter dem Eindruck von Gefühlen oder der Natur neu entstehen. Die seit dem 12. Jahrhundert aufkommende mittelalterliche Kunstpoesie hatte in den Augen der Brüder Grimm und vieler ihrer Zeitgenossen längst nicht den Rang der Volkspoesie- als Forschungsobjekt erschien sie daher von minderem Interesse.

14 Vgl. Horst Brunner, „.Denn es giebt doch nur Eine Poesie...' Wilhelm Grimm und die Literaturgeschichte", in: Die Brüder Grimm. Eine Würzburger Ringvorlesung zum Jubiläum im Rahmen des Studium generale, hrsg. von Anneliese Kuchinke-Bach, Frankfurt a m M a i n l 9 8 7 (Wiirzburger Hochschulschriften zur Neueren deutschen Literaturgeschichte 10), S. 75-90.

Jacob Grimm

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A u f Vorzeitkunde kam es Jacob Grimm auch in seinem literarhistorischen Hauptwerk an, dem Reinhart Fuchs ( 1 8 3 4 ) , in dem der Edition mittelalterlicher lateinischer, deutscher und niederländischer Tierdichtung eine fast 3 0 0 Seiten lange Untersuchung vorangestellt ist. G r i m m nahm einen polygenetischen Ursprung der Tiersage in den ältesten Zeiten an. Dabei hätten alle drei Ursprungsräume - Indien, das antike Griechenland, Deutschland - „eine angeborne Verschiedenheit". 15 Auch wenn Belege fur die deutsche Tiersage erst seit dem 12. Jahrhundert zu finden seien, spreche doch alles fur viel frühere Entstehung: „Mir ist als empfände ich noch germanischen waldgeruch in dem grund und der anlage dieser lange Jahrhunderte fortgetragnen sagen [...] Noch hat niemand den versuch gemacht einen theil der poesie des mittelalters in die ersten jahrhunderte zurückzuleiten; möglichkeit, daß ein in der geschichte unserer spräche allenthalben bezeugter, unausgesetzter Zusammenhang zwischen der frühsten zeit und einer weit späteren in gedanken auch auf poesie und sage erstreckt werden dürfe, wird aber keiner abstreiten."16 International von höchster Wirksamkeit war - was hier nur angedeutet werden soll - die Sammlung und Bewahrung der in neuerer Zeit noch lebendigen

Volkser-

zählung nach mündlichen und schriftlichen Quellen, mit denen die Brüder die volkskundliche Erzählforschung begründeten. Wissenschaftlich mag hier manches fragwürdig oder umstritten sein, an der Fruchtbarkeit des Ansatzes gibt es indes keinen Zweifel. 17 Durch die zweibändige Sammlung der Kinder-

und Hausmärchen,

deren

Kleine Ausgabe das W e r k seit 1 8 2 5 zu einem Kinderbuch machte, und durch die (beim Publikum weit weniger erfolgreiche) zweibändige Ausgabe der Deutschen Sagen 18) wurden Märchen

(1816/

und Sage zu Begriffen, die ganze Forschungsrichtungen dauer-

haft inaugurierten. Die Betreuung der Märchensammlung lag im übrigen seit der zweiten Auflage von 1819 praktisch ganz in den Händen Wilhelms, der das W e r k mit Geschick weiter auszubauen verstand und ihm die bis heute äußerst wirksame sprachliche Gestalt verlieh, den typischen Grimmschen Märchenton. Ein national und international erfolgreiches, fur die Religionsgeschichte und die religiöse Volkskunde schon durch seinen unerhörten, gedanklich freilich strikt gebändigten Materialreichtum grundlegendes W e r k schuf Jacob G r i m m mit seiner zweibändigen Deutschen Mythologie

(zuerst 1 8 3 5 , überarbeitete und erweiterte zweite

Auflage 1 8 4 4 ) . V o n der in der R o m a n t i k beliebten spekulativen Mythologie genannt seien Friedrich Creuzer ( 1 7 7 1 - 1 8 5 8 ) und Johann Arnold Kanne ( 1 7 7 3 1 8 2 4 ) - , zu der er zunächst selbst Beiträge geliefert hatte, hatte er sich hier ganz frei gemacht. Es ging ihm darum, auf der Basis zahlreicher schriftlicher Belege seit Tacitus, aber auch anhand von Zeugnissen der Mundarten und des Volksglaubens der Gegenwart so etwas wie eine Archäologie des durch das Christentum weitgehend, aber doch nicht völlig verdrängten heidnischen Glaubens der Deutschen zu erarbeiten. 18 Das religiöse Leben der Germanen wird soweit wie möglich, in erster Linie am Leitfaden

15 Jacob Grimm, Reinhart Fuchs, Berlin 1834, S. CCXCIV. 16 Ebd., S. CCXCIVf. 17 Vgl. die zusammenfassende Darstellung von Heinz Rölleke, Die Märchen der Brüder Grimm, München, Zürich 1985 (Artemis Einführungen 18). 18 Vgl. dazu besonders Wyss, Die wilde Philologie (Anm. 2), S. 208ÍF.

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Horst Brunner

der Sprache, zu beschreiben versucht - die Rekonstruktion eines Systems hielt Grimm allerdings aufgrund der Quellenlage für ausgeschlossen; sie wurde in der Folge von anderen gefordert bzw. versucht. Die viel besser bezeugte Mythologie der Skandinavier blieb dabei aus methodischen Gründen ausdrücklich beiseite: „ich habe unternommen alles, was von dem deutschen heidenthum jetzt noch zu wissen ist, und zwar mit der ausschließung des vollständigen systems der nordischen mythologie selbst, zu sammeln und darzustellen. Durch diese einschränkung hoffe ich licht und räum zu gewinnen und den blick zu schärfen fur die critik des altdeutschen glaubens, insofern er dem nordischen entgegen oder zur seite steht; nur da wird es uns also auf den letzteren ankommen, wo er seinem inhalt oder seiner richtung nach mit dem des inneren Deutschlands zusammentrifft."19 Grimms Werk, mit dem erstmals ein umfassendes Bild des germanischen Glaubens gegeben wurde, enthält u.a. Kapitel über Gott, Gottesdienst, Tempel, Priester, Götter, Göttinnen, Helden, Weise, Frauen, Riesen, über das Wirken des Göttlichen in der Natur bis zum Fortleben des heidnischen Glaubens in Sprichwörtern, Flüchen und Verwünschungen: „Indem Grimm seine Aufmerksamkeit nicht auf die Vorzeit selber, sondern auf deren Ablagerungen in späteren Jahrhunderten richtet, rückt die Grenze von Geschichte und Vorgeschichte immer näher an die Gegenwart heran."20 Für Jacob Grimm gehörte zum Arbeitsfeld des Germanisten nicht nur die deutsche Philologie, sondern auch die deutsche Geschichte und Rechtsgeschichte (diesem Bereich war die Bezeichnung Germanist entlehnt worden).21 Das Recht war für den studierten Juristen ein lebenslanges Forschungsgebiet.22 Seine Hauptwerke in diesem Bereich sind die große Quellenedition der Weisthümer, Texte, in denen die bäuerlichen und grundherrlichen Rechte und Pflichten gewohnheitsrechtlich und in formelhafter Sprache festgehalten wurden - Grimm brachte seit 1840 vier Bände heraus, nach seinem Tod wurde das Werk fortgesetzt - , ferner die in zwei Bänden 1828 erschienenen Deutschen Rechtsaltertümer, ein Unternehmen, das gleichfalls großes Aufsehen erregte. Die Rechtsaltertümer bedienten sich der Methode, die wenig später dann auch in der Deutschen Mythologie Anwendung fand. Es handelte sich hier nicht wirklich um Rechtsgeschichte, sondern um „Rechtsarchäologie".23 Grimm lieferte keine systematische Darstellung, sondern eine riesige, noch heute als „unerschöpflich" empfundene,24 freilich ebenfalls rational mit festem Griff gebändigte Materialsammlung; auch hier verstand er sich ausdrücklich als Altertumsforscher, nicht als historischer Rechtsgelehrter: „In dem alterthum war alles sinnlicher entfaltet, in der neueren zeit drängt sich alles geistiger zusammen. Hier ist vorzugsweise erwägung, begründung und darstellung geboten, dort Sammlung und einfache erzählung"; es gehe um „materialien 19 Jacob Grimm, Deutsche Mythologie, Bd.l, 4. Aufl., Berlin 1875, S. 8-10. 20 Wyss, Die wilde Philologie (Anm. 2), S. 226. 21 Vgl. Uwe Meves, „Germanistik", in: Literaturwissenschaftliches Lexikon: Grundbegriffe der Germanistik, hrsg. von Horst Brunner und Rainer Moritz, Berlin 1997, S. 120-124, hier S. 121. 22 Vgl. Denecke, Jacob Grimm (Anm. 5), S. 105ff.; ferner Werner Ogris, „Jacob Grimm und die Rechtsgeschichte", in: Jacob und Wilhelm Grimm (Anm. 6), S. 67-96; Hubert Drüppel, „Jacob Grimm und die deutsche Rechtswissenschaft", in: Die Brüder Grimm (Anm. 14), S. 61-69. 23 Drüppel, „Jacob Grimm" (Anm. 22), S. 67. 24 Ogris, „Jacob Grimm" (Anm. 22), S. 81.

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fur das sinnliche element der deutschen rechtsgeschichte." 25 Erschlossen und beschrieben wird der gesamte Kreis des germanischen Rechts einschließlich des angelsächsischen und des nordischen Bereiches, vielfach wiederum am Leitfaden der Sprache. Einleitend handelt Grimm über sprachliche Formen und Formeln, Maße, dingliche Rechtssymbole und symbolische Zahlen, im Hauptteil geht es um die Rechtsverhältnisse der Stände, die Rechtsordnungen des „Haushalts", d.h. der Familie, über Eigentum, Verträge, Verbrechen und Strafen, schließlich über die Gerichte und die Gerichtsverfahren. Im Zentrum der wissenschaftlichen Arbeit Jacob Grimms stand die Erforschung der deutschen Sprache. Er war der entscheidende Begründer der historischen Sprachwissenschaft. Mehr noch als die Mythologie war die Sprache geradezu ein Modethema der Epoche. Die in erster Linie normativ ausgerichtete Sprachwissenschaft des 18. Jahrhunderts hatte ihren bedeutendsten Vertreter in Johann Christoph Adelung (17321806), der ein viel bewundertes und viel benutztes großes Wörterbuch der deutschen Sprache herausgegeben hatte (zuerst erschienen 1774-1786). Die neue Sprachwissenschaft, ftir die neben Wilhelm von Humboldt (1767-1835), Franz Bopp (1791-1867) und dem Dänen Rasmus Kristian Rask (1787-1832) vor allem Jacob Grimm stand, verfuhr hingegen nicht normativ, sondern historisch-deskriptiv. 26 Anders jedoch als bei seinen Generationsgenossen und bei der überwiegenden Mehrheit der späteren universitären Sprachwissenschaftler war fur Grimm die Erforschung der Sprache kein Selbstzweck. Sie diente vielmehr zum einen als Mittel zur historischen Erkenntnis, zum anderen verfolgte er mit ihr eine politische Absicht: Sie sollte den Sprechern des Deutschen ihre nationale Einheit trotz aller staatlichen Aufsplitterung bewußt machen. Den ersten Punkt formulierte Grimm am eindrucksvollsten in seiner Rede auf Lachmann (1851): „Man kann alle philologen, die es zu etwas gebracht haben, in solche theilen, die die worte um der sachen, oder die sachen um der worte willen treiben". 27 Sich selbst zählte Grimm entschieden zur ersten Gruppe (Lachmann, der Texteditor, gehörte zur zweiten). Der zweite Punkt findet sich etwa in der Vorrede zum 1854 erschienenen 1. Band des Deutschen Wörterbuchs: „was haben wir denn gemeinsames als unsere spräche und literatur?" 28 : „Deutsche geliebte landsleute, welches reichs, welches glaubens ihr seiet, tretet ein in die euch allen aufgethane halle eurer angestammten uralten spräche, lernet u n d heiliget sie u n d haltet an ihr, eure volkskraft und dauer hängt in ihr ..." 2 i >

Die Grundlagen für einen methodisch abgesicherten Umgang mit der Sprachgeschichte schuf Grimm mit dem „gotischen D o m " (Heinrich Heine) seiner Deutschen Grammatik (erster Band 1819, umgearbeitet 1822, zweiter Band 1826, dritter Band 25 Jacob Grimm, Deutsche Rechtsaltertümer, Bd. 1, 4. Aufl., Berlin 1922, S. VII. 26 Vgl. dazu Denecke, Jacob Grimm (Anm. 5), S. 87ff.; Wyss, Die wilde Philologie (Anm. 2), S. 94ff.; Norbert Richard Wolf: „, die Sprachwissenschaft stand so, dass in unserer Zeit ein bedeutender Schritt gesehen muste.' Jacob Grimm am Beginn der deutschen Sprachwissenschaft", in: Die Brüder Grimm (Anm. 14), S. 97-106. 27 Jacob Grimm, Selbstbiographie. Ausgewählte Schriften, Reden und Abhandlungen, hrsg. von Ulrich Wyss, München 1984 (dtv 2139), S. 82. 28 Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 1, Leipzig 1854, S. III. 29 Ebd., S. LXVIII.

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1831, vierter Band 1837; der geplante fünfte Band mit der Syntax des zusammengesetzten Satzes blieb ungeschrieben). Auf dieses Werk gehen zahlreiche auch heute noch übliche sprachgeschichtliche Termini zurück, mit denen Grimm die von ihm größtenteils erstmals beschriebenen Sachverhalte benannte: Alt-, Mittel-, Neuhochdeutsch, Lautverschiebung, Ablaut, Umlaut, starke und schwache Flexion usw. In erster Linie ging es auch hier um Altertumskunde, um Sprach-Archäologie: „Er sah nicht nur Worte, sondern die Sprechenden samt ihrer Umwelt, ihren Intentionen, lebendig und farbig. Was er trieb, war [...] eineHuman-Sprachwissenschaft, die eine Art von Röntgen-Blick in die Geschichte eröffnete. Fürsten-, Staaten- und Schlachtengeschichte wurden unsichtbar in diesen Strahlen, während man mit Erstaunen die Gesellschafts- und Geistesgeschichte als tragende und bleibende Struktur des Geschehens erkannte."30 Mehr noch gilt diese Charakterisierung für Grimms zweites große sprachwissenschaftliche Werk, die zweibändige Geschichte der deutschen Sprache (1848), bei aller Gelehrsamkeit in erster Linie nicht ein deskriptives, sondern ein politisches Unternehmen, dessen Thema es ist, die ursprüngliche Einheit aller „Deutschen" (gemeint sind, wie häufig bei Grimm, die Germanen) angesichts ihrer Aufsplitterung zu verfolgen. Wer eine traditionelle Sprachgeschichte erwartet, wird (wie schon manch prominenter Zeitgenosse) enttäuscht sein; das Buch „lehrt, dasz unser volk nach dem abgeschüttelten joch der Römer seinen namen und seine frische freiheit zu den Romanen [...] getragen, mit seiner frischen kraft allein den sieg des christenthums entschieden und sich als undurchbrechlichen dämm gegen die ungestüm nachrückenden Slaven in Europas mitte aufgestellt hat. Von ihm zumal gelenkt wurden die schicksale des ganzen mittelalters, aber welche höhe der macht wäre ihm beschieden gewesen, hätten Franken, Burgunden, Langobarden und Westgothen gleich den Angelsachsen ihre angestammte spräche behauptet. Mit deren aufgeben giengen sie uns und groszentheils sich selbst verloren, Lothringen, Elsasz, die Schweiz, Belgien und Holland sind unserm reich, wir sagen noch nicht unwiderbringlich entfremdet."31 Nach der Entlassung in Göttingen 1838 übernahmen die Brüder den Auftrag des Verlegers Reimer, ein großes deutsches Wörterbuch zu erarbeiten - es wurde mehr als ein Jahrhundertwerk. Erst 1960 war das Projekt abgeschlossen, seither werden - mit zeitlich wohl noch nicht völlig absehbarem Ende - die von den Brüdern allein bearbeiteten Buchstaben (Α-Frucht) mit erheblich größerer Ausführlichkeit neu bearbeitet. 32 Das Deutsche Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm stellt ein historisches Wörterbuch des Deutschen „von Luther bis Goethe" (in den späteren Bänden auch darüber hinaus bis zur jeweiligen Gegenwart) dar, wobei die bis in das Mittelalter und weiter zurückreichende Herkunft der Wörter mit einbezogen wird und außer der Etymologie auch die Sachgeschichte Berücksichtigung findet. Auch dieses Unternehmen, zu dem er 4627 eng bedruckte Spalten beisteuerte, während sein Bruder Wilhelm einzig den Buchstaben D (1136 Spalten) bearbeitete, verstand Jacob Grimm

30 Denecke, Jacob Grimm (Anm. 5), S. 91f. 31 Grimm, Geschichte der deutschen Sprache (Anm. 13), S. IVf. 32 Vgl. Alan Kirkness, Geschichte des Deutschen Wörterbuchs 1838-1863, Stuttgart 1980; Karl Stackmann, „Uber das Wörterbuch der Brüder Grimm", in: Jacob und Wilhelm Grimm (Anm. 6), S. 7-37.

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nicht nur als sprachwissenschaftliches, sondern auch und vor allem als politisches Unternehmen. Das Wörterbuch bewährt sich freilich seit jeher als ein unerschöpflicher Thesaurus der deutschen Sprache, nicht nur für Sprach- und Literaturforscher, sondern fur alle, die in mehr als flüchtiger und oberflächlicher Weise mit der Sprache umgehen. Jacob Grimm gilt völlig zu Recht als der wichtigste Gründervater der zu seiner Zeit neuen wissenschaftlichen Disziplin der Germanistik. Das Prestige, das dem Fach bald zufloß und das seine Etablierung an der Universität ermöglichte, beruhte nicht zuletzt auf dem Ansehen, das seiner Person, seiner wissenschaftlichen Leistung, seiner politischen Rolle und seiner internationalen Reputation gezollt wurde. Allerdings entfernte sich die junge Fachdisziplin dann, allen Lippenbekenntnissen zum Trotz, rasch von Grimm, ja vielfach distanzierte sie sich sogar von ihm. Sein patriotischer Ansatz ließ sich nach 1871 bequem umdefinieren: Mit der Reichsgründung sei ja nun eingetreten, worum er sich lebenslang bemüht habe; die Umdeutung seiner Arbeiten im völkischen Sinn nach 1933 bereitete dann ebenfalls keine Schwierigkeiten. Grimms wissenschaftlicher Ansatz war freilich schwer operationalisierbar: In der Sprachwissenschaft orientierte man sich lieber am mechanistischen Paradigma der damaligen Naturwissenschaften, der Mensch als Bezugspunkt verschwand. Im philologischen Bereich lieferte Lachmanns Methode, die man erlernen und gleichfalls in geradezu mechanistischer Weise praktisch anwenden konnte, ein besseres Muster als Grimms „wilde Philologie" (Ulrich Wyss), die viel mehr an Ideen, Einfallsreichtum und schöpferischer Kraft verlangt hätte - auch hier lieferten die Naturwissenschaften das zeitgemäße Vorbild, die Parole hieß: Positivismus. Von Jacob Grimm blieb nicht viel mehr als der berühmte Name.

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Karl Lachmann (1793-1851) Erst als ihm eine außerordentliche Professur (mit 800 Talern Gehalt) und „als Gegenstände der Vorlesungen die schönen Wissenschaften" zugestanden wurden, erklärte sich der vierundzwanzigjährige Oberlehrer Karl Lachmann bereit, vom Collegium Fridericianum in Königsberg an die Albertus-Universität zu wechseln.1 Am 17. Januar 1818 erfolgte seine Bestallung fur die Professur der „Theorie, Kritik und Litteratur der schönen Künste und Wissenschaften". Die Bezeichnung der Professur blieb die alte, doch die von dem neuen Amtsinhaber vertretene Wissenschaftskonzeption unterschied sich ganz wesentlich von der seines Vorgängers. Lachmanns wissenschaftliches Werk und Profil sollten in der Folgezeit maßgeblich zur Durchsetzung und Anerkennung der Deutschen Philologie als akademischer Disziplin und der spezifisch philologischen Ausrichtung des an den deutschen Universitäten noch kaum vertretenen Faches beitragen. Sein Name ist über die Wissenschaftsgeschichte der Germanistik hinaus aufs engste mit der Geschichte des modernen Editionswesens verknüpft, die „zu guten Teilen eine Geschichte der Methode [ist], die wir die Lachmannsche nennen." 2 Daß allerdings die Lachmannsche Methode ihren Namen „nur mit bedingtem Recht" fuhrt, insofern sie auf von der Bibelphilologie des 18. Jahrhunderts formulierten Grundsätzen der Handschriftenklassifikation, der Handschriftengenealogie und der Textkritik aufbaute und im Zusammenhang mit den Beiträgen zeitgenössischer Altphilologen zu sehen ist, wissen wir seit Sebastiano Timpanaros Studien über Die Entstehung der Lachmannschen Metbode? Lachmanns Werk demonstriert eindringlich, daß es wissenschaftsgeschichtlich aus der Perspektive der Geschichte der

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Uwe Meves, „Die Anfänge des Faches Deutsche Sprache und Literatur an der Universität Königsberg. Von Karl Lachmann bis zu Julius Zacher", in: Zeitschrift für deutsche Philologie 114,1995, S. 380; das folgende Zitat ebd. Karl Stackmann, „Mittelalterliche Texte als Aufgabe", in: Festschriftfur Jost Trier zum 70. Geburtstag, hrsg. von William Foerste und Karl H . Borck, Köln 1964, S. 240-267; zit. nach Karl Stackmann, Mittelalterliche Texte als Aufgabe. Kleine Schriften I, hrsg. von Jens Haustein, Göttingen 1997, S. 4; das folgende Zitat ebd.; vgl. Horst Fuhrmann, „Überlegungen eines Editors", in: Probleme der Edition mittel- und neulateinischer Texte. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bonn, 26.-28. Februar 1973, hrsg. von Ludwig Hödl und Dieter Wuttke, Boppard 1978, S. 1 lf. Sebastiano Timpanaro, La genesi del metodo del Lachmann, Florenz 1963, zit. nach der 2., erweiterten und überarbeiteten Aufl., Hamburg 1971; Peter F. Ganz, „Lachmann as an Editor of Middle High German Texts", in: ders. und Werner Schröder, Probleme mittelalterlicher Überlieferung und Textkritik. Oxforder Colloquium 1966, Berlin 1968, S. 13ff.; Magdalene Lutz-Hensel, Prinzipien der ersten textkritischen Editionen mittelhochdeutscher Dichtung. Brüder Grimm - Benecke - Lachmann. Eine methodenkritische Analyse, Berlin 1975, S. 295ff. und S. 436f.; Hans Fromm, „Zur Geschichte der Textkritik und Edition mittelhochdeutscher Texte", in: Beiträge zur Methodengeschichte der neueren Philologien. Zum 125jährigen Bestehen des Max Niemeyer Verlages, hrsg. von Robert Harsch-Niemeyer, Tübingen 1995, S. 66-70, S. 73-77.

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Nationalphilologien oder der Teilbereiche Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft nicht angemessen zu erfassen ist. Lachmann übersetzte Shakespeares Sonette und Macbeth, veröffentlichte aufsehenerregende Untersuchungen zur homerischen Frage, edierte Rechtsquellen, Sachtexte und Dichtungen vorwiegend der römischen Antike, gab das Neue Testament und Hauptwerke der mittelalterlichen und neueren deutschen Literatur (Lessing) heraus. 1 Nach dem Besuch des Katharineums in Braunschweig nahm der Pfarrersohn Lachmann4 1809 das Studium der Theologie in Leipzig auf, hörte dort aber bereits Gottfried Hermanns Vorlesung über Aristophanes' Die Wolken. Zum Wintersemester nach Göttingen gewechselt, wandte er sich zunehmend der Klassischen Philologie und Altertumskunde zu, wobei ihn mehr die Veranstaltungen des Privatdozenten Ludolph Dissen als die des hochbetagten Christian Gottlob Heyne anzogen. Zudem beschäftigte sich Lachmann intensiv mit den neueren Sprachen und Literaturen. Benecke förderte Lachmanns Studium des Englischen und legte mit seiner Anleitung zur Kenntnißder altern Deutschen Literatur den Grund fiir dessen Zuwendung zur altdeutschen Sprache und Literatur. Welchen Einfluß Benecke auf Lachmann ausübte, bezeugte dieser in der Vorrede seiner ersten, seinem verehrten Lehrer gewidmeten Textausgabe mittelhochdeutscher Dichtungen, derAuswahl aus den Hochdeutschen Dichtern des dreizehnten Jahrhunderts (1820), in der er „dem Manne, der zuerst in das vaterländische Alterthum mich einführte", öffentlich seinen Dank bekundete (S. III). Im Oktober 1814 reichte Lachmann an der Universität Halle seine Dissertation De critica in Tibulli carminibus rede instituenda ein; ein halbes Jahr darauf habilitierte er sich an der Universität Göttingen mit Studien zu den römischen Dichtern Marcilius, Tibull und Statius (Observationum criticarum capita tria). Ende Mai 1815 Schloß Lachmann seine Arbeit an der Properz-Ausgabe ab, um sich, veranlaßt durch Napoleons Rückkehr aus Elba, einem Détachement Freiwilliger Jäger anzuschließen, das allerdings in Frankreich nicht mehr zum Kampfeinsatz gelangte und Ende des Jahres aufgelöst wurde. Lachmann wandte sich nach Berlin, legte dort im Februar 1816 vor der Wissenschaftlichen Deputation das Examen pro facúltate docendi ab und erhielt eine Anstellung als Collaborator am Friedrich-Werderschen Gymnasium mit 300 Talern Gehalt. Spielte bei der Lehramtsprüfung das Fach Deutsch keine Rolle, so dokumen-

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Martin Hertz, Karl Lachmann. Eine Biographie, Berlin 1851; Julius Zacher und Konrad Zacher, „Lachmann (Karl Konrad Friedrich Wilhelm)", in: Johann S. Ersch und Johann G. Gruber, Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste, 2. Sektion, Teil 41, Leipzig 1887, Nachdruck Graz 1986, S. 105-126; Hendricus Sparnaay, Karl Lachmann als Germanist, Bern 1948; Jürgen Kühnel, „Lachmann, Karl", in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 13, Berlin 1982, S. 371-374; Ursula Hennig, „Karl Lachmann", in: Berlinische Lebensbilder. Geisteswissenschaftler, hrsg. von Michael Erbe, Berlin 1989, S. 73-86; Harald Weigel, .Nur was du nie gesehn wird ewig dauern'. Carl Lachmann und die Entstehung der wissenschaftlichen Edition, Freiburg im Breisgau 1989; Karl Eibl, „Karl Lachmann (1783-1851)", in: Die Albertus-Universität zu Königsberg und ihre Professoren. Aus Antaßder Gründung der AlbertusUniversität vor 450Jahren, hrsg. von Dietrich Rauschning und Donata von Nerée, Berlin 1995 (Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr. 29, 1994), S. 163-165.

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tiert Lachmanns bereits zwei Monate später an der Berliner Universität erfolgte Habilitation die beiden fachlichen Schwerpunkte seiner Studien. 5 Als schriftliche Leistung legte Lachmann seine Properz-Ausgabe vor.6 Am 4. Mai hielt er „seine Probevorlesung über die ursprüngliche Form des Nibelungenliedes" und sprach damit als erster Habilitand über ein altdeutsches Thema. 7 Nur fiinf Professoren waren anwesend - die klassischen Philologen Bekker und Boeckh fehlten - , so daß in dem anschließenden Kolloquium allein der Historiker Rühs und der Philosoph Solger Lachmann prüften, und zwar ausschließlich „im Fache der altdeutschen Litteratur". Friedrich August Wolfs epochale Schrift Prolegomena adHomerum (1795) bildete bezeichnenderweise den Ausgangspunkt fur Lachmanns früheste germanistische Publikation, in der er Grundgedanken Wolfs über die Entstehung der homerischen Gesänge auf das Nibelungenlied übertrug und zu beweisen suchte, daß es „aus einer noch jetzt erkennbaren Zusammensetzung einzelner romanzenartiger Lieder entstanden sei."8 Hier war im Kern formuliert, was in der Folgezeit unter dem Stichwort Lachmannsche Liedertheorie in áe.iNibelungenlied-¥oKÓmng für Furore sorgte. Hatte sich Wolf auf äußere Kriterien gestützt, so richtete Lachmann seinen Blick auf den Text des Nibelungenliedes und der Klage selbst, mit dem Ziel, „Spuren der Zusammenfiigung" (S. 4) aufzudecken — im Unterschied etwa zu Wilhelm Grimm, der insbesondere sagengenealogische Zusammenhänge, oder zu anderen Gelehrten, die historische und mythologische Spuren verfolgten. „Mit der nach diesem Prinzip angelegten Nibelungen-Untersuchung beginnt die im eigentlichen Sinne wissenschaftliche Erforschung der älteren deutschen Literatur." 9 Lachmanns Nibelungen-Schrift bahnte, vermittelt von Benecke, den Kontakt zu Jacob und Wilhelm Grimm an und leitete so eine intensive und fruchtbare Kommunikation ein, der für die Herausbildung der Wissenschaft Deutsche Philologie eine herausragende Bedeutung zukam. 10 In wenigen Monaten schuf der dreiundzwanzigjährige Lachmann in Berlin die Voraussetzungen für einen beruflichen Aufstieg am Gymnasium und an der Univer5

Seinem dem Antrag vom 23. April 1816 beigefugten curriculum vitae zufolge wollte Lachmann über „antiquitatem Graecam, Romanam, Germanicam" lehren (Universitätsarchiv Humboldt-Universität Berlin, Bestand Philosophische Fakultät Nr. 1198 Bl. 144). 6 Sex. Aurelii Proferiti carmina emendavit ad codicum meliorum ftdem et annotavit, Leipzig 1816. Charakteristisch für Lachmanns erste Textausgabe sind die Hinwendung zur Überlieferung, die Trennung zwischen interpolierten und nicht interpolierten Codices, der Ausschluß interpolierter Codices (und damit der Humanisten-Handschriften), siehe Timpanaro, La genesi del metodo del Lachmann (Anm. 3), S. 27ff. Zu Lachmanns Bedeutung in der Klassichen Philologie siehe zuletzt den Überblick von Wollfhart Unte, „Karl Lachmann", in: Classical scholarship. A biographical encyclopedia, hrsg. von Ward W. Briggs and William M. Calder III, New York, London 1990, S. 248-259. 7 Prüfungsprotokoll vom 4./11. Mai 1816; Universitätsarchiv Humboldt-Universität Berlin, Bestand Philosophische Fakultät Nr. 1198 Bl. 145"; das folgende Zitat ebd. Die Druckfassung erschien kurz darauf unter dem Titel Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Νοώ, Berlin 1816. 8 Ebd., zit. nach dem Abdruck in: Karl Lachmann, Kleinere Schriften zur Deutschen Philologie, hrsg. von Karl Müllenhoff, Berlin 1876 (Kleinere Schriften 1), S. 1. 9 Karl Suckmann, „Die Klassische Philologie und die Anfänge der Germanistik", in: Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert, hrsg. von Hellmut Flashar, Karlfried Gründer und Axel Horstmann, Göttingen 1979, S. 240-259 und S. 371-374, zit. nach Stackmann, Mittelalterliche Texte als Aufgabe (Anm. 2), S. 370. 10 Siehe Lothar Bluhm, Die Brüder Grimm und der Beginn der Deutschen Philologie. Eine Studie zu Kommunikation und Wissenschaftsbildung im frühen 19. Jahrhundert, Hildesheim 1997, S. 182ff.

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sität. Noch im Mai 1816 nahm er das Angebot einer mit 500 Talern dotierten Oberlehrerstelle am Collegium Fridericianum in Königsberg an - an dem er mit dem Direktor Friedrich August Gotthold und dem Oberlehrer Friedrich Karl Köpke zwei ebenfalls der altdeutschen Literatur zugewandte Kollegen vorfand - , entschied sich aber schon bald fur die universitäre Laufbahn. 2 In den Königsberger Jahren legte Lachmann das Fundament fiir seine späteren mittelhochdeutschen Textausgaben. Über Ausmaß und Intensität seiner sprachlichen Studien gibt das Vorwort zur zweiten Auflage des Iwein beredte Auskunft: Die erste Ausgabe (1827) „hatte ich durch vieljährige arbeiten vorbereitet, die auf erforschung und einübung alles in mittelhochdeutscher poesie gesetzmäßigen und üblichen gerichtet waren. Im februar 1 8 1 8 begann ich ein umfassendes reimwörterbuch über den grösten theil der erhaltenen erzählenden gedichte und lieder anzulegen, wodurch ich das regelrechte in den wortformen und ihrer quantität, nebst dem eigenthümlichen vieler einzelnen mundarten und dichter genau kennen lernte, im winter 1 8 2 3 und 2 4 ward die althochdeutsche verskunst mit auizählung aller beispiele bis ins kleinste vollständig erörtert, dabei die umbildung oder Verfeinerung der gefundenen regeln in den werken der sorgfältigsten dichter des dreizehnten jahrhunderts erforscht, an diesen war mir das nothwendige und das erlaubte fast alles klar geworden; mich an geschmack und gefuhl jedes einzelnen dichters anzuschmiegen war bei unzureichenden hilfsmitteln noch nicht genug möglich, alles gedruckte alt- und mittelhochdeutsche, das zu erlangen war, hatte ich widerholt und genau gelesen, viel ungedrucktes theils gelesen, theils auch abgeschrieben, ja von manchem gedieht schon mehrere handschriften." 11

Lachmanns eindringende Studien und sein umfassendes mikrologisches Wissen von Sprache und Stil, von Vers- und Reimkunst altdeutscher Dichtungen schlugen sich zunächst in einer Reihe von Rezensionen nieder, in denen er selbstsicher und scharfsinnig mittelhochdeutsche Textausgaben analysierte und dabei eigene, auf strengerer Textkritik basierende Editionsprinzipien postulierte. Besondere Berühmtheit erlangte seine erste Rezension, in der er von der Hagens Nibelungenlied-Ausgabe von 1816 und Beneckes ebenfalls 1816 erschienene Ausgabe von Boners Edelstein besprach. Von der Hagens und Beneckes „Hauptgesetz fur die Kritik altdeutscher Gedichte", nämlich „den Text der ältesten und besten Handschrift zum Grunde [zu] legen, diesen aus den übrigen hin und wieder [zu] verbessern", setzte Lachmann programmatisch „das einzig richtige Gesetz" entgegen:

11 Iwein. Eine Erzählungvon Hartmann von Aue, mit Anmerkungen von G. F. Benecke und K. Lachmann, 2. Ausgabe, Berlin 1843, S. 360. In der Königsberger Zeit traten Lachmanns Studien auf dem Gebiet der Klassischen Philologie zurück. Er veröffentlichte zwei Abhandlungen über die Metrik und den Bau der Chorlieder in den griechischen Tragödien, in denen er bereits sein Augenmerk auf die zahlenmäßige Symmetrie richtete: De choricis systematis tragicorum Graecorum libri quattuor, Berlin 1819; De mensura tragoediarum liber singularis, Berlin 1822; siehe Manfred Lossau, „Von Christian Lobeck bis Ludwig Friedländer. Das große Jahrhundert der Königsberger Philologie", in: Archiv fiir Kulturgeschichte 78, 1996, S. 221-224.

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„Wir sollen und wollen aus einer hinreichenden Menge von guten Handschriften einen allen diesen zum Grunde liegenden Text darstellen, der entweder der ursprüngliche selbst seyn oder ihm doch sehr nahe kommen muss." 1 2 D i r e k t a n B e n e c k e g e w a n d t , w i e d e r h o l t e u n d vertiefte L a c h m a n n in d e r Auswahl den hochdeutschen

Dichtern

des dreizehnten

Jahrhunderts

aus

( B e r l i n 1 8 2 0 ) - seiner einzi-

g e n B u c h p u b l i k a t i o n z u r m i t t e l h o c h d e u t s c h e n D i c h t u n g in d e r K ö n i g s b e r g e r Z e i t seine editorischen Prinzipien u n d versuchte seinen Lehrer fur die „wahre strengh i s t o r i s c h e K r i t i k " (S. V I I I ) z u g e w i n n e n : 1 3 „und ganz offenbar ist, daß aus einer hinlänglichen Anzahl von Handschriften, deren Verwandtschaft und Eigenthümlichkeiten der Kritiker genau erforscht hat, ein Text sich ergeben muß, der im Kleinen und Großen dem ursprünglichen des Dichters selbst oder seines Schreibers sehr nah kommen wird. Füge ich noch hinzu, daß der Herausgeber mit allen Rede- und Versgebräuchen seines Dichters sich erst vollkommen vertraut machen soll, so sieht man zwar, daß die Arbeit in einem Kreis geht: aber in diesem Kreise sich geschickt zu bewegen, das ist des Kritikers Aufgabe und erhebt sein Geschäft über Handarbeit." (S.Xf.) A u c h w e n n L a c h m a n n nicht mit Beneckes editorischem V o r g e h e n übereinstimmte, s o w a r er s i c h d o c h sicher, d a ß dieser m i t i h m d i e Ü b e r z e u g u n g teilte, „ d a ß d i e D i c h t e r des dreizehnten J a h r h u n d e r t s , bis a u f w e n i g e m u n d a r t l i c h e Einzelheiten, ein b e s t i m m t e s u n w a n d e l b a r e s H o c h d e u t s c h redeten, w ä h r e n d u n g e b i l d e t e S c h r e i b e r sich a n d e r e F o r m e n d e r g e m e i n e n S p r a c h e , theils ältere, theils v e r d e r b t e , e r l a u b t e n " (S. V I I I ) . D e s w e g e n g i n g L a c h m a n n s „ H a u p t b e s t r e b e n " bei d e n in s e i n e m m i t t e l h o c h d e u t s c h e n L e s e b u c h veröffentlichten T e x t e n z u n ä c h s t d a r a u f aus, „ e i n e alterthiimliche, aber g e n a u e R e c h t s c h r e i b u n g e i n z u f ü h r e n " (S. X I ) . D i e Ü b e r z e u g u n g v o n e i n e m b e s t i m m t e n u n w a n d e l b a r e n H o c h d e u t s c h i m p l i z i e r t e a u c h eine N o r m a l i s i e r u n g d e r S c h r e i b w e i s e . D i e Auswahl

d e u t e t e so a u f d a s in d e n s p ä t e r e n T e x t a u s g a b e n L a c h m a n n s realisierte

b e r ü h m t - b e r ü c h t i g t e normalisierte

Mittelhochdeutsch

v o r a u s , die f u r J a h r z e h n t e d i e

mittelhochdeutschen Textausgaben bestimmende Sprachform. Lachmanns nament12 In: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 1817, Nr. 132-135, Bd. 2, S. 113-142; zit. nach dem Abdruck in Lachmann, Kleinere Schriften zur Deutschen Philologie (Anm. 8), S. 81-114, hier S. 81 und S. 82. Zu den methodologischen Problemen dieser Rezension siehe Timpanaro, La genesi del metodo del Lachmann (Anm. 3), S. 93-100 und Ganz, „Lachmann as an Editor ofMiddle High German Texts" (Anm. 3), S. 19f.; insbes. Lutz-Hensel, Prinzipien der ersten textkritischen Editionen (Anm. 3), S. 228239. Wichtig für Lachmanns textkritische Vorstellung ist die im Jahr darauf ebenfalls in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung (1818, Nr. 203, 204, Bd. 4, S. 249-263) erschienene Rezension „Ueber G. Hermann's Ausgabe von Sophokles Ajax"; wiederabgedruckt in: Karl Lachmann, Kleinere Schriften zur Classischen Philologie, hrsg. von Johannes Vahlen, Berlin 1876 (Kleinere Schriften 2), S. 1-17. 13 „Dieses .strenghistorische' ist das textkritische Verfahren, dessen beide Faktoren: die niedere Kritik als recensionale, bezogen auf die Überlieferungsweisen eines bestimmten Textes, die höhere Kritik als sprachsystematische (grammatische usf.) bezeichnet werden können"; Lutz-Hensel, Prinzipien der ersten textkritischen Editionen (Anm. 3), S. 245, Anm. 1. Auf diese programmatische Formulierung Lachmanns bezieht sich Karl Stackmanns Herausstellung der „Regel" als des Schlüsselwortes zum Verständnis der Lachmannschen Textkritik: „Die Kritik dient ihm dazu, die Regeln wiedeizufinden, denen die alten Dichter bewußt oder unbewußt folgten und die daher auch der Editor zu beachten hat. Diesem Grundsatz entsprechend übergeht er in der Auswahl' die jungen Autoren die ,νοη den späteren die Oberdeutsche Sprache zu frei und regelwidrig behandeln' (S. IV)"; Stackmann, „Die Klassische Philologie und die Anfänge der Germanistik" (Anm. 9), S. 368.

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lieh auf von der Hagen bezogene Bemerkung an gleicher Stelle, dieser könne „durch das Opfer der strengsten Arbeit sich den ewigen Ruhm eines Herausgebers der Nibelungen" (S. XXf.) gewinnen, verweist auf sein Berufsverständnis im Grundsätzlichen: „Wollen Unwissende lehren, die, von nichtiger Lust angereizt, arbeitsscheuen Liebhabereifer, und wohlgemeinte, aber eitele und erfolglose Betriebsamkeit sich als Verdienst anrechnen: die Verachtung der Schüler stürze sie, die jetzo leicht zu durchschauen sind, von dem Stuhle des Hochmuts. Wir haben Ursach genug, endlich durch unverdrossene tüchtige Arbeit die so lange und nicht mit Unrecht verweigerte Achtung der Zeitgenossen uns zu verdienen." (S. XXI)

Wissen, Arbeitsmoral und Charakter waren in dieser Berufsethik unlösbar miteinander verbunden. Mängel der wissenschaftlichen Arbeit wurden mit Charaktermängeln gleichgesetzt und führten zu einer moralischen Diskreditierung. 14 Arbeits- und Pflichtethos verbanden Lachmann mit Jacob Grimm, mit dem er seit 1819 einen ausführlichen und intensiven brieflichen Austausch über ihre sprachwissenschaftlichen Forschungen, Einzelheiten der Laut- und Formenlehre, grammatische und metrische Fragen führte. 15 Die mit der steten Erweiterung und Vertiefung des „philologischen Fundaments" zunehmenden Spezialkenntnisse bildeten nunmehr die unabdingbare Voraussetzung für die Wiederherstellung des echten Textes und trennten zusehends die gelehrten Sammler, Liebhaber und Dilletanten von den Spezialisten. Bezeichnend ist Lachmanns Rezension der Nibelungenlied-Ausgaben von der Hagens aus dem Jahr 1820: Bereits auf der zweiten Seite der knapp 60 Seiten umfassenden Rezension - „wo nichts als Eifer fiir Wahrheit ohne Rücksichten und Schonung sich frey ausspricht" verabschiedete sich Lachmann „von den meisten unserer Leser", da er „dem großen Publicum über Hn. v. d. Hs Arbeit [mehr] nicht zu sagen" habe. 16 Lachmann stellte sein textkritisches Konzept nicht in einer fachübergreifenden, allgemeinen methodologischen Abhandlung dar, sondern äußerte sich dazu nur vereinzelt in zumeist knappen Bemerkungen in Rezensionen und Briefen, Vorreden, Nachworten und in Anmerkungen. Daß er „mit dem, was er geben könnte und sollte, zu sehr zurück[hielt] ", daß er den Leser „über die gründe seiner behandlung des textes" nicht informierte, beklagten selbst Lachmann wohlgesinnte Zeitgenossen wie Jacob Grimm. 17 Mit dem Schweigen des Herausgebers wollte Lachmann nicht zuletzt andere 14 Zur Entstehung und Rolle der Berufsethik für die Deutsche Philologie siehe Rainer Kolk, „Wahrheit Methode - Charakter. Zur wissenschaftlichen Ethik der Germanistik im 19. Jahrhundert", in: Internationales Archiv ftir Sozialgeschichte der deutschen Literatur 14, 1989, S. 50-73. 15 Sieh e Briefwechsel der BrüderJacob und Wilhelm Grimm mit Karl Lachmann, hrsg. von Albert Leitzmann, 2 Bde., Jena 1927; das folgende Zitat aus einem Briefjacob Grimms vom 1.4.1820 an Lachmann (ebd., Bd. 1, S. 80). Grimm dankte Lachmann in der Vorrede der zweiten Ausgabe des ersten Bandes der Deutschen Grammatik (1822) fiir dessen „ausfuhrliche und rückhaltlose mittheilungen" (S. XIX). Die Diskussion mit Grimm über Fragen der Wortbetonung gab den Anstoß zu Lachmanns - erst 1990 veröffendichter - Abhandlung Über althochdeutsche Prosodie und Verskunst (¡823/24), mit Beiträgen von Jacob Grimm und einer Einleitung hrsg. von Ursula Henning, Tübingen 1990 (Hermaea N.F. 59), die er Grimm abschnittsweise zur kritischen Lektüre zugesandt hatte. 16 Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung, \%2Q,Ergänzungsblätter, Nr. 70-76, Bd. 2, S. 169-224; zit. nach Lachmann, Kleinere Schriften zur Deutschen Philologie (Anm. 8), S. 206-271, hier S. 207. 17 Jacob Grimm an Georg F. Benecke, Silvesterabend 1826, in: Briefe aus der Frühzeit der deutschen Philologie an Georg Friedrich Benecke, mit Anmerkungen begleitet und hrsg. von Rudolf Baier, Leipzig 1901, Nr. 44, S. 72.

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ebenfalls zu „unverdrossener tüchtiger Arbeit", zu selbständigem Forschen provozieren, zumal er sich der Vorläufigkeit und der Perfektibilität seiner Ergebnisse bewußt war.18 Am eingehendsten beschrieb er sein Verfahren und sein textkritisches Vorgehen bei seinen Editionen des Neuen Testaments, seiner „methodisch reflektiertesten editorischen Unternehmung".19 In der Vorrede der editio maior unterschied Lachmann klarer als zuvor zwischen recensio und emendado und formulierte den Satz, an dem sich insbesondere der Streit um seine Methode entzündete und der in der Folgezeit die entschiedenste Ablehnung finden sollte. Dieser viel-, aber meist unvollständig zitierte Satz lautet: „ex auctoribus quaerere, quod primo loco posui, id quod recensere dicitur, sine interpretatione et possumus et debemus" ( 1842, Bd. 1, S. V). Lachmann behauptete damit jedoch nicht, eine recensio sei ohne jegliches subjektives Urteil möglich, sondern warnte - wie Lutz-Hensel plausibel machte — lediglich „vor einem subjektiven Vorgriff bei der Sammlung von Überlieferungsdaten."20 Stackmann hat Lachmanns Vorgehen prägnant zusammengefaßt: „Lachmann unterscheidet zwischen Recensio - Rekonstruktion des Archetypus mit Hilfe der erhaltenen Textzeugen - und Emendatio — Verbesserung etwaiger Fehler dieses Archetypus. Für seine Art der Recensio ist die Neigung zu weitgehender Vereinfachung charakteristisch. Er stützt sich nach Möglichkeit auf die ältesten Codices. Die Verwandtschaftsverhältnisse werden auf Grund gemeinsamer Fehler bestimmt. Es ergeben sich wenige, oft zwei, Klassen. Als Text des Archetypus ist anzusehen, was alle Klassen gemeinsam haben, oder aber, was die beste dieser Klassen, unterstützt von einzelnen Vertretern der übrigen, bietet."21

3 Lachmanns Vorlesungen in Königsberg fanden bei den Studenten keinen großen Zulauf, wobei freilich die bescheidenen Studentenzahlen der Albertina zu bedenken sind. Als seine fur Vorlesungen und zum Schulgebrauch gedachte Auswahl aus den Hochdeutschen Dichtern des dreizehnten Jahrhunderts erschien, studierten in Königsberg 218 Studenten, unter ihnen sechsundzwanzig „Philosophen und Pädagogen".22 Lachmann las über griechische und lateinische Autoren, über altdeutsche Sprach- und 18 Siehe Lutz-Hensel, Prinzipien der ersten textkritischen Editionen (Anm. 3), S. 245f. 19 Weigel, ,Nur was du nie gesehn wird ewig dauern' (kam. 4), S. 161. Novum Testamentum Graece ex recensione, C. L. Editio stereotyp!, Berlin 1831 ; Novum Testamentum Graece et Latine, C. L. recensuit Philippus Buttmannus Ph. f. Graecae lectionis auctoritates apposuit, 2 Teile, Berlin 1842-1850; dazu Karl Lachmann, „Rechenschaft über L. Ausgabe des Neuen Testaments", in: Theologische Studien und Kritiken, 2, 1830, S. 817-845; wiederabgedruckt in: Lachmann, Kleinere Schrifien zur Classischen Philologie (Anm. 12), S. 250-272. Für sein textkritisches Vorgehen wichtig ist auch die Praefatio seiner großen Lukrez-Ausgabe. T. Lucretii Cari de rerum natura libri sex, C. L. recensuit et emendavit, Berlin 1850. 20 Fromm, „Zur Geschichte der Textkritik und Edition mittelhochdeutscher Texte" (Anm. 3), S. 66, mit Verweis auf Lutz-Hensel, Prinzipien der ersten textkritischen Editionen (Anm. 3), S. 298ff. 21 Stackmann, Mittelalterliche Texte als Aufgabe (Anm. 2), S. 5. 22 Hans Prutz, Die Königliche Albertus-Universität zu Königsberg i. Pr. im neunzehnten Jahrhundert, Königsberg 1894, S. 148; zu Lachmanns Lehrtätigkeit in Königsberg siehe Meves, „Die Anfánge des Faches Deutsche Sprache und Literatur an der Universität Königsberg" (Anm. 1), S. 380-383.

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Literaturgeschichte und mittelhochdeutsche Dichtungen des 13. Jahrhunderts sowie - gezwungenerweise - über Ästhetik und Rhetorik. Zum Sommer 1824 erhielt er die ersehnte Beurlaubung für eine Bibliotheksreise, seine Wolfram-Reise, auf der er u.a. in München, St. Gallen und Heidelberg zahlreiche Handschriften abschrieb oder kollationierte und damit seine Textausgaben vorbereitete.23 Nach einem erneuten Versetzungsgesuch wurde Lachmann 1825 als außerordentlicher Professor nach Berlin berufen und am 27. Juni 1827 zum ordentlichen Professor fur das Fach der Deutschen und der Klassischen Philologie ernannt (mit dem gleichen Gehalt wie in Königsberg). Der Denomination entsprechend kündigte Lachmann in Berlin in jedem Semester in beiden Fächern Lehrveranstaltungen an. Er las über Werke griechischer (Aischylos, Aristophanes, Sophokles) und lateinischer Autoren (Properz, Horaz, Catull undTibull), bot anfänglich vereinzelt Disputationsübungen über philologische Gegenstände an, las dann über Theorie des lateinischen Stils mit praktischen Übungen, bis er 1829 die Leitung der lateinischen Übungen des philologischen Seminars übernahm. Hier sollten die Studenten „selbst arbeiten lernen, die Aufgabe klar erkennen und dann der Mittel sich bewusst werden, durch welche man sie lösen könne". 24 Lachmanns Vorlesungen in Deutscher Philologie, fur die er, ähnlich wie in Königsberg, bereits 1825 eine Auswahl aus den althochdeutschen Literaturdenkmälern (Specimina Linguae Francicae in usum auditorum) publizierte, beschränkten sich dagegen nahezu ausschließlich auf drei Themenkomplexe. Er begann mit einer Vorlesung über die Anfangsgründe der deutschen Grammatik, im anschließenden Semester las er über das Nibelungenlied und dann folgte vom Wintersemester 1830/31 an jeweils (mit leicht variiertem Titel) die Geschichte der älteren deutschen Poesie verbunden mit Erklärungen mittelhochdeutscher Dichter (Walther von der Vogelweide, Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach). Ausnahmen bildeten lediglich zu Beginn zwei Vorlesungen über den Iwein Hartmanns von Aue und in den vierziger Jahren über Wolframs Parzival. Lachmann rechnete die Vorlesungen über altdeutsche Literatur und Sprache zu den „nicht durchaus nothwendigen Vorlesungen".25 Der Vorrang der Klassischen Philologie für die Ausbildung des angehenden Gymnasiallehrers im philologischen Fach galt als selbstverständlich; der Deutschen Philologie wurde lediglich ein Nischenplatz zugestanden. Von 1825 bis 1833 gehörte Lachmann als einziger Hochschulgermanist in der ersten Hälfte des Jahrhunderts in Preußen einer „Wissenschaftlichen Prüfungskommission" an - dank seiner Denomination für Klassische Philologie. Als 1831 das neue preußische Prüfungsreglement fiir die Kandidaten des höheren Schulamts erstmals im philologischen Fach spezifische historische Kenntnisse und eine wissenschaftliche Bildung im Deutschen als unabdingbar fur die Erteilung der unbe23 Friedrich Neumann, „Karl Lachmanns Wolßramreise. Eine Erinnerung an seine Königsberger Zeit", in: Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr. 2,1952, S. 138-158; Wiederabgedrucktin: Wolfram von Eschenbach, hrsg. von Heinz Rupp, Darmstadt 1966 (Wege der Forschung 57), S. 6-31 mit einem Nachtrag von 1963 auf S. 31-37. 24 Hertz, Karl Lachmann. Eine Biographie (Anm. 4), S. 85. 25 Lachmann an den Kultusminister Eichhorn, 4.7.1846; GStAPK I. HA Sammlung Darmstaedter 2 b 1847 K. Lachmann (M).

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dingten facultas docendi festlegte, bemühte sich Lachmanns Kommission, diese Bestimmung zu entschärfen. Da „es ein nicht seltener, ja fast der gewöhnliche Fall [ist], daß ein Candidat, welcher mit den alten Sprachen und der alten Litteratur [der Antike] sehr wohl bekannt ist, doch mit der geschichtlichen Ausbildung der deutschen Sprache in einem geringeren Grade sich beschäftigt hat und überdies zwar vielleicht die neuere Entwickelung der deutschen Litteratur kennt, aber doch von der altern vaterländischen Litteratur nur eine sehr unvollständige Anschauung besitzt", wollte sich die Prüfungskommission mit „einer nur allgemeinern Kenntniß der deutschen Sprache und Litteratur, so weit sie von einem jeden deutschen Gelehrten verlangt werden muß", zufrieden geben.26 Als Lachmann diesen - vom Kultusministerium abgelehnten - Antrag unterzeichnete, war bereits seine Wahl in die Preußische Akademie der Wissenschaften erfolgt. 1828 hatten Friedrich Schleiermacher den mit ihm befreundeten Lachmann und - in Konkurrenz dazu - der Historiker und Staatswissenschaftler Friedrich von Raumer seinen langjährigen Freund von der Hagen fur das an der Akademie noch nicht durch ein ordentliches Mitglied vertretene Fach der altdeutschen und nordischen Literatur vorgeschlagen. Der von dem klassischen Philologen Immanuel Bekker formulierte schriftliche Wahlvorschlag fiir Lachmann dokumentiert nicht nur dessen persönliche wissenschaftliche Reputation, sondern demonstriert die tragende Rolle der Klassischen Philologie als Vorbild und Maßstab fiir die Anerkennung der Deutschen Philologie als einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin. Nur derjenige könne diese „Lücke" an der Akademie „würdig ausfüllen, der neben der neuen Sprache auch die alten gründlich versteht, und gewöhnt ist an die strengen und festen Gesetze, die sich fur die Darstellung und Erklärung der Klassischen Autoren als einzig heilsam bewährt haben. Nur ein solcher wird freibleiben von der unwissenschaftlichen Willkühr, die bisher nur all zu gewöhnlich ihr Spiel getrieben mit den merkwürdigsten Denkmalen der Germanischen und Skandinavischen Vorzeit. Herr Professor Lachmann hat sich in seinen Ausgaben des Properz und der übrigen Lateinischen Elegiker, so wie in seinen Arbeiten über die Griechischen Tragiker und über die Metrik als geistreichen und kritisch gelehrten Kenner des Alterthums gezeigt. Derselbe hat in seinen Untersuchungen über die Entstehung der Niebelungen und in seinen Ausgaben dieses Gedichtes, des Iweins, des Walter von der Vogelweide, alles geleistet, was man nur von einem Bearbeiter Griechischer und Römischer Geisteswerke zu fordern gewohnt ist."27

Ob Lachmann allerdings die bei seinen Editionen antiker Texte praktizierten editorischen Prinzipien in gleicher Weise auf die mittelhochdeutschen Dichtungen anwandte, bedürfte noch einer eingehenderen Untersuchung.28 Auch wenn Lachmanns Ziel darin bestand, zu einem möglichst objektiven und originalgetreuen Text zu ge26 GStAPKI. HA Rep. 76 VI Sekt. 1 Gen. ζ Nr. 1 Bd. V Bl. 49-51 ; Uwe Meves, „Zum Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie: Die Periode der Lehrstuhlerrichtung", in: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, hrsg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp, Stuttgart, Weimar 1994, S. 155. 27 „Wahlvorschlag vom 4. Juli 1828", in: Die Altertumswissenschaften an der Berliner Akademie. Wahlvorschläge zur Aufnahme von Mitgliedern von F. A. Wolfbis zu G. Rodenwaldt 1799-1932, hrsg. von Christa Kirsten, Berlin 1985, Nr. 6, S. 72. 28 Auf einige Unterschiede machte bereits Timpanaro, La genesi del metodo del Lachmann (Anm. 3), S. 3234, aufmerksam.

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langen, so berücksichtigte er doch in seiner germanistischen Editionspraxis die Besonderheiten des Einzelfalls. Neuere Untersuchungen seiner germanistischen Editionen stimmen darin überein, daß es ihm „weniger um die vollkommene Ausbildung einer Theorie der Textkritik als um die Realisierung seiner textkritischen Grundsätze entsprechend der Eigenart der von Werk zu Werk verschiedenartigen Überlieferungsverhältnisse" ging.29 4 Schon bald nach Lachmanns Wechsel von Königsberg nach Berlin erschienen in kurzem Abstand seine großen mittelhochdeutschen Editionen, die bis in die Gegenwart hinein als Standard-Werke fungier(t)en. In der Ausgabe von Der Nibelunge Noth und der Klage (1826) beschränkte er sich auf die Wiedergabe der ältesten „Recension" der Dichtung, der er die Hohenems-Münchener Handschrift A zugrundelegte. Bis zu Karl Bartschs auf der Handschrift Β beruhender Ausgabe (1870) blieb Lachmanns Edition, zu der er 1836 die Lesarten sämtlicher von ihm herangezogener Handschriften lieferte (Zu den Nibelungen und zur Klage. Anmerkungenvon K. L.), ohne wirkliche Konkurrenz. Geradezu Modellcharakter fur seine Editionskunst gewann der zusammen mit Benecke (von dem der Großteil der Anmerkungen stammte) herausgegebene Iwein Hartmanns von Aue (1827), insbesondere die zweite Auflage von 1843. In den angefügten Lesarten gab Lachmann entgegen seiner sonstigen Praxis Erklärungen für seine textkritischen Entscheidungen. Sein erklärtes Ziel bestand darin, die „worte des dichters [...] so genau und ursprünglich zu geben", als es ihm „möglich schien" (1843, S. V). Dabei spielte offensichtlich seine kritische Methode eine geringere Rolle als sein durch intensive Sprachstudien erworbenes Sprach- und Stilgefühl. Ebenfalls 1827 erschien Lachmanns Walther-Edition, in der erstmals die gesamte handschriftliche Uberlieferung berücksichtigt war. Die Anordnung der Töne erfolgte nach dem Grad ihrer handschriftlichen Bezeugung in vier Büchern, nicht nach Gesichtspunkten der Form, der Gattung oder der Datierung. Mit dieser Edition, „die bis heute - trotz neuerer grundsätzlicher Kritik - unersetzt geblieben ist", begann die Geschichte der modernen Walther-Philologie.30 In den folgenden Jahren widmete sich Lachmann wieder verstärkt der Herausgabe römischer Autoren. 1829 veröffentlichte er Ausgaben des Catull, Tibull und Properz. 1831 erschien die editio minor des Neuen Testaments, der 1842 bis 1852 die zweibändige editio maior folgte. Im erklärten Gegensatz zu der damals gültigen, im wesentlichen auf der Ausgabe des Erasmus von Rotterdam (1516) basierenden Textgestalt des Neuen Testaments bestand Lachmanns Ziel darin, die älteste erreichbare Lesart herzustellen, d.h. den Text, wie er am Ende des 4. Jahrhunderts vorhanden war. Emendationen unterließ er bei diesem Text bewußt. Mit der

29 Hennig, „Karl Lachmann" (Anm. 4), S. 81. 30 Gerhard Hahn, „Einleitung", in: Walther von der Vogelweide. Epoche — Werk — Wirkung von Horst Brunner u.a., München 1996 (Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte), S. 38. Lachmanns Bucheinteilung blieb im wesentlichen auch erhalten in: Waither von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprüche, 14., völlig neubearb. Aufl. der Ausg. Karl Lachmanns hrsg. von Christoph Cormeau, Berlin, New York 1996, worin der Text nach einem modifizierten Leithandschriftenprinzip herausgegeben ist.

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Ausgabe der Werke Wolframs von Eschenbach, seiner nächsten großen mittelhochdeutschen Edition (1833), wollte Lachmann es möglich machen, „Eschenbachs gedichte so zu lesen wie sie ein guter Vorleser in der gebildetsten gesellschaft des dreizehnten Jahrhunderts aus der besten handschrift vorgetragen hätte."31 Lachmann erhob demnach nicht den Anspruch, das Original von Wolframs Dichtungen wiederhergestellt zu haben. Bis heute ist seine Parzival-Edition nicht ersetzt.32 In den beiden folgenden Jahrzehnten überwogen Lachmanns Editionen — sehr verschiedenartiger — antiker Texte. So gab er u.a. den byzantinischen Geschichtsschreiber Genesios (1834) und den lateinischen Grammatiker Terentianus Maurus (1836), die griechische Fabelsammlung des Babrius (mit A. Meineke) (1845) und die lateinische des Avianus (1845) heraus und beteiligte sich an der Edition der Instituttonen des Gaius (1842) und der Schriften der römischen Feldmesser (1848). Mit seiner Lukrez-Ausgabe (1850), insbesondere dem Kommentar, erreichte Lachmann den Höhepunkt seiner textkritischen Forschung auf dem Gebiet der Klassischen Philologie. Daneben veröffentlichte er 1838 den Gregorius Hartmanns von Aue und Ulrich von Lichtenstein (mit Anmerkungen von Th. von Karajan) (1841). Die Gregorius-Aas^oe. war ohne Einleitung, ohne Lesarten und ohne Anmerkungen erschienen, da „die andern Leser", d.h. in diesem Zusammenhang die Nicht-Fachleute, „an dem Gregorius nur Vergnügen haben [sollten], ohne mit Quisquillen belästigt zu werden."33 Gemeinsam mit seinem Freund und späteren Nachfolger Moriz Haupt arbeitete Lachmann an Des Minnesangs Frühling, einer Edition der deutschen Lyrik des 12. Jahrhunderts, die Haupt erst einige Jahre nach Lachmanns Tod zum Abschluß brachte (1857). Lachmanns Bedeutung ftir die Deutsche Philologie beruht jedoch nicht allein auf seinen altgermanistischen Editionen. Indem er seine kritische Editionstechnik auch bei der Ausgabe der Werke Lessings (13 Bde., 1838-1840) anwandte, setzte er für die neugermanistische Edition den Maßstab, „an dem sich die großen Editionen des 19. Jhs. orientiert haben".34 Daß die Lachmannsche Methode nur unter ganz bestimmten überlieferungsgeschichtlichen Voraussetzungen funktionierte, die bei den kulturellen Gegebenheiten der deutschen Literatur des Mittelalters selten erfüllt waren, wies Stackmann in

31 Wolfram von Eschenbach, 6. Ausgabe von Karl Lachmann hrsg. von Eduard Hard, Berlin, Leipzig 1926, S. VI. 32 Da sie „gegenwärtig immer noch den besten erreichbaren Text bieten" dürfte, bildete sie auch die Textgrundlage der von Nellmann 1994 herausgegebenen kommentierten Parzival-Ausgibe (Wolfram von Eschenbach, Parzival, nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn, Bd. 2, Frankfurt am Main 1994, S. 427; zugrunde liegt der Text der 6. Ausgabe Lachmanns [Anm. 44] ). Der in Nellmanns Ausgabe nicht enthaltene kritische Apparat Lachmanns ist mit abgedruckt in: Wolfram von Eschenbach, Parzival, Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der 6. Ausgabe von Karl Lachmann, Übersetzung von Peter Knecht, Einführung zum Text von Bernd Schirok, Berlin, New York 1998, zur Geschichte von Lachmanns Ausgabe, S. LVIII-LXX. 33 Lachmann an Haupt, 3.3.1838, in·. Karl Lachmanns Briefe an Moriz Haupt, hrsg. von Johannes Vahlen, Berlin 1892, S. 38. Das Verzeichnis der Lesarten zum Gregorius veröffentlichte Lachmann einige Jahre später in der Zeitschrift für deutsches Altertum 5, 1845, S. 32-69. 34 Klaus Grubmüller und Klaus Weimar, „Edition", in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hrsg. von Klaus Weimar, Bd. 1, Berlin, New York 1997, S. 415f.

Karl Lachmann

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einem die altgermanistische Editionspraxis seit 1964 maßgeblich beeinflussenden Beitrag nach. 35 Neuere Forschungen zur höfischen Lyrik, der Heldenepik und den kleineren Erzählungen haben erkennen lassen, in welch starkem Maße die Überlieferungsformen mittelalterlicher Literatur gattungsbedingt sind. 36 Der nunmehr erreichte Kenntnisstand über die Entstehungsbedingungen und Tradierungsformen der volkssprachigen mittelalterlichen Literatur, über ihre Existenz in einer „Zwischenlage zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit"37 hat dazu geführt, daß eine weitere Grundannahme Lachmanns, die Vorstellung eines „authentischen Textes, der, einmal fixiert, nicht mehr verändert werden soll", zunehmend in Frage gestellt wurde. 5 Neben seinen weit gespannten Editionsarbeiten beteiligte sich Lachmann engagiert an Universitätsangelegenheiten.38 So stand er u.a. 1843/44 seiner Universität als Rektor vor und wirkte, „ein Konservativer mit liberalem Einschlag", als gewählter Vertreter zusammen mit August Boeckh bei der vom Unterrichtsministerium 1849 einberufenen Konferenz zur Beratung von Reformen der preußischen Universität mit. Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Gesellschaften und Akademien, verkehrte er regelmäßig auch in ausschließlich der Konversation und dem geselligen Umgang dienenden Gesellschaften. Sein fachübergreifendes wissenschaftliches Ansehen schlug sich in der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Theologischen und der Juristischen Fakultät der Universität Göttingen (1837) nieder. In persönlicher wie in wissenschaftlicher Hinsicht schätzte Lachmann in besonderer Weise Friedrich Schleiermacher, den er gleichsam als väterlichen Freund verehrte. Von seinen Fachkollegen stand Lachmann zuletzt Moriz Haupt am nächsten, der als entschiedener Anhänger Lachmanns und Verfechter seines wissenschaftlichen Erbes auftrat. Ihn, dessen „wissenschaftlicher Charakter und Geist" dem Lachmanns „innigst verwandt" war, wünschte sich die Berliner Philosophische Fakultät als dessen Nachfolger. 39 Selbst Lachmann wohlgesinnte und mit ihm befreundete Zeitgenossen ließen die schneidende Schärfe seines Urteils, seine schroffe und rücksichtslose Art im Umgang mit wissenschaftlichen Gegnern nicht unerwähnt. So konzedierte sogar Philipp Buttmann in seiner Grabes-

35 Stackmann, Mittelalterliche Texte als Aufgabe (Anm. 2), S. 6ff. Am entschiedensten hat Werner Schröder an Lachmanns Zielstellung festgehalten; siehe zuletzt ders., „Die Neue Philologie und das Moderne Mittelalter", in: Germanistik in Jena: Reden ausAnlaßdes 70. Geburtstag von Heinz Mettke, 10. Januar 1995, hrsg. von Georg Machnik u.a., Jena 1996 (Jenaer Universitätsreden 1), S. 33-50. 36 Joachim Bumke, Die vier Fassungen der,Nibelungenklage'. Untersuchungen zur Überlieferunggeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin, New York 1996, S. 4. Für die höfische Epik ist Bumkes Werk selbst grundlegend. „Die Realität der Überlieferung sieht so aus, daß man es immer schon mit verschiedenen Fassungen zu tun hat, so weit man die Überlieferungsgeschichte zurückverfolgen kann [...] Was textgeschichdich vor diesen Fassungen liegt, läßt sich nicht berechnen. Damit verschiebt sich der Werk-Begriff vom Original auf die Fassungen" (Ebd., S. 48). 37 Waither von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprüche (Anm. 30), S. XIV. 38 Siehe dazu Weigel,,jV«r was du nie gesehn wird ewig dauern '(Anm. 4), S. 128ff.; das folgende Zitat ebd., S. 133; zu Schleiermachers Bedeutung für Lachmann ebd., S. 193ff. 39 Berufungsvorschlag vom 16. April 1851; Berlin GStAPK I. HA Rep. 76 Va Kultusministerium, Sekt. 2 Tit. IV Nr. 47 Bd. 2, Bl. 294-297" (M).

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Uwe Meves

rede auf Lachmann, daß dessen „Strenge etwas verletzendes hatte und öfters das Maass überschritt". 40 Entsprach jedoch das wissenschaftliche Werk eines Gelehrten Lachmanns berufsethischen Anforderungen, so zögerte er nicht, ihn zu unterstützen, wie etwa sein entschiedenes und sensibles Eintreten fur den jungen Hallenser Privatdozenten Emil Friedrich Julius Sommer zu illustrieren vermag.41 Lachmanns entschiedene Wendung gegen spekulative und unüberprüfbare subjektive editorische Entscheidungen, sein unnachgiebiges Insistieren aufwissenschaftliche Qualität, die Härte im Durchsetzen seiner wissenschaftlichen Ansprüche sind zu sehen vor dem Hintergrund des noch unsicheren Status der jungen Wissenschaft Deutsche Philologie und ihrer Ausrichtung an der etablierten und anerkannten Leitdisziplin Klassische Philologie. In Lachmann fanden - wie bereits Jacob Grimm in seinem Nachruf herausstellte - „zwei sonst einander ausschlieszende oder gar abstoszende Wissenschaften (falls man überhaupt deutsche philologie fur eine Wissenschaft gelten liesz) [...] einen unerwartet vordringenden, fruchtbaren Vertreter, der sie als etwas gemeinsames und sogar nahverwandtes zu handhaben und auszusöhnen verstand". 42 An Lachmanns Person wie an seinem Werk hat sich bis in die jüngste Zeit Kritik entzündet. 43 Bereits von Zeitgenossen erhobene Einwände wie seine Ausgrenzung der nicht-wissenschaftlichen Welt, sein wissenschaftlicher Hermetismus, seine Einseitigkeit und Verengung der Philologie finden sich in ähnlicher Weise in neuen wissenschaftsgeschichtlichen Darstellungen. Zu einer historisch angemessenen Würdigung Lachmanns gehört jedoch auch eine „Gegenrechnung", wie sie Stackmann aufgemacht hat. 44 Überzeugt davon, daß nur mit Hilfe kritisch rekonstruierter Originaltexte die mittelalterliche deutsche Literatur fundiert studiert werden könne, stand Lachmann vor der großen Aufgabe, eine Methode zu entwickeln und sich das fur ihre Anwendung erforderliche textkritische Instrumentarium zu beschaffen, um solche Texte erstellen zu können. „Das war eine Aufgabe, die ein äußerstes Maß an Konzentration und Selbstdisziplin erforderte. Sie mußte Lachmann notwendig einseitig machen, sonst wäre sie nicht zu lösen gewesen."

40 Zit. nach dem Abdruck bei Hertz, Karl Lachmann. Eine Biographie (Anm. 4), Beilage F, S. XLII. 41 Siehe Uwe Meves, „Emil Friedrich Julius Sommer (1819-1846) - , der erste künftige hallische Germanist'", in: Von Wyssheitwürt der mensch geert... Festschriftfiir Manfred Lemmer zum 65. Geburtstag, hrsg. von Ingrid Kühn und Gotthard Lerchner, Frankfurt am Main 1993, S. 349-390, bes. S. 359 und S. 374. 42 Rede auf Lachmann, Berlin 1851; zit. nach Jacob Grimm, Kleinere Schriften, Bd. 1, hrsg. von Karl MüllenhofF, Berlin 1864, S. 146. 43 Siehe z.B. die fur die New Philohgy maßgebliche Programmschrift Bernard Cerquiglinis, Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie, Paris 1989, S. 75. 44 Rezension zu Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert (Anm. 26), in: Arbitrium 14, 1996, S. 154; das folgende Zitat ebd.

WERNER RÖCKE

Karl Rosenkranz (1805-1879) Es gibt wohl keinen anderen Literaturwissenschaftler aus der Frühzeit der Germanistik, der von seinen Fachkollegen so entschieden verurteilt, ja herabgewürdigt, aus der Gemeinschaft der wissenschaftlich Interessierten und der „treuen Forschung" 1 ausgegrenzt und schließlich - zumindest in der Germanistik - vergessen worden ist wie Karl Rosenkranz. Während der Theologe, Philosoph und Kunsttheoretiker Rosenkranz schon zu Lebzeiten, aber auch später unbestrittene Anerkennung genoß, an den Halleschen Jahrbüchern mitarbeitete, 1833 immerhin auf den Lehrstuhl Kants in Königsberg berufen wurde, 1844 im Auftrag der Familie Hegel sein Leben Hegels schrieb und mit seiner Ästhetik des Häßlichen fur einen gewichtigen Teil der Nicht-mehrschönen-Künste ein bis heute keineswegs überholtes und dementsprechend gerühmtes Grundlagenwerk vorlegte, wurden seine zahlreichen Beiträge zur älteren deutschen Literatur von Anfang an mit Verachtung oder - schlimmer noch - Mißachtung und Vergessen bestraft. Johann Karl Friedrich Rosenkranz wurde am 23. April 1805 in Magdeburg geboren. Ab 1824 studierte er in Berlin bei Friedrich Heinrich von der Hagen und Karl Lachmann Philologie, wechselte dann zur Theologie und ab 1826 in Halle zur Philosophie; zeitlebens beschäftigte er sich mit allen drei Fächern und publizierte in allen drei auch umfangreich. 1828 wurde er mit einer Schrift über die Periodisierung der Literatur promoviert; ebenfalls schon 1828 habilitierte er sich mit einer Schrift über Spinoza und begann mit Vorlesungen über die Poesie des Mittelalters, über Religionsphilosophie und Ethik. Im Zusammenhang damit erschien 1829 die Studie Ober den Titurel und Dantes Komödie, 1830 die Geschichte der deutschen Poesie im Mittelalter. Beide Schriften sind deutlich von einem intensiven Hegelstudium geprägt, das Rosenkranz in Halle begonnen hatte und das ihn zu einem der ersten Hegelkenner werden ließ. 1833 wurde Rosenkranz nach Königsberg berufen und erhielt im Verlauf seiner philosophischen Lehrtätigkeit von der Familie Hegel den Auftrag, ein Leben Hegels zu schreiben (Berlin 1844). Eine Fülle weiterer philosophischer und theologischer Schriften folgte. Parallel dazu legte er aber auch kontinuierlich Studien zur älteren und neueren deutschen Literatur, zur europäischen, ja zur Weltliteratur vor (Die Poesie und ihre Geschichte. Eine Entwicklung der poetischen Ideale der Völker, Königsberg 1855: eine Umarbeitung des bereits 1832/33 in Halle erschienenen Handbuchs einer allgemeinen Geschichte der Poesie in 3 Teilen; die Studien (1839-48) und Neuen Studien (1875-78) faßten seine verstreuten Reden, Rezensionen und Abhandlungen zu Philosophie, Theologie, Geschichte, Kunst und Literatur zusammen).

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Karl Lachmann, „Rezension zu Karl Rosenkranz: Über den Titurel und Dantes Komödie (1829)", in: ders., Kleinere Schrifien zur deutschen Philologie, hrsg. von Karl Müllenhoff, Berlin 1876, S. 357.

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Werner Röcke

Rosenkranz entfaltete eine - selbst für das 19. Jahrhundert - unglaubliche schriftstellerische Produktivität: sein Schriftenverzeichnis weist 65 Monographien und 250 Beiträge in Zeitschriften und Sammelwerken aus. Gleichwohl folgte er 1848 einem Ruf in das Kabinett des preußischen Liberalen Rudolf von Auerswald in Berlin, zog sich aber 1849 enttäuscht aus der Politik und auf seinen Königsberger Lehrstuhl zurück. Am 14. Juni 1879 starb Rosenkranz in Königsberg. Die Kritik an Rosenkranz' Mittelalterstudien betraf vor allem seine Geschichte der Deutschen Poesie im Mittelalter (Halle 1830), aber auch schon die Vorstudien zu seiner Literaturgeschichte, wie z.B. das umfangreiche Heldenbuch und die Nibelungen (Halle 1829), die Studie Über Wolfram's von Eschenbach Parcival (1827) oder den Versuch Über den Titurel und Dantes Komödie (1829), der am ehesten noch durch Lachmanns Verriß in Erinnerung geblieben ist.2 Vielleicht markiert es die Ausgrenzung von Rosenkranz' Arbeiten zur Literatur des Mittelalters und insbesondere seiner Geschichte der deutschen Poesie im Mittelalter aus dem Verbund der frühen Germanistik am schärfsten, daß seine Literaturgeschichte nicht der wissenschaftlichen Kritik, wohl aber des Plagiats fur wert erachtet wurde: Bereits 1839/40 übernahm Heinrich Laube ganze Teile von Rosenkranz' Literaturgeschichte wörtlich in seine Geschichte der deutschen Literatur, ohne offenbar furchten zu müssen, daß dieses Plagiat entdeckt werden könnte. Um Rosenkranz' mediävistisches Werk wurde eine Mauer des Verschweigens und des Tabus errichtet, die allerdings jenseits der veröffentlichten Meinung und Kritik einen, wenn auch überaus homogenen Austausch über Rosenkranz' wissenschaftliche Leistungen keineswegs ausschloß: So z.B. beantwortete Wilhelm Grimm in einem Brief an Emil Braun, den Göttinger und Münchener Privatgelehrten (18091890), seine Frage, „welcher gesunde Mensch" denn bloß die „philosophischen Brokken" aus Rosenkranz' Geschichte der deutschen Poesie im Mittelalter „hinunterwürgen" könne, dahingehend, daß er - Wilhelm Grimm - sie „unmöglich habe lesen können", da „dergleichen unreife, mit Prätension vorgesetzte Früchte jedermann schaden".3 Emil Braun ging in seinem Antwortbrief an Wilhelm Grimm noch einen Schritt weiter und bediente sich über Rosenkranz einer Sprache der Verachtung, die im Gestus der Unaussprechlichkeit des Gegners sogar dessen Ausgrenzung aus dem Kreis der Wissenschaftler und der Wissenschaft betrieb: „Rosenkranz ist ein , etwas Lächerlicheres und zu gleicher Zeit Erbärmlicheres möchte es kaum geben und doch diese Anmaßung. Das soll eine Geschichte der Poesie sein".4 Karl Lachmann wiederum hatte sich in seiner Rezension von Rosenkranz' Studie über mögliche Strukturanalogien zwischen Albrechts Jüngerem Titurel— den Rosenkranz fälschlich Wolfram von Eschenbach zusprach und damit den neuesten Forschungsstand auch schon seiner Zeit schlicht ignorierte - und Dantes Divina Comedia (s.o.) durchaus noch um eine wissenschaftliche Kritik an Rosenkranz' Hauptthese einer „Ähnlichkeit" zwischen beiden Texten bemüht. In brieflichen Äußerungen Lachmanns jedoch wird das ganze Ausmaß an Ablehnung, ja Abscheu sichtbar, das ihn bei der Lektüre von Rosenkranz' 2 3 4

Ebd., S. 351-357. Emil Brauns Britfwechsel mit den Brüdern Grimm und Joseph von Laßberg, hrsg. von R. Ehwald, Gotha 1891, S. 16 (Brief vom 25.8.1830). Ebd., S. 23f. (Brief vom 21.7.1831).

Karl Rosenkranz

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Mittelalter-Studien ergriffen haben muß: Galten ihm Rosenkranz' - in der Tat stark hegelianisierenden - Ausführungen in seiner Literaturgeschichte über die Lyrik des Mittelalters ohne weitere Erörterung als „dummes Zeug",5 so hatte er sich bereits in zwei früheren Briefen an Jacob Grimm kompromißlos von Rosenkranz distanziert: „das ist ein Graun zu lesen [...] Mir ist ordentlich lächerlich, wie dünn und armselig diese Hegelianer werden, wenn sie über Sachen sprechen, die sie nicht in den Schraubstock ihrer Formeln nehmen können, und die sie wie unglückselige Einzelheiten ohne Zusammenhang nehmen." 6

Was aber ist der Grund für diese Wut und was trieb die renommiertesten Fachvertreter der frühen Germanistik zu dem offensichtlichen Ziel, Rosenkranz' wissenschaftlichen Ansatz der Lächerlichkeit preiszugeben, der einer eingehenden Diskussion nicht bedurfte: ein Verfahren der Ignoranz und Exklusion, das bis in die jüngste Wissenschaftsgeschichte der Germanistik ja auch bestens funktioniert hat? Und wie läßt sich im Gegensatz dazu plausibel begründen, daß Klaus Weimar in seiner Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ausgerechnet Rosenkranz' viel gescholtene Geschichte der Deutschen Poesie im Mittelalter als ein „wissenschaftsgeschichtliches Ereignis allerersten Ranges" bezeichnet, das „so einschneidend gewirkt [hat], daß die Literaturgeschichten nach ihr anders aussehen als die vor ihr und daß von den früheren eigentlich nur zwei oder drei die Grenzscheide von 1830 [das Erscheinungsjahr von Rosenkranz' Literaturgeschichte, W. R.] mit Neuauflagen haben überschreiten können": August Kobersteins Grundrißzur Geschichte der deutschen National-Literatur ( 1827) und der heute völlig vergessene Leitfaden zur Geschichte der deutschen Literatur von Friedrich August Pischon (1830).7 Radikale Gegensätze in der Einschätzung historischer, gerade auch wissenschaftshistorischer Ereignisse und Personen sind insofern besonders interessant, als sie - im nachhinein - Perspektiven und Deutungsmöglichkeiten wissenschaftlicher Verfahrensweisen deutlich machen, die ursprünglich nicht gesehen worden sind, vielleicht auch nicht gesehen werden konnten. Lachmanns Kritik an Rosenkranz konzentrierte sich auf zwei Vorwürfe: zum einen habe dieser - im Aufsatz Uber den Titurel und Dantes Komödie - zwischen beiden so ganz verschiedenen Texten eine ,Ähnlichkeit" behauptet, die man ihnen doch auch bei genauester Textkenntnis und vor allem bei richtiger Kenntnis der Autorfrage niemals zurechnen könne. Zum anderen erbitterten ihn die „starrsten Hegeischen Formeln", die fur „den Begriff des Titurels und der Göttlichen Komödie aufgestellt" werden.8 Beide Vorwürfe nun standen insofern in einem engen Zusammenhang, als beide vom einzelnen Text als einzig legitimen Gegenstand wissenschaftlicher Erfor-

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BriefKarl Lachmanns an Jacob Grimm vom 18.4.1832. In: Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit Karl Lachmann, im Auftrag der Preussischen Akademie der Wissenschaften hrsg. von Albert Leitzmann. Mit einer Einleitung von Konrad Burdach, Jena 1927. BriefKarl Lachmanns an Jacob Grimm vom 4.1.1829 und vom 24.10.1829 (ebd.). Klaus Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München 1989, S. 306f. Brief Karl Lachmanns an Jacob Grimm vom 4.1.1829. Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit Karl Lachmann (Anm. 5).

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schung ausgingen. Diese aber sollte sich darauf beschränken, Tatsachen zu erarbeiten und zu benennen: insbesondere Beobachtungen zur sprachlichen Formung des Textes, also seines Lautstands, seiner Sprachstufe und lexikalischen Besonderheit; seiner metrischen Gestalt, seiner Stilform und Motivübernahme, aber auch zur handschriftlichen Uberlieferung oder zur Biographie der Autoren. Fragen nach dem Sinn der Texte hingegen, nach ihrem Stellenwert fur kunsttheoretische Fragen, nach ihrer historischen oder gesellschaftlichen Funktion u.ä. galten als wissenschaftsfremd, ja sogar als wissenschaftlich illegitim. Dabei wurde in der Beschränkung auf Tatsachen und Einzeltexte eine Orientierung an den exakten Naturwissenschaften und der Historik sichtbar, die nicht zuletzt deshalb gesucht wurde, um auf diese Weise die Wissenschaftlichkeit der neuen Disziplin Deutsche Philologie und somit wohl auch ihre „Daseinsberechtigung inmitten der älteren Disziplinen unter Beweis zu stellen."9 Was lag da näher, als sich auf das zu konzentrieren, was sich am ehesten als faktisch beschreibbar, meßbar und - wie es in der Suche nach der ersehnten Urform der Texte immer deutlicher wurde—veränderbar darstellte: ihre Sprache, ihre Metrik, ihre Überlieferung? Natürlich blieb auch diese „Professionalisierung" und zunehmende „Philologisierung"10 der Wissenschaft von der altdeutschen Literatur mit ästhetischen und häufig genug auch moralischen Prämissen verbunden, die aber als solche nicht benannt oder gar reflektiert, sondern selbstverständlich vorausgesetzt wurden. Damit aber war jeder Versuch, die einzelnen Texte und Textbefunde nicht nur zu sammeln und zu beschreiben, sondern auch „zu begreifen - wohlverstanden — nicht etwa in dem, was der Künstler mit [ihnen] hat sagen wollen, sondern in [ihrem] Kunstwerksein",1 1 von vornherein ausgeschlossen. War eine kunsttheoretische Reflexion über die Literatur in der „Prähistorie" der Deutschen Philologie, z.B. in den kunsttheoretischen Schriften Goethes und Schillers, Jean Pauls und Hölderlins, Friedrich Schlegels und Novalis' noch nahezu selbstverständlich, wurde sie bereits in den Anfängen der Deutschen Philologie aus dem philologischen Erkenntnisinteresse als wissenschaftsfremd ausgeschlossen. Dieses „gestörte Verhältnis der [frühen] Literaturwissenschaft zur Philosophie"12 war wohl der eigentliche Grund fur den Widerstand der ersten Germanisten gegen Rosenkranz' Mittelalterstudien, die Literaturwissenschaft und Philosophie eng miteinander verzahnten und sich damit von Anfang an und ganz entschieden dem vorherrschenden Wissenschaftsdiskurs der frühen Germanistik entzogen. Insofern lag Lachmanns Polemik gegen Rosenkranz' Behauptung von strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Albrechts Titurel und Dantes Göttlicher Komödie offensichtlich ein unterschiedlicher Begriff von „Ähnlichkeit" zugrunde. Natürlich trennen beide Texte, sofern man sich auf Lautstand, Metrik, Erzählform und Überlieferung beschränkt, Welten. Sofern man aber nach Handlungs- und Deutungsmustern fragt, nach Kommunikationsformen und Weltbildern, nach - wie wir heute sagen würden - Mentalitäten und Verstehensformen, werden Zusammenhänge zwischen ihnen sichtbar, die

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Peter Szondi, „Hegels Lehre von der Dichtung", in: Poetik und Geschichtsphibsophie /, hrsg. von Senta Metz und Hans-Hagen Hildebrandt. Frankfurt am Main 1976, S. 269. 10 Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft (Anm. 7), S. 224f. 11 Szondi, „Hegels Lehre von der Dichtung" (Anm. 9), S. 271. 12 Ebd., S. 272.

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dem ausschließlich philologischen Blick verborgen bleiben. Zwar liegt es auf der Hand, daß es Rosenkranz seinen Gegnern auch nicht leicht oder — umgekehrt — gerade zu leicht gemacht hat. In der Tat verliert seine Literaturgeschichte in ihrer Anlehnung an Hegels Ästhetik, in der Übernahme von dessen Systematik, Denkformen und Sprache jede Leichtigkeit und - so könnte man zunächst erst einmal annehmen - jede Selbständigkeit im Umgang mit den Texten und literaturgeschichtlichen Epochen. Gleichwohl ist letzteres nicht der Fall. Erstmals in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung gelangen Rosenkranz plausible Beschreibungen der mittelalterlichen Literatur, d.h. der Kommunikations- und Redeformen der Figuren, der Regeln ihres Verhaltens, der Ordnungsmuster von Herrschaft und Gewalt, Recht und Frieden, die bislang nicht gesehen worden waren und insofern Klaus Weimars Urteil, es handele sich bei Rosenkranz' Geschichte der Deutschen Poesie im Mittelalter um einen wissenschaftsgeschichtlichen Paradigmenwechsel (s.o.), bestätigen. Diese neue Perspektive aber gewann Rosenkranz aufgrund seines an Hegel geschulten Theoriehorizonts, der allerdings in der Germanistik allzu rasch und allzu gründlich ausgegrenzt und tabuisiert worden ist. Was aber sind Rosenkranz' Prämissen bei der Gliederung und Interpretation des literarischen Materials, die er vor allem aus Hegels Ästhetik gewonnen hat, und die er

seiner Geschichte der Deutschen Poesie im Mittelalter zugrundelegte? 1.) Anders als die um 1830 tonangebenden Vertreter des Fachs konzentrierte Rosenkranz sein Interesse an der Literatur des Mittelalters nicht auf ihre sprachliche, sondern auf ihre inhaltliche Besonderheit. So ist es wohl zu erklären, daß seine Literaturgeschichte ebenso wie deren Vorstudien (s.o.) immer wieder aus Inhaltsangaben oder Nacherzählungen, insbesondere der Epen und Romane des Mittelalters, bestehen, doch sind auch die - allerdings sehr viel kürzeren - Kapitel zu Lyrik und Didaktik vor allem inhaltsbezogen. Dabei verfuhr Rosenkranz aber durchaus problemorientiert, akzentuierte also im Verlauf der Nacherzählung die Beobachtungen, die ihm für das historische und begriffliche Verstehen der einzelnen Texte wichtig erschienen, entdeckte gesellschaftliche Strukturen, stellte Querverbindungen her und bezog seine Textbeobachtungen auf die theoretischen Einleitungen zu jedem Kapitel. Ich halte diese Form räsonierender Nacherzählung, die kategorial und hinsichtlich ihrer Akzente immer überprüfbar und klar definiert ist, für keineswegs überholt, sondern trotz ihres hegelianischen Jargons für eine produktive Form historischer Textinterpretation, die in vielen Teilen trotz der langen Zeit ihres Verschweigens und der Ausgrenzung von der ursprünglichen Faszination der Texte und ihrer Fremdheit nichts verloren hat. Zwar sind Rosenkranz' Urteile inzwischen in zahlreichen Fällen schlichtweg überholt oder sogar verfehlt, 13 ist seine Terminologie verwirrend („das reine Epos", 14 die „unmittelbare Sittlichkeit" 15 im „Geist" des deutschen Volkes u.ä.) und auch die Systema13 So z.B. behauptet Rosenkranz' Kapitel über das Volksbuch, daß „bei uns Deutschen [...] nur ein einziger Roman, der Wigalois, aus dem Deutschen Gedicht in Prosa übergetragen [!]" sei oder nennt als Autor von Wickrams Goldfaden Veit Warbeck, den Verfasser der Schönen Magelone. Rosenkranz' Literaturgeschichte ist nach dem Erstdruck von 1830 nicht noch einmal aufgelegt worden. Ich zitiere nach Karl Rosenkranz, Geschichte der Deutschen Poesie im Mittelalter, Halle 1830, S. 390 und S. 400. 14 Ebd., S. 98.

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tik der Texte nicht in allen Fällen nachvollziehbar. Auf der anderen Seite eröffnete gerade die enge Verbindung von philosophischer Reflexion und genauer Lektüre der Texte immer wieder überraschende Deutungsperspektiven, die auch heute noch überzeugen. 2.) Rosenkranz ging es, so schrieb er im Vorwort zur Literaturgeschichte, um eine Form „innerer Geschichtsschreibung",16 bei der mehr das „Ganze", d.h. „die Anordnung, Eintheilung, Bewegung" der literarischen Texte, als der einzelne literarische Text („das Einzelne") im Mittelpunkt stehe. Vielleicht ist die Alternative von Einzelnem und Ganzem etwas mißverständlich, da zu undialektisch formuliert. Jedenfalls führte sie zu dem Fehlurteil der Fachkollegen, daß es Rosenkranz nur um die — zudem noch ausschließlich - philosophischen Zusammenhänge, nicht aber um den Einzeltext gehe. Im Aufbau der Literaturgeschichte selbst allerdings ist das Gegenteil der Fall. Denn gerade die Einzelanalysen z.B. des Nibelungenlieds, der Artusepen, des Parzival, des Reinke de vos usf. machen den Vorzug dieser Literaturgeschichte aus, da sie in jedem Detail der Textbeobachtung das Allgemeine, also die prinzipiellen Gesichtspunkte der Epoche, der jeweiligen Gattung, der Rechts- und Gewaltformen, der Gesellschaftsstruktur und Weltbilder, in die Einzelanalyse hereinholen. Insofern ist hier gerade verbunden, was in der Alternative von Einzelnem und Ganzem getrennt wird. Wie aber sieht diese „innere Geschichtsschreibung" konkret aus? Mir scheinen zwei praktische Konsequenzen bemerkenswert: Rosenkranz untersuchte - das hat Klaus Weimar zurecht hervorgehoben17 - nicht Autoren, sondern die Handlungen und Kommunikationsformen von literarischen Figuren. Hier, in den Verhaltens- und Vergesellschaftungsformen der Helden von Nibelungen- oder Dietrichsepik („Die deutsche Ilias") ; von Kudrun oder Rother („Die deutsche Odyssee"), der höfisch-arthurischen Epen, aber auch der Literatur der „gemeinen Wirklichkeit" (Strickers P f a f f Amis, Salomon und Markolf, der Pfarrer von Kalenberg u.a.), sah er die Besonderheiten der Epochen, der Gattungen und einzelnen „Kunstformen" nicht in den Intentionen, sprachlichen Besonderheiten oder stilistischen Fertigkeiten der Autoren. Beides: die literarischen Figuren und die historischen Epochen aber waren fur Rosenkranz untrennbar miteinander verbunden, mehr noch: in bestimmten Werken, und vor allem in den Kommunikations- und Handlungsmustern ihrer Helden, sah er „den vielseitigen Inhalt ganzer Epochen [...] zusammengefaßt."18 „Innere Geschichtsschreibung" meint aber auch einen Akt der Erinnerung, welcher der vergangenen Literatur, hier: der Literatur des Mittelalters, die „Fremdheit" nimmt und sie dem Verständnis der heutigen Leser öffnet. Zwar dachte Rosenkranz den hermeneutischen Vorgang der Vergegenwärtigung der Alterität idealistisch, gelangte aber gleichwohl zu einer plausiblen Verschränkung von vergangener Literatur und gegenwärtigem Erkenntnisinteresse: denn nur auf diesem „Wege kann es gelin15 16 17 18

Ebd. Ebd., S. IV. Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft Rosenkranz, Geschichte der Deutschen Poesie, S. 4.

(Anm. 7), S. 305.

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gen, der Anschauung des vergangenen Lebens die Fremdheit zu nehmen, welche an ihm haftet. Diese Dunkelheit soll verschwinden und soll erkannt werden, daß der Geist, welcher jene Produkte erzeugte, derselbe ist mit dem, welcher nun ihrer sich erinnert."19 Es war wohl nicht zuletzt diese Reflexion Rosenkranz' auf die - zwar eindimensional und undialektisch verstandene - Gegenwärtigkeit der mittelalterlichen Literatur, die ihn dazu befähigte, in einer Unbefangenheit und Souveränität über die Literatur des Mittelalters zu urteilen, die seine Gegner erbitterte, ihm (und seinen Lesern) aber überraschende Perspektiven auf die Texte eröffnete. Im Mittelpunkt stand dabei jeweils der Versuch, in der „Fülle der individuellen [literarischen, W. R.] Bildungen" jene „einfachen Bestimmungen" zu finden, die für ihre jeweilige Epoche, aber auch die jeweilige literarische Gattung charakteristisch sind.20 Sehr viel erfolgreicher war Rosenkranz mit seinem Versuch, einen bislang weitgehend unberücksichtigten, gerade deswegen aber auch besonders faszinierenden Bereich des Ästhetischen: das Feld der Nicht-mehr-scbönen-Künste, erstmals systematisch zu beschreiben und zu erläutern. Rosenkranz' Ästhetik des Häßlichen (1853) ist bis heute sein bekanntestes Buch geblieben. Das entspricht seinem selbst gesetzten Ziel, daß es „in allgemeineren Kreisen, nicht bloß in dem der Schule [und Universität, W. R.], lesbar ist."21 Auch in diesem Fall aber gilt, daß das Interesse an den Nicht-mehr-schönen-Künsten, d.h. am Häßlichen und Alltäglichen, am Niederen und Gemeinen, an deformierten Körpern und am Obszönen bereits in Hegels Theorie der romantischen Dichtform begründet ist, die im Widerspruch von Ichversenkung und Öffnung zur Welt eine Einbeziehung „aller Lebenssphären und Erscheinungen, [des] Größten und Kleinsten, Höchsten und Bösen", und eben auch des Häßlichen, Alltäglichen und Gemeinen ermöglicht.22 Zweifellos war Rosenkranz' Versuch, der „Prüderie" und „Falschmünzerei" in Literatur und Wissenschaft zu begegnen23 und auch den unterschiedlichsten Bereichen und Phänomenen des „Negativschönen" seine ästhetische Berechtigung zuzuerkennen, ein ebenso mutiger wie notwendiger Schritt. Gleichwohl verweist der Begriff des „Negativschönen" auf ein theoretisches Problem, das Rosenkranz' Ästhetik des Häßlichen - trotz ihres Verdienstes um die Erweiterung des künsderisch Legitimen und Interessanten - kennzeichnet. Denn „das Häßliche hat fur Rosenkranz nach wie vor sein Maß am klassischen Begriff des Schönen".24 Es ist nicht als solches von Interesse, sondern lediglich in seiner Gegenbildlichkeit zum Schönen, mehr noch: auch fiir Rosenkranz ist die künstlerische Darstellung von Alltäglichem, Häßlichem oder Bösem nur statthaft, wenn es lachend aufgehoben und d.h. durch Komik ästhetisiert wird: das Schöne erweist sich als die Macht, „welche die Empörung des Häßlichen seiner Herrschaft wieder unterwirft. In dieser Versöhnung entsteht eine unendliche Heiterkeit, die uns

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Ebd. Ebd., S. 3. Karl Rosenkranz, Ästhetik des Häßlichen, hrsg. von Dieter Kliche, Leipzig 1990 [zuerst 1853], S. 8. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik, Bd. 1, nach der 2. Ausg. Heinrich Gustav Hothos (1842) redigiert und hrsg. von Friedrich Bassenge, Berlin, Weimar 1965, S. 568. 23 Rosenkranz, Ästhetik des Häßlichen (Anm. 21), S. 9. 24 Hans R. Jauss, „Die klassische und die chrisdiche Rechtfertigung des Häßlichen in mittelalterlicher Literatur", in: ders., Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur, München 1977, S. 386.

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Werner Röcke

zum Lächeln, zum Lachen erregt. Das Häßliche befreit sich in dieser Bewegung von seiner hybriden selbstischen Natur. Es gesteht seine Ohnmacht ein und wird komisch."25 Damit aber wird der Zugang zur „gemeinen Realität" in der Kunst, kaum daß er geöffnet worden ist, schon wieder verstellt. Dennoch ist die forschungsgeschichtliche Bedeutung von Rosenkranz' Ästhetik des Häßlichen ebenso wie seiner Geschichte der Deutschen Poesie im Mittelalter offensichdich. Für die weiteren literatur- und kunstwissenschaftlichen Studien Rosenkranz' gilt das nicht oder nur in sehr eingeschränktem Maße. Zwar äußerte sich Rosenkranz in der Folgezeit in einer schier unendlichen Produktion von Studien, Rezensionen und anderen Schriften zu allen nur denkbaren Texten, Literaturen, Epochen und literarischen Trends, erreichte dabei aber die Präzision und theoretische Fundierung seiner beiden Hauptwerke nicht mehr. Gerade diese jedoch waren fur die Ausbildung einer modernen Mediävistik im 19. Jahrhundert unverzichtbar, auch wenn sie in der Germanistik viel zu lange und nachhaltig ignoriert worden sind. Es wird Zeit, diese Selbstblockade aufzuheben.

25 Rosenkranz, Ästhetik des Häßichen

(Anm. 21), S. 14.

EDITH WENZEL

Moriz Haupt (1808-1874) Moriz Haupt, geboren am 27. Juli 1808 in Zittau (Sachsen), zählt zu den Gründungsvätern der Deutschen Philologie. Er studierte Klassische Philologie in Leipzig (18261830), wurde 1831 zum Doktor der Philologie promoviert und habilitierte sich im selben Jahr mit einer Schrift über Catull; 1841 erhielt er die Ernennung zum Extraordinarius und 1843 den in Leipzig neu eingerichteten Lehrstuhl fiir Deutsche Sprache und Literatur. Die ersten Stationen seines wissenschaftlichen Werdegangs waren mithin geprägt durch Studien im Bereich der Klassischen Philologie, und dies war symptomatisch fxir die Gründungszeit der Deutschen Philologie (vgl. auch Karl Lachmann). Die erste Professur fiir Deutsche Sprache und Literatur war 1810 mit der Gründung der Universität Berlin eingerichtet worden - wenn auch nur als Extraordinariat ohne Besoldung. 1 Als akademische Disziplin stand die Germanistik noch lange im Schatten der Klassischen Philologie, die an den Universitäten und Schulen eine privilegierte Stellung einnahm, 2 weil die Klassischen Studien dem Bürgertum beste Aufstiegsmöglichkeiten in das Staatsbeamtentum ermöglichten. 3 Parallel zu seinen akademischen Aufgaben widmete sich Haupt der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters. In seiner Antrittsrede vor der Berliner Akademie der Wissenschaften (1854) beschrieb er seine wissenschaftliche Entwicklung wie folgt: „In früher Jugend ward ich von dem deutschen Alterthum, der Sprache und der Dichtung unserer Altvordern angezogen, und zu der Gewalt, die das Heimische auf mich übte, kam der kaum mindere Reiz der neuen, werdenden Wissenschaft. [...] So bin ich anfangs von dem deutschen Alterthum fast allein gefesselt worden, bis dann das griechische und römische und die höhere Schönheit der antiken Poesie mir heller aufgingen und mich festhielten, ohne mich dem Studium des Mittelalters, und besonders des deutschen zu entfremden."4 Einen massiven Einschnitt in seinem akademischen Aufstieg stellte das Jahr 1851 dar: 5 Haupt wurde von seinem Amt als Universitätsprofessor suspendiert. Im Zusammen-

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Eine Wissenschaft etabliert sich (1810-1870), mit einer Einfuhrung hrsg. von Johannes Janota, Tübingen 1980 (Texte zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik 3), S. 15. Holger Dainat und Rainer Kolk, „GeselligesArbeiten. Bedingungen und Strukturen der Kommunikation in den Anfangen der Deutschen Philologie", in: Von der gelehrten zur disziplinären Gemeinschaft, hrsg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp, Stuttgart 1987 (Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Sonderheft 1987), S. 7-41, hier S. 24ff. Eine Wissenschaft etabliert sich (Anm. 1), S. 47. Julian Schmidt, „Moritz Haupt", in: ders., Bilder aus dem Geistigen Leben unserer Zeit, Bd. 4: Characterbilder aus der Zeitgenössischen Literatur, Leipzig 1875, S. 359-365, hier S. 359f. Von der „Katastrophe" spricht in seinem Nekrolog Adolf KirchhofF, Gedächtnisredt auf Moritz Haupt. Gelesen am Leibniz'schen Jahrestage tien 1. Juli 1875, Berlin 1875, S. 6.

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Edith Wenzel

hang mit den Ereignissen der Märzrevolution von 1848 hatte er sich politisch exponiert, war Mitglied des Deutschen Vereins, einer nationalliberalen Partei, geworden und hatte sich fur „die Einheit des Vaterlandes" engagiert. In einer Festrede zum Geburtstag des Königs am 18. Mai 1848 begründete Haupt sein politisches Engagement mit emphatischen Worten, die ganz im Gegensatz zu seiner ansonsten eher lakonischen Ausdrucksweise stehen: „aus den alten gleisen des denkens und empfindens sind wir in ungewohnte hoffnungen, in ungewohnte sorgen gedrängt, in hoffnungen fur das Vaterland, dessen einheit und grosse nicht mehr als ein verlorenes gut nur den rückwärts gewendeten blicken erscheint, sondern vor aller äugen steht als hehres ziel raschvordringendes streben, in sorgen um das Vaterland, dem grössere gefahren nie gedroht haben als in dem dränge dieser gewaltigen zeit. [...] von den erwartungen und nöthen des Vaterlandes im innersten erregt vermochte ich es nicht in dem gewohnten kreise der Wissenschaft mich mit freiem gemixte zu bewegen (ich beneide keinen der es vermöchte); und wenn einem tieferen geiste, einem beredteren munde es vielleicht gelingen mag selbst in dieser zeit der erschütterung an stille worte der Wissenschaft die ungetheilte aufmerksamkeit seiner hörer dauernd zu fesseln, ich, des masses meiner kraft mir wohl bewusst, musste dieser hoffnung entsagen."6

Zusammen mit seinen beiden Leipziger Kollegen Otto Jahn und Theodor Mommsen wurde Haupt des Hochverrates angeklagt und von der Leipziger Universität seines Amtes als Professor enthoben, obwohl man ihn nach langen Untersuchungen in zweiter Instanz freigesprochen hatte. 7 In der nachfolgenden Zeit lebte er gezwungenermaßen als Privatgelehrter, wurde dann aber 1853 - trotz der Vorbehalte des preußischen Unterrichtsministers - nach hartnäckigen Bemühungen der Berliner Fakultät als Nachfolger des 1851 verstorbenen Karl Lachmann an die Berliner Universität berufen.8 Haupt hatte Lachmann bereits 1834 in Berlin kennengelernt, und daraus war eine lange und intensive Freundschaft entstanden. Das weitere wissenschaftliche Leben von Moriz Haupt wurde von seinem Freund und Vorbild so maßgeblich bestimmt, daß Scherer in seinem Nachruf auf Haupt treffend bemerkt: „für die Philologie ist es ein unberechenbarer Vortheil gewesen, daß Lachmann gleichsam zweimal erschien, daß ihm in H. eine so verwandte Natur, eine so ebenbürtige Kraft erstand, welche volle Befriedigung darin empfand, die Art des Freundes sich anzueignen und in Schrift und Lehre fortzusetzen, fortzupflanzen."9

Nach dem Tode des Freundes widmete sich Haupt vornehmlich Lachmanns wissenschaftlichem Nachlaß. Die Sammlung des frühen Minnesangs wurde von ihm ergänzt und überarbeitet und 1857 in seinem und im Namen von Karl Lachmann unter dem

6 7 8 9

Moriz Haupt, Opuscula, hrsg. von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, 3 Bde., Leipzig 1875/76, Reprint Hildesheim 1967, S. 236f. Schmidt, „Moritz Haupt" (Anm. 4), S. 363f. Wilhelm Scherer, Kleine Schriften zur altdeutschen Philologie, hrsg. von Konrad Burdach, Berlin 1893, S. 111-121, hier S. 115; Erstabdruck in Deutsche Zeitung 21. 2. 1874. Wilhelm Scherer, „Haupt", in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 11, Leipzig 1880, S. 72-80, hier S. 74.

Moriz Haupt

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Titel Des Minnesangs Frühling veröffentlicht - eine auch heute noch kanonisierte Auswahl von Minneliedern und Sangspruchdichtung. Ferner besorgte Haupt die Neuauflagen der von Lachmann herausgegebenen Werkausgaben Der Nibelunge Noth und die Klage (1851), Wolfram von Eschenbach (1854) und Die Gedichte Walthers von der Vogelweide (1864). Gleichzeitig arbeitete er an eigenen Editionen mittelalterlicher Autoren und Werke, die in relativ kurzen Abständen veröffentlicht wurden. Nach Hartmanns Erec (1839) erschien 1840 Der gute Gerhard Rudolfs von Ems, 1844 der Engelhard Konrads von Wüizburg, 1845 Winsbeke und Winsbekin, 1851 die Lieder Gottfrieds von Neifen und 1858 Neidhart von Reuenthal, eine Ausgabe der Lieder, die bis heute - trotz berechtigter textkritischer Einwände — immer noch als Textbasis fur die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Neidharts Liedern gilt. Darüberhinaus veröffentlichte er eine Reihe zuvor unbekannter kleinerer Texte des deutschsprachigen Mittelalters. Parallel zu diesen Arbeiten auf dem Gebiet der Deutschen Philologie edierte Haupt — auch hierin seinem Vorbild Lachmann folgend — die Werke lateinischer Autoren. Nur die wichtigsten seien an dieser Stelle aufgeführt: 1851 erschien die Ausgabe des HoratiusFlaccus, 1853 Catulli, Tibulli, Propertii carmina, dann 1855 die Germania des Tacitus und 1858 schließlich der Vergilius Maro. Haupts wissenschaftliche Verdienste liegen ohne Zweifel auf dem Gebiet der Textkritik und Editionspraxis; auch darin blieb er ganz seinem Vorbild Lachmann verpflichtet. Lachmanns Editionsprinzipien, an der Klassischen Philologie erarbeitet, sollten auf die mittelalterlichen deutschsprachigen Texte mit der Zielsetzung übertragen werden, möglichst aufgrund sorgfältiger Handschriftenprüfung den originalen Text des Autors zu rekonstruieren und wissenschaftlich abzusichern. In der Begründung seines wissenschaftlichen Urteils blieb Haupt in der Regel jedoch wortkarg und begnügte sich mit eher lakonischen Feststellungen für Verständige, die seine Entscheidungen auch ohne ausfuhrliche Begründung teilen sollen.10 In der Vorrede zu seiner Neidhart-Ausgabe forderte er geradezu blindes Vertrauen in seine Urteile, indem er apodiktisch vermerkte: „wo also meine anmerkung oder mein schweigen von Beneckes ausgabe abweicht verlange ich glauben."11 Der lange und mühevolle Weg zur wissenschaftlichen Entscheidung blieb im Geheimen, 12 an die Stelle der nachvollziehbaren Begründung des wissenschaftlichen Urteils trat die Autorität des Wissenschaftlers, die Haupt (ebenso wie Lachmann) voraussetzte. Diese Autorität gründete nicht allein in den wissenschaftlichen Kenntnissen, sondern vor allem in der moralischen Integrität und im Ethos der wissenschaftlichen Erkenntnis, das Haupt für sich und seine Wissenschaft beanspruchte:

10 Ingrid Bennewitz, Ulrich Müller und Franz V. Spechtler: „Nachwort" in: Neidharts Lieder, hrsg. von Moriz Haupt, 2. Aufl. neu bearb. von Edmund Wießner, unveränderter Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1923, Stuttgart 1986 (Neidharts Lieder 2), zur Person von Haupt S. 410-413, zur NeidhanEdition von Haupt S. 413-421, hier S. 415. 11 Moriz Haupt, „Vorrede", in: ders. (Hg.), Neidhart von Reuenthal, unveränderter Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1858, Stuttgart 1986 (Neidharts Lieder 1), S. V-X, hier S. VII. 12 Jan-Dirk Müller, „Moriz Haupt und die Anfänge àerZeitschriftfiir deutsches Altertum", in: Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der ileutschen Literaturwissenschaft, hrsg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp, München 1991, S. 141-164, hier S. 153.

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.Auch bilde ich mir nicht ein, etwas besonders neues vorgebracht zu haben; ich wünsche aber sehr, dass Sie ein ethisches Moment erfasst haben mögen. Wer es mit seiner Wissenschaftlichkcit nicht ernstlich meint, steht unter dem gewöhnlichen Handwerker. [...] Die Wissenschaft sinkt von dem Suchen nach Wahrheit zur Dienerin gemeiner Eitelkeit herab, die Suche nach dem Neuen tritt auf, und hinter ihr weicht das Gefühl fur das Wahre, das Einfache zurück. So leidet der, der seiner Wissenschaft nicht mit dem Herzen dient, Schaden an seiner Seele."13 Haupt richtete sich mit seinen Arbeiten an die spezialisierten Fachleute, eine Hinwendung zu einem breiteren Publikum lehnte er kategorisch ab. Dies galt insbesondere fiir die Zeitschriftfur

deutsches Altertum,

die Haupt 1841 begründete und zum ersten Male

herausgab. Im programmatischen Vorwort zum ersten Heft verwahrte sich Haupt gegen den Vorwurf der Exklusivität: „man legt heutzutage denen die ihre kräfte der deutschen philologie widmen oft zur last daß sie sich vornehm abschließen, ihre bûcher nur für wenige geheimer lehren mitkundige leset berechnen, und wie die ziemlich allgemein gehaltenen ausdrücke sonst noch lauten mögen; denn bestimmte Forderungen werden selten gestellt, diese vorwürfe sind meist ungerecht und treffen viele der ausgezeichnetsten arbeiten nicht einmal mit einem scheine; ein gerechter tadel aber dünkt mich daß manche sich zu oft damit begnügen altdeutsche texte wie sie die handschriften darbieten ohne alle bearbeitung abdrucken zu laßen. nicht jeder leser hat geräth übung oder zeit genug um von dem edeln erze das taube gestein zu scheiden oder den rost zu tilgen der alte kunstwerke überzieht, das also ist eine billige forderung, daß wer leser verlangt soviel möglich lesbares bringe."14 Den Kritikern setzte Haupt unbeirrt, bisweilen wohl auch starrköpfig, seine Auffassung von Wissenschaft entgegen und wendete sich kategorisch gegen anderslautende Ansprüche: „die forderung daß auch alles schön oder unterhaltend sei lehne ich ab." 1 5 Dieser exklusive Anspruch forderte die Kontrahenten zu heftigen, teils auch persönlich diffamierenden Attacken heraus. Franz Pfeiffer, einer seiner engagiertesten Gegner, schrieb 1861 an seinen Kollegen Karl Bartsch: „Es fuhrt zu nichts, vor der Thatsache die Augen zu verschließen, daß beim größeren Publikum die Theilnahme fiir unsere Forschungen erkaltet ist, Dank der dumm hochmüthigen, schulmässig dürren, poesielosen Behandlung von Seiten des impotenten Lachmannischen Nachwuchses." 16 Pfeiffer, Ordinarius in Wien, war der Herausgeber der Germania, organs17 zu Haupts Zeitschrift für deutsches Altertum.1*

des

Konkurrenz-

Im Gegensatz zur philologisch-

textkritisch ausgerichteten Zeitschrift fiir deutsches Altertum

sollte sich die

Germania

13 Christian Belger, Moriz Haupt als academischer Lehrer. Mit Bemerkungen Haupts zu Homer, den Tragikern, Theokrit, Plautus, Catull, Properz, Horaz, Tacitus, Wolfram von Eschenbach und einer biographischen Einleitung, Berlin 1879, S. 76f. 14 Moriz Haupt, „Vorwort zum ersten hefte", ia:Zeitschriftfur deutsches Altertum 1,1841, S. III-VIII, hier S.V. 15 Ebd., S.V. 16 Franz Pfeiffer und Karl Bartsch, Briefwechsel. Mit unveröffentlichten Briefen der Gebrüder Grimm und weiteren Dokumenten zur Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts, hrsg. von Hans-Joachim Koppitz. Köln 1969, (Veröffentlichung des Bibliothekar-Lehrinstituts des Landes Nordrhein-Westfalen), S. 68. 17 Eine Wissenschaft etabliert sich (Anm. 1), S. 43 18 Müller, „Moriz Haupt und die Anfänge der Zeitschrift fur deutsches Altertum" (Anm. 12), S. 143f.

Moriz Haupt

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auf die interpretatorische Erschließung der Literaturdenkmäler konzentrieren. Pfeiffer war darum bemüht, die an den Universitäten gewonnenen Erkenntnisse einem im weitesten Sinne gebildeten Kreis zu vermitteln und eine engere Verbindung zwischen den Germanisten an den Universitäten und den Schulen herzustellen. 19 Nicht die Fachleute, sondern „die Gebildeten unseres Volkes" 20 sollten seine Ansprechpartner sein. Scheinbar unversöhnlich standen sich diese beiden Grundpositionen gegenüber. Mochte auch die Schroffheit von Moriz Haupt, die selbst von seinen Verehrern und Anhängern konzediert wurde, 21 zur Eskalation beigetragen haben, so ging es doch um eine grundsätzliche Debatte der wissenschaftlichen Positionen, die sich unter den Schlagwörtern „Esoterik vs. Publikumswirksamkeit" 22 subsumieren lassen und die damit auf zwei Extrempositionen in der Entwicklung der Germanistik verweisen, in der eine rein philologisch ausgerichtete Wissenschaft einer kulturpolitisch engagierten Germanistik entgegengesetzt wird, um Positionen also, die auch in den nachfolgenden Jahrzehnten immer wieder kritisch diskutiert wurden. 23 W i e tief der Graben zwischen der Berliner Schule und der Wiener Schule war, 24 ließ sich auch am Nekrolog von Karl Bartsch auf Haupt ablesen, der den verstorbenen Kollegen des „maßlosen Hochmuthes" beschuldigte 25 und selbst dessen Gesamtleistung fur das Fach nur in engen Grenzen gelten lassen wollte: „Überblicken wir noch einmal Haupts germanistische Thätigkeit, so finden wir, daß dieselbe fast ganz auf textkritische Arbeiten sich beschränkt. Neue weittragende Gesichtspunkte wird man bei ihm nicht suchen dürfen. Er kannte die Grenzen seiner Begabung und daß er innerhalb derselben sich hielt, wird man nur loben können. Aber auch wenn er innerhalb dieser Grenzen das vollkommenste geleiste [sie] hätte, auch dann könnten wir darin keine Berechtigung zu jener Selbstüberhebung erblicken. Weit entfernt textkritische Leistungen herabsetzen zu wollen, kann ich in ihnen doch nicht eines der höchsten Ziele der Wissenschaft sehen."26

Ungeachtet dieser kritischen Stimmen zum wissenschaftlichen Werk und zur Person wurden Moriz Haupt zahlreiche Ehrungen zuteil. Seit 1854 war er Mitglied der Berliner Akademie, seit 1861 Sekretär der philologisch-historischen Klasse der Akademie. Mit zahlreichen Wissenschaftlern und Schriftstellern seiner Zeit pflegte Haupt gute bis enge Kontakte. Zu seinem Bekanntenkreis gehörten Ludwig Uhland, Hoffmann von Fallersleben, Gustav Freytag, die Verleger Karl Reimer und Salomon Hirzel, ferner Theodor Mommsen und August Meineke. Enge Freundschaft verband 19 Eine Wissenschaft etabliert sich (Anm. 1), S. 44. 20 Zitiert nach ebd., S. 244. 21 Schmidt, „Moritz Haupt" (Anm. 4), S. 362, spricht von den „schroffen und eckigen und zum Theil verletzenden Formen" Haupts, und Scherer, Kleine Schriften zur altdeutschen Philologie (Anm. 8), S. 113f·, hebt die „Strenge gegen sich selbst und gegen andere" und Haupts „Herrschernatur" hervor. 22 Müller, „Moriz Haupt und die Anfänge der Zeitschrift für deutsches Altertum" (Anm. 12), S. 143. 23 Eine Wissenschaft etabliert sich (Anm. 1), S. 38ff. und Rainer Kolk, „Wahrheit - Methode - Charakter. Zur wissenschaftlichen Ethik der Germanistik im 19. Jahrhundert", in: Internationales Archiv jur Sozialgeschichte der deutschen Literatur 14, 1989, S. 50-73, hier S. 73. 24 Müller, „Moriz Haupt und die Anfänge der Zeitschrift jur deutsches Altertum" (Anm. 12), S. 143, spricht vom „Krieg" zwischen der Zeitschrift für deutsches Altertum und der Germania. 25 Karl Bartsch, „Moriz Haupt", in: Germania 19, 1874, S. 238-242, hier S. 241. 26 Ebd., S. 242.

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ihn mit Karl Lachmann und mit Jacob und Wilhelm Grimm, die nach eigenen Aussagen in Haupt einen wichtigen Anreger und Förderer ihres Deutschen Wörterbuchs sahen. 27 1 8 7 1 wurde Haupt mit dem Orden Pour le mérite ausgezeichnet. Er starb am 7. Februar 1 8 7 4 in Berlin.

27 Alan Kirkness, Geschichte des deutschen Wörterbuchs (1838-1863). Dokumente zu den Lexikographen Grimm, mit einem Beitrag von Ludwig Denecke, Stuttgart 1980, S. 9 und Unbekannte Briefe der Brüder Grimm, unter Benutzung des Grimmschen Nachlass und anderer Quellen in Verbindung mit Jörn Göres hrsg. von Wilhelm Schoof, Bonn I960, S. 249.

DIETER SEITZ

Karl Bartsch (1832-1888) Karl Bartsch gehörte zu jener Generation von Germanisten, die sich nach dem Tod der großen Leitfiguren Jacob Grimm und Karl Lachmann im Besitz der philologischkritischen Methode und damit auf sicherem methodischen Fundament wußten und die im Begriff waren, damit das noch weithin erst zu entdeckende Feld der Literatur des Mittelalters zu vermessen. Seine Arbeiten waren bei den Zeitgenossen nie unumstritten. Die germanistische Diskussion war in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts von einer verbissenen Vehemenz geprägt, mit der vordergründig um die Thesen Lachmanns zur Genese des Nibelungen-Epos, in Wirklichkeit jedoch um das wissenschaftliche Selbstverständnis und die gesellschaftliche Funktion der deutschen Philologie gerungen und immer auch Rivalitäten ausagiert wurden. In diesen Auseinandersetzungen hatte Karl Bartsch eine deutlich markierte Position. Er gehörte zur Gruppe um Franz Pfeiffer, die sich gegen den Anspruch der Berliner Germanisten, v.a. Müllenhoffs und Moriz Haupts, später auch Scherers, zur Wehr setzte, die allein legitimen und qualifizierten Fortsetzer der philologischen Methode Lachmanns zu sein. Der Stil kleinlicher Animositäten und persönlicher Verunglimpfung, der die Kontroversen im sogenannten „Nibelungenstreit"1 kennzeichnete, begleitete auch Bartschs wissenschaftliche Biographie, mag er als Person auch eher verbindlich und ausgleichend gewesen sein. In seinen wissenschaftlichen, organisatorischen und institutionellen Aktivitäten repräsentiert er die Entwicklungstendenzen der deutschen Philologie um die Jahrhundertmitte, die durch die endgültige akademische Etablierung des Faches, d.h. die kontinuierliche Vermehrung der Zahl der Ordinariate, die Gründung von deutschphilologischen Seminaren und eine beginnende Einbindung in die Lehrerausbildung oder auch die Etablierung eigener wissenschaftlicher Zeitschriften gekennzeichnet waren. Gleichzeitig setzte sich die konsequente Philologisierung der Germanistik fort, die bereits mit Lachmann und den Grimms begonnen hatte. In diesem Prozeß der Institutionalisierung und Philologisierung des Faches, der es zugleich immer stärker von gesellschaftlichen oder kulturpolitischen Fragestellungen entfernte, ist die wissenschaftliche Position von Karl Bartsch zu verorten, in diesem Rahmen bewegte sich sein umfangreicher Beitrag zur deutschen Philologie des 19. Jahrhunderts.

1

Z u m „Nibelungenstreit" vgl. Rainer Kolk, Berlin oder Leipzig? Studien zur sozialen Organisation der Germanistik im „Nibelungenstreit", Tübingen 1990 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 30); Franz Pfeiffer - Karl Bartsch, Briefwechsel. Mit unveröffentlichten Briefen der Gebrüder Grimm und weiteren Dokumenten zur Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts, hrsg. von Hans-Joachim Koppitz, Köln 1969, S. lOff.

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Bartsch stammte aus einer preußischen Beamtenfamilie. Er wurde am 25. Februar 1832 in Sprottau in Schlesien geboren. Früh, im Herbst 1849, beendete er das Gymnasium und begann in Breslau, wohin die Familie 1846 gezogen war, mit dem Studium der Klassischen Philologie. Wichtigster akademischer Lehrer wurde der Germanist Karl Weinhold, der ihn mit der Geschichte der deutschen Sprache und mit der älteren deutschen Literatur in Berührung brachte und so bestimmend fiir seine spätere Laufbahn wurde. Nach Weinholds Weggang aus Breslau (1850) entschloß sich Bartsch, in Berlin weiterzustudieren; als er dies Ostern 1851 verwirklichen konnte, war Lachmann gerade gestorben. Deshalb hörte er v.a. bei Maßmann und sporadisch bei Wilhelm Grimm und beendete im Herbst 1852 sein Studium. Im März 1853 wurde er in Halle mit der Dissertation De veteris theodiscae linguae Otfridi arte metrica promoviert. Nach Aufenthalten in Paris und London wurde er 1855 Kustos an der Bibliothek des Germanischen Museums in Nürnberg. Hier begannen seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen mit zwei Anthologien zur provenzalischen Literatur und der Ausgabe von Strickers Karl? Von hier wurde er nach Rostock berufen. Ab Ostern 1858 war er dort ordentlicher Professor der germanischen und romanischen Literatur. 1871 folgte er einem Ruf an die Universität Heidelberg und lehne dort ebenfalls als Professor fiir germanische und romanische Literatur, bis er sich wegen Krankheit 1886 beurlauben lassen mußte. Am 19. Februar 1888 starb er. In den Nachrufen wurde das große Ansehen, das er dort in der städtischen Gesellschaft und bei seinen Kollegen erworben hatte, wie seine große Beliebtheit als Hochschullehrer hervorgehoben. Die Vielfalt der wissenschaftlichen Interessen und eine eminente schriftstellerische Produktivität wurden zum Kennzeichen Karl Bartschs. Er lehrte und publizierte zur altdeutschen und altfranzösischen Literatur- und Sprachgeschichte. Er veröffentlichte in schneller Folge umfangreiche Arbeiten — Anlaß sowohl für bewundernde wie auch kritische Reaktionen. Klaus Weimar bezeichnet ihn in einer eher spöttischen als zustimmenden Bemerkung als den „wohl besessensten Arbeiter, den es unter Literaturwissenschaftlern jemals gab".3 Der Schwerpunkt von Bartschs wissenschaftlichen Arbeiten lag auf dem Gebiet der Textkritik. Seine Anthologien zur provenzalischen und altfranzösischen Lyrik, die die Prinzipien kritischer Edition zum ersten Mal auf französische Texte des Mittelalters anwandten, sah man lange Zeit als hilfreiches und verläßliches Mittel fiir den akademischen Unterricht an. Ahnliches galt für die mittelhochdeutsche Sammlung der Deutschen Liederdichter des 12. bis 14. Jahrhunderts, mit der er die zeitliche Beschränkung von Minnesangs Früh ling auf Texte aus der Zeit der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert aufgab, und der Schweizer Minnesänger, mit denen er gegen die These von der Einheitlichkeit der mittelhochdeutschen Literatursprache Stellung bezog.

2

Provenzalisches Lesebuch. Mit einer literarischen Einleitungund einem Wörterbuche, hrsg. von Karl Bartsch, Elberfeld 1855; Denkmäler der provenzalischen Literatur, hrsg. von Karl Bartsch, Stuttgart 1856 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 39) unà Karl der Grosse von dem Stricker, hrsg. von Karl Bartsch, Quedlinburg, Leipzig 1857 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 35), Nachdruck Berlin 1965 (Deutsche Neudrucke).

3

Klaus Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München 1989, S. 331.

Karl Bartsch

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Für die deutsche Mittelalterphilologie wichtiger waren die Ausgaben zur mittelhochdeutschen Epik: die Kudrun, das Nibelungenlied, der Herzog Ernst, Konrads von Würzburg Partonopier, das Rolandslied und schließlich auch W o l f r a m s Parzival und Titurel. Viele von Bartschs Ausgaben galten als unentbehrlich fiir die akademische Forschung und Lehre. Zwar ist das Urteil der neueren Forschung über seine Ausgaben eher distanziert kritisch - z.B. kritisiert Stackmann in seinem V o r w o r t zur Neuausgabe der Kudrun die von Edward Schröder noch gelobten „kühnen Konjekturen" Bartschs wegen der künstlichen „metrischen und stilistischen Glätte", die sie erzeugten und die er weitgehend wieder rückgängig macht 4 — dennoch sind einige von ihnen immer noch nicht durch bessere ersetzt. 5 Umstritten waren die Ausgaben auch schon zu Bartschs Lebzeiten. Der G r u n d dafür ist wohl weniger in mangelnder philologischer Genauigkeit zu sehen als in einem wissenschaftspolitischen Aspekt: Bartsch hatte sich der Strategie Franz Pfeiffers angeschlossen, mittelhochdeutsche Texte so aufzubereiten, daß sie nicht nur dem Spezialisten, sondern auch einem „gebildeten Publikum" zugänglich sein und den Studenten nicht unnötige Hindernisse in den W e g legen sollten. M a n versah deshalb die Texte mit Lese- und Ubersetzungshilfen, erklärenden Anmerkungen und Wörterlisten und versuchte, die wichtigsten textkritischen Entscheidungen transparent zu machen. 6 Bei den Vertretern der Lachmann-Schule konnte dies nur als Anbiederung an jene verstanden werden, die sich den M ü h e n einer asketischen Forscherdisziplin entziehen wollten.

4 5

6

Kudrun, hrsg. von Karl Bartsch, überarbeitet von Karl Stackmann, 5. Aufl., Wiesbaden 1965 (Deutsche Klassiker des Mittelalters 2), S. V. Vgl. auch Dieter Kartschoke, „Nachwort" \n: Karl der Grosse von dem Stricker (Anm. 2), S. 433-453, hier S. 442. Kritische Neuausgaben liegen vor von: Kudrun (Anm. 4); Das Nibelungenlied, hrsg. von Karl Bartsch, Leipzig 1866 (Deutsche Classiker des Mittelalters 3), Nachdruck hrsg. von Helmut de Boor, 22. revidierte Aufl., Mannheim 1988 (Deutsche Klassiker des Mittelalters); Die Schweizer Minnesänger, mit Einleitung und Anmerkungen hrsg. von Karl Bartsch, Frauenfeld 1886, nach der Ausgabe von Karl Bartsch neu bearbeitet und hrsg. von Max Schiendorfer, Tübingen 1990) ; Herzog Ernst, hrsg. von Karl Bartsch, Wien 1869 und Herzog Ernst. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch, in der mittelhochdeutschen Fassung Β nach der Ausgabe von Karl Bartsch mit den Bruchstücken der Fassung A hrsg., übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Bernhard Sowinski, Stuttgart 1970 (Reclam Universal-Bibliothek 8352). Unveränderte Nachdrucke gibt es von: Karl der Grosse von dem Stricker (Anm. 2), Deutsche Liederdichter des zwölften bis vierzehnten Jahrhunderts. Eine Auswahl, hrsg. von Karl Bartsch, Leipzig 1864; Der Nibelunge Not: Mit den Abweichungen von der Nibelunge l i e f , den Lesarten sämmtlicher Handschriften und einem Wörterbuche, hrsg. von Karl Bartsch, Leipzig 1870; Konrad von Würzburg, Partonopier und Meliur: Tumei von Nantheiz-Sant Nicolaus-Lieder und Sprüche. Aus dem Nachlaß von Franz P f e i f f e r und Franz Roth, hrsg. von Karl Bartsch, Wien 1871; Diu Klage. Mit den Lesarten sämmtlicher Handschriften, hrsg. von Karl Bartsch, Leipzig 1875. Dazu Kolk, Berlin oder Leipzig? (Anm. 1), S. 24f. und S. 32ff.; Rüdiger Krohn, „,... daß Alles Allen verständlich sey ... '. Die Altgermanistik des 19. Jahrhunderts und ihre Wege in die Öffentlichkeit, in: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, hrsg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp, Stuttgart 1994, S. 325ff.; Jan-Dirk Müller, „Moriz Haupt und die Anfänge der Zeitschrift für deutsches Altertum", in: Wissenschaft und Nation: Studien zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft, hrsg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp, München 1991, S. 153ff; Karl Stackmann, „Die Klassische Philologie und die Anfänge der Germanistik", in: Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert: Zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften, hrsg. von Hellmut Flashar, Karlfried Gründer und Axel Horstmann, Göttingen 1979, S. 257.

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Als Textkritiker bewegte Bartsch sich durchaus in den Bahnen der Lachmannschen Methode, wozu ihn seine breite Kenntnis der älteren Texte und grammatischen Formen und seine Übung darin, zielstrebig große Stoffmassen zu durchdringen, besonders befähigten. 7 Auch er versuchte in seinen textkritischen Arbeiten durch einen strengen Regeln folgenden Vergleich der überlieferten Handschriften eine Entscheidung über die dem Original nächste Fassung zu ermöglichen. Allerdings waren ihm dann die Handschriften nicht die letzte Autorität. Darüber stand das Urteil des Herausgebers, der durch seine Kenntnis der mittelhochdeutschen Grammatik und sein intuitives Verständnis des Stils eines Autors das Echte in der Überlieferung erkennen und es vom Verderbten sicher trennen oder sinnvolle, d.h. dem Dichter angemessene Formulierungen konjizieren konnte. Bartsch argumentierte bei seinen textkritischen Entscheidungen primär mit der Metrik der Verse: Die Art des Reimgebrauchs und der rhythmischen Gestaltung des Versinneren lassen nicht nur eine zeitliche Einordnung des jeweiligen Überlieferungszeugen (und damit eine Aussage über die Nähe zum T e x t des Autors etc.) zu, sie funktionieren auch wie die empirische Beobachtung, die nicht auf die Unsicherheit eines individuellen Geschmacksurteils angewiesen ist. 8 Dabei reflektiert er nicht das Problem, ob seine Annahme einer geradezu gesetzmäßigen Entwicklung zum reinen Reim und zur Regelmäßigkeit des alternierenden Versrhythmus bis zum Ende des 12. Jahrhunderts nicht eher einem modernen klassizistischen Kunstideal entsprang, als daß es gegebenes, objektives Faktum und damit sicherer Maßstab fur die zeitliche Ordnung von Fassungen eines Textes wäre. D a ß es möglich ist, Objektivität in wissenschaftlichen Aussagen zu erreichen, war für ihn Überzeugung, denn Objektivität und Richtigkeit waren auch fiir ihn eine ethische, keine erkenntnistheoretische Frage: Sie wurden als Sache der Disziplin und des Fleißes und der charakterlichen Lauterkeit des Forschers angesehen. 9 So konnte Bartsch auf dem Gebiet des Vergleichs von Fassungen eines Textes, der Zuordnung von Parallelstellen, der statistischen Dokumentation bestimmter W e n dungen und Begriffe, der Filiation von Handschriften seine besondere Begabung verwirklichen. Darin ist auch die Qualität seiner „Untersuchungen zum Nibelungenlied" zu sehen, in denen er gegen Lachmanns Bevorzugung der Handschrift A eine in ihren Grundzügen heute noch gültige Einschätzung der Fassung Β und des Verhältnisses von A , B zu C u.a. anhand genauer Beobachtungen zur Reim- und Versgestaltung begründete. Neben den Editionen, zu denen meist ein umfangreicher Einleitungsteil gehörte, war Bartsch kontinuierlich als Beiträger der Germania 7

8

9

(von Franz Pfeiffer 1 8 5 6 be-

Viele seiner Veröffentlichungen - und gerade auch viele seiner kurzen Beiträge in der Germania — bestehen aus langen Reihen von Textstellen, die vergleichend metrisch und grammatisch kommentiert werden. Zur Methode Lachmanns vgl. Stackmann, „Die Klassische Philologie und die Anfange der Germanistik" (Anm. 6) und Kolk, Berlin oder Leipzig? (Anm. 1), S. llff. Bartsch beschreibt gegenüber Pfeiffer seine Methode im Nibelungenbuch so: Er habe „absichtlich alle Gründe des Geschmackes bei Seite gesetzt und sich nur auf die philologischen eingelassen." Pfeiffer Bartsch, Briefwechsel (Anm. 1), S. 168f. Den Objektivismus der Lachmannschen philologischen Methode beschreibt Kolk, Berlin oder Leipzig? (Anm. 1), S. 11-19. Zur „Ethisierung" des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses bei Lachmann und seinen Schülern vgl. Kolk, Berlin oder Leipzig? (Anm. 1), S. 8f. und S. 35; Pfeiffer - Bartsch, Bnefwechsel{hnm. 1), S. 10.

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gründet und seit 1866 von Karl Bartsch herausgegeben) präsent. Von ihm erschienen dort v.a. in den fünfziger und sechziger Jahren neben einer Reihe längerer Abhandlungen eine Fülle kurzer Beiträge und Miszellen, die in aktuelle Diskussionen eingriffen oder neu entdeckte Texte bzw. Handschriftenbruchstücke vorstellten. Regelmäßig war er auch als Rezensent vertreten. Schließlich entwickelte er als erster Germanist in der Germania ein wichtiges Hilfsmittel fur die wissenschaftliche Arbeit: bibliographische Übersichten über neuphilologische (bis hin zu kulturgeschichtlichen) Neuerscheinungen des je vergangenen Jahres, die seit dem achten Jahrgang (1863) regelmäßig bis 1888 erschienen. Sie wurden von Bartsch zusammengetragen und teilweise mit kommentierenden Bemerkungen versehen. Ihr Umfang steigerte sich von etwa vierzig Seiten zu Beginn bis zu 97 Seiten 1885, im letzten von Bartsch bearbeiteten Jahrgang. Bartsch fiel auch bei der Etablierung germanistischer Seminare eine gewisse Vorreiterrolle zu. Bis zum Ende des Jahrhunderts wurden an allen Universitäten, an denen es germanistische Lehrstühle gab, auch Seminare eingerichtet. Damit konnten dem Fach universitäre Kontur und Kontinuität gegeben und andererseits die Formen organisiert werden, in denen die Studierenden in den Prozeß wissenschaftlicher Forschung und Lehre einbezogen wurden. 10 Bartsch hatte schon bei seinen Verhandlungen zur Übernahme der Professur in Rostock vereinbart, daß das dort existierende „philosophisch-ästhetische Seminar" in ein „deutsch-philologisches" umgewandelt wurde (1858). Er entwarf dazu eine Satzung, die neuere Entwicklungen in der universitären Lehre aufgriff und sich an Humboldts Konzeption einer Reformuniversität orientierte. Als Ziel wurde darin explizit die aktive Einbeziehung der Studierenden in den Prozeß der wissenschaftlichen Diskussion angeführt, wurde definiert, wie die schriftlichen und mündlichen Arbeiten der Studenten angefertigt und vorgetragen werden sollten, und wurden die Gegenstände beschrieben (ältere und neuere deutsche Literatur, Sprach- und Kulturgeschichte) und die freie Zugänglichkeit der Seminare betont (bei strikter Begrenzung der Teilnehmerzahl auf sechs Personen)." Das Rostocker Seminar war das erste seiner Art überhaupt. Es wurde zum Vorbild fur spätere Gründungen wie z.B. in Tübingen (1867/1872). 12 Auch in Heidelberg 10 Zur Einführung der Seminare: Uwe Meves, „Die Gründung germanistischer Seminare an den preußischen Universitäten (1875-1895)", in: Deutsche Vierteljahrsschrift ftir Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 61, 1987 (Sonderheft), S. 96-122; Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts (Anm. 3), S. 418-429. 11 Text in Pfeiffer - Bartsch, Briefwechsel (Anm. 1), S. 244-253. Vgl. auch Karl Bartsch, „Über die Gründung germanischer und romanischer Seminare und die Methode kritischer Übungen", in: Verhandlungen der 36. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner 1882, Leipzig 1883, S. 237245; 125Jahre Germanistik an der Universität Rostock, 1858 -1983, hrsg. von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Joseph Pischel, Rostock 1983 (Beiträge zur Geschichte der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock 5), S. 9fF.; Rainer Kolk, „Liebhaber, Gelehrte, Experten. Das Sozialsystem der Germanistik bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts", in: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert (Anm. 6), S. 78f. In der Heidelberger Fassung der Ordnung heißt es: Das Seminar habe die Aufgabe, „diejenige wißenschaftliche Erkenntniß [die in den Vorlesungen vorgetragen wurde] durch eigene Forschungen der Studirenden zu befestigen und zu beleben." Karl Bartsch, Jugenderinnerungen, hrsg. von Hans-Joachim Koppitz, Würzburg 1966 (Beihefte zum Jahrbuch der schlesischen FriedrichWilhelms-Universität zu Breslau 6), S. 248. 12 Ebd., S. 243f.; Meves, „Die Gründung germanistischer Seminare" (Anm. 10); Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts (Anm. 3), S. 423-429.

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gründete Bartsch nach seiner Berufung wieder ein „Seminar fur neuere Sprachen" (1873 - später in „germanisch-romanisches Seminar" umbenannt). Der Erfolg dieser Seminare hing auch davon ab, daß die staatlichen Behörden die Laufbahn eines Deutschlehrers an den Gymnasien etablierten und philologische Staatsprüfungen einrichteten. Zunächst war dies in Rostock nicht der Fall, Bartsch klagte deshalb dort häufig über die geringe Zahl von Studenten. Das war anders in Heidelberg, wo der Studiengang eine Karriereperspektive hatte und wo u.a. deshalb die Hörerzahlen erheblich waren. 13 Bartsch repräsentierte das Fach wirkungsvoll in der universitären Öffentlichkeit. In Rostock war er Dekan und zweimal Rektor und auch in Heidelberg hatte er dieses Amt inne. Regelmäßig nahm er an den jährlichen Kongressen des „Vereins deutscher Philologen und Schulmänner" teil, und er war initiativ bei der Begründung einer germanistischen Sektion im Jahre 1861. Zumindest in Heidelberg war er auch in das außeruniversitäre Leben der Stadt integriert. Quasi in Fortsetzung des Programms der Germania hielt Bartsch regelmäßig Vorträge in der nicht-universitären Öffentlichkeit und schrieb Aufsätze mit literarischen Themen in populären Zeitschriften. Auch sozial engagierte er sich in einer Stiftung zur Unterstützung von Schriftstellern in materieller Not, war im Rahmen eines Diskussionszirkels von Philologiestudenten aktiv, war Mitglied der Theaterkommission und der Museumsgesellschaft, war der Initiator eines Liebhabertheaters etc. Erstaunlich ist diese Fülle der Tätigkeiten und die große Zahl wissenschaftlicher Arbeiten auch deshalb, weil Bartsch den größten Teil seines Lebens zumindest latent leidend war. Er hatte eine Lungenerkrankung, die immer wieder ausbrach, auch wenn sie zeitweise ausgeheilt schien. Bartsch hat sich in seiner schier unendlichen Arbeitsfähigkeit und mit einer grenzenlos scheinenden Lust an der Erschließung des Kosmos der mittelalterlichen Literatur nicht geschont; noch die heutige Germanistik profitiert davon: seinen Editionen verdankt sie den Zugang zu einer Reihe von Texten, die von ihm praktizierte Öffnung des Fachs für ein breiteres Publikum trug dazu bei, daß sich die Germanistik nicht in den Elfenbeinturm der .reinen' Philologie zurückzog.

13 Zum Verhältnis Germanistik - Schule vgl. Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts (Anm. 3), S. 41 Iff.; Uwe Meves, „Zum Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie: Die Periode der Lehrstuhlerrichtung (von ca. 1810 bis zum Ende der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts", in: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert (Anm. 6), S. 150-165.

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Wilhelm Dilthey ( 1 8 3 3 - 1 9 1 1 ) 1 Wilhelm Dilthey war kein Philologe, sondern Philosoph. Doch während er in seinem eigenen Fach erst spät Beachtung fand, galt er der Germanistik schon bei seinem Tod im Jahr 1911 als einer ihrer wichtigsten Erneuerer. Die geistesgeschichdiche Literaturwissenschaft sah ihn als den entscheidenden Vorläufer, dessen Beiträge zur Poetik und Hermeneutik, Literaturgeschichte und Wissenschaftslehre der philologisch festgefahrenen Germanistik des späten 19. Jahrhunderts einen philosophischen Ausweg gewiesen hätten. Diese Sichtweise wurde freilich weder der Philosophie Diltheys noch der Germanistik seiner Zeit gerecht. Bis heute fehlt eine umfassende Untersuchung der theoretischen und historischen Arbeiten Diltheys im Kontext der Literaturwissenschaft des Jahrhundertendes.1 Daß seit den 1830er Jahren der spekulative Idealismus in die Kritik und damit die deutsche Philosophie insgesamt in die Krise geriet, lag - neben der einsetzenden politischen Restauration und der wachsenden innerphilosophischen Opposition - in großem Maße an der Entwicklung der Wissenschaften seit dem Beginn des Jahrhunderts.2 Vor allem die Erfolge der Naturwissenschaften hatten das Ansehen der Naturphilosophie sichtlich schwinden lassen. Doch auch die historisch-philologischen Disziplinen entwickelten sich nach ihrer Emanzipation von der Philosophie zunehmend zu deren Konkurrenz. „Positive Forschung", bemerkte Dilthey mit Blick auf das geänderte Kräfteverhältnis zwischen der Philosophie und den Wissenschaften, „entscheidet die Probleme, über die früher die Geschichtsphilosophie spekulierte".3 Dilthey war der Auffassung, daß es sich die Philosophie in einer solchen Situation nicht mehr leisten konnte, die Resultate und Methoden der Wissenschaften zu ignorieren. Es schien ihm freilich zugleich erforderlich, die gebotene historisch-empirische Neubestimmung der Philosophie mit einer philosophischen Erneuerung der Wissenschaften von der Sprache, Geschichte und Gesellschaft zu verbinden. Diese Disziplinen hatten unter dem Einfluß der historischen Schule eine weitgehende Institutionalisierung und insbesondere in den Bereichen der Text- und Quellenkritik eine beachdiche Professionalisierung erreicht. Doch nach Dilthey waren sie so zwar den „philosophischen Strudeln" erfolgreich entflohen, liefen nun aber Gefahr, an die „Klippe 1 2 3

Der vorliegende Beitrag versucht Dilthey aus literaturwissenschaftlicher Perspektive zu porträtieren; dazu ist freilich eine Skizze der Entwicklung der Diltheyschen Philosophie erforderlich. Vgl. hierzu Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933, Frankfurt am Main 1983. Wilhelm Dilthey, Grundriß der allgemeinen Geschichte der Philosophie, hrsg. von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt am Main 1949, S. 233. Der Grundriß geht auf Vorlesungen zurück, die Dilthey seit 1885 hielt und bis 1905 immer wieder überarbeitete.

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[...] einer öden Empirie" zu geraten.4 Im Vergleich mit den Naturwissenschaften erschienen ihm die Geisteswissenschaften theoretisch noch unausgereift und darum praktisch oft folgenlos. In Übereinstimmung mit einer Reihe von Vertretern der historisch-philologischen Disziplinen trat Dilthey deshalb fur eine Grundlegung der Geisteswissenschaften ein, die deren Verwissenschaftlichung ermöglichen und so zugleich deren lebensweltliche Bedeutung erhöhen sollte. „Denn das Leben", so betonte er immer wieder, „verlangt gebieterisch eine Leitung durch den Gedanken." 5 Angeregt wurde dieses Vorhaben von den im westlichen Europa entstandenen empiristischen und positivistischen Philosophien. Den Arbeiten von Auguste Comte oder John Stuart Mill kam Dilthey zufolge das Verdienst zu, die Aufgabe einer Fundierung und Theoretisierung der historischen Disziplinen gestellt und zudem einige Ansätze zu ihrer Bewältigung geliefert zu haben. Aufgrund „der unter den Engländern und Franzosen heute herrschenden verwegenen wissenschaftlichen Baulust"6 fehlte es seines Erachtens aber sowohl dem Positivismus als auch dem Empirismus am Gespür fur die Vielfältigkeit der geschichdichen Wirklichkeit und mithin fiir die Eigenständigkeit der historischen Wissenschaften. Von den westeuropäischen Strömungen könne deshalb bloß der Anstoß zu einer Systematisierung der Tradition der historischen Schule ausgehen, welche die „gründlichere deutsche Philosophie" 7 noch zu leisten haben würde. ,,[D]ie gewonnenen Tatsachen müssen geordnet, zu Gesetzen erhoben werden und über allen Gesetzen ist dennoch die vernünftige Selbstbestimmung des Menschen unangetastet zu erhalten" 8 - diesem schon 1862 formulierten Vorhaben blieb Diltheys Denken zeit seines Lebens verpflichtet. Hartnäckig suchte er eine philosophisch besonnenere Grundlegung und Verwissenschaftlichung der historistisch geprägten Disziplinen zu entwickeln, als sie der Positivismus vorgelegt hatte. Eine Lösung dieser Aufgabe schien ihm nur durch eine umfassende Verbindung von Philosophie, Psychologie und Geschichte möglich. Daß eine solche Verbindung neben der Aussicht auf eine philosophische Fundierung der geschichdich-sprachlichen Fächer auch die Ge-

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Wilhelm Dilthey, „Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie" (1894), in: ders., Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens, hrsg. von Georg Misch, Leipzig, Berlin 1924 (Gesammelte Schriften 5), S. 139-240, hier S. 146. Wilhelm Dilthey, „Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik" (1887), in: ders., Abhandlungen zur Poetik, Ethik und Pädagogik, hrsg. von Georg Misch, Leipzig, Berlin 1924 (Gesammelte Schriften 6), S. 103-241, hier S. 189. Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegungfiir das Studium der Gesellschaft und der Geschichte (1883), hrsg. von Bernhard Groethuysen, 8. Aufl., Stuttgart, Göttingen 1979 (Gesammelte Schriften 1), S. 23. Wilhelm Dilthey, „Sigwarts Logik [Rez. C. von Sigwart, Logik]" (1881), in: ders., Grundlegung der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte. Ausarbeitungen und Entwürfe zum zweiten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften, hrsg. von Helmut Johach und Frithjof Rodi, Göttingen 1982 (Gesammelte Schriften 19), S. 392-397, hier S. 392f. Wilhelm Dilthey, „Der Mensch und die Zahlen [Rez. G. F. Kolb, Handbuch der vergleichenden Statistik der Völkerzustands- und Staatenkunde]" (1862), in: ders., Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Portraits und biographische Skizzen. Quellenstudien und Literaturberichte zur Theologie und Philosophie im 19. Jahrhundert, hrsg. von Ulrich Herrmann, Göttingen 1970 (Gesammelte Schriften 15), S. 134-137, hier S. 136.

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fahr einer historischen Relativierung der Philosophie beinhaltete, wurde zum bestimmenden Gedanken in Diltheys späteren Arbeiten: ,,[D]ie Relativität jeder Art von menschlicher Auffassung des Zusammenhanges der Dinge ist das letzte Wort der historischen Weltanschauung [...]. Die geschichtliche Weltanschauung ist die Befreierin des menschlichen Geistes von der letzten Kette, die Naturwissenschaft und Philosophie noch nicht zerrissen haben - aber wo sind die Mittel, die Anarchie der Überzeugungen, die hereinzubrechen droht, zu überwinden?"9

2 A m 19. November 1833 wurde Wilhelm Christian Ludwig Dilthey in Biebrich bei Wiesbaden geboren. D a aus der Familie seit einigen Generationen Pfarrer hervorgegangen waren und sein Vater das Amt des nassauischen Oberhofpredigers innehatte, lag es fur Dilthey nahe, sich nach der Reifeprüfung im Jahr 1852 in die Theologie einzuschreiben. 10 Neben diesem Studium, das er 1856 mit dem Staatsexamen abschloß, verfolgte Dilthey schon seit den ersten Semestern die Entwicklungen in der Philosophie und den historisch-philologischen Disziplinen. In Heidelberg begann er sich unter dem Einfluß Kuno Fischers eingehend mit der Philosophie und ihrer Geschichte zu befassen. In Berlin, wo Dilthey seit 1853 sein Studium fortsetzte, galt sein Augenmerk bald den Auseinandersetzungen in sämtlichen geisteswissenschaftlichen Fächern. Dilthey besuchte mit „großer Begeisterung" das Seminar Friedrich Adolf Trendelenburgs, 1 1 in dem sein Verständnis von Philosophie als einer empirisch orientierten Grundlegung der Wissenschaften entscheidend geprägt wurde. 1 2 Er hörte die philologischen Vorlesungen August Böckhs und lernte in den geschichtswissenschaftlichen Lehrveranstaltungen Leopold von Rankes einen der fuhrenden Vertreter der Tradition kennen, die - wie Dilthey anerkennend feststellte — für eine „Revolution in den historischen Wissenschaften" gesorgt hatte. 13 So sehr Dilthey und einige mit ihm befreundete Gelehrte die liberalistischen Überzeugungen und die wissenschaftlichen Ansprüche der historischen Schule unterstützten, so sehr drängten sie doch zugleich auf deren theoretische Weiterentwicklung. Mit dem Philosophen Moritz Lazarus und dem Sprachforscher Heymann Steinthal dachte er über die Möglichkeit nach, mit Hilfe einer an Johann Friedrich Herbart

9 Wilhelm Dilthey, „Vorrede" (1911), in: ders., Die geistige Welt (Anm. 4), S. 3-6, hier S. 6. 10 Zur Familie Dilthey vgl. Wolfgang Kellner, „Dilthey", in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 3, Berlin 1957, S. 722-723 sowie Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern. 1852-1870, hrsg. von Clara Misch, Leipzig, Berlin 1933, S. 294-304. Zitate aus diesem Band werden im folgenden mit der Sigle DjD und der Seitenangabe nachgewiesen. 11 DjD, S. 281 (1870). 12 Zu Trendelenburg vgl. Klaus Christian Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt am Main 1993, S. 2357. Der Einfluß der Philosophie Trendelenburgs auf diejenige Diltheys ist bis heute nicht hinreichend untersucht, einige Hinweise jedoch liefert Joachim Wach, Die Typenlehre Trendelenburgs und ihr Einfluß auf Dilthey, Tübingen 1926. 13 DjD, S. 88 (1859). —Zur historischen Schule vgl. allgemein Friedrich Jaeger und Jörn Rüsen, Geschichte des Historismus, München 1992.

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anschließenden Völkerpsychologie eine empirische Geschichtsphilosophie zu begründen. 1 4 In einem Kreis von jungen Akademikern, zu dem u.a. der Germanist Wilhelm Scherer, der Historiker Bernhard Erdmannsdörffer, der Kunsthistoriker Herman G r i m m oder der Philosoph Jürgen Bona Meyer zählten, setzte er sich mit den wissenschaftslogischen Vorschlägen des westeuropäischen Positivismus und Empirismus auseinander. 15 In den Berliner Jahren begann - angeregt durch den Theologen Ludwig Jonas schließlich auch Diltheys Auseinandersetzung mit Friedrich Schleiermacher, aus der sich fur sein Denken entscheidende Anregungen und fur sein Leben wichtige W e i chenstellungen ergeben sollten. 16 Dilthey entschied sich nun endgültig gegen eine theologische Karriere und beendete auch seine vorübergehende Lehrtätigkeit am Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin, um sich als freier Schriftsteller ganz seinen philosophischen und historischen Studien widmen zu können. 1 8 5 9 verfaßte er eine Preisschrift zu Schleiermachers Hermeneutik, schrieb seit 1 8 6 0 an dessen Lebensgeschichte 17 und gab seit 1 8 6 1 dessen Briefe heraus. 18 1 8 6 4 schließlich nutzte Dilthey seine umfangreichen Untersuchungen, um bei Trendelenburg mit einer Studie zur Schleiermacherschen Ethik zu promovieren. 1 9 Noch im selben Jahr habilitierte er sich mit der Abhandlung Versuch einer Analyse des moralischen Bewußtseins.20 Die Arbeit an der Biographie Schleiermachers und an einer Reihe von Porträts verschiedener Historiker und Dichter ließ Dilthey bald zu der Auffassung gelangen, 14 Vgl. Ingrid Belke, „Die Begründung der Völkerpsychologie in Deutschland. Eine Alternative zur etablierten Geschichtswissenschaft?", in: Rivista di Filosofia 73, 1982, S. 192-233 sowie Hans-Ulrich Lessing, „Dilthey und Lazarus", in: Dilthey-Jahrbuch 3,1985, S. 57-82. Dilthey stand dem von Lazarus initiierten Projekt schon früh skeptisch gegenüber, in einem um 1871 entstandenen Gutachten distanzierte er sich schließlich deutlich vom „Dilettantismus der Völkerpsychologie". Wilhelm Dilthey, „Entwurf zu einem Gutachten über die Gründung der Universität Straßburg" (1871), in: Die Erziehung. Monatsschrift fur den Zusammenhang von Kultur und Erziehung in Wissenschaft und Leben 16, 1941, S. 81-85, hier S. 83. 15 Vgl. Wilhelm Dilthey, „Wilhelm Scherer" (1886), in: ders., Vom Aufgang des geschichtlichen Bewußtseins. Jugendauftätze und Erinnerungen, hrsg. von Erich Weniger, Leipzig, Berlin 1936 (Gesammelte Schriften 11), S. 236-253, hier S. 243. Vgl. dazu allgemein Erich Rothacker, Einleitung in die Geisteswissenschaften, 2. Aufl., Tübingen 1930, S. 137-139 und Tom Kindt und Hans-Harald Müller, „Dilthey, Scherer, Erdmannsdörffer, Grimm - ein positivistisches Zeitschriftenprojekt in den 1860er Jahren", in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 22, 1999, S. 180-188. 16 Vgl. dazu Gunter Scholtz, „Dialektik und erkenntnistheoretische Logik. Schleiermacher und Dilthey", in: ders., Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Frankfurt am Main 1994, S. 235-257. 17 Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers, 2 Bde., hrsg. von Martin Redeker, Göttingen 1979 und 1985 (Gesammelte Schriften 13,1 und 13,2,14,1 und 14,2). Eine erste Erwähnung dieses Vorhabens findet sich in einem Brief Diltheys an seine Eltern, in dem er anmerkt, daß er noch lieber „eine Geschichte der romantischen Schule aus den ungedruckten Quellen schriebe". DjD, S. 137 (1861). Diltheys Preisschrift Das hermeneutische System Schleiermachers in Auseinandersetzung mit der älteren protestantischen Hermeneutik ist erstmals abgedruckt in: ders., Leben Schleiermachers (Anm. 17), Bd. 14/2, S. 595-787. 18 Aus Schleiermacher's Leben. Ln Briefen, Bde. 3 und 4, zum Druck vorbereitet von Ludwig Jonas, nach dessen Tode hrsg. von Wilhelm Dilthey, Berlin 1861 und 1863. 19 Wilhelm Dilthey, Deprincipiis ethices Schleiermacheri, Berlin 1864. Vgl. dazu Dilthey, Leben Schleiermachers (Anm. 17), Bd. 14/1, S. 340-357. 20 Wilhelm Dilthey, „Versuch einer Analyse des moralischen Bewußtseins" (1864), in: Aas., Abhandlungen zur Poetik, Ethik und Pädagogik (Anm. 5), S. 1-55.

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daß es um die Geschichtsschreibung der Zeit schlecht bestellt sei. „Die Geschichte des Geistes ist noch formlos",21 klagte er 1860 in seinem Tagebuch. Die Historiographie der Epoche wurde ihm zufolge durch zwei gleichermaßen unbefriedigende Richtungen bestimmt: Sie war entweder noch immer idealistischen Geschichtskonstruktionen verhaftet oder zu einem bloßen historischen Faktizismus herabgesunken. Dilthey plädierte demgegenüber fur eine Historiographie, welche die Geschichte der Philosophie, Literatur und Kultur nicht länger unter Vernachlässigung des umfassenden Zusammenhangs schreiben sollte, in dem sie entstanden waren. Er drängte zum einen darauf, bei der Beschäftigung mit Dichtern und Denkern neben ihren Werken auch Briefe, Nachlässe und Tagebücher zu berücksichtigen.22 Zum anderen war es seines Erachtens dringend geboten, den gesellschaftlichen Prozessen bei ideengeschichtlichen Rekonstruktionen mehr Beachtung zu schenken.23 Daß Dilthey eine diesen Vorstellungen entsprechende Geschichtsschreibung vor allem in biographischen Studien entwickelte und erprobte, hatte allerdings eher praktische als theoretische Gründe. Die Abwendung vom Idealismus hatte historiographisch zu einem Aufschwung monographischer Formen gefuhrt, deren empirische Orientierung Dilthey nachdrücklich begrüßte.24 Das von ihm selbst als „genetische Methode"25 bezeichnete Verfahren stand indes nicht für die Wahl einer historischen Darstellungsform, sondern für die Festlegung von methodischen Anforderungen: 26 Historiographie sollte zunächst höchsten philologischen Ansprüchen genügen, sie sollte Vollständigkeit des Materials anstreben und dieses mit den Mitteln der Kritik überprüfen. Im Leben Schleiermachers, so ließ Dilthey Grimm wissen, habe er versucht, „die Aufgabe des Geschichtschreibers der Philosophie in einer Weise zu lösen [...], in der sie bisher nicht gefaßt war: genetische Erklärung aus allen Elementen auf strenger exakter kritischer Grundlage". 27 Die Geschichtsschreibung dürfe sich darüber

21 DjD, S. 141 (1860). 22 Vgl. etwa Dilthey, Leben Schleiermachers (Anm. 17), Bd. 1, S. XLIII. Schon 1861 hatte Dilthey in diesem Sinn an Rudolf Haym geschrieben: „[D]as 1. Leben 2. Lehre hasse ich ohnehin". Briefe Wilhelm Diltheys an Rudolf Haym 1861-1873, mitgeteilt von Prof. Dr. Erich Weniger in Frankfurt am Main, Berlin 1936 (Abhandlungen der preußischen Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse 9), S. 8f. 23 In einem Brief von 1870 beschrieb Dilthey gegenüber Herman Grimm sein „methodisches Verfahren" als den Versuch, „die Faktoren der Gesellschaft und [...] die der Philosophie zu verküpfen". Wilhelm Dilthey an Herman Grimm, o.D., Dilthey-Arbeitsstelle Bochum. In einem Schreiben von 1880 forderte er Wilhelm Scherer auf, in dessen Literaturgeschichte „eine straffere Beziehung mit dem politisch-socialen Untergrund" herzustellen. Wilhelm Dilthey an Wilhelm Scherer, o.D., Scherer-Nachlaß, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. 24 Vgl. dazu Heinrich Kaulen, „Die literaturwissenschaftliche Monographie. Begriff, Entwicklung und Funktionswandel einer Darstellungsform", in: Geist, Geld und Wissenschaft, hrsg. von Peter J. Brenner, Frankfurt am Main 1993, S. 141-174; ferner Peter Uwe Hohendahl, Literarische Kultur im Zeitalter des Liberalismus 1830-1870, München 1985 sowie Jürgen Fohrmann, Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich, Stuttgart 1989. 25 DjD, S. 90 (1859). 26 Vgl. dazu etwa Wilhelm Dilthey, „Literarhistorische Arbeiten über das klassische Zeitalter unserer Dichtung" (1866), in: ders., Vom Aufgang des geschichtlichen Bewußtseins (Anm. 15), S. 196-204, hier S. 202. 27 Wilhelm Dilthey an Herman Grimm, Mai 1870, Dilthey-Arbeitsstelle Bochum.

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hinaus nicht mit der bloßen Auflistung von Tatsachen begnügen, sondern müsse sich um deren verallgemeinernde Auswertung bemühen. „An die Stelle der geistlosen Reproduktion", so forderte Dilthey im Anschluß an den Historiker Friedrich Christoph Schlosser, „soll Charakteristik treten". 2 8 Die Aufgabe einer solchen Charakteristik bestand fur ihn darin, den „leitenden Gedanken" einer Zeit, die „innere F o r m " eines Werkes, die „Weltanschauung" oder - wie er seit den 1870er Jahren sagte - das „Erlebnis" eines Dichters oder Denkers herauszuarbeiten. 29 D a er die Gefahr sah, daß sich in den geforderten generalisierenden Rekonstruktionen leicht „ein willkürliches Spiel mit Allgemeinbegriffen" treiben lasse, 30 mahnte er schließlich an, daß diese unter strenger methodischer Kontrolle empirisch fundiert werden müßten. In einer kritischen Notiz zum historiographischen Umgang mit der klassischen Literatur verlangte Dilthey dementsprechend nicht nur die „gründliche Überlieferung ihres wahren Gehalts", sondern forderte weiter: „Wir wollen die Verkettungen der Ursachen und Wirkungen, in welchen intellektuelle Vorgänge so gut verlaufen als die der politischen Historie, in einer lückenlosen Ordnung überblicken. Aufdeckung der kausalen Verknüpfung der Begebenheiten fordern wir auch in diesem Falle."31 Die vor dem Hintergrund dieser Vorstellungen seit den 1860er Jahren entstandenen Arbeiten zur Philosophie-, Literatur- und Kulturgeschichte hinterließen bei vielen Zeitgenossen einen so nachhaltigen Eindruck, daß Diltheys systematische Interessen lange Zeit unbeachtet blieben. 3 2 Selbst Jacob Burckhardt, der ihn während einer kurzen gemeinsamen Lehrtätigkeit in Basel kennenlernte, rühmte die „süperbe literarhistorische Ader", 3 3 nicht aber die ehrgeizigen theoretischen Pläne Diltheys. D a ß immer wieder - schon von Rudolf Haym und noch von Oskar Walzel 3 4 - das theoretische Potential von Diltheys historischen Studien hervorgehoben wurde, stand einer angemessenen Würdigung seiner philosophischen Ansprüche eher im Weg. Nahm Dilthey seine historischen Studien auch stets zum Anlaß für systematische 28 Wilhelm Dilthey, „Friedrich Christoph Schlosser" (1861), in: ders „Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts (Anm. 8), S. 37-52, hier S. 42; vgl. dazu auch D/D, S. 90 (1859). 29 Zu dem in diesem Sinne auf Wilhelm von Humboldt zurückgehenden Begriff der Charakteristik vgl. den Beitrag von Hans-Harald Müller im vorliegenden Band; zu den Aporien des Individuumbegriffs vgl. Christoph König, „Individualität, Autonomie, Originalität. Zur Rezeption Diltheys in den ersten Jahren der deutschen Vierteljahrsschrift", in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 67,1993, S. 197-220. 30 Dies warf Dilthey etwa Jacob Burckhardt in seiner Rezension von dessen Die Cultur der Renaissance in Italien vor. Dilthey, Vom Aufgang des geschichtlichen Bewußtseins (Anm. 15), S. 70-76, hier S. 75. 31 Dilthey, „Literarhistorische Arbeiten über das klassische Zeitalter" (Anm. 26), S. 198. 32 Zu Diltheys Ruf als „Geistesgeschichtler" vgl. Hans-Ulrich Lessing, „Dilthey als Historiker. Das Leben Schleiermachers als Paradigma", in .Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, hrsg. von Notker Hammerstein, Stuttgart 1988, S. 113-130, hier S. 114. 33 So Burckhardts Urteil über Dilthey in einem Gutachten für die Kieler Universität, das erfolglos dessen Wechsel von Basel nach Kiel zu verhindern versuchte, vgl. Herman Nohl, „Wilhelm Dilthey" (1957), in: ders., Die deutsche Bewegung. Vorlesungen und Aufsätze zur Geistesgeschichte von 1770-1830, hrsg. von Otto Friedrich Bollnow und Frithjof Rodi, Göttingen 1970, S. 298-309, hier S. 305. 34 Vgl. Rudolf Haym, „Rez. Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers" (1870), in: ders., Gesammelte Aufiätze, Berlin 1903, S. 355-407 sowie Oskar Walzel, „Rez. Wilhelm Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung. Dritte Auflage", in: Euphorion 19, 1912, S. 365-369.

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Reflexionen über die Probleme der Poetik, Historik und Wissenschaftstheorie, so war er doch zugleich davon überzeugt, daß sich auf diesem Weg eine eigenständige philosophische Grundlegung der historiographischen Arbeit zwar vorbereiten oder ergänzen, nicht aber ersetzen lasse.35 Seit der Studienzeit verfolgte Dilthey darum das Ziel, der Literaturgeschichte durch eine Poetik und den historisch-philologischen Disziplinen insgesamt durch eine Logik eine feste Grundlage zu geben. 3 Nachdem Dilthey zwei Jahre in Berlin als Privatdozent gelehrt hatte, erhielt er 1867 in Basel seine erste Professur. Kaum ein Jahr später folgte er einem Ruf an die Kieler Universität, die Dilthey jedoch schon 1871 wieder verließ, um in Breslau die Nachfolge von Chrisdieb Julius Braniß anzutreten. 36 Hier fand er dank der Bekanntschaft mit dem Grafen Paul York von Wartenburg einen steten anregenden Austausch, wie ihn Dilthey in seiner Berliner Zeit kennengelernt hatte. 37 Diltheys Jahre in Basel und Kiel standen im Zeichen weiterer — nun insbesondere theoretischer - Vorstudien fïir sein Unternehmen einer Begründung der Geisteswissenschaften. Er suchte seine geschichtlichen Forschungen durch die Beschäftigung mit den Naturwissenschaften zu ergänzen, arbeitete sich mit Hilfe der Schriften von Johannes Müller und Hermann Helmholtz 38 in weite Gebiete der Physiologie und Psychophysik ein und machte sich in den Lehrveranstaltungen des berühmten Baseler Naturforschers Wilhelm His mit der Technik der Tierpräparation und den aktuellen Diskussionen der Neurophysiologie vertraut. Vor allem aber setzte er sich mit der zeitgenössischen Psychologie auseinander, die sich zunehmend von der Philosophie löste.39 Dilthey teilte die verbreitete Überzeugung, daß der Psychologie bei der Erneuerung der Philosophie und der Begründung der geisteswissenschaftlichen Disziplinen eine zentrale Funktion zukomme, 40 er hielt jedoch Lazarus', Friedrich Eduard

35 Vgl. Frithjof Rodi, „Pragmatische und universalhistorische Geschichtsbetrachtung. Anmerkungen zu Diltheys Skizzen einer Historik", in: Dilthey und Yorck. Philosophie und Geisteswissenschafien im Zeichen von Geschichtlichkeit und Historismus, hrsg. von Jerzy Krakowski und Gunter Scholtz, Wroclaw 1996, S. 119-134. 36 Vgl. dazu auch Gunter Scholtz, „Philosophiegeschichte und Geschichtsphilosophie: Braniß und Dilthey", in: Dilthey und York (Anm. 35), S. 179-194. 37 Vgl. Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und ¿lem Grafen York von Wartenburg. 1877-1897, hrsg. von Sigrid von der Schulenburg, Halle an der Saale 1923. Kurz nach dem Antritt der Professur in Breslau hatte Dilthey die Zeit allerdings noch als seine „Kriegsjahre" bezeichnet und gegen die „katholisierende Versumpfung" gewettert. Briefe Wilhelm Diltheys an Rudolf Haym (Anm. 22), S. 34. 38 Zum Zusammenhang vgl. Hans-Ulrich Lessing, „Dilthey und Johannes Müller", in: Johannes Müller und die Philosophie, hrsg. von Michael Hagner und Bettina Wahrig-Schmidt, Berlin 1992, S. 239-254 und ders., „Dilthey und Helmholtz. Aspekte einer Wirkungsgeschichte", in: Deutsche Zeitschrift fur Philosophie ¿ii, 1995, S. 819-833. 39 Zur Geschichte der Psychologie vgl. Klaus Sachs-Hombach, Philosophische Psychologie im 19. Jahrhundert. Entstehung und Problemgeschichte, München 1993 sowie Nicole D. Schmidt, Philosophie und Psychologie. Trennungsgeschichte, Dogmen und Perspektiven, Reinbek bei Hamburg 1995. 40 Frühe Hinweise auf diese Überzeugung finden sich in DjD, S. 80f. (1859) und in Wilhelm Dilthey, „Carl Immanuel Nitzsch zum 16. Juni 1860", in: Dilthey, Vom Aufgang des geschichtlichen Bewußtseins (Anm. 15), S. 39-56, hier S. 48.

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Benekes oder Rudolph Hermann Lotzes Versuche einer Umsetzung dieser Idee für unzureichend. Nun wolle er - wie er aus Basel an Scherer schrieb - endlich versuchen, „diesen letzten großen Block, der mir an vielen Stellen die Aussicht versperrte, gleich wenigstens in eine rollende Bewegung zu bringen".41 In Breslau gelangten Diltheys psychologische Studien zwar noch zu keinem befriedigenden Abschluß, er gewann aber doch soviel Klarheit über den Zuschnitt der Psychologie als Fundamentaldisziplin der geschichtlich-sprachlichen Wissenschaften, daß er sich an erste musterhafte Ausarbeitungen seines ehrgeizigen Vorhabens machte.42 In der 1878 erschienenen Abhandlung Uber die Einbildungskraft der Dichter, die er in den folgenden Jahren zu der umfangreichen Untersuchung Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetík erweiterte, suchte Dilthey seine Überlegungen zur Begründung der historischen Disziplinen am Beispiel einer Fundierung der Literarhistorie zu erproben.43 In der Situation der Literaturgeschichte nämlich spiegelte sich fur ihn diejenige der historisch-philologischen Wissenschaften überhaupt: Sie war durch die historische Schule zu einem empirisch arbeitenden Forschungsbereich entwickelt worden und hatte die traditionellen Vorstellungen über das Wesen der Dichtung und ihrer Gattungen, die durch die aristotelische Poetik und die idealistische Ästhetik geprägt worden waren, fragwürdig werden lassen. Das hatte—wie Dilthey klagte - zu einem Chaos „auf dem weiten Gebiete der Dichtung in allen Ländern" gefuhrt: „In dieser Anarchie ist der Künstler von der Regel verlassen, der Kritiker zurückgeworfen auf sein persönliches Gefühl." 44 Einen Ausweg aus dieser Lage schien Dilthey das Projekt einer induktiven Poetik zu weisen, das im Austausch mit Scherer und York Gestalt gewann und in der Folgezeit durch eine Reihe von Dichtungslehren aufgegriffen wurde.45 Die induktive Poetik sollte die Erfahrung der Historisierung mit dem Anspruch der Orientierung zu vermitteln versuchen, indem sie die normative Beurteilung literarischer Werke zugunsten der deskriptiven Bestimmung ihrer psychischen Entstehungsbedingungen aufgab. Durch eine Untersuchung der dichterischen Einbildungskraft, die historisch-vergleichende und psychologisch-beschreibende Verfahren verband, hoffte Dilthey zu Gesetzmäßigkeiten der Phantasietätigkeit und damit zu einer Richtschnur der Produktion und Rezeption von Literatur zu gelangen. Als eine auf „empirischer Kausalerkenntnis" 41 DjD, S. 233 (1867). 42 Vgl. dazu etwa Wilhelm Dilthey an Wilhelm Scherer, 20.12.1875, Dilthey-Arbeitsstelle Bochum. 43 »Die Poetik [...] ist die wahre Einleitung in die Geschichte der schönen Litteratur, wie die Wissenschaftslehre in die Geschichte der geistigen Bewegungen". Wilhelm Dilthey, „Ueber die Einbildungskraft der Dichter. Mit Rücksicht auf: Herman Grimm, Goethe", in: Zeitschriftfur Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 10, 1878, S. 42-104, hier S. 57. Die Überlegungen dieser Abhandlung gingen auf den 1866 erschienenen Aufsatz über Phantastische Gesichtserscheinungen von Goethe, Tieck und Otto Ludwig zurück, vgl. Dilthey, Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts (Anm. 8), S. 93-101. 44 Dilthey, „Die Einbildungskraft des Dichters" (Anm. 5), S. 103. 45 Vgl. dazu allgemein Kurt Müller-Vollmer, Towards a Phenomenological Theory of Literature. A Study of Wilhelm Diltheys Poetik, The Hague 1963. Zur Vorgeschichte der empirischen Poetik vgl. die Hinweise bei Karol Sauerland, Diltheys Erlebnisbegriff. Entstehung Glanzzeit und Verkümmerung eines literaturhistorischen Begriff, Berlin, New York 1972, S. 50-60. Zu den Poetiken der Folgezeit vgl. Klaus Weimar, „Die Begründung der Literaturwissenschaft", in: Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung, hrsg. von Jörg Schönen, Stuttgart, Weimar 2000 (im Druck). Eine eingehende Untersuchung des Projekts der induktiven Poetik im ausgehenden 19. Jahrhunden fehlt bislang.

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beruhende „moderne Erfahrungswissenschaft" sollte die Poetik die Literaturgeschichte begründen und die einstige Orientierungsfunktion zurückgewinnen. 46 Gestützt auf Selbstzeugnisse von Schriftstellern bemühte sich Dilthey systematisch zu rekonstruieren, wie die Phantasie „aus Erfahrungselementen [...] einen Typus von Person oder Handlung hervorbringt, der über die Erfahrung hinausgeht und durch den wir diese doch besser begreifen".47 Er gelangte dabei zu drei zentralen Typen der poetischen Transformation von Erfahrungsbildern, den Verfahren der „Ausschaltung", der „Steigerung" und der „kernhaften Entfaltung" . 48 Aus der Anwendung dieser Transformationen auf das Erlebnismaterial ergab sich nach Dilthey allerdings nur unter zwei Bedingungen die für Dichtung kennzeichnende wirklichkeitserhellende Überschreitung der Wirklichkeit. Um eine solche zu erreichen, habe die dichterische Einbildungskraft zum einen universell geltenden poetischen Normen zu folgen. Seien diese künstlerischen „Gesetze", die „unabhängig vom Wechsel der Zeit den ästhetischen Eindruck wie das dichterische Schaffen bestimmen",49 von der traditionellen Ästhetik schlicht postuliert worden, so gelte es sie im Rahmen der induktiven Poetik auf dem Weg einer psychologischen Analyse zu ermitteln oder zumindest zu begründen. Zum anderen suchte Dilthey die poetische Transzendierung der Realität mit Hilfe einer umfassenden Bewußtseinstheorie zu erläutern. Grundidee dieser Theorie bildete das Konzept des „erworbenen Zusammenhangs des Seelenlebens", unter dem Dilthey eine im Lebensprozeß entstehende psychische Totalität miteinander verschränkter Vorstellungen, Wertbestimmungen und Zwecksetzungen verstand.50 Eine dichterische Umgestaltung von Erfahrungen erforderte nach Dilthey einen in seiner Verfassung exzeptionellen und in seiner Ganzheit aktiven „erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens". Denn Dichtung kennzeichne im Gegensatz zu Träumen oder Wahnzuständen, daß in ihr die Überschreitung der Wirklichkeit an die „allen gesunden Personen gemeinsamen Maßstäbe des Wirklichen" gebunden bleibe.51 Durch diese Bindung werde Poesie zu einem „Organ des Weltverständnisses".52 Diltheys Beiträge zur Modernisierung der Poetik ließen offen, wie aus den vorgenommenen psychologischen Rekonstruktionen die erhoffte praktische Orientierung erwachsen sollte. Vor allem blieb in ihnen unklar, wie Dilthey den kausalgenetischen Nachvollzug der Entstehung literarischer Werke mit der interpretativen Bestimmung ihrer Bedeutsamkeit verbinden wollte, was sich in einer Doppeldeutigkeit des Erlebnis-Begriffs bemerkbar machte. Unter das Konzept des Erlebnisses fielen fìir Dilthey einerseits konkrete biographische Erfahrungen von Schriftstellern, die diesen „einen 46 47 48 49 50

Dilthey, „Die Einbildungskraft des Dichters" (Anm. 5), S. 123. Ebd., S. 139. Vgl. dazu ebd., S. 172-176. Ebd., S. 157. Vgl. dazu Wilhelm Dilthey, „Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn" (1886), in: ders., Die geistige Welt (Anm. 4), S. 90-102, hier S. 94f. 51 Ebd., S. 94. 52 Dilthey, „Die Einbildungskraft des Dichters" (Anm. 5), S. 116. Vgl. dazu auch Wilhelm Dilthey, „Goethe und die dichterische Phantasie", in: ders., Das Erlebnis und die Dichtung, Lessing - Goethe Novalis - Hölderlin, Leipzig 1906, S. 137-200, hier S. 159 sowie Wilhelm Dilthey, „Das Wesen der Philosophie" (1907), in: ders., Die geistige Welt (Anm. 4), S. 339-416, hier S. 394, wo Dichtung als „Organ des Lebensverständnisses" charakterisiert wird.

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neuen Z u g des Lebens" 5 3 offenbarten und so Entstehung und Gestaltung eines dichterischen W e r k e s bestimmten. Andererseits jedoch bezog sich Dilthey mit d e m Begriff a u f die in solchen lebensgeschichdichen M o m e n t e n in den Blick gekommenen Daseinsmerkmale selbst; „Erlebnis" stand mithin zugleich fur Grundüberzeugungen von Dichtern oder dominante Inhalte ihrer W e r k e . 5 4 A u c h in d e m unvermittelten N e b e n einander von psychologischen und hermeneutischen Positionen sollten sich Diltheys Überlegungen zur Poetik als Modell fur seine Grundlegung der Geisteswissenschaften erweisen.

4 1 8 8 2 wurde Dilthey zum Ordinarius an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität berufen. M a g dieser R u f rückblickend auch wie der krönende Abschluß einer fur das ausgehende 1 9 . Jahrhundert exemplarischen akademischen Musterkarriere erscheinen, 5 5 so hatte Dilthey es d o c h vor allem der tatkräftigen Unterstützung seiner dortigen Freunde Scherer und Heinrich von Treitschke zu verdanken, daß er d e m nach nur einjähriger Lehrtätigkeit verstorbenen Lotze nachfolgen konnte. 5 6 Dilthey hatte zwar m i t seinem Einleitungsband der Lebensgeschichte Schleiermachers einige Beachtung gefunden, er war aber als systematischer Philosoph n o c h kaum in Erscheinung getreten. 5 7 In Berlin sollte sich das bald ändern. K a u m ein J a h r saß Dilthey a u f d e m einstigen Lehrstuhl Hegels, als er mit der Publikation der Einleitung

in die

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ein Vorhaben in die T a t umzusetzen begann, das er seit den späten 1 8 5 0 e r Jahren als

53 Wilhelm Dilthey, „Gotthold Ephraim Lessing", in: ders., Das Erlebnis und die Dichtung (Anm. 52), S. 1-136, hier S. 46 u.ö. 54 Entsprechend bestimmte Dilthey etwa Goethes Erlebnis als „das Streben des Individuums nach unbegrenzter Entfaltung in Erkenntnis, Genuß und Tätigkeit". Dilthey, „Die Einbildungskraft des Dichters" (Anm. 5), S. 217. Zur unausgetragenen Spannung von Psychologie und Hermeneutik bei Dilthey vgl. auch Heinrich Anz, „Hermeneutik der Individualität. Wilhelm Diltheys hermeneutische Position und ihre Aporien", in: Hermeneutische Positionen. Schleiermacher - Dilthey - Heidegger - Gadamer, hrsg. von Hendrik Birus, Göttingen 1982, S. 59-88 sowie Hans-Georg Gadamer, „Wilhelm Dilthey nach 150 Jahren. (Zwischen Romantik und Positivismus. Ein Diskussionsbeitrag)", in: Dilthey und die Philosophie der Gegenwart, hrsg. von Karl-Otto Apel, Freiburg, München 1985, S. 157-182. 55 Vgl. dazu Marita Baumgarten, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert. Zur Sozialgeschichte deutscher Geistes- und Naturwissenschaftler, Göttingen 1997. Mit Baumgartens Begriffen läßt sich Diltheys akademischer Werdegang als Umsetzung einer idealtypischen Laufbahn über eine Universität außerhalb Preußens (Basel), eine „Einstiegsuniversität" (Kiel) und eine „Durchgangsuniversität" (Breslau) auf eine „Endstationsuniversität" (Berlin) beschreiben. 56 Zu Diltheys Berliner Jahren vgl. allgemein Volker Gerhardt, Reinhard Mehring und Jana Rinden, Berliner Geist. Eine Geschichte der Berliner Universitätsphilosophie bis 1946. Mit einem Ausblick auf die Gegenwart der Humboldt-Universität, Berlin 1999, vor allem S. 135-224. Zur Berufung Diltheys vgl. ferner Ulrich Jahnke, „Promotor des Fortschritts!? Friedrich Althoff und die deutsche Universitätspsychologie", in: Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter. Das .System Althoff in historischer Perspektive, hrsg. von Bernhard vom Brocke, Hildesheim 1991, S. 307-336. 57 Für die meisten Zeitgenossen sei er, so klagte Dilthey noch kurz vor seiner Berufung gegenüber Scherer, „nun einmal schlechterdings ein Romantiker". Wilhelm Dilthey an Wilhelm Scherer, o.D. [1882], Scherer-Nachlaß, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Dieser Ruf verfolgte Dilthey seit dem Erscheinen seines Schleiermacher-Buches, vgl. dazu vor allem DjD, S. 289 (1870).

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drängendste Aufgabe der Philosophie angesehen hatte - das Projekt einer philosophischen Fundierung der historisch-philologischen Disziplinen.58 Durch eine Grundlegung der Geisteswissenschaften sollte dem nachidealistischen Geltungsverlust der Philosophie und der lebenspraktischen Bedeutungslosigkeit der historisch-philologischen Disziplinen gleichermaßen ein Ende gesetzt werden. Dilthey hoffte, daß sich auf dem Weg einer philosophischen Fundierung auch in den geschichtlich-sprachlichen Wissenschaften die umfassende Theoretisierung und damit der praktische Erfolg erreichen lasse, die den Naturwissenschaften seit den Grundlegungsversuchen von Bacon und Kant zuteil geworden seien. Die Philosophie solle dabei zugleich zu einer Reflexionsdisziplin entwickelt werden, die „in der Wechselwirkung mit den Einzelwissenschaften" ihre Gestalt und ihre Berechtigung gewinne.59 Mit der Einleitung legte Dilthey die ersten beiden von sechs geplanten Büchern seiner Begründung der Geisteswissenschaften vor, die er durch allgemeine Studien zur Erkenntnistheorie und Logik sowie konkrete Untersuchungen zur Methodologie und Geschichte der historisch-philologischen Disziplinen vollenden wollte.60 Daß es Dilthey dabei nicht allein um eine Bestimmung der Prinzipien und Methoden der geschichtlich-sprachlichen Wissenschaften ging, machte der Begriff der „Kritik der historischen Vernunft" deutlich, mit dem er sein Projekt wiederholt charakterisierte. Dilthey wollte die Vernunft nicht nur in ihrem Umgang, sondern viel grundlegender in ihrem Zusammenhang mit der Geschichte betrachten, als gebunden an den handelnden „ganzen Menschen", in dem „Wollen, Fühlen und Vorstellen" eng miteinander verknüpft seien.61 Entsprechend deutlich fiel Diltheys Abgrenzung von den erkenntnistheoretischen Versuchen der philosophischen Tradition aus: „In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruierten, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit." 62 In seinem - wie es im Untertitel der Einleitung hieß - Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und Geschichte beschränkte sich Dilthey allerdings im wesentlichen auf einen Aufriß seines ambitionierten Projekts, indem er die Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften abzugrenzen und in ihrem Aufbau und Zusammenhang darzustellen versuchte. Die Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften gründete fur Dilthey in zwei grundlegenden menschlichen Zugangsweisen zur Welt. Während es den historisch-philologischen Fächern darum gehe, die Wirklichkeit zugleich in kognitiver,

58 DjD, S. 80 (1859). Zu diesem Plan vgl. auch Wilhelm Dilthey, „Geschichte und Wissenschaft [Rez. H. Th. Buckle, Geschichte der Civilisation in England]" (1862), in: ders., Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Auftätze und Rezensionen aus Zeitungen und Zeitschriften 1859-1874, hrsg. von Ulrich Hermann, Göttingen 1972 (Gesammelte Schriften 16), S. 100-106, hier S. 105 sowie Briefe Wilhelm Diltheys an Bernhard und Luise Scholz. 1859-1864, mitgeteilt von Sigrid von der Schulenburg, Berlin 1933 (Sonderausgabe aus den Sitzungsberichten der preußischen Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse 10), S. 58. 59 Dilthey, „Entwurf zu einem Gutachten" (Anm. 14), S. 83. 60 Vgl. hierzu Hans-Ulrich Lessing, Die Idee einer Kritik der historischen Vernunft. Wilhelm Diltheys erkenntnistheoretisch-logisch-methodologische Grundlegung der Geisteswissenschaften, Freiburg, München 1984. 61 Dilthey, Einleitung (Anm. 6), S. XVIII. 62 Ebd.

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affektiver und voluntativer Hinsicht - also durch „innere Erfahrung" - zu erfassen, würden die Naturwissenschaften das ursprünglich vielschichtige Weltverhältnis des Menschen auf einen durch Wahrnehmungen und Vorstellungen vermittelten Wirklichkeitszugang - auf „äußere Erfahrung" - beschränken. Die klassische Formulierung dieser Differenz und ihrer Implikationen lieferte Dilthey in seinen 1894 erschienenen Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, in denen er die Überlegungen der Einleitung weiterführte: „Nun unterscheiden sich von den Naturwissenschaften die Geisteswissenschaften dadurch, daß jene zu ihrem Gegenstand Tatsachen haben, welche im Bewußtsein als von außen, als Phänomene und einzeln gegeben auftreten, wogegen sie in diesen von innen, als Realität und als ein lebendiger Zusammenhang originaliter auftreten. Hieraus ergibt sich fur die Naturwissenschaften, daß in ihnen nur durch ergänzende Schlüsse, vermittels einer Verbindung von Hypothesen, ein Zusammenhang der Natur gegeben ist. Für die Geisteswissenschaften folgt dagegen, daß in ihnen der Zusammenhang als ein ursprünglich gegebener überall zugrunde liegt. Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir." 63

Eine entscheidende Funktion kam in Diltheys Überlegungen zur Begründung der Geisteswissenschaften der „beschreibenden Psychologie" zu, die er seit den 1870er Jahren in Abgrenzung von der zunehmend naturwissenschaftlich ausgerichteten psychologischen Forschung entwickelt hatte.64 Dilthey verstand sie als „erste und elementarste unter den Einzelwissenschaften des Geistes",65 die ausgehend von der erlebten Ganzheit des menschlichen Seelenlebens durch Beschreibung, Zergliederung und Vergleich dessen feste Bestandteile und regelmäßigen Zusammenhänge zu bestimmen hatte. Auf diesem Weg hoffte er nicht allein, die Untersuchung von Individuen als den elementaren Einheiten der historischen Welt systematisieren zu können; die deskriptive Psychologie sollte so zugleich die Grundlagen der Erforschung komplexer geschichtlich-gesellschaftlicher Wirklichkeiten schaffen. Dilthey unterschied dabei zwischen „Kultursystemen" wie der Wissenschaft, der Kunst oder der Religion, die sich auf der Grundlage gleichartiger Bedürfnisse interagierender Individuen ausbilden, und der „äußeren Organisation der Gesellschaft" wie Verbänden, in denen sich gemeinsame Zwecke in institutionellen Strukturen niederschlagen. Das Diltheysche System der Geisteswissenschaften umfaßte folglich die Basisdisziplin Psychologie, die Wissenschaften der „Kultursysteme" und die der „äußeren Organisation der Gesellschaft".

63 Dilthey, „Ideen" (Anm. 4), S. I43f. In der Einleitung hatte Dilthey noch etwas weniger pointiert formuliert: Der Gegenstand der Geisteswissenschaften „setzt sich aus gegebenen, nicht erschlossen Einheiten zusammen, welche uns von innen verständlich sind, zusammen; wir wissen, verstehen hier zuerst, um allmählich zu erkennen". Dilthey, Einleitung (Anm. 6), S. 109. 64 Dilthey unterschied schon früh zwischen einer beschreibenden und einer erklärenden Psychologie, hielt die beiden Ansätzen zunächst aber lange Zeit für kompatibel, vgl. etwa Wilhelm Dilthey, „Schleiermachers Psychologie [Rez. F. Schleiermacher, Sämdiche Werke 3 Abt., Bd. 4: Psychologie]" (1862), in: ders., Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts (Anm. 58), S. 370-373. 65 Dilthey, EinleitungiAnm. 6), S. 33. - Auf eine Formulierung aus Kants Schrift Metaphysische Anfangsgrände der Naturwissenschaft anspielend vermutete Dilthey in den Ideen: Die beschreibende und zergliedernde Psychologie „wird die Grundlage der Geisteswissenschaften werden, wie die Mathematik die der Naturwissenschaften ist". Dilthey, „Ideen" (Anm. 4), S. 193.

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Auch wenn sich Dilthey durch seine Konzeption einer deskriptiven Psychologie deutlich von unbedachten Übertragungen naturwissenschaftlicher Ansätze auf die geisteswissenschaftlichen Fächer absetzte, wie sie vom westeuropäischen Positivismus angeregt worden waren, so trat er doch weiterhin für die Verbindung der Grundlegung mit einer Verwissenschaftlichung der historisch-philologischen Disziplinen ein. In ausdrücklicher Abgrenzung von einer „zweideutigen und subjektiven Psychologie des Lebens"66 stellte Diltheys geisteswissenschaftliche Psychologie einen empiristischen Ansatz dar, der auf die induktive Bestimmung psychischer und sozialer Gesetzmäßigkeiten abzielte. „Gelänge es", so faßte Dilthey sein Vorhaben 1894 noch einmal zusammen, „eine objektive, das ganze Seelenleben umfassende zuverlässige Psychologie herbeizuführen, so würde eine solche, zusammen mit den Erfahrungswissenschaften von den Systemen der Kultur und von der Organisation der Gesellschaft, dem Streben des philosophischen Geschichtsschreibers nach tieferem Kausalzusammenhang der Historie die Grundlage geben."67 Mit der Berufung nach Berlin, der 1887 die Aufnahme in die Preußische Akademie der Wissenschaften folgte, begann Dilthey sich kontinuierlich als systematischer Philosoph zu profilieren. Daneben erwies er sich zunehmend als geschickter Wissenschaftspolitiker. Nicht zuletzt dank seiner guten Beziehungen zum preußischen Kultusministerium und zu dessen mächtigem Universitätsreferenten Friedrich Althoff68 gelang es ihm immer wieder, seinen Vorstellungen von der Aufgabe der Philosophie und der Struktur der Disziplinen auch institutionell Geltung zu verschaffen. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür lieferte der Streit um die Nachfolge Eduard Zellers und die Besetzung eines neuen philosophischen Lehrstuhls mit psychologischer Ausrichtung im Jahr 1893. Mit dem vor allem historisch arbeitenden Friedrich Paulsen und dem fur eine moderate Variante der experimentellen Psychologie stehenden Carl Stumpf vermochte Dilthey die beiden Kandidaten duchzusetzen, die eine Entwicklung der philosophischen Fakultät in seinem Sinne verbürgten. „Stumpf kommt und Paulsen wird Ordinarius: mein Eingreifen", so erstattete Dilthey seinem Freund York zufrieden Bericht, „hat gänzliche naturwissenschaftliche Radicalisierung der Philosophie hier verhütet."69 5 Wie die Biographie Schleiermachers und das Projekt einer induktiven Poetik kam auch Diltheys Grundlegung der Geisteswissenschaften über umfangreiche Entwürfe und Vorarbeiten nicht hinaus. Das lag nicht zuletzt darin begründet, daß Diltheys Versuch einer Verknüpfung von Geschichte und Philosophie zu einem steten Wechsel

66 Ebd., S. 146. 67 Ebd., S. 191f. 68 Vgl. dazu Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen York (Anm. 37), S. 78 und S. 171; ferner Ulrich Sieg, „Im Zeichen der Beharrung. Althoffs Wissenschaftspolitik und die deutsche Universitätsphilosophie", in: Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter (Anm. 56), S. 287-306, hier S. 288. 69 Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen York (Anm. 37), S. 165.

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von historischen und systematischen Studien führte, den er zu keinem Abschluß zu bringen vermochte. Wichtiger aber war, daß der Diltheyschen Grundlegung der Geisteswissenschaften seit den 1890er Jahren konkurrierende Projekte der Erkenntnis· und Wissenschaftsbegründung gegenüberstanden, die sich ausdrücklich gegen psychologische Fundierungsversuche wandten. Edmund Husserls Logische Untersuchungen, aber auch die Schriften der südwestdeutschen Neukantianer Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert70 trugen wesentlich dazu bei, daß Dilthey seine Überlegungen zur Literaturgeschichtsschreibung, Poetik und Logik seit der Jahrhundertwende einer kritischen Revision zu unterziehen begann.71 Einen Niederschlag fand diese Revision in der 1910 erschienenen Studie zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in der Dilthey die historisch-philologischen Disziplinen in theoretischer und historischer Hinsicht noch einmal grundlegend zu charakterisieren versuchte. Er ging dabei weiterhin davon aus, daß die geisteswissenschaftlichen Fächer durch ein besonderes Verhältnis zwischen Erkenntnissubjekt und -objekt gekennzeichnet seien, das er nun auf die Formel „Leben erfaßt hier Leben" brachte72 und als den Prozeß von „Leben, Ausdruck und Verstehen" beschrieb.73 Nach wie vor verstand Dilthey die Naturwissenschaften als erklärende Fächer, in denen sich Gegenstand und Verfahren durch ein Absehen von Werten und Zwecken ergeben, und die Geisteswissenschaften als verstehende Disziplinen, die es in Verlängerung der alltäglichen Lebenserfahrung mit Zusammenhängen aus kognitiven, emotionalen und volitionalen Aspekten zu tun haben. Zugleich jedoch bestimmte er den Begriff des Verstehens neu. „Das Verstehen", so hieß es vca. Aufbau, „ist nicht psychologische Erkenntnis. Es ist der Rückgang auf ein geistiges Gebilde von einer ihm eigenen Struktur und Gesetzmäßigkeit."74 Hatte Dilthey in seinen frühen Arbeiten „Verstehen" im wesentlichen als Nachvollzug subjektiver Sinngebungen charakterisiert, so faßte er es in seinem Spätwerk vor allem als Bestimmung der gleichsam objektiven Bedeutungsgehalte von Ausdrucksgebilden auf. Dieser Schritt stellte eine wichtige Erweiterung von Diltheys zuvor psychologisch zugespitztem hermeneutischen Ansatz, jedoch keine Kehrtwendung seiner Philosophie dar.75 So wenig Dilthey vor der Jahrhundertwende eine rein psychologische Hermeneutik vertreten hatte, so

70 Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen (1900/01), Tübingen 1913, Wilhelm Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft, Straßburg 1894 oder Heinrich Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Freiburg im Breisgau, Leipzig, Tübingen 1899. 71 Die Neubestimmung der Literaturgeschichtsschreibung wird etwa in den Änderungen von Das Erlebnis und die Dichtung deudich, die Dilthey anläßlich der 1910 erschienenen zweiten Auflage vornahm; die Revision der Poetik kommt in den nach 1908 entstandenen Entwürfen zur Überarbeitung früherer Überlegungen zum Ausdruck, vgl. Dilthey, Abhandlungen zur Poetik, Ethik und Pädagogik (Anm. 5), S. 307-321. Zu Diltheys Neuorientierung nach der Jahrhundertwende vgl. allgemein Rudolf A. Makkreel, Dilthey: Philosoph der Geisteswissenschaften, Frankfurt am Main 1991. 72 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, hrsg. von Bernhard Groethuysen, Leipzig 1927 (Gesammelte Schriften 7), S. 136. 73 Ebd., S. 87 u.ö. 74 Ebd., S. 85. 75 Dilthey vollzog mit dieser Neugewichtung auch keine Umorientierung von Schleiermachers psychologischer za dessen grammatischer Auslegung-zu diesen Begriffen vgl. Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, hrsg. und eingeleitet von Manfred Frank, 5. Aufl., Frankfurt am Main 1993.

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wenig erschien es ihm nach 1900 möglich, auf die deskriptive Psychologie in der geisteswissenschaftlichen Arbeit verzichten zu können. 76 Dilthey suchte bis zu seinem T o d eine konsequente Historisierung der Philosophie mit einer philosophischen Fundierung der Historiographie zu verbinden. 77 Durch eine solche Verbindung glaubte er, mit der Wissenschaftlichkeit auch die lebensweltliche Bedeutung der Philosophie und der Geisteswissenschaften erhöhen zu können. Seine historischen und systematischen Arbeiten sollten so zu einer Entwicklung beitragen, der sich Dilthey seit seinen frühesten philosophischen Überlegungen verpflichtet gefühlt hatte: „Die Erfahrungswissenschaften der Natur haben die äußere Welt umgestaltet, und nun ist die Weltepoche angebrochen, in welcher die Wissenschaften der Gesellschaft auf diese selbst steigenden Einfluß gewinnen." 78 6 Wilhelm Dilthey starb am 30. September 1911. Eine breitere Wirkung seiner Arbeiten hatte erst im letzten Jahrzehnt seines Lebens eingesetzt. 79 Dabei fand er lange Zeit in den Disziplinen, die er - im Wissen um die Unangemessenheit des Begriffs - als „Geisteswissenschaften" bezeichnet hatte, eine weit stärkere Beachtung als in der Philosophie. Das resultierte zum einen schlicht daraus, daß viele der systematischen Arbeiten Diltheys unvollendet geblieben oder an entlegenen Orten erschienen waren. 80 Es lag zum anderen aber auch an dem integrativen Konzept von Philosophie, das er vertreten hatte. Einem über den Kreis der Schüler Georg Misch, Herman Nohl, Eduard Spranger, Bernhard Groethuysen oder Max Frischeisen-Köhler hinausgehenden Anschluß an die genetische Methode und die universalistische Orientierung des Diltheyschen Denkens stand in der Philosophie des 20. Jahrhunderts die Angst vor einem geschichtlichen Relativismus und die zunehmende Differenzierung des Faches entgegen.

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Eine Reihe von Belegen liefert Johannes Rütsche, Das Leben aus der Schrift verstehen. Wilhelm Diltheys Hermeneutik, Bern u.a. 1999 (Europäische Hochschulschriften 20, 576). 77 Bereits 1861 hatte Dilthey scharfsinnig vermutet, „daß in der Verknüpfung des Philosophischen und des Historischen der Schwerpunkt meines Wesens und meiner Studien liegt". DjD, S. 166. 78 Wilhelm Dilthey, „Traum" (1903), in: ders., WeltanschauungsUhre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, hrsg. von Bernhard Groethuysen, Leipzig, Berlin 1931 (Gesammelte Schriften 8), S. 218224, hier S. 223. 79 Die Wirkung Diltheys ist bei weitem nicht angemessen erschlossen — erste Sammlungen und Zusammenfassungen der Rezeption liefern: Otto Friedrich Bollnow, „Wilhelm Diltheys Stellung in der deutschen Philosophie. Zur Geschichte der Dilthey-Edition und Dilthey-Rezeption" (1976), in: ders., Studien zur Hermeneutik, 2 Bde., Freiburg, München 1982, hier Bd. 1, S. 178-203; Hans-Ulrich Lessing und Frithjof Rodi, Materialien zur Philosophie Wilhelm Diltheys, Frankfurt am Main 1984; Hans-Ulrich Lessing, „Die zeitgenössischen Rezensionen von Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaften", in: Dilthey-)'ahrbuch 1,1983, S. 91-181 sowie Tom Kindt und Hans-Harald Müller, „Konstruierte Ahnen. Forschungsprogramme und ihre Vorläufer. Dargestellt am Beispiel des Verhältnisses der geistesgeschichdichen Literaturwissenschaft zu Wilhelm Dilthey", in: Literaturwissenschaft und Wissenschaftrforschung (Anm. 45). 80

Die meisten dieser Entwürfe sind erst durch die Bände XVIII (1977), XIX (1982) und X X (1990) der Gesammelten Schriften zugänglich geworden, die 1914 von Diltheys Schülern begründet wurden.

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Das nachhaltigste Echo fand Dilthey in der geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft, die um 1910 zu einer grundlegenden Erneuerung der philologischen Disziplinen aufrief.81 Die Geistesgeschichte betrachtete Dilthey als „das große Vorbild"82 und seine 1906 erschienene Aufsatzsammlung Das Erlebnis und die Dichtung als eine „Offenbarung",83 mit deren Hilfe sich die positivistische Philologie der Jahrhundertwende überwinden lasse. Die geistesgeschichtliche Literaturwissenschaft ignorierte dabei freilich die engen genetischen und konzeptionellen Zusammenhänge, die zwischen Diltheys literaturgeschichtlichen und poetologischen Ansätzen und der Germanistik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestanden. In den wissenschaftshistorischen Selbstdarstellungen der Geistesgeschichte wurde Dilthey als Vertreter einer reinen Ideengeschichte und intuitiven Einfuhlungshermeneutik einer positivistisch verengten Philologie gegenübergestellt. Dieses verzeichnete Bild sollte die Rezeption der Diltheyschen Werke und die Geschichte der Germanistik viele Jahre lang bestimmen.

81 Vgl. dazu allgemein Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 1910 his 1925, hrsg. von Christoph König und Eberhard Lämmert, Frankfurt am Main 1993, sowie zusammenfassend T o m Kindt und Hans-Harald Müller, „Historische Wissenschaften/Geisteswissenschaften", in: Handbuch,Fin de Siècle', hrsg. von Stefan Bodo WiirfFel, Stuttgart 2000 (im Druck). 82 Rudolf Unger, „Vom Wesen und Werden der neueren deutschen Literaturwissenschaft" (1914), in: ders., Gesammelte Studien, 3 Bde., Darmstadt 1966, hier Bd. 1, S. 33-48, hier S. 45. 83 Rudolf Unger, „Moderne Strömungen der deutschen Literaturwissenschaft 4: Wilhelm Diltheys Gesammelte Schriften", in: Die Literatur. Monatsschriftfür Literaturfreunde 22,1924/25, S. 129-131, hier S. 130.

MICHAEL SCHLOTT

Michael Bernays (1834-1897)* 1

Michael Bernays und Wilhelm Scherer haben die Professionalisierung der Philologie im 19. Jahrhundert in der Nachfolge von Karl Lachmann und Moriz Haupt methodologisch und praktisch entscheidend vorangetrieben. So steht der Name Michael Bernays in der Geschichte der Neugermanistik zunächst und vor allem fur eine eminent philologische Tat: In einer schmalen, aber gehaltvollen Schrift untersuchte er den „Text der grossen Jugendwerke" 1 Goethes nach methodischen Prinzipien der Klassischen Philologie kritisch. Textkritik sondert bekanntlich Überlieferungsprozesse (nach mündlicher, handschriftlicher und/oder gedruckter Uberlieferung) mit dem Ziel, einen authentischen Wortlaut fur die Interpretation zu präsentieren. Dazu werden alle auffindbaren überlieferten Textzeugen (Abschriften oder Drucke eines herauszugebenden Werkes bzw. alles, was den vollständigen oder auch fragmentarischen Text des Werkes enthält) systematisch gesammelt und die Hauptüberlieferung von der Nebenüberlieferung (Text-,Spuren' wie Zitate, Auszüge, Paraphrasen, Übersetzungen u.ä.) in anderen Werken abgegrenzt. Je mehr Textzeugen sich einstellen, desto größer ist die Anzahl der Varianten.2 Die Sicherheit eines kritischen Textes hängt davon ab, wie exakt die Varianten bestimmt werden können: Textkritik unterscheidet daherprimäre (vom Autor stammende) und sekundäre (nicht vom Autor stammende) sowie autorisierte (vom Autor als gültig erklärte) und nicht autorisierte Varianten. Schließlich wird zwischen aktiver und passiver Autorisation unterschieden; je nachdem, ob eine Änderung des Textes mit dem Willen des Autors übereinstimmt oder - vom Autor unbemerkt - in einen autorisierten Druck gelangt ist bzw. vom Autor gebilligt, aber nicht von ihm vorgenommen wurde. Hat ein Autor beispielsweise externe Anderungsvor-

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Bernays' Nachlaß befindet sich im Besitz des Instituts für Literaturwissenschaft der Christian-Albrechts-Universität Kiel. Ein Nachlaßbericht zu Bernays erscheint demnächst in: Mitteilungen. Marbacher Arbeitskreis fur Geschichte der Germanistik 17/18, 2000. Für die freundliche und unbürokratische Unterstützung meiner Recherchen habe ich Frau Irmgard Böttcher, Frau Dr. Nicola Graap, Herrn Professor Dr. Albert Meier, Herrn Dr. Jörg Joost und Herrn Privatdozenten Dr. Claus-Michael Ort herzlich zu danken. - Dokumente aus dem Nachlaß werden im folgenden mit dem Kürzel Ν ausgewiesen. — Bernays* gesammelte Schriften erschienen zuerst in vier Bänden bei Göschen in Leipzig (I 1895, II 1898) und bei Behr in Berlin (III und IV 1899). Im folgenden wird aus der bei Behr veranstalteten neuen vierbändigen Ausgabe (Kürzel 5) unter Angabe von Band- und Seitenzahl zitiert.

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Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes, Berlin 1866, S. 44. Der Einfachheit halber wird im folgenden terminologisch nicht zwischen Lesarten und Varianten unterschieden. Vgl. zu diesem Problem z.B. das Kapitel „Lesarten, Varianten und Uberlieferungsfehler: Die Konstituierung des Textes" in: Herbert Kraft,Editionsphilologie, mit Beiträgen von Jürgen Gregolin, Wilhelm Ott und Gert Vonhoflf, Darmstadt 1990, S. 39-58.

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schlage übernommen, so handelt es sich um aktiv autorisierte Sekundärvarianten. In der neuphilologischen Textkritik richtet sich das besondere Interesse auf die Erschließung und Darstellung der primären Textgeschichte, auf den Vorgang der Herstellung und Veränderung des Textes durch den Autor. Außerordentlich diffizil sind in diesem Zusammenhang Fälle, in denen ein Autor beispielsweise einen nicht autorisierten Druck (Nachdruck, Raubdruck) seiner Werke als Grundlage für eine Überarbeitung oder als Druckvorlage fiir einen autorisierten Neudruck gewählt hat, ohne die Verderbnisse (Korruptelen) der Vorlage zu bemerken. Eben dies trifft auf weite Teile des Goetheschen Textcorpus zu, und Michael Bernays widmete sich der Aufgabe, die in der Konsequenz liegenden Textschäden zu heilen, genauer: Er identifizierte im Rahmen der Überlieferungsgeschichte des Goetheschen Textes die lediglich passiv autorisierten Sekundärvarianten in autorisierten Drucken. Die leitenden Prinzipien dieser philologischen Unternehmung — Geschichte und Kritik — sind in ihrer Erkenntnisfunktion mit einer vereinfachenden Formel zu bezeichnen: Die Geschichte eines Textes ist die Geschichte seiner Korruptionen; ein Text, der keine Korruptionen aufweist, hat keine Geschichte. - Als ,Anwalt des Autors"3 musterte Bernays Nachdrucke, aus denen zweifelhafte Sekundärvarianten und Textverderbnisse unmittelbar in die erste Sammlung der Goetheschen Werke (1787-90) übergegangen waren und spürte neue Korruptelen aus dem Nachdruck dieser ersten Sammlung auf, die sich in späteren Ausgaben fanden. Bernays lieferte damit den Beweis, daß die fortlaufenden Abweichungen vom Urtext der ersten Einzelausgaben keine autorisierten Primärvarianten sein konnten, weil sie sich zuerst in Nachdrucken fanden, an deren Redaktion Goethe selbst unbeteiligt gewesen war. Sie gelangten in die von ihm autorisierte Sammlung, weil er fiir deren Druck bereits vorhandene Nachdrucke - die ,Goethe-Philologie' spricht vom sogenannten Himburgschen Fehlermedium - zugrundegelegt hatte. Dieses .Original' wiederum, - drei Auflagen (1775/77/79) einer nicht autorisierten ,Diebsausgabe', die der Berliner Buchhändler Christian Friedrich Himburg veranstaltet hatte — wurde von Goethe keiner grundlegenden Revision unterzogen, sondern lediglich in einzelnen, verbesserungswürdig erscheinenden Passagen verändert: „Alle jene offenbaren Verderbnisse, [...] haben von dort aus ihren Weg in die erste rechtmäßige Ausgabe der Schriften von 1787 und somit in den uns noch vorliegenden Text genommen."4 Mehr als 100 Passagen kritisierte Bernays und konnte zudem anhand einer Reihe evidenter Belege, etwa aus den Lehr- und Wanderjahren, den Wahlverwandtschaften oder aus Dichtung und Wahrheit, beweisen, daß zur Herstellung eines zuverlässigen Gesamttextes nicht nur fiir Goethes Jugenddichtungen, sondern ebenso für seine späteren Produktionen auf die entsprechenden Erstausgaben zurückgegriffen werden müsse. Der größte Gewinn dieser kritischen Textgeschichte lag schließlich darin, daß die sogenannte innere Kritik, die sich auf den Sinn des Textes bezieht, fortan nicht länger auf plausible Vermutungen (Konjekturalkritik) beschränkt bleiben mußte, sondern jederzeit auf die zweifelsfreie äußere, den Wortlaut betreffende, philologische Fundamentalkritik zurückgreifen konnte. Die methodisch konsequente Verbindung

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Vgl. Bernays, Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes (Anm. 1), S. 7. Vgl. ebd., S. 27 und S. 44.

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der äußeren mit der inneren Kritik machte daher frühere, auf unzuverlässiger Textgestalt beruhende Auslegungen von Goethes Schriften über weite Strecken revisionsbedürftig.5 Ging es Bernays bei der Kritik des Goetheschen Textes um den überlieferungsgeschichtlichen Nachweis passiv autorisierter Sekundärvarianten, so konzentrierte er sich in seiner Habilitationsschrift Zur Entstehungsgeschichte des Schlegelschen Shakespearé auf die primären, also vom Autor Schlegel stammenden Varianten des Übersetzungsmanuskripts, um der Entstehung (und den Veränderungen) des Textes bis zur editio princeps nachzuforschen. Auch in dieser Schrift, deren Entstehung auf praktische buchhändlerische Zwecke zurückging,7 nahm Bernays seinen Ausgang bei der kritischen Musterung des ersten Druckes (1797-1801 ) und führte dessen Mängel und Fehler auf eine von Schlegel unterlassene sorgfältige Revision zurück. Erst die genaue Durchsicht der Handschriften biete letzte Aufschlüsse über die „Ergänzungen, deren der Text bedürftig ist".8 Bernays zeigte, daß für die Herstellung eines zuverlässigen Textes nicht nur ein von Schlegel als „erste Abschriften" bezeichnetes Manuskript, sondern darüber hinaus eine zweite Abschrift heranzuziehen sei, die - zumindest in Teilen - mit Gewißheit auf Caroline Schlegel zurückgeführt werden könne. 9 Bernays leuchtete deshalb die entsprechenden literatur- bzw. kulturhistorischen und biographischen Kontexte aus und schilderte den Prozeß der Schlegelschen Textaneignung im Kontakt mit Bürger in Göttingen, während der Amsterdamer Hauslehrertätigkeit, schließlich in der Auseinandersetzung mit Goethe und Schiller. Diese Entstehungsgeschichte führte — abgesehen von den zahlreichen Belehrungen im Detail — zu drei neuen Einsichten: Bernays ermöglichte es erstens, die Lücken und Korruptelen, die dem ersten, nicht von Schlegel selbst korrigierten Druck seiner Übersetzung anhafteten, aus erster Hand - quasi mit und durch Schlegel selbst - zu ergänzen und zu verbessern. Zweitens dokumentierten seine Forschungen zu den durchkorrigierten Manuskripten mit ihren zahlreichen Abweichungen von dem späteren redigierten Text den kontinuierlichen Bearbeitungsprozeß, in dessen Verlauf Schlegel sich der englischen Vorlage kongenial genähert hatte. Schließlich durfte diese Schrift den Anspruch erheben, einen wichtigen Beitrag zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der sogenannten Romantischen Schule geleistet zu haben. Man könne, erklärte Bernays

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Etwa diejenigen von Karl Emst Schubarth, Zur Beurtheilung Goethe's, mit Beziehung auf verwandte Litteratur und Kunst, 2., vermehrte Aufl., Breslau, Wien 1820. Ueber Goethe's Faust. Vorlesungen von Dr. K. E. Schubarth, Berlin 1830. - Bereits 1857 hatte Heinrich Düntzer die „Herstellung einer vollständigen kritischen Ausgabe von Goethe's Werken" gefordert (Deutsche Vierteljahrs-Schrift 1857, 2. Heft, S. 232-260). In den Nummern 359/360 der Augsburger Allgemeinen Zeitung von 1866 erhob Düntzer den Vorwurf, Bernays' Entdeckung sei keineswegs als epochemachend überzubewerten, sondern stelle lediglich den folgerichtigen Abschluß der von Düntzer 1857 mitgeteilten Ergebnisse dar. Bernays' Freund Adolf Schöll wies diese Vorwürfe scharf, aber sachlich korrekt, zurück. Vgl. seine Rezension „Zur Kritik des goetheschen Textes", in: Die Grenzboten 26, 1867, S. 106-113. Michael Bernays, Zur Entstehungsgeschichte des Schlegelschen Shakespeare, Leipzig 1872. Vgl. Max Kochs Nekrolog „Michael Bernays", in: Jahrbuch der deutschen Shakespeare-Gesellschaft 33, 1897, S. 260-263, hier S. 261. Vgl. Bernays, Zur Entstehungsgeschichte des Schlegelschen Shakespeare (Anm. 6), S. 8. Vgl. ebd.,S. l l f . undS. 21.

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zu Recht gegenüber Jacob Grimm, 1 0 den „deutschen Shakespeare" fortan nicht mehr ausschließlich als „Erzeugniß der romantischen Schule" ansehen. 11 Obgleich Bernays aufgrund dieser Arbeit zu den bedeutendsten Shakespeare-Spezialisten seiner Zeit gerechnet wurde und obgleich ihn die Entdeckung des Himburgschen Fehlermediums in die vorderste Reihe der ,Goethe-Philologie' beförderte, wäre er als Goethe- bzw. Shakespeare-Forscher nur unzureichend charakterisiert. Sein eigentliches Terrain, das er indes vorzugsweise in mündlichen Vorträgen zu bearbeiten pflegte, war die allgemeine und vergleichende Geschichte der Weltliteratur 12 - wie denn die offizielle Bezeichnung des Lehrstuhles, den Bernays 1874 in München bezog, den Inhaber nicht als Professor für Neuere Deutsche Philologie bzw. Literaturgeschichte, sondern fiir „neuere Sprachen und Literaturen" auswies. 13 Bernays' Untersuchungen fordern vom Leser große Ausdauer, Aufmerksamkeit und Geduld. Die Menge von Einzelbeobachtungen, die er am ,Wegesrand' seiner Studien macht, ,verlangsamt' den Gang der Untersuchung außerordentlich, so daß trotz aller eindrucksvollen Belehrung das eigentliche Ziel sehr spät und manchmal gar nicht erreicht wird. Auch unter Bernays' Schülern und Freunden herrschte Einhelligkeit darüber, daß die immense Gelehrsamkeit auf die literarische Produktion des Philologen geradezu lähmend gewirkt habe. 14 Daß die philologische Skrupulösität sich nur allzu oft in den unendlichen Weiten des Wißbaren verlieren konnte, zeigt beispielsweise die Abhandlung über den französischen und den deutschen Mahomet.15 264 Druckseiten reichen nicht aus, um das Thema zu erschöpfen; vielmehr erklärt Bernays mitten in der Arbeit, daß eine abschließende Behandlung gar nicht in seiner Absicht liege. 1890 begab sich Bernays freiwillig in den vorzeitigen Ruhestand. Entlegene Quellen berichten in diesem Zusammenhang von .atmosphärischen' Störungen in der Münchener Philosophischen Fakultät. 16 Bernays selbst begründete seinen Schritt indes folgendermaßen:

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Vgl. seinen Aufsatz „Zur Kenntniß Jacob Grimms" [1891], in: SII, S. 313-372, hier S. 329. Vgl. Bernays, Zur Entstehungsgeschichte des Schlegelschen Shakespeare (Anm. 6), S. 249. Vgl. Koch, „Michael Bernays" (Anm. 7), S. 263. N: „Decret für den bisherigen außerordentlichen Professor Dr. Michael Bernays dahier über dessen Ernennung zum ordentlichen Professor fiir neuere Sprachen und Literaturen in der philosophischen Facultät der Universität M ü n c h e n " (7. Februar 1874). 14 Vgl. etwa die Sammelrezensionen, Nekrologe u n d Kurzbiographien von Alfred Dove (1897) in: Ausgewählte Schriftchen vornehmlich historischen Inhalts [...], Leipzig 1898, S. 527-529, hier S. 528. - Max Koch, „Michael Bernays" (Anm. 7), S. 260f. - Albert Köster in: Euphorion 4, 1897, S. 566-576, hier S. 567f. - Georg Witkowski, „Michael Bernays", in: Das Magazin fiir Litteratur66,1897, Sp. 271-277, hier Sp. 276. - Erich Petzet, „Bernays", in: Biographisches Jahrbuch und deutscher Nekrolog 2, 1897, S. 338-355, hier. S. 353. - Erich Schmidt, „Bernays", in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 46: Nachträge bis 1899, 1902, S. 404-409, hier S. 407f. 15 S I , S. 97-361. 16 Badischer Landesbote vom 27. Februar 1897: „Bernays hat von manchen seiner FachkoUegen herbe Anfeindungen erdulden müssen [,] und es waren auch Enttäuschungen bitterer Art, die ihn veranlaßten, aus seinem Münchner Lehramt zu scheiden." - Vgl. auch Petzet, „Bernays" (Anm. 14), S. 348. Erst zum Abschied aus dem Lehramt erschienen „dem Lehrer und Freunde dem hochverehrten Meister Michael Bernays" gewidmete Studien zur Litteraturgeschichte [...] von Schülern und Freunden, H a m burg, Leipzig 1893.

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„[...] einzig und allein das Bewußtsein, daß ich mit dem von Gott mir verliehenen geistigen Pfunde noch anders zu wuchern hätte, als es mir bisher vergönnt war, dies allein hat mich zur Entsagung von meiner Lehrthätigkeit bestimmt. Auch im schriftlichen Worte hoffe ich mit Gottes Gnade dem Vaterlande nützen zu können." 1 7

2 A m 2 7 . N o v e m b e r 1 8 3 4 w u r d e Bernays als jüngstes K i n d v o n Sarah Lea Bernays, geb. B e r e n d ( 1 8 0 3 - 1 8 5 8 ) , 1 8 u n d D r . Isaak ben J a c o b Bernays ( 1 7 9 2 - 1 8 4 9 ) , 1 9 d e m O b e r rabbiner der jüdischen G e m e i n d e in H a m b u r g , 2 0 geboren. D a ß M i c h a e l Bernays, der i m J a h r e 1 8 5 6 z u m protestantischen G l a u b e n konvertierte, weder die o r t h o d o x e n M a x i m e n seines Väterglaubens zu tradieren n o c h die in der Genealogie ebenso erkennbaren kaufmännischen Aktivitäten fortzuführen gedachte, manifestierte sich in seiner Lebensgeschichte frühzeitig. 2 1 1 8 5 1 w u r d e Bernays, der zunächst privaten U n terricht erhalten hatte, Mitglied der „ersten Klasse" des H a m b u r g e r J o h a n n e u m s , das er a m 3 1 . M ä r z 1 8 5 3 m i t e i n e m brillanten „Zeugniss der Reife zur Universität" verließ, u m „in B o n n Philologie zu studiren" (N). W i e d e r u m m u ß t e Bernays seine Pläne gegen den W i l l e n der Familie durchsetzen; vor allem deswegen wird er sich im April 1 8 5 3 zunächst als ,,Studirende[r] der R e c h t e " - ftir ein , B r o t s t u d i u m ' also -

17 Der Text der Münchener Abschiedsrede vom 11. Mälz 1890 ist auszugsweise abgedruckt in der Augsburger Abendzeitung, Nr. 73 (14. März 1890), 2. Blatt. 18 Sarah Bernays war die Tochter des Hannoverschen Hoffaktors Michael Berend. Ihre Mutter Hannele stammte aus der Berliner Familie Ries, somit vermutlich von Behrend Lehmann in Halberstadt, dem Kammeragenten Augusts des Starken, ab. Vgl. Hans I. Y>iài,Jacob Bernays. EinBeitragzurEmanzipationsgeschichte der Juden und zur Geschichte des deutschen Geistes im neunzehnten Jahrhundert, Tübingen 1974, S. 15f. 19 Isaak Bernays war laut Bach, Jacob Bernays (Anm. 18) ein Sohn des Mainzer „aubergiste[n]" Jaques Beer, der sich seit 1808, als die Franzosen die Annahme fester Familiennamen vorschrieben, Jacob Bernays genannt habe. 20 Seit 1821 bekleidete Isaak Bernays in Hamburg das Amt des Oberrabbiners und leitete die neue Orthodoxie des Judentums ein. Gegenüber dem Hamburger Senat führte er den Titel eines Geisdichen Beamten; ftir seine religiösen Funktionen trug er den hebräischen Ehrennamen Chacham (Weiser), den die Rabbiner der gesellschaftlich angesehenen sephardischen Portugiesengemeinde in Hamburg führten. Vgl. Bach Jacob Bernays (Anm. 18), S. 5-15 und S. 27-29. - Vgl. ferner Stephen M. Poppel, „The Politics of Religious Leadership. The Rabbinate in Nineteenth-Century Hamburg", in: Leo Baeck Institute, Year Book 28, 1983, S. 439-470. - Mosche Zimmermann, Hamburgischer Patriotismus und deutscher Nationalismus. Die Emanzipation der Juden in Hamburg 1830-1865, Hamburg 1979. Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 2: Emanzipation und Akkulturation, 1780 — 1871, von Michael Brenner, Stefi Jersch-Wenzel und Michael A. Meyer, München 1996, S. 96-134. 21

Vgl. Briefe von und an Michael Bernays, [hrsg. von Hermann Uhde-Bernays], Berlin 1907, S. 87f. In der Frühphase seiner akademischen Sozialisation soll Bernays entscheidend von seinem älteren Bruder Jacob (1824-1881) beeinflußt worden sein. Vgl. etwa Witkowski, „Michael Bernays" (Anm. 14), Sp. 273. Petzet, „Bernays" (Anm. 14), S. 339, auf brieflichen Auskünften von Bernays' Witwe fußend, erklärt dagegen, Bernays habe seinen „Bildungsgang weniger unter dem Einfluss, als vielmehr im Gegensatze zu Jakob gewählt". - Über Jacob Bernays, einen Schüler und Freund des Bonner Altphilologen Friedrich Wilhelm Ritsehl, vgl. Wolfgang Schmid, „Friedrich Ritsehl und Jacob Bernays", in: 150 Jahre Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn 1818-1968, Bd. 2,5, Bonn 1968, S. 127143. Ferner Karlfried Gründer, „Jacob Bernays und der Streit um die Katharsis", in: Epirrhosis. Festgabe für Carl Schmitt, hrsg. von Hans Barion u. a„ Berlin 1968, Teilbd. 2, S. 495-528, hier S. 503. Bach, Jacob Bernays (Anm. 18).

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eingetragen haben. Der Rechtswissenschaftler Eduard Böcking, 2 2 bei dem Bernays ein Kolleg über „Institutionen" belegte, attestierte dem begabten Studenten „musterhaften" und „rühmlichsten" Fleiß: Bernays kultivierte in Bonn unermüdlich seine auf dem Gymnasium erworbenen Kenntnisse der alten und neueren Sprachen, der W e l t literatur, vor allem aber der Geschichte. Er übte sein ohnehin überdurchschnittliches Gedächtnis durch systematische Übungen, so daß ihm bald nicht nur die unentbehrlichen historischen Eckdaten sowie zahllose Details, sondern ebenso weite Partien aus Homer, den griechischen Tragikern, der lateinischen Dichtung sowie aus Dante, Shakespeare und selbstverständlich aus der deutschen Literatur, aus Goethes Werken zumal, jederzeit zur Verfügung standen. Zur Erklärung dieses Phänomens wäre auf Bernays' gymnasiale Ä^ton^-Ausbildung im humanistischen Johanneum zurückzugehen, um zu verdeutlichen, wie der junge Student seine von der „,gabeseligen' Natur" 2 3 verliehenen Qualitäten (ein durchdringendes, aber wohlklingendes Organ und die Fähigkeit, es zielsicher und affektbewegend einzusetzen, gehörten dazu) nach erprobten Regeln perfektioniert hat. Eruditio und eloquentia waren die tragenden Säulen, auf denen schließlich auch Bernays' Genie der Rhetorik fußte, 2 4 das alle T e c h niken der memoria souverän beherrschte und zudem von einer eindrucksvollen äußeren Erscheinung unterstützt wurde. 25 Bernays stellte seine rhetorischen Fähigkeiten schon auf der Universität unter Beweis, vor allem in Heidelberg, wo er sich im November 1853, ebenfalls in der juristischen Fakultät, immatrikulierte. In einem engeren Freundeskreis, zu dem auch Heinrich von Treitschke gehörte, hielt Bernays im Winter 1854/55 seinen ersten Vortragszyklus über Shakespeare und über deutsche Literaturgeschichte. 26 In Heidelberg zog er sich schließlich endgültig aus der Jurisprudenz zurück und konzentrierte seine gesamte Energie auf das Studium der Literaturgeschichte. 27 1 8 5 6 promovierte er dort - ohne Dissertationsschrift - summa cum laude. 28 In Bonn sei Bernays vor allem von Johann Wilhelm Löbell, in Heidelberg von Gervinus zur akademischen Laufbahn ermuntert worden; 2 9 indes vergingen anderthalb Jahrzehnte, bevor Bernays die entsprechenden formalen Anforderungen erfüllte. 22 Böcking war der Testamentsvollstrecker August Wilhelm Schlegels und Herausgeber von dessen Gesammelten Werken (vgl. Ruth Schirmer, August Wilhelm Schlegel und seine Zeit, Bonn 1986, S. 244f.). Möglicherweise erhielt Bernays also bereits in seinem ersten akademischen Semester entscheidende Anstöße für seine spätere Habilitationsschrift Zur Entstehungsgeschichte des Schlegelschen Shakespeare (Anm. 6). Vgl. dazu auch seine dortigen Bemerkungen (S. 8). 23 Vgl. Schmidt, „Bernays" (Anm. 14), S. 408. 24 Zum rhetorikgeschichtlichen Hintergrund vgl. J. H. J. Schneider, „Eruditio", in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. von Gert Ueding, Bd. 2, Tübingen 1994, Sp. 1421-1425, hier Sp. 1422. 25 Vgl. dazu jetzt Konrad Feilchenfeldt, „Das wiederentdeckte Michael-Bernays-Porträt von Franz von Lenbach", in: Mitteilungen. MarbacherArbeitskreisfiir Geschichte der Germanistik 15/16,1999, S. 39-41. 26 Vgl. Petzet, „Bernays" (Anm. 14), S. 339. 27 Vgl. ebd. 28 Vgl. ebd., „nach einer gefalligen Mittheilung des Sekretariats der Universität"; bei Petzet auch die Namen der Examinatoren. - Genauere Angaben und weiterführende Literatur zu den dort genannten Gelehrten in: Dagmar Driill, Heidelberger Gelehrtenlexikon 1803-1932, Bd. 2, Berlin, Heidelberg 1986, S. 8f„ 31f., 35, 98, 118f„ 135, l46f„ 161, 214f„ 217. 29 Vgl. Hermann Uhde-Bernays' Nachruf in: Biographisches Jahrbuch und deutscher Nekrolog 1, 1896, S. 17*-22*, hier S. 18*. - Petzet, „Bernays" (Anm. 14), S. 339. - Über Löbell (1786-1863) siehe Paul Schmidt in: 150Jahre Rheinische Friedrich- Wilhelms- Universität (Anm. 21), Bd. 2,6, Bonn 1968, S. 7992. - Ein Nachruf von Michael Bernays auf Löbell in 5 III, S. 289-299.

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Kurz nach der Promotion konvertierte Bernays in Mainz - der Geburtsstadt seines Vaters - zum evangelisch-lutherischen Glauben. 30 Die Konversion führte zum völligen Bruch mit der Familie, die den .Abtrünnigen' nicht länger alimentieren wollte. Bernays mußte sich seinen Lebensunterhalt fortan durch kleinere journalistische Arbeiten - vor allem aber als Vortragsredner - verdienen. Seinen ständigen Wohnsitz nahm er zunächst in Bonn; von hier aus führten ihn seine Vortragsreisen durch ganz Deutschland. In literarischen Vereinen brillierte er vor .gemischtem' Publikum: vor Hörerinnen und Hörern aus der Hocharistokratie, aus dem .mittleren' Adel, aus den gehobenen Gesellschaftsschichten des .Bürgertums', aber auch vor Gelehrten, Schriftstellern, Schauspielern, Komponisten und Musikern mit Vorträgen über „Klopstocks Oden (1747-68)", „Herder und das Volkslied", „Ueber einige philosophische Gedichte Schillers", „Ueber Goethes Gedicht Ilmenau und Goethes Verhältniß zu Karl August", „Ueber den westöstlichen Diwan [!]" oder „Ueber den zweiten Theil des Faust".31 Folgt man Bernays' Ausführungen in Tagebüchern und Briefen, so befürchtete er allerdings, daß diese Veranstaltungen seiner wissenschaftlichen Reputation abträglich sein würden und ihm bei den künftigen' Gelehrten schließlich den Ruf eines dilettierenden .Schönredners' eintragen könnten. Im Winter 1869 entschloß er sich daher zum letztenmal zu solchen Vorträgen, „die weder mit der strengen Richtung meiner Studien in Uebereinstimmung sind, noch meinen Neigungen zusagen";32 und stets trug er dafür Sorge, seine zahlreichen Kontakte zu kultur- und bildungspolitischen Entscheidungsträgern sowie zur professionalisierten Gelehrtenwelt besonders aufmerksam zu pflegen. Den Weg zur venia legendi ebneten ihm schließlich die Leipziger Professoren Georg Curtius, Georg Ebert, Friedrich Ritsehl und Friedrich Zarncke sowie der Dresdener Kunst- und Literaturhistoriker Hermann Hettner. 33 Am

30 Allein in Preußen konvenierten während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts etwa 5000 Juden zum Christentum, wobei der weitaus größte Anteil auf Berlin fiel. „Mit zunehmender Hoffnung auf eine vollständige gesellschaftliche Akzeptanz war um die Jahrhundertmitte ein Rückgang der Konversionsrate festzustellen." Deutsch-jüdische Geschichte (Anm. 20), S. 187. - Bernays' Paten waren Henriette Feuerbach, vertreten durch den Mainzer Advokaten Dr. Heinrich Bernays, und der Kaufmann August Friedrich Höster. Vgl. Petzet, „Bernays" (Anm. 14), S. 339. Vgl. ferner Bach Jacob Bernays (Anm. 18), S. 146: „Er [Jacob Bernays, M.S.] wußte, daß der Junge seit den letzten drei Jahren in Heidelberg saß und, seinem Einfluß entrückt, wirr und wahllos studierte, wußte auch, daß Michael sich dort eng an Henriette Feuerbach anschloß, daß sie ihn eines ihrer .Ziehkinder' und er sie geradezu .Mutter' nannte. Unter ihrem Einfluß mochte der Zweiundzwanzigjährige ein Judentum, das ihm nichts sagte, mit dem Protestantismus vertauscht haben, in dem Glauben, der schwärmerisch verehrten deutschen Bildung dadurch um so tiefer teilhaftig zu werden. In der Taufe selbst sah Jacob Bernays mild einen unüberlegten Jungenstreich; die Begleitumstände [der Taufort, M. S.], unter denen sie sich vollzog, verletzten ihn ebenso wie die übrige Familie, die jeden Verkehr mit Michael abbrach." Vgl. auch Briefe von Henriette Feuerbach an Michael Bernays in: Henriette Feuerbach. Ihr Leben in ihren Briefen, hrsg. von Hermann Uhde-Bemays, München 1926. 31 N: Aufzeichnungen über Vorträge und Vorlesungen 1867-1890. 32 N: Tagebuch [Bonn] 1869. 33 Vgl. Michael Schlott, .„Sind Sie Privatdocent, so ist die Carrière geöffnet.' Ein ungedruckter Brief von Michael Bernays (1834-1897) an Hermann Hettner (1821-1882)", in: Mitteilungen. Marbacher Arbeitskreis fur Geschichte der Germanistik 5, 1993, S. 22-28. - Am 19. März 1875 berichtete Erich Schmidt an Wilhelm Scherer über ein Gespräch mit Bernays: „Im Laufe des Gesprächs äußerte et sich sehr verächdich über Düntzer, Julian [Schmidt, M. S.] und Freund Hettner. Letzteren suchte ich zu

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4. November 1872 erhielt Bernays aufgrund seines Shakespeare-Buches in Leipzig die Lehrbefugnis. Zum 1. Mai 1873 wurde er als Extraordinarius nach München berufen, wo ihn schließlich binnen Jahresfrist ein Dekret Ludwig II. zum ordentlichen Professor ernannte. 34 Für den Institutionalisierungsprozeß der Neueren Deutschen Philologie war, um es mit Bernays auszudrücken, „wahrhaft ein Sieg erfochten, und die Träume meiner Jugend [sind] in Erfüllung gegangen". 35 „Bei allen meinen Arbeiten", so erläuterte er 1875 seine wissenschaftliche Grundüberzeugung, „verfolge ich den einen Zweck: die Verbindung der Literaturgeschichte mit der philologischen Kritik zu begründen". 36 In diesem Sinne entfaltete Bernays zwischen 1874 und 1890 als gefeierter Lehrer und Redner eine bemerkenswerte Wirksamkeit, die indes weit über den Kreis seiner professoralen Pflichten hinausreichte. In seinen Lehrveranstaltungen - in denprivatissimi zumal - legte er größten Wert auf eine umfassende Grundqualifikation der Studierenden, auf die Kenntnis der alten und modernen Sprachen, der Literaturgeschichte seit der Antike, insbesondere aber auf das Rüstzeug der philologischen Kritik und auf das Spezialwissen zur Erschließung von Bibliotheks- und Archivbeständen. In seiner Bibliothek, die annähernd 30.000 Bände umfaßte, 37 fanden zweimal wöchentlich im engeren Schülerkreis Seminarübungen statt. Philologen wie Franz Muncker, Eugen Wolff, Karl Borinski, Julius Elias, Max Koch, Georg Witkowski, Max Osborn, Eugen Kühnemann, aber auch der Kunstwissenschaftler Heinrich Wölfflin und jüngere Fachkollegen wie Erich Schmidt und Bernhard Seuffert bezogen hier ihr Wissen aus Büchern und über Bücher. Vor allem jedoch lernten sie unter Bernays' Anleitung, dieses Wissen zu sammeln, zu ordnen und zu verwalten, um es fur den geeigneten Zeitpunkt abrufbar zu halten - eine wesendiche Voraussetzung fur die enormen Materialaufbereitungen der sogenannten positivistischen Philologie zwischen etwa 1875 und 1910.

verteidigen, worauf B. im vollen Ernste bemerkte ,Nun ja, das Buch [Hettners Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, M. S.] hat seine Verdienste; ich kann es gebildeten Kaufmannsfamilien angelegentlich empfehlen'." Wilhelm Scherer - Erich Schmidt, Briefwechsel, hrsg. von Werner Richter und Eberhard Lämmert, Berlin 1963, S. 59.-Vgl. ferner Bernays' Widmung „An Erich Schmidt in Berlin." in: SI, S. V-VIII. - A m 7. März 1876 schrieb Bernays an Schmidt (TV): „Sie wissen, daß auch ich seit Jahren im Kampf gegen den Dilettantismus stehe, der sich immer auf keinem Gebiete so hoch erstreckt, wie auf dem unsrigen. [...] Die Berührung mit Düntzer muß ja lustig und erquicklich gewesen sein. Mir wäre es doch unmöglich mit diesem Edlen auch nur ein ironisches Wort zu wechseln!" 34 Vgl. Anm. 13. — Der Münchener Berufungsvorgang wird auf der Grundlage sorgfältigen Aktenstudiums genauer dargestellt bei Magdalena Bonk, Deutsche Philologie in München, Berlin 1995, S. 33-38. 35 N: An Salomon Hirzel [München, Februar] 1874. 36 Zit. nach Petzet, „Bernays" (Anm. 14), S. 342. - Vgl. S III, S. 229f.: „Soll denn unsere Litteraturgeschichte fort und fort der Tummelplatz eines wüsten Dilettantismus bleiben? Wie lange hat das Studium unserer nationalen Litteratur unter der Schmach gelitten, daß sich zu Pflegern desselben Männer aufwarfen, die in keinem andern Gebiete, auf dem eine hergebrachte wissenschaftliche Zucht herrschte, sich ungestraft hätten zeigen dürfen! Wer wollte es den Meistern unserer klassischen Philologie verargen, wenn sie die Geringschätzung, die solchen Pflegern gebührte, zuweilen auf das Studium selbst übertrugen?" 37 Nach Bernays' Tod erwarb der amerikanische Geschäftsmann Julius Rosenwald fur 6500 Dollar 9000 Bände und stiftete diesen Teil der Bibliothek der Universität Chicago. Vgl. Camillo von Klenze, „Prof. Bernays' Bibliothek. Für die Chicagoer Universität erworben", in: Chicagoer Westen und Daheim (23. April 1905).

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3 Bernays definierte seine Rolle und seine Funktion innerhalb der Institution Universität über einen entschiedenen Antikatholizismus. 38 Auch er partizipierte am sogenannten protestantischen Prinzip der Gmto-Freiheit, wie es exemplarisch Lessing, Herder und Heine proklamiert hatten und wie es von Bernays' Heidelberger Mentor Gervinus eindringlich (re)formuliert worden war. 39 Charakteristisch für Bernays' Position ist die patriotisch-nationale Akzentuierung eines zweifachen — vermeintlich deutschen - Spezifikums, das mit und durch Luther in Erscheinung trete: religiöses Gewissen und „höchste geistige Thatkraft". 40 Für Bernays - auch darin stimmte er mit Gervinus überein - implizierte dieses ,Nationalspezifikum' indes keinerlei chauvinistischen Bezüge.41 Der Rückgriff auf Luther, den vermeintlichen Garanten der Geistesfreiheit, gehörte im 19. Jahrhundert zweifellos zu den stabilen kulturreligiösen Bezugspunkten im Rahmen der historischen Selbstvergewisserung.42 Bernays jedoch, in seiner Eigenschaft als Konvertit, vertrat die Fundamentalsätze dieses Lutherbildes mit einer Intensität und Kompromißlosigkeit, die - in München zumal - beispiellos gewesen sein dürften. Die Durchsicht seiner Vorlesungskonzepte zeigt, daß er wochenlang über diesen einen Gegenstand las. Franz Schnabel charakterisierte diese kulturprotestantische Perspektive als Bestandteil einer gesellschaftlichen Bewegung, die „das Christentum als Lebensmacht [...] in der gewaltig sich verändernden Welt der bürgerlichen Massenkultur" zu erhalten strebe. 43 So besehen plausibilisieren sich nicht nur Bernays' Ausfälle gegen „die Kathedersocialisten", gegen „die Phrase des landläufigen Liberalismus", gegen die Eigenarten des ,,genußsüchtigste[n] Volk[es] Europas" - gemeint ist das deutsche Volk - oder gegen den „vulgäre [n], despotische [n], aller tieferen Lebensauffassung abgewandte[n] Liberalismus". 44 Auch der Entschluß des zweiundzwanzigjährigen Studenten, den jüdischen Glauben abzulegen, gewinnt in diesem Blickwinkel die Kontur einer existentiellen Entscheidung, 45 die ihn im letz-

38 Vgl. dazu seine umfangreiche Kritik „Shakespeare ein katholischer Dichter" [ 1865] in: S III, S. 3-102. 39 Vgl. Michael Ansel, G. G. Gervinus' Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen. Nationbildung auftiteraturgeschichtticher Grundlage, Frankfurt am Main 1990 (Münchener Studien zur literarischen Kultur in Deutschland 10), S. 224Í. 40 Vgl. Briefe von und an Michael Bernays (Anm. 21), S. 38 und S. 40. 41 Vgl. dazu Bernays, Zur Entstehungsgeschichte des Schlegelschen Shakespeare (Anm. 6), S. 250. 42 Vgl. Jan-Dirk Müller, Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian /., München 1982, S. 11. - Wulf Wülfing, Karin Bruns und Rolf Parr, Historische Mythologie der Deutschen 1798-1918, München 1991, S. 7f., 16f„ 92f„ pass. 43 Vgl. Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 4, München 1987 [zuerst 1937], S. 365. 44 Vgl. Briefe von und an Michael Bernays (Anm. 21), S. 43, 46f., 50. - Bernays' politisch-ideologische Grundsätze - einschließlich eines dezidierten Antisemitismus (vgl. Anm. 48) - stehen übrigens in auffälliger Parallele zu seinem Altersgenossen und zeitweiligen Kommilitonen Heinrich von Treitschke. Vgl. Georg Iggers, „Heinrich von Treitschke", in: Deutsche Historiker, hrsg. von Hans-Ulrich Wehler, Bd. 2, Göttingen 1971, S. 66-80, hier S. 72f. 45

Die Frage, ob Bernays sich durch seine Konversion Vorteile fur seine Karriere ausgerechnet habe, ist aufgrund der vorliegenden Quellen nicht zu entscheiden. Vergleicht man indes die Karrieren von Jacob und Michael Bernays, so bestätigt die Laufbahn des jüngeren Bruders die einschlägigen Forschungsergebnisse und die statistischen Befunde: „Juden, die Staatsämter oder Lehrpositionen anstrebten, hatten keine andere Wahl, als zum Christentum überzutreten." Deutsch-jüdische Geschichte (Anm. 20),

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ten Drittel seines Lebens schließlich in Übereinstimmung mit Richard Wagner brachte. In Wahnfried nahm Bernays „geistige Cur", um „die in den Tiefen eines entarteten Lebens wühlenden Mächte des Verderbens" - d.h. den ,,vulgäre[n] Liberalismus" - zu überwinden.46 Das Ausmaß dieser „Akkulturation"47 bezeugt etwa Bernays' 1877 geäußerte Empörung darüber, daß die Statue Hans Sachsens „nur wenig Anregung" gebe: „unmittelbar daneben dräut die Synagoge, in frechem Schimmer prunkend, ganz dazu geeignet, daß Abrahams Söhne hier ihren Geld und Klugheit spendenden Gott verherrlichen. Man begreift Wagners Wuth vollkommen."48 4 Die letzten sieben Jahre seines Lebens verbrachte Bernays in Karlsruhe, nicht zuletzt, um die bereits während seiner ,Wanderjahre' entstandene Verbindung mit seinem Freund und Protektor, dem Großherzog von Baden, zu erneuern und zu pflegen. In neun Eisenbahnwaggons wurde die kostbare Bibliothek transportiert, und Bernays hat erwartungsgemäß auch in .Tusculum' mehr gelesen und „gesagt"49 als geschrieben. Bis zu seiner Übersiedlung waren außer einer Anzahl von Miszellen und kleineren journalistischen Beiträgen, die Bernays hauptsächlich aus Erwerbsgründen verfaßt hatte, lediglich die Kritik des Goetheschen Textes, die Entstehungsgeschichte des Schlegelschen Shakespeare, Einleitungen zur Ausgabe Derjunge Goethe (1875),50 zu Goethes Briefe[ n] an Friedrich August Wolf{ 1868) und zum Neudruck der ältesten Vossischen Odyssee (1881), ein kurzes Nachwort zur revidierten Schlegel-Tieckschen Shakespeare-Ausgabe sowie zwei ausfuhrliche Biographien über Gottsched und Goethe erschienen. Den ersten Ertrag der Karlsruher Jahre bildete die umfangreiche Schrift Zur Lehre von den Citaten und Noten (1892), in der Bernays sich kritisch mit Gervinus, Georg Brandes, Karl Hillebrand und Hettner auseinandersetzte und sein - freilich kaum erreichbares - Ideal einer quellenkritisch fundierten Literaturhistoriographie entwickelte.511895 erschien schließlich der erste Band seiner Schriften mit vier Abhandlungen über Goethe und Walter Scott, über den französischen und deutschen Mahomet sowie über philologische Detailprobleme des Briefwechsels zwischen Schiller und Goethe und zwischen Schiller und Dalberg.52 Den zweiten Band der Schriften (1898) konnte

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S. 187. - Bärbel Boschan, „In dubiis libertas? Die Entwicklung der Philosophischen Fakultät der Berliner Universität im Zeitraum 1870-1900 und Friedrich Althoff", in: Wissenschaftsgeschichte und Wissenschafispolitk im Industriezeitalter. Das „System Althoff' in historischer Perspektive, hrsg. von Bernhard vom Brocke, Hildesheim 1991, S. 267-285, hier S. 282f. Vgl. Briefe von und an Michael Bernays (Anm. 21), S. 53. Vgl. dazu Herbert A. Strauss,,.Akkulturation als Schicksal. Einleitende Bemerkungen zum Verhältnis von Juden und Umwelt", in: ders. und Christhard Hoffmann (Hg.), Juden und Judentum in der Literatur, München 1985, S. 9-26. Vgl. Briefe von und an Michael Bernays (Anm. 21), S. 21 f. Vgl. Schmidt, „Bernays" (Anm. 14), S. 407. - Bach, Jacob Bernays (Anm. 21), S. 119. Vgl. Schriftenverzeichnis S II, S. 391 und S. 393. Siehe ferner Ludwig Geiger, „Salomon Hirzel und Michael Bernays", in: Goethe-Jahrbuch 21,1900, S. 194-207. - Genaue bibliographische Angaben zum folgenden im Schriftenverzeichnis, S. 389f. und S. 392f. Vgl. 5 TV, S. 255-347. Rezension von Felix Poppenberg in: Die Nation 12, 1894/95, S. 430-433. - Eugen Wolff in: Die Aula 1, 1895, S. 1-8.

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Bernays nur noch bis in den neunten Bogen hinein fertigstellen; die übrigen Arbeiten dieses Bandes wurden von Erich Schmidt aus Bernays' Nachlaß hinzugefugt. 53 Den dritten und vierten Band besorgte Bernays' Schüler Georg Witkowski, der bereits den zweiten Band mit einem ausführlichen Schriftenverzeichnis ausgestattet hatte. 54 Am 25. Februar 1897 starb Michael Bernays nach längerem Krankenlager an Herzversagen. Nach einer mündlichen Mitteilung seines Stiefsohnes Hermann UhdeBernays an Hans Bach habe Bernays noch auf dem Totenbett Faust-Verse gemurmelt, „den Stiefsohn neben sich, den er mit dem Buch in der Hand dem endlich versagenden Gedächtnis einzuhelfen zwang."55 Die Trauerrede hielt Bernays' Schüler und Münchener Nachfolger Franz Muncker, der seit Juli 1890, zunächst als außerordentlicher, ab Juli 1896 schließlich als ordentlicher Professor fur neuere, insbesondere deutsche Literaturgeschichte die akademische Stafette seines Lehrers übernommen hatte. 56 - Zwischen 1877 und 1890 betreute Bernays neun Dissertationen und eine Habilitation, diejenige Munckers. 1891 begann schließlich die beispiellose Wirksamkeit von Bernays' wohl bekanntestem Schüler: Bis 1926 entstanden bei ihm 236 Dissertationen; seit 1905 fungierte Muncker schließlich als Erstreferent für sechs Habilitationen, und es ist in diesem Zusammenhang zumindest einer Erwähnung wert, daß man bei der Reihung der Namen Rudolf Unger, Artur Kutscher, Fritz Strich, Hans Heinrich Borcherdt, Christian Janentzky und Walther Rehm heute vermutlich nicht ohne weiteres an ,Enkel-Schüler' von Michael Bernays denken würde.

53 Rezension von Max Koch in: Literarisches Centralblatt 1898, Nr. 4 (29. Januar), Sp. 129f. - August Sauer in: Deutsche Litteraturzeitung 19, 1898, Sp. 63-68. 54 Rezension von Eugen Kilian in: Karlsruher Zeitung vom 9. September 1899. 55 Vgl. Bach Jacob Bernays (Anm. 18), S. 215. 56 Vgl. Bonk, Deutsche Phiblogie (Anm. 34), S. 454. Die folgenden Angaben nach Bonk, S. 356f. und S. 359f.

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Wilhelm Scherer (1841-1886) 1

Nach der Gründergeneration der Germanistik - den Brüdern Grimm, Benecke und Lachmann - war Wilhelm Scherer der einflußreichste Germanist des 19. Jahrhunderts. Er publizierte auf fast allen Forschungsgebieten der deutschen Philologie bahnbrechende und langfristig wirkende Arbeiten, und bis heute gilt er als der Repräsentant des „literaturwissenschaftlichen Positivismus" schlechthin. Was freilich unter diesem Begriff zu verstehen ist, das wurde - nimmt man die Arbeiten Erich Rothackers1 einmal aus - durch die geistesgeschichtliche Literaturwissenschaft polemisch derart verzerrt, daß heute neue Anstrengungen zur Begriffsklärung erforderlich sind. Wie Wilhelm Dilthey 2 und viele hellsichtige Zeitgenossen betrachtete Scherer die den Prinzipien der deutschen historischen Schule verpflichteten Wissenschaften seiner Zeit als vornehmlich durch die Forschungspraxis und -resultate legitimierte, institutionell konsolidierte Disziplinen, denen freilich „eine philosophische Grundlegung" 3 fehlte. Scherer bekundete bereits 1865, in einer seiner ersten Arbeiten, daß ihn von der unreflektiert betriebenen Forschungspraxis seiner Vorgänger Welten trennten; bei aller Verehrung für Jacob Grimm stellte er fest, daß weder Grimms Ziele noch dessen Methode die seiner eigenen Generation seien4 und wies auf „bedeutende Veränderungen" hin, vor denen die historischen Wissenschaften stünden. Die Erneuerung der Philologie im Gefolge einer „philosophischen Betrachtung der Geschichte", 5 die Scherer vorschwebte, hing eng mit der Konzeption jenes „literaturwissenschaftlichen Positivismus" zusammen, der fur die deutsche Philologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts als eine intrikate Verknüpfung von historisch-hermeneutischen Prinzipien der deutschen historischen Schule mit der Geschichtsauffassung des französischen Positivismus und englischen Empirismus zu rekonstruieren

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Ernst-Otto Gerke (Hamburg) danke ich fur die Hilfe bei der Darstellung der linguistischen Arbeiten Scherers, Hartmut Freytag (Hamburg) für Kommentare zu dessen mediävistischen Arbeiten; Sebastian Meissl (Wien) bin ich für wertvolle Verbesserungsvorschläge einer früheren Fassung dankbar. Erich Rothacker schrieb bereits 1920, was cum grano salis noch heute gilt: „Zu einer Geschichte des geisteswissenschaftlichen Positivismus sind noch nicht einmal Ansätze vorhanden." Erich Rothacker, Einleitung in die Geisteswissenschaften, 2. Aufl., Tübingen 1930 [1. Aufl. 1920], S. 198. Zu Dilthey vgl. den Beitrag von T o m Kindt im vorliegenden Band. Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, [1883] Leipzig, Berlin 1923 (Gesammelte Schriften 1), S. XVI. Wilhelm Scherer,Jacob Grimm. Zwei Artikel der Preußischen Jahrbücher aus deren vierzehnten, fünfzehnten und sechzehnten Bande besonders abgedruckt, Berlin 1865, S. 2. Ebd., S. 166.

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ist, 6 aus d e m Scherer vor allem die Arbeiten Buckles 7 u n d Mills beeinflußten. U n t e r diesem Einfluß stellte Scherer eine Reihe grundlegender F o r d e r u n g e n auf, 8 deren wichtigste die folgenden waren. D i e deutsche Philologie sollte ihre d u r c h interne Spezialisierung entstandene Isolation überwinden u n d den A n s c h l u ß an die allgemeine Geschichtswissenschaft der G e g e n w a r t suchen, die einer empiristischen Geschichtsauffassung verpflichtet w a r ; 9 sie sollte ferner aus der „gegenseitigen B e f r u c h t u n g v o n N a t u r - u n d Geisteswissenschaften" 1 0 lernen u n d die entstandene Arbeitsteilung zugunsten einer n e u e n erfolgversprechenden .Arbeitsvereinigung" 1 1 überwinden. In der Forschungspraxis sollte sie eine U m o r i e n t i e r u n g v o n der bloßen S a m m l u n g v o n Fakten u n d Einzeltatsachen zugunsten einer kausalen Erklärung vollziehen, 1 2 sie sollte H y p o t h e s e n aufstellen m i t d e m Ziel, Gesetze im Geschichtsprozeß zu entdecken, u n d sie sollte schließlich Erklärungshypothesen, die sich in der G e g e n w a r t bewährt hatten, a u f vergangene Zeitstufen zurückprojizieren; 1 3 dieses in den K o n t e x t der „vergleichend e n M e t h o d e n " 1 4 gehörende Verfahren bezeichnete Scherer als „historische Analogie" bzw. als „wechselseitige E r h e l l u n g " . Anders als Dilthey u n t e r n a h m Scherer trotz weitgespannter theoretischer u n d philosophischer Interessen nie d e n V e r s u c h einer philosophischen B e g r ü n d u n g der Philologie. Seine A n k n ü p f u n g e n an den englischen E m p i r i s m u s beschränkten sich a u f das P r o g r a m m a t i s c h e , u n d seine Reformulierungen v o n Begriffen wie „Gesetze" d u r c h „wirkende K r ä f t e " 1 5 bzw. „Kausalität" d u r c h „ M o t i v i e r u n g " 1 6 verdeutlichen, daß er 6

Vgl. dazu auch die Rekonstruktion der Auffassungen des späteren Leipziger Positivismus von Roger Chickering, „Das Leipziger Positivisten-Kränzchen um die Jahrhundertwende", in: Kultur und Kulturwissenschaften um 1900, Bd. 2: Idealismus und Positivismus, hrsg. von Gangolf Hübinger, Rüdiger vom Bruch und Friedrich Wilhelm Graf, Stuttgart 1997, S. 227-245, hier S. 241.

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Zu Buckle vgl. die vorzügliche Untersuchung von Eckhardt Fuchs, Henry Thomas Buckle. Geschichtsschreibung und Positivismus in England und Deutschland, Leipzig 1994. 8 Vgl. dazu auch Tom Kindt und Hans-Harald Müller, „Dilthey, Scherer, Erdmannsdörffer, Grimm ein positivistisches Zeitschriftenprojekt in den 1860er Jahren", in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichten, 1999, S. 1-9. 9 Vgl. dazu vor allem Wilhelm Scherer, [Rez.] „Emst Petsche, Geschichte und Geschichtsschreibung unserer Zeit. Leipzig 1865", in: Wilhelm Scherer, Kleine Schriften zur altdeutschen Philologie, hrsg. von Konrad Burdach, Berlin 1893 (Kleine Schriften 1), S. 169-175. 10 Wilhelm Scherer, Zur Geschichte der deutschen Sprache, 2. Ausg., Berlin 1878, S. 19. 11 Vgl. dazu vor allem Wilhelm Scherer, „Die neue Generation", in: ders., Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Osterreich, Berlin 1874, S. 408-414, hier S. 410. 12 Vgl. dazu vor allem Wilhelm Scherer, Zur Geschichte der deutschen Sprache, Berlin 1868, S. VIII, und Scherers Rezension zu H. Hettners Litteraturgeschichte des 18. Jahrhunderts, 3. Theil, 2. Buch, Braunschweig 1864, in: ders., Kleine Schriften zur neueren Litteratur, Kunst und Zeitgeschichte, hrsg. von Erich Schmidt, Berlin 1893 (Kleine Schriften 2), S. 66-71, hier S. 66-68. 13 Vgl. Scherer, Zur Geschichte (Anm. 10), S. 19: „Der einfache methodische Grundsatz, das Nahe, Erreichbare möglichst genau zu beobachten und daran den ursächlichen Zusammenhang zu studieren, um ihn in die Vergangenheit zu projizieren und so deren Ereignisse zu begreifen, ist noch lange nicht in seiner Wichtigkeit erkannt." 14 Vgl. dazu Erich Rothacker, „Die vergleichende Methode in den Geisteswissenschaften", 'm.ZeitschriftfUr vergleichende Rechtswissenschaft 60, 1957, S. 13-33. 15 Vgl. z.B. Scherer, „Die neue Generation" (Anm. 11), S. 411. 16 Vgl. etwa Scherers Hettner-Rezension (Anm. 12), S. 66. Vgl. dazuauchJürgenSternsdorff, Wissenschaftskonstitution und Reichsgründung. Die Entwicklung der Germanistik bei Wilhelm Scherer. Eine Biographie nach unveröffentlichten Quellen, Frankfurt am Main u.a. 1979 (Europäische Hochschulschriften 1,321 ), S. 92 und S. 163.

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bei der Übersetzung zentraler Begriffe des Empirismus in Terme der deutschen historischen Schule kein Purist war. Es ist vielleicht nicht übertrieben zu sagen, daß Scherer die Programmatik des englischen Empirismus im wesentlichen dazu diente, die deutsche Philologie aus dem theoretischen Dornröschenschlafzu wecken und ihre Modernisierung auf allen Gebieten energisch voranzutreiben. Eine solche Rekonstruktion kann sich auf Scherers eigenes Urteil berufen. Zwar war dieser von der Konzeption von Mills „Methodologie der Geschichte" 17 sehr beeindruckt, zugleich war er jedoch davon überzeugt, daß die deutsche Tradition seit Herder jener Methodologie „in der historischen Praxis" überlegen sei, und er meinte sogar, „daß uns jene Principien vielleicht nur darum vortrefflich erscheinen, weil ihr Wortlaut die Unterlegung eines Sinnes gestattet, der lediglich von unserer höheren Praxis abstrahiert ist".18 Das schon von Erich Rothacker beobachtete „faktische Ineinanderfließen romantischer und positivistischer Elemente im Werke Scherers" hat Konsequenzen gehabt, die sich nicht auf die „Verwechslung beider im Urteil der späteren Kritik" 19 beschränken. Scherer wurde es - wiederum im Gegensatz zu Dilthey - bis zu seinem frühen Tod vermutlich nicht deutlich, welche Unvereinbarkeiten es zwischen dem englischen Empirismus und den Prinzipien der deutschen historischen Schule gab. Weit wichtiger ist aber der Umstand, daß der postum auf Scherer angewandte Begriff des „literaturwissenschaftlichen Positivismus" nie auf eine explizit formulierte, rekonstruierte oder gar imitierbare wissenschaftliche Konzeption bezogen war. Damit jedoch war dieser Begriff auch nicht, wie es die geistesgeschichtliche Literaturwissenschaft unterstellte, auf die sogenannte Scherer-Schule übertragbar, die bis zum Tode Erich Schmidts im Jahre 1913 die deutsche Philologie eindeutig dominierte — hier muß im einzelnen untersucht werden, wer den wissenschaftlichen Auffassungen Scherers nahestand und wer nicht. 2 Wilhelm Scherer, geboren am 26. April 1841 im niederösterreichischen Schönborn, 20 wuchs seit 1849 in wohlhabenden Verhältnissen in Wien auf, wo er zunächst ein Internat, 21 dann das Akademische Gymnasium besuchte, auf dem er schon früh in die deutsche Philologie eingeführt wurde. Im Herbst 1858 legte Scherer die Matura ab und immatrikulierte sich als Siebzehnjähriger an der Universität Wien. Hier besuchte er Lehrveranstaltungen in der klassischen Philologie und Indogermanistik bei den

17 Scherer, [Rez.] „Ernst Petsche, Geschichte und Geschichtsschreibung unserer Zeit" (Anm. 9), S. 174. Gemeint ist das „Von der Logik der moralischen Wissenschaften" überschriebene 6. Buch in Mills „System der deductiven und inductiven Logik". 18 Ebd., S. 174f. 19 Rothacker, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Anm. 1), S. 249. 20 Im folgenden greife ich, ohne es jeweils im Detail anzumerken, dankbar zurück auf die SchererMonographien von StemsdorfF, Wissenschaftskonstitution (Anm. 16) und Wolfgang Höppner, Das „Ererbte, Erlebte und Erlernte" im Werk Wilhelm Scherers. Ein Beitrag zur Geschichte der Germanistik, Köln, Weimar und Wien 1993 (Europäische Kulturstudien 5). 21 Es handelt sich um „Fuhrmann's Erziehungs- und Unterrichts-Anstalt in Wien auf der Landstraße, Erdberggasse Nr. 106".

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besten Wissenschaftlern der Zeit, aber an seinem germanistischen Lehrer, dem GrimmSchüler Franz Pfeiffer, fand er ein tiefes Ungenügen, so daß er sich nach vier Semestern entschloß nach Berlin zu gehen, um dort „die Methode" 22 zu lernen. Auf den Erwerb der „Methode" der deutschen Philologie dürfte sich der Einfluß seiner akademischen Lehrer beschränkt haben; in einer autobiographischen Aufzeichnung versicherte Scherer, daß er die Methode der Sprachwissenschaft schon in Wien „begriffen" habe23 und den universalistischen Grundzug seiner Forschungen einer frühen Lektüre von Herders „Ideen"24 sowie dem in der Urbanen Wiener Gesellschaft verbreiteten „Interesse für Culturgeschichte" verdanke - in beiden Beziehungen habe ihm Berlin „nichts Wesendiches gegeben".25 Durch Pfeiffers Vermitdung lernte Scherer in Berlin den greisen Jacob Grimm kennen, „die Methode" lernte er in den germanistischen Vorlesungen vor allem von Moriz Haupt und Karl Müllenhoff, aber er beklagte recht bald die Vernachlässigung der ästhetischen Interessen im akademischen Unterricht, 26 die ihm in den kunstliebenden Wiener Salons selbstverständlich geworden waren. Ostern 1862 plante er nach Wien zurückzukehren, als ihn sein Lehrer Müllenhoff „mit dem ehrenvollen Antrag überraschte, in Gemeinschaft mit ihm die kleinen Denkmäler [...] herauszugeben".27 Die Zusammenarbeit mit Müllenhoff, aus der 1864 di e Denkmäler deutscher Poesie und Prosa aus dem Vili.-XII Jahrhundert hervorgingen, bestimmte Scherers akademische Laufbahn entscheidend. Scherer beeindruckte Müllenhoff durch seine hohe Kompetenz und Verläßlichkeit und erwarb sich schnell dessen Vertrauen und Freundschaft. Zudem waren die von den Rezensenten nahezu einhellig gelobten Denkmäler ein hervorragendes Entréebillett in die deutsche Philologie: an Scherers Anteil, der Edition und Kommentierung althochdeutscher Prosa, wurde wiederholt die methodische Genauigkeit, die „gründliche Kenntnis der mittelalterlichen Musik" sowie die „ausgebreitete Gelehrsamkeit in der im Ganzen wenig gekannten patristischen Literatur" gerühmt. 28 Am 1. Mai 1862 wurde Scherer ohne Dissertation in Wien promoviert. Während der Zusammenarbeit mit Müllenhoff von 1862 bis 1864 hielt Scherer sich in der Vorlesungszeit in Wien, in den Ferien in Berlin auf; an beiden Orten empfing er nach Abschluß seines Studiums Anregungen, die ihn in seiner Grundorientierung entscheidend beeinflußten. In Berlin gehörte er einem Kreis junger Privatdozenten an,29 die sich intensiv mit dem französischen Positivismus und englischen 22 Brief Scherers an Ludwig Speidel vom 27.5.1880, in: „Briefe von Wilhelm Scherer. Mitgetheilt von Ludwig Speidel", in: Neue Freie Preste Nr. 8269 (4.9.1887), S. 1-4, hier S. 3. 23 Ebd., S. 3. 24 Vgl. dazu die bei Sternsdorff, Wissenschaftskonstitution (Anm. 16), S. 83, angegebenen Quellen. 25 Brief Scherers an Ludwig Speidel vom 27.5.1880 (Anm. 22), S. 4. 26 Brief Scherers an Leo Reinisch vom 2.6.1861, zit. nach Sternsdorff, Wissenschaftskonstitution (Anm. 16), S. 73. 27 Wilhelm Scherer, „Bericht über den Gang meiner Studien", zit. nach Sternsdorff, Wissenschaftskonstitution (Anm. 16), S. 74. 28 E. L. Dümmler, [Rez.] „Denkmäler deutscher Poesie und Prosa aus dem 8. bis 12. Jahrhundert. Hrsg. von Karl Müllenhoff und Wilhelm Scherer. Berlin 1864", in: Zeitschrift fur die österreichischen Gymnasien 15, 1864, S. 357-360, hier S. 358f. 29 Vgl. dazu die nicht sehr zuverlässigen Angaben bei Rothacker, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Anm. 1), S. 137.

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Empirismus auseinandersetzten; zu diesem Kreis zählten Herman Grimm, der Historiker Bernhard Erdmannsdörffer und Scherers Freund Wilhelm Dilthey. In Wien verkehrte er etwa in denselben Jahren 30 in einem „historischen Kränzchen"; der spiritus rector dieses Kreises dürfte der klassische Philologe und Übersetzer John Stuart Mills, Theodor Gomperz, 31 gewesen sein; weitere Mitglieder waren u.a. Scherers einstige Kommilitonen Richard Heinzel und Wilhelm Härtel, der später als Minister fur Cultus und Unterricht Scherer erheblichen Einfluß verschaffte. Die ersten erkennbaren Resultate der Anregungen aus diesen beiden Kreisen finden sich in Scherers glänzendem und noch heute lesenswertem Essay über Jacob Grimm, 3 2 der zugleich eine knappe Geschichte der deutschen Philologie enthält - und seiner Studie über Williram von Ebersberg. 33 Bereits ein Jahr nach seiner Promotion beantragte Scherer die Erteilung der venia legendi fur das Fach der deutschen Philologie. Auf eine Intervention Franz Pfeiffers, der mit Müllenhoff infolge des Nibelungenstreiti34 verfeindet und dem dessen Schüler suspekt geworden war, wurde Scherers venia auf gotische, althochdeutsche und mittelhochdeutsche Grammatik sowie die Erklärung der entsprechenden Sprachdenkmäler — unter Ausschluß der Literaturgeschichte - eingeschränkt. 1866 wurde diese Beschränkung aufgehoben - wofür sich besonders Scherers Förderer, der Slavist Franz Miklosich eingesetzt hatte - , und nach Pfeiffers Tod wurde Scherer, da er fiir Berufungen nach Graz und Würzburg im Gespräch war, am 3. Juli 1868 sogleich zum „ordentlichen Professor der deutschen Sprache und Literatur" der Universität Wien ernannt. Der zu Beginn der sechziger Jahre erzwungenen Konzentration auf die Grammatik ist vielleicht das „epochemachendste" 35 Werk Scherers zu verdanken, das 1868 unter dem Titel Zur Geschichte der deutschen Sprache erschien. An keinem der Werke Scherers läßt sich die Verschränkung von Forschungstraditionen der deutschen historischen 30 Rothackers These, daß dem Berliner Kreis eine zeitliche Priorität zukommt und Scherer bei seiner Rückkehr nach Wien einen neuen „Strom positivistischer Ideen aus Berlin nach Wien herübergeleitet" habe, ist falsch. 31 Zur Beziehung zwischen Scherer und Gomperz vgl. Hans-Harald Müller und Mirko Nottscheid, „Der Briefwechsel zwischen Theodor Gomperz und Wilhelm Scherer. Eine Gelehrtenkorrespondenz aus dem Ende des 19. Jahrhunderts" [erscheint bei der österreichischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse], 32 Wilhelm Scherer, Jacob Grimm (Anm. 4). Zur zweiten, verbesserten Auflage des Buchs schrieb Anton E. Schönbach: „Das Buch über Jakob Grimm gilt mir mit vielen Fachgenossen als die schönste Leistung Scherers, des Schriftstellers und Gelehrten." In: Deutsche Litteraturzeitung Jg. 6, Nr. 2 (10.1.1885), S. 49-50. 33 Vgl. Wilhelm Scherer, Leben Willirams Abtes von Ebersberg in Baiern. Beitrag zur Geschichte des XI. Jahrhunderts, Wien 1866. - Die Wirkung von Scherers Williram-Interpretationen ist noch zu sehen bei Volker Schupp, Studien zu Williram von Ebersberg, Bern, München 1978. 34 Der Nibelungenstreit betraf, kurzgefaßt, die Frage, ob das überlieferte Nibelungenlied eine ursprüngliche Einheit darstelle oder nachträglich aus selbständigen Teilen zusammengefügt sei. Vgl. dazu Rainer Kolk, Berlin oder Leipzig? Eine Studie zur sozialen Organisation der Germanistik im „Nibelungenstreit", Tübingen 1990. 35 Josef Körner, „Wilhelm Scherer 1841-1886. Zur dreißigsten Wiederkehr seines Todestages", in: Neue Jahrbücher fur das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur 19, 1916, S. 474-485, hier S. 478, nennt das Werk „das genialste, wenn man will zugleich auch das verfehlteste, jedenfalls das epochemachendste unter allen seinen Werken."

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Schule mit denen des englischen Empirismus so gut verdeutlichen wie an diesem. Einerseits war Scherer mit Buckle davon überzeugt, „dass die Ziele der historischen Wissenschaft mit denen der Naturwissenschaft" wesentlich „verwandt" seien,36 und verlangte die strikte Berücksichtigung der Kausalität auch in der Erforschung des geistigen Lebens, andererseits forderte er die deutsche Philologie dazu auf, „das kühne Unternehmen" zu wagen, „ein System der nationalen Ethik aufzustellen, welches alle Ideale der Gegenwart in sich beschlösse".37 Wenngleich Scherer in erklärtem Gegensatz zu August Schleicher die Sprachwissenschaft stets als Geisteswissenschaft auffaßte, liegt seinem Buch ein Sprachbegriff zugrunde, der sich sowohl nach Analogie der Natur als auch nach der des Geistes interpretieren läßt: Sprache läßt sich wie ein Produkt der Natur erforschen, das strenger Kausalität unterliegt, sie läßt sich aber auch als ein Produkt des Geistes betrachten, und nach dieser Auffassung kann Scherer die Geschichte der deutschen Sprache als die der „Entstehung unserer Nation, von einer besonderen Seite angesehen"38 beschreiben. Scherers Bemühen, sprachliche Prozesse „soweit als möglich in die Tiefen des Nationalcharakters zurückzuführen", hob Dilthey hervor und schrieb: „Es war wohl sein verwegenster Versuch in dieser Richtung, wie er das germanische Akzentgesetz [...] in Zusammenhang mit den Charakterzügen unsres Volkes brachte, aus welchen auch sein Heldengesang und Heldenideal geboren ist."39

Von solchen auf Grimm und Müllenhoff zurückgehenden Versuchen, Gesetzmäßigkeiten des Lautwandels auf nationale Eigenschaften der Sprechergemeinschaften zurückzufuhren, distanzierte Scherer sich indes in der zweiten Auflage seines Buches (1878).40

Auf die Linguistik seiner Zeit, insbesondere auf die Junggrammatiker, 41 machten freilich Scherers nationalpsychologische Interpretationen weit weniger Eindruck als der moderne Geist, der sein Buch bestimmt. Hermann Paul, der Scherer eher feindselig gegenüberstand, faßte Scherers Verdienste in seiner Rezension der zweiten Auflage wie folgt zusammen: „Es ist keine Frage, dass durch die 1868 erschienene erste Auflage dieses Buches, wiewohl sie des Verfehlten vielmehr enthielt als des Richtigen, die deutsche Grammatik und auch die weitere vergleichende Sprachwissenschaft sehr gefördert ist. Die umfassende Verwerthung der Resultate der Lautphysiologie,42 die grössere Strenge in der Handhabung der Lautge-

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Scherer, Zur Geschichte (Anm. 12), S. VIII. Ebd., S. VII. Ebd., S. IX. Wilhelm Dilthey, „Wilhelm Scherer [1886]", in: ders., Vom Aufgang des geschichtlichen Beivußtseins. Jugendaufsätze und Erinnerungen, Leipzig, Berlin 1936 (Gesammelte Schriften 11), S. 236-253, hier S. 247. 40 Vgl. Scherer, Zur Geschichte (Anm. 10), S. XIII, Anm. 1. 41 Über Scherers Einfluß auf die Junggrammatiker vgl. auch die materialreiche Untersuchung von Eveline Einhauser, DieJunggrammatiher. Ein Problemfür die Sprachwissenschaftsgeschichtsschreibung, Trier 1989. 42 Entscheidend war hier fur Scherer die Bekanntschaft mit dem in Wien lehrenden Physiologen Ernst Brücke; vgl. dazu Herta Blaukopf, „Positivismus und Ideologie in der Germanistik", in: Philosophie, Literatur und Musik im Orchester der Wissenschaften, hrsg. von Kurt Blaukopf, Wien 1996 (Wissenschaftliche Weltauffassung und Kunst 2), S. 53-80, bes. S. 67-70.

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Hans-Harald Müller setze, die ausgedehntere Heranziehung der sogenannten falschen Analogie bei der Formenerklärung, das Hinausgreifen bei der Bestimmung der urgermanischen Formen über das Gotische auf die übrigen altgermanischen Dialecte, insonderheit das Althochdeutsche, die Fülle von neuen Ideen, wodurch theils zuerst die richtigen Bahnen betreten wurden, theils, wo sie irre gingen, doch die Aufmerksamkeit auf Fragen gelenkt ward, die bisher noch nicht aufgeworfen waren, alles das waren Vorzüge, wodurch das Werk einen bedeutenden Anstoss zur Weiterentwickelung geben musste. U n d Niemand wird läugnen, dass der Fortschritt, der seitdem gemacht ist, zu einem nicht unbedeutenden Theile den Anregungen Scherer's zu verdanken ist. Aber eben so wenig darf geläugnet werden, dass dieser Fortschritt ein sehr erheblicher ist, dass man sowohl in Bezug auf die positiven Resultate als in Bezug auf die Methode weit über Scherer's damaligen Standpunkt hinausgekommen ist." 43

Wenngleich Scherer nach Pfeiffers Tod seine wissenschaftliche Tätigkeit an der Universität ungehindert entfalten konnte, fühlte er sich in Wien nicht wohl. Die Ursache dafür war vornehmlich der preußisch-deutsche Nationalismus, dem Scherer huldigte und der in Wien auf Widerstand stieß. Der nationalliberale Scherer sah Preußen als die Österreich gegenüber ökonomisch und politisch fortschrittlichere Kraft und verlieh dieser Überzeugung gemeinsam mit Ottokar Lorenz in „nationalen Toasten" auf Kommersen der prodeutschen Burschenschaft „Silesia" einen so prononcierten Ausdruck, daß es das Aufsehen der Presse erregte und er mehrfach vom Minister für Cultus ermahnt wurde. Bis zum Ende des deutsch-französischen Krieges stellte Scherer die demokratischen Gehalte des Nationalliberalismus in den Hintergrund zugunsten eines machtstaatlichen Nationalismus. Nach 1871 indes nahm er in seinen Schriften mehrfach gegen den Überlegenheitsdünkel des deutschen Chauvinismus Stellung und besann sich auf die aufklärerischen Traditionen des Liberalismus. Das wurde nicht zuletzt im Berliner Antisemitismusstreit deutlich, als Scherer — übrigens als einziger Germanist 44 - öffentlich gegen Antisemitismus Stellung bezog, durch den er „unsere nationale Würde unheilbar compromittiert" sah.45 In Wien fühlte Scherer sich um 1870 wegen seiner preußisch-deutschen Haltung „in einer Art Verbannung", 46 wie er an Herman Grimm schrieb. Um so willkommener dürfte ihm die Nachricht Müllenhoffs vom 3. Oktober 1870 gewesen sein, daß dieser sich höhern Orts für seine Berufung nach Straßburg eingesetzt habe. 47 Scherer tat

43 Hermann Paul, [Rez.] „Wilhelm Scherer, Zur Geschichte der deutschen Sprache. Zweite Ausgabe. Berlin 1878", in: Jenaer Literaturzeitung 6, 1879, S. 307-311, hier S. 307f. 44 Vgl. dazu genauer Höppner, Das „Ererbte, Erlebte und Erlernte" (Anm. 20), S. 241. 45 Wilhelm Scherer, „Kreuzzüge und Toleranz", in: Neue Freie Presse Nr. 5530 (20.1.1880), S. 3-4, hier S. 4, zit. nach: Ute Dobrinkat, Vergegenwärtigte Literaturgeschichte. Zum Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit in der Literaturgeschichtsschreibung Wilhelm Scherers am Beispiel der „Skizzen aus der älteren deutschen Literaturgeschichte" und der „Geschichte der deutschen Literatur", Diss. phil. FU Berlin 1978, S. 344. 46 BriefWilhelm Scherers an Herman Grimm vom 15. September 1869, zit. nach Sternsdorff, Wissenschaftskonstitution (Anm. 16), S. 150. 47 Vgl. Briefwechsel zwischen KarlMüllenhoffund Wilhelm Scherer, im Auftrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften hrsg. von Alben Leitzmann. Mit einer Einführung von Edward Schröder, Berlin, Leipzig 1937 (Das Literatur-Archiv 5), S. 403, Brief Nr. 170 vom 3.10.1870; Scherer entgegnete am 31.10.1870, Nr. 171, S. 406: „Ihren Plan mit Straßburg finde ich reizend. Das wäre eine Mission, und ich glaube, die Schwierigkeit der Aufgabe würde was Erziehendes, was Vervollkommnendes fur mich haben."

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seinerseits ein übriges, um sich für eine Berufung nach Straßburg zu empfehlen, indem er in Zusammenarbeit mit Ottokar Lorenz binnen Jahresfrist48 eine nationalistisch

eingefärbte Geschichte des Elsasses von den ältesten Zeiten his aufdie Gegenwart verfaßte.49 Das Buch, das einen Beitrag zur „Kenntnis individueller Eigenart der deutschen Stämme, Landschaften, Stammestheile" leisten wollte,50 ist populär konzipiert; Scherers Teile boten eine essayistische Geschichte der Kultur und des geistigen Lebens. Gleichwohl hatte Scherer, wie er an Müllenhoff schrieb, es nicht lassen können, „unmittelbar aus den Quellen zu arbeiten",51 und so enthalten vor allem die Kapitel zum Drama und Roman des 15. bis 17. Jahrhunderts zahlreiche originäre Forschungsbeiträge. 3 Die Berufung nach Straßburg zog sich freilich noch bis zum Sommersemester 1872 hin - nicht nur wegen der Finanzknappheit der mit ehrgeizigen Zielen gegründeten Universität,52 sondern auch wegen der selbstbewußten Forderungen Scherers.53 Die Straßburger Zeit, die im Herbst 1877 mit dem Ruf nach Berlin zu Ende ging, war nach dem einhelligen Urteil der Scherer-Schüler die erfolgreichste im akademischen Leben Scherers. Die Publikationen aus den Straßburger Jahren lassen sich, wenn man einmal die Fülle der Rezensionen, unselbständigen VeröfFendichungen und Artikel fur Tageszeitungen nicht berücksichtigt, in zwei Gruppen teilen. Die erste Gruppe besteht aus Arbeiten, die Scherer großenteils schon in Wien begonnen hatte; zu ihr zählen neben

der Aufsatzsammlung Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Österreich54 die folgenden Arbeiten: Deutsche Studien II. Die Anfänge

des Minnesanges,55 Geistliche Poeten der deutschen Kaiserzeit,56 Geschichte der deutschen 48 In einem Brief vom 9.9.1870 unterbreitete Scherer Ottokar Lorenz zuerst das Angebot des Verlegers Duncker, eine „populäre Geschichte des Elsaßes" zu schreiben. Nachlaß Scherer, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. 49 Ottokar Lorenz und Wilhelm Scherer, Geschichte des Elsasses von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Bilder aus dem politischen und geistigen Leben der deutschen Westmark, 1. und 2. Halbbd., Berlin 1871. 50 Ottokar Lorenz und Wilhelm Scherer, Geschichte des Elsaßes, 3. verbesserte Aufl., Berlin 1886, S. III. — Das Buch enthält mithin einen der Keime des späteren Sauer-Nadlerschen Konzepts zur Erforschung der Literatur der deutschen „Stämme und Landschaften". - Scherer hatte sich schon während des Studiums bei Franz Pfeiffer mit den mittelhochdeutschen Mundarten und hier speziell mit dem Elsässischen beschäftigt, vgl. „Briefe von Wilhelm Scherer. Mitgetheilt von Ludwig Speidel" (Anm. 22), S. 3. 51 Scherer an Müllenhoff, Brief Nr. 171 vom 31.10.70, in: Briefwechsel zwischen Karl Müllenhoff und Wilhelm Scherer (Anm. 47), S. 405. 52 Vgl. dazu John E. Craig, Scholarship and Nation Building. The Universities of Strasbourg and Abatían Society 1870-1930, Chicago, London 1984. 53 Vgl. hierzu das Schreiben Scherers an den Universitätsgründer von Roggenbach vom 5.1.1872 in: Wilhelm Scherer - Elias von Steinmeyer, Βήφ/echsel 1872-1886, in Verbindung mit Ulrich Pretzel hrsg. von Horst Brunner und Joachim Heibig, Göppingen 1982 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 365), Nr. 3*, S.310. 54 Wien 1874. 55 Wien 1874. 56 Straßburg 1874 und 1875 (Quellen und Forschungen 1 und 7).

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Dichtung im 11. und 12. Jahrhundert57 und der gemeinsam mit Richard Heinzel edierte Wiener Notker.™ Neben dieser Edition zog vor allem die der Geistlichen Poeten die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich; wenn sie fur die neuere Mediävistik von Interesse sind wegen der Belesenheit Scherers im theologischen Schrifttum der Zeit, so würdigten zeitgenössische Rezensionen sie als „ersten schritt zu kritischen ausgaben zahlreicher dichtungen und, was noch wichtiger ist, bedeutende vorarbeiten für eine würkliche litteraturgeschichte des ausgehenden 11. und des 12. Jahrhunderts. [...] Scherer ist der erste, der sich eine Charakteristik der werke und ihrer Verfasser hat angelegen sein lassen".59 Die zweite Gruppe von Arbeiten umfaßt Forschungen, die Scherer in Straßburg begann, insbesondere zu elsässischen Autoren des 16. und 17. Jahrhunderts; zu ihnen zählt auch die Studie über Die Anfänge des deutschen Prosaromans und Jörg Wickram von Colmar,60 schließlich gehören hierher die ersten Arbeiten Scherers zum frühen Goethe. In Straßburg erwies sich Scherer überdies als ein herausragender akademischer Lehrer und Organisator; bedauerlicherweise ist sein Wirken in dieser Rolle noch kaum erforscht, die Aussagen seiner Schüler beschränken sich meist aufs Anekdotische. In die ehrgeizigen Planungen der Universitätsgründer fur die philosophische Fakultät fügte sich Scherers Entschluß, ein Germanisches Seminar zu gründen, hervorragend ein - nach Rostock (1858) und Tübingen (1872) war es 1873 gemeinsam mit Leipzig und Heidelberg das dritte in Deutschland. Zugleich konzipierte Scherer für das Universitätskuratorium einen modernen Lehrplan der deutschen Philologie, mit dem an Fächerbreite und Vollständigkeit keine andere deutsche Universität konkurrieren konnte. 61 Als es Scherers Berufung nach Berlin abzuwehren galt, schrieb der Universitätskurator im Juni 1875 an den Reichskanzler Bismarck: „Nach dem Urtheil fachkundiger Mitglieder der Facultät würde das von Scherer hier gegründete germanistische Seminar unter seiner Leitung in wenigen Jahren das besuchteste deutsche philologische Seminar werden und eine Bedeutung erlangen, wie etwa das Waitz'sche Seminar für Geschichte in Göttingen."62 Die Begründung einer eigenen Schriftenreihe fur Publikationen aus dem Seminar, die seit 1874 erschienenen Quellen und Forschungen, und Scherers Eintritt in die Redaktion des Anzeigers für deutsches Altertum 1876, dessen Titel sogleich in Anzeiger fur deutsches Altertum und deutsche Litteratur umbenannt wurde, runden das — zweifellos immer noch sehr fragmentarische - Bild eines klugen und effizienten Wissenschaftsorganisators ab.

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Straßburg 1875 (Quellen und Forschungen 12). Notkers Psalmen nach der Wiener Handschrift herausgegeben, Straßburg 1876. Max Roediger in: Anzeigerftir deutsches Altertum 1, 1875, S. 65-88, hier S. 65. Straßburg 1877 (Quellen und Forschungen 21). Brief Scherers an das Curatorium der Universität Straßburg vom 24.1.1873, in: Scherer- von Steinmeyer, Briefwechsel (Anm. 53), Nr. 7*, S. 315-317, hier S. 317. 62 Brief des Universitätskurators Ledderhose an Reichskanzler Bismarck vom 8.6.1975, in: Scherer-von Steinmeyer, Briefwechsel (Anm. 53), S. 323.

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4 Schon im Frühjahr 1875 wurde dem Kurator der Universität Straßburg mitgeteilt, daß der preußische Kultusminister die Berufung Scherers auf „einen an der Universität zu Berlin zu errichtenden Lehrstuhl der neueren deutschen Literaturgeschichte" plane.63 Da sowohl die Universität als auch Bismarck Scherer noch einige Jahre in Straßburg zu halten wünschten, wurde diesem zunächst eine großzügige Gehaltserhöhung gewährt und der Ruf an die Berliner Universität erst am 3. September 1877 erteilt. In Berlin, wo er im Juli 1884 als erster Vertreter der neueren deutschen Literaturgeschichte in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen wurde und ein Jahr später den Titel eines preußischen Geheimen Rats erhielt, erreichte Scherer in ungebrochenem Tätigkeitsdrang weit über die Universität der Reichshauptstadt hinaus den Ruf eines der fuhrenden deutschen Germanisten. Scherers Berliner Vorlesungen konzentrierten sich zunächst auf die neuere Literaturgeschichte, in der vorlesungsfreien Zeit arbeitete er überwiegend an seiner Geschichte der deutschen Literatur. Das Projekt einer Literaturgeschichte hatte Karl Müllenhoff auf Anraten eines Verlegers Scherer schon 1872 nahegelegt; dieser hatte es auf Grund anderer Arbeitsverpflichtungen jedoch erst 1878 begonnen. Von 1880 bis 1883 erschien die Literaturgeschichte dann in Einzellieferungen, bevor sie in der Buchausgabe sehr erfolgreich wurde: bis 1949 erschienen sechsundzwanzig Auflagen. Die vordergründige Absicht Scherers war es, die in religiöser und politischer Hinsicht reaktionäre, aber erfolgreiche Literaturgeschichte A. F. C. Vilmars64 vom Markt zu verdrängen. Daneben aber verband Scherer mit der Geschichte ¿1er deutschen Literaturweitergehende, langgehegte Vorstellungen: Er wollte die historische Betrachtung mit der ästhetischen Beurteilung literarischer Werke verbinden und so bei den Lesern eine erzieherische Wirkung erzielen. An den Feuilletonredakteur der Wiener Neuen Freien Presse, in der er — zum Entsetzen und zur Empörung der meisten Fachkollegen — die ersten Kapitel der Literaturgeschichte erscheinen ließ, schrieb er: „Mein Ehrgeiz war, wenn es nicht unbescheiden ist, das auszusprechen, ein Kunstwerk zu schaffen."65 Scherer dürfte es bewußt gewesen sein, daß das Vorhaben, eine Geschichte des deutschen Geisteslebens von den Anfängen bis zu Goethes Tod in dreizehn Kapiteln zu schreiben, ihm weniger wissenschaftliche als vielmehr Darstellungsprobleme bereiten würde, die es mit Fragen der Vereinfachung, der Raffung, der Gewichtung und Akzentuierung zu tun hatten. Die grobe historische Strukturierung leistete für Scherer die schon früheren Arbeiten zugrundegelegte66 „Blütezeitentheorie",67 deren Kernannahme darin bestand, daß 63 Schreiben des Reichskanzlers Bismarck an den Universitätskurator in Straßburg vom 30.4.1875, zit. nach Sternsdorff, Wissenschaftskonstitution (Anm. 16), S. 177f. 64 Zu Vilmars Literaturgeschichte vgl. Jürgen Fohrmann, Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Kaiserreich, Stuttgart 1989, S. 262-268. 65 Brief Scherers an Ludwig Speidel vom 1.4.1880, in: „Briefe von Wilhelm Scherer. Mitgetheilt von Ludwig Speidel" (Anm. 22), S. 2. 66 Vgl. dazu Höppner, Das „Ererbte, Erlebte und Erlernte" (Anm. 20), S. 46-58. 67 Vgl. zu ihr Wolfgang Pfaffenberger, Blütezeiten und nationale Literaturgeschichtsschreibung. Eine wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung, Frankfurt am Main u.a. 1981 (Europäische Hochschulschriften 1,353), zu Scherer vor allem S. 256-272.

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mit „Gesetzmäßigkeit" in einem Zyklus von 300 Jahren Verfalls- und Blütezeiten der deutschen Literatur in der Geschichte einander folgen. Während diese Theorie, in der wiederum traditionelle organologische Annahmen von Herder bis zur historischen Schule mit Gesetzespostulaten des Empirismus zusammenflössen, zumindest für die Blütezeiten von 1200 bis 1800 empirische Anschaulichkeit besitzt, gehören die von Scherer postulierten Begleitumstände dieser Blütezeiten eher in den Bereich der Ideologie: ein tendenziell gegen die Kirche gerichtetes Bündnis von Bürgertum und Adel, das zur Blüte eines Humanismus führe. Die interne Strukturierung der Literaturgeschichte Scherers, die bislang kaum befriedigend untersucht worden ist, 68 beruhte wesentlich auf Scherers künstlerischer Handhabung des Gestaltungsprinzips der „Charakterisierung", 69 das er bei Wilhelm von Humboldt rühmte und das sowohl für Personen als auch für Werke wie schließlich für ganze Zeitströmungen und Epochen Anwendung fand, die Scherer je nach Einschätzung ausfuhrlich und prägnant kennzeichnete oder gnadenlos bis auf wenige strukturelle oder kontinuitätsträchtige Elemente zusammenstrich. Wilhelm Dilthey schrieb im Hinblick auf Scherers Literaturgeschichte, „das Herz dieses Werkes" sei „der Glaube, daß unser Volk in seiner Dichtung das Bewußtsein seines tiefsten Wesens errungen hat". 70 Theodor Gomperz entgegnete auf Scherers Frage, ob er den inneren „Plan" seiner Literaturgeschichte erkannt habe: „Ich kann nur sagen, daß mir als Epigraph Ihres Werkes der Satz erscheint: Führung der Deutschen zum Schönen und durch dieses zum Guten." 7 1 Scherer widersprach, soweit wir wissen, dieser Charakterisierung nicht. In der Lehre und Forschung stellte der T o d seines Lehrers Karl Müllenhoffam 19. Februar 1884 für Scherer eine deutliche Zäsur dar. Er erklärte sich bereit, im Bereich der älteren Germanistik zu unterrichten, setzte sich tatkräftig für die Edition der von Müllenhoff weitgehend fertiggestellten Teile der Altertumskunde ein, und er machte sich daran, eine Biographie Müllenhofifs zu schreiben, 72 die indes erst postum erschien. Der „letzte Akt als Professor mit dem Schwergewicht in der neueren Literatur" 7 3 war Scherers Vorlesung über Poetik, die er im Sommersemester 1885 hielt. Die

68 Vgl. dazu immerhin die Dissertation von Ute Dobrinkat, Vergegenwärtige Literaturgeschichte (Anm. 45) und Wolfgang Höppner, „Literaturgeschichte erzählen. Zur Methodologie der Literaturhistoriographie bei Wilhelm Scherer", in: Geschichte der österreichischen Literatur, Bd. 1, hrsg. von Donald G. Daviau und Herbert Arlt, St. Ingbert 1996 (österreichische und internationale Literaturprozesse 3), S. 24-39. 69 Vgl. dazu Wilhelm Scherer, [Rez.] ,Ansichten über Ästhetik und Litteratur von Wilhelm von Humboldt. [...] Hrsg. von Friedrich Jonas [1880]", in: ders., Kleine Schriften zur altdeutschen Philologie (Anm. 9), S. 201-203, hier S. 201f. - Über Scherers „Kunst der Charakteristik" vgl. auch den wichtigen Hinweis bei Erich Schmidt, „Wilhelm Scherer", in: Goethe-Jahrbuch 9, 1888, S. 249-262, hier S. 252f. 70 Dilthey, „Wilhelm Scherer" (Anm. 39), S. 248. 71 Theodor Gomperz, Brief an Wilhelm Scherer vom 15.1.1884, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Nachlaß Wilhelm Scherer. 72 Vgl. Wilhelm Scherer, Karl Müllenhoff. Ein Lebensbild, Berlin 1896. Ti Brief Nr. 256 von Scherer an Erich Schmidt vom 28.4.1885, in: Wilhelm Scherer - Erich Schmidt, Briefwechsel, mit einer Bibliographie der Schriften von Erich Schmidt hrsg. von Werner Richter und Eberhard Lämmert, Berlin 1963, S. 200.

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ersten Ideen zu einer empirischen Poetik finden sich bei Scherer, der die Vernachlässigung ästhetischer Fragen durch die Philologie schon während seiner Studienzeit beklagt hatte, bereits in den sechziger, konzeptionelle Überlegungen zu ihr verstärkt in den siebziger Jahren 74 - sie bezeichnete er aber noch 1882 als „mehr embryonische Gedanken als ein entworfenes System",75 das er vermutlich erst für die vielbesuchte Vorlesung ausarbeitete, die 1885 „als das literarische Ereignis Berlins" galt. 76 Die von Richard Moritz Meyer nach Scherers Konzept und Hörer-Nachschriften edierte Poetik ist „wissenschaftlich ein Torso und literarisch ein Product, an welches der Autor nicht die letzte Hand gelegt hat"; 77 die Druckfassung macht weder die Faszination verständlich, die die Vorlesung auslöste, noch die unmittelbar nach Scherers Tod formulierte Erwartung Wilhelm Diltheys, daß in dieser Poetik „in gewissem Sinne" Scherers „originalste Leistung" liegen werde. 78 Ihrem Anspruch nach sollte die historisch-empirische Poetik Scherers die normative Ästhetik in ähnlicher Weise ablösen wie einst die deskriptive Grammatik Jacob Grimms die normative Grammatik des 18. Jahrhunderts abgelöst hatte,79 doch in den disparaten Teilen der gedruckten Poetik ist, so anregend sie im einzelnen auch sein mögen, der konzeptionelle Rahmen zur Einlösung eines solchen Anspruchs kaum erkennbar. Was Scherers Poetik, die einmal gründlich im Kontext der zeitgenössischen Poetik-Entwürfe einschließlich der Diltheys80 rekonstruiert zu werden verdient, noch heute interessant macht, ist vor allem zweierlei. Zum einen ist es die Konzeption von „Literatur als Ware", die Scherer in Anknüpfung an die historische Schule der deutschen Nationalökonomie81 darstellt und in empirisch gehaltvollen Skizzen vom 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts erstmalig konsequent verfolgt; zum anderen ist es die gewissermaßen protostrukturalistische - von Scherer in Analogie zur Physiologie82 gewonnene - Auffassung der Gattungen 83 und der poetischen Mittel 84 als eines vollständigen und geordneten Systems, von denen einige historisch realisiert, andere nicht realisiert, aber möglich sind.

74 Vgl. dazu auch Höppner, Das „Ererbte, Erlebte und Erlernte" (Anm. 20), S. 81-88. 75 Brief Scherers an Erich Schmidt vom 4.12.1882, in: Scherer - Schmidt, Briefwechsel (Anm. 73), S. 180. 76 Ludwig Geiger, „Ranke und Scherer", in: Vossische Zeitung Nr. 310 (Morgen-Ausgabe 20.6.1918), S. 2-3, hier S. 3. 77 Jacob Minor, [Rez.] „Wilhelm Scherer, Poetik", in: Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 40, 1889, S. 152-156, hierS. 153. Gleichwohl bezeichnete Minor ebd. die Poetik als „das kühnste Buch, welches Scherer geschrieben". 78 Dilthey, „Wilhelm Scherer" (Anm. 39), S. 252. 79 Vgl. dazu Wilhelm Scherer, Poetik, mit einer Einleitung und Materialien zur Rezeptionsanalyse hrsg. von Gunter Reiss, München 1977 (Deutsche Texte 44), S. 50: „Diese philologische Poetik soll der früheren Betrachtungsweise gegenüberstehen wie die historische und vergleichende Grammatik seit J. Grimm der gesetzgebenden Grammatik vor J. Grimm gegenübersteht." 80 Vgl. Wilhelm Dilthey, „Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine fur eine Poetik", in: ders., Abhandlungen zur Poetik, Ethik und Pädagogik, hrsg. von Georg Misch, 6. Aufl., Stuttgart, Göttingen 1978 (Gesammelte Schriften 6), S. 103-241. 81 Insbesondere Wilhelm Roscher und Karl Knies, mit deren Arbeiten Scherer sich intensiv auseinandersetzte. 82 Vgl. Scheret, Poetik (Anm. 79), S. 49. 83 Vgl. dazu ebd., S. 25. 84 Vgl. ebd., S. 49.

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Hans-Harald Müller Hatte Scherer sich in Straßburg vornehmlich mit dem jungen Goethe beschäftigt,

so widmete er einen großen Teil seiner Berliner Lehr- und Forschungstätigkeit Goethes Gesamtwerk, insbesondere dem Faust, die abgeschlossenen Arbeiten dieser Zeit wurden später von Erich Schmidt unter dem Titel Aufiätze über Goethe herausgegeben. Ein Teil von ihnen behandelt die Entstehungsgeschichte einzelner Werke und Fragmente, jedoch nicht mehr mit den „etwas tumultuarisch aufgepflanzten Kombinationen", 8 5 die Scherers Anteil an den Arbeitend«* Goethes Frühzeit?6 ausgezeichnet hatten — vor allem seine Hypothese über die Entstehungsgeschichte des Faust, die zu langen und erbitterten Auseinandersetzungen sogar in der Tagespresse geführt hatte. Ein anderer Teil umfaßt Rezensionen und Kommentare zu einzelnen Werken; die Bedeutung dieser Arbeiten sah bereits Scherer selbst weniger in den einzelnen Resultaten seiner Studien als in deren „principiellem Werth", 8 7 sei es, daß sie, wie es schon Michael Bernays angeregt hatte, 8 8 die strengen philologischen Methoden aus dem Bereich der klassischen Philologie oder der älteren Germanistik auf die neuere Literaturwissenschaft übertrugen, sei es, daß sie sich bemühten, Philologie und Ästhetik bei stilgeschichtlichen Untersuchungen zusammenzufuhren. 89 Bereits im Herbst 1 8 8 4 ermunterte Scherer seinen Schüler Erich Schmidt, mit ihm einmal die Grundsätze einer neuen Goethe-Ausgabe zu erörtern. 90 Als am 15. April 1 8 8 5 der letzte Goethe-Enkel starb und die Erzherzogin Sophie von Sachsen als Universalerbin einsetzte, war der W e g für diese und andere ehrgeizige Unternehmungen frei. In den vielen Verhandlungen mit der Erzherzogin wurde Scherer deren „Vertrauensmann", 9 1 und die im Juni 1 8 8 5 gegründete Goethe-Gesellschaft wählte ihn zum Vizepräsidenten. Erich Schmidt berichtet, 9 2 daß Scherer an den Grundsätzen der Goethe-Ausgabe bis zu seinem T o d wesendich mitgearbeitet und sich mit dem Plan einer Goethe-Biographie getragen habe, die aus drei Teilen, Biographie, Dichtung, Wissenschaft, bestehen sollte. 85 Schmidt, „Wilhelm Scherer" (Anm. 69), S. 259. Vgl. auch Schmidts Rezension zu Aus Goethes Frühzeit, in: Historische Zeitschrift 44, 1880, S. 170-172 und die polemische Rezension von Friedrich Zarncke in: Literarisches Centraiblatt 1879, Nr. 40, Sp. 1298-1291. 86 Vgl. Aus Goethes Frühzeit. Bruchstücke eines Commentars zum jungen Goethe, mit Beiträgen von Jacob Minor, Max Posner und Erich Schmidt, Straßburg 1879 (Quellen und Forschungen 34). 87 Wilhelm Scherer, „Betrachtungen über Îzast", in·, àeis., Aufiätze über Goethe, Berlin 1886, S. 293-326, hier S. 323. Vgl. dazu auch Schmidt, „Wilhelm Scherer" (Anm. 69), S. 259. 88 Vgl. Michael Bernays, Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes, Berlin 1886 und Bernays' Einführung zu Der junge Goethe. Seine Βήφ und Dichtungen von 1764-1776, Leipzig 1875, bes. S. VIVII. Auf Bernays' Vorbild bezieht sich Scherer explizit in seinem Aufsatz „Goethe-Philologie", in: ders., Aufiätze über Goethe (Anm. 87), S. 1-28, hier S. 10. 89 Vgl. dazu Wilhelm Scherer, „Neue Faust-Commentare", in: ders., Aufiätze über Goethe (Anm. 87), S. 283-292, hier S. 286: „Muß doch der gewissenhafte Beobachter gestehen, daß die rechte Art, den Faust zu erklären, eben erst beginnt und daß ihre Aufgabe, im strengsten Sinne der Philologie und Ästhetik genommen, ungemein schwer und wohl nur durch fortgesetzte gleichgerichtete Thätigkeit mehrerer annähernd zu lösen ist." 90 Vgl. Scherer- Schmidt, Briefwechsel (Anm. 73), Brief Nr. 241 vom 5.10.1884, S. 193. 91 Edward Schröder, „Wilhelm Scherer", in: Allgemeine deutsche Biographie, Bd. 31 Leipzig 1890, S. 104114, hier S. 109. - Vgl. auch die Notizen, die sich die Großherzogin und Scherer von ihrem Gespräch am 30. Mai 1885 machten, in: Wolfgang Goetz, Fünfzig Jahre Goethe-Gesellschaft, Weimar 1936 (Schriften der Goethe-Gesellschaft 49), S. 22f. 92 Schmidt, „Wilhelm Scherer" (Anm. 69), S. 261.

Wilhelm Scherer

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Ein besonderes Profil erhielt Scherers Berliner Professur durch seine Bemühungen um die Gegenwartsliteratur. 93 In seiner Antrittsrede vor der Akademie hatte er an die deutsche Philologie die Forderung gestellt: „Sie hat das Recht, ja die Pflicht, der Litteratur der Gegenwart ihren sympathischen Antheil zu schenken; und es geziemt ihren Vertretern, dass sie die Sprache, die sie forschend ergründen sollen, auch kunstmässig zu handhaben und sich einen Platz unter den deutschen Schriftstellern zu verdienen wissen." 9 4

Scherer glaubte an den erzieherischen Wert einer professionellen Literaturkritik unter wissenschaftlicher Anleitung, und in seinen Bemühungen um die Gegenwartsliteratur flössen seine literarischen, ästhetischen und nationalpädagogischen Interessen zusammen. Ein lebendiges Verhältnis zur Gegenwartsliteratur besaß er schon seit seiner Studienzeit, in der er in den Wiener Salons verkehrt hatte, die sich der talentierten Maler, Musiker und Schriftsteller der Stadt annahmen. Scherers Bekanntschaft zu Eduard von Bauernfeld, Johannes Brahms und Eduard von Hanslick stammte noch aus der Wiener Zeit, später in den Berliner Jahren trat er in Kontakt zu Gustav Freytag, Friedrich Spielhagen, Berthold Auerbach, Ernst von Wildenbruch, Emanuel Geibel und Paul Heyse. Die meisten dieser Autoren rezensierte Scherer auch an prominenter Stelle, wobei ihm seine Freundschaft mit Julius Rodenberg, dem Herausgeber der Deutschen Rundschau, ebenso zugute kam wie die zu seinem Schüler Max Roediger, dem Herausgeber der von Theodor Mommsen und Scherer begründeten Deutschen Litteraturzeitung. Scherers literarischer Geschmack zeichnete sich - im Gegensatz zu dem seiner Schüler Otto Brahm und Paul Schienther - nicht durch eine avantgardistische Orientierung aus, und so ist die Tatsache, daß er die Literaturwissenschaft auf ein produktives Verhältnis zur Gegenwartsliteratur verpflichtete und selbst dieser Verpflichtung nachkam, sicher von größerer Bedeutung als seine literaturkritischen Arbeiten im einzelnen. 5 Wilhelm Scherer starb, nachdem ihn in seinem Dekanatsjahr 1885 einige Schwächeanfälle heimgesucht hatten, am 6. August 1886 an einem Schlaganfall. Seine Bedeutung beruht vor allem auf der universalistischen Konzeption der deutschen Philologie, an deren wissenschaftstheoretischer Fundierung er ebenso interessiert war wie an einer Überwindung der ldeinteiligen Departementalisierung der historisch gewachsenen Disziplinen. Dieses Bestreben dokumentiert sich nicht allein in seiner interdisziplinären Arbeitsweise, sondern schon auf den Forschungsgebieten, die er erfolgreich bearbeitete: Sie reichen von der Wissenschaftsgeschichte 95 über die 93 Vgl. dazu ausführlicher Höppner, Das „Ererbte, Erlebte und Erlernte" (Anm. 20), S. 149-173. 94 Wilhelm Scherer, „Antrittsrede", in: Sitzungsberichte der königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 3. Juli 1884, 2. Halbbd., Juni-Dezember, S. 727-729, hier S. 728. 95 Hier wären neben der in zwei Auflagen erschienenen Schrift über Jacob Grimm (vgl. dazu Anm. 3) auch die zahlreichen Beiträge über Germanisten zu nennen, die Scherer für die Allgemeine Deutsche Biographie schrieb und die nach seinem Tod im ersten Band der Kleinen Schriften versammelt wurden (Anm. 9).

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Grammatik und Sprachgeschichte in die ältere und neuere deutsche Literaturgeschichte unter Einschluß der Gegenwartsliteratur sowie schließlich die Kunstgeschichte.96 Im Gegensatz zu vielen seiner Fachkollegen hatte Scherer keine Berührungsangst vor der Presse - annähernd die Hälfte seiner zu Lebzeiten veröffentlichten 410 Publikationen erschien in Tageszeitungen, Zeitschriften oder populärwissenschaftlichen Organen; 97 Scherer verstand es, sich öffentlichkeitswirksam fur sein Fach und seine eigenen Interessen einzusetzen. Neben all diesen Fähigkeiten besaß er auch die eines fiir die Zentren der institutionellen Macht sensiblen Wissenschaftsorganisators: Er pflegte gute persönliche Beziehungen zu hochrangigen Beamten des preußischen und des österreichischen Kultusministeriums, und er hatte Einfluß auf mehrere wissenschaftliche Zeitschriften. Nach dem Urteil seiner Schüler war er schließlich ein eindrucksvoller und fürsorglicher akademischer Lehrer, der sich fur die Interessen und Karrieren seiner Schüler wohl auch in eigenem Interesse einsetzte. Nach Scherers Tod lehrten mehr als fünfundzwanzig seiner Schüler als Professoren in Deutschland und Österreich. Die Geschichte dieser einflußreichen Scherer-Schule ist noch nicht geschrieben.98

96 Vgl. dazu vor allem die 1872 entstandene Studie „Über Raphaels Schule von Athen", in: Kleine Schrifien 2, (Anm. 12), S. 191-212. Über einen von Scherer geplanten Band kunstgeschichtlicher Arbeiten vgl. ebd., S. 191 die Anmerkung Erich Schmidts. 97 Vgl. dazu Ute Dobrinkat, Vergegenwärtigte Literaturgeschichte (Anm. 45), S. 144. 98 Vgl. zu den Scherer-Bildern in der Germanistik: Ulrich W y s s , „Abgrenzungen. Die Germanistik um 1900 und die Tradition des Fachs, in: Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900, hrsg. von Christoph König und Eberhard Lämmert, Frankfurt am Main 1999 (Fischer Taschenbuch 14262), S. 61-77.

ULRIKE H A S S - Z U M K E H R

Hermann Paul (1846-1921) Im Museum der germanistischen Sprachwissenschaft sind nach Achtundsechzig die Bilder der Gründungsväter umgehängt worden: An der Stelle Jacob Grimms hängt seither Hermann Paul, Kopf der sogenannten Junggrammatiker, als Begründer der modernen germanistischen Linguistik. Anders als Ferdinand de Saussure oder der noch lebende Noam Chomsky, die einer einzelsprachunabhängigen, allgemeinen modernen Linguistik roots und historische Würde garantieren müssen, gilt Hermann Paul als der Sprach- und Literaturwissenschaft vereinende Germanist mit theoretisch-linguistischem Schwerpunkt. Gerade diejenigen unter den heutigen germanistischen Linguistinnen, die ihren Standort als zur Literatur- und Kulturwissenschaft des Deutschen hin offen begreifen, sehen immer wieder von neuem bei Paul nach, wie man es anstellen muss, um gesamtgermanistische und auch öffendiche Akzeptanz zu erringen. Auf Anerkennung und Professur musste Paul allerdings recht lange warten. 1877 wurde seine außerordentliche Professur fiir deutsche Sprache und Literatur in Freiburg, die er seit 1874 innehatte, in ein Ordinariat umgewandelt und erst 1893 erhielt er den ersehnten Ruf als Ordinarius fur Deutsche Philologie nach München. 1 Zuvor hatten sieben Male primo loco auf einer Berufungsliste nicht zum Erfolg gefuhrt; nur einmal hatte Paul wegen zu geringer Besoldung selbst abgelehnt. 2 Schuld daran hatte nach Pauls persönlicher Auffassung Wilhelm Scherer, sein Kontrahent in einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung um die maßgeblichen Faktoren in der Frühgeschichte der deutschen Sprache und um ihre Deutung. Dieser Konflikt von Berlin (Scherer) contra Leipzig (Pauls Ausbildungsuniversität) wurde von den Zeitgenossen als neue Variante oder Fortfuhrung des älteren Nibelungenstreits zwischen Haupt/Müllenhoff (Berlin) und Pfeiffer/Bartsch (Wien) begriffen. 3 Die Gemeinsamkeit beider germanistikgeschichdichen Streitfälle liegt in der Polarisierung der verfochtenen Methoden: Phantasie, Intuition und aktuell-nationale Bezüge der Sprachgeschichtsschreibung bei Scherer versus gedankliche Schärfe, Prinzipientreue, Logik und Verweigerung jeglicher politischen Ausnutzung der Forschung bei Paul und den übrigen Junggrammatikern. Vielleicht spielte außerdem Pauls persönliche Wissenschaftsauffassung bei dem Konflikt und seinen Auswirkungen eine weitere Rolle; vor allem in Rezensionen war er ein Meister der Polemik und offensichdich ohne jede Konzilianz. Wilhelm Braune 1

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Magdalena Bonk, Deutsche Philologie in München. Zur Geschichte des Faches und seiner Vertreter an der Ludwig-Maximilians- Universität vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, Berlin 1995. Carl von Kraus, „Hermann Paul", in: Deutsches Biographisches Jahrbuch 3, 1927, S. 206-208. Vgl. Sprachwissenschaftliche Germanistik. Ihre Herausbildung und Begründung, hrsg. von Werner Bahner und Werner Neumann, Berlin 1985, S. 209; Bonk, Deutsche Philologie in München (Anm.l), S. 169.

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charakterisierte den Freund gegenüber dem gemeinsamen Lehrer Zarncke, nach Gründen fur den ausbleibenden Ruf suchend, als dogmatisch: „Persönlich könnte man eigentlich gegen ihn nichts haben; ich finde da kommt man recht gut mit ihm aus. Daß er freilich, wenn er die Feder ansetzt, etwas scharf ist und seine Meinung stets scharf betont und für das allein gültige hinstellt, läßt sich nicht leugnen." 4

1 „Meine wissenschaftlichen arbeiten", so schrieb Paul in dem postum veröffentlichten Text „Mein leben", „bewegten sich im anfang auf zwei verschiedenen gebieten" und nennt einerseits „Interpretationen und textkritik sowie [...] literarische beurteilungen mittelhochdeutscher dichtungen", andererseits „die laut- und flexionslehre der germanischen sprachen".5 Die Beschäftigung mit dem Neuhochdeutschen scheint vor allem durch seine Freiburger Lehrverpflichtungen angeregt worden zu sein, in denen er allein das gesamte Fach abzudecken hatte. Die Literatur „von Gottscheds Auftreten bis zu Schillers Tode", „Schiller" und „Lessing" waren etwa seine Vorlesungsthemen.6 Das Neuhochdeutsche wurde bestimmend fur seine Münchener Zeit, in der sich sein Interesse zugleich mehr von der Literatur weg und zur Sprache hin entwickelte. Die Bibliographie seiner Schriften zeigt,7 dass die Verschiedenheit der Forschungsgebiete keine Sache des Gegenstandes ist, sondern der Methode. Ob Interpretation und Textkritik oder Grammatik und Lexikologie - grundsätzlich verstand Paul sich frei darin, germanische oder romanische, mittelhochdeutsche oder neuhochdeutsche Sprachquellen für diese Forschungen auszuwählen. De facto blieb er im deutschen Sprachkreis, doch wandelte sich der Status der Quellen je nach methodischem Zugriff: Während Interpretation und Textkritik auf den Text und sein Verständnis hinzielten, erwachte schon beim Schmieden des textkritischen Instrumentariums nicht selten die Lust am System der Sprache generell, dem gegenüber die Texte zum empirischen, exemplarischen und beinahe austauschbaren Anschauungsmaterial des Eigentlichen, d.h. der Sprachgesetze bzw. der methodischen Prinzipien wurden. Während Literaturwissenschaftler dies zumindest heute leicht als Verarmung oder Verengung des philologischen Interesses einordnen, sah Paul im Verständnis der sprachsystematischen Gegebenheiten die Voraussetzung fur ein Verstehen spezifisch literarischer Formen, die selbst im Falle außergewöhnlicher Kreativität immer auf das System und auf die anerkannte Norm bezogen werden mussten.8 Die Inhalte literarischer und erst recht nicht-literarischer Texte lagen in Forschung und Lehre scheinbar am Rande von Pauls Interessen. Im Gegensatz dazu stand allerdings die Zielrichtung eines Werks, das die Sprachwissenschaft meist nicht zu den 4 5 6 7 8

Braune an Zarncke, 31.12.1887, zit. nach Eveline Einhauser, Die Junggrammatiker. Ein Problem fiir die Sprachwissenschaftsgeschichtsschreibung, Trier 1989, S. 383. Hermann Paul, „Mein leben", in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 46,1922, S. 495-498. Bonk, Deutsche Philologie in München (Anm. 1), S. 174. Paul, „Mein leben" (Anm. 5), S. 499-500. Vgl. Bonk, Deutsche Philologie in München (Anm. 1), S. 177.

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eigentlichen wissenschaftlichen Arbeiten Pauls zählt: sein Deutsches Wörterbuch, 1897 erschienen bei seinem Verlag Max Niemeyer in Halle. Hier suchte er auf semantischem Gebiet nachzuvollziehen, was er in anderen Publikationsformen ftir Lautstand und Grammatik vorgeführt hatte: den Sprachwandel nicht nur zu beschreiben, sondern möglichst auch systematisch zu erklären.9 Seit der ersten Auflage seiner Principien der Sprachgeschichte von 1880 hatte Paul die seinerzeit neue Wissenschaft der Psychologie mit ihren Begriffen Attraction, Reaction, Assoziation und (Gruppierung von) Vorstellungen fur die Semantik nutzbar zu machen versucht und auch der spezifisch junggrammatische Begriff der Analogie erschien bei Paul stärker als bei seinen junggrammatischen Kollegen psychologisch gegründet. Es ist deshalb durchaus denkbar, dass auch die kognitive Linguistik der neunziger Jahre Paul noch einmal als einen wissenschaftsgeschichtlichen Gewährsmann entdeckt. In der wie üblich scharfen Auseinandersetzung mit der sogenannten Völkerpsychologie, insbesondere mit den Ideen Wilhelm Wundts, stellte Paul immer wieder heraus, dass psychologische Erklärungen vom Individuum auszugehen haben, dem allein der Besitz einer Seele oder eines Geistes zugesprochen werden könne. In seinem Deutschen Wörterbuch wie auch in seinen beiden Grammatiken zum Mittelhochdeutschen und zum Neuhochdeutschen wird die breite empirische Fundierung von Pauls theoretischen Entwürfen deudich. Die Sammlung des in diesen Arbeiten verwerteten Materials muss lange gedauert und die Arbeit an den Principien wie an den Beiträgen zum Grundriss der germanischen Philologie (Straßburg 1891 und 1893) stetig begleitet haben. Aus der Verbindung von Empirie und Theorie floss auch die reflektierte Methodenlehre,10 in der Paul die germanische Philologie auf eine einheitliche Grundlage stellte, nämlich auf die des mit unterschiedlichen Quellen umgehenden Historikers. Die trotz einiger grundsätzlicher Gemeinsamkeiten bestehenden Unterschiede Saussurescher und Paulscher Sprachtheorie11 lassen sich auf den empirisch-methodischen Erfahrungshintergrund Pauls zurückführen, der dem anderen wirkungsmächtigen Linguisten der Zeit, Ferdinand de Saussure, fehlte. Man versuchte immer wieder, Pauls Diktum, es könne keine andere wissenschaftliche Betrachtung der Sprache geben als die geschichtliche,12 zu de Saussures' ebenso entschieden formuliertem Primat der Synchronie in Beziehung zu setzen.13 Der Schwerpunkt von Pauls Gesamtwerk lag in der Tat auf den systematischen Gesetzmäßigkeiten des Sprachwandels, wie er sich aus den literarischen Quellen von althochdeutscher Zeit bis in seine Gegenwart

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Herbert E. Wiegand, „Zur Geschichte des Deutschen Wörterbuchs von Hermann Paul", in: Zeitschrift fiir germanistische Linguistik 11, 1983, S. 301-320; Helmut Henne, Heidrun Kämper und Georg Objartel, „Das Wörterbuch im Visier - Hermann Pauls systematische Arbeit. 100 Jahre Deutsches Wörterbuch (1897-1997)", in: Zeitschriftför germanistische Linguistik 25, 1997, S. 167-199. In: ders., Grundriss der germanischen Philologie, Straßburg 1891, S. 152-170. Vgl. Henne, Kämper und Objartel, „Das Wörterbuch im Visier" (Anm. 9), S. 184-187; Marga Reis, „Hermann Paul", in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 100,1978, S. 159-204. Hermann Paul, Principien der Sprachgeschichte, 2. Aufl., Halle an der Saale 1886, im folgenden zit. nach der 9. unveränderten Aufl., Tübingen 1975, S. 20. Diskussion bei Reis, „Hermann Paul" (Anm. 11) und Kämper in Henne, Kämper und Objartel, „Das Wörterbuch im Visier" (Anm. 9).

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herausarbeiten ließ. Allerdings war Pauls diachronisches Interesse teleologisch auf die Gegenwart bezogen, die von 1884 an eine immer größere Rolle spielte.14 Systematisch und vom Anspruch auf Vollständigkeit durchdrungen ist auch die Art zu nennen, mit der Paul die wichtigsten Anforderungen einer Gesamtgermanistik abdeckte und die Kenntnisse über sprachsystematische Zusammenhänge als Voraussetzung von Interpretation überhaupt begriff: Waren seine akademischen Qualifikationsschriften noch texteditorischer und -interpretierender Natur, so standen ab den späten siebziger Jahren phonologische, morphologische, syntaktische und zuletzt auch semantische Kernfragen im Mittelpunkt seines Interesses. Dabei waren es keine exemplarisch beleuchteten Einzel- oder gar Randphänomene, die Paul sich wählte, sondern umfangreiche Bücher, mit deren Titelformulierungen der Autor seinen Alleinvertretungsanspruch des Themas verriet: Principien der Sprachgeschichte,15 Mittelhochdeutsche Grammatik (erste Auflage Halle 1881), Begriff und Aufgabe der germani-

schen Philologie, Geschichte der germanischen Philologie, Methodenlehre und Deutsche Metrik in dem von ihm selbst herausgegebenen und vom Straßburger Verleger Trübner angeregten zweibändigen Grundriss der Germanischen Philologie, Deutsches Wörterbuch, (Nhd.) Deutsche Grammatik (Halle 1916-1920). Alle wissenschaftlichen Großgattungen sind in diesem Werk vertreten: Edition,16 Theorie und Methodik, Grammatik, Wörterbuch, Fachenzyklopädie. Innerhalb letzterer legte Paul auch eine bis heute einflussreiche wissenschaftsgeschichtliche Darstellung des eigenen Fachs vor. Zum Grundriss und damit zu einer Geschichte der germanischen Philologie war Paul von einem Verleger herausgefordert worden, der die Zeit fiir eine enzyklopädische Bestandsaufnahme nach dem Vorbild der Romanistik auch in der Germanistik fur gekommen hielt. Heutzutage wäre Skepsis geboten, ob hier nicht einer den Mund zu voll nimmt und sich am Ende an den eigenen Ansprüchen verschluckt. Doch die Nachgeborenen müssen neidlos anerkennen, dass Hermann Paul die hohen eigenen Ansprüche erfüllte und die Balance zwischen Detailfulle und Überblick, Mikro- und Makroanalyse fand und in eine Synthese brachte. Hatten Grimm wie Lachmann detailverliebt die „Andacht zum Unbedeutenden" zum ethischen Prinzip der Philologie erhoben, so wagte sich Scherer an den Überblick, die großen Linien, doch nicht zu Pauls Zufriedenheit. Mit seinen indogermanistischen Lehrern und Freunden (Leskien, Braune, Sievers, Brugmann, Osthoff) übersah er eine Menge positiver Erkenntisse einzelphilologischer wie sprachvergleichender Herkunft. 17 Aber auch und gerade in der Indogermanistik

14 Henne, Kämper und Objartel, „Das Wörterbuch im Visier" (Anm. 9), S. 189 und S. 169. 15 Halle an der Saale 1880, 2. erweiterte Aufl. 1886. Ab der 3. Aufl. 1898 schrieb Paul Principien mit z. Vgl. Jörg Kilian, „Der Sprachtheoretiker und -historiker", in: Germanistik als Kulturwissenschaft. Hermann Paul- 150. Geburtstag ujid 100 Jahre Deutsches Wörterbuch, hrsg. von Armin Burkhardt und Helmut Henne, Braunschweig 1997, S. 35-46, hier S. 40. 16 „Geplante kritische Ausgaben von Freidanks Bescheidenheit und Gottfrieds Tristan kamen trotz ausgedehnten vorarbeiten aus verschiedenen gründen nicht zur ausfuhrung. Dagegen erschienen eine kritische ausgabe von Hartmanns Gregorius und mehrere beitrage zu der von mir geleiteten Altdeutschen textbibliothek." Paul, „Mein leben" (Anm. 5), S. 498. 17 Vgl. Lieber freund... Die Brirfe Hermann Osthoffi an Karl Brugmann, 1875-1904, hrsg. von Eveline Einhauser, Trier 1992.

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fehlte eine theoretische Gesamtkonzeption, in die diese Einzelergebnisse hätten eingeordnet und zu generalisierenden Einsichten hätten verknüpft werden können, und damit fehlte die Vollendung der Konstitution der Indogermanistik als Disziplin.18 Hermann Paul nun, mehr in den indogermanischen als in den deutsch-philologischen Diskurs eingebunden, reagierte auf die anstehende Aufgabe einer integrierenden Sprachtheorie zum einen in seinen Principien der Sprachgeschichte und zum andern in seinen Beiträgen zum Grundriss der germanischen Philologie, d.h. in sowohl einzelsprachunabhängiger wie in deutsch-philologischer Weise. 2 Seine zum Teil scharfe Beurteilung der wissenschaftlichen Leistungen anderer geschah vor dem Hintergrund eines hohen eigenen Anspruchs und des daraus resultierenden Selbstbewusstseins. Die wahre Erkenntnis über den jeweiligen philologischen Gegenstand an und für sich war fur Hermann Paul eine völlig unbestreitbare Möglichkeit, die durch scharfes, klares und logisches Denken realisiert werde. Diese Grundüberzeugung wurde öfter implizit als explizit geäußert, aber sie geht aus vielen, oft apodiktischen Sätzen hervor, so etwa in der Einleitung der zweiten Auflage seiner Principien·. „Es ist eingewendet, daß es noch eine andere wissenschaftliche Betrachtung der Sprache gäbe als die geschichtliche. Ich muß das in Abrede stellen."19 Die eigenen Normen wurden nicht zufällig in einem Aufsatz von 1876 (Nibelungenfrage und philologische Methode) der von Paul und seinen Studienfreunden Wilhelm Braune und Eduard Sievers 1874 gegründeten Zeitschrift Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur ausdrücklich benannt: „Wir haben nichts specielles, was uns von unsern mitforschern trennen könnte, soweit diese nicht sich selbst absondern, um eine clique zu bilden, die noch andere normen anerkennt als die, welche aus den gesetzen des denkens und der natur der dinge fließen."20

Wenigstens „einen offenen Sinn fur die Wahrheit mitbringen" 21 sollten Sprachforscher, die Paul als Diskussionspartner anerkannte. Diesen Maßstab legte Paul auch in Habilitationsgutachten an.22 Pluralität der Ansichten über und der Zugänge zu einem Gegenstand konnte es nach Pauls Überzeugung nicht geben. Wahrheit ist nicht perspektivisch gebunden, sondern sie wird erfasst oder nicht erfasst. Exakt, logisch, klar, real, wirklich, gegeben, wesentlich, prinzipiell sind die positiv leitenden begrifflichen Kategorien, unsicher, schwankend, spekulativ und konstruktiv(!) die entsprechenden Gegenbilder.23 Es gehe nicht darum, ob man fur eine historische Betrachtung der Sprache sei oder nicht, sondern darum, dass es überhaupt keine andere gebe. Es sei nur

18 Utz Maas, „Die Entwicklung der deutschsprachigen Sprachwissenschaft von 1900 bis 1950 zwischen Professionalisierung und Politisierung", in: Zeitschrift fiir germanistische Linguistik 16, 1988, S. 253290, hier S. 260 und S. 266. 19 Paul, Principien (Anm. 12), S. 20. 20 Zit. nach Reis, „Hermann Paul" (Anm. 11), S. 160. 21 Paul, Principien (Anm. 12), S. 6. 22 Bonk, Deutsche Philologie in München (Anm. 1), S. 180. 23 Alle in der Einleitung von Paul, Principien (Anm. 12).

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dann konsequent, wenn Lücken auch der eigenen Forschung als solche benannt und nicht durch Spekulationen oder Gemeinplätze überbrückt werden.24 Weil der Weg zur Erkenntnis der Wahrheit scharfes logisches Denken sei, deckte Paul bei den von ihm kritisierten Wissenschaftlern ihr Abirren vom rechten Wege auf. In der Einleitung von Begriff und Aufgabe der germanischen Philologie25 kam er natürlich auf Boeckhs Definition der Philologie als „Erkennen des Erkannten" zu sprechen, stellte fest, Boeckh habe sich hier „von dem Reiz einer geistreich klingenden Pointe bestechen lassen" und korrigierte die anerkannte Autorität: Philologie sei „das Erkennen des vom menschlichen Geist Producierten".26 Mit Qualitätsurteilen selbst gegenüber Forschern vergangener Jahrhunderte sparte Paul auch in der Geschichte der germanischen Philologie nicht,27 weil sein Maßstab gedanklicher Selbstdisziplin und damit in heutigem Verständis wohl auch der Selbstreflexion in der Tat überzeidich war. Pauls Gewissheit der Möglichkeit wahrer Erkenntnis mutet heute fast paradiesisch und damit verloren an. Die Vorstellung, sie wirklich verloren zu geben, wird jedoch verstörend durchkreuzt durch ein Beispiel von Wissenschaftskritik, zu der Paul aus seiner Position heraus erst fähig wurde: Die sogenannte Völkerpsychologie, allen voran ihr Vertreter Wilhelm Wundt, hatte aus der Existenz individueller Seelen oder Geister kurzerhand auf die analoge Existenz von Volksseelen geschlossen und knüpfte damit an das romantische Konzept des Volks- und Sprachgeistes als den treibenden (sprach-)geschichtlichen Kräften an. Vehement deckte Paul die logischen Fehler dieser Argumentationen auf, die die Germanistik des 20. Jahrhunderts noch so nachhaltig schwächen sollten: „Das heißt durch Hypostasierung einer Reihe von Abstraktionen das wahre Wesen der Vorgänge verdecken. Alle psychischen Prozesse vollziehen sich in den Einzelgeistern und nirgends sonst. Weder Volksgeist noch Elemente des Volksgeistes wie Kunst, Religion, etc. haben eine konkrete Existenz, und folglich kann auch nichts in ihnen und zwischen ihnen vorgehen. Daher weg mit diesen Abstraktionen [...] Mancher Forscher, der sich auf der H ö h e des neunzehnten Jahrhunderts fühlt, lächelt wohl vornehm über den Streit der mittelalterlichen Nominalisten und Realisten [...] Aber die unbewußten Realisten sind bei uns noch lange nicht ausgestorben, nicht einmal unter den Naturforschern. U n d vollends unter den Naturforschern treiben sie ihr Wesen recht munter fort, und darunter namentlich diejenige Klasse, welche es allen übrigen zuvorzutun wähnt, wenn sie nur in Darwinistischen Gleichnissen redet". 2 8

Prüfung von Analogieschlüssen auf ihre Gegenstandsangemessenheit und Kritik wissenschaftlicher Metaphern waren die Mittel, mit denen Paul in heute noch gültiger und bestechender Weise eine Ursache der nationalistischen Korrumpierung der Germanistik des 20. Jahrhunderts offenlegte. Wie genau er damit auch auf die intellektuelle Misere der nationalsozialistischen Germanistik hinweisen sollte, konnte der 1921 Verstorbene noch nicht wissen. Mit Hilfe seiner scheinbar gegenstandsfernen 24 Vgl. Paul, „Zum Parzival", in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 2, 1876, zit. nach Bonk, Deutsche Philologie in München (Anm. 1), S. 161f. 25 In: Paul, Grundriss (Anm. 10) S. 1-8. 26 Ebd., S. 1. 27 In: Ebd., S. 9-151. 28 Einleitung zur 4. Aufl. von Paul, Principien (Anm. 12), S. 11.

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und allen Disziplinen weit übergeordneten wissenschaftlichen Ethik gelang es Paul, ideologische Fesselungen zu überwinden: „Wer nicht die nötige Gedankenanstrengung anwendet, um sich von der Herrschaft des Wortes zu befreien, wird sich niemals zu einer unbefangenen Anschauung der Dinge aufschwingen."29 Was hätte Paul zum Umgang mit dem Konzept der nationalen oder regionalen Identität in den Kulturwissenschaften des späten 20. Jahrhunderts gesagt, bei dem die gleiche Übertragung vom Individuum auf soziale Gruppen stattgefunden hat wie beim Konzept der Seele und des Geistes zu seiner Zeit? Was hätte er denen geantwortet, die in der Bundesrepublik nach 1989/90 die Rolle von Standardsprache, Mundarten und Literatur danach bestimmen wollen, was sie zur Gewinnung und Erhaltung der nationalen oder regionalen Identität beitragen?30 3 Die Zahl der aus Reden hervorgegangenen Veröffentlichungen, mit denen Paul sich zugleich an seine Fakultäts- und Universitätskollegen und an ein nicht-fachlich vorgebildetes Publikum, insbesondere an Gymnasiallehrer, wandte, ist nicht gering: Zur orthographischen frage. Deutsche zeit- und Streitfragen, Berlin 1880; Die Bedeutung der

deutschen Philologie für das Leben der Gegenwart, München 1897; Gedanken über das

universitätsstudium, München 1909;31 Über Sprachunterricht, Halle 1921. Dass diese Texte im Original heute keineswegs alle in Universitätsbibliotheken, sondern z.T. nur in einer Pädagogischen Hochschule zugänglich sind, 32 wirft ein Licht auf die Rezeption dieses Paulschen Interessengebiets bei der akademischen Germanistik. Im Zentrum dieser fachexternen Schriften stand die didaktische Umsetzung einer historisch vorgehenden und vergleichenden Sprachwissenschaft, bei der fur Paul die Wissenschaft „Frucht zu bringen" und „der Allgemeinheit [Dienste] zu leisten" habe;33 er wies in diesem Zusammenhang positiv auf die Praxisrelevanz der vorwissenschaftlichen Arbeit an der deutschen Sprache seit dem 16. Jahrhundert, insbesondere bei Adelung hin. 34 Sprachforschung habe in jeder Epoche auch Orientierung über sprachliche Normen zu leisten:35 „Wenn die deutsche Philologie diese ihr zukommende führende Rolle [d.i. „einer gesunden Entwickelung unserer Gemeinsprache zu Hilfe (zu) kommen"] noch nicht in dem Maße übernommen hat, wie man es eigentlich erwarten sollte, so liegt das daran, daß sie in ihren Anfängen ganz von der Gegenwart ab und der Vergangenheit zugewendet war." 36 29 Ebd. 30 Vgl. die Podiumsdiskussion „Dialektverfall oder Mundartrenaissance?", in: Varietäten des Deutschen. Regional- und Umgangssprachen, hrsg. von Gerhard Stickel, Berlin 1997 (Institut für deutsche Sprache, Jahrbuch 1996), S. 390, S. 395 und S. 410. 31 Vgl. dazu Bonk, Deutsche Philologie in München (Anm. 1), S. 173. 32 In den Bibliotheken der Universitäten Heidelberg und Mannheim sind nur zwei der vier Titel zugänglich. Erst 1998 erschienen diese und andere Texte als Nachdruck: Hermann Paul, Sprachtheorie, Sprachgeschichte, Philologie, hrsg. von Helmut Henne und Jörg Kilian, Tübingen. 33 Die Bedeutung der deutschen Philologie, München 1897, S. 3. 34 Ebd., S. 5. 35 Ebd., S. 6. 36 Ebd., S. 7.

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Mit Blick auf bildungspolitische Äußerungen einiger seiner germanistischen Zeitgenossen, die aber ungenannt blieben, griff Paul allerdings eine politische Instrumentalisierung germanistischer Forschungen scharf an: „Ein hohler Chauvinismus mag sich mit phrasenhafter Verherrlichung des eigenen Volkstumes begnügen. Wahrer Patriotismus verlangt strenge Selbstprüfung, wozu nur die wissenschaftliche Erforschung der Gesamtentwicklung unseres Volkes verhilft." 37

Seine Perspektive war einerseits didaktisch konkret, andererseits in einer Weise distanziert und überzeitlich grundsätzlich, die - wie oben an einem Beispiel gezeigt - ein geradezu ideologiekritisches Potenzial offenlegt. Ideologisch motivierte Begründungen einer Wissenschaft entlarvte Paul schnell als unlogisch und intellektuell dürftig, nur dass nie die Entlarvung selbst sein Ziel war, sondern die logisch richtige Erkenntnis. Die Notwendigkeit sprachhistorischer Bildung ist bei ihm jeglicher Legitimation enthoben. Nahezu humboldtisch wirkt Paul, wenn er der deutschen Philologie als Kulturwissenschaft und besonders auf ihrem sprachwissenschaftlichen Gebiet einen unmittelbar bildenden Nutzen unterstellte. Im Laufe der Schulzeit „gestaltet sich die Beschäftigung mit der Sprache immer mehr zu einem allgemeinen Bildungsmittel".38 Pauls eigendiches Thema waren aber erst die daraus abzuleitenden didaktischen Forderungen wie etwa die, den Lateinunterricht auf lesendes Verstehen zu beschränken: „Immer deutlicher zeigt sich, daß das klassische Latein unfähig ist zu präzisem Ausdruck der modernen Gedankenwelt. Es ist unberechtigste Hartnäckigkeit, wenn viele Philologen am lateinischen Schreiben und lateinischen Sprechen festgehalten haben [ . . . ] Nicht lateinisch schreiben oder sprechen soll in der Schule gelernt werden, sondern möglichst gut lateinisch zu verstehen." 39

Solche Ideen standen durchaus quer zur zeitgenössischen Sprachdidaktik. Paul widersprach ihr sogar entschieden. Nicht nur in Reden, auch in einigen seiner wissenschaftlichen Publikationen wandte sich Paul etwa an Studierende und an Lehrer. Eine von Paul begründete Reihe fur den akademischen Unterricht mit dem Titel Altdeutsche Textbibliothek sollte zentrale mediävistische Texte Studierenden „durch eine möglichst billige und handliche ausgabe zugänglich" machen.40 Ferner wendete sich sein Deutsches Wörterbuch explizit „an alle Gebildeten, die ein Verlangen empfinden, ernsthaft über ihre Muttersprache nachzudenken".41

4 Eine institutionelle Differenzierung der deutschen Philologie war fur Paul nach Ausweis seiner Publikationen wie auch der wenigen bekannten Briefe unvorstellbar. Seine 37 38 39 40 41

Ebd., S. 15. Über Sprachunterricht, Halle an der Saale 1921, S. 9. Ebd., S. 6f. Zit. nach Bonk, Deutsche Philologie in München (Anm. 1), S. 162. Deutsches Wörterbuch, 1. Aufl., Halle an der Saale 1897, Vorrede, S. III.

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grundsätzliche Prinzipien- und Methodenreflexion, die sich teils eigenem Antrieb verdankte (in den Principien), teils von ihm gefordert wurde (im Grundriss), ließ die tatsächliche institutionell-soziale Verfassung der Disziplin nicht in den Blick kommen, sondern ging, vom Allgemeinen zum Besonderen fortschreitend, allein von der Annahme aus, die Philologien seien Teil einer allgemeinen und selbstverständlich historisch vorgehenden Kulturwissenschaft. Folglich wurde das Verhältnis von Sprachund Literaturwissenschaft als ein ergänzendes Nebeneinander bestimmt - jedes selbstständiger, unmittelbarer Teil der Kulturwissenschaft.42 In den sechs Abschnitten der Methodenlehrei3 steht ,»Allgemeines" am Anfang, „Sprachgeschichte" und „Literaturgeschichte" am Ende, „Interpretation", „Textkritik" und „Kritik der Zeugnisse" dazwischen. Allgemein ordnete Paul die Philologie als Geschichtswissenschaft ein und Interpretation wurde - relativ eng - verstanden als Rekonstruktion des Verständnisses der ursprünglichen Adressaten eines Textes. Den Streit mit Scherer nahm Paul nicht als Ausdruck einer beginnenden disziplinären Differenzierung wahr, sondern allein als Methodenstreit mit für ihn karrierehemmenden Auswirkungen, die erst aus heutiger Sicht eine institutionelle Dimension bekommen. „Die Sprachgeschichte gehört zu denjenigen Disziplinen der Kulturwissenschaft, die es mit der Entwicklung von Gebräuchen zu thun haben [...] Jeder Usus beruht, wie wir gesehen haben, auf einer durch den Verkehr erzeugten Übereinstimmung in der geistigen Organisation einer Gruppe von Individuen". So beginnt der Abschnitt über „Sprachgeschichte" in der Methodenlehre. Weiter unten heißt es dann: „Unter diesen Umständen zeugt es nur von einem Mangel an Verständnis für die Sprachentwickelung, wenn von manchen Seiten mit Geringschätzung auf eine exakte Behandlung der Lautgeschichte herabgesehen wird, weil dieselbe sich nur mit der äussern, leiblichen Seite der Sprache, nicht mit der geistigen beschäftige."44 Vor einer kausalen Erklärung eines Phänomens müsse aber erst einmal dessen Beschreibung und Feststellung geschehen. Im Übrigen seien bisherige Versuche, den Lautwandel durch anatomische oder klimatische Verhältnisse zu erklären, „durchaus dilettantisch [...] Ebenso ist bis jetzt die Ableitung aus geistigen Eigenheiten der Völker, wie sie z.B. Scherer versucht hat, mißglückt."45 Das Wesen der Literaturgeschichte zu fassen,fielihm augenscheinlich schwerer als die Bestimmung des Wesens der Sprachgeschichte: „Die Aufgaben der Literaturgeschichte genau abzugrenzen ist kaum möglich. Der Begriff Literatur ist ein schwankender, und jede Definition, die man davon versuchen mag, wird Anfechtungen ausgesetzt sein."46 Paul ging in der Folge von einem eher weitgesteckten Literaturbegriff aus, weil weder das Kriterium der Schriftlichkeit noch das des öffentlichen

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Aufgabe und Methode der Geschichtswissenschaften, Berlin, Leipzig 1920. In: Paul, Grundriss (Anm. 10), S. 152-237. Ebd., S. 210. Ebd., S. 211. Ebd., S. 215.

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Adressatenbezugs noch das der ausschließlich ästhetischen Wirkungsabsicht der beobachtbaren Realität der Literatur entsprach. Wenigstens schien die Beschäftigung mit der Formseite literarischer Erzeugnisse eine disziplinäre Grenze zu stecken, denn: „Würde man dabei auf den Inhalt eingehen, so würde man dazu gelangen, die Geschichte aller Wissenschaften, ja beinahe aller menschlichen Kenntnisse und Fertigkeiten einzubegreifen."47 Tatsächlich gingen aber etliche Literaturhistoriker der Zeit durchaus auch auf nicht-formale Aspekte, z.B. auf Biographisches, die Wahl des Stoffes usw. ein. Paul zählte solche Grenzüberschreitungen gewissenhaft auf, aber man merkt, dass dies nicht seine Sache war und dass er sich nur auf dem Gebiet der Formen sicher fühlte. Auf diesem festen Boden erschien dann auch das Verhältnis von Sprach- und Literaturgeschichte nicht mehr wie ein schwesterliches Nebeneinander, sondern zuweilen als „Abhängigkeitsverhältnis" : „Die Betrachtung der Sprache gehört in die Literaturgeschichte zunächst insofern, als durch ihre Beschaffenheit auch die Beschaffenheit der in ihr verfaßten Werke bedingt ist."48 Aber der sonst so dezidierte Paul konnte sich bei der Verhältnisbestimmung der Teilfächer nicht entscheiden; einerseits habe „die literargeschichtliche Forschung das Material [zu einer Stilistik] zu liefern", die sich „von der Behandlung der Sprache als solcher [...] nicht scharf sondern" lasse,49 sei Sprachwissenschaft also das Elementare, auf dem Literaturwissenschaft aufzubauen habe. Andererseits „bedingen sich [...] Sprache, Stil und Versbau" gegenseitig50 und sei z.B. „die Erhebung einer Mundart über die andern durch Bevorzugung in der Verwendung und die daraus entspringende Herausbildung einer Gemeinsprache [...] eine Thatsache, die ebensosehr der Literaturgeschichte wie der Sprachgeschichte angehört", 51 d.h. andererseits ergänzen sich beide Teilfächer in der Erforschung desselben Gegenstands. Aber auch der Gegenstand vermag die Integration nicht mehr zu garantieren nicht nur bei Paul, sondern auch bei seinen Zeitgenossen weitete sich der Blick: Formen und Inhalte, vergangene und gegenwärtige Literatur, Mundarten und Gemeinsprache, Ästhetisches und Politisches sollten umfasst werden. Der von Paul vertretene „durchgängig empirische Standpunkt fur die ästhetische Betrachtung" 52 führte ihn zur Reflexion über die mannigfachen „Antriebe zur Produktion" 53 und somit unweigerlich über die ästhetischen Absichten hinaus in die Gesellschaftsbezogenheit der Literatur hinein. Unter dem Aspekt, dass auch appellative, nicht bloß rein expressive Texte zur Literatur zu rechnen seien, weitete sich deren Kreis bis auf „ein [en] große[n] Teil unserer heutigen Tagespresse" aus.54 So oft Paul auch von der überwölbenden Kulturwissenschaft sprach und die Teilfächer der Philologien ihr systematisch zuordnete, so sehr blieb er selbst bei der fur ihn 47 48 49 50 51 52 53 54

Ebd. Ebd., Ebd., Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 226. S. 227. S. S. S. S.

226. 229. 229f. 230.

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in vielem grundlegenden historischen Sprachwissenschaft. Und so mussten ihn seine Untersuchungen immer wieder bis zum Indogermanischen zurück- und also ein Stück aus der Germanistik herausfuhren. Obwohl die Indogermanistik und vergleichende Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert disziplinar keineswegs mit der allgemeinen, d.h. philosophisch-spekulativen Sprachwissenschaft zusammenfielen,55 werden sie aus heutigen Fakultätsgliederungen heraus oft gleichgesetzt. Je grundsätzlicher Sprachwissenschaft heute sein will, desto einzelsprachunabhängiger wird sie und gliedert sich so aus den Einzelphilologien aus. Aber schon die Junggrammatiker, als deren Kopf Hermann Paul zu Recht gilt, bewegten sich z.T. vergleichend über die Grenzen der Einzelphilologien hinweg. In der Geschichte der Germanischen Philologie'6 ließ Paul mit Wilhelm Scherers Zur Geschichte der deutschen Sprache (von 1868) eine neue wissenschaftsgeschichtliche Epoche ansetzen, die sich dadurch auszeichne, dass versucht werde, „eine engere Verbindung zwischen der indogermanischen Sprachwissenschaft und der Detailforschung auf germanischem Gebiet herzustellen".57 Und auch andernorts ging Paul davon aus, dass die Indogermanistik oder besser noch eine neu zu schaffende allgemeine Sprachwissenschaft der größere disziplinäre Rahmen, der Hort der Theorie und allgemeinen Methodologie sei und die germanistische Sprachwissenschaft mit ihren genaueren Einzeluntersuchungen dazu die Probe aufs Exempel liefere. Hätte man Hermann Paul nach den Fächergrenzen gefragt - er hätte auf den Gegenstand Sprache in Literatur verwiesen, dessen angemessene Erforschung akademisch gezogene Zäune nicht respektiere. 5 Die Rezeption des Gesamtwerks von Hermann Paul von seinem Tod 1921 bis in die siebziger Jahre kann nicht als gut erforscht gelten, obwohl seine Hauptwerke in Form ständiger Neubearbeitungen ununterbrochen präsent blieben. Jedenfalls dürfte er einer der am selektivsten wahrgenommenen Germanisten der Fachgeschichte sein:58 Dem Theoretiker, Methodologen und Grammatikographen wird wohl vor allem in der Grammatikforschung eine Vorbildfunktion bewahrt,59 während der Semantiker, Lexikologe und Lexikograph wie auch der um die gesellschaftliche Außenwirkung des Faches bemühte Germanist in der Grammatikforschung eher ein Fußnotendasein fahren. Auf der anderen Seite ist im Zuge der Neubearbeitung des Paulschen Wörterbuchs durch Henne, Kämper-Jensen und Objartel60 der Semantiker, Lexikologe und Lexikograph fokussiert worden. 61 Der Lehrer und Popularisierer Paul hingegen begeg55 Hanmut Schmidt, „Aspekte der Institutionalisierung", in: Sprachwissenschaftliche Germanistik (Anm. 3), S. 168f. 56 In: Paul, Grundriss (Anm. 10). 57 Ebd., S. 118f. 58 Eine Zusammenschau Burkhardt und Henne in Germanistik als Kulturwissenschaft (Anm. 15). 59 Reis, „Hermann Paul" (Anm. 11). 60 9., vollständig neu bearbeitete Aufl., Tübingen 1992. 61 Vgl. auch Wiegand, „Zur Geschichte des Deutschen Wörterbuchs" (Anm. 9); Henne, Kämper und Objartel, „Das Wörterbuch im Visier" (Anm. 9).

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net nur noch als Begründer der bis heute weitergeführten Altdeutschen Textbibliothek und als erster Autor der mittlerweile mehrfach beaibeitetertMittelhochdeutschen Grammatik in den Listen der obligatorischen Literatur mediävistischer Einfuhrungsseminare. Die Bedeutung Pauls erweist sich bis heute immer wieder an seiner stringenten und gegenstandsangemessenen Methodenreflexion. Gerade die germanistische Linguistik nach der pragmatischen Wende besaß bzw. besitzt hier ein Defizit, bei dessen Bearbeitung sie sich lieber von Paul als von Chomsky Orientierung holt. Die Bedeutung Pauls erweist sich aber (noch) nicht an seinem durchgehenden Bezug auf die Sprachreflexion außerhalb des Fachs. Streng formale Linguistik, historische Germanistik und kulturwissenschaftliche Offenheit sind bei Paul in einen Zusammenhang gebracht, der heute von Vertretern gegensätzlicher Positionen instrumentalisiert werden könnte.

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Erich Schmidt (1853-1913) Während die einen in kritischer Distanz den Lebensweg Erich Schmidts als den eines ,,Repräsentationsgermanist[en]" des Deutschen Kaiserreiches angesehen 1 oder dessen Person als Inkarnation „byzantinischer Gesinnung", hinter der sich eine „alexandrinische Gelehrsamkeit" verborgen habe, 2 zu stigmatisieren versucht haben, galt er anderen als „Weltmann" unter den deutschen Germanisten schlechthin, dem die „Großen dieser Erde [...] reiche Zeichen ihrer Gunst" gegeben hätten. 3 Zu diesen wird man auch Wilhelm II. zählen müssen, der freimütig über seine Beziehung zu dem Berliner Universitätsprofessor äußerte, daß er den „geistvollen Vorträgen dieses kerndeutschen Mannes manchen genußreichen Abend" verdankt habe. 4 Und aus dem Kreis der Schüler Schmidts war zu vernehmen, daß sie es durchweg als ein persönliches Glück empfunden hätten, „diesen Menschen zu erleben und in seiner Glorie zu schauen". 5 Gegensätzlicher können die Urteile wohl kaum sein, mit denen die Person und das Lebenswerk Erich Schmidts bedacht wurden, und gleichwohl scheint eine solche Urteilslage in ihrem Gegenstand selbst begründet zu sein, denn Schmidt gehörte zweifelsohne zu den Ausnahmeerscheinungen in jener Generation von Universitätsgermanisten, die als „Wilhelminer" 6 das wissenschaftliche Erbe ihrer Vorläufer zu bewahren, zu mehren und über Jahrzehnte hinweg zu verteidigen wußten. Fast synchron dazu verlief ihre wissenschaftliche Karriere - nahezu ungebrochen, rasant und aufsteigend. Als Schmidt das einundzwanzigste Lebensjahr vollendet hatte, war er bereits promoviert, ein Jahr später habilitiert. Mit vierundzwanzig Jahren erhielt er sein erstes Extraordinariat und bereits vier Jahre später ein Ordinariat. Mit zweiundvierzig Jahren zog er in die Preußische Akademie der Wissenschaften ein und im reifen Alter und auf dem Gipfel seines Ruhmes avancierte er im Jahre 1909 zum Jubelrektor der Berliner Alma mater. Doch so steil nach oben auch seine wissenschaftliche Laufbahn verlief, so neigte sich gleichermaßen die Kurve, auf die seine wissenschaftlichen Überzeugungen und politischen Hoffnungen eingetragen waren, allmählich nach unten. Schmidt und mit ihm die zahlreiche Schülerschar Wilhelm Scherers, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts dem Fach Germanistik den Stempel aufdrückten,

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Karl O. Conrady, „Germanistik in Wilhelminischer Zeit. Bemerkungen zu Erich Schmidt (18531913)", in: ders., Hans-Peter Bayerdörfer und Helmut Schanze (Hg.), Literatur und Theater im Wilhelminischen Zeitalter, Tübingen 1978, S. 370-398, hier S. 391. Vgl. Franz Mehring, Die Lessing-Legendt, Berlin 1963, S. 185. Victor Michels, „Erich Schmidt", in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 5, 1913, S. 290. Kaiser Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878-1918, Leipzig 1922, S. 165. Oskar Walzel, „Erich Schmidt", in: Zeitschriftför den deutschen Unterricht 27, 1913, S. 386. Vgl. Martin Doerry, Übergangsmenschen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreichs, Weinheim, München 1986, S. 30-43.

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gerieten nach der Jahrhundertwende im Zuge der geistesgeschichtlichen Wende und angesichts neuer theoretischer und methodischer Richtungen zunehmend in die Defensive. Ein Jahr nach dem Tode Schmidts brach der Erste Weltkrieg aus. Mit seinem Ende war auch der historische Untergang des Deutschen Kaiserreiches besiegelt, in dessen Dienste die meisten der Scherer-Schüler sich offenherzig und hoffnungsvoll gestellt hatten. Geboren wurde Erich Schmidt am 20. Juni 1853 in der Universitätsstadt Jena als Sohn des Professors der Zoologie Oscar Schmidt, der ein überzeugter Anhänger der Lehren Darwins war. 1855 zog die Familie nach Krakau und dann 1857 nach Graz, wo Erich Schmidt die evangelische Pfarrhauptschule besuchte. Aufgrund der beruflichen Verpflichtungen des Vaters ging die Familie 1864 zurück nach Jena. Hier trat der Sohn in die von dem Herbartianer Volkmar Stoy geleitete Erziehungsanstalt ein. Vier Jahre später setzte er seine schulische Ausbildung in der Königlichen Landesschule Pforta fort, wo er in August Koberstein einen Lehrer fand, der die Interessen des Knaben schon früh auf das Gebiet der deutschen Literaturgeschichte lenkte. Als Unterprimaner hielt Schmidt eine Schulfestrede über Klopstocks Oden und als Oberprimaner verfaßte er eine Valediktionsarbeit über Lessings Dramen. Das Reifezeugnis vom 13. März 1871 bescheinigte ihm zwar, daß sein Verhalten „von Anstößen gegen die Schulordnung nicht ganz frei war", 7 machte aber genauso kenntlich, daß er ein durchweg gutes Leistungsvermögen besaß. Nach dem Abschluß der Schule begab sich Schmidt auf Reisen durch Italien und Sizilien, bevor er im nämlichen Jahr auf die Universität Graz ging, Klassische Philologie zu studieren. Ein Jahr später setzte er das Studium in Jena fort, um von jenem Ort sogleich nach Straßburg aufzubrechen, da der Vater 1872 einen Ruf an die dortige Universität angenommen hatte. Hier, in der neugegründeten Reichsuniversität, vollzog sich durch die Bekanntschaft mit Wilhelm Scherer und die Aufnahme in das von ihm ins Leben gerufene Germanische Seminar die entscheidende Wende Schmidts vom Fach der Klassischen Philologie zur neueren deutschen Literaturgeschichte, die allmählich im Begriff war, sich an den deutschen Universitäten auch institutionell zu verankern. Vorerst jedoch galt auch für Schmidt noch der Grundsatz, die Promotion auf der Grundlage einer grundständigen und soliden philologischen Bildung zu erlangen. Seine Dissertationsschrift Reinmar von Hagenau und Heinrich von Rugge. Eine literaturhistorische Untersuchung-vom Jahr 1874 trug daher alle wesentlichen Züge textkritischer und philologischer Akribie, deren Ausrichtung auf die biographische Darstellung auf induktiver Grundlage zugleich den Einfluß der Schererschen Methoden schon deutlich erkennen ließ. Mehr noch offenbarte sich die nahezu bedingungslose wissenschaftliche Gefolgschaft seinem Lehrer gegenüber in der schon ein Jahr später an der Universität Würzburg vorgelegten Habilitationsschrift Heinrich Leopold Wagner, Goethes Jugendgenosse. Nebst neuen Briefen und Gedichten von Wagner und Lenz, mit der Schmidt die Venia legendi erlangte und zum Privatdozenten aufstieg. Nicht nur die strikte Hinwendung zur neueren deutschen Literatur des 18. Jahrhun-

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Reifezeugnis der Königlichen Landesschule Pforta vom 13. März 1871. Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlaß Erich Schmidt, 61. 951.

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derts mit dem Werk Goethes und seiner Zeitgenossen im Zentrum markierte diese für das Fach der deutschen Philologie insgesamt folgenreiche Umorientierung, sondern auch die ebenso weittragende Anwendung der methodologischen Konzeption Scherers auf den neu gefundenen Gegenstand. Das betraf die Lehre von der Determination und der Kausalität in ihrer Projektion auf die Schriftstellerpersönlichkeit und die Entstehung und Wirkung ihrer dichterischen Werke ebenso wie die Trias vom „Ererbten, Erlebten und Erlernten" als Leitkategorien bei der empirischen Durchmusterung literarischer Phänomene und ihrer Verallgemeinerung in Hinsicht auf die Rekonstruktion verifizierbarer entstehungs- und wirkungsgeschichtlicher Zusammenhänge. Die Zeit als Privatdozent in Würzburg sollte für Erich Schmidt nicht von langer Dauer sein. Doch bevor es ihn wiederum beruflich von dort fortzog, ereignete sich Folgenreiches fur sein persönliches Leben. Im Salon von Lina Strecker, der Witwe des Chemieprofessors Adolf Strecker, lernte er die jüngste Tochter des Hauses Walburg, genannt Wally, kennen und verlobte sich mit ihr im Mai 1876. Theodor Storm, der von März bis April 1877 ebenfalls im Streckerschen Haus verkehrte, zeigte sich tief beeindruckt von der damals neunzehnjährigen Wally, einem „hübschefn] kindliche[n] Geschöpf', 8 und dem jugendlichen Germanisten Schmidt, „einem der anmuthigsten jungen Leute", 9 die ihm je begegnet seien. Im Herbst 1880 heiratete das junge Paar. Aus ihrer Ehe, die bis zu Schmidts T o d anhielt, gingen drei Kinder hervor, die beiden Söhne Wolfgang und Ulrich und die Tochter Hilde, die spätere Frau des SchmidtSchülers Werner Richter. 1877 wurde Wilhelm Scherer zum Ordinarius für neuere deutsche Literaturgeschichte an die Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin berufen. Damit war das Scherersche Extraordinariat in Straßburg vakant, das noch im selben Jahr mit Erich Schmidt besetzt wurde, der von nun an seine Karriere als Universitätsprofessor begann, und dies zunächst im Windschatten seines über alle Maßen verehrten Lehrers. Was Scherer in Straßburg an Grundlagen moderner akademischer Literaturforschung gelegt hatte, führte Schmidt sowohl im Methodologischen als auch im Hinblick auf den Forschungsgegenstand getreulich fort. Sein Essay Lenz und Klinger von 1878 wie auch andere kleinere Arbeiten aus jener Zeit machen kenntlich, daß der junge Goethe und sein Kreis offenbar alles Interesse der Mitglieder des Straßburger Seminars auf sich zogen. Schmidt selbst habe eine „innere Wahlverwandtschaft [...] zu den rheinischen Stürmern und Drängern" geführt, 10 ähnlich wie jene dazu berufen, das Alte in Gestalt der philologischen Textkritik und der wissenschaftlichen Vereinnahmung der Germanistik durch die Klassische Philologie und Altertumskunde einer gründlichen Erneuerung zu unterziehen. Die Scherersche Programmatik schien dafür besonders geeignet zu sein, nicht zuletzt auch wegen ihres Anspruchs, bei der Herausbildung eines „Systems der nationalen Ethik" 1 1 im noch jungen Deutschen Reich eine herausragende

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Brief von Theodor Storm an Paul Heyse vom Ostersonntag 1877, in: Theodor Storm - Paul Heyse, Briefwechsel, kritische Ausgabe, Bd. 2: 1876-1881, in Verbindung mit der Theodor-Storm-Gesellschaft hrsg. von Clifford Α. Bernd, Berlin 1970, S. 28.

9 Ebd. 10 Albert Köster, „Erich Schmidt", in: Das literarische Echo 15, 1913, Sp. 1170-1175, hier Sp. 1170. 11 Wilhelm Scherer, Zur Geschichte der deutschen Sprache, Berlin 1868, S. VII.

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Rolle spielen zu können. Und die Stadt Straßburg in ihrer geopolitischen Bedeutung fur den Prozeß der Reichsgründung und als literaturgeschichtsträchtiger Ort zugleich bot anscheinend auch günstige Bedingungen, das von Scherer Inaugurierte dank Schmidts Engagement auf eine noch breitere Basis zu stellen. Als sich jedoch wenige Jahre später (wiederum aufgrund der Empfehlung seines Lehrers) fur Schmidt die Chance eröffnete, seinen Wirkungskreis vom randständigen Elsaß ins Zentrum der Habsburgermonarchie zu verlegen, zögerte er nicht lange, den Ruf nach Wien zum Jahre 1880 anzunehmen. Ein Jahr später schon wurde das Extraordinariat fur deutsche Sprache und Literatur in ein Ordinariat umgewandelt und ein Germanisches Seminar ins Leben gerufen, welches er gemeinsam mit Richard Heinzel zu leiten begann. Erich Schmidt legte mit seiner Antrittsvorlesung in Wien Wege und Ziele der deutschen Literaturgeschichte ein erstes umfassendes „wissenschaftliches Glaubensbekenntnis" ab,12 in dem er, zuweilen das kollektive Wir als Subjektform gebrauchend, nahezu lückenlos alles das zusammentrug und systematisierte, was an Untersuchungsgegenständen fur ihn als neueren Literarhistoriker und seine Anhänger von Interesse war. Nicht wenig von dem, was Scherer proklamiert hatte, fand sich hierin wieder. Doch zugleich werden auch Schmidts Zuhörer bemerkt haben, daß sich das, was bei Scherer noch als ein weiträumiger Entwurf literaturgeschichtlicher Gesamtdarstellung im Sinne teleologisch gefaßter und durch Gesetzmäßigkeiten begründbarer Verlaufsund Entwicklungsgestalt gedacht war, bei seinem Schüler zusehends aufzulösen begann in ein Konglomerat empirisch nebeneinanderstehender Determinanten und Faktoren zur Beschreibung des Entstehens, Verbreitens und Wirkens von Literatur, welches den Anforderungen der Bibliographie oder Statistik eher zu entsprechen schien als moderner Literaturhistoriographie nach den Intentionen Scherers. Dessenungeachtet entließ der Redner sein Auditorium ganz im Selbstgefühl geistiger Führerschaft in einen „Wald von Fragezeichen",13 der Tatsache vertrauend, auf Geschichtswissenschaft, Klassische und Deutsche Philologie sowie Ästhetik und induktive Poetik gestützt, noch festen Boden unter den Füßen zu wissen. Und dieser war nach seiner Überzeugung offenbar am ehesten auf dem Terrain der Biographie zu gewinnen. 1884 erschien der erste Band von Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. Der zweite Band lag 1892 komplett vor. Neben den noch in Wien begonnenen und 1901 fertiggestellten beiden Bänden der Charakteristiken, einer Sammlung von biographischen Studien und Porträts, zählte das Lessing-Buch in der Fachwelt schon bald als Hauptwerk Erich Schmidts. Bewegte sich Schmidt mit dem Lessing und mit einer Reihe von anderen Abhandlungen auf dem Gebiet der Goethe- und Faust-Philologie konsequent im Zirkel der zentralen Forschungsgegenstände der neueren Literaturgeschichte, so wiesen die Charakteristiken, deren erster Band 1886 erschien, auf etwas bis dahin durchaus Ungewöhnliches hin, nämlich das beharrliche Bemühen Schmidts, auch die zeitgenössische Literatur Deutschlands und Österreichs in den wissenschaftlichen und literaturkritischen Diskurs einzubeziehen, wofür z.B. die Porträts zu Fontane und Freytag, 12 Erich Schmidt, „Wege und Ziele der deutschen Literaturgeschichte", in: ders., Charakteristiken, 1. Reihe, Berlin 1886, S. 491. 13 Ebd., S. 498.

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Lindau und Auerbach, Keller und Storm im ersten Band sichtbarer Ausdruck sind. Mehr noch, der Verfasser habe „dem Geschmack jener anspruchsvollen wiener Salons etwas Rechnung [getragen], als er sich in den Charakteristiken das ihm gemäßeste Ausdrucksmittel" 14 geschaffen habe. Ein solches Urteil meint mehr als nur das Lob fur guten Stil, es zielt auf die Würdigung eines Gelehrten neuen Typs, den der Wiener Scherer genauso verkörperte wie dessen Nachfolger in der österreichischen Metropole, der neueste Literatur nicht nur vom Katheder herunter besprach, sondern sie ebenso unmittelbar und genußreich zu erleben verstand. Mit Storm stand er seit dem ersten Zusammentreffen in Würzburg regelmäßig in brieflichem Kontakt, seit Straßburg auch mit Paul Heyse; mit Bauernfeld und Anzengruber traf er in Wien zusammen. Zum Burgtheater hatte Schmidt beste Beziehungen als ständiger Gast bei Aufführungen und als Gesprächspartner und Freund von Intendanten und Schauspielern. In den Wiener Salons fühlte er sich wie zu Hause. Hatte er eines Tags „bei der Gilewska flott getanzt",15 so weilte er nächsten Tags schon zum Plausch im Salon der Rosa von Gerold. Auch das Metier der Literatur- und Tageskritik beherrschte er zunehmend, sei es im Feuilleton der Neuen Freien Presse in Wien, sei es in der von dem Scherer-Schüler Max Roediger geleiteten Deutschen Literaturzeitung in Berlin. „Wiener Lustigkeit" nannte Schmidt selbst,16 was er dort erfahren, erlebt und ein gutes Stück weit mitgestalten konnte. Als es Schmidt auf Bitten und Drängen Scherers 1885 in die Provinz, ins kleinstädtische Weimar, verschlug, litt er vermutlich schwer an dem Verlust des großstädtischen und pulsierenden Wien. Doch der Gewinn, den er in den Diensten der Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar als Direktor des soeben eröffneten Goethe-Archivs und als Gründungsmitglied der eilig gebildeten Goethe-Gesellschaft verbuchen konnte, war aus seiner Sicht immens. Immerhin lag es in seiner Obhut, neben Gustav von Loeper und Wilhelm Scherer im Redaktionskollegium der historischkritischen Ausgabe von Goethes Werken auf der Grundlage der nunmehr zugänglichen Handschriften zu wirken und somit in den Dienst des Weimarer Dichterfürsten und der deutschen Kulturnation zu treten. Dies war fur ihn nicht nur eine Aufgabe, sondern eine Berufung von nationalem Rang. Bereits 1887 begann die Sophien-Ausgabe zu erscheinen; im selben Jahr entdeckte Schmidt Goethes Urfaust und fühlte sich angesichts dieses völlig unerwarteten Fundes wie Saul, „der auszog, seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand." 17 Und eine weitere Schicksalsstunde sollte folgen: Als Wilhelm Scherer im August 1886 plötzlich verstarb, mußte die Philosophische Fakultät in Berlin nicht lange beraten, um einen würdigen Nachfolger

14 Köster, „Erich Schmidt" (Anm. 10), Sp. 1171. 15 Brief von Erich Schmidt an Wilhelm Scherer vom 26. Februar 1881, in: Wilhelm Scherer- Erich Schmidt, Briefwechsel, mit einer Bibliographie der Schriften von Erich Schmidt hrsg. von Werner Richter und Eberhard Lämmert, Berlin 1963, S. 164. - Gemeint ist der Wiener Salon von Frau Gilewska, der Witwe des Professors der gerichtlichen Medizin Karol Gilewski. 16 Brief von Erich Schmidt an Theodor Storm vom 22. Mai 1881, in: Theodor Storm - Erich Schmidt, Briefwechsel, kritische Ausgabe, Bd. 2: 1880-1888, in Verbindung mit der Theodor-Storm-Gesellschaft hrsg. von Karl E. Laage, Berlin 1972, S. 41. 17 Michels, „Erich Schmidt" (Anm. 3), S. 296. Aufgrund der Verdienste um die Goetheforschung wurde Schmidt 1906 zum Präsidenten der Goethe-Gesellschaft gewählt.

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zu finden. Zum Sommersemester 1887 berief sie Erich Schmidt in das Scherersche Ordinariat und zum ersten Direktor des Germanischen Seminars, dessen Gründung sein Lehrer noch in den letzten Lebensmonaten versucht hatte, in Angriff zu nehmen. Die Berliner Professur in der Metropole des Reiches war zweifellos die Krönung in der wissenschaftlichen Karriere von Schmidt. Trotz der Tatsache, daß Scherer die Probleme der räumlichen Unterbringung des Germanischen Seminars und der Seminarbibliothek noch zu seinen Lebzeiten einer Lösung zufuhren konnte, blieb Schmidt dennoch ein großer Gestaltungsspielraum bei der institutionellen und personellen Ausgestaltung der Seminararbeit. Mit der Berufung Karl Weinholds 1889 in die Nachfolge Karl Miillenhoffs war sowohl das ältere als auch das neuere Fach mit je einem Ordinariat besetzt. Julius Hoffory, der seit 1883 in Berlin lehrte, übernahm die Leitung der Nordischen Abteilung. Schmidts Vorlesungen und Übungen, die im wesentlichen die deutsche Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Goethezeit zum Gegenstand hatten und in denen auch Autoren der unmittelbaren Gegenwart wie Gottfried Keller oder C. F. Meyer behandelt wurden, gehörten schon bald „zu den am stärksten besuchten der Universität [...], und die größten Säle pflegten kaum eben hinzureichen, die Zahl der Hörer und Hörerinnen zu fassen." 18 Seine Studenten beeindruckte überdies die „weltoffene Art des Meisters", die „innere Geschlossenheit" seines Auftretens, die „strahlend männlich-jugendliche Erscheinung" seiner Person, die „Rednergabe" mit einer „spielenden und doch schneidenden Ironie", 19 die nicht nur im Seminar, sondern ebenso bei den wöchentlichen geselligen Zusammenkünften von Lehrern und Schülern in der von Scherer etablierten „Germanistenkneipe" Wirkung zeigte. Insbesondere die öffentlichen Kollegien wußte Schmidt eindrucksvoll zu inszenieren: Während seines Vortrages richtete er gewöhnlich seinen Blick zum Fenster, um den gespannten Zuhörern Gelegenheit zu geben, die frappante Ähnlichkeit seines Gesichtsprofils mit dem Goethes zu bemerken. 20 Diese Beobachtung verrät einen gewissen Hang zur Eitelkeit, gleichwohl spiegelt sie etwas von dem Wesen einer Gelehrtenpersönlichkeit wider, die selbst zur Institution geworden war, was sich auch in Hinsicht auf ihre Stellung im akademischen Gefiige der Universität äußerte. Im Jahr 1899/1900 übernahm Schmidt das Amt des Dekans der Philosophischen Fakultät, und nach zwei erfolglosen Kandidaturen 1905 und 1907 wählte ihn die Professorenschaft für das Jahr 1909/10, dem Jahr der Säkularfeier der Berliner Universität,

18 Magdeburgische Zeitung vom 6. August 1909, S. 6. 19 Vgl. Robert Petsch, „Erich Schmidts Seminar", in: Das Germanische Seminar der Universität Berlin. Festschrift zu seinem 50jährigen Bestehen, Leipzig, Berlin 1937, S. 14. Zu Schmidts Tätigkeit am Berliner Seminar vgl. auch Wolfgang Höppner, „Wilhelm Scherer, Erich Schmidt und die Gründung des Germanischen Seminars an der Berliner Universität", in: Zeitschrift fur Germanistik 9, 1988, S. 545557; ders., „Die ersten Ordinarien am Germanischen Seminar: Erich Schmidt", in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin. Gesellschaftswissenschaftliche Reihe 36,1987, S. 778-781 sowie ders., „Neuere deutsche Literatur vom Katheder. Zum Wirken Wilhelm Scherers, Erich Schmidts und Gustav Roethes unter der Berliner Studentenschaft", in: Wissenschaftliche Zeitschrift der HumboldtUniversität zu Berlin. Gesellschaftswissenschaftliche Reihe 36, 1987, S. 599-606. 20 Vgl. Friedrich von der Leyen, Leben und Freiheit der Hochschule. Erinnerungen, Köln 1960, S. 46. Zu Erich Schmidts Rolle als Hochschullehrer vgl. auch: Volker Uferdinger, Erich Schmidt: Philologie und Repräsentation im Kaiserreich, Magisterarbeit an der Ludwig-Maximilians-Universität München, München 1995, S. 86f.

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zu ihrem Rektor. Nach Meinung des Kaisers habe Erich Schmidts Persönlichkeit in ihrer wahrhaft fürstlichen Repräsentation der Würde und Weihe dieses Festes noch eine höchste Steigerung gegeben. 21 Nicht minder einflußreich und engagiert zeigte sich Schmidt in der kulturellen Öffentlichkeit Berlins. Ähnlich wie seinerzeit in Wien ging er in den Salons ein und aus, bei Marie von Bunsen, Anna von Helmholtz, Anna vom Rath oder Hedwig von Olfers und deren Tochter Marie. Max Reinhardt konnte sich der Unterstützung Schmidts in Fragen der Inszenierung klassischer Stücke gewiß sein. Auf seinen Antrag hin wurde Theodor Fontane im Jahre 1894 die Ehrendoktorwürde der Berliner Universität verliehen. Nicht ohne Folgen blieb schließlich Schmidts Wirken ab 1890 als Sekretär in der Kommission zur Verleihung des Schiller-Preises für dramatische Dichtkunst, der zu dieser Zeit noch Karl Weinhold, Wilhelm Dilthey, Herman Grimm und Heinrich von Treitschke sowie Paul Heyse, Gustav Freytag, Ludwig Devrient und Graf Hochberg angehörten. Auffällig ist hier sein Engagement fur Hermann Sudermann, Ludwig Fulda und Gerhart Hauptmann und gegen die immerwährenden kulturpolitischen Einflußnahmen des Hauses Hohenzollern. Als diese fur ihn immer unerträglicher wurden, legte er 1896 demonstrativ seinen Posten nieder. 22 Dieser Entschluß ist zum einen aus dem Gefühl verletzter Eitelkeit und der Herabwürdigung der eigenen Person als Universitätsprofessor zu erklären. Zum anderen äußert sich in diesem Vorgang gleichermaßen ein Grundzug seiner Berufsauffassung, die unter den Germanisten seiner Generation keineswegs weit verbreitet war, nämlich das sichere Gespür für künstlerische Leistungen und literarisch-kulturelle Neuerungen in Gestalt der Moderne und das vehemente Eintreten fur sie. Eine solche Auffassung entsprang durchaus nicht nur freizeitlicher Kunstliebhaberei als Form der Kompensation philologischer Tüchtigkeit und empirischer Kleinkrämerei im Bereich der akademischen Lehre, wie sie zuweilen auch den Seminaren und Übungen bei Schmidt eigen waren. Nein, sie stand auch in einem Zusammenhang mit neugewonnenen wissenschaftlichen Einsichten, die in Schmidts Berliner Jahren zu bemerken sind. Als er 1902 eine Neuauflage der ersten Reihe der Charakteristiken herausbrachte, ließ er seine Leser wissen, daß in der abermals abgedruckten Wiener Antrittsrede „einiges veraltet und ihm selbst fremd geworden sei." 23 Den Fragen des Milieus gegenüber betone er bei der Beurteilung der Schriftsteller nunmehr stärker die Kraft der Persönlichkeit. Was er damit meinte, versuchte er in seiner Rede zum Antritt des Berliner Rektorats am 15. Oktober 1909 unter dem Titel Die litterarische Persönlichkeit genauer zu umreißen. Im Kern ging es ihm um die Formulierung einer wissenschaftlichen Alternative zur biographischen Methode empirisch-philologischer Prove-

21 Vgl. Alexander von Weilen, „Erich Schmidt", in: Biographisches Jahrbuch und deutscher Nekrolog 18, 1913, S. 156. 22 Vgl. hierzu Wolfgang Sowa, Der Staat und das Drama. Der Preußische Schillerpreis 1859-1918. Eine Untersuchung zum literarischen Lehen im Königreich Preußen und im deutschen Kaiserreich, Frankfurt am Main 1988. (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Reihe B: Untersuchungen 36), S. 232-260. Vgl. auch: Conrady, „Germanistik in Wilhelminischer Zeit" (Anm. 1), S. 395-397. 23 Rainer Rosenberg, Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik. Literaturgeschichtsschreibung, Berlin 1981, S. 123.

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nienz, die er in der Kunst der Charakterisierung der genialen Naturen von Dichterpersönlichkeiten als „Flügelmänner und Führer [...], in der Zeit und über der Zeit" 24 zu finden glaubte. Diese „Lehre vom neuschöpferischen Genie" 25 in einer Mischung aus Scherers Determinismuskonstruktion und Wilhelm Diltheys Anschauung vom dichterischen Erlebnis und dessen Verstehen läßt sich als ein Versuch Schmidts interpretieren, der philologisch orientierten Literaturforschung neue Perspektiven vor dem Horizont des sich abzeichnenden Paradigmenwechsels unter der Ägide der Geistesgeschichte zu eröffnen. 26 Den wenige Jahre später einsetzenden Methodenstreit unter den Fachvertretern konnte er jedoch nicht verhindern. Als Erich Schmidt am 30. April 1913 nach schwerer Krankheit verstarb, wagte der Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg in seinem Beileidstelegramm an die Witwe die Prognose, daß der Einfluß des Hingeschiedenen „auf die gebildete Welt noch in Generationen tiefgreifend fordeben wird." 27 Die Trauernden, die sich am 3. Mai zur Beisetzung auf dem Friedhof der Neuen Kirche in Berlin versammelten, waren dagegen ratlos ob der Wiederbesetzung seiner Professur mit einem Nachfolger, der Kontinuität verheißen konnte. Mehr als sieben Jahre dauerte es denn auch, bis Julius Petersen, der 1903 bei Schmidt promoviert hatte, dieses Erbe antrat. 28 Von einer schulenbildenden Wirkung wie noch bei Scherer kann man im Falle Schmidts wohl nicht sprechen. Aus dem Kreis der insgesamt 96 Doktoranden, die er in den Berliner Jahren betreute, gingen jedoch einige Gelehrte hervor, die sich (neben Petersen) als Ordinarien an deutschen Universitäten einen Namen machten, wie Hermann Schneider, Franz Schultz, Harry Maync oder Friedrich Gundolf. Nicht wenige von ihnen - Max Osborn, Ludwig Marcuse, Arthur Eloesser, Monty Jacobs, Hugo Landsberg oder Alfred Kerr (der seine Dissertation Schmidt widmete) 29 - fanden, aus welchen Gründen auch immer, den Weg zum Feuilleton oder in die Berliner Theaterkritik und damit in ein Arbeitsgebiet, in dem ihr Lehrer genauso zu Hause war wie in den Hörsälen der Universität.

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Erich Schmidt, Die litterarische Persönlichkeit. Rede zum Antritt des Rektorates der Königlichen FriedrichWilhelms-Universität in Berlin, gehalten in der Aula am 15. Oktober 1909, Berlin 1909, S. 14. Ebd., S. 22. Vgl. Erich Schmidt, „Wilhelm Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung, Leipzig 1906", in: Deutsche Literaturzeitung 27, 1906, Sp. 25-28. Zum Tode Erich Schmidts, in: Der Tag (Berlin) 1913, Nr. 218, vom 1. Mai, Morgenausgabe, 1. Beiblatt. Vgl. Wolfgang Höppner, „Eine Institution wehrt sich. Das Berliner Germanische Seminar und die deutsche Geistesgeschichte", in: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925, hrsg. von Christoph König und Eberhard Lämmert, Frankfurt am Main 1993 (Fischer Taschenbuch 11471), S. 362-380. Zum Wirken der Schmidt-Schüler vgl. Uferdinger, Erich Schmidt: Philologie und Repräsentation im Kaiserreich (Anm. 20), S. 93-101.

WALTER SCHMITZ

Oskar Walzel (1864-1944) Im zweiten Juliheft 1912 der Zeitschrift Der Kunstwart munitionierte Wolfgang Schumann einmal mehr die „Kampfstellung" gegenüber der Literaturwissenschaft, die jener Zeitschrift des nationalkonservativen Bildungsbürgertums eigentümlich war; denn „gegen die heutige Form der Literaturwissenschaft" seien „Angriffe" nicht nur deshalb zu richten, „weil uns diese Form nicht genügend wissenschaftlich zu sein scheint [...], sondern vor allem glauben wir nicht an den lebendigen Wert dieser Wissenschaft".1 Ferdinand Avenarius, der Herausgeber der Zeitschrift, hatte schon früh in einem programmatischen Aufsatz „Verstehen und Nacherleben" auch der Literaturwissenschaft das Ziel gesteckt, über ein psychologisches „Verstehen" hinaus zu einem „Nacherleben" zu gelangen, also jenem erfüllten Verstehen, „das an die Lebenswerte heranreicht" ? Im Jahr 1913 wiederum beklagte Ezard Nidden unter dem Titel „Krisis in der Literaturwissenschaft", „wieweit das mißverstandene Ideal der ,Wissenschaftlichkeit' die Entpersönlichung des Persönlichen treiben konnte";3 allenfalls bemerke man noch „Essays wie die Erich Schmidtschen Charakteristiken·, aber die begabten, zum Journalismus übergegangenen Schüler des persönlich so liebenswürdigen Mannes schrieben weit feinfühligere und anregendere."4 Die Ausdifferenzierung der Germanistik und der damit verbundene Professionalisierungsschub hatte die junge Literaturwissenschaft zum beliebten Objekt einer — bis zum heutigen Tag andauernden — kulturellen Kritik gemacht;5 in der Deutungskonkurrenz, die sich so artikulierte, verfugten die Universitätswissenschaftler über den stabileren institutionellen Rückhalt, ihre Kritiker über effizientere Medien zur Produktion von Öffendichkeit. Da die Semantik von Rollenzuschreibung und Lagerbildungen nachhaltig funktioniert und das Bild einer akademisch-lebensfernen Germanistik verfestigt, müssen andere Rollenmuster als abweichend markiert oder aber aus der Wahrnehmung verdrängt werden. Davon ist ein beträchdicher Teil der Lebensleistung des Germanisten Oskar Walzel betroffen.6 Der 1 2 3 4 5

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Wolfgang Schumann, „Literaturwissenschaft", in: Der Kunstwart 25, 1912, S. 70-76, hier S. 72. Ebd., S. 74. - Zur Einordnung vgl. Gerhard Kratzsch, Kunstwart und Dürerbund. Ein Beitrag zur Geschichte der Gebildeten im Zeitalter des Imperialismus, Göttingen 1969. Ezard Nidden, „Krisis in der Literaturwissenschaft", in: Der Kunstwart 26, 1913, S. 169-172, hier S. 171. Ebd. Hinweise bei Peter Salm, Drei Richtungen der Literaturwissenschaft. Scherer - Walzel- Staiger, Tübingen 1970, S. 4lf. sowie Walter Schmitz, „Legitimierungsstrategien der Germanistik und Öffentlichkeit. Das Beispiel .Kriegsgermanistik'", in: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925, hrsg. von Christoph König und Eberhard Lämmert, Frankfurt am Main 1993 (Fischer Taschenbuch 11471), S. 331-339, hier S. 331. Zur Übersicht vgl. Carl Enders, „Oskar Walzel. Persönlichkeit und Werk", in: Zeitschrift fur deutsche Philologie 75, 1956, S. 186-199 sowie das Lebensbild in: Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn. Sprachwissenschaften, Bonn 1970, S. 124-128.

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Hochschulprofessor gehörte, wie er in seinen Lebenserinnerungen eigens vermerkte, zu den Beiträgern des Kunstwarts; zum Jahrgang 1913 hatte er eine Rezension über Ricarda Huchs Geschichtsdichtung beigesteuert.7 Doch schon bei seiner Übersiedlung nach Berlin als junger Doktor hatte Walzel sich an der Wertschätzung für einen „jungen wissenschaftlichen Schriftsteller" erfreut;8 dank seiner lebhaften tagespublizistischen Tätigkeit galt er geradezu als „der Walzel von der Münchner Allgemeinen",9 doch brachte auch die Vossische Zeitung seine. Beiträge. Ein breites Wirken in der kulturellen Öffentlichkeit entsprach auch nach der akademischen Etablierung sowohl seiner Berufsrolle wie auch seinem Rollenbild - bis hin zur ironischen Selbstkennzeichnung als „Damenprofessor",10 Hüter also einer den Frauen zugewiesenen nicht-professionellen Bildung. Daß er „mehr fiir die Stadt als fur die Studenten der Hochschule da sei",11 war bald nach seiner Berufung an die Technische Hochschule Dresden 1907 bereits eine „anerkannte Tatsache geworden"; er habe sich, wie Victor Klemperer vermerkt, „ganz in die Rolle des Kritikers und Literaturmenschen von Dresden ergeben, ist großes Tier auf nicht akademischem Gebiet, ist hier erster Maître de plaisir du genre supérieur en esthétique."12 Rührig suchte Walzel den Kontakt zur Gegenwartskultur;13 glaubte er schon seinem Freund, dem Schauspieler Josef Kainz, einen genuinen Zugang zm Dichtung zu verdanken, so suchte er auch die Nähe zum Dresdner Theater, damals ein Forum der Jüngsten, erhielt sogar Zutritt zu den Proben,14 plante schließlich eine Theaterschule.15 Die erste seiner Vorlesungen an der Tierärztlichen Hochschule widmete er denn auch der „jüngsten deutschen Dichtung",16 las — wie die Vorlesungsverzeichnisse der Königlich Technischen Hochschule belegen - auch dort während seiner gesamten Dresdner Zeit regelmäßig über „Dichtung der Gegenwart", und nahm sich

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Oskar Walzel, „Ricarda Huchs Großer Krieg , in: Der Kunstwan 26, 1913, S. 322-327. Vgl. Oskar Walzel, Wachstum und Wandel. Lebenserinnerungen, hrsg. von Carl Enders, Berlin 1956, S. 163f. sowie ders., Die deutsche Dichtung seit Goethes Tod, 2. Aufl., Berlin 1920, S. 196. Auch nach dem Krieg blieb die Verbindung erhalten; bereits in: Der Kunstwart 31,1918, S. 84-86 erschien Walzeis Aufsatz „Umwertung von Dichtern"; am 13.6.1920 etwa bekundete Avenarius in einem Brief an Walzel sein Interesse an weiteren Beiträgen: „Am meisten in Betracht käme dafür etwas Wichtiges und womöglich Grundsätzliches über die Neuesten." (Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlaß Walzel) Walzel, Wachstum und Wandel (Anm. 7), S. 39. Ebd., S. 54. Ebd., S. 108 Ebd., S. 109. Viktor Klemperer, Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. Tagebücher 1918-1924, hrsg. von Walter Nowojski, Berlin 1996, S. 441 (zum 6.2.1921). Vgl. Christoph König, „Blättern statt Entscheiden. Von der Fremdheit zwischen Geistesgeschichte und Gegenwartsliteratur im Zeitraum 1910-1925", in: Begegnung mit dem „Fremden". Grenzen, Traditionen, Vergleiche. Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses, Tokyo 1990, hrsg. von Eijiro Iwasaki, Bd. 6, Sektion 10: Die Fremdheit der Literatur, München 1991, S. 27-35. - Zur Dresdner Zeit künftig die Habilitationsschrift von Frank Almai, Expressionismus in Dresden. - Ich danke Frank Aimai fur die Hinweise aus dem Manuskript dieser Arbeit. Vgl. Walzel, Wachstum und Wandel (Anm. 7), S. 116. Dazu auch, neben zahlreichen Beiträgen in der Tagespresse, den Aufsatz „Bühnenftagen der Gegenwart", in: ders., Vom Geistesleben des 18. und 19.Jahrhunderts, Leipzig 1911, S. 538-576. Vgl. Walzel, Wachstum und Wandel (Anm. 7), S. 132f. Ebd., S. 107.

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„mit größter Liebe der jungen Epoche" an. 17 Junge Schriftsteller näherten sich ihm, selbst wenn sie im Freundeskreis über ihn spotteten,18 verehrungsvoll, um Unterstützung und Förderung bittend; 19 mit einigen - so etwa mit Fritz von Unruh, der ihm 1924 das Gedicht „Meinem Freunde Oskar Walzel" zueignete - stand er in fester Verbindung. 20 Was er dieser Generation als akademischer Lehrer bedeuten konnte, ist in Günther Weisenborns Memorial festgehalten: „Unter den Studenten lobte man ihn wegen seiner nützlichen Bemühungen um die Jugend. Er faselte nicht davon, wie es heute zum guten Ton gehört, sondern er richtete freie Abende ein, in denen neue Dichter diskutiert wurden. Er ließ rezitieren, diskutieren, hatte Fühlung"; und für Weißenborn „ging eine Tür a u f , geschah einer jener „wichtigen Momente der inneren Biographie, die er nicht" vergaß, als „zum erstenmal Theodor Däubler auf einer Abendgesellschaft seines Lehrers Oskar Walzel sprach."21 Neben dem Bezug zur Gegenwartskultur bewahrte Walzel, da ihm als der „wahre und strenge Maßstab [des] Vorgehens [...] die höhere Schule" galt, 22 stets auch den Anwendungsbezug seines Faches in einem Maße, der seinem „Zug zur Formerkenntnis" — laut einem zeitgenössischen Urteil Paul Merkers — „einen ausgesprochen kunstpädagogischen Charakter [verlieh], indem die Erweckung und Stärkung des formalen Sinnes und damit eine Anleitung zu vertieftem Kunstgenuß als Ziel vorschwebte."23 Mit derartigen Qualitäten behauptete sich der Germanist Walzel souverän am Medienmarkt für seine Wissenschaft: „Jetzt wußten die Verleger", so erinnerte er sich, „daß sie mit meinen Arbeiten Geschäfte machen konnten; und sie bemühten sich in solcher Absicht um mich. Zeitschriften und Zeitungen warben um meine Mitarbeit." 24 Oskar Walzel verschaffte der Fachgermanistik — und sich selbst - Öffentlichkeit. Dieser besondere Habitus des Germanisten Walzel war in seiner akademischen Biographie vorbereitet und prägte sich in Prozessen der Wahrnehmungsselektion und Selbstbildkonstruktion allmählich aus. Studiert hatte Walzel in Wien bei Richard Heinzel und Jacob Minor, dem er „mehr Andacht fur das Kleine, also letzten Endes

17 Walter Hasenclever an Oskar Walzel, 26.10.1921; DLA. Dazu die weiteren Briefwechsel mit Schriftstellern in seinem Nachlaß, vgl. Bettina Rölke, „Der Nachlaß Oskar Walzel im Deutschen Literaturarchiv", in: Mitteilungen. Marbacher Arbeitskreisftir Geschichte der Germanistik, 5,1993, S. 15-17 (eine Auswahledition bereiten Frank Almai und ich für den Dresdner Universitätsverlag Thelem vor). 18 Vgl. den - von Frank Almai aus dem Nachlaß herangezogenen - Brief Lothar Schreyers an Walzel, 3.10.1917, oder auch den Spott Johannes R. Bechers, zit. bei Schmitz, „Legitimierungsstrategien der Germanistik und Öffentlichkeit" (Anm. 5), S. 331. 19 Almai, Expressionismus in Dresden (Anm. 13) belegt dies im einzelnen. Walzel war sowohl im Verwaltungskomitee der Dresdner Tiedge-Stiftung wie in den Vorständen der Serreschen ZweigSchiller-Stiftung und der Deutschen Schiller-Stiftung tätig. 20 Vgl. König, „Blättern statt Entscheiden" (Anm. 13), S. 29ff. die exemplarische Analyse von Walzels Anteil an einer Debatte um Unruhs pazifistische Dramatik. 21 Günther Weisenborn, Memorial, Leipzig 1968, S. 7, zuvor S. 51. Vgl. seinen Brief an Walzel, 17.12.1931; DLA 22 Walzel, Wachstum und Wandel (Anm. 7), S. 191. 23 Paul lAeúia, Neuere deutsche Literaturgeschichte, Stuttgart, Gotha 1922 (Wissenschaftliche Forschungsberichte. Geisteswissenschaftliche Reihe 8), S. 7, hier zit. nach Hans-Harald Müller, Barockforschung: Ideologie und Methode. Ein Kapitel deutscher Wissenschaftsgeschichte 1870-1930, Darmstadt 1973, S. 103. 24 Walzel, Wachstum und Wandel (Anm. 7), S. 163.

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strengere Wissenschaftlichkeit"25 als seinem Berliner Lehrer Erich Schmidt bescheinigte; dieser beeindruckte ihn eben nicht als Ikone des Posiúvismus, sondern als „ein wirklich großer Impressionist",26 auch „Anwalt der neuen Künsder der Zeit um 1900",27 vor allem als Mann der öffendichkeit, als Redner in wie außerhalb der Universität, mit einer „machtvollen, klangreichen und ungemein biegsamen Stimme. Zusammen mit seiner sieghaften Erscheinung nahm sie den Hörer gefangen."28 „War das", so fragte Walzel noch im faszinierten Rückblick, „Wissenschaft oder Kunst"?29 Zunächst, nach der Promotion 1887, schlug Walzel nicht die wissenschaftliche Laufbahn ein; vielmehr wurde ihm —seit 1888 -die Tätigkeit als Hauslehrer fiir Leopold von Andrian zum weiteren Bildungserlebnis: „Mich hat das Haus Andrian erzogen",30 die kultivierte Welt von „Kosmopolis",31 der Aufbruch zur Moderne12 in den Zirkeln von JungWien; dort zählte ihn 1892 Hugo von Hofmannsthal zu seinen „kritischen Verbindungen".33 Nach der erst im zweiten Versuch gelungenen Habilitation bei Minor 1894, nach den Jahren als Hofbibliothekar und Privatdozent in Wien von 1892 bis 1897, nach einer Professur in Bern von 1897 bis 1907, sollten die Rufe nach Dresden — als Nachfolger Adolf Sterns an der Technischen Hochschule, als Nachfolger Hermann Hettners an der Kunstakademie - Walzels Habitus als Grenzgänger zwischen professionalisierter Wissenschaft und kulturellem Mittlertum bestätigen. „ Umfassende universale Bildung" wollte gerade die Dresdner Technische Hochschule bei ihren Absolventen fördern; sonst bleibe, nach einem Wort Max Maria von Webers, „der Fachmann in jeder Branche ein - Technikant."34 Hermann Hettner, noch ein Vertreter gebildeten, .„undiszplinierten"' Gelehrtentums wurde von Walzel als „Synthetiker" gewürdigt," — das ist jetzt das Modewort", glossierte Klemperer, damals Hörer von Walzels Vortrag, „der Synthetiker [...] in der Stadt Winkelmanns und Creizenachs (guter Vergleich!), mit einem Bein im Realismus stehend, mit dem andern glücklicherweise doch noch im Philosophisch-Speculativen [...] Walzels Hintergedanke war:

25 Ebd., S. 19. 26 Ebd., S. 20. 27 Vgl. ebd., S. 107. Generell dazu künftig die Druckfassung meines Vortags auf dem Augsburger Kolloquium vom 20.-22.9.1995 „Germanistik um 1900: Erich Schmidt, der Repräsentant". Walzel sprach selbst schlecht, wenn man dem Urteil Kiemperes, i f é í n sammeln (Anm. 12), S. 376, trauen darf - trotz der großen Bedeutung, die er der Kunst des Sprechens beimaß. 28 Walzel, Wachstum und Wandel (Anm. 7), S. 16. 29 Ebd., S. 21 30 Ebd., S. 46. 31 Ebd., S. 49. Geradezu melodramatisch, zugleich aber auch peinlich und skandalös war Walzels Verstrickung in den Selbstmord der Opernsängerin Marie Wildt (1891), die sich - unglücklich - in ihn, den so viel Jüngeren, verliebt hatte. 32 Vgl. Jens Rieckmann, Aufbruch in die Moderne. Die Anfinge des Jungen Wien, österreichische Literatur und Kritik im Fin de Siècle, Königstein/Ts. 1985, S. 69 zu dieser „Clique". 33 Vgl. Reinhard Urbach, „Karl Kraus und Hugo von Hofmannsthal. Eine Dokumentation", in: Hofmannsthal Blätter, Folge 1,6, 1971, S. 447-458, hier S. 458. Vgl. Hugo von Hofmannsthal - Leopold von Andrian, Briefwechsel, hrsg. von Walter H. Perl, Frankfurt am Main 1968, S. 7, 29, 502 u.a. zu Walzels Stellung in Jung-Wien. 34 So zur Legitimation des Anspruchs der „Hochschule" gegenüber der „Fachschule" zit. bei Hans Gehrig, „Die kulturwissenschaftliche Abteilung", in: Ein Jahrhundert Technische Hochschule 1828-1928. Festschrift zur Jahrhundertfeier 4. his 6.Juni 1928, [Dresden 1928], S. 185-222, hier S. 186; vgl. S. 189.

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.Winkelmann, Hettner, Creizenach und Ich.' Die Synthetiker, die Durchleuchter";35 aber auch Adolf Stern als Literat und Gelehrter soll „seinen Unterricht wissenschaftlich [ausgestaltet haben] in bewußtem Gegensatz zu einer einseitigen philologischen Methode",36 und verharrte somit diesseits der Professionalisierung zum Germanisten-, er hatte ja, wie es den Bedürfnissen der Technischen Lehranstalt entsprach, „nicht nur über deutsche Literatur, auch über ausländische gelesen".37 Obgleich mit der Berufung Walzeis, der sich vor allem Anerkennung als Romantik-Forscher erworben hatte,38 eine Verwissenschaftlichung eingeleitet war, die er in seinem universitätspolitischen Wirken mit den Berufungen von Bernhard Fehr auf das neueingerichtete Ordinariat fiir Anglistik und der von Hans Heiß als erstem Ordinarius fur Romanistik zielstrebig vorantrieb, erlegten die „scharfen Gegensätze zwischen den Fachabteilungen und der Allgemeinen"39 doch dieser auch einen besonderen Legitimationszwang auf: „Als ich," so gedenkt Walzel einer bezeichnenden Anekdote, „dem König sagte, ich lese über Literatur, fragte er erstaunt, wozu denn eine Technische Hochschule Vorlesungen über Literatur benötige."40 Eine Antwort Walzeis ist nicht überliefert,41 doch läßt sie sich aus dem von ihm mit betriebenen Versuch erschließen, für Dresden, „dieser in ihrer Schönheit und Ruhe zu geistigem Schaffen wie prädestinierten Stadt", der jedoch „ein adäquater geistiger Lebensinhalt einigermaßen" fehle,42 eine Universitätsgründung durchzusetzen. Das Unternehmen scheiterte: „In den vierzehn Jahren, die ich in Dresden verbrachte, empfand ich immer wieder Neid, wenn ich das Wort .Universitätsprofessor' vernahm".43 Kompensiert wurde diese fachliche Zurücksetzung nicht zuletzt durch öffentliche Anerkennung. Walzel avancierte zum Mentor der Moderne in Dresden. Dabei verteidigte er sich gegen „vorsichtige Fachgenossen", bei denen der „Mut [...], deutsche Dichtung bis in die unmittelbare Gegenwart hinein erfassen und darstellen zu wol-

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Klcmperer,Leben sammeln(Anm. 12), S. 419 (zum 12.3.1921 ); vgl. Mìchìt\Scb\oa,Hermann Hettner. Idealistisches Bildungsprinzip versus Forschungsimperativ. Zur Karriere eines, undisziplinierten ' Gelehrten im 19. Jahrhundert, Tübingen 1993. Nidden, „Krisis in der Literaturwissenschaft" (Anm. 3), S. 170, nennt als Vorbilder einer Literaturwissenschaft von „lebendigem Wert" auch Hettner und Nietzsche. Vgl. Walzeis Würdigung: „Hermann Hettner", in: Vossische Zeitung, 12.3.1921. Gehrig, „Die kulturwissenschaftliche Abteilung" (Anm. 34), S. 196. Seit Stern war das Fach auch Prüfungsfach für die Lehramtskandidaten an der Technischen Hochschule. Walzel, Wachstum und Wandel (Anm. 7), S. 134. Walzel berichtete in den Jahresberichten fiir Neuere deutsche Literaturgeschichte von 1890 bis 1914 über die Forschungen zur Literatur der Romantik. Außerdem vgl. Rudolf Haym, Die romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes, 3. Aufl., besorgt von Oskar Walzel, Berlin 1914. - Vgl. weiter Oskar Walzel, Deutsche Romantik, 2 Bde., 5. Aufl., Leipzig 1908, [zuerst 1923 und 1926]. Walzel, Wachstum und Wandel (Anm. 7), S. 101. Ebd., S. 112. Klemperer, Lehen sammeln (Anm. 12), S. 376, berichtete am 18.10.1920 jedoch von einem Besuch des Ministers an der Technischen Hochschule, dem Walzel - nach belanglosen Reden — „endlich einen eigenen Gedanken" präsentiert habe: „Wir brauchen Synthese, Überblick, die Universitäten sind Specialistenanstalten — also liegt hier die Sonderaufgabe unserer allg. Abteilung". Willy Hellpach, „Universität Dresden", in: Der Kunstwart 25, 1912, S. 216-219, hier S. 217. Vgl. Gehrig, „Die kulturwissenschaftliche Abteilung" (Anm. 34), S. 221. Walzel, Wachstum und Wandel (Anm. 7), S. 99. Das Promotionsrecht wurde der Kulturwissenschaftlichen Abteilung an der Technischen Hochschule Dresden erst 1928 verliehen.

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len", „gelindes Entsetzen" erregte, 44 mit Argumenten kultureller Erfahrung; so perspektivierte er die Romantik-Forschung: „Die rückläufige Zusammenstimmung der allerneusten Dicht- und Denkweise von Anno 1900 mit der romantischen von 1800 ist mir soeben durch das Buch von Ricarda Huch über die Blütezeit der Romantik sehr lebhaft vergegenwärtigt worden." 45 Indessen mußte er höchst erstaunt registrieren, „daß ihm von einzelnen (sie kennzeichneten sich leicht als Vertreter unduldsamer Klüngel) vorgeworfen wurde," er wolle „die herrschenden Grundsätze meiner Fachgenossen umstoßen. Wirklich war es mir bloß um das eine zu tun gewesen, die neuen und meines Erachtens wichtigen Gewinne Ricarda Huchs und ihrer Nachfolger [...] den Ergebnissen der Forschungen Rudolf Hayms, Wilhelm Diltheys, Jacob Minors einzugliedern."46 Dabei speiste sich umgekehrt seine Sorge um die „jüngste Dichtung" aus fachlichem Ethos; „das Wertvolle innerhalb der Zeitdichtung [zu] erkennen", sei schon Wilhelm Scherers Anliegen gewesen;47 andererseits habe er nicht „nur den Lesern die Dichter gedeutet," sondern „auch die Dichter sich selbst";48 denn des „tiefen innern Zusammenhangs mit ältern Stufen deutschen Schaffens sind sie [die jüngsten deutschen Dichter, W.S.] sich nicht oder kaum bewußt, so wenig wie des Umfangs, in dem diese Ausländer deutscher Art und Kunst verpflichtet sind. " 49 Walzeis Sorge galt so, in den Kunstrevolutionen der Moderne, der Kontinuität deutscher Tradition; dies sicherte seinem Werben für die Jungen die Akzeptanz eines kulturell zunehmend desorientierten bildungsbürgerlichen Publikums. Mit Kriegs- und Nachkriegszeit intensivierte sich Walzels Engagement noch; „in jedem der Jahre 1918 und 1919" brachte er es auf „je fünfzig Veröffendichungen" 50 und in den Kriegsjahren hatte er, der sich am liebsten „schriftstellerisch im Dienste des Krieges betätigt [hätte], [...] auch an die Front oder wenigstens in die Etappe gegangen [wäre], um Stoff fur solche Schriftstellerei zu sammeln", 51 doch wenigstens „Propaganda" wie nie zuvor betrieben - „für die jüngste deutsche Kunst und fur Österreich." 52 Mit der Erfüllung seines Wunsches nach einer universitären Professur, als Nachfolger Litzmanns in Bonn seit 1921, flachte die Kontur von Walzels bisherigem Wirken ab; das „Mitleben des Lebens" nahm ab, der „Verkehr mit Künsdern" 53 beschränkte sich aufs Maß universitätsstädtischer Geselligkeit. Allerdings wurde seine Tätigkeit nun vom Ruhm belohnt, feierte er „als der im Ausland bekannteste deutsche Literarhistoriker [...] in

44 Ebd., S. 283. 45 Rudolf Haym an Oskar Walzel, 4.10.1899, in : Ausgewählter Briefwechsel Rudolf Hayms, hrsg. von Hans Rosenberg, Stuttgart u.a. 1930, S. 367. Zu Ricarda Huchs Romantik-Bild hat Walzel sich immer wieder zustimmend geäußert, vgl. Anm. 7, sowie: „Ricarda Huchs Romantik", in: ders., Vom Geistesleben (Anm. 14), S. 95-134. 46 Oskar Walzel, „Deutsche Romantik in neuem Licht", in: Zeitschrift fur Bücherfreunde 14, 1922, S. 8. 47 Walzel, Die deutsche Dichtung seit Goethes Tod (Anm. 7), S. 178; bezieht sich auf Scherers Vorträge und Aufiätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Österreich (1874). Vgl. meine in Anm. 27 erwähnten Überlegungen zu Erich Schmidt. 48 Walzel, Wachstum und Wandel (Anm. 7), S. 285. 49 Walzel, Die deutsche Dichtung seit Goethes Tod (Anm. 7), S. 31. 50 Walzel, Wachstum und Wandel (Anm. 7), S. 176. 51 Ebd., S. 140. 52 Ebd., S. 167. 53 Ebd., S. 195.

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ganz Europa gelegentlich seiner Vorträge Triumphe".54 Mit Schreiben vom 4. Juli 1936, drei Jahre nach Walzeis Emeritierung, wies dann der Rektor der Universität Bonn - auf scharfe Angriffe der Studentenschaft hin - den Dekan der Philosophischen Fakultät an, den schon früher bei den Nationalsozialisten mißliebigen Walzel „davon in Kenntnis zu setzen, daß seine Vorlesungstätigkeit nicht erwünscht sei. Sein Name wurde daraufhin aus dem Vorlesungsverzeichnis gestrichen."55 Zunehmend isoliert widmete sich Walzel, dessen 1894 geschlossene, glückliche Ehe mit Hedwig Karo mit dem Erlaß der Nürnberger Rassegesetze als Mischehe mit einer Jüdin geächtet wurde, jetzt vor allem Studien, die seine Wendung zum Trost des Glaubens, dem „Versuch, seinen früheren klassisch-romantischen Humanismus in Einklang zu bringen mit der Rückkehr in den Schoß der katholischen Kirche",56 auch wissenschaftlich plausibel zu machen; so wurde ihm die höhere Wahrheit der Dichtung nun durch einen Symbolbegriff verbürgt, der sich noch immer auf Plotin, Goethe, Herbart, aber zudem auf Gertrud von LeFort und Romano Guardini berufen konnte,57 und sein postum veröffentlichtes Erinnerungswerk Wachstum und Wandel ist dieser symbolischen Erkenntnisform des Besonderen im Allgemeinen verpflichtet. „Wer den Sinn seines Daseins erkannt hat, weiß auch, daß noch das Übel und das Schwererträgliche dem Sinne des Ganzen dient, notwendiges Glied im Ablauf seines Daseins ist."58 Bei einem Brand nach einem Bombenangriff kam Oskar Walzel am 29. Dezember 1944 in seiner Wohnung ums Leben, kurz nach der Verschleppung seiner Frau ins Lager Theresienstadt. Jene wissenschaftlichen Leistungen, die seinen Zeitgenossen als wegweisend galten, beruhten auch auf den Resultaten einer Germanistik als kultureller Praktik, wie sie Walzel in den entscheidenden Jahren geübt hatte, als er „die Grenze zwischen Dichtung einerseits und Alltag und Wissenschaft anderseits" stets als „beweglich" erfuhr;59 hier liegen die vortheoretischen Evidenzen, auf die sich die Reflexionsarbeit der Konzeptbildung wie die Forschungsroutine wie selbstverständlich beziehen. Schon um 1900, als „die Sterbeglocke des Materialismus und des Positivismus zu läuten" begann,60 stellte sich - laut Walzel - „die schwere Aufgabe [...], die reichen neuen Ergebnisse der Naturwissenschaft und der Technik einem bindenden sittlichen Gedanken ein- oder unterzuordnen",61 „auf deutschem Boden die überkommene hohe geistige Kultur mit der neuen Kultur des Handels und der Industrie zu einem festen

54 Enders, „Oskar Walzel. Persönlichkeit und Werk" (Anm. 6), S. 186. 55 Hans-Paul Höpfner, „Die vertriebenen Hochschullehrer der Universität Bonn 1933-1945", in: Opfer nationalsozialistischen Unrechts an der Universität Bonn, hrsg. von Klaus Borchard, Bonn 1999, S. 3778, hier S. 65; Walzel hatte kurz zuvor noch um eine Verlängerung seiner Lehrtätigkeit gebeten. Ungenau hierzu Enders, „Oskar Walzel. Persönlichkeit und Werk" (Anm. 6), S. 186. 56 Carl Enders, „Einfuhrung", in: Walzel, Wachstum und Wandel (Anm. 7), S. IX-XI, hier S. IX. 57 Oskar Walzel, „Piaton oder Plotin?" in: Neophilologus 23,1938, S. 444-449. „Der Begriff .Mythos' bei David Friedrich Strauß", in: Neophilologus 26, 1941, S. 192-211, hier bes. S. 209. 58 Walzel, Wachstum und Wandel (Anm. 7), S. 2. 59 Oskar Walzel, „,Der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit'", in: Euphorien 33, 1932, S. 83105, hier S. 86. 60 Oskar Walzel, „Der Wert deutscher nachklassischer Dichtung", in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 17, 1929, S. 290-315, hier S. 294. 61 Walzel, Die deutsche Dichtung seit Goethes Tod (Anm. 7), S. 122.

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und eigentümlichen Ganzen zusammenzuschweißen".62 Analog zur Suche der kulturellen Moderne nach einem Übergang zu einem neuen Stil und einer ganzheitlichen Kultur „rang" sich Walzel von dem „Atomisieren" seiner Wissenschaft zur „Gesamtschau" empor; 63 die Überwindung atomisierter Erkenntnis - der Kontingenz des Geschichtlichen, der Isolation des Persönlichen, der Abschließung des Disziplinären - , eine Strategie der Öffnung also bildete das Leitmotiv von Walzeis Bemühen; Form und Typus waren seine methodischen LeitbegrifFe. Publikumswirksam proklamierte er die Wende zur „synthetischen Literaturforschung" beim Grazer Philologentag von 1909, „der damals viel Aufsehen erregt [hatte] und [...] durchaus auch als ein Bruch der jüngeren mit der älteren, der sogenannten positivistischen Germanistengeneration verstanden" wurde, 64 ganz im Widerspruch zu Walzeis Selbstverständnis wie auch zu jenem Leitmotiv, das eben auf Ganzheit abstellte, Integration statt Bruch und Ausgrenzung wollte. So sah sich Walzel immer als einen, der die Kontinuität des Faches wahrte, der als Editor und Fortsetzer etwa die Leistung eines Rudolf Haym und Wilhelm Scherer anerkannte und zugleich aufhob. 65 Freilich gehörte er in dieser Gründungsepoche, als die neuere Literaturwissenschaft noch „alle Kräfte aufwenden mußte, um sich gegen [den] Widerstand [der altdeutschen Philologie, W.S.] durchzusetzen",66 dennoch zu den Wortführern einer ästhetischen und geistesgeschichtlichen Wende. 67 Für eine „synthetische Literaturforschung" 68 ist „Wissenschaft [...] mehr als Wissen. [...] Nur Gesamtschau oder, wenn dies Wort zu anspruchsvoll ist, nur Überschau gelangt zu Begriffen, die nicht einmalig sind, sondern sich auf ganze Reihen von Erscheinungen anwenden lassen."69 Dabei verschränkten sich „Gehalt" und „Gestalt" im „Ganzen" des „Wortkunstwerkes"; die isolierten Werke jedoch wurden wiederum in einer epochalen Typologie beschreibbar: „Das Begriffliche, das es gestattet, Kunstwerke und deren Schöpfer aus der Vereinsamung ihres persönlichen Daseins zu erlösen und sie mit andern Kunstwerken und mit andern Künstlern in Verbindung zu setzen, sah ich in dem Ideellen, das im Kunstwerk sich verwirklicht, in den Lebensproblemen, die es darstellt, in den Formen, die es wahrt." 70 62 Oskar Walzel, Zukunftsaufgaben deutscher Kultur. — Kriegsdichtung. — Zwei Auf ätze, Konstanz 1916 (Die Zeitbücher 45), S. 15. 63 Walzel, Wachstum und Wandel (Anm. 7), S. 122. 64 Klaus Naderer, Oskar Walzeis Ansatz einer neuen Literaturwissenschaft, Bonn 1992, S. 30. Walzels Thesen fügen sich durchaus in die damals gängigen „Topoi der Scherer-Kritik" ein, vgl. Holger Dainat, „Deutsche Literaturwissenschaft zwischen den Weltkriegen", in: Zeitschrift fur Germanistik 1, 1991, S. 600-608, hier S. 601. 65 Vgl. Anm. 38 sowie: Wilhelm Scherer, Geschichte der deutschen Literatur, Berlin 1917. [Mit einem Anhang von Oskar Walzel, „Die deutsche Literatur von Goethes Tod bis zur Gegenwart"]. 66 Julius Wahle, „Brief', in: Vom Geiste neuer Literaturforschung. Festschrift fur Oskar Walzel, hrsg. von dems. und Viktor Klemperer, Wildpark-Potsdam [1924], S. 224f., hier S. 224. 67 Vgl. noch seinen resümierenden Beitrag: „Wilhelm Scherer und seine Nachwelt", in: Zeitschrift fur deutsche Phitobgie 49, 1930, S. 391-400. 68 Vgl. nochmals jenen 1910 zuerst gedruckten Beitrag: .Analytische und synthetische Literaturforschung", wiederaufgenommen in Oskar Walzel, Das Wortkunstwerk. Mittel seiner Erforschung, Leipzig 1926, S. 3-35. 69 Walzel, Wachstum und Wandel (Anm. 7), S. 26. 70 Oskar Walzel, [Rez.] „Rudolf Unger: Literaturgeschichte als Problemgeschichte. Zur Frage geisteshistorischer Synthese, mit besonderer Beziehung auf Wilhelm Dilthey" [1924], in: Deutsche Literaturzeitung N.F. 2, 1925, Sp. 1253-1259, hier Sp. 1255.

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Walzel Schloß sich bei seiner Suche nach überindividuellen Typen an Heinrich Wölfflins „kunstgeschichdiche Grundbegriffe" an, die ihm eine angemessene „Fachsprache der Beschreibung" zu bieten schienen: „Wir brauchen vor allem fìir die Welt der Dichtung etwas, das den Kategorien Wölfflins entspricht";71 der gemeinsamen Terminologie entsprach fiir Walzel also die tatsächliche „ A n a l o g i e von Dichtkunst, Musik, bildender Kunst, die gemeinsame Gesetzlichkeit der drei Gebiete",72 so daß die „wechselseitige Erhellung der Künste" - wie sie der schnell zum Schlagwort avancierte Titel seiner Schrift von 1917 forderte - nicht eine bloße konstruktive Leistung der Wissenschaft benannte, sondern gleichsam das „Gesamtkunstwerk"73 im Modus seiner Rekonstruktion verhieß. So konnte Walzel denn auch - wie seither kritisch angemerkt wurde - Wölfflins „Formalismus" nicht übernehmen, da er „in den Bahnen einer" — ganzheidichen - „.organischen' Ästhetik [dachte], wie er sie aus den bei Goethe und den deutschen Frühromantikern vorgefundenen ästhetischen Anschauungen ableitete, deren Wurzeln er wiederum über Herder und Shaftesbury auf die neuplatonische Kunstauffassung Plotins zurückführte."74 Und während Wölfflin seine Grundbegriffe zur Stil-Beschreibung entwickelt hatte, deutete Walzel sie zu Kategorien eines Epochenstils um und etablierte àe.n Zeitgeist als letzte Instanz historischer Typik. 75 Damit wurden die Vielzahl historischer Einzelheiten nun Typen zugeordnet, freilich mit gelegentlicher Variation. Zwei Möglichkeiten deutscher Form: „goethischdeutsch" und „gotisch-deutsch",76 wurden im Anschluß an Wilhelm Worringer postuliert; drei Weltanschauungstypen, wie sie Wilhelm Dilthey präsentiert hatte,77 bestimmten die Gliederung von Walzels Deutsche Dichtung seit Goethes Tod: objektiver Idealismus der Goethezeit, der poetische Realismus und schließlich der subjektive Realismus; dann wieder begegnet ein Dreierschema, das auf der Gewichtung von „Gehalt" und „Gestalt" beruhte; es umfaßte einen antik-renaissancehaften Typ (Gehalt), germanisch-gotischen Typ (Gestalt) „und einen organisch-deutschen Typ, der wie Goethe zu einer ausgewogenen Synthese zwischen dem Formalen und dem Ausdruckshaften gelangt".78 Jeweils aber beanspruchten die „Stiltypen" eine überzeitliche Gültigkeit, waren hingegen „national eingrenzbar".79 Denn auch fur Walzel war das 71 Oskar Walzel, Wechselseitige Erhellung der Künste, Berlin 1917, S. 41. 72 Oskar Walzel, Die künstlerische Form des Dichtwerks, Berlin 1916, S. 23. 73 Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800, hrsg. von Harald Szeemann, Aarau 1983. 74 Rainer Rosenberg, „Über den Erfolg des Barockbegrißs in der Literaturgeschichte: Oskar Walzel und Fritz Strich", in: Europäische Barock-Rezeption, hrsg. von Klaus Garber u.a., Wiesbaden 1991 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 20), S. 113-127, hier S. 119f. Zur germanistischen Umdeutung von Wölfflins Ansatz exemplarisch die Analyse von Heinrich Dilly, „Heinrich Wölfflin und Fritz Strich", in: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925 (Anm. 5), S. 265-285, bes. S. 273 die Ablehnung nationaler Unterschiede. 75 Vgl. Salm, Drei Richtungen der Literaturwissenschaft (Anm. 5), S. 70ff. 76 Oskar Walzel, Vom Geistesleben alter und neuer Zeit, 2. Aufl., Leipzig 1922 [= erw. Ausg. der in Anm. 14 nachgewiesenen Sammlung], S. 130fF. 77 Vgl. Oskar Walzel, Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters, Berlin 1923, S. 8Iff. 78 Jost Hermand, Literaturwissenschaft und Kunstwissenschaft. Methodische Wechselbeziehungen seit 1900, Stuttgart 1971 (Sammlung Metzler 41), S. 23. 79 Gerhard Kluge, „Stilgeschichte als Geistesgeschichte. Die Rezeption der Wölfflinschen Grundbegriffe in der deutschen Literaturwissenschaft", in: Neophilalogus 61, 1977, S. 575-586, hier S. 580.

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Projekt der Literaturgeschichte national orientiert. Seinem weitgespannten kulturellen Horizont gemäß, war ihm zwar „um 1890 [...] die zeitgenössische französische Dichtung geläufiger als die allerjüngste deutsche",80 und die „Schau der sogenannten .histoire de littérature comparée'"81 keineswegs fremd, die Stilgeste des Vergleichs in seinen Schriften drapierte jedoch zumeist nur ein wertendes Nebeneinander, und der Maßstab der Wertung fand sich in einem Konzeptschlaguwrt des Deutschen·, so ließen sich Barock und Expressionismus in der Kontinuität des Typus vereinen. Im Konsens mit dem Leser verzichtete Walzel auf nähere Definitionen; „unter deutscher Form", so erklärte er einmal anläßlich von Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen, verstehe „Mann wesentlich das, was in dieser Darstellung deutscher Dichtung immer wieder als deutsche Form gefaßt wird."82 Damit war auch „die Gestalt zu bestimmen, die einem deutschen Gehalt entspricht".83 Bildete diese Hochwertung des Deutschen im Fachgespräch ein blindes Axiom, so wurde sie biographisch sehr wohl begründet, zunächst mit der Erinnerung an den Preußen-Enthusiasmus des österreichischen Knaben seit dem Krieg von 1870/71, 84 dann mit der Erfahrung von 1914: „Wer früher die Worte Deutschland, Vaterland, Heimat aus Angst sie abzunutzen oder gar zu entheiligen, nicht gern im Munde fiihrte, brachte sie jetzt, getragen von einem großen Augenblick, willig und oft." In die germanistische Arbeit transportiert wurden damit auch die Elemente einer deutschen T o p i k - der Vorwurf der .Ausländerei", also jener „üb[le] Brauch" des Deutschen, „sein eigenwüchsiges Schaffen nur dann fur vollwertig zu halten, wenn es durch ein ausländisches Schlagwort sich rechtfertigen ließ";85 positiv aber die deutsche Bildungsidee: „Überall, wo im 19. Jahrhundert die Hoffnung auf ein kommendes Drittes Reich aufblitzt, [...] steht der Gedanke des allseitigen Menschen im Hintergrund." 86 Dabei funktionierten die Ausgrenzungen ebenso selbstverständlich, etwa in der Charakteristik Bertolt Auerbachs: „Als Jude war er [...] mehr zum bloßen Beobachten als zum vollen Miterleben der Bauernwelt bestimmt." 87 Vielleicht ist Walter Benjamins harscher Vorwurf eines „geilen Drangs aufs .Große Ganze'" in seiner Schärfe erst verständlich, wenn man solche Normen des Gehalts in der „synthetischen" Betrachtung der „Gestalt" mit bedenkt. 88 In Gehalt und Gestalt hatte Walzel ja auch konsequent, wenn auch ohne Markierung der Differenz

80 Walzel, Wachstum und Wandel (Anm. 7), S. 63. 81 Ebd., S. 64 82 Walzel, Die deutsche Dichtung seit Goethes Tod (Anm. 7), S. 347. Vgl. auch Müller, Barockforschung (Anm. 23), S. llOf., über die „.deutsche Form' als zentrales Untersuchungsobjekt der Literaturbetrachtung" Walzeis. 83 Walzel, Gehalt und Gestalt (Anm. 77), S. 387. Vgl. Hans-Harald Müller, „Die Übertragung des Barockbegriffs von der Kunstwissenschaft auf die Literaturwissenschaft und ihre Konsequenzen bei Fritz Strich und Oskar Walzel", in: Europäische Barock-Rezeption (Anm. 74), S. 95-112, hier S. 111-118. 84 Walzel, Wachstum und Wandel (Anm. 7), S. 97, dann ebd., S. 139. 85 Walzel, Die deutsche Dichtung seit Goethes Tod (Anm. 7), S. 194. 86 Ebd., S. 202. 87 Ebd., S. 85. 88 Walter Benjamin, „Oskar Walzel. Das Wortkunstwerk. Mittel seiner Erforschung", in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. 3: Kritiken und Rezensionen, Frankfurt am Main 1972, S. 51.

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zu Wölfflin, versucht, seine Begriffe im Sinne einer Identität des Deutschen zu interpretieren - und sich dabei auf Georg Simmeis Rembrandt-Buch berufen.89 Der souveräne Eklektizismus Walzeis sollte deshalb in der wissenschaftsgeschichtlichen Rekonstruktion ernst genommen werden, anstatt durch eine Fokussierung auf Wölfflins oder Cassirers90 formale Typenbegriffe Walzel nachträglich zu professionalisieren; seine Rolle war vielmehr die des Wissenschaftlers als kultureller Vermittler. Prädestiniert dafür war er eben durch sein „synthetisches" Begehren, das sich in einer stupenden Fülle von Beziehungen zu Vorbildern und Gewährsleuten abbildete. So erinnerte er bei seinem Plädoyer gegen den „Gehalt" auch an die „bewußte Kunst der Form, wie sie bei Stefan George und seiner Schule anzutreffen ist"; „vermudich", so heißt es weiter, „galt man damals fiir überspannt, wenn man Stefan George als eine Erscheinung faßte, um die sich auch Wissenschaft kümmern sollte".91 Kulturell anschließbar war ebenso der Formkult bei Paul Ernst und bei dem - schon fiir Wölfflin anregenden - Adolf von Hildebrand.92 Von seinem Schüler Wilhelm Worringer93 lernte er, die Figur des Gotischen zu erkennen; Dilthey wiederum „bestätigte" dem suchenden Walzel, „was mir längst vorschwebte: Sinndeutung des Schaffens der Dichter, nicht zuletzt der Lebenden",94 aber er berief sich dafür auch auf den Impressario der Moderne, Hermann Bahr.95 Der Altphilologe Eduard Norden96 wirkte mit seinem „grundlegenden Werk" über „die antike Kunstprosa" vorbildlich; willkommene Bestätigung fand Walzel ebenso bei den Schallanalysen von Sievers und Rutz97 und sah sich als „Bundesgenosse der neuen Naturwissenschaft",98 die synthetisch-morphologisch denke. Seine Stilforschung begegne den Bestrebungen von Romanisten wie Leo Spitzer,99 doch wegen seiner Faszination „vom ,Sehen' einer Dichtung"100 wüdigte er auch die Bild-Poetik eines Hermann Pongs.101 Auch Walzeis zahlreiche Rezensionen

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Vgl. Walzel, Gehalt und Gestalt (Anm. 77), S. 322ff. Vgl. Kluge, „Stilgeschichte als Geistesgeschichte" (Anm. 79), S. 576f. Walzel, Wachstum und Wandel (Anm. 7), S. 128. Vgl. Walzel, Zukunftsaufeaben (Anm. 62), S. 16f. Vgl. Salm, Drei Richtungen der Literaturwissenschaft (Anm. 5), S. 42 sowie S. 64. Vgl. Walzel, Wachstum und Wandel (Anm. 7), S. 227f. Ebd., S. 284; Walzel hatte Dilthey in Berlin auch persönlich kennengelernt, vgl. ebd. S. 32. Ebd., S. 284 Vgl. Walzel, Gehalt und Gestalt (Anm. 77), S. 192ff. Vgl. ebd., S. 96-104, ausgehend von Thesen Hermann Nohls; generell dazu das Kapitel „Geistesgeschichdiche Synthese-Versuche (II). Der stiltypologische Ansatz. Oskar Walzeis Theorie der .wechselseitigen Erhellung der Künste'", in: Rainer Rosenberg, Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik, Berlin 1981, S. 202-225, hier S. 206ff. 98 Walzel, Wachstum und Wandel (Anm. 7), S. 238; Walzel beruft sich dabei auf Die Welt der Formen (1925) von Hermann Friedmann, dem „Schöpfer des morphologischen Idealismus" (ebd., S. 236). 99 Vgl. Walzel, Gehalt und Gestalt (Anm. 77), S. 385f. 100 Walzel, Wachstum und Wandel (Anm. 7), S. 191 101 Vgl. den „Nachtrag zum Neudruck", in: Walzel, Gehalt und Gestalt (Anm. 77), S. 409ff., zum Kontext der Entwicklung nach 1933 auch Wolfgang Adam, „.Dichtung und Volkstum' und erneuerter ,Euphorion'. Überlegungen zur Namensänderung und Programmatik einer germanistischen Fachzeitschrift", in: Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, hrsg. von Wilfried Barner und Christoph König, Frankfurt am Main 1996 (Fischer Taschenbuch 12963), S. 60-75, hier S. 61; außerdem ders., „Einhundert Jahre .Euphorion'. Wissenschaftsgeschichte im Spiegel einer germanistischen Fachzeitschrift", in: Euphorion 88,1994, S. 1-72, hier S. 37 (S. 35ff. zu Walzeis Mitwirkung im Herausgebergremium des Euphorion).

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stifteten immer wieder Verbindungen: zu Hermann Unger, zu Clemens Lugowski, nach anfänglichen Bedenken 102 sogar zu Friedrich Gundolf, dessen Goethe-Buch zur Analyse des „Wortausdrucks" vorgedrungen sei; 103 er bekannte sich zu einer Weggemeinschaft mit Fritz Strich, aber auch mit Karl Vossler, den er - wie es die Ankündigung seines Festschriftbeitrags bekannte - „gern zu seinen Ansichten bekehren möchte". 1 0 4 Andererseits fehlte es Walzel nicht an Anerkennung im In- und Ausland. Nach einer aufsehenerregenden Reise in die Sowjetunion, 105 die von dem Leningrader Germanisten Viktor Zirmunskij initiiert worden war, erkannten die jungen Formalisten den Autor von Das Wortkunstwerk — in produktivem Mißverstehen - als einen ihrer „Wegbereiter" an; 1 0 6 Viktor Lunatscharski bezeichnete sie gar als die „Schule Oskar Walzels". 107 Im strengen Sinn schulbildend ist Walzel freilich nicht geworden. Nach 1 9 4 5 wurde er wieder gepriesen als „der erste Literaturwissenschaftler, der Ernst machte mit der Einsicht, daß Dichtung eine künsderische Leistung in Sprache ist". 108 Er selbst verstand sich - noch im Lebensrückblick einem Biographiemodell seiner Jugendjahre im Zeichen der klassischen Moderne folgend - als „Übergangsmensch", 109 „behaftet mit vielen Vorzügen, aber auch mit allen Mängeln einer Übergangszeit". 110 Mit seinem „synthetischen" Entwurf jedenfalls steht er noch diesseits der Ausdifferenzierung der Geistesgeschichte in eine ideen- oder problemgeschichtliche und eine stil- oder formtypologische Richtung; doch schließt die Bonner erzählmorpho-

102 Vgl. seine Rezension „Friedrich Gundolf: Shakespeare und der deutsche Geist", in: Jahrbuch der deutschen Shakespeare-Gesellschaft 48, 1912, S. 259-274. 103 Vgl. Oskar Walzel, „Wege der Wortkunst", in: Idealistische Neuphilologie. Festschriftßr Karl Vossler, hrsg. von Viktor Klemperer und Eugen Lerch, Heidelberg 1922, S. 33-53, hier S. 39ff. 104 Ebd., S. 33; weiter S. 35. Vgl. Karl Vossler, „Über gegenseitige Erhellung der Künste", in: Festschrift Heinrich Wölfflin zum siebzigsten Geburtstag, Dresden 1935. — Zu Strich bereits: Walzel, Gehalt und Gestalt (Anm. 77), S. 319ff. und S. 387ff. 105 Vgl. Walzel, Wachstum und Wandel (Anm. 7), S. 230-236. 106 Rainer Rosenberg, „Die Formalismus-Diskussion in der ostdeutschen Nachkriegsgermanistik", in: Zeitenwechsel (Anm. 101), S. 301-312, hier S. 305; dazu bei Müller, „Die Übertragung des Barockbegriffe" (Anm. 83), S. 105ff. „Gründe für Walzels Opposition gegen seines Einschätzung als .Formalist'". Für die spätere sowjetische Rezeption hingegen wegweisend die Einordnung Walzels bei Viktor Zirmunskij, „Novejsie teccnija ν istoriko-literaturnoj mysli ν Germanii" [Die neuesten Tendenzen im literaturhistorischen Denken in Deutschland], in: Vremennik Otdelaslovesnychiskusstv Gosudarst instituía istorii iskusstv, T. 2: Poetika [Jahrbuch der Sektion für Wortkunst des Staadichen kunsthistorischen Instituts, Bd. 2: Poetik], Leningrad 1927; wieder in ders., Iz istorii zapadnoevropejskich literatur [Aus der Geschichte der westeuropäischen Literaturen], Leningrad 1981, S. 106-124. Übersetzt lag vor: Impressionizm i ekspressionizm ν sovremennoj Germanii [Impressionismus und Expressionismus im gegenwärtigen Deutschland], Petrograd 1922 [= Teilübersetzung von Walzel, Die deutsche Dichtung seit Goethes Tod (Anm. 7)]. 107 Vgl. Anatoli Lunatscharski, „Die Kritik [1931]", in: ders., Philosophie. Kunst. Literatur. Ausgewählte Schriften 1904-1933, hrsg. von Lydia Reinhardt, Dresden 1986, S. 201-256, hier S. 242. 108 Hennig Brinkmann, „Das Wesen der Dichtung in der deutschen Literaturwissenschaft meiner Zeit"; in: Poetica 45, 1996, S. 125-151, hier S. 135; weiter zu Walzels Würdigung ebd., S. 135-141. 109 Walzel, Wachstum und Wandel (Anm. 7), S. 287 110 Walzel, Die deutsche Dichtung seit Goethes Tod (Anm. 7), S. 70, über die Jungdeutschen. Vgl. Martin Doerry, Übergangsmenschen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreichs, Weinheim 1986.

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logische Schule111 ebenso an seiner „Gestalt"-Analyse an wie etwa Volker Klotzens handliche Kanonisierung einer „offenen" und „geschlossenen Form" im Drama. 112 Doch fur die historische Würdigung ist Walzel einerseits ein verspäteter Repräsentant der Germanistik des Kaiserreichs, mit ihrer Inszenierung des Professors, ihrer Kultur der Rede,113 ihrem unverstörten bildungsbürgerlichen Habitus. Andererseits nimmt Walzel die Aufgabe eines Dolmetschers der Moderne an, selbst wo sie die Prämissen seines Weltbilds und seiner Lebensführung provozierte.114 Ihre Totalitätsentwürfe übertrug er in Kategorien fachlicher Diskurse; im Projekt einer „Überwindung des Historismus" 115 ging er mit ihr einig. Dies sicherte noch in den zwanziger Jahren seinen Arbeiten ihre Aktualität. Als Anreger und Vermittler behält er seinen Rang in der Geschichte der Germanistik auch dann, wenn seine methodischen Ansätze längst in der Beliebigkeit von Schlagworten erstarrt sind.

111 Vgl. etwa seine Rezension „Robert Petsch: Wesen und Formen der Erzählkunst", in: Literaturblatt 58, 1937, Sp. 14-17. Zu Müllers Anerkennung von Walzels Leistung vgl. Rainer Baasner, „Günther Müllers morphologische Poetik und ihre Rezeption", in: Zeitenwechsel (Anm. 101), S. 256-267, hier S. 256f. 112 Vgl. Kluge, „Stilgeschichte als Geistesgeschichte" (Anm. 79), S. 582f. 113 Walzel, Wachstum und Wandel (Anm. 7), S. 139. 114 Vgl. das - bei Frank Almai dokumentierte - Hilfeersuchen etwa Hasendevers an den Kriegsbefurworter Walzel beim Versuch, dem Wehrdienst zu entgehen. 115 Fritz Strich, Zu Heinrich Wölfflins Gedächtnis. Redt an der Basler Feier seines zehnten Todestages, 1956, S. 17. Wiederabdruck in Strichs Aufsatzsammlung: Kunst und Leben, Bern, München 1960. Ähnlich Walzel, Zukunfisaufeaben (Anm. 62), S. 29.

ULRICH WYSS

Andreas Heusler ( 1 8 6 5 - 1 9 4 1 ) 1 Andreas Heusler wurde am 10. August 1865 geboren. Sein Vater war Jurist, Richter, Politiker in Basel, ein wichtiger Staatsmann und hochgeachteter Rechtshistoriker, einmal auch Rektor der Universität. Der preußische Orden Pour le ménte hatte ihn in seine Friedensklasse aufgenommen. Die Mutter, geborene Sarrasin, stammte ihrerseits aus einer alteingesessenen und wohlhabenden Familie von Textil-Industriellen. Man könnte dieses Milieu großbürgerlich nennen, wenn es nicht anderseits einen, wie Heusler selber sagte, „gemäßigt puritanischen" Stil gepflegt hätte.1 Ganz anders die Herkunft der großen Germanisten aus der ersten Generation: Sie waren Söhne bescheidener Staatsbeamten wie die Brüder Grimm oder kamen aus dem Pfarrhaus wie Lachmann, wenn sie nicht Plebejer waren wie Johann Andreas Schmeller, der Sohn eines Korbflechters im oberpfälzischen Tirschenreuth, oder Matthias Lexer, dessen Vater Müller im Lesachtal, weit hinten in Kärnten, war. Für sie alle bedeutete die neue Wissenschaft der Germanistik eine Chance des sozialen Aufstiegs, und so gab es für sie keinen Zweifel am Sinn der Entscheidung für dieses Fach. Andreas Heusler dagegen wurde in Basel als der Dritte seines Namens gefuhrt: Schon der Großvater, auch er Professor und Rektor, war ein berühmter Ratsherr gewesen.2 Für den Enkel hieß das, daß er eine Nähe zur gelehrten Welt und zu den Büchern nicht mehr demonstrieren mußte. „Ich bin eigendich Bücherfeind", schrieb er an einen dänischen Freund im Jahr 1910 und fuhr fort: „Das heißt, das Lesen an sich ist mir eine unlustvolle Tätigkeit, rein physiologisch genommen; und: ich spüre wenig Drang, mein Weltbild aus Büchern zu schöpfen";3 es heißt dort auch, er hänge „nur mit halber Liebe" an der Philologie.4 Eine seltsame Voraussetzung für die Karriere jenes Philologen, der nach seinem Tod von einem Kollegen als der „ungekrönte König unseres Faches, das vor ihm schon lange keinen König mehr besaß", gerühmt wurde!5 Heusler kokettierte mit seinem Außenseitertum in der Disziplin. Er hatte sein Studium mit Suchen und Zögern in Angriff genommen. Doch schon als Einundzwanzigjähriger wurde er in Freiburg im Breisgau zum Doktor der Philosophie promoviert, mit vierundzwanzig war er Dozent in Berlin, mit neunundzwanzig

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Andreas Heusler, Kleine Schriften, Bd. 2, Berlin 1969, S. 4. Klaus von See, „Andreas Heusler in seinen Briefen", in: Zeitschrift für deutsches Altertum 119, 1990, S. 379-396, hier S. 381 f. Andreas Heusler, Briefe an Wilhelm Thalbitzer, Basel 1953, S. 61. Ebd., S. 60. Hans Naumann, „Vorwort von Freundeshand", in: Andreas Heusler, Die altgermanische Dichtung, 2. Aufl., Potsdam 1941; das Vorwort ist unpaginiert.

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Extraordinarius. Er übernahm 1894 die Stelle seines Lehrers Julius Hoffory (18551897), der zu Beginn der Neunzigerjahre an einer unheilbaren Psychose erkrankt war. 1907 berief man ihn in die Akademie der Wissenschaften, 1913 wurde er zum Ordinarius ernannt. Er trat dann 1919, im 5 5. Lebensjahr, von diesem Amt zurück, bezog in der Nähe von Basel ein einfaches Landhaus und wirkte an der heimischen Universität als Titular-Ordinarius. 6 Der ungeliebten Tätigkeit als Hochschullehrer und Akademiker kehrte er den Rücken - und verblieb dennoch innerhalb der gelehrten Institution. Mit 71 Jahren ging er in den Ruhestand, er starb am 28. Februar 1940. Diese Karriere, so scheint es, ist von Zufällen bestimmt. Heusler wählte anscheinend ein beliebiges Studienfach. Daß später dann in Berlin eine Stelle frei würde, war durchaus nicht vorauszusehen. Als er schließlich einen guten und großen Namen hatte, lehnte er jedoch ehrenvolle Rufe nach Jena, Halle, Graz, Bonn, Basel und Zürich ab. 7 Nach Basel ging er erst zurück, als ihn niemand mehr rief, wurde allerdings mit offenen Armen empfangen. Er war dann Privatgelehrter und Amtsinhaber in einem. Derlei Ambivalenzen waren charakteristisch fur den Germanisten Andreas Heusler. Zwar mochte er sein Fach nicht recht ernst betreiben, schrieb aber dennoch eine Dissertation mit dem Titel Beitrag zum Consonantismus der Mundart von Baselstadt,8 die als Pionierleistung der modernen Dialektologie galt. Die Arbeit wendete als eine der ersten die damals moderne Sprachwissenschaft der Junggrammatiker auf eine deutsche Mundart an. 9 Hermann Paul, einer der Protagonisten jener neuen Disziplin, hatte sie betreut. Doch Heusler gedachte nicht, als Linguist und Mundartforscher sein Leben zu fristen. Seine allererste gedruckte Publikation war 1887 eine Übersetzung und Kommentierung der altnordischen Völuspa, jener rätselhaften Dichtung aus dem Island des 11. Jahrhunderts, die uns einen guten Teil dessen überliefert, was wir über altgermanische Mythen zu wissen glauben. 10 Heusler, so ließe sich sagen, nahm damit ein Motiv wieder auf, das seit den Anfängen des Faches auf der Tagesordnung stand. Schon 1815 hatten die Brüder Grimm eine zweisprachige Ausgabe der Edda-lÀeâti begonnen. Diese Seite in Heuslers frühem Schaffen war weniger der disziplinaren Innovation als vielmehr der Tradition des Faches zugewandt. Sie dokumentiert außerdem zum ersten Mal, daß Heusler die skandinavische Literatur als wichtiges Zeugnis eines germanischen Altertums zu lesen gedachte. Mit den fortschrittlichen Spitzenkräften der Germanistik bekam es Heusler zu tun, als er nach Berlin ging. An der Friedrich-Wilhelms-Universität, der berühmtesten im jungen Kaiserreich, betrieb man die Nationalphilologie in ihrer avanciertesten Form. Vor allem hatte man seit Wilhelm Scherer die neuere Literaturgeschichte von 6

Oskar Bandle, „Andreas Heusler und die Universität Basel", in: Andreas Heusler an Wilhelm Ranisch. Brirfe aus den Jahren 1890-1940, in Zusammenarbeit mit Oskar Bandle hrsg. von Klaus Diiwel und Heinrich Beck, Basel, Frankfurt am Main 1989 (Beiträge zur nordischen Philologie 18), S. 25-39. 7 Heusler, Kleine Schriften, Bd. 2 (Anm. 1), S. 8. 8 Erschienen Straßburg 1888. 9 Stefan Sonderegger, Andreas Heusler und die Sprache, Basel 1967 (Studien zur Geschichte der Wissenschaft in Basel 17), S. Iff. 10 Nachweise aus Heuslers Œuvre beziehen sich auf das Verzeichnis der Schriften in Andreas Heusler an Wilhelm Ranisch (Anm. 6), S. 20-50, hier Nr. 1.

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der philologischen Beschäftigung mit deren älterem Teil abgetrennt. Erich Schmidt und Gustav Roethe vertraten nun die beiden Hälften der Germanistik. Dazu kam, wie ein Relikt aus den Zeiten, da sich die Germanisten für das Altertum der Germanen zu interessieren begannen, die außerordentliche Professur fur die nordischen Sprachen und Literaturen - aber eben nur noch als ein Randgebiet. Hoffory, den Heusler schnell als Freund gewann, reproduzierte seinerseits die Ambivalenz von Tradition und Modernität. Er arbeitete zunächst auf dem Gebiet der Lautphysiologie und legte sich als progressiver junger Linguist mit Eduard Sievers an, einem der fuhrenden Köpfe der Junggrammatiker. Erst in der zweiten Hälfte seiner kurzen Laufbahn nahm er sich der Literaturgeschichte und Mythologie an, 11 jener Gebiete der Brüder Grimm und Miillenhoffs, welche bei Roethe und Erich Schmidt keine Rolle mehr spielten. Heusler trat also ein zwiespältiges Erbe an, als er Hofforys Lehramt übernahm. Zur biographischen Konstellation gehörte ein drittes Moment. Heusler liebte es, sich als Freund der Künste zu stilisieren, dessen Liebhaberei weit über das triviale Behagen des professoralen Bildungsspießers hinausging. Herman Grimm (1828-1901), Sohn Wilhelms und verheiratet mit einer Tochter Achim von Arnims und Bettina Brentanos, bezeichnete er als seinen „väterlichen Freund". Grimm war Schriftsteller, Essayist, Professor ad personam fur Kunstgeschichte, schrieb aber auch über schöne Literatur. So z.B. zwei Bände zu Homer, die radikal mit der philologischen Professionalität eines Friedrich August Wolf oder eines Karl Lachmann brachen. Heusler sprach von „einer Art Inspirationsphilologie",12 was durchaus nicht als Hohn gemeint war. Mit der Generation der Gründer sah er sich durch den zwar als Gelehrten in einem edlen Sinne unprofessionellen, aber schöngeistigen Sproß der Familie Grimm verbunden. Herman Grimm soll Heusler auch, als den siebenundzwanzigjährigen Privatdozenten einmal Unlust und Selbstzweifel plagten, gefragt haben, ob er nicht „zur Kunstgeschichte umsatteln" wolle.13 Noch ein halbes Jahr vor seinem Tod, als ihm sein Asthma schon schwer zu schaffen machte, reiste Heusler nach Genf, um eine Ausstellung mit Leihgaben aus dem Prado zu sehen. Vor allem aber liebte er die Musik. Er war einige Jahre mit einer Konzertsängerin verheiratet; beim Kauf einer edlen Geige aus der Werkstatt des Gagliano („meine Gagliana") ließ er sich von dem weltberühmten Violinisten Joseph Joachim beraten;14 die Partituren Johann Sebastian Bachs kannte er auswendig. Mit dem Dänen Wilhelm Thalbitzer (1873-1958), einem Spezialisten fur die Sprachen der Eskimos, verband ihn nicht zuletzt diese musikalische Passion. Hatte sie etwas mit den Faszinosa und den Idiosynkrasien in Heuslers Wissenschaft zu tun? War ihm geformte Sprache das ganz Andere der Musik - oder bedeutete ihm Poesie ein Musizieren mit Wörtern anstelle der Töne? Bei einem Wissenschaftler wie Theodor W. Adorno zum Beispiel ist es fur die Auffassung von Theorie sehr wohl von Belang, daß er als Komponist ausgebildet worden war und nicht nur Prosa schrieb, sondern immer auch Musik.

11 Vgl. Heuslers Nachruf in: Andreas Heusler, Kleine Schriften, Bd. 1, hrsg. von Helga Reuschel, Berlin 1943, S. 611-617. 12 Ebd., S. 620. 13 Heusler, Kleine Schriften, Bd. 2 (Anm. 1), S. 7. 14 Vgl. Andreas Heusler an Wilhelm Ranisch (Anm. 6), S. 229.

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Das vierte Moment schließlich in Heuslers Leben, das sein Profil als Wissenschaftler prägen half, ist das Hin und Her zwischen Basel und Berlin. Die beiden Städte werden in der Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts gern als Gegenpole aufgefaßt: Jacob Burckhardt etwa kehrte schnell aus der Metropole zurück; sein Landsmann Johann Jakob Bachofen wurde von dem Althistoriker Mommsen als Antipode betrachtet; Nietzsche und Willamowitz als Gegenspieler.15 Basel — das bedeutete Weitläufigkeit, aber zugleich auch eine spezifische Art von Provinzialismus, eine „feine, etwas zimperliche, verweichlichte Gesellschaftskultur", so Heuslers eigene Worte. 16 Er selber wechselte als junger Gelehrter in die neue kaiserliche Hauptstadt, erlebte den Boom der Gründerjahre und kehrte erst nach einunddreißig Jahren zurück. Den Gegensatz zwischen Preußen und Österreich scheint er lange nicht als Problem erlebt zu haben, im Gegenteil: ähnlich wie der Österreicher Wilhelm Scherer wurde er an der Berliner Universität zum überzeugten Preußen. Noch im Alter, nach dem Ersten Weltkrieg, ja sogar noch nach Hitlers Machtergreifung, las er die Memoiren Kaiser Wilhelm II. mit Begeisterung.17 Doch zu diesem Zeitpunkt lebte er längst wieder in Basel. Der verlorene Weltkrieg hatte ihm die Berliner Amter und die Berliner Ehren verleidet. Er mochte nicht Zeuge des,deutschen Elends' sein. Sein Denken nahm eine Wendung ins Deutsch-Nationalistische, er wollte mit den Siegermächten, die Deutschland erniedrigt hatten, nichts mehr zu tun haben. Über die „Franzmänner" schrieb er 1932 sogar ein „Haßgedicht" in Knittelversen.18 Der Basier Kosmopolitismus ging ihm in Basel verloren. Inwieweit er sich auf den Nationalsozialismus einließ, ist nicht leicht abzuschätzen. Er bewunderte Hitler, 19 von dem er sich in seinen Briefen erst spät distanzierte.20 Auch antisemitische Ressentiments waren ihm bereits im Kaiserreich nicht fremd. Für die Nöte seines jüdischen Kollegen Richard Moritz Meyer an der Berliner Universität hatte er schon um die Jahrhundertwende kein Verständnis. Und als es nach 1933 darum ging, jüdischen Studenten die Immatrikulation in Basel zu ermöglichen, sprach er mit unverhohlener Abneigung vom „Zustrom der Orientalen", der hoffentlich bald aufhöre. 21 Keinem seiner in Deutschland verfolgten Kollegen hat er geholfen, nicht einmal seinem ehemaligen Schüler Werner Richter aus Berlin. „Ich teile nicht die Ansicht", ließ er verlauten, „daß die Universität Basel die Aufgabe habe, jüdische und halbjüdische Flüchtlinge zu bergen".22 Heusler kehrte nach Basel zurück, aus Uberdruß an den Verpflichtungen in Universität und Akademie und aus Protest gegen die Weimarer Demokratie. Eine seltsame Form des Exils. Er emigrierte - aber nach Hause. In Arlesheim, wenige Kilometer östlich von Basel, baute er sich ein einfaches Haus mit Blick nach Westen,

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Von See, „Andreas Heusler in seinen Briefen" (Anm. 2), S. 382f. Andreas Heusler an Wilhelm Ranisch (Anm. 6), S. 598. Ebd., S. 629. Vgl. ebd., S. 548ff.; es befindet sich im Nachlaß der Basler Universitätsbibliothek. Ebd., S. 238; von See, „Andreas Heusler in seinen Briefen" (Anm. 2), S. 390ff. Von See, „Andreas Heusler in seinen Briefen" (Anm. 2), S. 394. Julian Schütt, Germanistik und Politik. Schweizer Literaturwissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus, Zürich 1996, S. 159. 22 Ebd., S. 158. Vgl. Bandle, .Andreas Heusler und die Universität Basel" (Anm. 6), S. 32.

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ins Land der verhaßten .Erbfeinde'. Er benannte das Anwesen „Thüle" - mit dem antiken Namen fur jenes sagenhafte Land im äußersten Norden. Auf dem heimischen Boden wollte er zugleich in der Fremde sein, gab seinem Leben in der modernen Welt einen Namen aus dem Altertum. Er arbeitete über seinen Heimatdialekt und über die Literatursprache des alten Island. Er wollte das Eigene und das Fremde in eins zwingen, wie er versuchte, Philologe und Künstler, germanistischer Traditionalist und moderner Sprachwissenschaftler in einem zu sein. Das ergab Stunden der Unlust und Niedergeschlagenheit sowie Angst vor Uberforderung. Heuslers Briefe an Wilhelm Thalbitzer aus Dänemark und an Wilhelm Ranisch ( 1856-1945), der Nordist war wie er 23 und vom gleichen Jahrgang, sind Dokumente lebenslanger Freundschaft. Es sind die einzigen Briefcorpora eines namhaften Germanisten seiner Generation, die zu lesen heute noch eine Freude ist. Sie spiegeln den Charme der Person und deren Widersprüchlichkeit. Die Germanisten und Skandinavisten, welche über Heusler zu schreiben hatten, hat das immer wieder fasziniert. 24 2 Für die Wissenschaftsgeschichte, könnte man meinen, zählt allein, was einer im Fach geleistet hat. Das dem nicht so ist, zeigen die Diskurse ad personam, ohne die es eine Selbstvergewisserung der Disziplin nicht geben kann. Scherer debütierte mit seinem Denkmal Jacob Grimms, Burdach konzipierte die mythische Trias der Brüder Grimm und Karl Lachmanns und in unseren Tagen wird man die Briefe Peter Szondis nicht zuletzt deswegen lesen, weil in ihnen, deutlicher noch als in den wissenschaftlichen Schriften, zu greifen ist, was eine kritische Philologie sein könnte. Heusler erging es nicht anders. Der Zauber der Briefe ist in seinem Fall sogar besonders gefährlich fur die Beschäftigung mit dem gelehrten Werk. Seine Bücher wurden zu einem großen Teil nach 1945 nachgedruckt, 25 und noch beim Erscheinen des voluminösen zweiten Bandes Kleiner Schriften im Jahr 1969 gab es Rezensionen, die wie selbstverständlich mit dem Altmeister in Dialog zu treten versuchten. 26 Das hat sich mittlerweile geändert. Gibt es daraus noch etwas zu lernen? Wie ist der Topos vom „ungekrönten König der Germanistik" zu dekonstruieren? Als Dialektologe, wir haben es gesehen, war der junge Heusler ganz zeitgemäß. Es war das eine der beiden Themen seiner Anfänge. Das Gebiet trat dann in der Berliner Zeit in den Hintergrund. Erst in Basel kam er auf die Frage der alemannischen Mundarten in der Schweiz zurück, 27 als er vor dem chauvinistischen Kult des Dialekts warnen zu müssen glaubte. Zur Rechtsgeschichte war Heusler durch die Tradition vom Vater und Großvater her bestimmt. Seit Jacob Grimm, der ja als Jurist ausgebildet worden war und Rechts23 Vgl. Klaus Düwel, „Wilhelm Ranisch", in: Andreas Heusler an Wilhelm Ranisch (Anm. 6), S. 61-79. 24 Von See, „Andreas Heusler in seinen Briefen" (Anm. 2); Sonderegger, Andreas Heusler und die Sprache (Anm. 9). 25 Auch die Kleinen Schriften. Allerdings sind alle Werke jetzt bei den Verlagen vergriffen. 26 Z.B. Werner Schröder, [Rez.] „Andreas Heusler, Kleine Schriften", in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 92, 1970, S. 182-192. 27 Sonderegger, Andreas Heusler und die Sprache (Anm. 9), S. Iff. und S. 13ff.

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altertümer gesammelt hatte, gehörte sie aber auch als Teilgebiet der Fachgeschichte in die Germanistik. Heusler gab die Grimmschen Deutschen Rechtsaltertümer zusammen mit Rudolf Hübner in vjerter Auflage heraus.28 Außerdem befaßte er sich in seinen reifen Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in zwei großen Abhandlungen mit rechtsgeschichtlichen Problemen in den Isländersagas.29 Im hohen Alter kam er auf das Thema zurück und übersetzte das umfangreichste isländische Rechtsbuch, die sogenannte Graugans, ins Deutsche.30 Auf beiden Gebieten indes machte er keine Epoche. Heuslers Autorität beruht vielmehr auf seiner Arbeit zur deutschen Versgeschichte, seinen Studien zur Heldenepik und seiner Deutung der altnordischen Literatur. Auf diese Themen hatte er sich früh eingelassen; doch erst nach dem Rückzug aus Berlin gelangen Heusler die großen Bücher,31 die lange Zeit zum Kanon der germanistischen Sekundärliteratur gehörten.

Deutsche Versgeschichte mit Einschluß des altenglischen und altnordischen Stabreimverses lautete der vollständige Titel des Lehrbuches, das in drei Teilen zwischen 1925 und 1929 in der Reihe Grundrißder germanischen Philologie, einst von Heuslers altem Lehrer Hermann Paul begründet, als repräsentatives Standardwerk zum Thema erschien. Die drei Bände behandeln den Vers in deutscher Sprache, von den althochdeutschen Anfängen bis zur modernen neuhochdeutschen Poesie. Aber es geht zugleich um em germanisches Thema. Am Anfang der deutschen Versgeschichte steht der Stabreim. Er ist jedoch nur in wenigen und zudem trümmerhaften althochdeutschen Denkmälern sowie im altsächsischen Heliand überliefert. Viel reicher ist das Material aus dem angelsächsischen Britannien und aus dem Norden. Es wird zum Vergleich herangezogen, als wäre es selbstverständlich, eine altgermanische Literatur durch eine andere zu erhellen. Das liegt an Heuslers Prämissen, es gebe ein germanisches Prinzip der Versifikation, das am Ursprung aller germanischen Sprachen als Stabreim bestimmt werden könne. Der Endreim hingegen komme aus der lateinischen Welt der christlichen Kirche und sei zuerst in den fränkischen, alemannischen und bairischen Süden gelangt. Wer germanisches Versgefuhl kennen lernen wolle, müsse es dort suchen, wo es von diesem Einfluß aus der Fremde noch wenig verunreinigt sei. Es geht also auch um germanische Autochthonie. Der Stabreim sei bestimmt durch den Rhythmus, durch schroffe Akzente auf den Wurzelsilben und variable Silbenzahl. Es komme auf den Ton an, die Emphase, welche auf eine Silbe gelegt werde, mehr als auf deren Zahl oder Länge. Das ergebe, falls man antike und romanische Metren im Deutschen adaptiere, allerlei Probleme, die Heusler in den folgenden Bänden abhandelt. Doch und das ist die zweite Prämisse, auf der seine Versgeschichte beruht - alle deutschen Verse, ob stabend, endgereimt oder reimlos, lassen sich nach einem Prinzip analysieren, weil das germanische Sprachmaterial etwas anderes nicht zulasse. „Verse", lehrt 28 Jacob Grimm, Deutsche

Rechtsaltertümer,

Berlin, Prag 1899.

29 Andreas Heusler, Das Strafrecht der Isländersagas,

Leipzig 1911; ders., Zum isländischen

Fehdetvesen

in

der Sturlungenzeit, Berlin 1912 (Abhandlungen der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Jg. 1912, phil.-hist. Klasse, Heft 4).

30 Isländisches

Recht. Die Graugans, Weimar 1937 (Germanenrechte 9).

31 Andreas Heusler, Deutsche Versgeschichte, 3 Bde., Berlin 1925,1927 und 1929; ders., Die altgermanische Dichtung, Potsdam 1923 (Handbuch der Literaturwissenschaft); ders., Nibelungensage und Nibelun-

genlied. Die Stoffgeschichte

des deutschen Heldenepos, Dortmund 1921.

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Heusler, „sind uns taktierte, takthaltige Rede".32 Das Modell dazu findet sich in der Musik. Wir erfassen sie als takthaltig, weil Akzente in regelmässigem Abstand anfallen: auf dem ersten Schlag eines Taktes. Dann folgen weitere T.öne, Nebenakzente oder auch nicht, z.B. wenn ein Vierviertel-Takt aus einer einzigen ganzen Note besteht statt aus Vierteln, Achteln, Sechzehnteln. Heusler appliziert das nun auf die Verskunst. Ein Stabreimvers etwa setze sich immer aus zweimal zwei Takten zusammen, die man an den starken Akzenten erkenne. Was vor dem ersten Akzent stehe, sei Auftakt, was zwischen den Akzenten zu stehen komme, die Versfullung. Es können Takte oder Taktteile auch leerbleiben: wie an den Stellen, an denen eine Musikpartitur ein Pausenzeichen setzt. Immer komme es darauf an, das Taktsystem zu erkennen, dem ein einzelner Vers gehorcht. Das gelte fiir einen mittelhochdeutschen Viertakter, der den altfranzösischen octosyllabe nachbilden will, genauso wie fiir einen Goetheschen Hexameter oder einen freien Rhythmus Hölderlins. Die Produktivität dieser Theorie ist evident. Heusler geht zwar vom altgermanischen Stabreimvers aus, aber er vermag auch Goethes Verskunst gerecht zu werden.33 Noch heute sind Lehrbücher der deutschen Metrik in Gebrauch, die Heuslers Versgeschichte zugrundelegen.34 Einwände ergaben sich daraus, daß Heuslers Modell der Taktrhythmik aus der neueren europäischen Musik stammt. Ist es folglich, bezogen auf ältere Texte, nicht anachronistisch? Es gab und es gibt nämlich ganz andere Möglichkeiten, musikalischen Rhythmus zu organisieren. Des weiteren vernachlässigte Heusler die Tatsache, daß Verse, vor allem in der älteren Literatur, zumeist auf Melodien gesungen wurden. Welchen Einfluß aber hatte das auf das rhythmische Gefiige der Wörter? Heusler bestimmte den Rhythmus immer vom Sprechen her und ging immer von dem aus, was er hörte. Seine Metrik ist radikale Ohrenphilologie. Auf überlieferte oder hypothetische Melodien kam es ihm nicht an, denn er faßte die Verse selbst als eine Art Musik auf. Wenn in der Verstheorie der Musiker Heusler zu Wort kommt, begegnen wir in der Forschung zur Heldenepik dem Ästheten, der auf Gestalt und Gebilde, auf die als Kunst überzeugende Formung hinauswill. Das war, auch um 1900, keineswegs selbstverständlich. Wilhelm Grimms Deutsche Heldensage von 1829 hatte Zeugnisse der heldenepischen Erzählmaterie chronologisch geordnet - ohne Rücksicht auf deren literarische Erscheinungsform im Epos, im Heldenlied, in lateinischer und volkssprachlicher Historiographie oder in der Ballade des Spätmittelalters. Jacob Grimm faßte das heroische Epos als die archaische Form schlechthin auf. Es ist das ganz Andere der modernen Literatur, weil es die Produktivität einer in den Völkern waltenden Natur ganz direkt bezeugt - Naturpoesie eben. Daß das Nibelungenlied in dieselbe Epoche der Literaturgeschichte gehört wie der Parzival oder der Tristan, wollte Jacob Grimm nie wahrhaben.35 Karl Lachmann indes, welcher der romantischen Spekulation über Naturpoesie wenig Reiz abgewinnen konnte, löste des Nibelungenlied in 32 Heusler, Deutsche Versgeschichte (Anm. 31), Bd. 1, S. 4. 33 Etwa in einem Has\ei Aukvortrag von 1925, abgedruckt als Andreas Heusler, „Goethes Verskunst", in: Deutsche Vierteljahrsschrift fiir Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 3, 1925, S. 75-93; wiederabgedruckt in: ders., Kleine Schriften (Anm. 11), Bd. 1, S. 462-482. 34 Z.B. Otto Paul und Ingeborg Glier, Deutsche Metrik, 4. Aufl., München 1961. 35 Jacob Grimm, Kleinere Schriften 5, Berlin 1871, S. 185.

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zwanzig Episodenlieder auf, wie es Friedrich August Wolf fur die Ilias vorgemacht hatte. Aus dem Text, wie er in den erhaltenen Handschriften überliefert ist, waren diese jedoch nur mittels einer aufwendigen philologischen Operation wiederzugewinnen. Mit den 38 âventiuren, in welche der Text dort meistens gegliedert ist, hatten sie nicht mehr viel zu tun. Der Text zerfiel in ein Durcheinander von altem epischem Material und Zusätzen aus jüngeren Zeiten. Lachmanns Theorie hatte in den folgenden Generationen wenig Anhänger, auch wenn Karl Müllenhoff sie noch einmal zu begründen versuchte. Der Germanistik nach 1850 kam die Frage nach dem spezifischen Charakter des Heldenepos abhanden. Man verzettelte sich in der Erörterung darüber, wie der Text am besten zu edieren sei: nach der Handschrift Α, Β oder C, mit oder ohne Kommentar.36 Das Nibelungenlied wäre dann tatsächlich ein Text wie jeder andere, dessen originärer Gestalt man sich auf dem Weg über die Vergleichung der Handschriften zu nähern hätte. Wilhelm Braune - wie Heuslers Lehrer Hermann Paul und Heuslers Widersacher in metricis, Eduard Sievers, ein Exponent der junggrammatischen Schule - hatte im ersten Jahr des neuen Jahrhunderts ein Stemma der Nibelungenüberlieferung ausgearbeitet, das dem Streit ein Ende zu setzen schien.37 Das war der Augenblick, in dem Heusler die Erfindung eines alternativen Paradigmas gelang. Er ließ sich von dem Buch Epic and Romance (1897) des englischen Literarhistorikers William P. Ker inspirieren, klärte zuerst dessen Grundbegriffe ab und wandte sie dann auf das mittelhochdeutsche Nibelungenepos an. Grundlegend war die Unterscheidung von Lied und Epos.38 Das Heldenlied erzähle eine Geschichte in wenigen, dramatisch zugespitzten Aufritten. Man könne es, meint Heusler, „auf einen Sitz" in etwa 20-30 Minuten vortragen und anhören. In der isländischen Edda wie auch im Altenglischen finden sich dafür einige Beispiele; das deutsche Hildebrandslied, nur trümmerhaft überliefert, wird man sich in ähnlichen Dimensionen vorstellen dürfen. Aus derartigen Liedern seien die Epen entstanden, aber nicht, wie Lachmann meinte, durch Aneinanderreihen, sondern indem die Fabel eines Liedes mit weiterem Material aufgeschwellt, amplifiziert, gestreckt worden sei. So setze sich Aas Nibelungenlied AUS den Fabeln zweier Heldenlieder zusammen: einem „Brünhildlied" fränkischen Ursprungs, das Siegfrieds Tod samt dessen Ursachen berichte, und einem „Burgundenlied", das den Untergang der Burgunden am Hof des Hunnenkönigs Attila erkläre. Dank der Sigurd- bzw. der Atlilieder aus Island könne man erahnen, wie diese Lieder im 5. oder 6. Jahrhundert ausgesehen hatten. Erst am Ende des 12. Jahrhunderts, so Heusler, wurden die Lieder von literaturkundigen Klerikern zu Epen umgearbeitet. Aus Liedern, die nur in der oralen Welt lebten, machten sie Bücher nach dem Vorbild etwa der Aeneis des Vergil. Diese Theorie, in dem schmalen Buch Nibelungensage und Nibelungenlied von 1921 endgültig kodifiziert, bedeutete einen Modernisierungsschub, der die Forschung

36 Vgl. Rainer Kolk, Berlin oder Leipzig? Eine Studie zur sozialen Organisation der Germanistik im ,Nibelungenstreit', Tübingen 1990 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur 30). 37 Wilhelm Braune, „Die Handschriftenverhältnisse des Nibelungenliedes", in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 25, 1900, S. 1-222. 38 Andreas Heusler, Lied und Epos in germanischer Sagendichtung, Dortmund 1905.

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des gesamten 19. Jahrhunderts hinfällig zu machen schien. Zum einen gelang es Heusler, das Problem der Oralität in der Heldenepik zu konkretisieren. Es hatte zwar in Wolfs Prolegomena adHomerum (1795) eine wichtige Rolle gespielt; bei Lachmann wurde es dann aber verdrängt. Heusler gewann nun eine Anschauung von dem essentiell mündlichen Wesen des Heldenliedes, das dem literarischen Charakter des Epos (Heusler schrieb immer „Buchepos") entgegenstand. Das Lied gehörte ins germanische Altertum, das die Kulturtechnik der Schrift nicht kannte, das Epos ins christianisierte Mittelalter. Im Epos eine unvordenklich archaische Welt zu erahnen wie Jacob Grimm, verbot sich jetzt. Zugleich erschien die Genealogie der handschriftlichen Fassungen, um die zwei Generationen von Germanisten gestritten hatten, obsolet. Das ist Heuslers Errungenschaft. Sie bestimmte unser Bild von der Vorgeschichte des Nibelungenepos und von der germanischen Heldensage überhaupt bis in die jüngste Vergangenheit. 39 Hermann Schneiders Handbuch Germanische Heldensage beruht ganz auf Heuslers Axiomatik. 40 Erst in den allerneuesten Lehrbüchern tritt Heuslers Lehrgebäude in den Schatten, 41 wenngleich das nicht heißt, daß inzwischen ein gleichwertiges Paradigma aufgetaucht ist. Es gab schon in den Vierzigerjahren Versuche, Heusler zu widerlegen, und zwar zunächst auf dem Boden seiner eigenen Theorie. 42 Sie komplizierten den Stammbaum, der bei Heusler so wundersam einfach aussah, 43 indem sie weitere Sagenkomplexe und Erzählkulturen aus aller Herren Länder assoziierten. Der nächste Angriff zielte auf die Grundbegriffe: Tat Heusler recht daran, wenn er die Heldenepik als rein ästhetisches Phänomen auffaßte? Heldensage ist Heldendichtung, ließe sich dieses Axiom zusammenfassen. Doch, wandten die Kritiker nun ein, gebe es nicht auch Heldensage „vor und außerhalb der Dichtung"? 44 Spiegelten sich in heroischen Fabeln nicht Riten und Kulte aus alter Zeit? Waren die Heroen nicht doch in Menschen umgewandelte Götter? Das lief darauf hinaus, die Heldenepik in die Perspektive der Religionsgeschichte, Volkskunde und Ethnologie zu rücken. Die Sage ist dann nicht identisch mit ihrer poetisch anspruchsvollen Gestalt, sondern wieder, wie in der romantischen Hermeneutik eines Jacob Grimm oder Franz Josef Mone, Überbleibsel aus der Mythenwelt der Vorgeschichte. 45 Dieser Angriff auf Heusler muß heute ebenfalls als gescheitert gelten. Er setzt sich über die literarästhetische Fragestellung, die bei Heusler im Zentrum stand, einfach hinweg. Zuletzt versuchte Walter Haug, Heuslers Axiome zu revidieren, indem er der Heldendichtung

39 Vgl. die vielgelesenen Ausgaben Das Nibelungenlied, nach der Ausgabe von Karl Bartsch hrsg. von Helmut de Boor, Wiesbaden 1963 u.ö.; Das Nibelungenlied, mittelhochdeutscher Text und Übertragung hrsg., übersetzt und mit einem Anhang versehen von Helmut Brackert, 2 Bde., Frankfurt am Main 1970 und 1971 (Fischer Taschenbuch 6038 und 6039). 40 Hermann Schneider, Germanische Heldensage, Bd. 1, 2. Aufl., Berlin 1962. 41 Vgl. etwa Ursula Schulze, Das Nibelungenlied Stuttgart 1997 (Reclam Universal Bibliothek 17604). 42 Z.B. Dietrich Kralik, Die Siegfrid-Trilogie im Nibelungenlied und in der Thidrekssaga, Teil 1, Halle 1941; Kurt Wais, Frühe Epik Westeuropas und die Vorgeschichte des Nibelungenliedes, Tübingen 1953. 43 Heusler, Nibelungensage und Nibelungenlied (Anm. 31), S. 49. 44 So Hans Kuhn, „Heldensage vor und außerhalb der Dichtung", in: Edda, Skalden, Saga. Festschrift zum 70. Geburtstag von Felix Genzmer, hrsg. von Hermann Schneider, Heidelberg 1952, S. 262-278. 45 Vgl. dazu den BandZar germanisch-deutschen Heldensage. Sechzehn Aufsätze zum neuen Forschungsstand, hrsg. von Karl Hauck, Darmstadt 1965 (Wege der Forschung 14).

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die Welt wiederzugewinnen trachtete, in welcher sie entstanden und verstanden wurde. 46 Sie sollte zu allen Zeiten tradierte Erzählschemata so arrangieren, daß aktuelle historische Erfahrung sich artikulieren konnte: Heldenepik als Zitat heroischer Exotik. Vom „Denkzwang", den Haug der Heuslerschen Lehre attestierte, befreit uns das nicht. Vielmehr kehrt die Heusler-Kritik damit auf den Boden von dessen Theorie zurück. Sie stellt sich die literarische Gestalt der Sage nur anders vor - ohne Heuslers gattungspoetischen Dogmatismus nämlich. So verstellt die Antinomie von Lied und Epos den Blick auf die Momente oraler Kommunikationsverhältnisse, die im Nibelungenlied sthr wohl vorhanden sind. Die moderne Erforschung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit47 in der mittelalterlichen Literatur muß deshalb hinter Heusler zurück: zu den Anfängen bei Friedrich August Wolf und Jacob Grimm. Der Reiz von Heuslers Lehre bestand darin, daß sie sowohl der literarischen Gestalt der überlieferten Texte aus dem Hochmittelalter als auch der Vorgeschichte der epischen Sujets gerecht zu werden vermochte. Sie ist Archäologie und Hermeneutik in einem. Das wird in allen anderen Ansätzen getrennt: Entweder untersucht man die sagenhaften Vorstufen oder aber man interpretiert Literaturwerke aus einer Zeit, die nicht mehr viel Mythisches und Sagenhaftes an sich hat, also etwa „das Nibelungenlied in seiner Zeit" oder das „karolingische Hildebrandslied". 48 Heuslers Theorie war um 1900 auch aus einem allgemein wissenschaftsgeschichtlichen Grund modern. Wie kein anderer Altgermanist half er, den philologischen Positivismus zu überwinden, der fur die Sterilität nicht nur der Nibelungen-Debatten verantwordich war. Er wollte Gebilde, Gestalten schauen und vermochte diese auch in wirkungsvollen sprachlichen Prägungen heraufzubeschwören. In seiner Kunstgesinnung hatte er viel mit George und dessen Schülern gemein. Wie er zu Gundolf stand, der als Germanist sein Schüler hätte sein können, geht aus den bisher gedruckten Quellen nicht hervor. Wie verhielt er sich im Streit um die Nachfolge fur Erich Schmidt in Berlin, als Gustav Roethe dafiir plädierte, die Neugermanistik wieder abzuschaffen?49 Georges Lyrik kannte er, sie spielt in der Versgeschichte eine prominente Rolle. Friedrich Wolters' berüchtigtes George-Buch las er, als es eben erschienen war, in den Ferien in Engelberg im Herbst 1930. 50 Von den Debatten um Methode, 46 Walter Haug, „Andreas Heuslers Heldensagenmodell: Prämissen, Kritik und Gegenentwurf (1975); ders., „Normatives Modell oder hermeneutisches Experiment: Überlegungen zu einer grundsätzlichen Revision des Heuslerschen Nibelungen-Modells" (1980), in: ders., Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Tübingen 1989, S. 277-292 und S. 308-325. 47 Vgl. etwa Eric A. Havelock, Als die Muse schreiben lernte, Frankfurt am Main 1992; Albert B. Lord, Orr Sänger erzählt. Wie ein Epos entsteht, München 1968; Literalität in traditionalen Gesellschaften, hrsg. von Jack Goody, Frankfurt am Main 1981; Horst Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995. 48 Vgl. z.B. Friedrich Neumann, Das Nibelungenlied in seiner Zeit, Göttingen 1967; als „heuslerianische" Polemik gegen Haug siehe Werner Schröder, „Ist das germanische Heldenlied ein Phantom?", in: Zeitschrift ftir deutsches Altertum 120, 1991, S. 249-256. 49 Vgl. Wolfgang Höppner, „Eine Institution wehrt sich. Das Berliner Germanische Seminar und die deutsche Geistesgeschichte", in: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925, hrsg. von Christoph König und Eberhard Lämmert, Frankfurt am Main 1993 (Fischer Taschenbuch 11471), S. 362-380. - Heusler wurde 1913 zum ordentlichen Professor befördert — anstelle eines ausgewiesenen Neugermanisten, der die Nachfolge Erich Schmidts hätte antreten können. 50 Andreas Heusler an Wilhelm Ranisch (Anm. 6), S. 526.

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Ulrich Wyss

Wissenschaftslehre und Erkenntnistheorie hielt er sich indessen auch in den Zwanzigerjahren, als sie mit besonderer Intensität ausgetragen wurden, immer fern. Er stellte sich zwar, wenn es darauf ankam, zu den „Philologen" und nicht zu den „Geisteswissenschaftlern", aber er schrieb auch: „Ich bin auch hierin Monist. Die Frage: ob Philologie oder Geisteswissenschaft besser sei, kommt mir so vor wie: ob Einatmen oder Ausatmen besser sei".51 Schließlich Heuslers Beitrag zur Skandinavistik. Das Fach hieß damals noch anders. Als nordische Philologie verwaltete es den größten Teil des germanischen Altertums. Ein grundlegendes Problem der Germanenforschung ist, daß es lesbare, deutbare, genießbare Zeugnisse der germanischen Vergangenheit in der bildenden Kunst kaum und in der Literatur fast gar nicht gibt. Von dem „Unzusammenhang unserer fast ganz aus der Fuge gerathenen Mythen" sprach Jacob Grimm.52 So mußte die seit dem Hochmittelalter reich überlieferte Literatur aus Island fiir das germanische Heidentum und die Kultur der Germanen überhaupt einstehen. Heusler schrieb, als er nach Basel zurückgekehrt war, zuerst eine große Darstellung der „altgermanischen Dichtung".53 Kurz vor seinem Tod fugte er ihr drei lange Kapitel über die isländische Saga hinzu.54 In der ersten Auflage hatte er es sorgsam vermieden, die nur im Norden vertretenen Gattungen - und es gibt die meisten altgermanischen Kunstformen fast nur im Norden - in eine gemeingermanische Typologie hochzurechnen. Neben den niederen Formen, also Zaubersprüchen, Merkgedichten, Tanzliedern usw., präparierte er zwei Formen der hohen Kunst heraus: zum einen das Preislied, wie es im Norden von den Hofdichtern der Könige, den Skalden, gepflegt wurde - schriftlos, aber extrem kunstvoll in metrischer Form und Metaphern-Technik —, zum andern das Heldenlied, das im Deutschen allein durch das Hildebrand-Fragment, im Norden durch die eddische Sammlung und im Englischen durch einige wenige vereinzelte Stücke bezeugt ist. Wenn Heusler die Verschlingung von Stabreim, Endreim und den gereimten Binnensilben in den Skaldengedichten mit der „Tierornamentik" auf Schmuckstücken, Waffen und Gefässen aus dem alten Skandinavien vergleicht,55 so war er auf dem Weg zu einer wechselseitigen Erhellung der Künste, wie sie um 1920 in der geistesgeschichtlichen Germanistik propagiert wurde. Die Skalden formten sprachliche Ornamente. Im Verlag Eugen Diederichs zu Jena begann im Jahr 1911 die Sammlung Thüle zu erscheinen - vierundzwanzig Bände mit Übersetzungen altisländischer Literatur.56 Heuslers Autorität prägte das wissenschaftliche Konzept dieser Reihe. Er selber nahm starken Einfluß auf die Übersetzungen der Edda-Lieder im ersten und zweiten Band,

51 Ebd., S. 542. 52 Jacob Grimm, Kleinere Schriften 8, Berlin 1890, S. 167. 53 Andreas Heusler, Die altgermanische Dichtung, Berlin-Neubabelsberg 1923 (Handbuch der Literaturwissenschaft); zweite, neubearbeitete und vermehrte Aufl., Potsdam 1941. 54 Ebd., 2. Aufl., S. 200-239. 55 Ebd., 1. Aufl., S. 131f. 56 Vgl. Kurt Schier, „Die Literaturen des Nordens", in: Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen Diederichs Verlag-Außruch insJahrhundert der Extreme, hrsg. von Gangolf Hübinger, München 1996, S. 411-449.

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die von Felix Genzmer stammten, 5 7 und im vierten Band legte er die Übersetzung der längsten und vielleicht großartigsten unter den Isländersagas vor: die Geschichte weisen Njal.5"

vom

D a ß dieses Buch „der Menschheit nicht werden konnte was der D o n

Quichote", bedauerte er einmal ausdrücklich. 5 9 Die Isländersaga war ein im mittelalterlichen Europa singuläres Phänomen: nämlich das Beispiel einer altertümlichen mündlichen Prosaepik. Überall sonst erschien die Erzählprosa nach den Versepen und gereimten Romanen; am frühesten der Romankomplex von Lancelot, Tristan und dem heiligen Gral in Frankreich um 1 2 3 0 . O f t wurden dabei zunächst in Versform vorliegende Texte umgearbeitet. M a n nennt dies „Prosaauflösung", so als ob eine feste Form zerstört würde. D a ß derlei nur am

Schreib-

tisch möglich war, gilt als ausgemacht. In Island dagegen verhielt es sich anders. Die Saga geht - zumindest in ihrem Ursprung — nicht auf Heldenlied und Epos zurück. Sie war immer Prosa und zunächst schriftlose Kunst. Es handelt sich um die frühe Geschichte des aus Norwegen besiedelten Island: den Jahren von 8 7 0 bis 1 0 5 0 etwa. Das ist Islands heroic age, eine Welt von aristokratischen Großbauern mit ihren Konflikten. F ü n f bis zehn Generationen lang wurden diese „buchlosen Familienchroniken" von M u n d zu M u n d weitergegeben. Nach 1 1 5 0 begann die Verschriftlichung - zu einem Zeitpunkt also, als in Frankreich die ersten Ritterromane entstanden. Romanhaftes, Heldenepisches und Märchenhaftes trugen dann auch zur Formung der großen Sagatexte bei. D o c h Heusler beharrte darauf, daß die Saga eine „unbedingte", 6 0 eine „ersthändige" 61 Prosa biete, die sich auf kein Stilmodell berufen könne. Weder die antike Rhetorik noch der Lyrismus der romanischen vulgaris eloquentia

haben auf sie

gewirkt. Die „Selbwachsenheit" 6 2 der isländischen Prosa ist nicht zu übertreffen. „Wer die Möglichkeiten germanischen Formgefuhls abstecken will, darf sie nicht vergessen. Erzählen ohne Gemütswallung, Erzählen in dünner Rede: das ist uns nur hier begegnet". 6 3 „Dünne Rede", antirhetorische Nüchternheit, „freiluftige Unbuchmäßigkeit" 6 4 sind die Ingredienzien einer germanischen Ästhetik, die Heusler dem ganzen europäischen Mittelalter entgegenhielt. Damit hat er sich im Fach nicht durchsetzen können. Die germanische O p t i o n 6 5 war in der deutschen Philologie nie wirklich, wie es im politischen Jargon heißen würde, mehrheitsfähig. Erfolgreich erwiesen sich, als die Nationalphilologien ihre Legitimität eingebüßt hatten, die Deutungen der mittelalterlichen Literatur aus dem Geist einer christlichen Kultur, bei Erich Auerbach etwa, und ihre Situierung im Horizont der europäischen Latinität, wie sie von Ernst Robert

57 Nachweise bei Sonderegger, Andreas Heusler und die Sprache (Anm. 9). 58 Die Geschichte vom weisen Njal, übertragen von Andreas Heusler, Jena 1914 (Thüle. Altnordische Dichtung und Prosa 4). 59 Heusler, Altgermanische Dichtung, (Anm. 53), 2. Aufl., S. 220. 60 Ebd., S. 207. 61 Ebd., S. 228. 62 Ebd., S. 242. 63 Ebd., S. 243. 64 Die Geschichte vom weisen Njal (Anm. 58), S. 16. 65 Vgl. Ulrich Wyss, „Mediävistik als Krisenerfahrung — Zur Literaturwissenschaft um 1930", in: Die Deutschen und ihr Mittelalter, hrsg. von Gerd Althoff, Darmstadt 1992, S. 127-146.

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Curtius vorgenommen wurde. Das germanische Altertum mit seiner prekären Autochthonie, die Heusler fast nur als doppelte Abwesenheit zu definieren vermochte - als unchristlich und unlateinisch eben - mußte an den Rand der Disziplin rücken: ins Abseits der ultima Thüle. So war der „ungekrönte König"66 der Germanistik am Ende nicht nur ein Herrscher ohne Krone, sondern auch ein König ohne Land.

66 Naumann, „Vorwon von Freundeshand" (Anm. 5).

JOHANNES JANOTA

Carl von Kraus (1868-1952) „In B e z u g a u f E x a k t h e i t u n d Feinheit in d e r kritischen B e h a n d l u n g m i t t e l h o c h d e u t s c h e r T e x t e steht e r u n t e r d e n jetzigen G e r m a n i s t e n u n ü b e r t r o f f e n d a . " 1 M i t d i e s e m trefflichen R e s ü m e e ihrer L a u d a t i o a u f C a r l v o n K r a u s f o r m u l i e r t e die B e r u f u n g s k o m m i s sion für d e n N a c h f o l g e r H e r m a n n Pauls a u f s e i n e m M ü n c h n e r L e h r s t u h l zugleich ihre E r w a r t u n g , dessen philologische T r a d i t i o n b r u c h l o s fortzusetzen. 2 D e r 1 9 1 6 B e r u f e n e sollte in seiner siebzehnjährigen T ä t i g k e i t bis z u r E m e r i t i e r u n g ( 1 9 3 5 ) u n d a u c h n a c h d e r R e a k t i v i e r u n g 1 9 4 7 / 4 8 die F a k u l t ä t m i t seiner F o r c i e r u n g des L a c h m a n n s c h e n Verständnisses v o n G e r m a n i s t i k als Philologie m i t T e x t k r i t i k , M e t r i k u n d E d i t i o n als E c k p u n k t e n n i c h t e n t t ä u s c h e n . 3 Dieses u n g e b r o c h e n in d e r P h a s e d e r Geistesges c h i c h t e u n d in d e r Z e i t des N a t i o n a l s o z i a l i s m u s w i e i m N a c h k r i e g s d e u t s c h l a n d bis z u m T o d 1 9 5 2 durchgehaltene Forschungskonzept imponiert u n d verunsichert zugleich. A u s d e r D i s t a n z d e r R ü c k s c h a u zeigt sich n a t ü r l i c h , w i e w e n i g zeitresistent das v o n K r a u s o f f e n k u n d i g a u c h als L e b e n s f o r m begriffene F o r s c h u n g s k o n z e p t war, zeigt sich freilich a u c h , wie sehr es d e n n o c h in d e r g e g e n w ä r t i g e n O r i e n t i e r u n g s l o s i g k e i t des F a c h e s - g e r a d e i m e n e r g i s c h e n m e t h o d o l o g i s c h e n W i d e r s p r u c h - bis h e u t e in d e r M i t t e l a l t e r g e r m a n i s t i k als verläßliches R e s i d u u m gegen alle m e t h o d o l o g i s c h e n V e r u n s i c h e r u n g e n z u faszinieren v e r m a g . D i e s gibt z u d e n k e n u n d f o r d e r t geradezu heraus,

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Magdalena Bonk, Deutsche Philologie in München. Zur Geschichte des Faches und seiner Vertreter an der Ludwig-Maximilians- Universität vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, Berlin 1995 (Ludovico Maximilianea. Forschungen 16), S. 65. — Die nachfolgenden Rückgriffe auf Archivalien stützen sich auf die intensive Heuristik von Bonk; vgl. dazu insbesondere die Abschnitte „Carl von Kraus" (S. 65-67) und „Rekurs auf Lachmann durch Carl von Kraus" (S. 181-197) sowie die Personalbibliographie (S. 375f.) und das biobibliographische Lexikon (S. 447). Vgl. insgesamt auch Rainer A. Müller, „Aspekte zur Geschichte der deutschen Philologie an der Universität Ingolstadt — Landshut - München (1799-1949)", in: Die Ludwig-Maximilians-Universität in ihren Fakultäten,, hrsg. von Laetitia Boehm und Johannes Spörl, Bd. 2, Berlin 1980, S. 185-255, zu Carl von Kraus besonders S. 238-240.

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Hermann Paul selbst war Mitglied der Berufungskommission. Für die Nachfolge standen neben Kraus zur Wahl: Edward Schröder, Friedrich Kauffmann, Rudolf Meissner, Theodor Siebs, Friedrich Panzer, Wolfgang Golther, Viktor Michels, Franz Saran, Konrad Zwierzina und Halm; jeweils pari passu wurden loziert: Kauffmann und Saran (zweiter Platz), Panzer und Zwierzina (dritter Platz). Vgl. Bonk, Deutsche Philologie in München (Anm. 1), S. 65.

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Vgl. dazu Eduard Hanl, Carl von Kraus. Schriftenverzeichnis, München 1949 und die Würdigungen von Erich Gierach, „Carl von Kraus zum 70. Geburtstag am 20. April", in: Forschungen und Fortschritte 14, 1939, S. 143; Paul Diels, „Carl von Kraus. 20.4.1868-9.4.1952", in: Bayerische Akademie der Wissenschaften. Jahrbuch 1952, München 1953, S. 174-179; Dietrich Kralik, „Carl von Kraus", in: österreichische Akademie der Wissenschaften 102, 1952, S. 323-335; Hermann Schneider, Carl von Kraus zum Gedächtnis, Tübingen 1953; Theodor Frings, „Nachruf auf Carl von Kraus", in: Jahrbuch der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1954, S. 378f.; Hugo Kuhn und Norbert H. Ott, „Carl von Kraus", in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 12, Berlin 1980, S. 692f.

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Johannes Janota

am Krausschen Forscherleben und an der exponierten Forschungsleistung, die Carl von Kraus — mehrere Wissenschaftler- und zahlreiche Studentengenerationen 4 prägend - über ein halbes Jahrhundert aufgeschichtet hat, die Tragfähigkeit eines an der Philologie orientierten Lebensentwurfs prüfend zu überdenken. Das beeindruckende Œuvre von Kraus verdankte sich - grundlegend fur die Ausbildung des modernen Forschertyps - einer hochgradigen Spezialisierung, die bereits bei Beginn der Universitätskarriere unverkennbar war. Promotion (1890 bei Richard Heinzel) und Habilitation (1894) an seiner Wiener Heimatuniversität, an der Kraus von 1885-1889 Deutsche Philologie studiert hatte, galten Texten des frühen 12. Jahrhunderts, 5 die Venia umfaßte entsprechend nicht das Gesamtfach, sondern beschränkte sich auf das Gebiet der älteren germanischen Sprachen und Literaturen. 6 Anders als sein Vorgänger Hermann Paul griff Carl von Kraus auch nicht mehr auf die neuere deutsche Literaturgeschichte aus, und selbst der reinen Sprachgeschichte ganz zu schweigen von der Sprachwissenschaft nach Art der Junggrammatiker - gehörte nicht sein Forschungsinteresse. Zwar war Carl von Kraus ein exzellenter Sprachhistoriker 7 in der ganzen Bandbreite zwischen Graphematik und Stilistik, aber seine stupende sprachhistorische Kompetenz diente ebenso wie die Handschriftenkritik und Metrik der philologischen Texterschließung, also der Textkritik und Edition. Trotz der offensichtlichen methodologischen Nähe zu Karl Lachmann engte Carl von Kraus dessen germanistischen Textbereich, der bis zur Lessing-Philologie reichte, weitestgehend auf die mittelhochdeutsche Überlieferung, 8 dann auf das 12. und 13. Jahrhundert und schließlich auf die Lyrik dieser Zeit ein. Nicht von ungefähr ist der Name Carl von Kraus mit seinen editorischen Arbeiten und philologischen Untersuchungen zu Des Minnesangs Frühling, zu Walther von der Vogelweide und zu den Deutschen Liederdichtern des 13. Jahrhunderts unlösbar verbunden. Von seiner textkritisch-editorischen Festung aus sah Carl von Kraus kaum mehr Verbindungen zu einer als Gesamtfach begriffenen Germanistik:

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Die letzte der zweiunddreißig von Kraus in München seit 1917 betreuten Dissertationen stammte aus dem Jahr 1948; vgl. Bonk, Deutsche Philologie in München (Anm.l), S. 356f. Dissertation:, Vom Rechte' und,Die Hochzeit'. Eine litterar-historische Untersuchung, Wien 1891 (Kaiserliche Akademie der Wissenschaften zu Wien, philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte 123, Nr. 4); Habilitation: Deutsche Gedichte des zwölften Jahrhunderts, Halle an der Saale 1894. Auf dem Gebiet der germanischen Literaturen publizierte Kraus nur sporadisch. Vgl. dazu „Die Widersprüche im Beowulf', in: Zeitschriftfür deutsches Altertum 35,1891, S. 265-281 (zusammen mit M. H. Jellinek); „Das gotische Weihnachtsspiel", in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 20, 1895, S. 224-257; „Gotica Veronensia", in: Zeitschrift ftir deutsches Altertum 66, 1929, S. 209-213. Vgl. etwa seine Untersuchungen „Über die mhd. Konjunktion unde", in: Zeitschrift ftir deutsches Altertum 44, 1900, S. 149-186; „Das sog. demonstrative ein im Mittelhochdeutschen", in: Zeitschrift ftir deutsches Altertum 67,1930, S. 1 -22 und insbesondere die monographische Untersuchung/i»/Hr