Wissenschaftliches Arbeiten für Soziologen [Reprint 2014 ed.] 9783486812527, 9783486272598

Das Buch soll den Einstieg in das Studium der Soziologie erleichtern. Es bietet eine kurze Einführung in Gegenstand und

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Wissenschaftliches Arbeiten für Soziologen [Reprint 2014 ed.]
 9783486812527, 9783486272598

Table of contents :
Vorwort
Einleitung: Hinweise für Lehrende und Lernende
1. Studienanfang - Einstieg in das Leben und Arbeiten an einer Hochschule
1.1. Lebensphase Studium
1.2. Alltagswelt Universität
1.3. Kommunikationsfeld Soziologie
1.4. Engagement und Selbstverantwortung
1.5 Wohin geht die Reise? Berufliche Perspektiven für Soziologiestudierende
2. Soziologisches Propädeutikum
2.1. Der soziologische Blick
2.2. Exkurs: Wie verständigen wir uns in der Wissenschaft?
2.3. Soziologie und theoretische Forschung
2.4. Soziologie und empirische Forschung
2.5. Vom Nutzen der Soziologie
3. Arbeitstechniken - Wissen aneignen und vermitteln
3.1. Ideen sammeln und ordnen
3.2. Protokollieren
3.3. Literatur recherchieren
3.4 Lesen und exzerpieren
3.5. Referieren
3.6. Zitieren
3.7 Schriftliche Arbeiten verfassen
3.8 Exkurs: Der wissenschaftliche Essay
3.9 Datenquellen erschließen
Anhang: Lehrplan
Weiterführende Literatur

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Lehr- und Handbücher der Kultur- und Sozialwissenschaften Herausgegeben von Dr. Christian Lahusen und Dr. Carsten Stark Bisher erschienene Werke: Brock · Junge • Krähnke, Soziologische Theorien von Auguste Comte bis Talcott Parsons, Einführung Emst • Jetzkowitz • König • Schneider, Wissenschaftliches Arbeiten für Soziologen Lahusen • Stark, Modernisierung - Einführung in die Lektüre klassisch-soziologischer Texte Stark • Lahusen (Hrg.), Theorien der Gesellschaft

Wissenschaftliches Arbeiten für Soziologen Von

Dr. Wiebke Emst Dr. Jens Jetzkowitz Matthias König Jörg Schneider

R. Oldenbourg Verlag München Wien

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wissenschaftliches Arbeiten für Soziologen / von Wiebke Emst.... München ; Wien : Oldenbourg, 2002 (Lehr- und Handbücher der Kultur- und Sozialwissenschaften) ISBN 3-486-27259-4

© 2002 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0 www.oldenbourg-verlag.de Das Werk außerhalb lässig und filmungen

einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzustrafljar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverund die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen.

Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier Druck: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza ISBN 3-486-27259-4

Inhalt

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Inhalt Vorwort

2

Einleitung: Hinweise für Lehrende und Lernende

4

1.

Studienanfang - Einstieg in das Leben und Arbeiten an einer Hochschule

6

LI.

Lebensphase Studium

8

1.2.

Alltagswelt Universität

13

1.3.

Kommunikationsfeld Soziologie

18

1.4.

Engagement imd Selbstverantwortung

22

1.5

Wohin geht die Reise? Berufliche Perspektiven für Soziologiestudierende

26

2.

Soziologisches Propädeutikum

30

2.1.

Der soziologische Blick

32

2.2.

Exkurs: Wie verständigen wir uns in der Wissenschaft?

49

2.3.

Soziologie und theoretische Forschung

70

2.4.

Soziologie und empirische Forschung

2.5.

Vom Nutzen der Soziologie

104

85

3.

Arbeitstechniken - Wissen aneignen und vermitteln

113

3.1.

Ideen sammeln und ordnen

114

3.2.

Protokollieren

117

3.3.

Literatur recherchieren

120

3.4

Lesen und exzeφieren

125

3.5.

Referieren

132

3.6.

Zitieren

136

3.7

Schriftliche Arbeiten verfassen

144

3.8

Exkurs: Der wissenschaftliche Essay

154

3.9

Datenquellen erschließen

157

Anhang: Lehrplan

162

Weiterführende Literatur

168

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Vorwort

Vorwort Bei einer empirischen Untersuchung an der Universität ErlangenNürnberg^ wurde bereits Ende der 1970er Jahre festgestellt, dass diejenigen Studierenden am ehesten mit Studienschwierigkeiten zu rechnen hatten, die von Problemen mit ihrem Lern- und Zeitmanagement und der Arbeitsausdauer berichteten. Eine der Ursachen dieser Probleme liegt womöglich darin, dass sich Studierende in den ersten Semestern oft nicht darüber im Klaren sind, ob sie das richtige Studienfach gewählt haben. So bezeichnete jeder dritte Studienanfänger im Wintersemester 2000/2001 seinen Informationsstand über Studium und Hochschule als unzureichend. Ein ähnlich hoher Anteil der Erstsemester verwies auf die mangelhafte Vermittlung von grundlegenden Kenntnissen und Fähigkeiten durch die studienvorbereitenden Schulen und gab an, wissenschaftliche Arbeitstechniken nur unzureichend zu beherrschen.^ Dieses Buch soll den Einstieg in das Studium der Soziologie und das wissenschaftliche Arbeiten erleichtem. Das zugrunde liegende Konzept ist im Wintersemester 1999/2000 an der Philipps-Universität Marburg entstanden. Seitdem ist es in einftihrenden Lehrveranstaltungen mit Studierenden in Marburg und Konstanz kontinuierlich weiterentwickelt worden. Es richtet sich vor allem an Soziologiestudierende im Grundstudium, denen es erste allgemeine Orientierungen an der Universität und im Fachgebiet Soziologie ermöglichen will. Dazu haben wir Inhalte und Arbeitstechniken zusammengestellt, die in Teilen

1

Vgl. ЮоскЬаиз, Ruth (1977): Ein Beitrag zur Analyse von Studienfachunsicherheit Ergebnisse einer empirischen Untersuchung an der Universität Erlangen-Nümberg; in: WiSt, Heft 4, 1977, S.188-190. Hier zitiert nach: Kohmann, Rainer; Werner, Astrid (1982), Studium ohne Angst, Юеуе: Boss-Verlag, S.50. Vgl. Lewin, Karl et al.(2002): Studienanfänger im Wintersemester 2000/2001: Trotz Anfangsschwierigkeiten optimistisch in die Zukunft, in: HIS Hochschulplanung Nr. 155, 2002, Hannover: HIS

Vorwort

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bekannt sein sollten bzw. als selbstverständlich erscheinen mögen. Es hat sich in der Praxis jedoch gezeigt, dass die systematische Darstellung dieser Inhalte und Arbeitstechniken in einer einfuhrenden Lehrveranstaltung zu mehr Klarheit und Verbindlichkeit fuhrt, und somit der Ausbildung eines selbstständigen und kompetenten Arbeitsstils forderlich ist. Wir gehen davon aus, dass unsere Erfahrungen auch auf die Lehre an anderen Standorten der Soziologie bzw. der Sozialwissenschaften übertragbar sind. Daher verbinden wir mit der Publikation dieses Lehrbuches die Hoffnung, dass unser Konzept eines einfuhrenden Propädeutikums auch andernorts Anwendung finden wird. Da sich dieser Band ebenso als Basislektüre für selbstorganisierte studentische Seminare nutzen lässt, kann er auch jenen Studierenden der Soziologie als Starthilfe dienen, denen eine solche Einfuhrungsveranstaltung nicht angeboten wird. Wir danken den Lehrenden des Instituts für Soziologie der PhilippsUniversität Marburg, die das Konzept unserer Einfuhrungsveranstaltung mit konstruktiv-kritischen Hinweisen begleitet haben. Dank gebührt ebenfalls Christian Lahusen und Carsten Stark, die dieses Buch in die von ihnen herausgegebene Reihe „Lehr- und Handbücher der Kultur- und Sozialwissenschaften" im Oldenbourg Verlag aufgenommen haben. Pierre Bourdieu (f), Hartmut Esser, Reinhard Kreckel und Armin Nassehi haben sich dankenswerterweise damit einverstanden erklärt, dass wir Auszüge aus ihren Publikationen als Arbeitstexte verwendet haben; den Abdruck von Passagen der Durkheim-Übersetzung hat freundlicherweise der Suhrkamp Verlag ermöglicht. Nicht vergessen dürfen wir schließlich Yonca Bozkurt, Nico Hohendorf, Dorit Laßlop, Carsten Meister und Kai Unzicker. Ihnen danken wir herzlich für ihre Hilfe bei der Literaturrecherche und der Textgestaltung. Für die verbleibenden Mängel sind allein wir verantwortlich. Kritik und Anregungen, die zur Verbesserung dieses Buches und der damit verbundenen Lehrveranstaltung beitragen können, sind uns willkommen.

Frankfurt am Main und Marburg

Wiebke Emst, Jens Jetzkowitz, Matthias König, Jörg Schneider

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Einleitung

Einleitung: Hinweise für Lehrende und Lernende Ein Blick auf die bestehende Literaturlage zeigt, dass Einfiihrungsliteratur in das Studium im Allgemeinen und in das Studium der Soziologie im Besonderen keine Mangelware ist. Allerdings ist uns keine Einführung bekannt, die den Übergang vom schulischen Lernen in das Studium dadurch begleitet, dass sie in die fachspezifischen Arbeitstechniken und Denkstile der Soziologie einleitet. Zwar wird das Grundstudium weithin als eine Orientierungsphase verstanden, in der Soziologiestudierende grundlegende Begriffe und Methoden des Faches kennen lernen sollen, aber die Kenntnisse, die zur Er- und Verarbeitung der Studieninhalte vonnöten sind, werden in der Regel vorausgesetzt. Die alltägliche Lehrpraxis in Grundstudiumsveranstaltungen der Soziologie zeigt jedoch, dass sowohl Talente als auch der allgemeine Wissensstand von Studienanfängern sehr verschieden sind. Dies macht aus unserer Sicht eine Propädeutik erforderlich, die über Arbeitstechniken informiert und dabei die Möglichkeit eröffnet, sich in den fachspezifischen Denk- und Arbeitsstil einzuarbeiten. So richtet sich dieses Buch zugleich an Lehrende und Lernende der Soziologie. Lehrenden gibt es eine erprobte Konzeption für eine propädeutische Lehrveranstaltung an die Hand. Unser Lehrplan (siehe Anhang) vermittelt eine konkrete Vorstellung vom Aufbau einer solchen Übung, von den Anforderungen, die an die Studierenden gestellt werden, und den Inhalten und Arbeitstechniken, die in jeder Sitzung vorgestellt bzw. eingesetzt werden. Wir hoffen, dass diese Dokumentation und vor allem auch die in den drei Hauptteilen des Buches zusammengestelhen Texte und Materialien helfen, die eigenen Vorstellungen zu einem soziologischen Propädeutikum in Auseinandersetzung mit unseren Erfahrungen zu entwickeln.

Einleitung

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Lernende können dieses Buch als Begleitlektüre zu einem Einfuhrungskurs in das Studium der Soziologie oder auch zum Lernen und Diskutieren in selbstorganisierten studentischen Arbeitsgruppen verwenden. Die einsame Lektüre am heimischen Schreibtisch scheint uns dagegen keine brauchbare Form zu sein, um sich das Grundwissen für das Soziologiestudium anzueignen, da der Stoff, den dieses Buch vermitteln will, auf Diskussionen, auf den lebendigen Austausch von Argumenten, auf Rede und Gegenrede angewiesen ist. Seinen Zielen gemäß setzt sich der vorliegende Band aus drei Teilen und einem Anhang zusammen: Der erste Teil dient der Einfuhrung in das Soziologiestudium. Er beschäftigt sich mit dem Wechsel von der Schule zur Universität und soll den Übergang vom schulischen zum universitären Lernen erleichtern. Zu diesem Zweck werden verschiedene Aspekte des Lebens und Arbeitens an einer Hochschule vorgestellt. Der zweite Teil umfasst ein soziologisches Propädeutikum, das Studierenden soziologisches Vorwissen für ihr Studium vermitteh. In einleitenden Texten informiert dieser Abschnitt die Leserinnen und Leser über grundlegende Strukturen soziologischen Denkens und macht sie mit zentralen Fachbegriffen vertraut, die jede spezifischere soziologische Unterweisung voraussetzen muss, um über ihr Thema zu informieren. An Texten aus der soziologischen Fachliteratur kann dieses Vorwissen erprobt und eingeübt werden. Dazu sind insbesondere auch die Arbeitsaufträge gedacht, die jeweils im Anschluss an die Lektüre der einzelnen Themenblöcke bearbeitet werden können. Der dritte Teil informiert schließlich über grundlegende Techniken der Wissensaneignung und -Vermittlung, die im Studium benötigt werden. Er kann auch als „Nachschlagewerk" genutzt werden, um sich problembezogen mit dem Handwerkszeug des sozialwissenschaftlichen Arbeitens vertraut zu machen. Der im Anhang dokumentierte Lehφlan und eine Liste mit weiterführender Literatur ergänzen das Informationsangebot dieses Buches.

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Studienanfang

1. Studienanfang Einstieg in das Leben und Arbeiten an einer Hochschule Mit dem Beginn des Studiums an einer Hochschule beginnt ein neuer Lebensabschnitt. Für manche wird dies daran deutlich, dass sie in eine andere Stadt ziehen und eine Wohnung suchen. Diejenigen, die eine Universität an ihrem Heimatort wählen, müssen zwar keine neuen Räume erkunden, aber vielleicht schließen sie neue Bekanntschaften an der Uni. Gleichgültig wie weit man sich vom vertrauten Bezugsrahmen, von den Eltern und Freunden, von den gewohnten Orten und Wegen entfernt - alle, die ein Studium an einer Hochschule aufnehmen, begeben sich in eine für sie unbekannte Welt mit Strukturen und Ritualen, die es zu erkennen und zu verstehen gih. Zu den ersten Erfahrungen, die Studienwillige mit der Hochschule machen, gehört zumeist, dass sie sich selbst um ihre Einschreibung und um erste Orientierungen kümmern müssen. Wo ist mein Fachbereich bzw. mein Institut? Wo finden die Lehrveranstaltungen statt und wann beginnen sie? Wo ist eigentlich die Mensa? Fragen wie diese müssen Studienanfänger in der Regel selbst stellen. Die Gelassenheit, mit der das Personal an den Universitäten mit diesen Fragen der Studienanfänger umgeht, vermittelt nur allzu oft den Eindruck, dass hier niemand auf die „Erstis" gewartet hat. Dieser Eindruck ist selbstverständlich falsch, denn eine Universität könnte ohne Studierende nicht bestehen. Es ist vielmehr das Insistieren der Universität auf Selbstorganisation, das diesen Eindruck auslösen kann. Ein Studium, gleich welcher Fachrichtung, soll auf selbstständiges Arbeiten vorbereiten und für Berufe qualifizieren, in denen Tätigkeiten weisungsunabhängig und in persönlicher Verantwortung erledigt werden. Studienanfänger sollten daher in der Lage sein, ihren Alltag selbst zu

Studienanfang

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organisieren, und an die Universität die Bereitschaft mitbringen, das Studium - ihren Beruf - selbstverantwortlich in Angriff zu nehmen. Wie jeder Eintritt in eine neue Lebensphase und jede Begegnung mit einer unbekannten Welt bringt auch der Studienbeginn das Problem der Neuorientierung mit sich. Dies gilt in gleichem Maße für eine außeruniversitäre Berufsausbildung. Während aber sowohl in der Berufsausbildung als auch beim Studium der Medizin, der naturwissenschaftlichen oder technischen Disziplinen die Orientierungsleistungen, die die Studierenden erbringen müssen, alsbald durch feste Arbeitsrhythmen oder Stundenpläne abgelöst werden, ist das Studium der Soziologie bzw. der Sozialwissenschaften in Deutschland mit großen Freiräumen versehen. Es bleibt in erster Linie der Eigenverantwortung der Studierenden überlassen, wie diese Freiräume genutzt werden. Ein Studium der Soziologie verlangt daher vor allem selbstbestimmtes Lernen und Arbeiten: Ohne einen festen, aus der Schule bekannten Lehrplan, ohne besonders streng überwachte Anwesenheitspflichten und ohne die ständige Kontrolle durch eine Aufsichtskraft. Die Gestaltung eines durchschnittlich vier bis sechs Jahre dauernden Soziologiestudiums, von der Arbeitsorganisation über die konkreten Studieninhalte bis hin zum Einstieg in bestimmte Berufsfelder, liegt in der eigenen Hand - und damit auch in der eigenen Verantwortung der Studierenden.

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Studienanfang

1.1. Lebensphase Studium Als eine eigenständige Lebensphase zwischen Schulabschluss und angestrebtem Beruf ist das Studium mit Privilegien verknüpft, die bei anderen Menschen durchaus Neid hervorrufen können. Denn während Altersgenossen, die einen anderen Weg zur beruflichen Qualifikation eingeschlagen haben, bereits in feste Arbeitsstrukturen eingebunden sind, kosten Studierende die Freiheiten des „süßen Studentenlebens" aus. Nicht nur, dass sie später in den Tag starten, weil die ersten Seminare in der Regel um 9 Uhr c.t. beginnen - die akademische Umschreibung für 9.15 Uhr. Sie genießen auch besondere Vergünstigungen (Studententarife usw.) und sind von vielen Verpflichtungen freigestellt, um sich fur gut bezahlte Berufe zu qualifizieren. Da Studierende 2a>meist über kein eigenes Einkommen verfugen, werden sie in dieser Lebensphase von den Ehern, vom Staat oder durch Stipendien finanziert. Wer studiert, gilt als „begabt" und Begabungen gelten als fbrderungswürdig. Schließlich sollen die angehenden Akademiker später einmal „höhere Aufgaben" in Wirtschaft, Politik oder Kultur übernehmen. Mit dem Studium ist demnach ein gewisses Prestige verbunden. Zugleich werden jedoch auch gesellschaftliche Ansprüche an die Studierenden herangetragen. Eine weit verbreitete Ansicht lautet beispielsweise: Wenn die Gesellschaft jungen Menschen eine über die Schule hinausgehende Bildungsphase finanziert, dann kann man ihnen auch besondere Leistungen abverlangen und erwarten, dass das Studium nach seinem Abschluss einen gewissen Nutzen hat. Diese Erwartungen drücken sich im Alltag des Einzelnen mal mehr, mal weniger subtil aus. Jede Studentin, jeder Student macht hier eigene Erfahrungen: Den Ägyptologiestudenten fragt der Onkel auf dem Familienfest, was man mit so einem Studienfach später einmal werden könne: Hätte man denn nicht besser Betriebswirtschaft studieren sollen? Der Betriebswirtschaftsstudentin lassen Bekannte ihrer Eltern ausrichten, dass sie sich bald einmal melden solle, wenn sie einen Praktikumsplatz in ihrem mittelständischen Industriebetrieb haben wolle: Geht es auch gut voran mit dem Studium?

Lebensphase Studium

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Wer sich gegen die finanzielle Abhängigkeit entscheidet und seinen Lebensunterhalt während des Studiums durch Gelegenheits- oder Teilzeitjobs bestreitet, wird vielleicht weniger mit derartigen Erwartungen anderer konfrontiert, freilich um den Preis der Doppelbelastung durch Studium und Job. Zu Problemen fuhren gesellschaftliche Erwartungen gegenüber dem Studium, wenn sie dem Studium als Lebensphase die Eigenständigkeit absprechen. Das Studium ist eben keine verlängerte Schulzeit, auch wenn es wohl in jeder Generation von Bildungspolitiken! solche gibt, die sich den Bildungsprozess als mechanische Abfolge von zu erklimmenden Lernstufen vorstellen (zuerst als Schüler, dann als Student, später in weiteren Qualifikationsmaßnahmen). Bildungsprogramme, die aus dieser Vorstellung heraus formuliert werden, reduzieren das Studium auf den Aspekt einer Ausbildung, in der Kenntnisse und Fertigkeiten erlernt werden sollen, um sie später im Beruf anzuwenden. Aus einem solchen Verständnis des Hochschulstudiums heraus erscheint es beklagenswert, dass heute - trotz zunehmenden Drucks von Seiten des Arbeitsmarktes, das Studium schnell zu absolvieren - jeder fünfte Studierende das Studienfach bzw. den Studiengang wechselt. Gegenüber 1994 hat sich diese Quote um zwei Prozentpunkte auf 21% erhöht. Außerdem bricht jeder zehnte Studierende heute das Studium ab. Auch diese Quote steigt, während sie in den davor liegenden Jahren um 9% schwankte, seit 1994 wieder stetig an und liegt derzeit bei 11%.^ Deuten diese Entwicklungen darauf hin, dass Studienfächer stärker als bisher vorstrukturiert werden müssen, die Wahlfreiheit fur Studierende also eingeschränkt werden sollte? Ist eine stärkere Verschulung des Studiums sinnvoll, um die Studierenden von der Aufgabe zu entlasten, sich in einem komplexen Angebot von Studieninhalten zu orientieren? Oder bringen diese Zahlen nicht vielmehr die individuellen Suchbewegungen zum Ausdruck, die das Studium als eigenständige Lebensphase kennzeichnen? Müssen nicht gerade im Gegenteil der Wechsel zwischen Studienfächern und die damit verbundenen fachübergreifenden Erfahrungen als integraler Bestandteil eines Hochschulstudiums betrachtet werden, in dem qualifizierte junge Menschen ihre Persönlichkeit bilden?

^

Die statistischen Angaben sind der 16. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks entnommen; sie können eingesehen werden unter: http://www.studentenwerke.de/erheb/sozil6/Sozl6Ges.pdf (20.02.2002).

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Studienanfang

Diese Fragen bedürfen in ihrer Allgemeinheit einer ausfuhrlichen und intensiven Diskussion, die hier nicht zu leisten ist. Sie machen aber die Pole des Spannungsfeldes deutlich, in dem sich auch das Soziologiestudium bewegt: Berufsorientierung auf der einen Seite, Persönlichkeitsbildung auf der anderen. Beide Aspekte müssen einander nicht ausschließen. Idealerweise werden Studierende im Verlauf ihres Studiums einen Mittelweg finden, so dass ihre spätere Berufsarbeit durch persönliches Interesse fundiert ist. Ein solcher Mittelweg lässt sich leichter finden, wenn die Extrempositionen deutlich sind, denen Studierende bei der Klärung der eigenen Studienmotivation begegnen: Zum einen kann das Soziologiestudium durch persönliche Fragestellungen und Wissbegierde motiviert sein, zum anderen durch den Wunsch, auf der Grundlage des Studiums ein bestimmtes Arbeitsfeld oder ein bereits klar definiertes Berufsziel anzusteuern. Beide Studienmotivationen bringen ihre spezifischen Problemkonstellationen mit sich. Wer vor allem einen persönlichen Zugang zu den Studieninhalten sucht, gerät häufig in Versuchung, nach Lust und Laune zu entscheiden, welche Seminare belegt werden. Themen, die fur uninteressant oder zu schwierig gehahen werden, lassen sich umschiffen, so dass die Lerneffekte eines potenziell herausfordernden Studiums stark reduziert werden. Dagegen ist man bei der Auseinandersetzung mit Inhalten, die den persönlichen Interessen entsprechen, hochgradig motiviert und durchaus bereit, lange Studienzeiten in Kauf zu nehmen nach dem Motto: Zeit ist fur mich eine Nebensache - wichtig ist, was mich persönlich weiterbringt! Wenn hingegen der Zugang zur Soziologie vor allem durch den angestrebten Beruf motiviert ist, dann bringt dies eine starke Ergebnis- und Erfolgsorientierung mit sich. Es fällt schwer, sich auf Studieninhahe einzulassen, die keinen unmittelbaren Nutzen für die spätere Berufstätigkeit erkennen lassen. Lang andauernde Diskussionen über philosophische Positionen und abstrakte Theorien erscheinen da überflüssig oder eher störend, um das Ziel einen schnellen Studienabschluss - zügig zu erreichen. Da sich die meisten Studierenden zwischen diesen beiden Polen bewegen, ist die Darstellung natürlich zu wenig differenziert, um allen gerecht zu werden. Sie macht aber darauf aufmerksam, dass Studieninhalte nach unterschiedlichen Kriterien ausgewählt werden. Niemand geht als unbeschriebenes Blatt in ein Studium, jeder bringt an die Universität seine Vorgeschichte mit. Dazu gehört nicht nur das Wissen, das man in der Schule gelernt hat. Vielmehr startet man mit dem ge-

Lebensphase Studium

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samten Bündel dessen, was Soziologen als „sozialisatorische Erfahrungen" bezeichnen. Es macht einen Unterschied, ob man in einer wohlhabenden bürgerlichen Familie aufgewachsen ist oder aus dem Kleinbürgertum oder der Arbeiterschicht stammt. Ebenso bringt jemand, der vor seinem Studium Wehr- bzw. Zivildienst oder einen freiwilligen Sozialdienst absolviert hat, andere Erfahrungen in ein Studium mit als jemand, der direkt von der Schule an die Universität wechselt. Wer viel gereist ist, hat einen anderen Assoziationshorizont als ein Studierender, der viel gelesen, dafür aber seine Heimatstadt nie verlassen hat. In jedem Fall gibt es Gründe für Vorlieben und Abneigungen, die zu individuellen Schwerpunktsetzungen bei den Studieninhalten führen. Sich über diese Gründe Klarheit zu verschaffen und sie eventuell zu hinterfragen, ist ein wichtiger Lernprozess. So können auch Praktika während des Studiums dazu dienen, bereits frühzeitig Anwendungsmöglichkeiten der eigenen Studienbemühungen auszuloten. Denn kaum etwas wirkt sich motivierender aus als die erfolgreiche Übertragung der Studieninhalte in konkrete Arbeitszusammenhänge. Dabei kann der „Praxisschock" auch verdeutlichen, welche Qualifikationen bisher nicht durch das Studium erbracht wurden, und damit als Motivationsschub dienen, um sich zusätzliche Kompetenzen anzueignen. Indem Studierende über die eigenen Motivationen, Ziele, Werte und Interessen reflektieren, legen sie den Grundstein für eine Fähigkeit, die für jedes erfolgreiche sozialwissenschaftliche Studium unabdingbar ist; die Fähigkeit, sich in andere Perspektiven und Positionen hineinzudenken. Im Studium der Soziologie gehen demnach inhaltliche und persönlichkeitsbildende Aspekte Hand in Hand. Natürlich ist es möglich, nach Vorgabe der Studienordnung, in der die für die Meldung zum Examen benötigten Leistungsnachweise aufgelistet sind, durchzustarten und die Scheine in Windeseile zusammenzusammeln. Das Fach Soziologie gehört allerdings nicht zu den Studienfächern, in denen ein besonders schnelles Studium als wichtigstes Erfolgskriterium gilt. Vielmehr wird die Lebensphase Studium in diesem Fach erst dann sinnvoll genutzt, wenn die Auseinandersetzung mit konkreten Inhalten in kritischer und selbstkritischer Weise erfolgt - ein Bildungsprozess, der Zeit braucht. Dieser persönlichkeitsbildende Aspekt wird im Studium der Soziologie dadurch gefordert, dass Strukturvorgaben minimiert und damit ein Zwang zum individuellen Wahlverhalten aufgebaut wird. Dieser Zwang, auswählen und sich eine eigene Meinung

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Studienanfang

über Lehrinhalte bilden zu müssen, kann allerdings auch als psychisch belastend erlebt werden. Damit die Lebensphase des Soziologiestudiums nicht irgendwann einmal unter der Rubrik „verschwendete Zeit" eingeordnet wird, ist es daher wichtig, schon frühzeitig einen selbstbewussten Umgang mit den Freiheiten und eventuell auftretenden Unsicherheiten des Studierens auszubilden. Die Chancen und Risiken des Studierens liegen in den sozialwissenschaftlichen Fächern also besonders eng nebeneinander. Das Soziologiestudium bildet damit eindrücklich ab, was ftir den AUtag der wissenschaftlichen Arbeit insgesamt kennzeichnend ist: „Wissenschaft besteht in ihrer sozialen Wirklichkeit aus zwei Teilen, dem schöpferischen, chaotischen und personenzentrierten Entstehungsprozeß und dem nachgeschalteten, streng logischen, systematischen und distanzierten Rechtfertigungsprozeß".^ Diese beiden „Teile" des Studiums zusammenzusetzen, darin besteht die Hauptaufgabe während des gesamten Studiums. Hierfiir gibt es kein Patentrezept. Gerade in der Kreativität der individuellen Lösungen liegen Reiz und Erfolg des eigenen Studiums, denn nur mit dem Suchen nach der eigenen Methode und dem Beschreiten des eigenen Weges findet Lernen im Sinne eines wissenschaftlichen Studiums überhaupt erst statt.

Wagner,Wolf (1992): Uni-Angst und Uni-Bluff: Wie studieren und sich nicht verlieren, Berlin: Rotbuch-Verlag, S.76.

Alltagswelt Universität

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1.2. Alltagswelt Universität Wer ein Studium beginnt, sollte nach und nach den Mikrokosmos der Universitäten erforschen und sich ein Bild über die unterschiedlichen Aspekte des universitären Lebens machen. Von außen betrachtet steUt sich eine Universität als eine Einheit dar, in die einzudringen nicht gerade leicht ist. Insbesondere an den erst in jüngerer Zeit eingerichteten Hochschul Standorten wird dieser Eindruck durch groß angelegte Gebäudekomplexe auch architektonisch verstärkt. Schnell fällt Studienanfängern jedoch auf, wie vielgestaltig und uneinheitlich die nach außen scheinbar geschlossenen Strukturen in der internen universitären Organisation sind. Fehlende Abstimmungen von Studienordnungen, unterschiedliche Anforderungsniveaus in den verschiedenen Studienfächern oder sogar zwischen den Lehrenden eines Faches sind typische Beispiele aus dem Studienalltag, die den ersten Eindruck einer monolithischen Struktur relativieren. Da das Zurechtfinden und Arbeiten in diesen Strukturen in den folgenden Jahren einen Großteil der eigenen Zeit und Energie absorbieren wird, kann es hilfreich sein, sich zu Beginn des eigenen Studiums mit der historischen Entwicklung der deutschen Hochschulen im Allgemeinen und mit der Geschichte der lokalen Universität im Besonderen vertraut zu machen. Jeder Studienort hat seine eigene Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte, die die besondere Gestalt der Hochschule, der Fachbereiche und der Studienmöglichkeiten geprägt hat und bis in die unmittelbare Gegenwart fortwirkt.^ Bei offiziellen Anlässen werden Traditionen beschworen, in denen man steht und aus denen das Lehrpersonal durch Identifikation oder Abgrenzung - zu einem guten Teil sein Selbstverständnis bezieht. Doch auch auf der Ebene der Fachbereiche 5

Vgl. Bultmaim, Torsten; Weitkamp, Rolf (1999): Hochschule in der Ökonomie: Zwischen Humboldt und Standort Deutschland, Marburg: BdWi-Verlag, 2. Auflage. Ellwein, Thomas (1992): Die deutsche Universität vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M.: Hain, 2. Auflage. Ringer, Fritz K. (1987): The rise of the modem educational system: structural change and social reproduction 1870-1920, Cambridge: University Press. Jarausch, Konrad H. (1984): Deutsche Studenten: 1800-1970, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Schelsky, Helmut (1963): Einsamkeit und Freiheit: Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihre Reformen, Reinbek: Rowohlt.

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Studienanfang

und Institute wirken geschichtliche Prägungen weiter: So ist die Heidelberger Soziologie ebenso untrennbar mit dem Namen Max Weber verbunden, einem der „Gründungsväter" der deutschen Soziologie, wie das Frankfurter Institut für Sozialforschung mit der Kritischen Theorie. Neben den lokalen Traditionen sind es vor allem die Strukturen der verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, die den Alltag an der Hochschule bestimmen. Einen ersten Eindruck von der Unterschiedlichkeit der Disziplinen bekommen Studierende, wenn sie die Veranstaltungen ihrer Nebenfächer besuchen. Andere Fächer vermitteln nicht nur andere Inhalte, sondern konfrontieren Studentinnen und Studenten auch mit anderen VerhaUensanforderungen und anderen Umgangsformen. Das lässt sich nicht nur unmittelbar an der Universität, sondern auch im erweiterten studentischen AHtag beobachten, beispielsweise in der Küche der Wohngemeinschaft, die eine Soziologiestudentin sich mit einem Mediziner, einem Biologen und einer Juristin teilt. Es ist durchaus kein Zufall, wenn Studierende der Betriebswirtschaftslehre mehr Geld für Kleidung ausgeben als Pädagogikstudierende, die wiederum in vielen Fällen gesteigerten Wert auf gesunde Ernährung legen. Hier üben Lebensstile und Fachkontexte wechselseitig Einfluss aufeinander aus. Alltagsweltliche Beobachtungen dieser Art lassen sich zuhauf an der Universität anstellen. Je stärker sie in ihr Fach eintauchen, werden Soziologiestudierende lernen, die distanzierte Position des Beobachters einzunehmen und die verschiedenen Aspekte des universitären Alhags zu analysieren. Zur Alltagswelt der Hochschule gehören auch die Strukturen der akademischen Selbstverwaltung. Den Studierenden wird an vielen deutschen Universitäten eine beschränkte Mitbestimmung eingeräumt. So können konkrete studentische Interessen innerhalb eines Faches in der entsprechenden Fachschaft artikuliert und vor den Lehrenden vertreten werden. Ebenso gibt es studentische Vertretungen auf Fachbereichsbzw. Fakultäts- sowie der Universitätsebene. Für eine wirksame Interessenvertretung ist es unerlässlich, diese Strukturen der Selbstverwaltungseinrichtungen zu kennen. In den meisten deutschen Universitäten lassen sich dabei drei verschiedene Ebenen der Selbstverwaltung unterscheiden.^

® Vgl. Essbach, Wolfgang (1996): Studimn Soziologie, München: Fink, S.177f.

Alltagswelt Universität

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Auf der unteren Ebene finden sich die Funktionen, die sich unmittelbar aus Forschung, Lehre und Studium ergeben. Neben der Organisation des Faches nach Lehrstühlen kann die Soziologie als Institut organisiert sein. Zu diesem Institut gehören neben den eingeschriebenen Studierenden die hauptamtlichen Professoren und Professorinnen, ihre Sekretärinnen und Sekretäre und die vielgestaltige Gruppe des so genannten „Mittelbaus", das heißt, die habilitierten und promovierten Hochschul-ZUniversitätsdozenten, Assistenten, die an ihrer Habilitation, oder Wissenschaftliche Mitarbeiter, die an ihrer Dissertation arbeiten. Neben diesen längerfristig am Institut tätigen wissenschaftlichen Mitarbeitern sind noch eine ganze Reihe von Personen am Institut beschäftigt, die zum Teil durch Kurzzeitverträge gebunden sind: studentische Hilfskräfte, Tutoren, Doktoranden, Projektmitarbeiter, Privatdozenten, außeφlanmäßige Professoren und Honoraφrofessoren, Lehrbeauftragte und Gastwissenschaftler. Das Direktorium ist das direkte Selbstverwaltungsorgan dieser unteren Ebene. Ihm gehören automatisch alle Professoren und Hochschuldozenten des Instituts an, wobei aus ihren Reihen in der Regel der Vorsitzende Geschäftsftihrende Direktor gewähh wird. Die Studierenden sind in diesem Gremium ebenso wie die sonstigen Mitarbeiter des Instituts und der Mittelbau durch Vertreter repräsentiert, die innerhalb der jeweiligen Statusgruppe gewählt und entsendet werden. Die Sitzungen des Direktoriums finden in der Regel monatlich statt und sind öffentlich, können also auch von allen Studierenden besucht werden. Hier werden sämtliche Angelegenheiten des Instituts (Personal, Haushalt, Lehrprogramm usw.) besprochen und, soweit möglich, beschlossen, bevor sie als entsprechende Stellungnahme des Instituts an die nächst höhere Verwaltungsebene weitergeleitet werden. Auf der mittleren Ebene sind die Funktionen der universitären Selbstverwaltung angesiedelt, welche die fachliche und fachübergreifende Gliederung der Universität betreffen. Dies sind die Fakultäten bzw. Fachbereiche. Im Fachbereichsrat (FBR) entscheiden Vertreter der vier Statusgruppen Professoren, sonstige Mitarbeiter, „Mittelbauer" und Studierende die Belange des gesamten Fachbereichs. Die Sitzungen des FBR finden in der Voriesungszeit ebenfalls in monatlichem Rhythmus statt und sind ebenfalls öffentlich. Vorsitzender des FBR, und somit Repräsentant des gesamten Fachbereichs, ist der fur die Amtsperiode von meist einem Jahr gewähhe Dekan oder Fachbereichssprecher, in Abwesenheit vertreten durch seinen Nachfolger im

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Studienaitfang

Amt (Prädekan) und den sogenannten Studiendekan. Diese Position wird in der Regel aus den Reihen der Professoren besetzt. Im Dekanat (oder Fachbereichsbüro) mit dem dazugehörigen Prüfiingsbüro und der Wirtschafts- und Personalverwaltung nehmen die ebenfalls zum Fachbereich gehörenden Verwaltungsangestellten die entsprechenden Aufgaben wahr. Für die im Fach Soziologie zu erwerbenden Studienabschlüsse sind der jeweilige Promotions- und Magisterprüfungsausschuss sowie der Diplomprüfungsausschuss relevant. Sie tagen in der Vorlesungszeit in monatlichen Abständen, sind allerdings nicht öffentlich. Die Termine der jeweiligen Ausschusssitzungen haben fur die zeitliche Planung des eigenen Examens allerdings Bedeutung und können ebenso wie Prüfungsordnungen usw. im Prüfungsbüro des Fachbereiches eingesehen werden. Auf der dritten, der obersten Ebene der Selbstverwaltung sind Funktionen angesiedelt, die die Immatrikulation, das Auslandsstudium und Angelegenheiten ausländischer Studierender, die Universitätsbibliothek, das Rechenzentrum usw. betreffen. Entsprechende Entscheidungen werden in den ständigen Ausschüssen (fur Lehr- und Studienangelegenheiten, Organisation und Forschung, Haushalt und Hochschulentwicklung, Bibliothekswesen, Datenverarbeitung) getroffen. Zu dieser Ebene gehört auch das Studentenwerk, das fur BAFöG-Fragen, Wohnheime, Mensen sowie soziale und psychosoziale Fragen zuständig ist. Die Dekane oder Sprecher aller Fachbereiche bilden auf dieser Ebene zusammen mit den als Wahlsenatoren gewählten Professoren, Mittelbauvertretem und Studierendenvertretern den akademischen Senat, dem der Vizepräsident (Prorektor) der Universität vorsteht, der ebenso wie der Präsident (Rektor) von einer „Konzil" genannten Universitätsversammlung gewählt wird. Der Präsident ist qua seines Amtes Vorsitzender der ständigen Ausschüsse. Die Studierenden der Gesamtuniversität wählen auf dieser Ebene ihr eigenes Studentenparlament und eine Vertretung, den ASTA (Allgemeiner Studentenausschuss). Über die Interessenvertretung in der universitären Selbstverwaltung hinaus ist es ein legitimes Ziel hochschulpolitischer Aktivitäten, an der Gestaltung der Rahmenbedingungen fur das Studium mitzuwirken. Die Universität steht immer auch in gesellschaftlichen Kontexten, in denen Anforderungen an sie herangetragen werden, wie etwa: „Bildet mehr Informatiker aus!" oder „Führt Studiengebühren ein!". Auch die

Alltagswelt Universität

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Studierenden sollten ihre Sicht der Dinge in diesen Diskussionen beitragen. Dies muss sich nicht auf Bildungspolitik beschränken, sondern kann gesellschaftspolitische Entwicklungen und Fragen im weitesten Sinne umfassen. Es ist trivial, sollte aber trotzdem betont werden: Fremdenfeindlichkeit, Luftverschmutzung und andere gesellschaftliche Probleme machen nicht vor den Eingangstüren der Hörsäle halt.

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Studienanfang

1.3. Kommunikationsfeld Soziologie Um sich in der neuen Alltagswelt der Hochschule zurecht zu finden, ist es hilfreich, einen Blick auf die Kommunikationsstile, die an Universitäten gepflegt werden, zu werfen. Mit dem Beginn eines Studiums begibt man sich in das kommunikative Feld einer wissenschaftlichen Disziplin. Die Wissenschaftssprache unterscheidet sich dabei deutlich von der Umgangssprache. In der Öffentlichkeit wird diese Sprache nicht selten als „Fachchinesisch" kritisiert. Während die Fachbegriffe und Formeln der Naturwissenschaften jedoch wie selbstverständlich als Elemente einer eigenständigen, zu Beginn des Studiums dieser Fächer zu erlernenden Sprache anerkannt werden, sind viele sozialwissenschaftliche Fachbegriffe aus der Umgangs- oder Alltagssprache entlehnt und erscheinen daher geläufig.^ Begriffe wie „Klasse", „Elite", „Prestige", „Gruppe", „Erwartung", „Wert", „Norm", „Identität", und „Schicht" usw. sind ebenso wie der Gegenstand der Soziologie, die „Gesellschaft", aus der Alltagswelt vertraut. Die Sprache der Soziologie wirkt daher zugänglicher als beispielsweise die Formellehre der Chemie, anatomische Fachbegriffe oder die Vokabeln einer Fremdsprache. Wer mit dieser Vorstellung das erste soziologische Seminar besucht, wird allerdings überrascht sein, wie schnell dieser erste Eindruck zu revidieren ist: Hier wird theoretisiert, debattiert und argumentiert unter Bezug und in ständiger Anspielung auf eine Vielzahl unterschiedlicher Definitionen, Theorien, Studien und Methoden, durch die der vermeintlich vertraute Gegenstand der Gesellschaft plötzlich in ganz anderem Licht erscheint. Namen wie Durkheim, Mead und Weber werden ohne weitere Erklärung genannt, als wären sie so bekannt wie Disney, Madonna und Winnetou. Schnell wird einem vor Augen geführt, dass ein oberflächliches Verständnis der verwendeten Begriffe noch lange nicht mit einem Verstehen der soziologischen Fachsprache gleichzusetzen ist; die Geheimnisse der Fachbegriffe erschließen sich erst durch ihren Gebrauch. So spiegelt das Kommunikationsfeld Soziologie, dass zwischen der AHtagserfahrung und der soziologischen Analyse des Alltags ein signifikanter Unterschied besteht.

^ Vgl. Lepenies, Wolf (1985): Die drei Kulturea München: Hanser.

Kommimikationsfeld Soziologie

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Trotz dieses Verlustes gewohnter Wortbedeutungen sollte kein Studienanfänger das Selbstvertrauen und schon gar nicht die Sprache verlieren, wenn andere, die vielleicht schon zwei oder drei Semester länger studieren, souveräner mit soziologischem Vokabular umgehen. Manchmal steckt dahinter nicht mehr als ein Bluff, denn natürlich ist ein Satz noch lange kein gutes Argument, nur weil er einen Fachbegriff enthält. Solange man sich in der neuen Sprache bewegt wie auf dünnem Eis, sie nicht verstanden und selbst anzuwenden gelernt hat, wird man wahrscheinlich dazu tendieren, sich zurückzuhalten, wenn es darum geht, aktiv und selbst gestaltend an den Seminardiskussionen teilzunehmen. Diese Kommunikationsprozesse mit Rede und Gegenrede zur Abwägung von Argumenten sind jedoch unverzichtbar für ein erfolgreiches Soziologiestudium, wenn nicht gar für jedes wissenschaftliche Studium, und können nur durch aktive Beteiligung eingeübt werden. Es ist dafür nicht nötig, sämtliche klassischen Werke des Faches, die dazugehörige Sekundärliteratur und die anknüpfenden Fachdiskurse zu kennen, bevor man zum ersten Mal einen Diskussionsbeitrag einbringt. Und wenn sich der Studienanfänger möglichst noch in der ersten Semesterwoche von der Vorstellung verabschiedet, dass alle Kommilitoninnen und Kommilitonen die Werke und Theorien, auf die sie sich ständig beziehen, auch wirklich gelesen, geschweige denn verstanden haben, kann er sich in der zweiten Woche getrost - z.B. mit einer kritischen Nachfrage - zu Wort melden.^ Durch solche Kommunikationsprozesse erschließt sich allmählich das fachspezifische Begriffssystem, mit dem man im Laufe des Studiums zunehmend sicher umzugehen lernt. Der amerikanische Soziologe C. Wright Mills hat dies mit den folgenden Worten zum Ausdruck gebracht: „Methoden und Theorien sind immer nur Methoden und Theorien hinsichtlich bestimmter Probleme. Sie sind wie die Sprache des Landes, in dem man lebt: Man kann nicht damit prahlen, daß man sie spricht, aber es ist peinlich und lästig, wenn man sie nicht beherrscht."'

Vgl. Wagner, Wolfgang (1992): Uni-Angst imd Uni-Bluff, Berlin: Rothbuch Mills, C. Wright (1963): Kritik der soziologischen Denkweise, Neuwied: Luchterhand, S.169.

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Studienanfang

Um von den Kommunikationsstilen und BegrifFswelten der Soziologie einen ersten Eindruck zu gewinnen, sollte man gleich zu Beginn des Studiums einen Blick in die Veröffentlichungsorgane und Selbstdarstellungen des Faches werfen. Neben Buchpublikationen sind Zeitschriften die wichtigsten Foren soziologischer Diskurse. Hier werden aktuelle Theorieentwicklungen und Forschungsergebnisse vorgestellt und d i s k u t i e r t . E i n e n weiteren guten Ausgangspunkt für Streifzüge in das Feld der Soziologie bietet die Selbstdarstellung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS). Als Dachverband der eher akademisch ausgerichteten Soziologen und Soziologinnen (im Gegensatz zum BDS, dem Berufsverband Deutscher Soziologen) ist die DGS in themenspezifische Sektionen gegliedert (z.B. Altern und Gesellschaft, Entwicklungssoziologie und Sozialanthropologie, Industrie- und Betriebssoziologie, Kultursoziologie, Methoden der empirischen Sozialforschung, Politische Soziologie, Rechtssoziologie, Religionssoziologie, Soziologische Theorie, Wirtschaftssoziologie usw.). Alle zwei Jahre richtet die DGS Kongresse aus, die unter einem zusammenfassenden Motto den aktuellen Stand der Forschungen in den Sektionen präsentieren. Vergangene Kongresse haben sich z.B. mit den Themen „Grenzenlose Gesellschaft", „Gute Gesellschaft? Zur Konstruktion sozialer Ordnung" und „Entstaatlichung und soziale Sicherheit" befasst. ^^ Weitere Informationen finden sich in der Zeitschrift Soziologie, dem Mitteilungsblatt der DGS, sowie auf der Internet-Seite: hip://www. Soziologie, de. Neben diesen Informationsquellen bietet sich ein Besuch der Lehrbuchsammlung (LBS) der jeweiligen Universitätsbibliothek an. Der dort versammelte Kanon von Studienliteratur bietet einen Überblick der Teilbereiche des Faches und verweist auf Schwerpunkte der Soziologie an der jeweiligen Hochschule. Über die Auseinandersetzung mit soziologischer Literatur und das Gespräch mit den Lehrenden am Studienort und - nicht zu unterschätzen - mit Kommilitonen und Kommilitoninnen lernt man sukzessive. 10

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Für den ersten Einstieg empfehlen wir die im Anhang in der weiterführenden Literaturliste genannten Fachzeitschriften. Vgl. Honegger, Claudia et al. (Hrsg.) (1999): Grenzenlose Gesellschaft?, 2 Bde; Opladen: Leske + Budrich. Allmendinger, Jutta (Hrsg.) (2000): Gute Gesellschaft?, 2 Bde, Opladen: Leske+-Budrich. Zum 31. Soziologiekongress in Leipzig 2002: vgl. http://www.dgs2002.de (18. 03. 2002).

Kommunikationsfeld Soziologie

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sich im Feld der universitären Soziologie kompetent zu bewegen. Es wäre falsch zu denken, dieser Prozess sei mit dem Grundstudium abgeschlossen, vielmehr reicht er bis zum Examen - und darüber hinaus. Zu ihm gehört natürlich, über den Tellerrand der eigenen Disziplin hinauszuschauen und die eigenen Erkenntnisse sowohl im Horizont anderer wissenschaftlicher Disziplinen als auch nichtwissenschaftlicher Perspektiven zu diskutieren. Im studentischen Alltag ergeben sich dazu fast automatisch Gelegenheiten, wenn Studierende verschiedener Fachrichtungen beispielsweise nachmittags im Café oder abends in der Kneipe zusammensitzen und aus ihrem jeweiligen Studienalltag berichten. Die Fragen, Irritationen und Missverständnisse, die Soziologiestudierende eventuell auslösen, wenn sie von den Inhalten des zuletzt gehaltenen Referats erzählen, sollten nicht zur eigenen Verwirrung fuhren. Kritische Nachfragen von Menschen, die die Fachsprache nicht beherrschen, haben das Potenzial, zum Nachdenken über die eigenen soziologischen Vorstellungen anzuregen. Dies gilt gleichermaßen fur den gesamten Weg in das kommunikative Feld der Soziologie: für die ersten eigenen Äußerungen und Diskussionsbeiträge im Seminar, Referate und Hausarbeiten. An Kritik muss man sich gewöhnen, denn „an deutschen Hochschulen, wo sich Intellektualität vornehmlich in Kritik und dem Vermögen dokumentiert, Schwächen aufzudecken, ist Anerkennung besonders schwierig zu gewinnen. Aufstieg in der Hierarchie muß folglich mit sprachlichen Mitteln und mit der Selbstdarstellung des kritischen Wissens erkämpft werden".'^ So lernt man das soziologische Denken, Sprechen und Schreiben nur über kritisch-konstruktive Diskussionen der eigenen Vorstellungen und Ideen. Sie sind wesentlicher Bestandteil der Suche nach dem eigenen Platz in diesem Kommunikationsfeld und schulen die eigene Ausdrucksfähigkeit, die wesentlichen Anteil am subjektiven und objektiven Erfolg oder Misserfolg des Studiums hat.^^

Wagner, Wolfgang (1992): Uni-Angst und Uni-Bluff, Berlin: Rothbuch, S.43. Hier empfiehlt sich als vertiefende Lektüre das Kapitel „Was ist ein kritisches Studium?"; in: Junne, Gerd (1992): Kritisches Studium der Sozialwissenschaften: Eine Einführung in Arbeitstechniken, Stuttgart: Kohlhammer, S. 11-17.

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Studienanfang

1.4. Engagement und Selbstverantwortung Bis hierher haben wir vor allem über den Alltag des Studierens im Allgemeinen und des Soziologiestudierens im Besonderen geschrieben. Auf die Voraussetzungen, die Studierende für ein Studium der Soziologie mitbringen sollten, sind wir kaum eingegangen. Aus den bisherigen Ausführungen zum Studium als persönlichkeitsbildender und berufsqualifizierender Lebensphase, zum universitären Alltag und zur wissenschaftlichen Kommunikation beinhalten aber bereits zwei wichtige Anforderungen, die mit dem Studium der Soziologie verbunden sind: Engagement für die inhaltliche Auseinandersetzung und die Bereitschaft zu selbstverantwortetem Lernen. Natürlich sollten Studierende auch alles das mitbringen, was in Deutschland mit dem Erwerb der „Allgemeinen Hochschulreife" verbunden ist: eine breite Allgemeinbildung, die Fähigkeit, sich Problemstellungen selbstständig zu erschließen, Kenntnisse über logisches Schlussfolgern, über den Aufbau von Argumenten und nicht zuletzt über das Verfassen von Texten. Darüber hinaus benötigen Studienanfänger der Soziologie im Grunde keine weiteren Voraussetzungen, außer Interesse für die Inhalte des Faches. Je nach dem, welche „Vorgeschichte" man in das Studium mitbringt, kann sich dieses persönliche Interesse in ganz unterschiedlicher Weise äußern. Wer auf der Schule einen Mathematik-Leistungskurs besucht hat, wird möglicherweise über die Statistik- und Methodenseminare seinen Weg zur Soziologie finden. Wer in Deutsch und Geschichte gut war und darüber hinaus Philosophie- und Religions- bzw. Ethik-Unterricht genossen hat, findet vielleicht die theoretischen Diskussionen spannender. Die Zugänge können sehr weit auseinander liegen; gemeinsam wird denen, die sich auf das Studienfach Soziologie einlassen, aber das Interesse an sozialen Strukturen und gesellschaftlichen Entwicklungen sein. Damit ist nicht unbedingt ein (partei-)politisches Engagement gemeint, sondern vor allem die aufmerksame Anteilnahme an dem, was gesellschaftlich geschieht. Sie ist unverzichtbar, wenn man Gesellschaft beobachten und analysieren will. Weil alle Menschen in ein Beziehungsgeflecht hineingewoben sind und innerhalb von sozialen Strukturen handeln, haben sie zwangsläufig Anteil an der sozialen Wirklichkeit. Die meisten äußern darüber hinaus auch ihre Meinungen

Engagement und Selbstverantwortung

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zu den Beziehungen, in denen sie stecken. Sie finden beispielsweise das Verhalten ihres Onkels auf der Beerdigung ihrer Oma unmöglich, leiden mit den Opfern eines Terroranschlages, haben Angst vor steigender Einwanderung oder halten alle Politiker für korrupt und inkompetent, während sie selbst das Patentrezept für die Lösung des Problems der Arbeitslosigkeit parat haben. Für das Studium der Soziologie ist es erforderlich, nicht nur selbst eigene Standpunkte und Meinungen dieser Art zu haben, sondern vor allem die Ansichten anderer in ihrer inneren Logik nachvollziehen und sie sich in ihren sozialen Zusammenhängen erklären zu wollen. Um es mit den Worten des Soziologen Peter L. Berger zu sagen: „Uns geht es um die verzehrende Neugier, die jeden Soziologen vor einer verschlossenen Tür packt, hinter der menschliche Stimmen ertönen. Ein richtiger Soziologe will sie öffnen, die Stimmen verstehen. Er vermutet hinter jeder Wand ein Stück menschliches Leben, das noch kein anderer entdeckt oder verstanden hat. Er kümmert sich um Angelegenheiten, die anderen sakrosankt oder zu profan sind. Die Gesellschaft von Priestern oder Prostituierten ist ihm gleich lohnend. Welche er wählt, hängt nicht von seiner privaten Neigung, sondern von den Fragen ab, die ihn gerade beschäftigen. Engagement für die Inhalte, die das Studienfach bereithält, entwickeln Studierende in der Regel erst dann, wenn sie sich auf diese Reflexionsformen einlassen. Zuweilen brauchen sie dafür ein wenig Zeit. Für Studierende, die das Soziologiestudium gewissermaßen „aus Verlegenheit" begonnen haben, ist es daher um so wichtiger, sich Klarheit über das eigene Verhältnis zum gewählten Studienfach zu verschaffen und kritisch zu prüfen, ob sie sich den Risiken des Soziologiestudiums aussetzen wollen. Damit ist die zweite Anforderung des Faches bereits angesprochen: die Bereitschaft zu selbstverantwortetem Lernen. Die Offenheit des Soziologiestudiums für individuelle inhaltliche Schwerpunktsetzungen erfordert von den Studierenden ein hohes Maß an Selbstorganisation und Selbstreflexion im Hinblick auf den eigenen Studienweg. Wenn

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Berger, Peter L. (1969): Einladung zur Soziologie. Eine humanistische Perspektive, Ölten/ Freiburg: Walter, S.28.

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Studienaniang

darüber hinaus an vielen Studienorten die Scheine, die fur die Meldung zum Examen benötigt werden, relativ unproblematisch erworben werden können, mag ein Soziologiestudium als „leichtgewichtig" erscheinen. Dieser Eindruck täuscht. Zwar können Soziologiestudierende an den meisten deutschen Hochschulen die Auswahl ihrer Studieninhalte weitestgehend selbst bestimmen. Das entpflichtet sie aber nicht, sich über die besuchten Veranstaltungen hinaus auch mit den klassischen Themen und aktuellen Inhalten des Faches auseinander zu setzen, um es in seiner ganzen Breite kennen zu lernen. Wer das im Studium versäumt und die Freiheit des Studienganges vor allem fur die eigenen Vorlieben nutzt, erhält meist am Ende des Studiums die Quittung. So kann es beispielsweise sein, dass Studierende keine Prüfer finden, die sie zu speziellen Themen prüfen, oder das so die Leistungserwartungen unterschätzen, die in den Prüfungen an sie gerichtet werden. Denn hinsichtlich der Form, wie ein x-beliebiges Thema soziologisch zu bearbeiten ist, gibt es keine Beliebigkeit. Ob ich mir die Prinzipien einer soziologischen Analyse gesellschaftlicher Tatbestände am Beispiel der Situation von Straßenkindern in Lateinamerika, des europäischen Einigungsprozesses oder stadtsoziologischer Forschungen erarbeite, macht zwar thematisch einen Unterschied, die spezifische soziologische Perspektive erfordert jedoch in allen drei Fällen die Einhaltung bestimmter wissenschaftlicher Kriterien und unterscheidet sich damit wesentlich von anderen Betrachtungsweisen. Zusammenfassend lässt sich demnach festhalten, dass weniger der faktische Scheinerwerb oder das Abarbeiten von Stoffplänen den eigentlichen Kern des Soziologiestudiums ausmachen, sondern die individuelle Gestaltung des Studienprozesses. Solide Kenntnisse über das Spektrum soziologischer Themen, Theorien und Methoden bilden dabei die Grundlage, auf der persönliche Schwerpunktsetzungen aufbauen können. In diesem Prozess ist es unverzichtbar, die Möglichkeiten der universitären Studienberatung wahrzunehmen. Die Beratungsangebote des Fachbereiches sollten möglichst zu einem frühen Zeitpunkt und während des weiteren Studiums wiederholt in Anspruch genommen werden, um die eigene Studienplanung mit den dort angebotenen Informationen (Literaturiisten, Prüfungsordnungen, Studienordnungen, Merkblättern zum Studienverlauf und Empfehlungen zum Studienaufbau) abzugleichen und bei der Erstellung des konkreten Studien- oder Belegplanes zu berücksichtigen.

Engagement und Selbstverantwortung

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Die Sprechstunden der Lehrenden können in ähnlicher Absicht zur Diskussion der eigenen Studienleistungen genutzt werden oder aber dem Einholen inhaltlicher Anregungen für anstehende Studienarbeiten und die weitere Studienflihrung dienen. Studienanfängern, die noch stark durch ihre Schulerfahrungen geprägt sind, wird es zunächst ungewohnt erscheinen, aufgrund eigener Initiative mit den Lehrenden ins Gespräch kommen zu müssen. Strategien der Kontaktvermeidung, wie sie in der Schule eventuell üblich waren, sind für das Verhältnis zwischen Lehrenden und Studierenden an der Universität jedoch wenig hilfreich. Auf das Abenteuer, seinen Prüfer erst in der Prüfung kennen zu lernen, sollten Studierende verzichten. Sie haben vielmehr geradezu das Recht auf eine qualifizierte Betreuung. Sie sind keine unmündigen Erziehungsbedürftigen, sondern erwachsene Menschen, die für die Gestaltung ihres Lernens Verantwortung übernehmen müssen.

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1.5

Studienanfang

Wohin geht die Reise? Berufliche Perspektiven für Soziologiestudierende

„Die Diplomprüfung bildet einen ersten berufsqualifizierenden Abschluss des Studiums der Soziologie", heißt es beispielsweise in der Prüfijngsordnung des Studienganges an der Philipps-Universität Marburg. Aber für welche Berufe qualifiziert ein Soziologiestudium? Was erwartet Soziologiestudierende am Ende der Studienzeit - ein reibungsloser Berufseinstieg oder Erwerbslosigkeit und Maßnahmen zur Weiter- und schließlich Umqualifizierung? Ist Soziologie nicht eher eine brotlose Kunst, wie oft behauptet wird - wohl geeignet als Bildungsstudium, nicht aber als Grundlage für eine berufliche Karriere außerhalb der Universität? Tatsächlich bereitet das Studium der Soziologie nicht auf ein eindeutiges spezielles Berufsbild vor. Es gibt, sieht man von den wissenschaftlichen Tätigkeiten an Universitäten, Fachhochschulen und sonstigen Bildungs- und Forschungseinrichtungen ab, auch kein abgrenzbares Spektrum von Berufen, für deren Ausübung ein Soziologiestudium eine notwendige Voraussetzung wäre. Weil ein klares Berufsbild fehlt, fehlt auch ein offizielles Arbeitsmarktsegment für Soziologinnen und Soziologen. Für den Einstieg ins Erwerbsleben bedeutet dies im Vergleich zu akademischen Ausbildungsgängen mit scheinbar eindeutigen und bekannten Berufsbildern (Ärzte, Anwähe, Betriebswirte, Ingenieure, Lehrer, Psychologen usw.) einen Nachteil. So mag es erstaunen, wenn wir behaupten, dass Soziologiestudierende Kapital daraus schlagen können, dass sie durch ihr Studium weniger festgelegt sind. Natürlich kann man Soziologie auch ausschließlich als Bildungsstudium betreiben. Weitaus die meisten Interessenten für dieses Fach wollen jedoch mehr daraus machen und später auch tatsächlich als Sozialwissenschaftlerin und Sozialwissenschaftler arbeiten. Das eigentliche Ziel der Sozialwissenschaften besteht in der Einübung wissenschaftlich-interpretierenden Denkens und der Entfaltung analytischer Phantasie. Wir haben bereits deutlich gemacht, dass im sozialwissenschaftlichen Studium die Selbstgestaltung des Studiums und die Beschäftigung mit frei gewählten Themen vorherrschen. Studierende haben also Freiräume, sich mit vielen Wissensgebieten, Betrachtungs-

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weisen und Nachbardisziplinen vertraut zu machen: Sie werden zu Generalisten. Soziologinnen und Soziologen zeichnen sich nach engagiert durchlaufenem Studium daher meist durch ihre mündliche und schriftliche Ausdrucksfähigkeit, ihr Denken in Alternativen zur eingefahrenen Routine, ihre Innovationsfreudigkeit, ihr systematisches, konzeptgeleitetes Herangehen an Aufgaben und ihre Organisationsfáhigkeit und Selbstständigkeit aus. Sie haben gelernt, konzeptuell zu denken, und sind an eine nüchterne, systematische Arbeitsweise sowie an begriffliche Präzision gewöhnt. Soziologinnen und Soziologen besitzen Kenntnisse in empirischer Sozialforschung, Statistik und einschlägiger Software und können einen methodisch kontrollierten Blick auf die Realität werfen. Die Beschäftigung mit unterschiedlichsten sozialen Phänomenen, eventuell verbunden mit Auslandsaufenthalten, schult zudem das Einfiihlungsvermögen und erleichtert den persönlichen Umgang mit Angehörigen anderer Kulturen und Lebensstile in einem vielschichtigen sozialen Milieu oder auf internationaler Ebene. Soziologinnen und Soziologen finden sich daher rasch in fremden Sinnzusammenhängen zurecht. Wie C. Wright Mills es treffend ausdrückte: „Soziologisches Denken ist die fruchtbarste Form des Selbstbewußtseins, und es erweckt in denen, deren Geist sich bisher nur in engen Bahnen bewegte, häufig das Geftihl, plötzlich in einem Hause aufzuwachen, von dem sie glauben, daß es ihnen bereits vertraut sei."^^ Zahlreiche Untersuchungen belegen die dadurch mögliche Variationsbreite des späteren Berufsfeldes. ^^ Soziologinnen und Soziologen arbeiten heutzutage in der privaten Wirtschaft, in der öffentlichen Verwaltung (Bund, Länder, Kommunen), in der Stadt- und Regionalplanung, in der Arbeitsverwaltung, in der Markt- und Meinungsforschung, beim Rundfunk und Fernsehen, im Verlagswesen und bei der Presse, bei Verbänden und Organisationen politischer, sozialer und kultureller Interessenvertretung (Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Parteien, Kirchen, Kammern usw.), in Einrichtungen der sozi-

Mills, C. Wright (1963): Kritik der soziologischen Denkweise, Neuwied: Luchterhand, S.40. Vgl. weitere Informationen in den weiterfuhrenden Literaturlisten im Anhang (6. Beruf).

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alen Sicherheit und der sozialen Hilfe, in der Entwicklungshilfe und Entwicklungspolitik, im Gesundheitswesen, in der Kriminalistik usw. In all diesen und weiteren Beschäftigungsbereichen ist sozialwissenschaftliche Kompetenz mittlerweile unverzichtbar geworden. In den verschiedensten Positionen erfìillen Soziologen Aufgaben der Organisation und Planung, der Aus- und Weiterbildung, der Beratung und Betreuung, der Öffentlichkeitsarbeit und Publizistik, der Personalarbeit und selbstverständlich auch der sozialwissenschaftlichen Forschung. Soziologen sind somit die Fachleute, die gefragt werden, wenn es um die Analyse und die Gestaltung der sozialen Dimension von Aufgaben geht, welche es in den erwähnten Berufsbereichen zu lösen gih. Solche Tätigkeiten setzen die Fähigkeit voraus, komplexe Sachverhalte und Aufgaben nicht nur systematisch analysieren, sondern auch Gestaltungs- und Lösungswege aufzeigen zu können. Dabei hat man es meist auch mit anderen beruflichen Experten, mit Kunden, Vorgesetzten und Untergebenen, mit Kosten- und Zeitdruck zu tun. Deshalb sind in außeruniversitären Tätigkeitsfeldern über die soziologischen Fachkenntnisse hinaus auch andere Kompetenzen, wie beispielsweise Kommunikationsfähigkeit, ergebnisorientiertes Arbeiten und Arbeiten im Team gefragt. Wer sich nach dem erfolgreichen Abschluss des Soziologiestudiums um eine Stelle bewirbt, steht jedoch meistens im Wettbewerb mit vielen anderen Konkurrenten. Denn zahlreiche für Soziologinnen und Soziologen interessante Stellen sind prinzipiell fiir Absolventen verschiedener Studienrichtungen zugänglich und auch so ausgeschrieben, z.B.: „Gesucht wird Wirtschafts- oder Sozialwissenschaftler/-in", oder: „Gesucht wird wissenschaftlicher Mitarbeiter mit abgeschlossenem Hochschulstudium in Rechts- oder Sozialwissenschaften". Soziologen und Soziologinnen konkurrieren dann mit Absolventen aus Fachrichtungen, die am Arbeitsmarkt bislang viel besser eingeführt sind. Wegen des häufig immer noch schlechten oder zumindest vagen Images der Soziologie in der Öffentlichkeit und in der Vorstellung vieler potenzieller Arbeitgeber, sind Soziologen besonders gefordert, dieser Arbeitsmarktkonkurrenz durch überzeugende Qualifikationsangebote, Initiative und Phantasie zu begegnen. Zusatzqualifikationen unterschiedlicher Art stellen in dieser Situation Wettbewerbsvorteile dar und verbessern die Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Dazu gehören

Wohin geht die Reise?

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heutzutage vor allem: gute Kenntnisse in Fremdsprachen, sicherer Umgang mit EDV, Auslandsaufenthalte und Praxiserfahrung. Letztere kann beispielsweise durch eine Berufstätigkeit vor oder während des Studiums, durch Praktika während des Studiums, aber auch durch Tätigkeiten in den Selbstverwaltungsgremien des Fachbereichs und der Universität, in Vereinen und Verbänden usw. erworben werden. Auch zukünftig werden Soziologinnen und Soziologen in außeruniversitären Bereichen Beschäftigung finden müssen. Die Aussichten dazu sind günstig, denn gemäß den heute bekannten Szenarien zur Arbeitsmarktentwicklung wird der Akademikeranteil u.a. wegen den zu erwartenden Zuwachsraten in den Bereichen Management, Medien, Disposition und Entscheidungsvorbereitung steigen. Insbesondere im Bereich der privaten Wirtschaft ist ein zunehmender Bedarf an sozialwissenschaftlichen Qualifikationen zu verzeichnen. Es liegt also im Wesentlichen an den Soziologieabsolventen selbst, ob sie solche Beschäftigungschancen nutzen oder sie Akademikern anderer Fachrichtungen überlassen wollen. ^^

Der Arbeitsmarkt für Absolventen eines sozialwissenschaftlichen Studimns ist nicht so schlecht, wie das unspezifische Berufsbild manchmal imbedacht vermuten lässt. Einen guten Überblick der Situation bieten die jeweils aktuellen Veröffentlichungen der Bundesanstalt für Arbeit: Vgl. z.B. Gleiser. Sigmar (1997): Studium und Arbeitsmarkt: Hochschulabsolventen an der Schwelle zu neuen Arbeitsformen, Frankfurt am Main: Zentralstelle für Arbeitsvermittlung der Bundesanstalt für Arbeit.

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Soziologisches Propädeutikum

2. Soziologisches Propädeutikum Gleichzeitig mit dem Einstieg in das Leben und Arbeiten an der Hochschule beginnt in den ersten Semestern des Soziologiestudiums auch die allmähliche Entwicklung eines eigenen „soziologischen Blicks". Die soziale Wirklichkeit, die den Menschen im Alltag vertraut erscheint, wird durch die Auseinandersetzung mit soziologischen Theorien und empirischen Forschungen verfremdet. Erst diese Verfremdung, die eine gewisse Distanzierung von den alltäglichen Wahrnehmungen erfordert, &hrt zu jenem Erkenntnisgewinn, der &r die Soziologie charakteristisch ist. Allerdings wollen wir nicht unerwähnt lassen, dass die Aneignung einer solchen Perspektive im Laufe des Soziologiestudiums auch den eigenen alltäglichen Umgang mit sozialer Wirklichkeit prägen kann - übrigens ein durchaus riskanter Vorgang. Dieses Kapitel soll eine Hilfestellung bei der Ausbildung eines eigenen „soziologischen Blickes" bieten. Zu diesem Zweck versuchen wir zunächst deutlich zu machen, worin er sich von den aUtäglichen Wahrnehmungen der sozialen Wirklichkeit unterscheidet (2.1.). Dazu gehört vor allem die Einsicht, dass soziologische Probleme zwar einen Bezug zu sozialen Problemen aufweisen, mit diesen aber nicht identisch sind. An unsere Ausführungen zum Erlernen der soziologischen Sprache (1.3.) anschließend, versuchen wir zu verdeutlichen, dass die Auseinandersetzung über soziologisches Wissen eine andere Art der Kommunikation voraussetzt als die Verständigung über das Alltagswissen. Wie wissenschaftlich über soziologische Probleme kommuniziert wird, erläutern wir in einem Exkurs über Formen der Argumentation (2.2.). Um den „soziologischen Blick" genauer zu charakterisieren, gehen wir dann auf zwei wesentliche Aspekte der Soziologie ein: die theoretische Forschung (2.3.) und die empirische Forschung (2.4.). Während sich theoretische Forschung auf die Entwicklung eines analytischen Begriffssystems konzentriert, innerhalb dessen man soziale Tatbestände verstehen und erklären kann, werden durch die empi-

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fische Forschung konkrete Aussagen über soziale Tatbestände einer erfahrungswissenschaftlichen Überprüfung unterzogen. Das eine wie das andere ist für die Ausbildung des „soziologischen Blicks" unverzichtbar. Bleibt abschließend die Frage, wozu der „soziologische Blick" eigentlich dienen soll. Diese Frage nach der praktischen Bedeutung von Soziologie greifen wir im letzten Teil über den Nutzen der Soziologie auf, in dem wir darstellen, wie in unterschiedlichen Kontexten soziologisches Wissen relevant werden kann (2.5.). Es sei betont, dass wir in den folgenden Ausführungen gerade auch auf die VielfaU der Soziologie, ihrer Theorien, ihrer empirischen Methoden und ihrer Anwendungsmöglichkeiten aufmerksam machen wollen. Unsere eigenen Präferenzen und Orientierungen haben wir daher so weit wie möglich auszuklammern versucht. Nicht um eine Einführung in eine spezifische soziologische Perspektive soll es gehen, sondern um eine Heranführung an allgemeine Grundfiguren des soziologischen Denkens. ^^ Es bleibt jeder Studentin und jedem Studenten selbst überlassen, den eigenen „soziologischen Blick" auszubilden.

Es gibt eine Reihe von Texten, die in spezifische soziologische Perspektiven einfuhren. Einige solcher Einführungen, die aus unserer Sicht besonders gelungen und gut lesbar sind, haben wir ins Literaturverzeichnis aufgenommen.

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2.1.

Soziologisches Propädeutiloim

Der soziologische Blick

Fragt man Studienanfänger der Soziologie nach den Beweggründen für ihre Studienfachwahl, so erhäh man in der Regel eine Fülle individueller Antworten. Studierende erhoffen sich von der Soziologie umfassende Kenntnisse über das menschliche Handeln und seine historischen Zusammenhänge, erwarten aber auch eine intensive Beschäftigung mit aktuellen gesellschaftlichen SpannungsverhäUnissen, sozialem Wandel, Normen und Werten, Trend- und Meinungsforschung, Generationskonflikten und kulturellen Differenzen. Das Studium bietet nach ihrer Ansicht mehr Möglichkeiten für aktive persönliche Teilnahme und soziales Engagement als andere Geisteswissenschaften, nicht zuletzt weil es einen Blick hinter die Kulissen des gesellschaftlichen Alltags eröffnet. Vielfach wird dabei unterstellt, die Soziologie befasse sich insbesondere mit sozialen Problemen. Dies ist in gewisser Weise auch richtig. Tatsächlich war die Beschäftigung mit sozialen Problemen für die Entstehung der Soziologie als wissenschaftlicher Disziplin im 19. Jahrhundert von zentraler Bedeutung. Schließlich resultierte sie gerade aus der Erfahrung gesellschaftlicher Krisen in Europa, vor allem der Französischen Revolution, der Industrialisierung und Urbanisierung sowie der damit verbundenen „sozialen Frage". Dennoch ist die Beschäftigung mit sozialen Problemen nicht das Spezifikum der Soziologie. Denkt man bei sozialen Problemen an Störungen eines friedlichen und harmonischen Zusammenlebens - Armut, Jugendarbeitslosigkeit, Drogenmissbrauch, Prostitution, Kriminalität, Korruption, Bildungsmisere, Rentenkürzungen - , so wird deutlich, dass z.B. auch die Medien täglich solche Problemfälle aufdecken, Hintergrundinformationen liefern, vor Missständen warnen und krisenhafte Veränderungen prognostizieren. Spezifisch für die Soziologie ist vielmehr, dass sie soziale Probleme als einen Aspekt der sozialen Wirklichkeit insgesamt betrachtet. Das zeigt schon der Begriff „Soziologie". Seine Herkunft aus dem lateinischen Wort socius (Geselle, Mitmensch) weist darauf hin, dass Soziologie eine Art „Gesellungslehre" ist, die sich ganz allgemein mit Formen menschlichen Zusammenlebens befasst. Auguste Comte (1798-1857), auf den allgemein das Selbstverständnis der Soziologie als das einer besonderen Einzelwissenschaft

Der soziologische Blick

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zurückgeführt wird, hat entsprechend die Hauptaufgabe dieser Disziplin darin gesehen, soziale Wirklichkeit zu analysieren und zu erklären.^' Viele Missverständnisse gegenüber der Soziologie haben insofern ihren Ursprung in der Mehrdeutigkeit dessen, was mit dem „Sozialen" gemeint ist. Das Adjektiv „sozial" bezeichnet in der Alhagssprache solche Handlungen, die besonders an den Idealen der Nächstenliebe und Geschwisterlichkeit orientiert sind. Es bezeichnet auch Personen, die den Eigennutz dem Gemeinwohl unterordnen. Auch wenn die Soziologie verstärkt Studierende anzieht, die sich durch solche altruistischen Einstellungen auszeichnen und die mit ihrer angestrebten beruflichen Tätigkeit vor allem „soziale" Anliegen verknüpfen - ein notwendiger Bestandteil der Soziologie ist der Altruismus nicht. Ebenso irrig ist die Vermutung, die Soziologie sei eine sozialistische oder kommunistische Wissenschaft. Das Image der Soziologie als revolutionärer Wissenschaftsdisziplin stammt aus der Zeit der Studentenbewegung, die sich vor allem mí Karl Marx (1818-1883) und die in dessen Tradition stehende Kritische Theorie der so genannten Frankfiirter Schule berief Zwar lässt sich Soziologie auf der Basis von Marx' Gesellschaftstheorie, die einen wichtigen Beitrag zur soziologischen Theoriebildung liefert, betreiben, doch steht eine entsprechende philosophisch-weltanschauliche Fundierung der Soziologie nur eine Möglichkeit unter anderen dar. Gleich ob es sich bei den von der Soziologie untersuchten Phänomenen um „soziale" Probleme handelt oder nicht, ihr konkreter Gegenstand ist das Soziale in seiner Gesamtheit. Im Unterschied zu sozialen Problemen werden soziologische Probleme fachgerecht als soziale Vorkommnisse, soziale Tatsachen oder, um mit dem französischen S>oúo\ogtn Emile Durkheim (1858-1917) zu sprechen, als soziale Tatbestände bezeichnet. Genauer kann der Aufgabenbereich der Soziologie als die Analyse menschlichen Handelns bestimmt werden, wobei sie sich dabei auf denjenigen Aspekt des Handelns konzentriert, der durch die Tatsache bestimmt ist, dass Menschen eben nicht als isolierte Individuen existieren, sondern als sodi, als Mitglieder historisch gewachsener Gemeinschaften und Gesellschaften aufwachsen und ihr

' ' Vgl. Schäfers, Bernhard (Hrsg.) (1995), Grundbegriffe der Soziologie, 4. Aufl., Opladen: Leske + Budrich, S.307f.

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Leben fuhren. Soziologinnen und Soziologen beschäftigen sich mit der Entstehung und Funktionsweise solcher Gemeinschaften und Gesellschaften, analysieren deren Ursachen und Wirkungen und versuchen diese Zusammenhänge vor dem Hintergrund alternativer Möglichkeiten zu verstehen. Der „soziologische Blick", so könnte man zusammenfassen, besteht darin, dass sämtliche Bereiche des „menschlichen Zusammen- und Gegeneinanderwirkens"^° problematisiert und als erklärungsbedürftig wahrgenommen werden. Der konkrete Forschungsgegenstand der Soziologie sind also die Menschen, insofern sie sozial, d.h. in Orientierung an anderen, handeln und ihr Leben fuhren. Dieser Gegenstandsbereich kann durch die Unterscheidung von drei Fokussierungen soziologischer Analyse weiter präzisiert werden. In der kleinteiligsten Form der Analyse richtet sich der „soziologische Blick" auf das soziale Handeln von Personen, die in einem direkten Kontakt miteinander stehen, z.B. die Mitglieder einer Reisegruppe oder die Schüler einer Klasse. Soziale Tatbestände, über die die Soziologie in einer solchen mikroskopischen Perspektive Aussagen treffen kann, sind beispielsweise die wechselseitigen Beziehungen innerhalb einer Gruppe, die individuellen Handlungsorientierungen und Verhaltensweisen in Abhängigkeit von den Vorgaben der Gruppe, regulierende Mechanismen, die über den Ein- bzw. Ausschluss einer Person entscheiden, und ähnliches mehr. Ebenso untersucht die Soziologie aber auch größere und komplexere soziale Gebilde, insbesondere Organisationen, wie Wirtschaftskonzerne oder politische Parteien, und deren zweckmäßig auf ein Ziel ausgerichtete Strukturen. Sie analysiert hier beispielsweise die durch planerische Eingriffe ausgelösten Veränderungen in der Funktionsweise der Organisation oder die Effekte so genannter informeller Strukturen, die parallel zu den offiziellen Organisationsmechanismen ihre Wirksamkeit entfalten. Der am weitesten gefasste Blick der soziologischen Analyse erfasst die Gesellschaft. Der Begriff der „Gesellschaft" bezeichnet hier die Gesamtheit sozialer Strukturen und Prozesse. Dabei sind soziale Strukturen Ordnungs- oder Regelungsmuster, nach denen soziale Pro-

Berger, Peter L. (1982): Einladung zur Soziologie. Eine humanistische Perspektive, München: dtv, S.28.

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zesse ablaufen, während soziale Prozesse wiederum als Vorgänge betrachtet werden, durch die sich Gesellschaften oder gesellschaftliche Teileinheiten reproduzieren. In dieser Hinsicht untersucht die Soziologie etwa die Sozialstruktur einer Gesellschaft, z.B. hinsichtlich demografischer Variablen oder der ungleichen Verteilung von finanziellen Ressourcen. Ebenso werden Austauschprozesse zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen behandelt, etwa die Einflussnahme der Politik auf die mediale Berichterstattung oder das umgekehrte Phänomen einer medialen Inszenierung der Politik. „Gesellschaft" ist fur die Soziologin also ein Komplex menschlicher Beziehungen, egal ob dieser Komplex Millionen von Menschen umfasst („die deutsche Gesellschaft", „die Weltgesellschaft") oder sich auf zahlenmäßig kleinere Einheiten bezieht („die Stammesgesellschaft"). „Ob der Ausdruck ,Gesellschaft' angebracht ist, kann also kaum allein an Hand von Zahlen entschieden werden. Er paßt vielmehr erst dann, wenn ein Komplex menschlicher Beziehungen faßbar genug ist, um als solcher einer Untersuchung stand zu halten, und zwar als autonome Wesenheit, die sich von anderen ihrer Art isolieren und unterscheiden läßt."^^ Die Forschungsmethoden der Soziologie zur wissenschaftlichen Betrachtung sozialer Tatbestände beruhen allgemein auf zwei grundlegenden Motiven: dem Beschreiben und dem Erklären bzw. dem (kritischen) Interpretieren, wobei diese Motive häufig miteinander verknüpft sind. In diesem Zusammenhang wurden und werden Denkmethoden und Forschungsverfahren entwickelt, um ein den Gegenstand klärendes Begriffs- und Theoriensystem zu schaffen. Bei der konkreten Untersuchung sozialer Strukturen und Prozesse zeigt sich dann, dass sich die Soziologie nicht auf ein einziges theoretisches Modell bezieht, sondern mehrere Ansätze und Perspektiven miteinander konkurrieren. Verschiedene Soziologen vertreten verschiedene theoretische Positionen, mit denen unterschiedliche Varianten des „soziologischen Blicks" plausibel gemacht werden. Die Teilnahme am wissenschaftlichen Diskurs der Soziologie kommt daher einem ständigen Prozess des Infragestellens gleich, denn soziologische Forschungsergebnisse erheben keinen Anspruch auf absolute Wahrheit.

Berger, Peter L.(1982): Einladung zur Soziologie. Eine humanistische Perspektive, München: dtv, S.36.

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Soziologisches Propädeutikum

Da die Soziologie auch sozialhistorische Entwicklungsprozesse sowie Verflechtungen zwischen verschiedenen Gesellschaften analysiert und dabei immer auch thematische Gebiete anderer Wissenschaften streift, ist leicht einsichtig, warum sie nicht immer klar von anderen Sozialund Geisteswissenschaften zu trennen ist. Die Soziologie ist sogar auf den Austausch mit Disziplinen wie der Wirtschaftswissenschaft, Geschichtswissenschaft, Philosophie, Ethnologie und Anthropologie, aber auch der Sozialpsychologie und der Psychologie angewiesen. Da die Soziologie den Menschen in allen Teilbereichen seines Handelns und Lebens zum Gegenstand haben kann, liegen Berührungs- oder gar Überschneidungspunkte mit anderen Sozial- und Geisteswissenschaften nahe, die sich explizit „nur" mit dem menschlichen Denken, dem Rechtsverständnis, der Gesundheit, den Bräuchen und Traditionen usw. befassen. Insofern hat die Soziologie keinen exklusiven Gegenstandsbereich. Was Soziologinnen und Soziologen aber von den anderen Wissenschaftsdisziplinen unterscheidet, ist ihr „soziologischer Blick". Der „soziologische Blick" irritiert das selbstverständlich Vorausgesetzte und Unhinterfragte. Die Position des soziologischen Beobachters gegenüber den betrachteten Aspekten sozialer Wirklichkeit ähnelt der Distanz eines Außenseiters oder Fremden, der aufgrund seiner Stellung außerhalb der Beziehungsnetzwerke zu mehr Objektivität fähig ist als diejenigen, die selbst inmitten dieses Beziehungsgeflechts leben.^^ Die meisten Studierenden haben derartige Erfahrungen wahrscheinlich selbst schon auf Auslandsreisen gemacht oder bei „Ausflügen" in jene Milieus der Jugend- und Kulturszene, die einem weniger vertraut sind. Die Besonderheit des „soziologischen Blicks" liegt darin, dass die irritierende und distanzierende Betrachtung gezielt und analytisch verwendet wird. Insofern trifft es zu, dass Soziologen das untersuchen, wovon alle Gesellschaftsmitglieder täglich in der Zeitung, im Funk oder Fernsehen erfahren. Aber, so Peter Berger: „[...] gerade dabei wartet ein anderes Entdeckerglück auf (sie): nicht die aufregende Begegnung mit dem völlig Unvertrauten,

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Ein klassischer soziologischer Text zur Rolle des Fremden, der durch seine Präsenz eine „verfremdete" Sicht auf das Eigene ermöglicht, ist: Simmel, Georg (1995): Exkurs über den Fremden; in: ders., Soziologie. Untersuchungen tlber die Formen der Vergesellschaftung, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.764-771.

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sondern das unheimliche Staunen, das sich einstellt, wenn das Vertraute plötzlich ein anderes Gesicht bekommt. Die Faszination der Soziologie liegt darin, daß ihre Scheinwerfer uns die Welt, in der wir leben, plötzlich in einem anderen Lichte zeigen."^^

Übungsaufgaben Im Folgenden haben wir zwei Texte ausgewählt, anhand derer die Unterschiede zwischen der journalistischen Betrachtung eines sozialen Problems und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit einem soziologischen Problem veranschaulicht werden sollen. Der erste Arbeitstext entstammt der Zeitschrift Der Spiegel, während der zweite die stark gekürzte Fassung eines etwa zur gleichen Zeit in einer soziologischen Fachzeitschrift veröffentlichten Artikels darstellt. Lesen Sie bitte beide Texte zunächst aufmerksam durch; benutzen Sie zum besseren Verständnis gegebenenfalls ein Fremdwörterbuch und ein soziologisches Lexikon. Vergegenwärtigen Sie sich bei der Lektüre des Textes von Hartmut Esser (Arbeitstext 2) die vom Autor vorangestellte Zusammenfassung der Argumentation und versuchen Sie dann, die einzelnen Argumentationsschritte der hier abgedruckten Passagen nachzuvollziehen. Erarbeiten Sie sich die Unterschiede beider Texte anhand der folgenden Fragen: 1. Durch welche sprachlichen Merkmale unterscheiden sich die beiden Texte? Welches Publikum sprechen die Texte an und wie schlägt sich dies jeweils in ihrer sprachlichen Gestalt nieder? 2. Was problematisieren die beiden Texte mit welchen Intentionen und welchen Mitteln? 3. Vergleichen Sie, mit welchen Begriffen der Spiegel-jQxi die Problematik erfasst und was Esser mit dem Begriff der „ethnischen Differenzierung" meint. 4. Überlegen Sie, welche Konsequenzen diese begrifflichen Unterschiede fiir die Beschreibung des jeweiligen sozialen Tatbestands haben. 23

Berger, Peter L.(1982): Einladung zur Soziologie. Eine humanistische Perspektive, München: dtv, S.30.

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Arbeitstext 1 : „Das Gefühl ändert sich" {Der Spiegel) [44] SPffiGEL-Redakteur Werner Dähnhardt über das Drängen vieler Türken auf doppelte Staatsbürgerschaft Es gibt Tage, an denen schlägt dem Polizeischüler Recai Sertbas, 30, das „krasse Großstadtleben" entgegen. Da wird der Uniformträger, wenn er als zweiter Maim auf dem Wagen in Hamburg Streife fährt, schon mal von Ausländem angepöbelt: „Ey, du Nazi." Der Polizist nimmt das gelassen. Sertbas kann schon deshalb kein Nazi sein, weil er Türke ist. An der Polizeischule wurde „der Ausländer", der erste Tüike bei der Hamburger Polizei, anfangs manchmal von Kameraden wegen seiner Herkunft angemacht. Der angehende Polizeimeister nimmt das ebenso gelassen. Er ist auch Deutscher. Sertbas, Sohn eines türkischen Femmeldetechnikers, gebürtiger Hamburger, gehört zur Minderheit der etwa 25.000 von 1,9 Millionen Türken in Deutschland, denen die doppelte Staatsbürgerschaft verliehen wurde. Um Leute wie ihn streitet sich die Bonner Regierungskoalition. Darf es Bürger mit zwei Pässen geben? Doppelte Staatsbürgerschaft ist Unionspolitikem ein Graus. „Nur Probleme" schaffe die Zweifach-Bürgerschaft, befürchtet Bundesinnenminister Manfred Kanther, „auch Probleme in den Ausländerfamilien". Den Liberalen hingegen ist das Angebot, Türke zu bleiben und Deutscher zu werden, ein Integrationsinstrument gerade für die traditionsbewussten Türken. FDPPolitiker, Sozialdemokraten und Grüne wollen deshalb die bislang nur ausnahmsweise erlaubte Doppel-Staatsbürgerschaft häufiger zulassen. Daß Setbas zugleich Deutscher und Türke sein darf, verdankt er dem deutschen Beamtenrecht. Um zur Polizei gehen zu körmen, mußte sich der Ausländer einbürgern lassen. Doch die Türkei entließ Sertbas ebensowenig wie andere wehrpflichtige Männer mit türkischem Paß aus der dortigen Staatsbürgerschaft. In solchen Fällen machen die meisten Ausländerbehörden hierzulande eine Ausnahme. Anwärter Sertbas, der mit den Polizei-Tests von der Sprache bis zum Sport besser zurechtkam als mancher Mitbewerber deutscher Abkunft, faßte die Einbürgerung zunächst als Pflichtübung auf. Doch inzwischen bedeutet sie ihm mehr: „Das Gefühl ftir das Land ändert sich", entdeckte der sonst so coole Typ, „du trägst Verantwortung, du hast das Wahlrecht."

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In diesem und in allen folgenden Arbeitstexten geben Zahlen in eckigen Klammem die Seitenangaben der Originalausgabe an.

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War er früher zwischen deutscher Existenz und türkischer Nationalität [47] hin- und hergerissen, so ist er nun „aus dieser Polarität heraus". Er fühle sich, beschreibt es Sertbas, jetzt „mehr in der Mitte". Genau das ist konservativen Staatsrechtlem und Politikern suspekt. Ein Halb-undhalb-Bürger - geht das? Die „Mehrstaatigkeit", behauptet der innenpolitische Sprecher der Bonner Unionsfraktion, Erwin Marschewskl, verstricke die Menschen in einen „Widerstreit von Pflichten und Rechten". Alles halb so schlimm. Viel problematischer findet der Berliner Student Engin Zeyrck, 24, die Zumutungen, die deutschen Türken mit nur-türkischer Staatsbürgerschaft drohen. Zeyrek stellt sich vor, daß so ein in Deutschland aufgewachsener „Türke von vielleicht 35 Jahren, mit zwei, drei Kindern und einem Wohlstandsbauch, in der Türkei Militärdienst leisten soll". Bei „Doppelstaatem", wie sie in deutscher Amtssprache heißen, ericennt der NatoStaat Türkei hingegen die Ableistung des deutschen Wehr- und Zivildienstes an. Sie können gefahrlos Onkel und Tante am Bosporus besuchen. Die Chance des Sowohl-als-auch: Gerade das, findet der Hamburger Medienstudent Erinc Ercan, Doppelbürger wie Zeyrek, bringe die Integration von Menschen voran, die in Gefahr gerieten, zu Außenseitern, zu „Menschen zweiter föasse" gestempelt zu werden. Wie akut die Gefahr ist, mußten gerade Türken in den letzten Jahren erleben. Die Brand- imd Mordanschläge auf Türken in Mölln, Solingen und anderswo haben die Landsleute im Lande erschreckt. Der Hamburger Ingenieur Tunay Tiryaki, 26, der ebenfalls die doppelte Staatsbürgerschaft besitzt, ist über „die Ereignisse", wie er die Anschläge umschreibt, tief deprimiert. Der Informatiker, der vier Jahre lang am Aufbau eines Computersystems für eine Versicherung mitwirkte und jetzt bei einem ähnlichen Bank-Projekt angefangen hat, fühlte sich in Deutschland stets wohl. Er wisse nicht mal, sagt Tiiyaki, „was Computer-Festplatte auf türkisch heißt". Die Einbürgerung bedeutete ihm einen Schutz vor Ausgrenzung: „Man grenzt sich in die Gesellschaft ein." Doch plötzHch ließen deutsche Freunde und Mitspieler beim Fußballverein nach ein paar Glas Bier ihre „radikalen Sichtweisen" heraus, so Tiiyaki. Und im Hamburger Problemstadtteil Wilhelmsburg, wo der Aufsteiger noch bei den Eltern in einem Hochhaus wohnt, wählte „fast jeder zweite rechtsradikal, angeblich, weil es ihm so schlecht geht - aber ich glaub' nicht daran". Das alles, sagt Tiryaki, „trifft einen hart". Andere schieben die Bedrückung beiseite. So tröstet sich Gymnasiast Günay Ates, 19, im schwäbischen Böblingen damit, daß dort „auch Deutsche angemacht wurden, wenn sie hnks aussahen". Er selber, deutsch-türkischer Doppelbürger, blieb unbehelligt.

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Selbstbewußt reagiert Metin Gül, 25, der bei der Hamburger Werft Blohm + Voss als Anlagenmechaniker arbeitet. „Hör zu, Baby, ich bin Deutscher", würde er entgegnen imd Rassisten „schon ein paar Takte erzählen". Aber in seinem Bekanntenkreis von Gewerkschaftern imd Sozialdemokraten - Gül [50] war der erste Türke im Hamburger Juso-Landesvorstand - gehe es sowieso ordentlich zu, sagt er, wie meist „im sozialen Leben Deutschlands mit der Freizügigkeit, der Versicherungskarte imd dem geregelten Beschwerderecht". „Ich lebe hier, ich wähle hier, ich bin jetzt ruhiger", sagt Werftarbeiter Gül. Die Türken der zweiten Generation im Land „sprechen besser Deutsch als ihre Eltern, sie sehen in Deutschland mehr eine Heimat als in der Türkei". Wer dann immer noch als Ausländer endlose Formulare ausfiillen oder als Schüler bei Klassenreisen in Nachbarländer Visa beantragen müsse, sagt Gül, „macht das innerlich nicht mit". Der Architekturstudent Ahmet Uslu, 28, treibt das staatsbürgerliche Doppelleben so weit, daß er auch mit Türken zweisprachig redet; türkisch, weim es lebhaft zugeht, „gefiihlsbetont mit vielen Gesten"; deutsch bei Sachdebatten, wenn „differenziert und analytisch" argumentiert wird. Reist Uslu mit deutschen Freunden aus seiner Heimatstadt Hamburg in die Türkei und türkische Freunde dort amüsieren sich über die gestenarme Sprache der Besucher, dann weist er sie zurecht: So sei es eben die Art da oben. Die da oben, in Deutschland, haben sich - von Ausnahmeregelungen abgesehen bislang nur zum Koalitionskompromiß einer doppelten „Kinderstaatszugehörigkeit" entschließen können, die aber mit der Volljährigkeit aufgegeben werden muß. Doch auch in der Union finden sich einzelne Befiirworter einer großzügigeren Einbürgerung. Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen erklärte, hier geborenen Türken, die oft „besser berlinern als die Berliner", müsse durch die doppelte Staatsbürgerschaft geholfen werden. Denn deren Familien machten ihnen meist Schwierigkeiten, wenn sie die türkische Staatsangehörigkeit aufgäben. Ahnlich sieht es der Stuttgarter Kollege Manfred Rommel. Die hartnäckigsten Gegner einer Einbürgerungsreform sitzen in der CSU. Selbst mit Ausnahmeregelungen zugunsten welupflichtiger Türken, wie zum Beispiel im Falle des Hamburgers Sertbas, geizen die Bayern. Die Bayern-Union verteidigt das noch aus dem Kaiserreich stammende Blutsrecht, das ius sanguinis, das die Abstammung von deutschen Vorfahren privilegiert, selbst bei Kindeskindem früherer Auswanderergenerationen. Mit dem deutschen Paß gingen die Deutschen so stets großzügig bei eigenen Auswanderern nach Amerika und bei den Blutsverwandten in Osteuropa шп - selbst wenn das zur Doppelstaatsbürgerschaft führte. Umgekehrt geht es mit dem Doppel-Status schnell, wenn der Gastbürger dem Gastland Vorteile verspricht. Als vor Jahren die ersten sportlichen Erfolge des Türken Oktay Urkal, 25, in die Zeitungen gelangten, erhielt der in Berlin geborene Boxer 1992 gleich in der ersten Runde die deutsche Staatsbürgerschaft zusätzlich.

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Mittlerweile boxte sich Urkal im Halbweltergewicht bei den Amateuren zum Deutschen Meister, zum Vizeeuropameister und Weltcupsieger hoch. Als Soldat bei der Bundeswehr, unsere Jungs sind halt Spitzenklasse, holte er den Titel als MilitärWeltmeister. Würde er für die Türkei boxen, erklärt Urkal, „wäre ich längst ein reicher Mann". Arm dran war dagegen Urkals Vater, der sich nicht mit der Doppelstaatsbürgerschaft schmücken kann. Nach 25 Jahren als Tischler in Berlin wurde er von der Ausländerbehörde des Landes verwiesen. Grund: Er hatte sich in einem Jahr länger als sechs Monate zu Besuch in der alten Heimat aufgehalten. Wer so lange abwesend ist, das sind die Regeln, fliegt raus aus Deutschland. Der sehr deutsche Streit darum, wie man ein ordentlicher Deutscher wird, scheint festgefahren: Die „Hinwendung zu Deutschland", so heißt es in den Einbürgerungsrichtlinien, sei Voraussetzung für die eine, unteilbare deutsche Staatsbürgerschaft. Genau anders herum argumentieren die anderen: Die erleichterte Einbürgerung fordere die „Hinwendung" der Fremden zum neuen Heimat- und erst recht ihrer Kinder zum Geburtsland. Der von den Deutschen geforderte Verzicht auf die Staatsbürgerschaft der Eltern aber wird für die Einbürgerung vieler Türken zur schwer überwindbaren Hürde. Es gehe weniger darum, daß die Türken dann etwa ihr Erbrecht in der Heimat verlieren, sagt der eingedeutschte Grünen-Abgeordnete im Bundestag Cem Özdemir. Vielmehr furchten die Leute, „damit ihre Herkunft zu verraten". Zumindest werfen das die Eltern ihren Kindern vor, 62 Prozent der Türken in Deutschland, so ergab eine Umfrage, würden das Angebot einer Doppel-Staatsbürgerschaft nutzen. Die Türkei, erklärt Werftarbeiter Gül, „kann ich innerlich nicht ausschließen". Und Gymnasiast Ates, gebürtiger Schwabe, der Vater Mercedes-Arbeiter, die Eltern aus Usak östlich von Izmir, verspürt „von beiden Kulturen etwas, aber nicht von einer alles". Solche Argumente säen Mißtrauen nicht nur bei konservativen Dogmatikem. Manche aufgeklärten Geister wittern eine Vermischxmg politischer und völkischer Gedanken, „Ethnizismus im multikulturellen Gewand", wie die Berliner Soziologin Sonja Margolina in der Tageszeitung schrieb: „Hinter den Türken, ob sie das wollen oder nicht, steht der türkische Obrigkeitsstaat." Die Göttinger Turkologin Irina Wießner hadert mit der „geringschätzigen Meinung, die ein äußerst großer Teil der türkischen Volksgruppe von ihrer deutschen Umgebung" habe. Keine andere Gruppe bereite derartige Integrationsprobleme. Wießner warnt, türkische Nationalisten, Kurdenfeinde und Islamisten wollten „über eine doppelte Staatsbürgerschaft und das deutsche [53] Wahlrecht Einfluß nehmen auf die deutsche Außenpolitik". Die Warnung ist in Bonn angekommen. CSU-Politiker Carl-Dieter Spranger, Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, sorgt sich, die islamische Kultur friedlicher Moslems diene Fundamentalisten womöglich als „das Wasser, in dem die Fische schwimmen". Auch Bundestagsvizepräsident Hans-Ulrich

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Klose (SPD) sprach von der Gefahr, die einer „durch die Aufklärung geprägten Kultur von Seiten der Fundamentalisten droht". Experten fordern, die Koranschulen der Schulaufsicht zu unterstellen. Der Debatte weichen eingebürgerte Türken, die sich zur aufgeklärten Gesellschaft zählen, nicht aus. Sie beobachten selber mit Unbehagen, daß in manchen Moscheen viel Geld für fundamentalistische Zwecke in der Türkei gesammelt wird. „Wenn die Religion für die Menschen einflußreicher wird als das eigene Leben", sagt ein Student, „schwinden die Skrupel." Die Behörden müßten genauer hinsehen, meint ein anderer, „damit sich Fundamentalismus nicht ausbreitet", auch wenn das wie eine Einschränkung der Freiheit aussehe. In Wahrheit, so sagt er, beeinträchtige eine Ausbreitung der islamischen Militanz „die Freizeit der Mehrheit". Für den deutsch-türkischen Grünen Özdemir ist das ein Grund mehr, die Integration der Türken in Deutschland voranzutreiben - auch über die Brücke der doppelten Staatsbürgerschaft. Er findet Unterstützung bei liberalen Experten. Die umkämpfte Einwanderung habe doch längst stattgefunden, nur würden ihre „Folgen gesellschaftlich und politisch in diesem Land nicht verarbeitet", bemängelt der Hamburger Rechtsprofessor Helmut Rittstieg. „Menschen, die sich allein gelassen fìihlen", fügt Özdemir hinzu, drohten „in nationalistische und islamistische Fahrwasser abzudriften". Streit gibt es jedoch um die Pläne der SPD-Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, in den weiterführenden Schulen islamischen Religionsunterricht anzubieten. Die Lektionen könnten nach Ansicht vieler Experten von Fundamentalisten unterwandert werden. Der Islam-Unterricht, fordert ein Kommunalpolitiker im westfälischen Bielefeld, müsse daher Lehrern „überlassen bleiben, die hier gelebt imd studiert haben". Der Bielefelder Politiker, Bürgermeister aus den Reihen der Grünen, weiß, wovon er spricht. Sein Name ist Mehmet Kilicgedik - auch er hat einen türkischen und einen deutschen Paß.

Quelle: „Das Gefiihl ändert sich"; in: Der Spiegel 12 /1995, S.44-53.

Arbeitstext 2: „Ethnische Differenzierung und moderne Gesellschaft" (Hartmut Esser) [235] Zusammenfassung: Die traditionelle Theorie moderner Gesellschaften hatte das Verschwinden von askriptiv bedingten Differenzierungen (von denen die ethnische Differenzierung eine ist) behauptet. In neueren Diskussionen wird das Entstehen askriptiver Vergemeinschaftungen geradezu als Folge von Modernisierung be-

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hauptet Der Beitrag beabsichtigt zu zeigen, daß sowohl die klassische wie die neuere Diskussion einige spezielle Annahmen machte, wobei unter dem Begriff „Modernisierung" jeweils Unterschiedliches verstanden wurde. Differenziert man die zentralen Einzel-Variablen, so lassen sich die scheinbar bestehenden Anomalien des einen oder des anderen Modells im Rahmen eines integrierenden Erklärungsansatzes (relativ leicht) auflösen.

1. Das Problem Die Moderne ist - wir wissen es seit einiger Zeit - nicht (mehr) das, was sie hatte einst sein sollen. Auch die soziale Ungleichheit hat sich anders entwickelt, als klassische und weniger klassische soziologische Theorie angenommen hatten. Die Gegenwartsgesellschaft erlebt einerseits Ent-Dififörenzierungen, Re-Partikularisierungen und das Aufleben askriptiver Grenzen und Bindungen, wie andererseits - auch weit entfernt von einer Auflösung materieller Ungleichheiten - , daß sich anscheinend die Ungleichheiten immer mehr vervielfältigen, überkreuzen, neu bilden und (wie manche meinen) bis zur Unkenntlichkeit „individualisieren". Dieses Nebeneinander von Auflösung und Neubildung, Kumulation imd Überkreuzung von Differenzierungen und Bindungen, von Standardisierung und Idiosynkrasie von Einstellungen und Handeln, von Partikularismus und egalitärer Teilhabe an Chancen wie Geföhrdungen ist es, was die Lebenswelt der einzelnen wie den theoretischen Zugriff der Soziologie derzeit so verwirrt (vgl. dazu z.B. Beck 1986; sowie verschiedene Beiträge bei Kreckel 1983 oder bei Giesen und Haferkamp 1987). Die Soziologie der ethnischen Minderheiten ist hiervon gewiß nicht ausgenommen. Sie bietet - ganz im Gegenteil - vielleicht auch deshalb ein besonders verwirrtes Bild, als sie es immer schon schwer hatte, sich in makrosoziologische Theoriestücke einzufügen, die auf relativ grobe Weise Strukturen mit Entwicklungstendenzen verbinden wollten. Ethnische Gruppen waren nie nur jeweils bloße kulturelle oder ständische Milieus oder spezielle Ausprägungen von „Klassenlagen". Kulturkontakte wiesen immer schon jene typische Ambivalenz des Universalismus als Folge des Erlebens der Relativität sozialer Regelungen imd des Partikularismus als Folge der Verunsicherung in einer fremdartigen Umgebung auf. Ethnische Orientierungen überkreuzten überall andere Interessenlinien und führten so zu einer Zersplitterung von Konfliktfronten, ebenso wie sie (oft gleichzeitig) die Mobilisienmg zuvor unveibundener Unzufriedenheiten ermöglichten und auf diese Weise manchem Konflikt erst auf die Beine halfen. Die Pikanterie des Themas hätte bis vor kurzem noch darin gelegen, daß ethnische Differenzienmgen (als spezielle Variante der gesellschaftlichen Positionienmg von Minderheiten) mit den Konstitutionsbedingungen modemer Gesellschaften für unvereinbar angesehen worden wären. Wie tief verankert dieses Bild nach wie vor ist, mag man z.B. den Diskussionen um das Problem der sogenannten neuen sozialen Ungleichheiten entnehmen, bei denen es im wesentlichen um die Frage zu gehen scheint, ob es sich wirklich um „neue", nur neu entdeckte, neuerdings nur etwas relevanter gewordene oder lediglich um (unbeachtliche) Varianten der alten Ungleichheiten „Diesseits von Stand und Юasse" (Strasser 1987) handelt (vgl. dazu

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auch König 1985). Und völlig unverständlich ist diese Ansicht nicht: Eine Kumulation von materiellen imd ständischen Ungleichheiten, verfestigt durch externe Grenzziehung und Schließung wie durch internen Partikularismus und soziale Kontrolle, imd alles dies auf der Basis von askriptiven Merkmalen, scheint schwerlich etwas anderes als ein „Relikt" oder eine „Anomalie" einer Gesellschaft bzw. soziologischen Theorietradition sein zu können, die auf Durchlässigkeit, funktionaler Differenzierung, Mobilität, formaler Gleichheit, individuahsierten Interessen imd universalistischen Wettbewerb gegründet ist. Und lange genug ist auch die Erosion aller ständischen Bindungen und der Übergang wenigstens in eine „nur" nach „objektiven" Chancen differenzierende Юassen- oder [236] Schichtengesellschaft für das Voranschreiten der Moderne behauptet und vorhergesagt worden. Die bisherige historische Entwicklung ist indessen ganz offenkundig anders verlaufen (vgl. dazu u. a. Geser 1981: 175f ). Im Allgemeinen: Statt Übergang zur Klassen- oder Schichtengesellschaft (oder gar: zur egalisierenden Mittelstandsgesellschaft) finden wir neue Varianten von Ungleichheiten, die quer zu den alten Linien verlaufen. Wir beobachten neue Schließungen, Spaltungen und afunktionale Bevorzugungen (z.B. auf dem Arbeitsmarkt oder in den Wohlstandstransfers). Und wir erkennen neue Askriptionen, an die man zuvor weder hat denken können (wie z.B. die askriptiven Wirkungen von Bildungszertifikaten und „weak ties" bei der Vergabe von beruflichen Positionen), noch mit ihnen so gerechnet hat (wie z.B. die Folgen der Massenmigrationen der 60er und 70er Jahre in die Städte der westeuropäischen Länder). Im engeren Sinne: Ethnische Bewegungen, Regionalismus und militanten Separatismus hat es kaum jemals in stärkerem und vielfältigerem Ausmaß gegeben als derzeit. Von einer Auflösung ethnisch systematisierter Schichtungen kann nicht nur keine Rede sein - man muß eher von ihrer Verstärkung und ihrer Verfestigung (u. a. angesichts des knapper gewordenen Verteilungsspielraums) ausgehen. Mit anderen Worten: die vorzufindende Wirklichkeit widerspricht der traditionellen Theorie modemer Gesellschaften offensichtlich in eklatanter Weise. Dieser Widerspruch ist der Gegenstand der folgenden Überlegungen. Zunächst soll das traditionelle Modell des Verhältnisses ethnischer Differenzierungen zum Konzept der modernen Gesellschaft noch etwas detaillierter dargestellt werden. Dann sollen einige Ericlärungen für die das Modell wideriegenden Anomalien zusammengestellt und kommentiert werden. Drittens sei schließlich eine Modifikation sowohl des traditionellen Modells wie der neueren Deutungen diskutiert, wonach ethnische Differenzierungen geradezu Produkt und Voraussetzung modemer Gesellschaft seien. Diesen Ansätzen wird dann ein (sehr vereinfachtes) Ablaufsmodell entgegengesetzt, das die theoretisch unfhichtbaren und widersprüchlichen Versuche vermeiden soll, jeweils bestimmte typologische Merkmale von Gesellschaftsstrukturen gewissermaßen naturwüchsig miteinander zu verbinden. Stattdessen soll skizziert werden, wie und warum „Modemisierung" auf erklärbare Weise jeweils unterschiedliche Implikationen für die Herausbildung ethnischer Differenzierungen haben konnte, wie gleichzeitig ethnische Differenzierungen im Verlaufe der Entwicklung modemer Gesellschaften jeweils ganz imterschiedliche Wirkimgen und „Funktionen" entfalten (körmen) und es somit eine einfache und eindeutig-stabile Zuordnung der beiden Phänomene nicht geben kann (Abschnitt 4). [...]

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4. Zum Wandel der Bedeutung ethnischer Differenzierungen im Prozeß der Modernisierung [243] Die Untersuchung des Verhältnisses zwischen ethnischen Differenzierungen und modernen Gesellschaften hatte ein aus theoretischer Sicht sehr unerfreuliches Ergebnis gebracht. Zwei theoretische Мефге1а11опеп stehen sich nahezu kontradiktorisch gegenüber: die herkömmliche ftmktionalistische Theorie der Modernisierung behauptet die Einebnung ethnischer Differenzierungen, die „neue" 1тефге1аtion gibt eine Vielzahl von Begründungen, daß ethnische Stratifikationen und Bewegungen geradezu die unausweichliche und naturwüchsige Folge des Modemisierungsprozesses seien. Diese Situation ist insofern unbefriedigend, als es durchaus auch Indikatoren für die Richtigkeit der traditionellen Inteφretation gibt: Modernisierung bedeutet immer schon auch Standardisienmg und „Individualisierung", die Aus- [244] höhlung traditioneller kultureller Verhaltensweisen und - last not least auch die spurenlose Assimilation von zuvor vorhandenen kulturellen Differenzierungen. Andererseits ist aber auch nicht zu übersehen, daß in den „neueren" Deutungen des Verhältnisses von Modernisierung und ethnischen Differenzierungen diese Differenzierungen einen anderen Bedeutungsgehalt bekommen: es sind (mehr oder weniger) Reaktionen auf Folgeprobleme von Modemisierungsprozessen, bei denen jeweils genau untersucht werden muß, ob es sich um transitorische oder dauerhafte bzw. „prinzipielle" Folgen handelt. Beispielsweise könnte man annehmen, daß die mit Modernisierung einhergehende Mobilisierung und die darauf folgenden Orientierungsprobleme vorübergehender Natur sind und die entdiflferenzierenden ethnischen Reaktionen entsprechend dann aufhören, wenn sich auch die Orientierungsprobleme (z.B. aus der Migrationssituation) verringert haben. Solche Vorgänge lassen sich z.B. an Prozessen der „Assimilation" von Migranten im Generationenverlauf gut ablesen. Zweitens muß man festhalten, daß die (im letzten Abschnitt beschriebenen) Prozesse der Stratifikation, auf denen dann auch die reaktiven kollektiven Mobilisierungen beruhen, gerade nicht eine Folge von Modernisierung im Siime funktionaler Differenzierung sind, sondern eine solche der ungleichen Entwicklung und der damit einhergehenden - relativen wie absoluten - Deprivationsunterschiede. Lediglich für die Bedingungen einer über ethnische Linien hinweg möglichen Mobilisierung kollektiver Bewegungen gibt es eine unmittelbare, auch theoretisch systematisch begründbare Verbindung zu Modemisierungsprozessen in der „funktionalen" Bedeutung: Urbanisierung, Massenkommunikation, large scale organizations u. a. sind die technische Voraussetzung zur Überwindung der Isolation der „Parzellenbauem", zur Lösung des freerider-Problems bei der Organisation einer kollektiven Bewegung. Und insofern wären kollektive ethnische Mobilisierungen in der Tat auch eine recht unmittelbare Folge von Modernisierung als fimktionale Differenzierung selbst. In den bisherigen Überiegungen war davon ausgegangen worden, daß die Egalisierung oder auch die Verschärfimg ethnischer Differenzierungen jeweils immer nur eine Folge des Modernisierungsprozesses sei. Zu bedenken wäre jedoch auch die Hypothese, daß ethnische Differenzienmgen (mindestens zu gewissen Phasen) den Modemisiertmgsprozeß selbst ermöglichen bzw. tragen. [...]

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Man könnte nun vermuten, daß gerade die „mobilisierenden" Folgen von Modemisierungsprozessen (sei es über Migrationen oder über „nation building") imd die damit einhergehenden Folgen der ethnischen Überkreuzung von auch bereits bestehenden Klassenspaltungen für einen im kollektiven Ergebnis sogar überlastungsarmen Prozeß der „sozialen Ausdiflferenzierung" sorgen. [...] [245] Aufgrund der o. a. Überlegungen könnte man nunmehr das folgende einfache idealtypische Modell des Ablaufs des Wandels der Bedeutung ethnischer Differenzierungen im Prozeß der Modernisierung zusammenfassen (ohne damit auch eine Darstellung des tatsächlichen historischen Ablaufs geben zu wollen). Ethnische Identifikationen und Vergemeinschaftungen sind unter Bedingungen feudalistischer Segmentation imbekaimt. Erst mit dem Verlassen der segmentaren Lebensbeziehungen können „Schicksale" erlebt werden, die die Grenzen der segmentaren Abschließung transzendieren und zu einer entsprechenden Re-Definition von Zusammengehörigkeiten genutzt werden (wie z.B. Max Weber verdeutlicht hat). Insofern bedeutet Modernisierung (als Industrialisierung, Urbanisierung imd Ökonomisierung, aber auch als „nation-building") in ihrer ent-segmentierenden Wirkung in der Tat zunächst: Schaffung der Voraussetzungen für ethnische Differenzierungen. Mit diesen Prozessen ist allerdings eine diese Differenzierungen überlagernde Gegenbewegung zu erwarten: die Gemeinsamkeit in der „Юassenlage". Karl Marx hatte diese im Verlauf von „Modernisierung" sich abzeichnende Gemeinsamkeit als die zentral bestimmende und schließlich sich auch durchsetzende Entwicklung angesehen und (folgerichtig) ethnische Differenzierungen, lediglich als retardierende Elemente der sich zuspitzenden Klassengegensätzlichkeiten verstanden. Für Max Weber waren ethnische Segmentationen Ausdruck einer „zurückhängenden" Rationalisierung gesellschaftlicher Prozesse. Funktionalistische Theorie betont (beispielsweise ausgehend von Dürkheims Konzept der „organischen Solidarität") die Zunahme von latenten Interdependenzen der verschiedenen Teilsysteme, die entsprechende politische imd soziale Konsequenzen der Egalisierung imd Öffnung nach sich ziehen müßten. Und in der Tat läßt sich Modernisierung in diesem Sinne durchaus auch historisch mindestens in Teilaspekten so nachverfolgen: als Ausbreitung von formalen Gleichheitsrechten, Massenkommunikation und „öffentlicher Meinung", als Zunahme von Kompetenzen und formaler Öffnung der Positionszuweisung. Schließlich konnte der Eindruck einer abnehmenden Bedeutung ethnischer Differenzierungen im Verlaufe von Modemisierungsprozessen durch die Geschichte der Entwicklung der Vereinigten Staaten von Amerika entstehen, die (bis auf das Beispiel der Farbigen) geradezu durch die Neutralisierung (und nicht: durch die ethnische Organisation) von Klasseninteressen durch deren ethnische Überkreuzung gekennzeichnet ist. Zusammengefaßt: die in den frühen Phasen der Industrialisierung sich zuspitzenden Klassenwidersprüche, die nicht ganz unplausible Vermutung, daß ethnische Organisationen lediglich kurzzeitige Reaktionen auf aktuelle Orientierungsprobleme seien, und das historische Beispiel der multiplen Überkreuzung ökonomischer und ethnischer Dimensionen und die schließliche Assimilation vor allem der europäischen Einwanderer in der am [246] stärksten „modernisierten Gesellschaft" (den Vereinigten Staaten) konnten in der Tat empirische Belege fiir die Vermutungen der traditionellen Theorie der Modernisierung abgeben. An dieser Stelle kann auch das

Der soziologische Blick

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0. a. „funktionale" Argument eingebracht werden: multiple ethnische Überkreuzungen mit Юasseπinteressen (wie in den Vereinigten Staaten) waren möglicherweise sogar die Voraussetzung dafür, daß dort der Modemisierungsprozeß im kollektiven Resultat (keineswegs: im individuellen Erleben) überlastungsarmer vonstatten gehen konnte als dieses in Europa möglich war. [...] Damit wäre die Hypothese (nicht: das teleologische Ziel!) formuliert, daß mit einer (mindestens: denkbaren) Auffüllung der Modemisierungs-Lücken auch die (systematischen) Grundlagen für systematische xmd dauerhafte ethnische Mobilisierungen entfallen. Anders gesagt: Solange „Modernisierung" nicht funktionale Differenzierung, sondern die Entwicklung eines ungleichgewichtigen Systems von ökonomischer Entwicklung, imperialistischer Formen der Nationalstaatenentwicklung, ungleicher Durch-Kapitalisierung durchaus auch im Sinne der „Ausbeutung" immer weiterer Regionen der Welt u. a. bedeutet, solange ist damit zu rechnen, daß die mit „Modernisierung" entstandenen Mobilisierungsvoraussetzungen auch zur Reaktion auf diese Ungleichgewichte benutzt werden. Der Eindruck der „Widerlegung" der traditionellen Theorie konnte also nur dadurch entstehen, daß man die Bedeutung von „Modernisierung" unter der Hand veränderte. Und es ist selbstverständlich ein fundamentaler Unterschied, ob Modernisierung „funktionale Differenzierung" oder etwa die ungleichgewichtige und ausbeuterische Durch-Kapitalisierung der Peripherie der Welt bedeutet. [...] Für diesen Typus tatsächlich funktional differenzierter, nun endgültig „moderner" Ge- [247] sellschaft entfallen indessen die objektiven Grundlagen fiir dauerhafte ethnische Vergemeinschaftungen und für systematische ethnische Mobilisierungen letztendlich. [...] Als nostalgische Moden, als professionelle Nischen und als kulturelle Ideosynkrasien mag es ethnische Bewegungen und Differenzierungen daim gerade auch in der „entfalteten" Moderne geben, von denen man oberflächlich betrachtet sagen könnte, sie entwickelten sich „motivfrei", „autopoietisch", also gewissermaßen aus dem Nichts heraus von selbst. Aber das sind nicht die ethnischen Vergemeinschaftungen, von denen Weber oder Park ausgingen oder die z.B. derzeit in Nordiriand oder den Ländern der Dritten Welt beobachtet werden, in denen „Modernisierung" meist alles andere als vollzogene funktionale Differenzierung mit sich gebracht hat. Oder noch anders gesagt: Einen dauerhaften Sinn des Lebens oder den der Geschichte wird man nur eine recht kurze Zeit lang auf dem Kiez in Kreuzberg wiederfinden körmen.

Zitierte Literatur: Beck, U., 1986: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Durkheim, E., 1893: De la division du travail social. Paris: P.U.F. Geser, H. 1981: Einleitung: Der „ethnische Faktor" im Prozeß gesellschaftlicher Modernisierung. Schweizer Zeitschrift für Soziologie 7:165-178.

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Soziologisches Propädeutikum

Giesen, B. und H. Haferkamp (Hrsg.), (1987): Soziologie der sozialen Ungleichheit. Opladen: Westdeutscher Verlag. König, R., 1985: Der Wandel in der Problematik von sozialen Klassen und Minoritäten. S. 11-28 in: St. Hradil, (Hrsg.). Sozialstruktur im Umbruch, Opladen: Westdeutscher Verlag. Kreckel, R. (Hrsg.), (1983): Soziale Ungleichheiten, Sonderband 2 der Sozialen Welt. Göttingen: Schwarz. Marx, K., 1953: Manifest der Kommunistischen Partei. S. 525-560 in: S. Landshut (Hrsg.), Karl Marx. Die Frühschriften. Stuttgart: Kröner. Paik, R. E.,1950: Race and Culture. Glencoe, III.: Free Press. Strasser, H., 1987: Diesseits von Stand und Klasse: Prinzipien einer Theorie der sozialen Ungleichheit. S. 50-92 in: B. Giesen, und H. Haferkamp (Hrsg.), Soziologie der sozialen Ungleichheit. Opladen: Westdeutscher Verlag. Weber, M., 1969: Die protestantische Ethik (hrsg. Von J. Winckelmann). 2. Aufl. München und Hamburg: Siebenstern. Weber, M., 1972: Wirtschaft und Gesellschaft. 5. Aufl., Tübingen: Mohr-Siebeck.

Quelle: Hartmut Esser (1988): „Ethnische Diflerenzierung und moderne Gesellschaft"; in: Zeitschriftfür Soziologie, Jg. 17, Heft 4, S.235-248.

Exkurs: Wie verständigen wir uns in der Wissenschaft?

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2.2. Exkurs : Wie verständigen wir uns in der Wissenschaft? Da sich soziologische Aussagen aus der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der sozialen Wirklichkeit ergeben, unterscheiden sie sich im Ergebnis oft von alltagsweltlichen Betrachtungsweisen. Neben den zum Verständnis der sozialen Wirklichkeit herangezogenen Begriffen, Theorien und Methoden zeichnet sich die Eigenart des „soziologischen Blicks" auch durch die Kommunikationsstandards aus, die in der Wissenschaft allgemein üblich sind. Aus diesem Grund halten wir an dieser Stelle einen Exkurs über die Besonderheiten wissenschaftlicher Verständigungsprozesse ftir notwendig.^^ Die Aufgabe wissenschaftlicher Forschung besteht darin, Erkenntnisse über die Welt, in der wir leben, zu erarbeiten und dabei auch auf Irrtümer und Fehlschlüsse hinzuweisen. Wissenschaft ist demnach darauf ausgerichtet, die Überzeugungen zu übeφrüfen, die wir in der alltäglichen Auseinandersetzung mit (sozialer) Wirklichkeit gewonnen haben. Die Ergebnisse solcher Überprüñmgen und Kontroversen bilden den jeweils gegenwärtigen „Stand des Wissens". Da dieser aber stets als vorläufig betrachtet wird, kann wissenschaftliche „Wahrheit" immer nur auf Zeit Bestand haben. Max Weher (1864-1920) hat diese Einsicht in seiner berühmten Rede „Wissenschaft als Beruf deutlich zum Ausdruck gebracht: „Ein Kunstwerk, das wirklich .Erfüllung' ist, wird nie überboten, es wird nie veralten; der Einzelne kann seine Bedeutsamkeit für sich persönlich verschieden einschätzen; aber niemand wird von einem Werk, das wirklich im künstlerischen Sinne .Erfüllung' ist, jemals sagen können, daß es durch ein anderes, das ebenfalls ,Erfüllung' ist, ,überholt' sei. Jeder von uns dagegen in der Wissenschaft weiß, daß das, was er gearbeitet hat, in 10, 20, 50 Jahren verahet ist. Das ist das Schicksal, ja: das ist der Sinn der Arbeit der Wissenschaft, dem sie, in ganz spezifischem Sin25

Zur vertiefenden Lektüre sei hier empfohlen: Meehan, Eugene J. (1992): Praxis des wissenschamichen Denkens: Ein Arbeitsbuch für Studierende, Reinbek: Rowohlt. Ruggiero, Vincent R. (1996): A Guide to sociological thinking, London: Sage

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Soziologisches Propädeutikum

ne gegenüber allen anderen Kulturelementen, fur die es sonst noch gilt, unterworfen und hingegeben ist: jede wissenschaftliche ,Erfullung' bedeutet neue ,Fragen' und will »überboten' werden und veralten. Damit hat sich jeder abzufinden, der der Wissenschaft dienen will. Wissenschaftliche Arbeiten können gewiß dauernd, als ,Genußmitter ihrer künstlerischen Qualität wegen, oder als Mittel der Schulung zur Arbeit, wichtig bleiben. Wissenschaftlich aber überholt zu werden, ist — es sei wiederholt — nicht nur unser aller Schicksal, sondern unser aller Zweck. Wir können nicht arbeiten, ohne zu hoffen, daß andere weiter kommen werden als wir."^*^ Wissenschaft unterscheidet sich von anderen Formen, Aussagen zu begründen, weil sie Ansichten und Weltdeutungen nicht absolut setzt, sondern zur Diskussion stellt. Auch wenn sich im WissenschaftsaUtag einzelne Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nicht entsprechend dieses Idealbildes verhalten, wirkt es doch insgesamt als Regulativ des Wissenschaftsdiskurses. Es widerspricht den Prinzipien wissenschaftlichen Denkens, Ansichten und Weltdeutungen dadurch zu begründen, dass man sie beharrlich als „Wahrheit" bezeichnet oder sie unter Verweis auf eine naturgegebene bzw. eine durch Autoritäten begründete Einsicht absichert. Wissenschaft ist in dieser Hinsicht grundlegend von Religionen und Weltanschauungen unterschieden: Sie kann und will unseren Überzeugungen keine letzte Sicherheit verschaffen, sondern lediglich gute Gründe erarbeiten, die es rechtfertigen, gemäß dem aktuellen Wissensstand eine Auffassung einer anderen vorzuziehen - oder eben nicht. Dieses Charakteristikum ist in der Wissenschaftsgeschichte besonders an dem weithin bekannten Beispiel Galileo Galileis (1564-1642) offensichtlich geworden. Dieser brachte in seinen Schriften Argumente fur die Geltung des kopemikanischen Weltbildes vor, in dem die Erde einer unter mehreren Planeten ist, die um die Sonne kreisen. Damit verwarf er den von der römisch-katholischen Kirche akzeptierten Wissensstand, demzufolge die Erde im Mittelpunkt des Universums stand. Während die Kirche sich in ihrer Verwerfung des neuen Weltbildes auf eine ihr heilige Autorität, nämlich eine Textstelle in der angeblich Weber, Max (1988):Wissenschaft als Beruf [Erstauflage: 1919]; in: ders., Gesanunelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7. Aufl. Tübingen: Mohr, S.582-613, hier S.592.

Exkurs: Wie verständigen wir uns in der Wissenschaft?

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irrtumsfreien Bibel, berief, war für Galilei der Streit um das Weltbild keine Glaubensfrage, sondern eine Frage wissenschaftlicher Wahrheit. Er hätte wohl keine prinzipiellen Probleme damit gehabt, wenn er aufgrund neuester empirischer Ergebnisse sein Weltbild nach 20 Jahren noch einmal hätte korrigieren müssen. In den nachfolgenden Kapiteln 2.3 und 2.4 werden wir ausführlich darauf eingehen, durchweiche Inhalte die erfahrungswissenschaftliche Soziologie gekennzeichnet ist und wie sie sich dadurch von anderen Formen der Meinungsbildung über die sozialen Aspekte des Lebens unterscheidet. An dieser Stelle geht es allein darum, Wissenschaft als einen Kommunikationsprozess zu begreifen, der einem besonderen Prinzip veφflichtet ist, nämlich dem Prinzip der argumentativen Verständigung. Das bedeutet, dass die Auffassungen, zu denen ein Wissenschaftler bezüglich eines Aspektes der Wirklichkeit gekommen ist, vor der „scientific community" mit Argumenten gestützt werden müssen. Diese Argumente werden in der Gemeinschaft der Wissenschaftler auf ihre Stichhaltigkeit geprüft, was häufig zu Kontroversen führt, in denen unterschiedliche Ansichten einander gegenübergestellt werden. Ein Argument (lat. argumentum „Veranschaulichung", Darstellung, Beweismittel) wird im Allgemeinen als Teil eines Beweises betrachtet. Es bildet die Grundlage dafür, eine andere Person von der Richtigkeit oder Angemessenheit einer Betrachtungsweise zu überzeugen. Ein einzelnes Argument besteht dabei aus einer Reihe von Aussagen, die in einer bestimmten Beziehung zueinander stehen. Diese läuft immer auf eine Konklusion hinaus, also auf eine Folgerung, für die argumentiert wird. Die Konklusion steht daher modellhaft am Ende eines Arguments. Eine Konklusion wird durch Prämissen (Voraussetzungen) gestützt, die angeben, von welchen Ausgangspunkten zu einer Konklusion übergegangen wird. Die Prämissen stehen daher vor der Konklusion. Jedes in dieser Form aufgebaute Argument beinhaltet implizit eine Wenn-dann-Behauptung: „Wenn jemand die Wahrheit der Prämissen anerkennt, dann muß (oder sollte) er auch die Wahrheit der Konklusion anerkennen."^^ Trägt jemand ein Argument vor, das Zustimmung im Hinblick auf den Übergang von den Prämissen zur "

Rosenberg, Jay F. (1989): Philosophieren. Ein Handbuch für Anfänger, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, S.28.

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Soziologisches Propädeutikum

Konklusion erhält, dann spricht man von einem gültigen Argument. Die Gültigkeit eines Arguments kann in Zweifel gezogen werden, indem entweder seine Prämissen bestritten werden - etwa mit der Behauptung: „Das ist nicht wahr!" - oder der angenommenen Beziehung zwischen Prämissen und Konklusion widersprochen wird - z.B. in der Form: „Das folgt nicht daraus!". In der Grundform eines vollständigen Arguments unterscheiden sich die Prämissen hinsichtlich ihrer Aussagequalität^^ Die eine Prämisse gibt Daten an, die andere Prämisse beinhaltet eine explizite Schlussregel. Unter „Daten" kann alles das verstanden werden, was aufgrund von Wahrnehmungen Bestandteil einer Argumentation werden kann, also sowohl Beobachtungen von Handlungen, aber auch Texte, Redebeiträge usw. Durch die methodischen Verfahren der empirischen Sozialforschung gewonnene Werte, Größen, Angaben, Befunde sind natürlich auch als Daten zu betrachten. Unter einer „Schlussregel" ist eine Aussage zu verstehen, in der zwei Wahrnehmungen in der „Wenn..., dann..."-Form in einen Zusammenhang gesetzt werden. Man kann auch sagen: „Solche Daten wie xy legen den Schluss nahe, dass z." oder: „Vorausgesetzt, dass xy, dann muss man auch annehmen, dass z." Als Resuhat gilt schließlich, was bei der Anwendung einer Schlussregel auf konkrete Daten abgeleitet wird. Dieses basale Schema eines Arguments kann wie in Abbildung 1 grafisch verdeutlicht werden.^' Wie das im Schema eingefugte Beispiel zeigt, wird aus einer Datenlage („Petersen ist Schwede") und einer Schlussregel, die in der „Wenn..., dann..."-Form heißen könnte: „Wenn jemand Schwede ist, dann ist er Protestant", eine Schlussfolgerung gezogen („Petersen ist Protestant"). In einer wissenschaftlichen Diskussion kann dieses Argument zum einen durch das Bestreiten der Prämissen in Zweifel gezogen werden. Wenn beispielsweise festgestellt wird, dass Petersen überhaupt kein Schwede ist, ist das Argument hinfällig, weil die Schlussfolgerung auf einem falschen Datum basiert. Neben der Da-

vgl. Toulmin, Stephen (1996): Der Gebrauch von Argumenten, 2. Aufl., Weinheim: Beltz Athenäum Verlag, S. 86-103 Vgl. Toulmin, Stephen (1996): Der Gebrauch von Argumenten, 2. Aufl., Weinheim: Beltz Athenäum Verlag,S. 90.

Exkurs: Wie verständigen wir uns in der Wissenschaft?

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tenlage kann aber auch die Gültigkeit der Schlussregel bestritten werden. Es ist leicht vorstellbar, dass ein Diskussionsteilnehmer zwölf schwedische Staatsbürger kennt, von denen neun katholisch und zwei evangelisch sind und einer keiner Konfession angehört. Er könnte aufgrund seiner Erfahrung die Schlussregel „Wenn jemand die schwe-

Abbildung 1

dische Staatsbürgerschaft besitzt, dann ist er Protestant" anzweifeln. Idealerweise müssten die Diskutierenden in dieser konkreten Situation die Frage nach der Verteilung der Religionszugehörigkeit in Schweden klären, beispielsweise anhand einer Religionsstatistik. Eine solche Überprüfung würde zu der Feststellung fuhren, dass laut amtlicher Statistik 89 % aller Schweden der Evangelisch-Lutherischen Schwedischen Kirche angehören; von den rund 8,5 Millionen Einwohnern des Landes sind lediglich 148 440 Katholiken.^" Demnach sind die Zweifel an der dem Argument zugrundeliegenden Schlussregel durchaus berechtigt. Zwar hat der Diskussionsteilnehmer, der diesen Zweifel vorbrachte, keinen schwedischen Bekanntenkreis, der die religiösen Verhältnisse in diesem Land repräsentativ darstellt, aber seine Erfahrungen sind ausreichend, um dem Anspruch der Schlussregel auf unbeschränkte Gültigkeit zu widersprechen. Der Blick auf die ReligionsVgl. von Baratta, Mario (1999): Der Fischer Weltalmanach 2000, Frankfurt am Main: Fischer, S.687.

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Statistik zeigt also, dass die Schlussregel nicht deterministisch, sondern nur probabilistisch formuliert werden kann. Das bedeutet, dass der in der Schlussregel behauptete Zusammenhang nur eine Wahrscheinlichkeit angibt; die Regel lässt Ausnahmen 2x1. Sie könnte in unserem Beispiel lauten „Wer schwedischer Staatsbürger ist, ist wahrscheinlich Protestant" oder ,^aum ein Schwede ist römischkatholisch". Eine Kritik des Arguments, welche die Beziehung von Prämissen und Konklusion in den Blick nimmt, könnte nun allerdings behaupten, dass man von einer probabilistischen Prämisse, von einer Wahrscheinlichkeitsaussage, nicht mit Sicherheit auf ein Resultat schließen könne. Wenn man diese Kritik aufnehmen möchte, muss das probabilistische Element auch in der Konklusion berücksichtigt und das Argument wie in Abbildung 2 formuliert werden. Neben den Einwänden, die gegen die Prämissen eines Arguments vorgebracht werden können, sind darüber hinaus auch Zweifel an der

angenommenen Beziehung zwischen Prämissen und Konklusion möglich. In dem Argument, das uns bislang als Beispiel dient, wird die Abbildung 2

/ / i \ \ \

Deshalb ist Petersen mit ziemlicher Sicherheit nicht römischkatholisch

Schlussregel als bekannt vorausgesetzt. Das ist für Forschungszusammenhänge nicht unbedingt typisch. Stattdessen wird ein Großteil wissenschaftlicher Arbeit in die Ermittlung von „Wenn..., dann..."Aussagen investiert. Das heißt, man versucht Zusammenhänge bzw. Strukturen zu erkennen und zu überprüfen, inwieweit sie sich als Ge-

Exkurs: Wie verständigen wir uns in der Wissenschaft?

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setzmäßigkeiten begreifen lassen. Die unterschiedlichen Beziehungen zwischen Prämissen und Konklusionen spiegeln sich in den drei grundlegenden Formen des Schlußfolgerns wider, der Deduktion, der Induktion und der Abduktion. Die in dem bisherigen Beispiel zugrunde gelegte Methode des Schlussfolgems wird allgemein als Deduktion bezeichnet. Die Deduktion ist ein formal-logisch zwingendes Schlussverfahren, in dem die Schlussregel bekannt ist und dazu dient, einen konkreten Fall zu erklären. Das lateinische Wort „deductio" bedeutet „Herabiührung", „Herleitung". Demgemäss wird in einem deduktiven Schlussverfahren das Besondere, Einzelne und Konkrete aus der Kenntnis einer allgemeinen Regel abgeleitet. Die in der zweiten Prämisse genannten Daten bilden die Bedingung für das in der Konklusion genannte Resultat.

Deduktion 1. Prämisse

Regel

2. Prämisse

Daten

Konklusion

Resultat

Wenn sich eine Gesellschaft modernisiert, dann löst sich ethnische Difierenzierung auf. Die deutsche Gesellschaft ist modernisiert.

In der deutschen Gesellschaft ist ethnische Differenzierung aufgelöst.

Wie bereits erwähnt, besteht wissenschaftliche Arbeit gerade in den Erfahrungswissenschaften aber nicht allein in der Anwendung bekannter Schlussregeln auf vorgefundene Fälle, sondern auch in der Suche nach Gesetzmäßigkeiten, die noch unbekannt sind. Da man bei der Suche nach Gesetzmäßigkeiten natürlich auch schlussfolgert, ist es für die Teilnahme an wissenschaftlichen Diskussionen unerlässlich, sich auch mit nicht-deduktiven Methoden des Schließens vertraut zu machen. Diese umfassen die Induktion und die Abduktion. „Inductio" bedeutet im Lateinischen „Hineinführung". Als Induktion bezeichnet man demnach eine Schlussfolgerung, die vom besonderen Einzelfall zum Allgemeinen führt. Das Vorhandensein spezifischer Sachverhalte wird in einen kausalen Zusammenhang gestellt, der in

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Soziologisches Propädeutikum

Form einer Regel- bzw. Gesetzesaussage als allgemein geltend formuliert wird. Im Gegensatz zur Deduktion ist die Induktion ein Wahrscheinlichkeitsschluss. Im Grunde müssten alle möglichen Fälle, d.h. in unserem Beispiel: alle möglichen modernisierten Gesellschaften, ohne Ausnahme untersucht werden. Erst dann könnte mit vollständiger Sicherheit die Allgemeingültigkeit der Regel, auf die geschlossen wird, behauptet werden. Das Beispiel verdeutlicht, dass dies in den Erfahrungswissenschaften nicht möglich ist, denn wir müssten ja nicht nur alle aktuellen und vergangenen, sondern auch alle zukünftigen Gesellschaften untersuchen, die einen Modernisierungsprozess durchlaufen. Ein Induktionsschluss ist demnach immer unvollständig und deshalb jeweils nur mehr oder weniger wahrscheinlich.

Induktion Die deutsche Gesellschaft ist modernisiert.

1. Prämisse

Daten

2. Prämisse

Resultat

In der deutschen Gesellschaft ist ethnische Differenzierung aufgelöst.

Konklusion

Regel

Wenn sich eine Gesellschaft modernisiert, dann löst sich ethnische Differenzierung auf.

Hinzu kommt, dass eine vollständige Induktion eigentlich nur dann möglich ist, wenn man über eine allgemeine Gesetzmäßigkeit zumindest eine Vermutung hat. Wie soUte man beispielsweise darauf kommen, dass zwischen der Modernisierung von Gesellschaften und der Auflösung ethnischer Differenzierung ein kausaler Zusammenhang besteht, wenn man ihn nicht vorher bereits gedanklich konstruiert hat? Die reine Beobachtung würde in diesem Falle noch viele andere Ereignisse hervorheben müssen, die ebenfalls zur Auflösung ethnischer Differenzierung fuhren können. Der Rückgang der Storchenpopulation in Europa könnte ja im Prinzip ebenso ein relevanter Faktor sein wie die Bevölkerungszunahme in Südkorea oder die voranschreitende Abholzung der Regenwälder. Aus der Vielzahl der möglichen Faktoren, die bei einem Induktionsschluss in Zusammenhang gesetzt wer-

Exkurs: Wie verständigen wir uns in der Wissenschaft?

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den, wird allerdings nicht willkürlich ausgewählt, sondern auf der Grundlage eines äußerst spekulativen Schlussverfahrens. Dieses Schlussverfahren wird in der Logik als Abduktion bezeichnet. Der Begriff geht auf den Begründer des amerikanischen Pragmatismus, Charles S. Peirce (1839-1914) zurück. Er verstand darunter die Verfahrensweise wissenschaftlicher Hypothesenbildung, die eigentlich eher dem Vorgang des Ratens gleichkommt als dem des Schlusses im strengen Sinne des Wortes.^' Aufgrund einer Beobachtung spekuliert man über eine Regel (1. Prämisse), die diese Beobachtung als Resuhat (2. Prämisse) anderer Daten erklärt. Als Konklusion wird auf das faktische Vorhandensein der Daten geschlossen, die laut der Schlussregel das hervorbringen, was beobachtetet wurde. Dies lässt sich an unserem Beispiel verdeutlichen. Stellt ein Forscher fest, dass in einer Gesellschaft keine ethnische Differenzierung besteht, dann wird er eine Hypothese formulieren, in der dieser soziale Tatbestand als Ergebnis eines anderen Ereignisses, etwa des theoretisch postulierten Modemisierungsprozesses, eintritt. In der bisher fìir die Schlussverfahren gewählten Darstellungsform lässt sich der abduktive Schluss folgendermaßen veranschaulichen.

Abduktion 1. Prämisse

Regel

Wenn sich eine Gesellschaft modernisiert, dann lösen sich ethnische Differenzen auf.

2. Prämisse

Resultat

In der deutschen Gesellschaft ist ethnische Diflerenzierung aufgelöst.

Konklusion

Daten

Die deutsche Gesellschaft ist modernisiert.

So wichtig die Abduktion fìir die Hypothesenbildung ist, ein zwingendes Schlussverfahren ist sie nicht. „Raten" kann zu falschen Schlüssen ftihren. Daher bedarf eine auf diese Weise entwickehe Schlussregel immer einer weiteren Überprüfimg. 31

Vgl. Peirce, Charles S. (1991): Vorlesungen über Pragmatismus. (Mit Einleitung und Anmerkungen neu herausgegeben von Elisabeth Ströker), Hamburg: Meiner, S. 122-145.

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Die Kenntnis dieser verschiedenen Schlussverfahren ist jedoch unverzichtbar, wenn man über soziale Tatbestände kommunizieren und sich mit (sozial-)wissenschaftlichen Argumenten auseinandersetzen will. Sie ermöglicht einzuschätzen, inwieweit ein Argument plausibel ist, ob man es also als gültig akzeptieren will oder nicht.

Übungsaufgaben Im Kapitel 2.1. haben Sie einen Text von Hartmut Esser zum Thema „Ethnische Differenzierung und moderne Gesellschaft" (Arbeitstext 2) gelesen. Dieser Artikel hat in der deutschsprachigen Soziologie eine längere Diskussion ausgelöst, in der Essers Argumente teils kritisiert, teils konstruktiv weiterentwickelt wurden. Die folgenden drei Arbeitstexte dokumentieren einen kleinen Ausschnitt aus dieser Diskussion und geben dadurch einen Eindruck von der Art der wissenschaftlichen Kommunikation, wie sie fur die Soziologie charakteristisch ist. Vergegenwärtigen Sie sich zunächst noch einmal die Argumentation von Hartmut Esser und lesen Sie dann Reinhard Kreckels Kritik (Arbeitstext 3) sowie Hartmut Essers Replik (Arbeitstext 4). Erarbeiten Sie sich die Texte unter Zuhilfenahme der im Kapitel 3.4. erläuterten Arbeitstechniken. Lesen Sie als letztes die Auszüge aus dem Artikel von Armin Nassehi, der die Argumente der vorherigen Texte nochmals bündelt und in den Kontext einer eigenständigen Argumentation einbindet (Arbeitstext 5). Versuchen Sie, sich die kontroverse Diskussion anhand der folgenden Fragen zu erschließen. 1. Analysieren Sie die Arbeitstexte 3 und 4 in Bezug auf ihre syntaktische Struktur, ihren semantischen Gehalt und ihre pragmatische Funktion! 2.

Welches ist der zentrale Streitpunkt zwischen Hartmut Esser und Reinhard Kreckel und mit welchen Argumenten verteidigen beide ihre jeweilige Position? Achten Sie dabei insbesondere auf das jeweilige Verständnis von Modernisierung.

3.

Wie beurteilt Armin Nassehi die Positionen von Esser und Kreckel zum Verhältnis von ethnischer Differenzierung und Modernisierung?

4.

Welche der drei dargestellten Positionen überzeugt Sie selbst am meisten und warum?

Exkurs: Wie verständigen wir uns in der Wissenschaft?

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Arbeitstext 3: „Ethnische Differenzierung und ,moderne' Gesellschaft" (Reinhard Kreckel) [162] Man möchte meinen, daß die Voraussetzungen für ein polemisches Aneinandervoibeireden gegeben sind: Auf der einen Seite steht Hartmut Esser, der sich immer wieder dezidiert zum Programm des methodologischen Individualismus und der empirisch-analytischen Theoriebildung bekannt hat; ihm gegenüber tritt ein Diskutant, der ebensowenig damit hinter dem Berge hält, daß er seine Arbeit im Rahmen historisch-kritischer Gesellschaftstheorie versteht. Aber siehe da - auf der Ebene der Sachaussagen habe ich mit Essers Denkweise keine nennenswerten Schwierigkeiten. Was er zu sagen ha^ ist für mich ohne größere Übersetzungsleistungen diskutierbar. Ich halte sein Papier für einen fruchtbaren Beitrag zur historisch verankerten Theorie der Gesellschaft. Sollte er umgekehrt meine Diskussionsbemerkungen im Rahmen seines Theorieverständnisses für ebenso sinnvoll halten, so wäre mir das hochwillkommen. Im übrigen ist - trotz der methodologischen imd der inhaltlichen Meinungsverschiedenheiten, die ich imten noch aufzeigen werde - unser inhaltlicher Ausgangspunkt ein sehr ähnlicher: In der Tat lag bei einer von mir selbst mit einigen Kollegen durchgeführten größeren Studie über regionalistische Bewegungen in Schottland, Okzitanien und Katalonien (Kreckel et al., 1986) eine forschungsleitende Frage zugrunde, die der Esserschen eng verwandt ist. Ebenso wie er gingen wir von der „methodischen Verwunderung" aus, daß es nach den herkömmlichen Vorstellungen liberaler und marxistischer Fortschritts- bzw. Modemisierungstheorien eigentlich ein „ethnic revival" in Westeuropa gar nicht geben dürfe. Auch wir nahmen den Widerspruch zwischen empirischer Realität und verbreitetem theoretischem (und ideologischem) Konsensus zum Anstoß und bemühten uns um theoretische Revision. Diese Revision - und mehr noch meine späteren Überlegungen - lassen mir aber nun doch eine Lösungsstrategie fruchtbarer erscheinen, die von der Esserschen abweicht. [...] [163] Doch nun zu Essers Antwort auf das Problem, daß „doch nicht sein kann, was nicht sein darf', daß also ethnische Differenzierung und Modemisiertmg zusammenfallen können, obwohl die herkömmlichen Modemisierungstheorien genau das Gegenteil erwarten lassen. Esser unterzieht zunächst vier Varianten der soziologischen Modemisierungstheorie - nämlich die Webersche und die marxistische Tradition, die fünktionalistische Theorie imd die Konzeption Niklas Luhmanns - einer eingehenden und überzeugenden Kritik. Dennoch hält er selbst am herkömmlichen Modemisierungsbegriff fest, der im Grad der strukturellen Differenzierung das entscheidende Kennzeichen für gesellschaftliche Modernisierung sieht. Um den mit diesem Modemisierungsbegriff verbundenen Schwierigkeiten zu begegnen, optiert Esser jedoch für eine Diachronisiermg der Modemisierungstheorie, ähnlich wie man sie schon bei Ernest Gellner (1964; 1983) und bei Tom Nairn (1977) formuliert findet. Auf diese Weise kann er ethnische Gemeinschaftsbildung als eine „durchaus ,rationale' Reaktion" (240) auf die Friktionen eines xmgleichmäßig und ungleichzeitig verlaufenden Modemisierungsprozesses 1п1ефге11егеп. Und, was vermutlich noch wichtiger ist, er kann auf diese Weise seine zentrale These vom vorübergehenden Charakter ethnischer Vergemeinschaflung theoretisch verankem. Ethnische Vergemeinschaftung wird gewissermaßen als „Übergangslösung" begriffen, die die

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in der Phase des Umbaus von der vormodemen zur modernen Gesellschaft auftretenden Schwierigkeiten bewältigen hilft und damit den Modemisierungsprozeß unter Umständen sogar vorantreiben kann. Das klingt sehr plausibel - es hat aber einige unliebsame Implikationen. Dies möchte ich nun in drei Argumentationszügen aufzeigen. 1. Essers Argumentation ist, entgegen seiner erklärten Absicht, in ihren Konsequenzen eindeutig teleologisch. In seinen gesellschaftstheoretischen Überlegungen spielt die Leitvorstellung von der „endgültig .modernen' Gesellschaft" (246f.), in der die strukturellen Voraussetzungen für dauerhafte ethnische Differenzierungen entfallen, eine Schlüsselrolle. In modernen Gesellschaften ist nach seiner Vorstellung der Prozeß der funktionalen Differenzierung so weit fortgeschritten, daß sie als „tatsächlich funktional differenziert" (246) gelten können. Der theoretische Indikator gesellschaftlicher Modernität ist also die funktionale Differenzierung. Als empirisches Leit- und Vorbild modemer Gesellschaften nennt er die „entwickeltsten Regionen Westeuropas" (246). Weniger entwickelte Gesellschaften „hängen nach" (247). Sie leiden unter einem Modemitätsdefizit, einem „lag", da bei ihnen die funktionale Differenzierung noch unvollkommen ausgebildet ist. - In den modernsten Gesellschaften nun sieht Esser die strukturellen Voraussetzungen für den Abbau ethnischer Differenzierungen und für die Integration aller ihrer Bewohner in die individualistisch-pluralistische, funktional differenzierte Gesellschaft als gegeben an. Es mag sein, daß Hartmut Esser hier sogar empirisch richtig liegt, obwohl ich mir da nicht sicher bin. Aber, so meine These, selbst wenn seine empirische Trendbehauptung zutreffen sollte, so sicherlich nicht aufgrund der teleologischen Zusammenhänge, die er postuhert. Der erste Einwand, auf den ich mich stütze, klingt zunächst recht simpel. Ich möchte nämlich daraufhinweisen, daß es eine - nicht die einzige - Bedingung der Möglichkeit für die Beruhigung ethnischer Ungleichgewichte imd Friktionen im Inneren einer Gesellschaft ist, daß keine ethnische Problemzufuhr von außen erfolgt. Meines Erachtens müßte auch Esser diese Aussage als Geltungsbedingung für seine These vom vorübergehenden Charakter der Probleme, die zu ethnischen Vergemeinschaftimgen als „rationalen" Reaktionen führen, anerkennen. Aber was habe ich mit dieser Aussage nun gesagt? Vordergriindig doch wohl nur dies: Mit der sog. Tendenzwende von 1973/74 ist es überall in Westeuropa zu Immigrationsbeschränkungen gekommen. Damit wurde gewissermaßen eine „beruhigte Zone" geschaffen, die man als eine Voraussetzung für die Integration der bereits Eingewanderten und ihrer nachgekommenen Angehörigen in die einheimische Gesellschaft ansehen kann. In ähnlichem Lichte wird man wohl auch die verschärfte Asylantenpolitik der jüngsten Zeit sehen müssen. Diese Überlegung ist aber nun nur vor dem folgenden Hintergrund sinnvoll: Esser operiert - wie die [164] meisten Soziologen - mit einem makrosoziologischen Gesellschaftsbegriff, der ganz selbstverständlich davon ausgeht, daß moderne Gesellschaften nationalstaatlich verfaßt sind (vgl. Giddens 1985). Das ist nun freilich keine zufallige, sondern eine notwendige Hintergrundannahme. Denn in der Tat ist es ja der Nationalstaat, der sowohl für Inunigrationsbeschränkungen als auch für die Verleihung von Staatsbürgerrechten verantwortlich zeichnet. Die „moderne" Gesell-

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Schaft, die nach Esser in der Lage ist, ethnische Konflikte zu überwinden, ist in der Praxis also ein Nationalstaat, der sich Ausländer - und damit bestimmte ethnische Konflikte - vom Halse hält Aber selbst diese Rückerinnerung ist noch nicht der letzte Hintergrund, der in m. E. bewußt gemacht werden muß. Nimmt man nämlich - ganz hintergründig - das Leitbild der „vollkommen modernen Gesellschaft" genauso ernst, wie Esser das in seinem Beitrag tut, dann wird erkennbar, daß die Nationalstaatlichkeit selbst ein anti-modernes Strukturmerkmal ist! Schließlich kann man ja, ganz im Einklang mit Essers typologischem Schema der Gesellschaftsentwicklung, sagen, daß das Prinzip der nationalstaatlichen Einbindung von Individuen in der abendländischen Geschichte erst dann Gewicht gewonnen hat, als die segmentär-verwandtschaftlichen und die ständisch-mediatisierten Formen der sozialen Integration an Einfluß zu verlieren begannen. Das heißt aber auch, daß der Nationalstaat zum Bezugsrahmen ftir neue askriptive und partikularistische Loyalitäten geworden ist, die nun freilich weder durch Familie noch Stand mediatisiert sind. Der Nationalismus ist die dazugehörige Integrationsideologie, er bedient sich typischerweise einer „unmodernen" ethnischen Rhetorik - und dies mitten im Herzen der „modernsten" Gesellschaften (vgl. Habermas 1974). Im gleichen Atemzug muß ich aber korrekterweise auch fortfahren: Ohne Nationalstaat und Nationalismus keine „moderne" Gesellschaft. Anders gesagt, „die" moderne Gesellschaft ist ein a-historisches Traumgebilde. Realität sind Nationalgesellschaften, die sich eng an das abendländische Muster halten. Sie haben inzwischen - mit Pauken und Trompeten, mit Bürokratie und Diplomatie, mit Kanonen und Fußballmannschaften - den ganzen Globus erobert. Die nationalstaatliche Segmentierung der Welt, das ist meine Behauptung, ist kein zufälliger, sondern ein systematischer Begleitumstand der einzigen Modernisierung, die wir kennen können: der historischen Modernisierung die nun einmal von Europa ausgegangen ist und sich teils gewaltsam, teils friedlich über die Welt ausgebreitet hat. Das mag man bedauern, auf theoretischer Ebene vergessen sollte man es nicht [... An dieser Stelle folgen die zwei weiteren Argumentationszüge

...]

[166] Welche empirische Konsequenzen sich aus dieser Sachlage ergeben, ob also ethnische Vergemeinschaftungen imd Konfliktlinien abgebaut oder dramatisiert werden, darüber kann der modemitätstheoretische Ansatz nach meiner Einschätzung somit keine schlüssige Auskimft geben. Andererseits lassen sich imter Zuhilfenahme meiner hier vorgeschlagenen gesellschaftstheoretischen Argumente immerhin die beiden folgenden Orientierungshypothesen formulieren: I. In allen reichen westlichen Nationalgesellschaften wird heute eine staatlich kontrollierte Abschottung gegen den fortgesetzten ethnischen ,J>roblemimport" durch Immigration praktiziert Ob man diese Politik nun sympathisch findet oder nicht: Sie ist es, nicht die fortschreitende „fiinktionale Differenzierung", die die soziale Integration von ansässig gewordenen Immigranten ermöglicht - allerdings nur dann, wenn diese Einwanderer nicht dauerhaft in einer ökonomisch deklassierten und politisch diskriminierten Lage gehalten werden. Unter diesen in der Tat exklusiven Voraussetzungen könnte sich somit das von Hartmut Esser prognostizierte Ende ethnischer Differenzierungen in „modernen" Gesellschaften bewahrheiten.

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2. Diese erste Hypothese bezieht sich in der ersten Linie auf ehemalige Aibeitsimmigranten und rassisch diskriminierte Minderheiten in einer „ethnischen Diasporasituation", für die keine plausible Möglichkeit besteht, nationale Autonomie-, Unabhängigkeits- und/oder (Wieder-)Vereinigungsansprüche für sich geltend zu machen. Überall dort hingegen, wo alteingesessene historische und kulturelle Merkmale für ethno-nationalistische [167] Gemeinschaflsbildungen aktiviert werden können, greift die erste Hypothese nicht. Statt dessen läßt sich geradezu umgekehrt eine zweite Hypothese formulieren, derzufolge immer wieder mit dem Aufflackern ethnonationalistischer (oder auch „regionalistischer") Bewegungen zu rechnen ist, solange (1.) die askriptive Segmentierung der Weltgesellschaft in exklusive Einzelstaaten ihre strukturierende Bedeutung beibehält, (2.) das Leitbild des ethnisch homogenen Nationalstaates und die Idee der „Selbstbestimmung der Völker" weitergelten, und (3.) die territorialen Grenzen von „Ethnos" und „Demos" (Francis 1965) nicht zusammenfallea

Zitierte Literatur:

Francis, E. K., 1965: Ethnos und Demos. Soziologische Beiträge zur Volkstheorie. Berlin: Duncker und Humblodt. Gellner, E., 1964: Nationalism. S. 147-178 in: Ders., Thought and Change. London: Weidenfeld and Nicolson. Gellner, E., 1983: Nations and Nationalism. Oxford: Blackwell. Giddens, Α., 1985: The Nation-State and Violence. Oxford: Polity Press. Habermas, J., 1974: Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden? S. 23-84 in: Ders./D. Henrich, Zwei Reden. Frankfurt: Suhrkamp. Kreckel, R., von Krosigk, F., Ritzer, G., Schütz, R., Sonnert, G., 1986: Regionalistische Bewegungen in Westeuropa. Opladen: Leske und Budrich. Nairn, T., 1977: The Break-Up of Britain. London: Weidenfeld and Nicolson

Quelle: Reinhard Kreckel (1989), „Ethnische Differenzierung und ,modeme' Gesellschaft. Kritische Anmerkungen zu Hartmut Essers Aufsatz in der Zeitschrift ftir Soziologie, Jg. 17 (1988), S. 235-248". In: Zeitschrifl für Soziologie, Jg. 18, Heft 2, April 1989, S. 162-167.

Exkurs: Wie verständigen wir uns in der Wissenschaft?

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Arbeitstext 4: „Bemerkungen zum Kommentar von Reinhard Kreckel" (Hartmut Esser) [...] [168] Gegenstand des Beitrags war in erster Linie ein theoretisches Problem: läßt sich der „Widerspruch" zwischen klassischer und neuerer Theorie der „modernen Gesellschaft" in Bezug auf die Aussagen zur Vereinbarkeit mit askriptiv begründeten Diflerenzierungen auflösen - oder handelt es sich (wieder einmal) um einen jener Fälle, in denen die Soziologie als kumulative theoretische und empirische Disziplin scheinbar versagt? Die vorgeschlagene Antwort war: wenn man (wie die „klassische" Theorie) Modernisierung vor allem als fimktionale Differenzierung versteht, dann gibt es nur eine Verbindung zur Erklärung des Weiterbestands von askriptiven Differenzierungen: die in modemen Gesellschaften bessere Mobilisierbarkeit von Konflikten wegen der dort deutlich erhöhten organisatorischen Grundlagen für solche Mobilisierungen. Wenn Modernisierung jedoch (wie in den neueren Konzepten und auch in der Version von Reinhard Kreckel) mit systematischen sozialen Ungleichheiten und regionalen Ungleichgewichten, mit nationalstaatlichen Regulierungen usw. verbunden wird, dann sind askriptive Differenzierungen schon von der „motivationalen" Seite her zu erwarten (wozu die technische Seite der besseren Mobilisierungsmöglichkeiten obendrein hinzutritt). Im ersten Fall würden askriptive Differenzierungen zwar auch immer einmal auftreten, aber nicht dauerhaft und nicht (nach Gruppen und Regionen) systematisch. Dies wäre gänzlich anders im zweiten Fall, in dem Mobilisierung und askriptive Segmentationen in der Tat eine enge, systematische und dauerhafte Verbindung eingehen müßten. Mit dieser Differenzierung in der empirischen und begrifflichen Charakterisierung der verschiedenen Variablen löst sich - meines Erachtens - das o. a. theoretische Problem auf: es besteht kein Widerspruch zwischen ein und derselben theoretischen Behauptung, sondern es handelt sich um die Annahme unterschiedlicher Randbedingungen, die mit dem gleichen begrifflichen Ausdruck belegt wurden. Daß verschiedene Randbedingungen unterschiedliche Konsequenzen nach sich ziehen können, ist jedoch in keiner Weise verwunderiich oder gar widersprüchlich. [...]

Quelle: Hartmut Esser (1989), „Realdefinitionen, Idealtypen und Reifikationen, Bemerkungen zum Kommentar von Reinhard Kreckel", In: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 18, Heft 2, S. 168-169.

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Soziologisches Propädeutünim

Arbeitstext 5 : Funktionswandel von Ethnizität im Prozeß gesellschaftlicher Modernisierung. Ein Beitrag zur Theorie funktionaler Differenzierung" (Armin Nassehi) [...]

[262] Wie Hartmut Esser aufzeigt, spielt die ethnische/nationale Inklusion in den klassischen Theorien der Moderne kaum eine Rolle. Trotzdem gehören Ethnizität und Nationalität zu den wichtigsten Zuschreibungs- und Identifikationsmerkmalen von Individuen und Personengruppen (vgl. Esser 1988, S. 236 ff.; so oder ähnlich schon vor ihm: Geser 1981, S. 166; Nielsen 1985, S. 133; Giddens 1988, S. 167; erst jüngst wieder Elwert 1989, S. 440). Zur Plausibilisierung dieses Vorwurfs an die Adresse der Modemitätstheorie richtet sich Esser explizit an Max Weber und Karl Marx sowie an die systemtheoretische Theorie gesellschaftlicher Differenzierung, auf die hier näher eingegangen werden soll. Diese Diskussion wird erneut aufgenommen, mit dem Ziel sie weiterzuführen, denn es ist unmöglich, mit dem Anspruch einer gesellschaflstheoretischen Fundierung einer Theorie ethnischer Identität aufzutreten, ohne Gesellschaftstheorie selbst darüber aufzuklären, wo sie womöglich Schwachstellen oder Lücken hat. [...] Recht zu geben ist Esser in der Einschätzung, daß die Prognose einer exklusiven funktionalen Differenzierung, die ein Verschwinden der Bedeutung von ethnischen und nationalen Merkmalen zur Folge haben müßte, nicht eingetreten ist Zum einen sprechen die auf der ganzen Welt permanent schwelenden ethnischen Auseinandersetzungen für eine solche Auffassung, und dies nicht nur in bezug auf die Länder der dritten Welt, sondern auch in bezug auf die hochkomplexen Industriegesellschaften Nordamerikas, West-, Mittel- und Osteuropas. Zum anderen ist auch eine unproblematische Vergesellschaftung von Personen, also eine solche ohne die genannten ethnischen Konflikte, immer an kulturelle Zugehörigkeiten gebunden. Eine vollständige funktionale Differenzierung müßte zum Beispiel auch davon ausgehen, daß Sprach- und Kulturgrenzen keine Rolle mehr spielen. Entgegen dieser Annahme ist aber eine Intemationalisierung der Weltgesellschaft zu beobachten, in der Kulturdifferenzen und Sprachgrenzen zugleich deutlicher hervortreten und hinter anderen Kommimikationsfbrmen zurücktreten - z.B. im Wirtschaftsverkehr, in der Wissenschaft, in politischen Zusammenhängen etc. Esser scheint die tatsächliche Nichtbeachtung ethnischer Differenzierungen in der Theorie funktionaler Differenzierung auf der Theorieebene nicht adäquat zu bewerten. Er kommt zu dem Schluß, ethnische Vergesellschaftung widerspreche dem Topos funktionaler Differenzierung kategorial. Seine erkenntnisleitende Frage lautet folgerichtig: Ist die faktische Existenz ethnischer Differenzierung mit all ihren zum Teil weltpolitisch verheerenden Konfliktpotentialen nicht als Ausdruck einer mangelnden Modernisierung der Gesellschaft anzusehen (vgl. Esser 1988, S. 238)? Die gesellschaftstheoretische Prämisse läßt nur eine Antwort zu: Für wirklich funktional differenzierte Gesellschaften entfallen die „objektiven Grundlagen für dauerhafte ethnische Vergemeinschaftungen" (vgl. ebd., S. 246 f ). Diese objektiven Grundla-

Exkurs: Wie verständigen wir uns in der Wissenschaft?

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gen sieht Esser in „Modemisierungslücken", d.h. in ökonomischen und soziokulturellen Mängeln und Konflikten, die die Modernisierung von Gesellschaften mit ihrer weitgehenden Abkoppelung von identitätsverbürgenden Deutungssystemen und der Individualisierung von Lebenslagen stets begleiten. Um Essers These zusammenzufassen: Sollte sich funk- [263] tionale Diflerenzierung tatsächlich durchsetzen, entfallt auch die Grundlage fìir ethnische Differenzierung und damit für ethnische Konflikte und Bewegungen. Mit dieser These gibt er der Ausblendung der Frage ethnischer Vergesellschaftung in der Theorie funktionaler Differenzierung im nachhinein doch recht. Der hier gewählte Ausgangspunkt ist ein anderer. Ich gehe davon aus, daß das offenkundige Fehlen des Problems ethnischer Identifikation in der Theorie funktionaler Differenzierung sich keineswegs kategorial aus dieser Theorie ergibt. Es wird deshalb im folgenden der Versuch unternommen, das Problem der ethnischen Differenzierung und der ethnischen Inklusion auf der Folie von Luhmanns Modernisierungstheorie zu rekonstruieren.

IL Zunächst sei daran eriimert, daß die Theorie funktionaler Differenzierung keineswegs die Differenzierung der Gesellschaft in funktionale Teilsysteme als einzige Differenzierungsform zuläßt. Sie ist, so Luhmann explizit, die primäre Differenzienmgsform geworden (vgl. Luhmann 1980 a, S.27). Daß es innerhalb der Gesellschaft auch andere Differenzierungen gibt, die nicht in funktionaler Differenzierung aufgehen - etwa eine Stratiflkation in Einkommensklassen, Geschlechtsrollendifferenzen, Konfessionen etc. - , ist uiunittelbar einleuchtend. Doch haben all diese Differenzen keine gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen. Sie sind sekundäre Differenzen von geringerer gesellschaftlicher Reichweite. Aus der Perspektive von Personen erscheinen die innergesellschafllichen Grenzen als Inklusionsgrenzen: Jeder muß Zugang zu allen Funktionskreisen besitzen und diesen Zugang nach mehr oder weniger individuellen Relevanzgesichtspunkten selbst regeln. Eine gesamtgesellschaftliche Inklusion, wie sie in stratifikatorischer Differenzierung durch die Zugehörigkeit zur jeweiligen Schicht und/oder Region gegeben war, kann nicht auf der Folie des primären gesellschaftlichen Differenzierungstyps erfolgen. Im Юaгtext: Es gibt keine iimergesellschaftliche Instanz mehr, die die Gesamtordnung der Gesellschaft regelt und dem einzelnen einen Platz darin zuweist. [...] An dieser Stelle der Theorie funktionaler Differenzierung sehe ich eine Brücke zur Frage der ethnischen Inklusion von Personen. Denn gerade Freiheit und Gleichheit als Gnmdbegriffe bürgerlicher Revolutionen (1) sind aufs engste mit der Entstehung von Nationalismen und ethnischen Bewegungen verbunden (vgl. Scheuner 1974, S. 19). Die Französische Revolution etwa stellte auf der semantischen Ebene die Integrationsformel für Personen von ständisch - korporativen Bindungen in Richtung freigesetzter Nationalstaatsbürger um (vgl. Estel 1988, S. 183 ff; Wehler 1989, S. 506 ff.; Habermas 1989 [264], S. 9). [...] Betrachtet man die Funktion solcher Ideen, so wird man feststellen, daß Nationalbewußtsein und Ethnizität als wesentliche Ka-

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Soziologisches Propädeutikum

tegorien kollektiver Identifikationen eine genuin moderne Erscheinung sind, mitiiin also mit funktionaler Differenzierung ursächlich verknüpft sind (vgl. auch Tenbruck 1989, S. 81). [...]

IIL [...][268] Zusammenfassend kann gesagt werden: Der Übergang von der vormodernen religiös fundierten Ordnung zur politisch relativ säkular verfaßten Ordnung der Moderne ist wesenüich über eümische und nationale Identifikationsfolien verlaufen. Daß diese Entwicklung sehr heterogen vonstatten ging, machen die beiden angedeuteten Sti-änge - Preußen und Südosteuropa - , deuthch. Die Funktion der Entstehimg ethnischer imd nationaler Semantiken, also Selbstidentifikationsfolien als Grundlage fìir Identitätsbildungen, die sich an der ethnischen Zugehörigkeit ausrichten, besteht in der Möglichkeit der Vollinklusion von Personen in gesellschaftliche Kommunikation trotz ihrer neuen Stellung als Menschen, deren sozialstrukturelle Außenstellung dazu fiihrt, daß Identitätsbildung wegen des Mangels an alternativloser Zugehörigkeit zu sozialen Aggregaten prekär wird. Ethnizität imd Nationalität bilden also Brücken zur Integration trotz struktureller Desintegration. Genau genommen hat Ethnizität kaum eine gesellschaftliche Funktion im Sinne eines ausdifferenzierten Teilsystems wie etwa Wirtschaft, Recht, Familie und Politik. Aus diesem Grunde ist die Nation auch kein gesellschaftliches Teilsystem, sondern nur ein askriptives, auf einem kollektiven Wertkonsens beruhendes Identitätsmerkmal, das in gewisser Hinsicht ein unerläßliches Verbindungsstück zwischen den immer komplexer werdenden gesellschaftlichen Prozessen und der notwendigen Sozialintegration von Personen schafft. [...]

IV. [...] [272] Esser geht - wie gezeigt - davon aus, daß mit vollständiger fiuiktionaler Differenzierung der Gesellschaft die Bedingungen xmd Voraussetzungen fìir die Selbstidentifikation von Personen und Gruppen als ethnisch oder national verfaßte ftinktional nicht mehr notwendig oder zumindest indifferent werden. Würde dies stimmen, so wäre das Problem der Nationalität und Ethnizität nur eine Hilfssemantik für den Übergang von geschichteten zu modernen, funktional differenzierten Gesellschaften gewesen, obwohl funktionale Differenzierung als wesenüicher Generator für ethnische und nationale Semantiken angesehen werden kaim. [...] Zwar spielen nationale und ethnische Identifikationsfolien nicht mehr jene gewichtige Rolle wie in der fhiheren Moderne (vgl. Estel 1988, S. 202). Gleichwohl behaupten sich ethnische Konflikte dort, wo Staats- xmd Sprachgrenzen nicht identisch sind (Beispiel: Belgien), wo Migranten mit шteφrivilegierten Gruppen der Wirtsgesellschaften in Konflikt geraten (Beispiel: Arbeitsmigranten, Asylanten), wo ethnische Minderheiten an der freien Entfaltung ihrer kulturellen, rechtUchen imd politischen Bedürfnisse [273] gehindert werden (Beispiele: Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien, Sowjetunion, Baskenland, Israel/Palästina) oder wo berechtigte kulturelle Interessen sozialromantisch in den Dienst politischer Kalküle gestellt werden (Bei-

Exkurs: Wie verständigen wir uns in der Wissenschaft?

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spiel: „Wieder"herstellung einer historisch nie existenten deutschen Einheit nach dem Scheitern des staUnistischen Staatssozialismus statt rationaler Suche nach einer Institutionalisierung besonderer Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten im Rahmen europäischer Einigungsprozesse). Laut Essers teleologischem Argument sind diese Konflikte als historisch verspätete Konflikte, als hinter der Modernisierung nachhinkende Entwicklungen oder als eine Form von cultural lag einzuschätzen. Mit dem Blick auf den Telos-Charakter seines theoretischen Modells tritt ihm Reinhard Kreckel (1989, S. 163) bestimmt entgegen. Esser konstruiere eine endgültig moderne Gesellschaft, in der nur noch funktionale Differenzierung, aber nicht mehr askriptive, nicht immittelbar in der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft fundierte Unterscheidungen zugelassen würden. Damit aber, so Kreckel weiter, werde ein Idealtypus zum Realtypus erhoben. Femer dürfe Esser dann auch nicht mehr von der Differenzierung in Nationalstaaten ausgehen, denn das Konzept einer vollständig funktional differenzierten Gesellschaft müsse folgerichtig auch diese Grenzen als anti-modem qualifizieren, was Esser freilich nicht tut. Insofern ist es theoretisch problematisch - imd damit komme ich auf Essers Ausgangspunkt zurück - , die primäre Differenzierungsform der Gesellschaft fur die einzige sozial wirksame Unterscheidung zu halten, die Kommunikation ermöglicht. Vielmehr gehört die Differenzierung in ethnische und nationale Vergesellschaftungen, in unterschiedliche Sprachgemeinschaften, in unterschiedliche kulturelle Traditionen, in dominante und subkulturelle ethnische Einflußsphären und in konfliktträchtige Interessenssphären aufgrund askriptiver Merkmale genuin zu modernen Vergesellschaftungsformen, die Personen nicht allein nach einem Merkmal inkludieren, sondem per Multiinklusion in die Gesellschaftsstruktur integrieren. Von hier aus ist Kreckels Feststellung zu unterstreichen, daß nicht ein, wenn auch konstitutives Merkmal der Modeme zu einem „a-historischen Traumgebilde" hypostasiert werden dürfe. [...] So scheint Esser - entgegen seinen eigenen Ausführungen (vgl. Esser 1988, S. 246) - kaum zu bedenken, daß funktionale Differenzierung keineswegs ein harmonisierendes, andere Differenzen überwindendes Faktum is^ sondem daß gerade mit den Versagungen und den Problemen hochkomplexer Gesellschaften Konfliktpotentiale zunehmen. Die vielbeschworene Sinn- und Legitimationskrise der modernen Gesellschaft ist weder dadurch zu kennzeichnen, uralte Wahrheiten seien ihrer ontologischen Würde entkleidet worden, noch dadurch, ein teleologisches Konstrukt funktionaler Differenzierung werde, wenn es sich einmal durchgesetzt haben sollte, diejenigen Konfliktlagen schon beseitigen, die zu ethnischen Konflikten führen. Neuerdings weist Luhmann selbst vermehrt auf eine skeptische Einschätzung der Folgen funktionaler Differenzierung in der Umwelt des Gesellschaftssystems hin, nicht nur bezogen auf die physisch-chemisch-organische Umwelt. Er hält es zunehmend für fraghch, „ob die Gesellschaft die psychischen Mentalitäten, vor allem diejenigen Motive erzeugt, mit denen sie als Gesellschaft fortexistieren kann, oder ob es auch hier zu Diskrepanzen kommen kann, die historisch ohne jede Parallele sind" (Luhmann 1988, S. 169). [...]

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[276] Als Fazit dieser Überlegungen fasse ich zusammen: Ethnische Konflikte und Selbstidentifikationsfolien sind keineswegs ein vor- oder frühmodemes Relikt, sondern sind in der Gesellschaftsstruktur der Moderne angelegt. Daß sie nicht mehr diejenige sozialintegrative Kraft besitzen wie im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, kaim als semantische Reaktion auf den prosperierenden Wohlfahrtsstaat, auf die kulturelle Liberalisierung der Gesellschaft und die Individualisierung von persönüchen Lebenslagen angesehen werdea Vornehmlich aber die segmentare Differenzierung der Weltgesellschaft in Nationalstaaten und die Differenzierung weltweiter Kommunikation in verschiedene Sprachen und kulturelle Stile sowie zunehmende weltweite Mobilität machen eine Auseinandersetzung mit ethnischen und nationalen Differenzierungen unerläßlich. Es dürfte plausibel geworden sein, daß der Topos ethnischer und nationaler Selbstidentifikationsmuster jenseits der Inklusion in das politische System eines Staates keineswegs dem Topos der funktionalen Differenzierung der Gesellschafi widerspricht Ohne Zweifel dürfte eine funktionierende, d.h. vergleichsweise konfliktfreie moderne Gesellschaft, in der gesellschaftlicher Reichtum, Zugang zu politischen Entscheidungen, zu Bildung und Gesundheitswesen nicht zu imgleich verteilt sind, in der vor allem die soziale Absicherung von Individuen organisiert ist, weniger anfällig für konflikthafte ethnische Mobilisierungen sein. Als ein partielles Identitätsmerkmal [277] unter anderen dient der ethnische Aspekt der Selbstidentifikation von Individuen, der auch - wie Identitätsbildung schlechthin - zunehmend von der individuellen Entscheidung der sich selbst identifizierenden Personen abhängig wird. Die Wahlfreiheit muß allerdings rechthch und politisch de facto gesichert sein (2) [...].

Anmerkungen: (1) Es ist bemerkenswert, daß Luhmann die Dritte im Bunde: Brüderlichkeit ausklammert. Sie könnte tatsächlich noch dem regressiven Wunsch nach vormodemer Solidarität der Gruppe und des Hauses entspringen. Brüderlich waren die revolutionären Umwälzungen der frühen Moderne gerade nicht, und mit dem Mangel an brüderlicher Solidarität hatte bisher jede soziahevolutionäre Bewegung zu kämpfen. Wie sollte es angesichts zunehmender Auflösung identitätsverbürgender Gruppen Bauern, Proletariat etc. - auch anders sein. Daß die Semantik der europäischen Revolutionen Brüder, Bürger und Genossen ständig beschwor, mag als Zeichen fiir die Gefährdung einer - um einen traditionellen Begriff zu gebrauchen - gemeinschaftlichen Fundienmg jener sozialen Bewegung stehen. (2) Das gilt übrigens auch für die historische Vorgängerin der Ethnizität, nämlich die Religion als obligatorische Vollinkludiererin. Vgl. dazu unsere religionssoziologischen Ausfiihrungen, NassehiAVeber 1989, S.402 ff.

Exkurs: Wie verständigen wir uns in der Wissenschaft?

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Zitierte Literatur:

Elwert, G.: Nationalismus und Ethnizität. Über die Bildung von Wir-Gruppen, in: Kölner Zeitschrift fiir Soziologie und Sozialpsychologie 41, 1989, S. 440-464. Esser, H.: Ethnische Differenzierung und moderne Gesellschaft, in: Zeitschrift fiir Soziologie 17, 1988, S. 235-248. Estel, В.: Gesellschaft ohne Nation? Zur nationalen Identität der Deutschen heute, in: Sociologia Intemationalis 26,1988, S. 173-207. Geser, H.: Einleitung: Der „ethnische Faktor" im Prozeß gesellschaftlicher Modernisierung, in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 7,1981, S. 165-178. Giddens, Α.: Nation-States and Violence, in: ders: Social Theory and Modern Sociology, Cambridge, 1988. Habermas, J.: 1st der Herzschlag der Revolution zum Stillstand gekommen? Volkssouveränität als Verfahren. Ein normativer Begriff von Öffentlichkeit? in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hrsg.): Die Ideen von 1789 in der deutschen Rezeption, Frankfurt am Main, 1989. Kreckel, R.: Ethnische Differenzierung und „moderne" Gesellschaft. Kritische Anmerkungen zu Hartmut Essers Aufsatz in der Zeitschrift für Soziologie, Jg. 17 (1988), S. 235-248, in: Zeitschrift fiir Soziologie 18,1989, S. 162-167. Luhmatm, N.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt am Main, 1980. Luhmann, N.: Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfiirt am Main, 1988. Nassehi, A. und G. Weber: Tod, Modernität und Gesellschaft. Entwurf einer Theorie der Todesverdrängung, Opladen, 1989. Nielsen, F.: Toward a Theory of Ethnic Solidarity in Modern Societies, in: American Sociological Review 30, 1985, S. 133-149. Scheuner, U.: Nationalstaatsprinzip und Staatenordnung seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, in: T. Schieder (Hrsg.): Staatsgründungen und Nationalstaatenprinzip, MünchenAVien, 1974. Wehler, H.-U.: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Erster Band: 1700-1815, 2. Aufl., München, 1989.

Quelle: Armin Nassehi (1990): ,7um Funktionswandel von Ethnizität im Prozeß gesellschaftlicher Modernisierung. Ein Beitrag zur Theorie funktionaler Differenzierung", in: Soziale Welt 41, S. 261-282.

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2.3.

Soziologisches Propädeutilnim

Soziologie und theoretische Forschung

Die Erörterungen aus dem Kapitel 2.1 haben gezeigt, dass soziologische Fragestellungen aus der Analyse und Interpretation sozialer Wirklichkeit in einem fachwissenschaftlichen Begriffsrahmen entstehen. Ein wesentlicher Bestandteil des fachwissenschaftlichen Begriffsrahmens, durch den sich der „soziologische Blick" auszeichnet, ist die theoretische Forschung. Das Wort „Theorie" leitet sich aus dem altgriechischen theoria ab und bedeutet „Anschauung", „Betrachtung", „Untersuchung". In der Soziologie wird es wie im wissenschaftlichen Diskurs allgemein in verschiedenen Zusammenhängen verwendet. Je nach dem, welcher Begriff zur Abgrenzung gebraucht wird, variiert das, was unter „Theorie" verstanden wird. Zum einen wird „Theorie" häufig in Abgrenzung von verwendet. Auf diese Weise unterscheidet man die Tätigkeiten, die gewohnheitsmäßig oder auch in außergewöhnlichen Situationen vollzogen werden, von ihrer Reflexion. Auf der einen Seite ist dabei das Verhältnis von Theorie und Praxis entstehungslogisch durch eine klare zeitliche Beziehung gekennzeichnet. Erst kommt die Praxis und dann, als deren Reflexion, die Theorie. Insofern Soziologie als die Reflexion gesellschaftlicher Praxis zu begreifen ist, hinkt sie dem gesellschaftlichen Wandel hinterher. Sie kann immer nur nachvollziehen, aufgrund welcher Faktoren sich die Gesellschaft gewandelt hat, und auf diese Weise Erfahrungen sammeln, um begründete Spekulationen über zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen abzugeben. Auf der anderen Seite schließt das entstehungslogische Nacheinander von Praxis und Theorie natürlich nicht aus, dass soziologisch-theoretische Reflexion als Orientierungswissen in der gesellschaftlichen Praxis relevant werden kann (vgl. dazu 2.5.). Da nun aber die Reflexion über gesellschaftliche Praxis kein Privileg der Soziologie ist, sondern alltäglich vollzogen wird, stellt sich die Frage, was denn soziologische Interpretationen von den Alltagstheorien unterscheidet, die das gesamte gesellschaftliche Handeln durchziehen? Übersetzt die Soziologie vielleicht einfach Alltagstheorien in ihr wissenschaftliches Vokabular und verkauft diese Übersetzung dann als neue Erkenntnis? Ist das vielleicht sogar die besondere Auf-

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gäbe theoretischer Arbeit in der Soziologie? Begreift man, wie es überwiegend der Fall ist, Soziologie als Erfahrungswissenschaft, dann fallt die Antwort auf diese Fragen vergleichsweise deutlich aus. Soziologische Forschung verändert Vorstellungsinhalte dadurch, dass die Begriffe, die sie erarbeitet, an der Erfahrung überprüft werden. Damit ist der zweite Gegenbegriff genannt, der im Zusammenhang mit dem Theoriebegriff verwendet wird: die Erfahrung bzw. Empirie (nach dem altgriechischen empeiriä). Was unter Erfahrung verstanden wird, unterscheidet sich hier allerdings vom alltäglichen Sprachgebrauch. Dort bezeichnet „Erfahrung" die Kenntnisse und Fähigkeiten, über die eine Person verfugt. In dieser Fassung kommt das, was unter „Erfahrung" verstanden wird, dem Praxisbegriff sehr nahe. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch wird die Unterscheidung von „empirisch" und „theoretisch" verwendet, um auf zwei verschiedene Aspekte des Forschungsprozesses hinzuweisen. Unter „empirischer Forschung" wird das methodisch gelenkte Erzeugen und Auswerten von Wahmehmungsdaten verstanden (vgl. dazu 2.4.). Demgegenüber meint „theoretische Forschung" die Erzeugung und Rechtfertigung von Begriffen und Begriffskomplexen, die der Ordnung, Kategorisierung und Bewertung von Wahrnehmungsdaten dienen. Die Unterscheidung von empirischer und theoretischer Forschung ist aus einer Arbeitsteilung hervorgegangen, ihr liegt aber keine strikte Trennung zugrunde. Denn selbstverständlich kommt keine empirische Forschung ohne Begriffe und Theorien zu ihren Daten aus. Reine Wahrnehmung - ohne dass sich Vorstellungen mit der Wahrnehmung verbinden - ist, wenn überhaupt, nur als ahnungsvolles Empfinden möglich. Sobald diese Empfindung reflektiert oder in Sprache gefasst wird, werden die Sinneswahrnehmungen vor einem Horizont von Vorstellungen interpretiert. Auch die empirische Forschung baut demnach auf begrifflich-theoretischen Bestandteilen auf Im Überblick lassen sich vier verschiedene Aspekte der theoretischen Forschung in der Soziologie unterscheiden: (1) die Analyse soziologischer Begriffe, (2) allgemeine soziologische Orientierungen, (3) Methodologien und (4) Komplexe soziologischer Gesetzesaussagen und Schlussregeln. Im Einzelnen verbirgt sich hinter diesen Aspekten folgendes: (1) Ein großer Teil der theoretischen Forschung in der Soziologie ist mit der Analyse der Begriffe befasst, mit denen Wahrnehmungs-

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Soziologisches Propädeutilnm

daten interpretiert werden. Dabei ist es unerlässlich, zwischen Wörtern und Begriffen zu unterscheiden. Ein Wort ist nichts anderes als eine Kombination von gesprochenen Lauten oder Buchstaben. Mit diesen Zeichen ist aber eine Bedeutung verbunden. Das heißt, die Zeichen verweisen die Menschen, die sie benutzen oder hören, auf etwas. Das Ziel begrifflicher Analysen in der theoretischen Forschung besteht darin zu klären, welche Vorstellungen mit Wörtern vwe „Gesellschaft", „Handeln", „soziales System", „Klasse", „Schicht" usw. verbunden sind. Hierfür ist es bedeutsam, den Entstehungszusammenhang eines Begriffes nachzuvollziehen und die Geschichte der Begriffsverwendung aufzuklären. Insbesondere Bedeutungsverschiebungen sind interessant. Diese gilt es nicht nur historisch aufzudecken, sondern auch bei der Begriffsverwendung zeitgenössischer Autoren. Außerdem muss analysiert werden, wie sich ein Begriff von anderen abgrenzt. Wie ist z.B. der Begriff des „Lebensstils" im Gegensatz zu „Schicht" oder „Klasse" definiert, und zu welchem Zweck sind sie so definiert? (2) Allgemeine soziologische Orientierungen sind die Fundamente soziologischen Denkens. Sie entstehen zumeist personengebunden aufgrund von Erfahrungen, in denen ein Soziologe oder eine Soziologin ein bestimmtes Problem des menschlichen Zusammenlebens oder eine Sichtweise auf soziale Beziehungen als grundlegend fur die soziologische Perspektive erkannt hat. In der Soziologie kursieren eine Vielzahl solcher allgemeiner Orientierungen. Beispiele sind hier die Kritische Theorie, der utilitaristisch-nutzentheoretische Ansatz, der Strukturalismus, die Systemtheorie, der figurationstheoretische Ansatz, usw. Der Aufbau solcher allgemeinen Orientierungen - zuweilen spricht man auch von „Paradigmen" - und ihre Diskussion im Kontext mit anderen, konkurrierenden Ansätzen ist ein wichtiger Teil der theoretischen Forschung, da er wegweisend sein kann für alle weiteren Aspekte der theoretischen und der empirischen Arbeit. (3) Unter Methodologie versteht man im Allgemeinen die Reflexion von Methoden der empirischen Forschung. Dabei wird nach der Angemessenheit der Methoden im Verhältnis zur Forschungsfrage, nach den Möglichkeiten und Grenzen der methodisch erzeugten Wahrnehmungsdaten und nach den philosophischen Vor-

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Kontext wäre zu klären, ob man z.B. theoretische Annahmen über die politischen Strukturen einer Gesellschaft dadurch überprüfen kann, dass man einige wenige Politiker der Regierung interviewt und diese Interviews auswertet, oder ob sich eine sinnverstehende Soziologie auf statistische Analysen berufen kann. Daraus wird ersichtlich, dass die Methodologie die Verbindung zwischen der theoretischen Begriffsarbeit und der empirischen Forschung herstellt. (4) Die Aufgabe soziologischer Forschung besteht darin, Regelmäßigkeiten und Zusammenhänge aufzuzeigen, um auf diese Weise Reflexionen über die Zwecke und Ziele menschlichen Handelns anzustoßen. Demnach kann Soziologie darauf hinauslaufen, Komplexe von soziologischen Gesetzesaussagen und Schlussregeln zu erarbeiten. Solche Komplexe sind wissenschaftliche Lehrgebäude, die losgelöst von den Methoden bestehen, mit denen sie erarbeitet werden. Sie stecken einen Deutungshorizont für vergangene und einen Erwartungshorizont für zukünftige Ereignisse ab. Ein bereits vorgestelltes Beispiel für solche Aussagenkomplexe ist die Modernisierungstheorie und mit der ihr impliziten Annahme, dass Modernisierung zu einem gesamtgesellschaftlichen Bedeutungsverlust ethnischer Merkmale führt. Seit der „Entdeckung" der Soziologie durch Auguste Comte ist eine Vielzahl von allgemeinen soziologischen Orientierungen, Gesetzen, Methodologien und Begriffen erarbeitet worden. In den Lehrbüchern über soziologische Theorie werden sie mal nach historischen, mal nach inhaltlich-systematischen Kriterien zusammenfassend dargestelh. Im theoretischen Diskurs der Soziologie ist insbesondere der zweite Zugang von Interesse, weil dabei besondere Aspekte soziologischer Theorien hervorgehoben werden. Ein solches Kriterium könnte zum Beispiel die Erklärungslogik sein. So könnten soziologische Ansätze danach geordnet werden, ob sie: (1) bei der Analyse von Handlungen Einzelner ansetzen und darauf aufbauend die Entwicklung von Gesellschaft erklären, (2) ausgehend von der Gesellschaftsanalyse dazu übergehen, das Handeln des Einzelnen zu erklären, oder

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(3) die Handlungen Einzelner insoweit betrachten, als darin gesellschaftliche Verhältnisse eingegangen sind, um dann die Verkettung solcher Ereignisse zu erklären. Der erstgenannte Erklärungstypus, der von der Analyse des Handelns zur Erklärung gesellschaftlicher Verhältnisse übergeht, lässt sich an David Hume (1711-1776) verdeutlichen. Hume war zwar kein Soziologe, sondern empiristischer Philosoph, gilt aber heute auch als wichtiger Exponent einer Denkrichtung, die in der Soziologie Bedeutung erlangt hat, nämlich der schottischen Moralphilosophie. Ihm zufi)lge ist die Grundlage menschlichen Handelns eine konstante menschliche Natur, in der u.a. auch das Interesse an der Wohlfahrt anderer - „benevolence" - verankert ist. In den einzelnen Situationen speist sich Handeln aus den konkreten Mischungen von Affekten, empirischem Instinkt und den Weisungen des Willens, woraus dann wiederum die Vielfalt der gesellschaftlichen Verhältnisse entsteht. Die Aufgabe der Soziologie wäre es diesem Konzept gemäß aufzuklären, aus welchen Situationen welche gesellschaftlichen Verhältnisse entstehen und was die Entfaltung jener Handlungspotenziale blockiert, die gesellschaftliche Wohlfahrt bedingen. Zum vertieften Verständnis dieses soziologischen Ansatzes ist daher eine Analyse der Begriffe des „Handelns", der „Gleichheit der Menschheit", des „Interesses" und vor allem auch der „Situation" angebracht. Der zweitgenannte Ansatz, der gerade fiir die Entstehung der Soziologie als wissenschaftlicher Disziplin im 19. Jahrhundert wichtig gewesen ist, leitet das Handeln des Einzelnen aus den gesellschaftlichen Umständen her. Neben dem Namensgeber der Disziplin, Auguste Comte, sind hier insbesondere Karl Marx und Friedrich Engels (1 ΒΙΟΙ 895) zu nennen. In ihrem Konzept der materialistischen Gesellschaftsanalyse gingen sie - in kritischer Auseinandersetzung mit der Philosophie des Deutschen Idealismus' - davon aus, dass letztlich das Bewusstsein durch das gesellschaftliche, und darunter verstanden sie vor allem das ökonomische, Sein bestimmt werde. Dieses Erklärungsschema zugrunde legend, analysierten sie die Gesellschaftsgeschichte, indem sie das historische Material in ihre Kategorien einordneten. Eine eigenständige Methodologie für die empirische Forschung entwickelten sie demnach nicht. Mit ihren historischen Analysen stützten sie ihre Annahme, dass „die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft

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[...] die Geschichte von Klassenkämpfen (ist)", und prognostizierten den Fortgang der Klassenkämpfe, bis alle Klassen in einer klassenlosen Gesellschaft aufgehoben sein werden. Wesentliche Begriffe dieses Ansatzes sind dem entsprechend „Klasse" und „Klassenkampf', „Basis und Überbau" bzw. „Sein und Bewusstsein", aber auch „Produktivkräfte" und „Produktionsverhältnisse", die in ihren konkreten Ausprägungen kennzeichnend für eine „Gesellschaftsformation" sind. Das zuletzt genannte Erklärungsprogramm ist in der Konstitutionsphase der Soziologie in Deutschland von Max Weber, in Frankreich von Emile Durkheim verfolgt worden. Durkheim z.B. entwickelte hierfür den bereits erwähnten Begriff des „soziologischen Tatbestandes". Er ging davon aus, dass sich in der soziologischen Analyse das Prinzip der Kausalität anwenden ließe. In methodologischer Hinsicht betrieb er unter der Voraussetzung, dass man die soziale Wirklichkeit vergangener und gegenwärtiger Situationen in ihren Beziehungen erkennen kann, empirische Sozialforschung mit verschiedenen Methoden. Hierbei verfolgte er das Ziel, auf der Grundlage soziologischen Wissens soziale Prozesse steuern und „gesellschaftliche Pathologien" vermeiden zu können. Zusammenfassend ist zu betonen, dass das Studium der theoretischen Forschung in der Regel auf einer intensiven Auseinandersetzung mit nicht immer leicht verdaulichen Texten basiert. Es führt in grundlegende philosophische Fragen hinein und kann dadurch neue Gedankenwehen erschließen, die einen veränderten Blick auf die Welt ermöglichen. Wer sich auf begrifflich-theoretische Erörterungen einlässt und die Geduld mitbringt, die die Einarbeitung in unterschiedliche Theoriegebäude erfordert, wird selbst Zusammenhänge, Querverweise und Abgrenzungen entdecken können.

Übungsaufgaben Auf den folgenden Seiten finden Sie zwei einschlägige Texte von bekannten Soziologen, einen von Emile Durkheim, dem Begründer der französischen Soziologie, den anderen von Max Weber, einem promi-

^^ Marx, Karl; Engels, Friedrich (1974): Marx Engels Weike Bd. 4, Berlin: Dietz, S.462.

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nenten Vertreter der deutschen Soziologie. Die hier abgedruckten Auszüge aus Dürkheims methodologischem Hauptwerk von 1895 mit dem Titel „Die Regeln der soziologischen Methode" (im französischen Original: Les règles de la méthode sociologique) veranschaulichen theoretische Argumente, mit deren Hilfe sich ein „soziologischer Blick" begründen lässt. Ihnen gegenüber entwickeh Weber in seinem ebenso klassischen Artikel „Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie" von 1913, aus dem das zweite hier ausgewählte Textbeispiel stammt, eine andere Perspektive als Durkheim und fuhrt auch für sie eine Reihe theoretischer Argumente an. Erarbeiten Sie sich die theoretischen Positionen beider Texte anhand der folgenden Fragen: 1. Was ist für Durkheim und Weber jeweils der Gegenstand der Soziologie? 2. In welcher Hinsicht gehört menschliches Handeln für Durkheim und Weber zum Gebiet der Soziologie? 3. Von welchen wissenschaftlichen Fächern grenzen Durkheim und Weber die Soziologie ab und mit welchen Gründen? 4. Welche Beispiele fallen Ihnen ein, die sowohl im einen als auch im anderen Fall in das Gebiet der Soziologie fallen? Und bei welchen Beispielen kämen Durkheim und Weber zu einem unterschiedlichen Ergebnis?

Arbeitstext 6: „Was ist ein soziologischer Tatbestand?" (Emile Durkheim) [105] Bevor untersucht wird, welche Methode sich zum Studium der soziologischen Tatbestände eignet, ist es von Wichtigkeit zu wissen, was denn das für Tatbestände sind, die man mit diesem Namen belegt. Diese Fragestellung erscheint um so notwendiger, als man den Ausdruck »soziologischer Tatbestand« ohne besondere Präzision verwendet. Man gebraucht ihn hergebrachterweise, um beinahe alle Erscheinungen zu bezeichnen, die sich in der Gesellschaft vollziehen, weim sie nur ein Mindestmaß an sozialem Interesse mit einer gewissen Allgemeinheit vereinigen. In diesem Sinne gibt es aber sozusagen kein menschlich bedeutsames Geschehnis, das nicht sozial genannt werden könnte. Jedes Individuum trinkt, schläft, ißt, denkt, und die Gesellschaft hat alles Interesse daran, daß diese Funktionen regelmäßig vor sich gehen. Wären sie aber soziologische Tatbestände, so gäbe es keinen besonderen Gegenstand der Soziologie, ihr Gebiet würde mit dem der Biologie und der Psychologie zusammenfallen.

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In Wahrheit gibt es in jeder Gesellschaft eine fest umgrenzte Gruppe von Erscheinungen, die sich deutlich von all denen unterscheiden, welche die übrigen Naturwissenschaften erforschen. Wenn ich meine Pflichten als Bruder, Gatte oder Bürger erfülle, oder wenn ich übemommene Verbindlichkeiten einlöse, so gehorche ich damit Pflichten, die außerhalb meiner Person imd der Sphäre meines Willens im Recht und in der Sitte begründet sind. Selbst wenn sie mit meinen persönüchen Gefühlen im Einklänge stehen und ich ihre Wirklichkeit im Innersten empfinde, so ist diese doch etwas Objektives. Denn nicht ich habe diese Pflichten geschaffen, ich habe sie vielmehr im Wege der Erziehung übernommen. Wie oft kommt es vor, daß über die Einzelheiten der auferlegten Verpflichtungen Unklarheit herrscht, und sich, um sie voll zu erfassen, die Notwendi^ceit ergibt, das Gesetz und seine berufenen Inteφreten zu Rate zu ziehen. Ebenso hat der gläubige Mensch die Bräuche und Glaubenssätze seiner Religion bei seiner Geburt fertig vorgefunden. Daß sie vor ihm da waren, setzt voraus, daß sie außerhalb seiner Person existieren. Das Zeichensystem, dessen ich mich bediene, um [106] meine Gedanken auszudrücken, das Münzsystem, in dem ich meine Schulden zahle, die Kreditpapiere, die ich bei meinen geschäftlichen Beziehungen benütze, die Sitten meines Berufes führen ein von dem Gebrauche, den ich von ihnen mache, unabhängiges Leben. Das eben Gesagte kann für jeden einzelnen Aspekt des gesellschaftUchen Lebens wiederholt werden. Wir finden also besondere Arten des Handelns, Denkens, Fühlens, deren wesentliche Eigentümlichkeit darin besteht, daß sie außerhalb des individuellen Bewußtseins existieren. Diese Typen des Verhaltens und des Denkens stehen nicht nur außerhalb des Individuums, sie sind auch mit einer gebieterischen Macht ausgestattet, kraft deren sie sich einem jeden aufdrängen, er mag wollen oder nicht. Freilich, wer sich ihnen willig und gerne fügt, wird ihren zwingenden Charakter wenig oder gar nicht empfinden, da Zwang in diesem Falle überflüssig ist. Deimoch ist er aber eine diesen Dingen immanente Eigenschaft, die bei jedem Versuche des Widerstandes sofort hervortritt. Versuche ich, die Normen des Rechtes, zu übertreten, so wenden sie sich wider mich, um meine Handlung zu verhindern, wenn es noch an der Zeit ist, oder sie als nichtig aufzuheben und in ihre normale Form zu bringen, wenn sie schon begangen ist und noch gutgemacht werden kann, oder mich für sie büßen zu lassen, wenn sie nicht mehr gutzumachen ist Handelt es sich um rein moralische Gebote? Die öffentliche Meinung verhindert jeden Akt, der sie verletzt, durch die Aufsicht, die sie über das Benehmen der Bürger ausübt, und durch die besonderen Strafen, über die sie verfugt. In anderen Fällen ist der Zwang weniger fühlbar. Allein er besteht auch da. Wenn ich mich geltenden Konventionen der Gesellschaft nicht fuge, etwa in meiner Kleidung den Gewohnheiten meines Landes und meiner Юasse keine Rechnung trage, wird die Heiterkeit, die ich errege, und die Distanz, in der man mich hält, auf sanftere Art denselben Erfolg erzielen wie eine eigentliche Strafe. In anderen Fällen ist der Zwang nicht weniger wirksam, selbst wenn er nur indirekt ist. Ich bin nicht gerade verpflichtet, mit meinen Landsleuten französisch zu sprechen, auch nicht, die gesetzliche Währung zu gebrauchen. Und doch ist es unmöglich, daß ich anders handle. Ein Versuch, mich dieser Notwendigkeit zu entziehen, müßte elendigUch scheitern. Nichts hindert einen Industriellen daran, mit den Methoden eines anderen Jahrhunderts zu arbeiten. Er soll es aber nur tun. Sein Ruin wäre sicher.

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Selbst wenn ich mich in der Tat von diesen Regeln befreien und sie mit Erfolg verletzen kann, bleibt mir doch der Kampf gegen sie nicht erspart Und selbst weim sie endgültig überwunden werden, spürt man ihre Zwangsgewalt an dem Widerstand, den sie einem entgegensetzen. [107] Es gibt keinen Neuerer, nicht einmal einen erfolgreichen, dessen Unternehmungen nicht auf Widerstände dieser Art stoßen. Hier liegt also ein Юasse von Tatbeständen von sehr speziellem Charakter vor: sie bestehen in besonderen Arten des Handelns, Denkens und Fühlens, die außerhalb der Einzehien stehen m d mit zwingender Gewalt ausgestattet sind, kraft deren sie sich ihnen aufdrängen. Mit organischen Erscheinungen sind sie nicht zu verwechseln, denn sie bestehen aus Vorstellungen und Handlungen, ebensowenig mit psychischen Erscheinungen, deren Existenz sich im Bewußtsein des Einzelnen erschöpft. Sie stellen also eine neue Gattung dar und man kann ihnen mit Recht die Bezeichnung »sozial« vorbehalten. Sie gebührt ihnen. Denn da ihr Substrat nicht im Individuimi gelegen ist, so verbleibt für sie kein anderes als die Gesellschaft, sei es die staatliche Gesellschaft als Ganzes, sei es eine der Teilgrappen, die sie einschließt, Religionsgemeinschaften, politische oder literarische Schulen, berufliche Koφorationen usw. Andererseits gebührt sie ihnen ausschließhch. Denn das Wort »sozial« hat einen bestimmten Sinn einzig unter der Voraussetzung, daß lediglich die Erscheinungen damit benannt werden, die in keine andere schon bestehende und benaimte Kategorie fallen. Sie bilden also das der Soziologie eigene Gebiet. Freilich legt der zur Abgrenzung benützte Begriff des Zwanges die Gefahr nahe, eifrige Anhänger eines absoluten Individualismus in Aufregung zu versetzen. Weil sie auf die schlechthinnige Autonomie des Einzelnen schwören, erscheint es ihnen als Herabwürdigung, wenn man erklärt, der Einzelne hänge doch nicht nur von sich selbst ab. Es läßt sich heutzutage nicht mehr bestreiten, daß die Mehrzahl unserer Gedanken und Bestrebungen nicht unser eigenes Werk sind, sondern uns von außen zuströmen. Sie können nur in uns eindringen, indem sie sich uns aufdrängen. Mehr will imsere Definition nicht sagen. Überdies weiß man ja, daß sozialer Zwang die individuelle Freiheit nicht notwendigerweise ausschließt (1) [...]. [109] Ihre Allgemeinheit kann also nicht zur Charakteristik der sozialen Phänomene benutzt werden. Ein Gedanke, der sich in jedem Sonderbewußtsein vorfindet, oder eine Bewegung, die bei allen Individuen in gleicher Weise auftritt, ist darum noch kein soziologischer Tatbestand. Man begnügte sich nur darum mit diesem Merkmal bei der Definition der »soziologischen Tatbestände«, weil man sie zu Unrecht mit dem zusammengeworfen hat, was man ihre individuellen Inkarnationen nennen könnte. Ihr Inhalt sind die Glaubensvorstellungen, die Neigungen, die Gebräuche einer Gruppe als Ganzes genommen. Die Formen, die die kollektiven Zustände annehmen, sofern sie sich in den Individuen widerspiegeln, sind Dinge ganz anderer Art. Die Zweiheit ihrer Natur zeigt sich offensichtlich darin, daß beide Arten von Tatsachen häufig voneinander getrennt auftreten. In der Tat nehmen manche Arten des Handelns und des Denkens infolge ihrer ständigen Wiederholung eine gewisse Konsistenz an, welche sie gewissermaßen beschleunigt und sie von den einzelnen Ereignissen isoliert, in denen sie sich vollziehen. Sie nehmen körperhafte Gestalt, wahrnehmbare, ihnen eigene Formen an und bilden eine Realität sui generis, die sich von den individuellen Handlungen, in denen sie sich offenbart, vollständig unterscheidet. Die kollektive Gewohnheit existiert nicht nur im Zustand der Immanenz in

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den sukzessiven Akten, die sie bestimmt; vermöge einer Besonderheit, für die es im Bereiche des Biologischen kein Beispiel gibt, wird sie ein fiir allemal in einer [110] Form ausgedrückt, die von Mund zu Mund geht, durch Erziehung sich fortpflanzt und sogar durch die Schrift festgehalten wird. Solcherart sind der Ursprung und die Natur rechtlicher und sittlicher Gebote, der Sprichworte und volkstümlichen Wendungen, der Dogmen, in denen religiöse oder politische Sekten ihr Glaubensbekenntnis festlegen, der Regeln des Geschmacks, die von literarischen Schulen aufgestellt werden, usw. Keine dieser Normen geht vollkommen in den Anwendungen auf, die die Einzelnen von ihr machen, da sie ja vorhanden sein können, ohne wirklich angewendet zu werden. [...]. [III] Man wird jedoch einwenden, ein Phänomen könne nur kollektiv sein, wenn es allen Mitgliedern der Gesellschaft gemeinsam ist oder wenigstens der Mehrzahl von ihnen, also wenn es allgemein ist. Zweifelsohne; aber wenn es allgemein ist, so ist es das, weil es kollektiv (d.h. mehr oder weniger obligatorisch) ist; und nicht umgekehrt ist es kollektiv, weil es allgemein ist. Es ist ein Zustand der Gruppe, der sich bei den Einzelnen wiederholt, weil er sich ihnen aufdrängt. Er ist in jedem Teil, weil er im Ganzen ist, und er ist nicht im Ganzen, weil er in den Teilen ist. Das ist insbesondere evident bei den Glaubensvorstellungen und Gewohnheiten, die von f№heren Generationen fertig auf uns überkommen sind. Wir übernehmen und pflegen sie, weil sie als ein Werk des Kollektivs und der Jahrhunderte mit einer besonderen Autorität ausgestattet sind, die die Erziehung uns anzuerkennen und zu achten gelehrt hat. Nun ist zu bemerken, daß die überwiegende Mehrheit der sozialen Erscheinungen auf diesem Wege zu uns gelangt. Sogar wenn ein soziales Phänomen wenigstens zum Teil auf unsere Mitwirkung zurückgeht, ist es von keiner anderen Beschaffenheit. Ein Kollektivaffekt, der in einer Versammlung ausbricht, drückt nicht einfach das den Gefühlen der Einzelnen Gemeinsame aus. Er ist, wie wir gezeigt haben, ein Ding von ganz anderem Charakter. Er ist eine Resultante des Gemeinschaftslebens, ein Erzeugnis der Wirkungen imd Gegenwirkungen, die sich zwischen den individuellen Psychen abspielen, und wenn er in jedem Bewußtsein einen Widerhall findet, geschieht dies vermöge einer besonderen Energie, die er gerade seinem kollektiven Ursprung verdankt. Der Zusammenklang der Empfindungen ist nicht die Folge einer spontanen und vorgeplanten Harmonie, sondern ein und derselben Kraft, die alle im selben Sinn bewegt. Der Einzelne wird von der Gesamtheit hingerissen. Wir können uns jetzt über das Gebiet der Soziologie genaue Rechenschaft geben. Es umfaßt nur eine begrenzte Gruppe von Erscheinungen. Ein soziales Phänomen ist an der äußerlich verbindlichen Macht [112] zu erkennen, die es über die Einzelnen ausübt oder auszuüben imstande ist; und das Vorhandensein dieser Macht zeigt sich wiederum an entweder durch das Dasein einer bestimmten Sanktion oder durch den Widerstand, den das Phänomen jedem Beginnen des Einzelnen entgegensetzt, das ihn zu verletzen geeignet ist. Eine andere Bestimmung bietet die Diffusion, die das soziale Phänomen innerhalb einer Gruppe aufweist, vorausgesetzt, daß im Sinne der vorgehenden Ausführungen ein zweites und wesenüiches Merkmal hinzugefügt wird, daß es imabhängig von den Einzelformen existiert, die es bei der Diffusion annimmt. Dieses zweite Kriterium ist sogar in manchen Fällen leichter anzuwenden als das fniher erwähnte. Tatsächlich ist der Zwang imschwer zu konstatieren, sobald

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er sich im Wege einer unmittelbaren Reaktion der Gesellschaft nach außen überträgt, wie es beim Rechte, der Sitte, dem Brauch, den Glaubensvorstellungen, selbst bei den Moden der Fall ist Der mittelbare Zwang, wie etwa der, den eine wirtschaftliche Organisation ausübt, läßt sich nicht immer so gut wahrnehmen. Die Allgemeinheit, verbunden mit der Gegenständlichkeit, kann aber leicht festgestellt werden. Übrigens ist diese zweite Definition nur eine andere Form der ersten. Denn wenn eine Art des Verhaltens, die außerhalb des Einzelbewußtseins existiert, allgemein wird, kaim es nicht anders geschehen als durch Zwang [...]. Indessen kann man fragen, ob diese Definition auch vollständig ist. Und wirklich sind die Tatbestände, von denen wir ausgegangen sind, durchweg Arten des Handelns-, sie gehören also der physiologischen [113] Ordnung an. Nun gibt es auch Arten des Kollektivseins, d.h. soziologische Tatbestände anatomischer oder morphologischer Ordnung. Die Soziologie kann sich des Interesses für Erscheinungen nicht entschlagen, die das Substrat des Kollektivlebens betreffen. Und doch läßt sich die Zahl und Natur der Teile, aus denen sich Gesellschaft zusammensetzt, die Art ihrer Anordnung, die Innigkeit ihrer Verbindung, die Verteilung der Bevölkerung über die Oberfläche des Landes, die Zahl und Beschaffenheit der Verkehrswege, die Gestaltung der Wohnstätten usw. bei oberflächlicher Prüfimg scheinbar nicht auf Formen des Handelns, Fühlens und Denkens zurückfiihren. Dabei zeigen aber diese unterschiedlichen Erscheinungen dieselben Merkmale, die zur Definition der anderen herangezogen wurden. Diese Arten des Seins drängen sich dem Einzelnen genau so auf, wie die früher besprochenen Arten des Handelns. Wer die Art der politischen Teilung einer Gesellschaft, die Zusammensetzung dieser Teile, die mehr oder weniger enge Verbindung zwischen ihnen keimenlemen will, kann zu diesem Ziele nicht durch eine rein materielle Untersuchung und durch geographische Beobachtungen gelangen. Diese Einteilungen sind moralischer Natur, werm sie auch in der physischen Natur eine Grundlage haben. Erst vermittels des öffentlichen Rechtes ist ¿ e Erforschung dieser Verfassung möglich; denn das Recht regelt sie ebenso wie alle unsere häuslichen und bürgerlichen Beziehungen; ihr kommt derselbe obligatorische Charakter zu. Daß sich die Bevölkerung in den Städten zusammendrängt, anstatt sich über das Land zu verstreuen, geschieht, weil es eine Meinungsströmung und einen kollektiven Drang gibt, der den Einzelnen eine solche Konzentration auferlegt. Es steht uns ebensowenig frei, die Form unserer Häuser zu wählen, wie die der Юeidung; die eine ist mindestens im gleichen Maße verbindlich wie die andere. Die Verkehrswege bestimmen gebieterisch die Richtung der Binnenwandenmgen und des Handels und sogar die Intensität der Wanderungen und des Handels usw. Folglich könnte man höchstens der Liste der filiher aufgezählten Erscheinungen eine Kategorie mehr hinzufiigen, die ebenfalls die Kennzeichen der soziologischen Tatbestände aufweist. Da diese Aufzählung keineswegs erschöpfend war, wäre diese Hinzufügung nicht unerläßlich. Sie ist nicht einmal besonders nützlich; denn diese Arten des sozialen Daseins sind nur gefestigte Arten des Handelns. Die politische Struktur einer Gesellschaft besteht nur in der Art, wie die verschiedenen Teile, aus denen sie sich zusammensetzt, gewohnheitsmäßig miteinander leben. Sind ihre Beziehungen traditionell eng, so trachten sie sich zu vermischen, im Gegenfalle, sich schärfer zu scheiden. Der Typus [114] der Wohnstätte, der uns aufgezwungen wird, besteht lediglich in der Art, wie

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unsere Umwelt imd zum Teil schon frühere Generationen ihre Häuser zu bauen sich gewöhnten. Die Verkehrswege stellen nur das Bett dar, das der regelmäßige Strom der Wandenmgen und des Handels sich selbst gegraben hat. Wären fieiUch die Erscheinungen der morphologischen Ordnung die einzigen, die eine solche Beharrlichkeit zeigen, so könnte man glauben, daß sie eine Art für sich bildea Aber eine rechtliche Norm ist eine nicht minder dauerhafte Einrichtung wie ein architektonischer Typus, obwohl es sich um eine physiologische Tatsache handelt. Eine einfache moralische Maxime ist sicherlich eher schmiegsam. Und doch hat sie starrere Formen als etwa eine Berufssitte oder eine Mode. So gibt es eine ganze Skala von Abstufungen, die in Form eines Kontinuums von den ausgesprochen strukturierten Tatbeständen zu den freien Strömungen des sozialen Lebens reichen, die noch in keine feste Form eingegangen sind. Es gibt also zwischen ihnen nur Gradunterschiede der Konsolidierung. Die einen wie die anderen sind nur mehr oder weniger kristallisiertes Leben. Zweifelsohne können Gründe dafür sprechen, die Bezeichnung morphologisch jenen soziologischen Tatbeständen vorzubehalten, die das Substrat der Gesellschaft betreffen; doch darf dabei nicht außer acht gelassen werden, daß sie ihrer Natur nach den anderen gleichen. Unsere Definition wird also weit genug sein, wenn sie sagt: Ein soziologischer Tatbestand ist jede mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die die Fähigkeit besitzt, auf den Einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben: oder auch, die im Bereiche einer gegebenen Gesellschaft allgemein auftritt, wobei sie ein von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben besitzt (2).

Anmerkungen: (1) Übrigens wollen wir nicht gesagt haben, daß jeder Zwang etwas Normales ist. Wir werden auf diesen Punkt noch weiter zu sprechen kommen. (2) Die enge Verwandtschaft zwischen dem Leben und der Struktur, dem Organ und der Funktion kann in der Soziologie leicht festgestellt werden, weil zwischen diesen beiden Grenzfällen eine ganze Reihe von leicht zu beobachtenden ZwischengHedem existiert, die auf deren enge Verbindung hindeuten. Die Biologie entbehrt dieses Hilfsmittels. Doch ist die Annahme statthaft, daß die Induktionen der ersten Wissenschaft auf die andere übertragbar sind und daß bei den Organismen sowohl wie bei den Gesellschaften zwischen diesen beiden Gattungen von Tatbeständen nur graduelle Unterschiede bestehen. Die enge Verwandtschaft zwischen dem Leben und der Struktur, dem Organ und der Funktion kann in der Soziologie leicht festgestellt werden, weil zwischen diesen beiden Grenzfällen eine ganze Reihe von leicht zu beobachtenden Zwischengliedern existiert, die auf deren enge Verbindung hindeuten. Die Biologie entbehrt dieses Hilfsmittels. Doch ist die Annahme statthaft, daß die Induktionen der ersten Wissenschaft auf die andere übertragbar sind und daß bei den Organismen sowohl wie bei den Gesellschaften zwischen diesen beiden Gattungen von Tatbeständen nur graduelle Unterschiede bestehen.

Quelle: Emile Durkheim (1995): Die Regeln der soziologischen Methode. Hrsg. und eingeleitet von René König, 3. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 105-114.

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Arbeitstext 7:

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„Vom Sinn einer »verstehenden« Soziologie" (Max Weber)

[403] Mensclüiches (»äußeres« oder »inneres«) Verhalten zeigt sowohl Zusammenhänge wie Regelmäßigkeiten des Verlaufs wie alles Geschehen. Was aber, wenigstens im vollen Sinne, nur [404] menschlichem Verhalten eignet, sind Zusammenhänge und Regelmäßigkeiten, deren Ablauf verständlich deutbar ist Ein durch Deutung gewonnenes »Verständnis« menschlichen Verhaltens enthält zunächst eine spezifische, sehr verschieden große, qualitative »Evidenz«. Daß eine Deutung diese Evidenz in besonders hohem Maße besitzt, beweist an sich noch nichts fiir ihre empirische Gültigkeit. Denn ein in seinem äußeren Ablauf und Resultat gleiches Sichverhalten kann auf unter sich höchst verschiedenartigen Konstellationen von Motiven beruhen, deren verständlich-evidenteste nicht immer auch die wiiklich im Spiel gewesene ist. Immer muß vielmehr das »Verstehen« des Zusammenhangs noch mit den sonst gewöhnlichen Methoden kausaler Zurechnung, soweit möglich, kontrolliert werden, ehe eine noch so evidente Deutung zur gültigen »verständlichen Erklärung« wird. Das Höchstmaß an »Evidenz« besitzt nun die zweckrationale Deutung. Zweckrationales Sichverhalten soll ein solches heißen, welches ausschließlich orientiert ist an (subjektiv) als adäquat vorgestellten Mitteln für (subjektiv) eindeutig erfaßte Zwecke. Keineswegs nur zweckrationales Handeln ist uns verständlich: wir »verstehen« auch den typischen Ablauf der Affekte und ihre typischen Konsequenzen für das Verhalten. Das »Verständliche« hat für die empirischen Disziplinen flüssige Grenzen. Die Ekstase und das mystische Erlebnis sind ebenso wie vor allem gewisse Arten psychopathischer Zusammenhänge oder das Verhalten kleiner Kinder (oder etwa: der ims hier nichts angehenden Tiere) unserem Verstehen und verstehenden Erklären nicht in gleichem Maße wie andere Vorgänge zugänglich. Nicht etwa das »Abnorme« als solches entzieht sich dem verstehenden Erklären. Im Gegenteil: das, als einem »Richtigkeitstypus« (im bald zu erörternden Wortsinn) entsprechend absolut »Verständliche« und zugleich »Einfachste« zu erfassen kann gerade die Tat des aus dem Durchschnitt weit Hervorragenden sein. Man muß, wie oft gesagt worden ist, »nicht Cäsar sein, um Cäsar zu verstehen«. Sonst wäre alle Geschichtsschreibung sinnlos. Umgekehrt gibt es Hergänge, die wir als »eigene« und zwar »psychische« ganz alltägliche Leistungen eines Menschen ansehen, die aber in ihrem Zusammenhang jene qualitativ spezifische Evidenz, welche das Verständliche auszeichnet, überhaupt nicht besitzen. Ganz ebenso wie viele psychopathische Vorgänge ist z.B. der Ablauf der Gedächtnis- und intellektuellen [405] Übungserscheinungen nur teilweise »verstehbar«. Feststellbare Regelmäßigkeiten solcher psychischen Vorgänge behandeln die verstehenden Wissenschaften daher ganz wie die Gesetzlichkeiten der physischen Natur. Die spezifische Evidenz des zweckrationalen Sichverhaltens hat natürlich nicht zur Folge, daß etwa speziell die rationale Deutung als Ziel soziologischer Erklärung anzusehen wäre. Bei der Rolle, welche »zweckirrationale« Affekte und »Gefühlslagen« im Handeln des Menschen spielen, und da auch jede zweckrational verstehende Betrachtung fortgesetzt auf Zwecke stößt, die ihrerseits nicht mehr wieder als rationale »Mittel« für andere Zwecke gedeutet, sondern nur als nicht weiter rational deutbare Zielrichtungen hingenommen werden müssen, - mag ihre Entstehung als solche dann auch weiterhin Gegenstand »psychologisch« verstehender Erklärung sein, - könnte man ebensogut das gerade Gegenteil behaupten. Allerdings aber bil-

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det das rational deutbare Sichverhalten bei der soziologischen Analyse verständlicher Zusammenhänge sehr oft den geeignetsten »Idealtypus«: Die Soziologie wie die Geschichte deuten zunächst »pragmatisch«, aus rational verständUchen Zusammenhängen des Handelns. Derart verfährt z.B. die Sozialökonomik mit ihrer rationalen Konstruktion des »Wirtschaftsmenschen«. Ebenso aber überhaupt die verstehende Soziologie. Deim als ihr spezifisches Objekt gilt ims nicht jede beliebige Art von »innerer Lage« oder äußerem Sichverhalten, sondern: Handeln. »Handeln« aber (mit Einschluß des gewollten Unterlassens und Duldens) heißt uns stets ein verständliches, und das heißt ein durch irgendeinen, sei es auch mehr oder minder unbemerkt, »gehabten« oder »gemeinten« (subjektiven) Sinn spezifiziertes Sichverhalten zu »Objekten«. Die buddhistische Kontemplation und die christliche Askese der Gesinnung sind subjektiv sinnhaft auf für die Handelnden »innere«, das rationale ökonomische Schalten eines Menschen mit Sachgütem auf »äußere« Objekte bezogen. Das für die verstehende Soziologie spezifisch wichtige Handeln nun ist im speziellen ein Verhalten, welches 1. dem subjektiv gemeinten Sinn des Handelnden nach auf das Verhalten anderer bezogen, 2. durch diese seine sinnhafte Bezogenheit in seinem Verlauf mitbestimmt und also 3. aus diesem (subjektiv) gemeinten Sinn heraus verständlich erklärbar ist. Subjektiv sinnhaft auf die Außen[406] weit und speziell auf das Handeln anderer bezogen sind nun auch die Affekthandlungen und die für den Ablauf des Handelns, also indirekt, relevanten »Gefühlslagen«, wie etwa: »Würdegefühl«, »Stolz«, »Neid«, »Eifersucht«. Die verstehende Soziologie interessieren daran aber nicht die physiologischen und fiüher sogenannten »psychophysischen« Erscheinungsformen: Pulskurven z.B. oder Verschiebungen des Reaktionstempos und dergleichen, auch nicht die nackt psychischen Gegebenheiten, z.B. die Kombination der Spannungs-, Lust- xmd Unlustgefühle, durch die sie charakterisiert werden können. Sondern sie differenziert ihrerseits nach den typischen s/w/jhaften (vor allem: Außen-)Bezogenheiten des Handelns und deshalb dient ihr - wie wir sehen werden - das Zweckrationale als Idealtypus, gerade um die Tragweite des Zweckirrationalen abschätzen zu können. Wenn man den (subjektiv gemeinten) Sinn seiner Bezogenheit als die »Innenseite« des menschlichen Verhaltens bezeichnen wollte - ein nicht unbedenklicher Sprachgebrauch! - nur dann würde man sagen können: daß die verstehende Soziologie jene Erscheinungen ausschließlich »von innen heraus« d.h. aber dann: nicht durch Aufzählung ihrer physischen oder psychischen Phänomene, betrachtet. Unterschiede der psychologischen Qualitäten eines Verhaltens sind also nicht schon als solche für uns relevant. Gleichheit der sinnhaften Bezogenheit ist nicht gebunden an Gleichheit der im Spiel befindlichen »psychischen« Konstellationen, so sicher es ist, daß Unterschiede auf jeder Seite durch solche auf der andern bedingt sein können. Aber z.B. eine Kategorie wie »Gewinnstreben« gehört schlechterdings in keine »Psychologie«. Denn das »gleiche« Streben nach »RentabiUtät« des »gleichen« geschäfthchen Unternehmens kann bei zwei aufeinanderfolgenden Inhabern nicht nur mit absolut heterogenen »Charakterqualitäten« Hand in Hand gehen, sondern direkt in seinem ganz gleichen Verlauf und Enderfolge durch gerade entgegengesetzte letzte »psychische« Konstellationen und Charakterqualitäten bedingt sein und auch die (für die Psychologie) letzten dabei maßgebenden »Zielrichtungen« brauchen keinerlei Verwandtschaft miteinander zu haben. Vorgänge, welche nicht einen auf das Verhalten anderer subjektiv bezogenen Sinn haben, sind um deswillen nicht etwa soziologisch

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gleichgültig. Im Gegenteil können gerade sie die entscheidenden Bedingungen, und also: Bestimmungsgründe, [407] des Handelns in sich schließen. Auf die in sich sinnfremde »Außenwelt«, auf Dinge und Vorgänge der Natur, ist ja das Handehi zu einem fiir die verstehenden Wissenschaften sehr wesentlichen Teil siimhaft bezogen: das theoretisch konstruierte Handeln des isolierten Wirtschaftsmenschen z.B. ganz ausschließlich. Aber die Relevanz von Vorgängen ohne subjektive »Sinnbezogenheit«, wie etwa des Ablaufs der Geburten- und Sterbeziffern, der Ausleseprozesse der anthropologischen Typen, ebenso aber die nackt psychischen Tatbestände besteht für die verstehende Soziologie ganz ebenso lediglich in ihrer Rolle als »Bedingungen« und »Folgen«, an denen sinnhaftes Handeln orientiert wird, wie etwa för die Wirtschaftslehre diejenige von klimatischen oder pflanzenphysiologischen Sachverhalten. Die Vorgänge der Vererbung z.B. sind nicht aus einem subjektiv gemeinten Siim verständlich und sie sind es natürlich nur um so weniger, je exakter die naturwissenschaftlichen Feststellungen ihrer Bedingungen werden. Gesetzt z.B., es gelänge einmal - wir drücken uns hier bewußt »unfachmäßig« aus - das Maß von Vorhandensein bestimmter soziologisch relevanter Qualitäten xmd Triebe, z.B. solcher, welche entweder die Entstehimg des Strebens nach bestimmten Arten von sozialer Macht oder die Chance, diese zu erlangen, begünstigen: - etwa die Fähigkeit zur rationalen Orientierung des Handelns im allgemeinen oder bestimmte andere angebbare intellektuelle Qualitäten im besonderen, - irgendwie mit einem Schädelindex oder mit der Herkunft aus bestimmten durch irgendwelche Merkmale bezeichenbaren Menschengruppen in annähernd eindeutigen Zusammenhang zu bringen. Dann hätte die verstehende Soziologie diese speziellen Tatsachen bei ihrer Arbeit selbstverständüch ganz ebenso in Anschlag zu bringen, wie z.B. die Tatsache des Aufeinanderfolgens der typischen Altersstufen oder etwa der Sterblichkeit der Menschen im allgemeinen. Пи^е eigene Aufgabe aber begänne erst genau da, wo deutend zu erklären wäre: 1. durch welches sinnhaft auf Objekte, sei es der Außenwelt oder sei es der eigenen Innenwelt bezogene Handehi die mit jenen spezifischen ererbten Qualitäten begabten Menschen nun die dadurch mitbedingten oder begünstigten Inhalte ihres Strebens durchzusetzen suchten, wieweit und warum dies gelang oder warum nicht? - 2. welche verständlichen Folgen dieses (eibgutbedingte) Streben wiederum für das sinnhaft bezogene Verhalten anderer Menschen gehabt hat.

Quelle: Max Weber (1922): „Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie" [1913]; in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaflslehre, Tübingen: Mohr (Siebeck), S. 427-431.

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2.4.

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Soziologie und empirische Forschung

Soziologie versteht sich als empirische, d.h. als eine auf Erfahrung gegründete Wissenschaft. Ihre Aussagen über soziale Tatbestände werden nicht allein durch die Verknüpfung von Begriffen in einer logischen Argumentation gewonnen. Eine Erfahrungswissenschaft erhebt vielmehr den Anspruch, diese theoretischen Aussagen über Wirklichkeit an der Wirklichkeit selbst zu kontrollieren. Neben der theoretischen Reflexion steht der Soziologie mit der empirischen Sozialforschung eine weitere wissenschaftliche Verfahrensweise zur Verfugung, um Wissen über Aspekte der sozialen Wirklichkeit zu gewinnen. Die empirische Sozialforschung produziert dazu systematisch Wahrnehmungsdaten. Theoretische Forschung einerseits und empirische Sozialforschung andererseits bilden somit die sich ergänzenden Komponenten eines umfassenden soziologischen Forschungsprozesses: Dient die Theoriebildung der Einbindung empirischer Ergebnisse in ein konsistentes Aussagensystem, so hat empirische Forschung die Aufgabe, theoretisch abgeleitete Aussagen anhand von Wahrnehmungsdaten zu überprüfen und gegebenenfalls einer Korrektur zu unterziehen. Außer empirischen S oziai forschem gibt es noch andere professionelle Beobachter gesellschaftlicher Wirklichkeit. Auch sie erfassen bestimmte soziale Tatbestände, sei es durch investigative Recherche oder Intuition, und stellen ihre Wahmehmungsdaten in Form von journalistischen Texten oder Kunstwerken, z.B. Reportagen, Fotodokumentationen oder Romanen der Allgemeinheit zur Verfugung. Ihre Beschreibungen und Darstellungen gesellschaftlicher Zustände verweisen auf virulente Problemlagen und soziale Deutungsmuster, die der empirischen Sozialforschung wichtige Anregungen vermitteln können. Gleichwohl unterscheidet sich ihre Art der Gesellschaftsbeobachtung grundsätzlich von der sozialwissenschaftlichen Methodik. Die Besonderheiten der Wissensgewinnung durch die empirische Sozialforschung lassen sich in Abgrenzung zur Entstehung des Alltagswissens einer Person bestimmen. Das AUtagswissen dient der Bewertung und Bewältigung wiederkehrender Situationen, indem es bewährte Vorstellungs- und Verhaltensmuster bereit hält. Dadurch wer-

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den Entscheidungen und Handlungen erleichtert. Dieser Wissensvorrat wird in der Regel nicht gezielt angeeignet, sondern durch die Wahrnehmungen und Erlebnisse im täglichen Lebensvollzug gespeist, und entspringt deshalb den individuell spezifischen Lebensumständen. Die meisten Wissensinhalte werden gewohnheitsmäßig genutzt und bleiben unhinterfragt, so dass sie oft widersprüchlich und kaum kommunizierbar sind. Dagegen wendet die empirische Sozialforschung ein Verfahren zur Wissensgenerierung an, das die unvermeidbare Subjektivität der Erfahrung durch die Einhaltung bestimmter Verfahrenskriterien kontrolliert. Dazu gehört zunächst, den Forschungsgegenstand zu definieren. Gegenstände empirischer Sozialforschung sind soziale Tatbestände, die sich z.B. bestimmen lassen als: strukturelle Sachverhalte (z.B. Nettoeinkommen eines privaten Haushaltes, die Altersstruktur eines Dorfes oder religiöse Traditionen einer Gesellschaft); individuelle Orientierungen (z.B. politische Meinungen und Überzeugungen, Wertvorstellungen oder Vorlieben für bestimmte Markenartikel); reale Verhaltensweisen (z.B. das Verhalten angesichts einer roten Fußgängerampel bei autofreier Straße oder die Freizeitaktivitäten von Topmanagern); historische Prozesse (z.B. das Entstehen und Verschwinden der Arbeiterbewegungen in Europa). Darüber hinaus muss das auf den Gegenstand bezogene Forschungsinteresse in Form einer klar abgegrenzten Forschungsfrage bestimmt werden, um dann die Methoden fìir ein angemessenes Forschungsdesign auswählen zu können. Nur so lässt sich eine gezielte Erfassung sozialer Tatbestände durch Wahrnehmungsdaten erreichen. Im Anschluss an die Forschungsplanung ist ein so genannter Pre-Test ratsam, um sicher zu stellen, dass die geplante methodische Vorgehensweise auch funktioniert. Erst danach folgt die eigentliche Erhebung von Wahrnehmungsdaten. Diese werden durch Auswertung und Interpretation in empirische Ergebnisse transformiert. Die Ergebnisse empirischer Sozialforschung sollten dabei den Gütekriterien der Reliabilität und der Validität genügen. Ergebnisse sind reliabel, wenn sie sich reproduzieren lassen, d.h. dass das eingesetzte Forschungsinstrument auch bei wiederhoher Anwendung zuverlässig gleiche Ergebnisse liefern muss. Ergebnisse sind valide, also gültig, wenn sicher gesteht ist, dass tatsächlich jene sozialen Sachverhalte durch die empirische Untersuchung erfasst werden, die erfasst werden sollen. Darüber hinaus

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muss jeder Schritt des Forschungsprozesses intersubjektiv nachvollziehbar und im wissenschaftlichen Diskurs begründbar sein. Zu diesem Zweck ist eine umfassende Forschungsdokumentation unabdingbar. Die Gegenüberstellung von Alltagserfahrung und sozial wissenschaftlicher Empirie bedeutet nicht, dass der „gesunde Menschenverstand" oder „common sense" grundsätzlich im Gegensatz zur wissenschaftlichen Erkenntnis steht. So können geläufige, aber eben ungesicherte Vermutungen über soziale Zusammenhänge, z.B. dass die Todesstrafe Kapitalverbrecher abschrecke, ebenso der Ausgangspunkt für eine systematische sozialwissenschaftliche Untersuchung sein wie aus soziologischen Theorien abgeleitete Hypothesen. Unter einer Hypothese versteht man eine Aussage, in der eine vorläufige Vermutung über einen bestehenden Sachverhalt formuliert wird. Eine Hypothese muss einen Realitätsgehalt aufweisen. Sie muss etwas über die Wirklichkeit aussagen, das durch empirische Daten nachgeprüft werden kann. So drückt beispielsweise die Aussage „Die Todesstrafe ist unmenschlich" eine moralische These aus, die sich nicht empirisch überprüfen lässt. Außerdem muss die Hypothese einen Informationsgehalt beinhalten, d.h. etwas über die Wirklichkeit aussagen, dessen Wahrheitsgehalt entscheidbar ist, so dass die formulierte Vermutung potentiell widerlegbar ist. Die Aussage „Die Todesstrafe senkt die Zahl der Kapitalverbrechen, erhöht sie oder hat gar keinen Einfluss auf die Verbrechensrate" ist immer richtig und besitzt deshalb keinen Informationsgehalt, der empirisch getestet werden könnte. Bei sozialwissenschaftlichen Fragestellungen sind deterministische Hypothesen, wie sie in den Naturwissenschaften verbreitet sind, in der Regel unangemessen. Selbst jemand, der von der Zweckmäßigkeit der Todesstrafe überzeugt ist, würde wohl nicht behaupten: „In einem Land, das die Todesstrafe praktiziert, gibt es keine Kapitalverbrechen", sondern eine probabilistische Hypothese formulieren: „In einem Land, das die Todesstrafe praktiziert, sind Kapitalverbrechen unwahrscheinlich." Hypothesen enthalten eine Wenn-Dann- bzw. Je-Desto-Aussage, die nicht immer explizit ausformuliert sein muss, wofür die zuletzt vorgestellte Hypothese ein Beispiel ist. Für unsere Fragestellung würde eine angemessene Hypothese lauten: „Wenn in Ländern die Todesstrafe praktiziert wird, dann gibt es dort weniger Kapitalverbrechen als in Ländern, in denen die Todesstrafe nicht praktiziert wird." Tatsächlich haben empi-

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fische Untersuchungen gezeigt, dass entgegen der landläufigen Meinung diese Hypothese nicht zutrifft. ^^ Wie ist es nun möglich, den Wahrheitsgehah dieser Hypothese zu üЬефгйГеп? Dazu müssen die bedeutungstragenden Begriffe der Aussage in eine operationale Definition übersetzt werden. Dies bezeichnet man als Operatiortalisierung. Dabei werden so genannte Indikatoren präzisiert, die die relevanten Sachverhalte erfassen sollen. In unserem Beispiel wäre ein möglicher Indikator für das Praktizieren der Todesstrafe der empirisch feststellbare Umstand, ob in einem Land in den letzten drei Jahren eine Todesstrafe vollstreckt wurde. Zur Operationalisierung des Begriffs „Kapitalverbrechen" kann man die Ajizahl jener Tötungsdelikte im letzten Kalenderjahr, die nach unserem Rechtsverständnis als Morde anzusehen sind, relativ zur Gesamtbevölkerung des Landes heranziehen. Durch den Vergleich der mittleren Anzahl der Morde in den Ländern mit und ohne Todesstrafe lässt sich feststellen, ob die Hypothese aufrecht erhalten werden kann oder verworfen werden muss. Grundsätzlich lassen sich verschiedene Ziele benennen, die mit der empirischen Sozialforschung angestrebt werden können: die Шефгйfung und die Generierung von Hypothesen, die Deskription der Sozialstruktur und die Evaluation von sozialplanerischen Eingriffen. (1) Ein erstes wichtiges Ziel empirischer Sozialforschung ist die soeben dargestellte Überprüfung von Hypothesen. Unerwartete, nicht den Vermutungen entsprechende Wahrnehmungsdaten stellen dabei kein Scheitern der Forschung dar, sondern sollten die wissenschaftliche Neugier anstacheln. Daten, die aus dem Erwartungsrahmen fallen, können überkommene Vorstellungen von gesellschaftlichen Zusammenhängen in Frage stellen und neue Erklärungen anstoßen. Die Lust an der Widerspenstigkeit der Empirie sollte man sich unbedingt für eine erfolgreiche Forschungstätigkeit bewahren. (2) Ein zweites Ziel empirischer Untersuchungen ist die Exploration sozialer Phänomene, für die noch keine angemessenen Erklärungen vorliegen oder die noch gänzlich unerforscht sind. Hierbei 33

Vgl. dazu den Bericht über die Todesstrafe anlässlich des 50-jährigen Jubilämns der Menschenrechts-Erklärung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (13.7.1998).

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wird empirische Forschung nicht hypothesenprüfend angewendet, sondern hypothesengenerierend. Wahrnehmungsdaten werden dazu genutzt, überhaupt erst einmal Hypothesen für bislang ungeklärte oder unbekannte soziale Bereiche aufzustellen. (3) Empirische Sozialforschung kann drittens auch als reine Deskription sozialer Wirklichkeit betrieben werden, ohne die hinter den Phänomenen liegenden Wirkungsmechanismen zu analysieren. Zuverlässige Informationen über die sozialen Verhältnisse und deren Wandel (z.B. die Quote ausländischer Arbeitnehmer oder die Entwicklung der Geburtenrate) sind eine unverzichtbare Basis fur soziologisches Arbeiten. Unter anderem können diese demografischen und sozialstrukturellen Informationen dazu dienen, neuartige Problemlagen und Entwicklungstendenzen auszumachen. (4) Explizit anwendungsbezogen versteht sich viertens empirische Sozialwissenschaft, wenn sie Evaluationsforschung betreibt. Im Mittelpunkt der empirischen Arbeit stehen dabei die Bedingungen fur eine erfolgreiche Umsetzung von sozialplanerischen Maßnahmen (z.B. die Umgestaltung der Bürgerbetreuung in einer kommunalen Behörde oder die Einfuhrung eines neuen Unterrichtskonzepts an einer Schule). Die Wirkung und die Wirksamkeit solcher struktureller Änderungen und sozialpolitischer Innovationen sollen dabei hinsichtlich der angestrebten Ziele untersucht werden. Empirische Sozialforschung lässt sich demnach definieren als die intersubjektiv nachvollziehbare, systematische und methodisch geleitete Erhebung, Auswertung und Inteφretation von Daten über soziale Tatbestände zum Zwecke der Überprüfung von Hypothesen bzw. der Exploration, Deskription oder Evaluation. Die empirische Sozialforschung kennt hierfür eine Reihe unterschiedlicher Techniken der Erhebung, Auswertung und Interpretation von Daten. Dabei hat es sich eingebürgert, eine quantitative von einer qualitativen Methodenausrichtung zu unterscheiden. Quantitativ orientierte Sozialforschung versucht, die für einen sozialen Tatbestand relevanten Aspekte in numerischen Größen zu messen. Dazu werden die Eigenschaften der Untersuchungseinheiten (z.B. Personen, Regionen, Zeitungsartikel) durch die numerischen Ausprägungen möglichst metrischer Variablen erfasst (z.B. Zustimmung einer

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Person zu einem politischen Statement auf einer Skala von 1 bis 6, Anteil der Arbeitslosen in einer Region in Prozent, Anzahl der Aussagen in einem Zeitungsartikel zu einem bestimmten Thema). Mit statistischen Modellen lassen sich die einzelnen Variablen auswerten und zueinander in Beziehung setzen. Wenn nicht alle Untersuchungseinheiten einbezogen werden können (z.B. die gesamte Wohnbevölkerung der Bundesrepublik), ist es nötig, nach bestimmten Regeln eine repräsentative Stichprobe (d.h. eine Auswahl) zu ziehen, die Aussagen über die Grundgesamtheit erlaubt. Als Vorläufer der modernen quantitativen Sozialforschung gilt u.a. die inbesondere im englischen und französischen Raum verbreitete „politische Arithmetik" des 17. Jahrhunderts, die fìir verwaltungsstaatliche Planungen demografische Informationen ermittelte. An die Stelle der quantitativen Beschreibung und Erklärung von sozialer Wirklichkeit setzen die unter dem Begriff der qualitativen Sozialforschung zusammengefassten Erhebungs- und Auswertungsverfahren die Beschreibung und Interpretation von sozialen Tatbeständen. Der empirische Zugang erfolgt auf der Basis eines verstehenden Nachvollziehens individueller und kollektiver Sinnstrukturen. Das Hauptinteresse gilt typischen Fällen, die in ihren Einzelaspekten und bezüglich ihrer sozialen Verflechtungen detailliert beschrieben werden. Die eingesetzten Forschungstechniken zeichnen sich durch Offenheit aus, um im kommunikativ gestalteten Prozess der Erhebung flexibel auf die auch als Subjekte betrachteten Untersuchungsobjekte reagieren zu können. Der qualitative Zweig der empirischen Sozialforschung geht auf die so genannte Universitätsstatistik des 18. Jahrhunderts zurück, die gerade nicht an der (nach dem heutigen Wortsinn) statistischen Registrierung von sozialer Wirklichkeit, sondern an qualitativen Beschreibungen der kulturellen Eigenheiten der Bevölkerung interessiert war. Für die weitere Entwicklung waren vor allem Arbeiten aus der Chicago School wegweisend, zu deren herausragendsten Vertretern Florian Znaniecki (1882-1958) und William 1. Thomas (1863-1947) gehörten. Die Verknüpfiing quantitativer und qualitativer Methoden wird immer wieder gefordert, doch leider nur selten praktiziert. Dabei sind die Vorteile leicht ersichtlich. Durch den Einsatz unterschiedlicher empirischer Techniken lässt sich die Validität eines Forschungsergebnisses erhöhen. Außerdem ist die Methodentriangulation, d.h. die Kombina-

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tion von verschiedenen Methoden, hinsichtlich der Vermeidung von Forschungsartefakten sinnvoll. Als Forschungsartefakte bezeichnet man Untersuchungsergebnisse, die zwar vordergründig auf soziale Zusammenhänge hindeuten, tatsächlich aber aus einem fehlerhaften Forschungsprozess resultieren. Dabei sind vor allem zwei potenzielle Quellen für Forschungsartefakte zu nennen: die Reaktivität von Methoden und das Problem der selektiven Wahrnehmung. Der Umstand, dass der Forschungsprozess seinen Gegenstand verändern kann, wird als Reaktivität bezeichnet. Demnach beziehen Personen, denen bev^sst ist, dass sie Untersuchungsobjekte sind, dieses Wissen in ihr Verhaken ein. Sie verhaken sich dann möglicherweise so, wie sie glauben, dass es der Forscher von ihnen erwartet. Andererseits kann die Reaktivität von Methoden auch systematisch genutzt werden. So ist z.B. in der Aktionsforschung die Rückwirkung der Empirie auf die soziale Wirklichkeit zum Zweck einer angestrebten Veränderung der Verhältnisse Teil des Forschungsprogramms. Denkbar ist beispielsweise eine Aktionsforschung über die Wertvorstellungen einer Gruppe rechtsradikaler Jugendlicher, in deren Verlauf rassistische Einstellungen zurückgedrängt und Formen gewaltfreier Konfliktaustragung angeregt werden. Das Phänomen der selektiven Wahrnehmung bezeichnet die Gefahr, dass ein Forscher aufgrund seines subjektiven Standpunktes den untersuchten Sachverhalt verzerrt wahrnimmt. Dies ist der Fall, wenn unbewusst überwiegend jene empirische Daten registriert werden, die die eigenen Erwartungen bestätigen. Durch den abgestimmten Einsatz verschiedener Methoden lassen sich solche Effekte teilweise reduzieren. Im Folgenden werden einige Methoden der Erhebung und Auswertung von Wahrnehmungsdaten präsentiert. Durch das Erhebungsverfahren der Beobachtung werden zielgerichtet und systematisch soziale Tatbestände erfasst, die der sinnlichen Wahrnehmung unmittelbar zugänglich sind. Beobachtungen eignen sich daher für den empirischen Zugriff auf räumlich und zeitlich abgegrenzte soziale Situationen. Da niemals sämtliche Einzelheiten einer solchen Situation einbezogen werden können, muss im Vorfeld der Erhebung festgelegt werden, welche Aspekte beobachtet und wie protokolliert werden sollen. Möglicherweise ist die Verwendung von technischen Hilfsmitteln wie Fotoapparat oder Videokamera sinnvoll. Die Beobachtung wird sowohl in reaktiver als auch in nicht-reaktiver Form eingesetzt, je nachdem, ob die Erhebung offen, d.h. fur die Beobachteten ersichtlich.

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oder verdeckt, eben ohne Kenntnis der Beobachteten, durchgeführt wird. Weitere Spielarten der Beobachtung ergeben sich aus der Entscheidung, ob sich der Forscher an der sozialen Situation beteiligt oder nicht. Zu unterscheiden ist demnach zwischen aktiv teilnehmender und passiver Beobachtung. Die Beobachtung eignet sich auch für experimentelle Forschungsanordnungen, bei denen der Forscher bestimmte Rahmenbedingungen von sozialen Situationen inszeniert und variiert, um deren Effekte abschätzen zu können. Durch ein Experiment könnte man beispielsweise herausfinden, welche situativen Bedingungen gegeben sein müssen, damit sich Passanten in einen Streit zwischen zwei ihnen fremden Personen einmischen. Die Methode der Befragung oder des Interviews differenziert sich vor allem durch den Standardisierungsgrad der Erhebung in verschiedene Spielarten. Der höchste Standardisierungsgrad liegt vor, wenn beim Ausfüllen eines Fragebogens auf im Wortlaut fixierte Fragen durch die Wahl einer bestimmten Antwortvorgabe reagiert wird. Weniger standardisiert sind offene Fragen, auf die der Befragte selbstständig Antworten formuliert. In so genannten narrativen Interviews sollen die Befragten frei antworten. Dabei können die Fragen in ihrer Abfolge dem Gesprächsverlauf angepasst werden und müssen auch im Wortlaut nicht unbedingt genau festgelegt sein. Je nachdem, ob ein Leitfaden von Themen und Fragen abgearbeitet wird oder lediglich eine allgemeine Fragestellung ohne weitere Strukturierung vorgegeben ist, spricht man von halb- oder nicht-standardisierten Interviews. Hierbei besteht die Möglichkeit, über die Einzelbefragung hinaus mehrere Personen in eine Gruppendiskussion einzubeziehen. Die Ergebnissicherung der mündlichen Interviews wird durch mehr oder weniger ausführliche schriftliche Protokolle oder verschriftlichte Tonbandaufnahmen gewährleistet. Zu bedenken ist bei allen Interviewformen, dass durch Befragungen nur indirekt, d.h. vermittelt über die Aussagen der Befragten auf soziale Sachverhalte zugegriffen wird - wenn nicht gerade deren Antwortverhalten das interessierende Phänomen ist. Die durch standardisierte Interviews erhobenen quantitativen Daten werden mit statistischen Verfahren ausgewertet. Dies geschieht heutzutage mit der Unterstützung von Computerprogrammen zur Datenanalyse. Die Rohdaten von quantitativen Befragungen werden dazu in Form von Datensätzen gespeichert und bisweilen auch anderen Sozial-

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forschem fiir weitere Auswertungen zur Verfugung gestellt. In solchen Fällen spricht man von Sekundäranalysen. Verschriftlichte narrative Interviews und andere Textsorten (z.B. Zeitungsartikel, Gerichtsentscheide, Schulbücher oder Gebrauchsanweisungen), aber auch primär visuelle Dokumente (Fernsehwerbung oder Kinofilme) lassen sich mit der Methode der Inhaltsmalyse auswerten. Die in diesen Dokumenten manifest gewordenen Kommunikationen verweisen auf die am Kommunikationsprozess beteiligten Akteure und deren sozialen und kulturellen Kontext. Wiederum kennt die empirische Sozialforschung verschiedene, qualitativ bzw. quantitativ orientierte Varianten der Methode, die den Sinngehalt der Dokumente entweder durch eine verstehende Interpretation oder durch die Quantifizierung inhaltlicher und formaler Merkmale erschließen wollen. Im gesamten Prozess der empirischen Forschung sollten immer auch ethische und rechtliche Fragen bedacht werden. Ist es beispielsweise vertretbar, dass Menschen ohne ihr Wissen zum Objekt von wissenschaftlichen Untersuchungen gemacht werden? Sollten die untersuchten Personen bzw. Institutionen von den Ergebnissen der Forschung unterrichtet werden, um ihnen die Gelegenheit zu geben, sich dazu zu äußern? Ist der Datenschutz durch eine ausreichende Anonymisierung gesichert? Die Fähigkeit zu einem professionellen Umgang mit empirischen Methoden erwirbt man sich am besten in der Forschungspraxis. Auch Soziologen, die ihre Disziplin hauptsächlich theoretisch betreiben, kommen nicht umhin, sich solide Kenntnisse über die empirische Sozialforschung anzueignen, wenn sie empirische Untersuchungen kompetent beurteilen und für ihre wissenschaftliche Arbeit fruchtbar machen wollen.

Übungsaufgaben Auf den folgenden Seiten haben wir Auszüge aus einer klassischen empirischen Studie der frühen amerikanischen Soziologie, The Polish Peasant in Europe and America von Florian Znaniecki und William I. Thomas, abgedruckt. Dieses 1918-1920 erschienene umfangreiche Werk ist eine detaillierte Studie über den Wandel des Verhaltens von

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polnischen Bauern nach der Immigration in die USA. Sie ist von besonderer Bedeutung für die Soziologie gewesen, weil hier Theorie und Empirie eng miteinander verknüpft und neue Methoden qualitativer Sozialforschung erschlossen wurden. Der Präsentation des empirischen Primärmaterials in den Hauptteilen des Werkes wurde eine methodologische Vorbemerkung vorangestellt, aus der wir hier einige Abschnitte abdrucken (Arbeitstext 8). Sie enthalten wichtige Überlegungen zum theoretischen Konzept der Definition der Situation, das als „Thomas-Theorem" in die soziologische Diskussion Eingang gefunden hat. Der andere Text entstammt dem dritten Hauptteil des Werkes, in dem es um die Frage geht, welche sozialen Verhaltensregeln in den USA an die Stelle von denen der traditionalen Primärgruppen der polnischen Bauern getreten sind (Arbeitstext 9). Auf das empirische Material, das hier entfaltet wird, nehmen die Autoren in ihrer methodologischen Vorbemerkung direkt Bezug, so dass anhand beider Texte die Verbindung von theoretischer Reflexion und empirischer Forschung gut erarbeitet werden kann. Orientieren Sie sich dazu an den folgenden Fragen: 1. Was verstehen Znaniecki und Thomas unter „Situation" bzw. unter „Definition der Situation"? Wie veranschaulichen sie dies anhand ihres empirischen Materials? 2.

Welches Material verwenden Znaniecki und Thomas in Arbeitstext 8 und wie würden Sie es im Blick auf Validität und Réhabilitât beurteilen?

3.

Welche Aspekte des Konstrukts der „Demoralisierung" werden durch das Material des Michalski-Falles konkretisiert?

Arbeitstext 8: „The Polish Peasant in Europe and America. Methodological Note" (Florian Znaniecki / William I. Thomas) [68] Die Situation setzt sich aus Werten und Einstellungen zusammen, auf die sich das Individuum oder die Gruppe im Verlauf des Handelns beziehen müssen und die der Planung jenes Handelns und der Beurteilung seiner Ergebnisse zu Grunde liegen. Jedes konkrete Handeln ist die Lösung einer Situation. Die Situation beinhaltet drei Arten von Daten: (1) Die objektiven Bedingungen imter denen das Individuum oder die Gesellschaft handeln muss, d.h. die Totalität der Werte - ökonomische, soziale, religiöse, intellektuelle, etc. - die zu einem gegebenen Zeitpunkt direkt oder indirekt den bewussten Zustand des Individuums oder der Gruppe beeinflussen.

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(2) Die bereits existierenden Einstellungen des Individuums oder der Gruppe, die zu einem gegebenen Zeitpunkt einen tatsächlichen Einfluss auf das Verhalten haben. (3) Die Definition der Situation, d.h. die mehr oder weniger klaren Vorstellungen der objektiven Bedingungen und der bewussten Einstellungen. Diese Definition der Situation ist eine notwendige Vorbedingung für jeden Willensakt, denn unter gegebenen Bedingungen und mit einem gegebenen Satz an Einstellungen ist eine unbegrenzte Vielzahl an Handlungen möglich, so dass eine bestimmte Handlung nur dann vorstellbar ist, wenn diese Bedingungen ausgewählt, inteφretiert und in einer bestimmten Weise miteinander kombiniert werden und wenn eine gewisse Systematisierung der Einstellungen erreicht wird, so dass eine von ihnen gegenüber anderen dominant erscheint. Es kann durchaus passieren, dass ein bestimmter Wert sich unmittelbar und unreflektiert aufdrängt und sofort zu einer Handlung führt oder dass eine Einstellung, sobald sie auftaucht, andere Einstellungen ausschließt und sich daher unverzüglich im Handeln zum Ausdruck bringt. In diesen Fällen, deren radikalste Beispiele in reflexartigen imd instinktiven Handlungen zu finden sind, ist die Definition dem [69] Individuum bereits durch externe Bedingungen oder durch seine eigenen Neigungen gegeben. Aber normalerweise gibt es zunächst einen Prozess der Reflexion, nach dem eine bereits vorhandene soziale Definition angewandt oder eine neue, persönliche Definition erarbeitet wird. Lassen Sie uns ein typisches Beispiel aus dem [dritten M.K.] Hauptteil der vorliegenden Arbeit nehmen, dass das Familienleben der Immigranten in Amerika betrifft. Ein Mann verlässt seine Ehefrau, nachdem er von ihrer Untreue erfahren hat. Die objektiven Bedingungen waren: (1) Die soziale Institution der Ehe mit allen dazugehörigen Regeln; (2) die Ehefrau, der andere Mann, die Kinder, die Nachbarn und allgemein alle diejenigen Individuen, die seine alltägliche Umwelt konstituieren und ihm gewissermaßen als Werte gegeben sind; (3) bestimmte ökonomische Bedingungen; (4) die Tatsache der Untreue der Ehefrau. Zu all diesen Werten hat der Mann bestimmte Einstellungen, von denen einige traditional, andere erst kürzlich erworben sind. Vielleicht unter dem Einfluss der Entdeckung der Untreue seiner Frau, vielleicht nachdem er irgendwelche neue Einstellungen zu den sexuellen oder ökonomischen Aspekten der Ehe entwickelt hat, vielleicht einfach weil er von dem Ratschlag eines Freundes in der Form eines rudimentären Schemas der Situation, das ihm hilft zu sehen, „worauf es ankommt", beeinflusst ist, definiert er die Situation für sich selbst. Er berücksichtigt gewisse Bedingungen, vernachlässigt oder übersieht andere oder interpretiert sie unter Bezug auf einige zentrale Werte - z.B. die Untreue seiner Ehefrau, die ökonomische Last seines Familienlebens, von dem er sich unter dem Vorwand der Untreue befreien kann, oder eine andere Frau oder das halb-ironische Mitleid seiner Nachbarn, etc. Und in dieser Definition setzt sich eine Einstellung sexuelle Eifersucht, der Wunsch nach ökonomischer Freiheit, Liebe zu einer anderen Frau oder der verletzte Wunsch nach Anerkennung - oder ein Komplex dieser Einstellungen oder auch eine neue Einstellung (Hass, Ekel) über alle anderen und manifestiert sich in der folgenden Handlung, die ganz offensichtlich die Lösung einer Situation und sowohl in ihren sozialen als auch in ihren individuellen [70] Komponenten vollständig von dem gesamten, die Situation bildenden Satz an Werten, Einstellungen und Reflexionsschemata determiniert ist. Wenn die Situation gelöst ist, wird das Resultat des Handelns das Element einer neuen Situation; dies wird am deuüichsten in den Fällen sichtbar, wo das Handeln einen Wandel sozialer Situatio-

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nen hervorbringt, deren mangelhaftes Funktionieren das zentrale Element der ersten Situation war.

Quelle: Thomas, William I. and Znaniecki, Florian (1927): The Polish Peasant in Europe and America. Monograph of an immigrant group. 2 Bde. New York: Alfred Knopf [EA 1918-1920], aus der „Methodological Note", Band I: S. 68-70, übersetzt von Matthias König.

Arbeitstext 9: „The Polish Peasant in Europe and America: Disorganization in America" (Florian Znaniecki / William I. Thomas) Zur Einführung sei angemerkt, dass der folgende Arbeitstext aus dem dritten Hauptteil des Werkes The Polish Peasant stammt („Organization and Disorganization in America"). Das empirische Datenmaterial besteht aus Gerichtsprotokollen, Berichten von Sozialarbeitern imd Dokumenten von Immigrantenvereinen. In ihrer Analyse gehen Znaniecki und Thomas auf das neu entstandene soziale Milieu der polnisch-amerikanischen Gesellschaft ein, um im Anschluss zu untersuchen, inwieweit dieses eine zunehmende Desorganisation der sozialen Persönlichkeit der Immigranten bewirkt. Unter dem Stichwort der Demoralisierung behandeln sie unterschiedliche Probleme, bei Erwachsenen vor allem die Tendenz zu ökonomischer Abhängigkeit ehelicher Untreue und Mordfälle, und bei Jugendlichen der zweiten Generation allgemeine Kriminalitätsneigung und - bei Mädchen - außereheliche Schwangerschaft und Prostitution. Wir haben diejenigen Passagen ausgewählt, die sich exemplarisch mit dem Problem der ehelichen Untreue befassen, auf das bereits in der methodologischen Vorbemerkung (Arbeitstext 8) Bezug genommen wurde.

Demoralisierung [...] [1648] Die Bedeutung unseres Materials fiir die Demoralisierung der Polen in diesem Land wird deuthcher, wenn wir in Erinnerung behalten, dass all jene Einstellungen, die [1649] dem Individum ein normales soziales Leben zu fuhren ermöglichen, das direkte oder indirekte Resultat einer langen Reihe sozialer Einflüsse sind, die auf sein ursprüngliches Temperament eingewirkt imd es zu einem eigenständigen Charakter geformt haben - in anderen Worten, dass diese Einstellungen institutionell imd nicht spontan sind. Wir werden immer wieder Beweise dafür finden, dass die natürlichen Neigungen eines Individuums, so sie nicht durch soziale Erziehung kontrolliert und gestaltet werden, unvermeidlich zu einem Verhalten führen, das vom sozialen Standpunkt als anormal beurteilt werden muss. Dies ist der Fall für alle Typen und Stadien intellektueller und moralischer Entwicklung. Man muss aber ebenso erkennen, dass ein Individuum, das - wie der Bauer - als Mitglied einer stabilen und kohärenten Primärgruppe aufgewachsen und daran gewöhnt ist, sich fiir die gesamte Verhaltensregulierung auf Gewohnheit und die unmittelbaren Vorgaben und Reaktionen seines sozialen Milieus zu verlassen, bei Versagen seines

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Milieus, hinreichend kontinuierliche, variable imd handlungskontrollierende Stimuli zu bieten, weitaus hilfloser ist als ein Individuum, das - wie der städtische Intellektuelle - daran gewöhnt ist, sich mit oberflächlichen sozialen Stimulationen, wie etwa bloßen Bekanntschaften oder Geschäftsverträgen, zufrieden zu geben, das darin geübt ist, entfernte imd indirekte soziale Folgen seines Verhaltens vorauszusehen und sich von ihnen beeinflussen zu lassen, und das schließlich sein Verhalten bewusst an allgemeinen und abstrakten Schemata auszurichten weiß und das Ungenügen gegenwärtiger sozialer Einflüsse durch persönliche Ideale, die es mit Hilfe der Gesellschaft in der Vergangenheit ausgebildet hat, ausgleichen kann. Wenn der eingewanderte Bauer in der Lage ist, seinen moralischen Status trotz der geschwächten sozialen Kontrolle aufrechtzuerhalten, so nur wegen der Macht der mentalen Gewohnheit. Wenn einmal starke und aktive Vorstellungen ausgebildet worden sind, so genügt selbst ein schwacher sozialer Stimulus, um das übliche Verhalten auszulösen; ein Brief von zu Hause, die [1650] Reaktion oder die Anerkennung eines Freundes, sogar die Erinnerung an vergangene soziale Einflüsse kann zeitweise fast genauso effizient das Individuum in den Grenzen der Normalität halten wie das Bewusstsein direkter sozialer Kontrolle durch die alte Primärgrappe. Wenn aber die Gewohnheit zusammengebrochen ist, sei es, weil die soziale Erziehimg des Individuums im alten Land ungenügend war, sei es, weil sein Temperament besonders störrisch gegenüber gegebenen sozialen Einflüssen ist oder weil sich die Belastung durch die neuen Bedingungen als sehr stark erweist, - dann entbehrt der durchschnittliche Immigrant jeglicher Anlage, sich selbst aus Elementen wie einer abstrakten individualistischen Moral, religiöser Mystik und den rechtlichen und ökonomischen Systemen, die er in Amerika vorfindet, eine neue Lebensgestaltung zu konstruieren. Um sein Leben auf einer neuen Grundlage zu reorganisieren, benötigt er vielmehr eine ebenso starke und kohärente Primärgruppe, wie es diejenige in seinem Herkunftsland war. Die polnisch-amerikanische Gesellschaft gibt ihm einige wenige Muster der Lebensführung, aber nicht genügend ftir all seine Aktivitäten. Ein gewisser Verfall der moralischen Standards ist daher unvermeidlich. Obwohl sie nicht immer aktive Demoralisierung und anti-soziales Verhalten bedingt, zeigt sich in ihr doch eine sozusagen passive Demoralisierung, eine partielle oder eine allgemeine Schwächung sozialer Interessen bzw. eine Verengung oder Verflachung des sozialen Lebens des Individuums. [...] [I65I] Es ist eine charakteristische Folge der Lebensführung in der Primärgruppe, wo all die verschiedenen Fäden des Handelns - ökonomische, hedonistische, religiöse etc. - eng ineinander verwoben sind und die entsprechenden Regeln einen fast nicht zu entwirrenden Komplex von Traditionen bilden, dass individuelle Desorganisation sich selten auf einen Bereich beschränkt, sondern nach und nach die gesamte Persönlichkeit umfasst. Wir haben bereits in unseren vorangegangenen Kapiteln gesehen, dass, wenn ein Individuum eine soziale Tradition seiner Gruppe zurückweist, alle anderen Traditionen ihren Einfluss auf ihn verlieren, weil ihre Verbindungen untereinander so eng sind. Eine rational motivierte Erhaltung einiger traditionaler Elemente nach der Ausschließung anderer ist nur möglich, wenn das Mitglied der Primärgruppe unter dem Einfluss kulturell höherstehender Leitfiguren steht. All diese Erscheinungen sind in denjenigen Fällen individueller Desorganisation, die wir im Folgenden betrachten werden, sogar noch gravierender. Ein Immigrant der ersten Generation, der in einer bestimmten Hinsicht - Familienleben, öko-

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nomische Beziehungen, Gemeinschaftsbeziehimgen - demoralisiert wird, verliert schnell auch die allgemeine moralische Selbstkontrolle, so dass alle seine institutionellen Einstellungen sich mehr oder weniger auflösen. [...] [1652] Aus diesem Grund beinhaltet beinahe jeder Fall, den wir vorgefunden haben, die meisten Varianten der Demoralisierung, zumindest in ihrer anfänglichen Form. Eine strenge und rein theoretische Klassifikation unseres Materials auf der Basis seiner Inhalte ist daher unmöglich. Allerdings ist jeder der Fälle, die wir im Folgenden betrachten, zunächst mit Bezug auf ein spezifisches praktisches Problem bekannt geworden, so dass in jedem von ihnen ein besonderer Aspekt der DemoraUsierung im Vordergrund steht. Die Fälle entstammen den Archiven unterschiedUcher amerikanischer Institutionen, die gemäß ihren jeweiligen Zwecken die Sozialarbeit mit Immigranten imter sich aufteilen. Jede Institution lenkt ihre Aufmerksamkeit natürlich vor allem auf diejenigen praktischen Situationen, die sie zu lösen beauftragt ist. Indem wir dieser praktischen Aufteilung des Materials folgen, können wir jeden Aspekt der Demordisierung als eigenständiges Problem betrachten, ohne natürlich die Verbindungen mit anderen Aspekten zu vernachlässigen. Wir fühlen uns nicht berechtigt, für den praktischen Umgang mit den gegebenen Situationen irgendwelche konkreten Ratschläge zu geben oder Kritik zu formulieren, da imser Gegenstand theoretische, nicht angewandte Soziologie ist. Aber Praxis wird nur daim erfolgreich sein, wenn sie auf einer theoretischen Analyse der Ursachen deijenigen Phänomene beruht, denen sie entgegenzuwirken versucht; deswegen hoffen wir, dass andere aus mserer Untersuchung nützliche praktische Folgerungen ziehen werden. [...]

Auflösung der ehelichen Beziehung

[...] [1706] Der moralische Status des durchschnittlichen polnisch-amerikanischen Individuums xmd der Ehegruppe im Bereich des ehelichen Lebens kaim als der einer instabilen Balance von charakterlichen Einstellungen und persönlichen Gewohnheiten beschrieben werden, die bestimmt, ob die traditionale soziale Schematisierung längst zu einer bloßen Formen verkommen - bewahrt wird oder nicht. Solange die natürlichen Neigungen und Gewohnheiten von Maim imd Frau mehr oder weniger gut mit jener Schematisierung übereinstimmen, ist ihre Beziehung noch immer wie früher definiert, weil es einfacher ist, die bestehende und gewohnte Definition zu übernehmen, als eine neue zu entwickeln. Diese Definition ist aber durch kein soziales Prestige gedeckt, und es gibt kein höheres Motiv, das es dem Individuum nahelegen würde, sie zu übernehmen und aufrechtzuerhalten, wenn sie mit seinem Temperament und seinen Gewohnheiten nicht mehr übereinstimmt. Deswegen kann ein beliebiger Grund für die Disharmonie zwischen den alten sozialen Schemata und den natürlichen oder habituellen Neigungen des Individuums dazu führen, dass es die traditionale Definition mit der Folge zurückweist, dass es entweder keine eheliche Beziehung eingeht, obwohl alle sozialen Regeln dies veriangten, oder dass eine schon bestehende eheliche Beziehung bricht. Dieser Grund kann darin bestehen, dass das Individuum aufgrund bestimmter Einflüsse neue Einstellungen entwickelt, die mit den elementaren Bedingungen des Ehelebens im Allgemeinen inkompatibel sind, oder dass eine Handlung das spezifische traditionale Schema des Ehelebens in

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einer Weise modifiziert, dass es ihm, dem Individuum, länger tragfähig erscheint. Unser Ziel ist die Bestimmung der [1707] besonderen Gründe, welche die eheliche Beziehung endgültig zerstören, nachdem diese infolge der Immigration ihre alte institutionelle Bedeutung bereits verloren hat.

[...] [1714] No. 55. Die Michalski Familie. Minnie und Stanley Michalski waren sehr jung, als sie geheiratet haben. Kurz nach ihrer Heirat kam ein Freund von Stanley, ein junger Mann namens Frank Komacki, zu Besuch. Er tat dies ein halbes Dutzend Mal. An einem Montag im Januar, 1912, kam er um die Mittagszeit zum Haus der Michalskis. Die junge Frau Michalski war allein zu Hause und wusch gerade die Wäsche. Ob er sie zu sexuellen Handlungen zwang oder nicht, [1715] lässt sich schwer feststellen. Später hat sie jedenfalls behauptet, sie hätte ihm widerstanden, er aber hätte ihren Mund mit seiner Hand so fest gehalten, dass sie nicht schreien gekonnt habe, imd weil sie im fünften Monat schwanger war, hätte sie es nicht gewagt, sich zu wehren. Ihrem Mann hat sie davon nichts erzählt. Das Kind wurde geboren und Helen genaimt. An einem Sonntag im August desselben Jahres waren Komacki imd Michalski gemeinsam zum Glücksspiel im Saloon. Michalski hatte gerade acht Dollar gewonnen, als Komacki, der bereits angetrunken war, sich bereit erklärte, ihm als Entgelt für die acht Dollar „etwas" zu erzählen. Er erzählte dann von seinem Geschlechtsverkehr mit Frau Michalski. Michalski ging fast von Sinnen nach Hause, würgte seine Frau, bis sie ihm die Wahrheit erzählte. Seine Wut kannte keine Grenzen. Er wollte nicht glauben, dass sie nicht an der Affäre beteiligt gewesen war, und befahl ihr, Konacki wegen Vergewaltigung festnehmen zu lassen; er würde sich weigern, mit ihr zusammenzuleben, solange sein Freund nicht bestraft worden wäre. Die Anzeige wurde zurückgewiesen. Er war besonders wütend, weil der Übergriff während einer Schwangerschaft stattgefunden hatte. Sie aber, die bereits wieder schwanger war, ließ eine Abtreibung vomehmen, um ihn zu beschwichtigen. Daraufhin erlaubte er ihr, zu ihr zurückzukehren, und sie lebten für weitere zwei Jahre zusammen. Dann verließ er sie und versprach ihr, fünf Dollar pro Woche für das Kind. Frau Michalski trat an die „Legal Aid Society" heran, um Hilfe bei ihren Unterhaltsforderungen gegenüber dem Ehemann zu erbeten. Michalski beantwortete den Brief der Gesellschaft persönUch und hinterließ bei deren Referentin, einer neuen und unerfahrenen jungen Frau, die „sehr großes Mitleid" mit ihm hatte, einen sehr guten Eindruck. Er bestand darauf, dass er seine Frau von Herzen liebe, aber nicht mit ihr zusammenleben könne. Sie hätte ihm gegenüber zugegeben, zweimal intime Beziehungen mit einem gewissen Mann gehabt zu haben, und das könne er einfach nicht vergessen. Außerdem würde er sich jedes Mal, wenn er mit ihr ausgehen würde, sich vorstellen, dass sie flirten oder sich auf andere Männer einlassen würde. Er bot schließHch an, seine Frau mit in das Büro der Gesellschaft zu bringen, um „die Sache zu bereden". Das geschah. Er weigerte sich, mehr Geld zu zahlen, und bedrängte Frau Michalski, in eine Scheidung einzuwilligen, wobei er großzügig anbot, einen deutlichen Nachweis für seine Untreue ihr gegenüber zu erbringen.

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Trotzdem versuchte die Michalski-Familie noch einmal zusammenzuleben, mietete eine Wohnung und kaufte neue Möbel. Nach zwei Wochen verschwand Stanley Michalski, und seine Frau kam zur „Legal Aid Society", um sich darüber zu beschweren, dass er mit einer anderen Frau zusammen sei und ihr nur fünf Dollar pro Woche zahle. Sie war nun bereit, in die Scheidung einzuwilUgen. In dieser Sache vmrde allerdings nichts unternommen. Sechs Monate [1716] später trat sie wieder an die Gesellschaft heran. Ihr Mann sei in der Nacht zuvor in der Wohnung erschienen imd hätte sie und Helen mit dem Tode bedroht. Er habe das Gas angedreht und versucht, sie bis zur Bewusstlosigkeit zu strangulieren, aber sie habe so laut geschrien, dass er Angst bekam und verschwand - nicht ohne eine Photographie seiner selbst, die an der Wand hing, und das Kind mitzunehmen. Frau Michalski rief einen Polizisten, ließ ihren Mann verhaften xmd erhielt das Kind zurück. Kurz danach vermittelte Michalski, der Manager in der Firma, für die er arbeitete, geworden war, seiner Frau eine Beschäftigung in seinem Büro für sieben Dollar in der Woche, um zu vermeiden, für den Unterhalt des Kindes zahlen zu müssen. Sie verlor ihre Arbeit bald darauf, imd er kam seinen Zahlungen nicht nach. Die „Legal Aid Society" suchte ihn auf. Er behauptete, er sei nicht fähig zu arbeiten, weil er sich von einer gewissen Frau, mit der er zusammenlebe, Syphilis zugezogen habe, sich in medizinischer Behandlung befinde und wahrscheinlich operiert werden müsse. Er bestand darauf, dass seine Frau einen unmoralischen Lebensstil pflege, und erzählte, er habe einen teilweise unbekleideten Mann in ihrem Schrank entdeckt, als er ihre Wohnung mit einem Polizisten aufgesucht habe. Er wollte den Mann festnehmen lassen, war aber besorgt, seine Frau in die Sache zu verwickeln. Einige Monate später kam Michalski zum Büro der „Legal Aid Society" und verlangte die Aufzeichnungen über diesen Fall. Er wollte sehen, ob die Aufzeichnungen irgendwelche Hinweise auf die Immoralität seiner Frau enthielten, mit der Absicht, derlei Hinweise als Grundlage für eine Scheidung zu nutzen. Als diese Anfrage verständlicherweise zurückgewiesen wurde, wurde er sehr erregt und beschuldigte die Gesellschaft, ständig nur die Frauen zu schützen. Weitere sechs Monate vergingen. Dem Scheidungsantrag wurde ohne Anfechtung stattgegeben. Es wurde viel Beweismaterial über Michalskis guten Charakter und Frau Michalskis uimoralischen Lebenswandel vorgebracht. Michalskis Bruder und ein junges Mädchen hatten bezeugt, dass sie eines Abends alle gemeinsam getrunken und Verstecken gespielt hätten, als Frau Michalski einen 18-jährigen Jungen in ihr Schlafzimmer gebeten imd mit ihm geschlafen habe. Zunächst bestritt Frau Michalski dies und bot an, den fraglichen Jungen ins Gericht zu bringen, um die Vorwürfe zurückzuweisen. Vom Anwalt der „Legal Aid Society" näher befragt und über die Gefahren einer Falschaussage aufgeklärt, gab sie zu, dass es doch die Wahrheit sei. Aber sie flehte die Gesellschaft an, sich für eine Aufhebung des Gerichtsurteils, durch das dem Vater die Fürsorge für das Kind zugesprochen worden war, zu verwenden. Mit Tränen in den Augen sagte sie, ihr Kind bedeute ihr alles in der Welt Als Michalski einige Tage später [1717] das Kind bei ihr abholte, war ihre Verzweiflung so miüeiderregend, dass die Gesellschaft beschloss, die Scheidung in ihrem Namen anzufechten. Das schon in Kraft getretene Urteil wurde ausgesetzt, nachdem gezeigt werden konnte, dass auch Michalski einen schlechten Lebenswandel habe. In Vorbereitung auf die abschließende Anhörung bestellte der Anwalt der „Legal Aid Society" das Mädchen, um dessentwillen Michalski seine Frau verlassen

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hatte. Sie hatte nichts dagegen, im Gericht zu erscheinen, um über ihre Beziehung zu Michalski Auskunft zu geben. Sie „fiihlte Mitleid fiir die arme Minnie imd würde sich freuen, ihr zu helfen", aber es sei ein sehr ungünstiger Moment, da sie von ihrem eigenen Ehemann die Scheidung verlange und sie nicht wünsche, sich in einer Situation wiederzufmden, in der sie ein und demselben Richter erzählen müsse, in Minnies Fall sei sie eine unmoralische Frau und in ihrem eigenen Fall sei sie eine voibildUche Ehefrau, die die Trennung von ihrem nichtswürdigen Ehemann verlange. Schließlich stimmte sie zu, Mirmie zu helfen, wenn ihre eigene Scheidung „problemlos durchgehen" würde. Doch in keinem Fall dürfe sie als Zeugin vorgeladen werden, denn wenn sie zur Aussage gezwungen würde, würde sie dies auf eine Weise tun, die weder Minnie noch ihrem Ehemann erlauben würden, das Kind zu behalten. Einige Wochen später sagte Frau Michalski, Stella würde sich weigern, ihr zu helfen, weil Stanley ihr versprochen habe, sie zu heiraten, wenn das nächste Scheidungsurteil ergangen sei. Das war nicht das einzige Heiratsversprechen, das Stanley während des Scheidungsprozesses machte. Frau Michalski wurde vom Gericht erlaubt, das ICind zu sehen, und einmal entführte sie es. Die „Legal Aid Society" strengte einen Gerichtsbeschluss an, der es ihr erlaubte, das Kind zu behalten. Weder Michalski noch sein Anwalt erschienen im Gericht, imi dies anzufechten. (Aus den Akten der „Legal Aid Society", Chicago)

[...] [1735] In dem oben ausgebreiteten Material [es handelt sich hier um die Fälle Nr. 48 bis Nr. 80, M.K.] finden wir fünf Hauptfaktoren, die nach dem allgemeinen Verfall der institutionellen Bedeutung der Ehe zum tatsächlichen Zerfall der Ehegruppe führen. Es handelt sich dabei um die charakterliche Fehlanpassung von Ehemann und Ehefrau, sexuelle Interessen, ökonomische Demorahsierung, die Einflussnahme von Angehörigen und Nachbarn und schließlich die des Staates. Keine von ihnen versucht natürlich alleine den Bruch der ehelichen Beziehung - sonst gäbe es wohl überhaupt keine Ehepaare mehr. Aber jeder von ihnen wird dann zu einem hinreichenden Grund, wenn er in Kombination mit bestimmten anderen sozialen oder psychologischen Elementen wirkt und so notwendigerweise zum Bruch fuhrt, es sei denn andere Kausalfaktoren wirken dem entgegen. [...] [1737] Das Sexualleben hat unter den amerikanischen Polen eine Bedeutung erlangt, die im Vergleich zu seiner relativ sekimdären Rolle, die es im traditionalen System besaß, völlig unverhältnismäßig ist. Dies hat mit der Tatsache zu tun, dass sexuelle Neigungen vom Standpunkt der Familienorganisation der polnischen Bauern nicht so sehr, wie etwa in der Perspektive des religiösen Puritanismus, eine Sache der Moral als vielmehr eine der sozialen Organisation waren. Die vorehelichen Beziehungen zwischen den Geschlechtern waren durch das praktische Problem der Ehe, nicht durch abstrakte moralische Standards reguliert Es gab daher keine Vorstellung allgemeiner sexueller Unanständigkeit, [1738] und jegliche Art direkter sexueller Anspielungen in der Öffentlichkeit war eriaubt; Unanständigkeit haftete nur den sexuellen Anspielungen oder Kontakten zwischen bestimmten Individuen an, soweit dies nämlich ihre Heiratsmöglichkeiten berührte, die dem sozialen Bewusstsein

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gemäß nicht privat, sondern sozial und in Entsprechung zu einem strengen Zeremoniell zu bestimmen waren. Das Gefühl der Unanständigkeit war daher dem Gefühl des Sakrilegs sehr ähnlich - wenn auch weniger intensiv, sofern letzteres nämlich hervorgerufen wird, wenn sakrale Dinge, also Dinge von großer sozialer und zeremonieller Bedeutung, von Individuen profan, d.h. informell, als wären sie eine Privatsache, behandelt werden. Nach der Ehe schwand die soziale Bedeutung des Sexuallebens; für die Gesellschaft war nunmehr nur das Wachstum der Familie wichtig, womit denn auch alle sakralen imd quasi-sakralen Zeremonien verbunden waren. Die Beziehungen zwischen den Ehepartnern waren nun streng der Privatsphäre zugeordnet; die öffentliche Aufmerksamkeit auf sie zu lenken, galt als unanständig, weil so eine im wesentlichen private Angelegenheit in das soziale und quasi-sakrale Familiensystem eingeführt wurde. Eheliche Untreue galt aus demselben Grund als unanständig, aber sie war auch anti-sozial, insofern sie nämlich die Familie schwächte; wenn sie geschah, war es eher das angemessene Verhalten, ihren unerwünschten Folgen entgegenzuwirken, als persönliche Gefühle zu berücksichtigen, mit dem Ziel, um jeden Preis den Bruch der ehelichen Beziehung zu vermeiden. Wenn die Großfamilie und die Ehegruppe ihre institutionelle Bedeutung verlieren, ist indessen keine Kontrolle über sexuelle Neigungen mehr vorhanden außer der Religion, die in diesem Fall noch nie einen besonderen Einfluss besessen hat. Die lässigen Sitten, die unter den polnischen Immigranten vorherrschen und die amerikanische Sozialarbeiter oftmals erstaunen, lassen sich daher leicht erklären. Sexuelle Laster als solche haben nicht die Bedeutung der „Lasterhaftigkeit"; nur wegen ihrer Auswirkung auf das [1739] Familiensystem sind sie verurteilt und verachtet worden. Die Leichtigkeit, mit der freie Liebesbeziehungen entstehen - wie dies die Fälle Michalski und Adamski zeigen - beweist, dass in den Augen der breiten Massen der polnisch-amerikanischen Gesellschaft sexuelle Beziehungen zwischen zwei Individuen zu einer Angelegenheit der persönlichen Wahl, frei von jeglicher sozialer Kontrolle oder Regulation, zu werden tendieren. [...] Normalerweise sind die Neigungen imd Überzeugungen, die mit der Ehe verbunden sind, noch immer eng miteinander verknüpft; sowohl die sexuellen Wünsche des Individuums und die Erwartung der Treue der anderen Partei bleiben in der ehelichen Situation enthalten. Mit anderen Worten, die meisten Immigranten, Männer wie Frauen, neigen dazu, die Ehe, d.h. das Zusammenleben in einem Haus, das Teilen gemeinsamer ökonomischer Interessen und die Fürsorge für Kinder, als den normalen Weg der Befriedigung sexueller Wünsche zu betrachten, obwohl die Ehe nicht mehr wie etwas Heiliges behandelt wird und obwohl die Trennlinie zwischen Ehe und Konkubinat allmählich verschwindet. Wenn eine solche Einstellung vorliegt, kann die außereheliche Befriedigung sexueller Neigungen zum Grund für den Bruch der ehelichen Beziehung werden. Das Individuum, das mit der sexuellen Dimension seines Ehelebens nicht zufrieden ist und sexuelle Beziehungen [1740] außerhalb der Ehe imterhält, neigt dazu, die Ehe endgültig aufzulösen und eine neue eheliche oder eheähnliche Beziehung mit einer anderen Person einzugehen. [...] [1741] Aber selbst wenn das Individuum, dessen sexuelle Interessen außerhalb der Ehegruppe liegen, diese zu erfüllen versucht, ohne das eheliche Band zu trennen, karm die andere Partei sich xmwillig zeigen, die eheliche Untreue von Gatten oder Gattin zu ertragen, imd nach erfolglosem Lösungsversuch scheiden lassen. Eifer-

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sucht scheint nämlich sehr viel länger anzudauern als das tatsächliche sexuelle Interesse, und neben Fällen, in denen sie der echte Ausdruck verletzter Liebe ist, finden wir solche, in denen sie in einem Individuum gleichzeitig mit seiner eigenen ehelichen Untreue vorliegt. Michalski z.B. will eindeutig aus Eifersucht seine Frau verlassen, obgleich er selbst mehrere außereheliche sexuelle Beziehungen hat imd seine Frau offensichtlich nicht mehr hebt, und Frau Gaszynski, selbst eine Ehebrecherin aber voller Verzweiflung darüber, verlassen worden zu sein, überschüttet ihre Rivalin mit Vitriol. Man muss allerdings festhalten, dass die Untreue von Mann oder Frau, die fiir das moderne Bewusstsein doch den allematürlichsten Grund für die Auflösung der Ehebeziehung darstellt (was sich darin zeigt, dass gerade Ehebruch zumeist als anerkannter Scheidungsgrund gilt), nicht in demselben Maß auch für den Bauern die Auflösung der Ehe nahelegt. Wie zuvor erwähnt, bestand die vorherrschende Neigimg in dem traditionalen System darin, ihre destruktiven Einflüsse auf das Familienleben zu unterbinden, und diese Neigung erstreckt sich selbst auf die stillschweigende oder ausdrückliche Adoption des außerehelichen Kindes durch den Mann oder die Frau. In dieser Hinsicht ist die Einstellung der später nachgezogenen Frau von Süinski typisch; sie [1742]„will ihren Mann zurück", obwohl er mit einer anderen Frau jalu-elang zusammengelebt hat. Die natürlichere Reaktion auf die Untreue ist der Wunsch nach Rache, und wir haben Fälle, in denen der betrogene Mann oder die betrogene Frau ausdrückUch die Scheidung verweigert, nur weil dies dem Wunsch des Ehebrechers oder der Ehebrecherin genüge täte. Der Wunsch nach Rache zeigt sich beim Mann üblicherweise in physischer Gewalt - denn gleich wie entrüstet der amerikanische Sozialarbeiter auch über den Mann sein mag, der seine Frau aus Eifersucht schlägt, ist dieses Verhalten durch Tradition legitimiert und sozial normal - und bei der Frau im Wunsch, es ihrem Mann mit gleicher Münze heimzuzahlen. Gelegentlich nimmt auch der Maim zu dieser Rache durch Vergeltung Zuflucht, wie in dem Adamski-Fall, wo Maslowskis Rache sich nicht nur gegen seine Frau, sondern auch gegen seinen Rivalen wendet. Wenn die Entrüstung über die Untreue der anderen Partei mit den eigenen Wünschen des Individuums nach außerehelichen sexuellen Beziehungen korrespondiert, wird natürlich die Auflösung der Ehe unvermeidlich, wie in den Fällen Michalski und Ziolek.

Quelle: Thomas, William I. and Znaniecki, Rorian (1927): The Polish Peasant in Europe and America. Monograph of an immigrant group. 2 Bde. New York: Alfred Knopf [EA 1918-1920], Band II: S. 1647-1653; 1703-1742, übersetzt von Matthias König.

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2.5. Vom Nutzen der Soziologie Wie jede wissenschaftliche Disziplin betreibt die Soziologie Wissensproduktion nicht als Selbstzweck, sondern legitimiert sich durch die Bereitstellung dieses Wissens für andere gesellschaftliche Bereiche, z.B. fur Wirtschaft, Politik und Justiz, und die dort tätigen Organisationen und Gruppen. Sie alle sind daran interessiert, aus den Ergebnissen soziologischen Arbeitens - in welcher Form auch immer - einen Nutzen zu ziehen. Bevor bestimmt wird, worin Soziologinnen und Soziologen selbst den Nutzen ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit sehen, ist es daher sinnvoll, sich vor Augen zu fuhren, wie die Soziologie allgemein wahrgenommen wird. Die interessierte Öffentlichkeit nimmt die Soziologie durch ihre gesellschaftlichen Gegenwartsdiagnosen und die daraus abgeleiteten Zukunftsperspektiven wahr. Oft werden dabei die Ergebnisse komplexer soziologischer Analysen so zugespitzt, dass ein Schlagwort die Gegenwartsgesellschaft etikettiert: „Postindustrielle Gesellschaft", „Risikogesellschaft", „Multioptionsgesellschaft", „Kommunikationsgesellschaft" oder „Freizeitgesellschaft" sind solche Etikettierungen, die einen Aspekt der gesellschaftlichen Entwicklung in den Vordergrund rücken und öffentlich zur Diskussion stellen.^'* Von Seiten der Wirtschaft besteht ein kontinuierliches Interesse daran, im Rahmen der kommerziellen Marktforschung mit Hilfe der empirischen soziologischen Forschung gesicherte Informationen über Marktstruktur und Konsumentenverhalten zu erheben. Bleiben die Ergebnisse solcher Analysen in der Regel dem Auftraggeber vorbehalten, so werden von der öffentlichen Hand finanzierte Forschungsergebnisse, beispielsweise über die Akzeptanz von Bauprojekten oder zur Erhebung von demografischen Daten für die Sozialplanung, in den politischen Entscheidungsprozess eingebracht. Veröffentlichungen von Umfragen über die verschiedensten Themen sind inzwischen zu einem festen Bestandteil der Medienberichterstattung geworden. Eine regelrechte Konjunktur erlebt die empirische Sozialforschung immer auch 34

Vgl. Schimank, Uwe; Volkmann, Ute (Hrsg.) (2000): Soziologische Gegenwartsdiagnosen I, Opladen: Leske + Budrich.

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bei Wahlen in Form von Wahlprognosen und Hochrechnungen. Die Wiederkehr dieses Interesses an empirischer Sozialforschung ist durch den Rhythmus der Wahlperioden gesichert. Gleichwohl hat die Soziologie mit vielerlei Akzeptanzproblemen zu kämpfen. Vor solchen Problemen stehen alle Wissenschaften, wenn ihre Forschungsziele und die dabei eingesetzten Mittel von der Gesellschaft in Frage gestellt werden. Ein aktuelles Beispiel für eine solche Akzeptanzkrise aus dem Bereich der Naturwissenschaften ist die Genforschung. Doch selbst wenn viele Menschen ihren wissenschaftlichen Fortschrittsglauben verloren haben und vor allem die Risiken der Forschung und der praktisch-technischen Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse betonen, so wird die fachliche Kompetenz und Leistungsfähigkeit von Naturwissenschaftlern nur sehen bezweifelt. Dagegen wird auf soziologische Erkenntnisse oft mit Skepsis reagiert, weil man meint, Soziologie problematisiere bereits bekannte Sachverhalte (was ja auch stimmt!) und verkompliziere lediglich triviale Alltagsweisheiten durch eine unverständliche Fachsprache. Dabei wird jedoch selten bedacht, wie viel soziologisches Wissen in den Alltag zurück fließt. In viele umgangssprachliche Begriffe sind Bedeutungsgehahe der soziologischen Sprache und entsprechende Erklärungskonzepte eingegangen. Beispielsweise ist die Erkenntnis, dass ein Mensch an einem Tag in verschiedenen Lebensbereichen unterschiedliche „Rollen" spielt, z.B. Studentin, Kundin und Tochter oder auch Mutter, die oft kaum zu vereinbaren sind, ein durchaus geläufiger Beitrag der Soziologie zur Beschreibung und zum Verständnis individueller Problemlagen. Und zwar auch, wenn den wenigsten die soziologische Herkunft dieses Begriffs oder gar dessen Zusammenhang mit der „funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft" oder der „räumlichen Trennung von Produktion und Reproduktion" bekannt ist. Was hat die Soziologie der Gesellschaft zu bieten? Ein Blick auf die Liste der Sektionen innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Soziologie genügt, um das Spektrum soziologischer Arbeitsfelder in seiner Breite abschätzen zu können. Mit den speziellen Soziologien von A wie Agrarsoziologie bis Ζ wie Zeitsoziologie wird themenspezifisches Wissen produziert, das die Erkenntnisse anderer Wissenschaften ergänzt, die sich ebenfalls mit bestimmten Aspekten gesellschaftlicher Wirklichkeit beschäftigen, wie die Wirtschaftswissenschaften oder die

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Psychologie. Dabei besteht das spezielle Leistungsprofil der Soziologie darin, soziale Tatbestände als Produkte des Zusammenwirkens verschiedener Faktoren zu erfassen und zu analysieren. Die soziologische Perspektive erlaubt die Einbettung scheinbar isolierter Symptome in komplexe Zusammenhänge und leistet damit wichtige Beiträge zur Diagnose sozialer Probleme. Neben der Diagnose ist die Erklärung und Prognose gesellschaftlicher Veränderungen ein weiteres Anliegen der Soziologie. Auf der Grundlage empirischer Beobachtungen des gesellschaftlichen Wandels und mit Hilfe entsprechender theoretischer Erklärungsmodelle versucht die Soziologie, Wahrscheinlichkeitsaussagen über zukünftige Entwicklungen zu machen und so Orientierungswissen bereit zu stellen. Dabei erhebt sie nicht - wie noch ihre Gründungsväter - den Anspruch, die Gesellschaftsentwicklung umfassend vorhersagen zu können und mit der sozialtechnischen Umsetzung soziologischer Erkenntnisse steuern zu wollen. Die heutige Soziologie beschränkt sich gerade angesichts der Komplexität sozialer Zusammenhänge meist auf die Vorhersage von Entwicklungstendenzen. Allen sozialen Phänomenen liegen Normen des Handelns und bestimmte Ideen von Mensch und Gesellschaft zugrunde. Seit jeher versteht sich Soziologie als Instrument zur Erforschung dieser kulturellen, die Gesellschaft prägenden Vorstellungen. Aus den soziologischen Erkenntnissen lässt sich Kritik an diesen Vorstellungen ableiten, wobei die Maßstäbe dieser Kritik wiederum als begründungsbedürftig reflektiert werden müssen. In diesem Kontext hat Norbert Elias (1897-1990) die Soziologie als „Mythenjäger" bezeichnet." Nachdem sich die neuzeitliche Wissenschaft über die Kritik an Religion konstituiert hatte, sind fur die Soziologie jegliche Formen von Ideologie zum Gegenstand der Kritik geworden. Dabei werden normative, politische oder auch wissenschaftliche Aussagesysteme analysiert, um dogmatische und widersprüchliche Inhalte aufzudecken. Aufgrund ihrer historischen Eingebundenheit kann auch die Soziologie selbst zum Gegenstand einer solchen Kritik werden. Insgesamt erhellt der „soziologische Blick" die soziale Bedingtheit von Menschenbildern und Gesellschaftsentwürfen und den daraus abgeleiteten normativen ^^ Vgl. Elias, Norbert (1993): Was ist Soziologie, 7. Aufl., Weinheim & München: Juventa, S.51-74.

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Orientierungen, die nicht als unveränderbar angesehen werden, sondern einem gesellschaftlichen Aushandlungsprozess unterliegen. Damit kann die Soziologie auch zum Verständnis interkultureller Unterschiede beitragen und mögliche Konfliktpunkte bestimmen, beispielsweise bei der Umstellung eines deutschen Industriebetriebs auf die japanische Untemehmenskultur des Mutterkonzems oder bei der Implementierung von internationalem Recht in unterschiedlichen kulturellen Kontexten. Die Anwendung der durch Grundlagenforschung gewonnenen soziologischen Erkenntnisse wirft Fragen nach ihrer Verwertung auf Entsprechende Probleme werden sowohl für die Soziologie in ihrer Gesamtheit als wissenschaftlicher Disziplin als auch fiir einzelne Soziologinnen und Soziologen in ihrem individuellen Handeln virulent. So können beispielsweise Rollenkonflikte entstehen, wenn der Auftraggeber einer empirischen Studie oder der Arbeitgeber eines in der Industrie tätigen Soziologen verlangt, Forschungsergebnisse in einer Form zu interpretieren und darzustellen, die nicht den professionellen Standards entspricht. Überhaupt ist die Art und Weise umstritten, wie die soziologischen Erkenntnispotenziale fiir die Gesellschaft nutzbar gemacht werden sollen. Dabei lassen sich vier typische Strategien unterscheiden: Eine sozialtechnologische Verwertung stellt soziologische Erkenntnisse in den Dienst außerwissenschaftlicher Gesellschaftsbereiche mit dem Ziel einer Steigerung deren Leistungsfähigkeit. Organisationen, wie beispielsweise wirtschaftliche Unternehmen oder eine Verwaltungsbehörde, werden in ihrer Funktionsweise unterstützt und ihre Effizienz erhöht. Eine praktisch-gestaltende Umsetzung von soziologischem Wissen kann aber auch mit dem Anliegen verknüpft sein, bestehende soziale Strukturen zu verändern. Die Gesellschaft als Ganzes oder einzelne ihrer Aspekte werden dabei als verbesserungswürdig erachtet. Vom Einsatz soziologischer Kenntnisse wird sich eine gezielte Reform versprochen, z.B. die Verbesserung der Bildungschancen behinderter Menschen oder eine stärkere politische Partizipation ausländischer Bürger. Steht statt der praktischen Umgestaltung von Gesellschaft eher die Kritik der Verhältnisse im Vordergrund, wird soziologisches Wissen zum Zweck einer emanzipatorischen Außdärung eingesetzt. Soziologinnen und Soziologen fimgieren dann als kritische Intellektuelle, die ihre wissenschaftliche Kompetenz benut-

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zen, um Missstände aufzudecken, über den wissenschaftlichen Kontext hinaus gesellschaftspolitische Debatten anzustoßen und dadurch an der praktischen Umgestaltung der Gesellschaft mitzuwirken. Dabei werden geltende Herrschaftsansprüche angezweifelt und gegebenenfalls zurückgewiesen. Die intellektuelle Reflexion soziologischer Erkenntnisse in der Öffentlichkeit kann aber schließlich auch mit der Absicht geschehen, eine Rechtfertigung des Status quo zu liefern und dadurch in affirmativer Weise bestehende Gesellschaftsstrukturen zu stabilisieren. Jede Soziologin und jeder Soziologe sollte fiir sich klären, welche Strategien der Anwendung der soziologischen Arbeit sie fiir sich akzeptieren möchten. Bei Rollenkonflikten zwischen dem eigenen soziologischen Selbstverständnis und den Zwängen, die diesem Selbstverständnis zuwider laufen, wird man immer wieder herausgefordert zu entscheiden, welche Kompromisse frau bereit ist, in Kauf zu nehmen. Darüber hinaus bleibt es wichtig, den Streit um den Nutzen der Soziologie fortzufiihren, um die Selbstreflexion des Fachs in Gang zu halten. Diese Debatte sollte immer auch die Fragen mit einbeziehen, welche gesellschaftlichen Herausforderungen bestehen und wie sich die Soziologie dazu verhalten sollte. Die Diskussion ist eröffnet! Übungsaufgaben Wozu heute noch Soziologie? So lautete die Frage, auf die eine Reihe von Soziologen in der Wochenzeitung Die ZEIT zwischen Januar und Juni 1996 eine Antwort geben sollten. Anlass dafiir war die Unterstellung, dass die Soziologie, vor allem im Vergleich zu den 1970er Jahren, immer weniger zur Lösung sozialer Probleme beizutragen habe. Die Gründe dafiir seien, dass der Soziologie angesichts von Prozessen der Globalisierung und Individualisierung ihr Gegenstand, die „Gesellschaft", abhanden gekommen sei und sie daher keine Orientierungsftmktion mehr leisten könne (Warnfried Dettling). In den Antworten der soziologischen Fachvertreter wurde dabei in unterschiedlicher Weise die praktische Bedeutung ihres Faches hervorgehoben, gleich ob es sich dabei etwa um die Suche nach der „guten Gesellschaft" (Dirk Kaesler), das Angebot von Reflexionswissen (Hans-Peter Müller) oder die Übersetzung zwischen verschiedenen sozialen

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Sprachen mit dem Ziel einer Verständigung über das Politische (Peter Wagner) handehe. Eine der in diesem Zusammenhang vertretenen Positionen ist diejenige von Pierre Bourdieu (1930-2002), zuletzt Professor am Collège de France und einer der wohl einflussreichsten französischen Soziologen der Gegenwart. Sein Beitrag zur ZEIT-Debatte ist im folgenden vollständig abgedruckt. Erschließen Sie sich nach seiner Lektüre die Probleme des Praxis-Bezugs der Soziologie anhand der folgenden Fragen: 1.

Worin unterscheidet sich nach Bourdieu die Soziologie von Sozialtechnologie und Demagogie?

2.

In welcher Hinsicht sind für Bourdieu die Forschungsergebnisse der Soziologie (etwa zu sozialer Ungleichheit) am politischen Ideal der Demokratie orientiert? Und welche Konsequenzen hat dies wohl für die empirische Forschung in der Soziologie?

3.

Versuchen Sie, in Auseinandersetzung mit Bourdieus Argumenten Ihre eigene Meinung zur Praxisbedeutung der Soziologie zu formulieren.

Arbeitstext 10: „Störenfried Soziologie" (Pierre Bourdieu) [65] Wie meine Fachkollegen bin ich davon überzeugt, daß die Soziologie zu demokratischem politischem Handeln ihren Beitrag leisten kaim: zu einer Regierung aller Bürger, die geeignet ist, auch das Glück aller Bürger zu gewährleisten. Ich möchte mit diesem Text andere dazu bringen, diese Überzeugung zu teilen (selbst wenn ich damit meine Kräfte etwas überschätze). Die Sozialwissenschaften sind in der gesellschaftUchen Wirklichkeit präsent wenn auch häufig in mehr oder weniger entstellter Form; wer sich über die Demokratie Gedanken macht, wird jene einbeziehen müssen. Es vergeht beispielsweise kein Tag, ohne daß Wirtschaftler oder Ökonomen zitiert werden, um Entscheidungen der Regierung zu rechtfertigen. Die Soziologie hingegen wird seltener hinzugezogen. Nur in Krisensituationen, angesichts „sozialer" Probleme - als ob alle anderen dies nicht wären! - wie derzeit die Frage der Universitäten oder der Vorstädte, wendet sich das Publikum, besonders die Medien, an Soziologen. Nun steht demokratische Politik vor der modernen Form einer sehr alten Alternative - einer- [66] seits der Philosophenkönig, der aufgeklärte Alleinherrscher, und auf der anderen Seite der Demagoge. Anders ausgedrückt, vor der Wahl zwischen Arroganz des Technokraten, die vorgibt, alle Menschen glücklich zu machen, auch ohne oder gegen ihren Willen, imd der Willfährigkeit des Demagogen, die einfach der Nachfrage gehorcht, ob sie nun in Marktumfragen, Einschaltquoten oder Popularitätskurven sichtbar wird. Eine wirklich demokratische Politik sollte sich dieser Alternative entziehen.

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Soziologisches Propädeutikum

Auf die Konsequenzen des technokratischen Irrtums, der eher im Namen der Wirtschaft begangen wird, will ich nicht näher eingehen. Dazu müßte man genau aufluhren, welchen Preis die Gesellschaft an Leiden und Gewalt, aber auch ökonomisch für alle Wirtschaftsformen bezahlt, die im Namen einer eingeschränkten, verstümmelten Definition von Ökonomie durchgesetzt werden. Nur sollte man bedenken, daß es ein Gesetz der Erhaltung der Gewalt gibt. Wenn man die offen sichtbare Gewalt emsthaft verringern will, die Verbrechen wie Diebstähle, Vergewaltigungen, sogar Attentate, muß man daraufhinwirken, die - jedenfalls von den 2^ntralen oder Orten der Herrschaft aus - unsichtbar bleibende Gewalt insgesamt zu verringern, wie sie tagtäglich überall in Familien, Fabriken, Werkstätten, Kommissariaten, Gefängnissen und sogar in iCrankenhäusem oder Schulen ausgeübt wird. Sie ist Ergebnis der „trägen Gewalt" von Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen und von gnadenlosen Mechanismen, die ihre Reproduktion begünstigen. Ich möchte indessen den Akzent auf den zweiten Teil der Alternative legen, auf den demagogischen Irrtum. Die Fortschritte der Sozialtechnologie - die auf keinen Fall mit der Sozialwissenschaft zu verwechseln ist, deren Instrumentarium sie sich manchmal bedient - sind so groß, [67] daß die offensichtliche, aktuelle, punktuelle und ausdrücklich eridärte Nachfrage genauestens bekannt ist: Es gibt Techniker der doxa, der Meinung. Diese Meinungs- und Umfragenhändler sind die heutigen Nachfahren jener Scheinwissenschaftler des äußeren Anscheins, die Piaton treffend Doxosophen nannte. Die Sozialwissenschaft ruft dagegen in Erinnenmg, daß ein Verfahren wie die Umfrage Grenzen kenn^ weil, wie bei einer Abstimmung, nur aggregierte Meinungen berücksichtigt werden. Daher kaim sie ein zweckmäßiges Instrument demagogischen Handelns werden, uimiittelbar gesellschaftlichen Kräften unterworfen. Die Sozialwissenschaft macht sichtbar, daß eine Politik, die nur die offensichtliche Nachfrage bedient, ihr eigenes Ziel verfehlt: Das bestände nämlich darin, Zwecke zu definieren, die dem wirklichen Interesse einer Mehrheit entsprechen. Die oben beschriebene Politik hingegen ist nichts anderes als eine kaum verhüllte Form des Marketing. Die „demokratische" Illusion über die Demokratie besteht darin, zu vergessen, daß es Zugangsbedingungen gibt für die konstituierte und öffentlich formulierte politische Meinung: „Doxazein, zustimmen", sagte Piaton, „heißt sprechen", also zum Diskurs erheben. Und wir alle wissen, daß nicht alle gleich sind vor der Sprache. Die Wahrscheinlichkeit, daß man auf eine Meinungsfrage antwortet - besonders wenn es um ein politisches Problem geht, das die politische Welt als solches definiert hat - , unterscheidet sich sehr zwischen Männern und Frauen, Gebildeten und Ungebildeten, Reich und Arm. Folglich verbirgt sich hinter der formalen Gleichheit der Bürger eine tatsächliche Ungleichheit Die Wahrscheinlichkeit, eine Meinung zu haben, birgt in sich ebenso viele Unterschiede wie die Wahrscheinlichkeit, diese auch durchsetzen zu können als tätige Meinung. [68] Wissenschaft klärt auf über die Mittel, nicht über die Ziele. Sobald allerdings von Demokratie die Rede ist, liegen die Ziele auf der Hand: Die wirtschaftlichen und kulturellen Zugangsbedingungen zur politischen Meinung müssen allgemein verfijgbar gemacht, also demokratisiert werden. Einen entscheidenden Platz nimmt dabei die Bildung ein, die Grund- und die Weiterbildung. Sie ist nicht nur Voraus-

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Setzung für den Zugang zu Arbeitsplätzen und gesellschaftlichen Positionen, sie ist die Hauptvoraussetzung fiir die echte Ausübung der bürgerlichen Rechte. Die Soziologie begnügt sich nun nicht dami^ zur Kritik der gesellschaftlichen Illusionen beizutragen, was eine Bedingung demokratischer Wahlmöglichkeit ist Sie kann darüber hinaus eine realistische Utopie begründen, die von einem unverantwortlichen Voluntarismus ebenso weit entfernt ist wie von wissenschaftsgläubiger Resignation in der bestehenden Ordnung. Tatsächlich widersetzt sie sich den Praktiken der Doxosophen völlig, die den Befragten nur Fragen vorlegen, die sich die politische Welt über sie stellt Nein, die Absicht der Soziologie ist es, hinter den äußeren Schein - und den offen sichtbaren Diskurs über diesen Schein - zu blicken, ganz gleich ob es nun jener der Handelnden selbst ist oder der noch scheinhaftere, den die Doxosophen, die Meinungsforscher, politischen Kommentatoren und Politiker hervorbringen in einem Spiel der sich unendlich ineinander spiegelnden Spiegel. In der Tradition des Hippokrates beginnt die wirkliche Medizin mit der Kenntnis der unsichtbaren Krankheiten, also der Dinge, über die der Kranke nicht spricht, weil sie ihm nicht bewußt sind oder er vergißt, sie zu erwähnen. Das gilt auch für eine Sozialwissenschaft, die sich um Kenntnis imd Verständnis der wirklichen Ursachen des Unbehagens bemüht, das nur durch schwierig zu inteφretierende gesellschaftliche Anzeichen zutage tritt. Ich [69]denke an die willkürliche Gewalt in Stadien und anderswo, an rassistische Verbrechen oder an die Wahlerfolge der Propheten des Unglücks, die die primitivsten Äußerungen moralischen Leidens eilfertig ausbeuten und verstärken, die das Elend und die „träge Gewalt" der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen ebenso wie all die kleinen Nöte und Gewaltakte des täglichen Lebens hervorbringen. Um über die sichtbaren Erscheinungsformen hinauszugelangen, muß man zurückgehen zu den realen, echten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Determinanten der zahllosen Verletzungen der Freiheit des einzelnen, seines legitimen Strebens nach Glück imd Selbsterftillung, die nicht nur durch die gnadenlosen Zwänge auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt zugefiigt werden, sondern auch durch die Urteile im Bildungssektor oder durch die offenen Sanktionen oder heimtückischen Angriffe im Berufsleben. Nun löst man die Widersprüche nicht gleich, wenn man sie bloßlegt. Jene Mechanismen, die das Leben imerträglich, ja mlebbar machen, werden nicht ausgeschaltet, bloß weil man sie bewußtgemacht hat. Doch so skeptisch man auch darüber denken mag, wie wirksam die Botschaft der Soziologie gesellschaftlich ist, völlig wirkungslos kann sie nicht sein, wenn sie Leidenden zumindest die Möglichkeit eröffnet, ihr Leiden gesellschaftlichen Ursachen anzulasten imd sich selbst so entlastet zu fìihlen. Und was die soziale Welt geknüpft hat kann sie im Besitz dieses Wissens auch lösen. Natürlich stört die Soziologie. Sie stört, weil sie enthüllt. Darin unterscheidet sie sich in nichts von den anderen Wissenschaften. „Es gibt keine Wissenschaft ohne das Verborgene", sagte Gaston Bachelard. Doch dieses Verborgene ist besonderer Art. Häufig handelt es sich um ein Geheimnis - das man wie manche Familiengeheimnisse [70] gar nicht lüften möchte - oder eher noch um etwas Verdrängtes. Namentlich wenn es Mechanismen oder Praktiken betrifft, die dem demokratischen Credo allzu offen widersprechen - ich denke etwa daran, nach welchen gesell-

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Soziologisches Propädeutikum

schaftlichen Mechanismen in der Schule ausgewählt wird. Deshalb scheint der Soziologe zu denunzieren, wenn er sich nicht damit begnügt, den Anschein festzustellen und zu bestätigen, und statt dessen seine wissenschaftliche Arbeit tut und aufdeckt. Wenn sie tiefgehend und konsequent ist, begnügt sich die Soziologie einfach nicht mit bloßer Feststellung, die deterministisch, pessimistisch oder demoralisierend genaimt werden darf. Sie kann reaUstische Mittel anbieten, um den der Gesellschaftsordnung immanenten Tendenzen entgegenzuwirken. Und wer das deterministisch nennt, sollte sich eines in Erinnerimg rufen: Das Gesetz der Schwerkraft mußte erst kennen, wer Flugmaschinen baute, die ebendieses Gesetz wirksam überwinden.

Quelle: Bourdieu, Pierre (1996): „Störenfried Soziologie, Zur Demokratie gehört eine Forschung, die Ungerechtigkeiten aufdeckt"; in: Die ZEIT 51. Jahrgang 1996; wiederabgedruckt in: Fritz-Vannahme, Joachim (Hrsg.). Wozu heute noch Soziologie? Opladen: Leske + Budrich; S. 65-70.

Arbeitstechniken - Wissen aneignen und vermitteln

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3. Arbeitstechniken Wissen aneignen und vermitteln Jedes Buch über das wissenschaftliche Arbeiten muss mit dem Dilemma fertig werden, dass es das, was es vermitteln möchte, allenfalls mittelbar zu thematisieren vermag. Es kann das Studium selbst nicht vorwegnehmen, geschweige denn in seinem Gelingen oder Misslingen kontrollieren. Ihm bleibt nur. Regeln und Rezepte vorzustellen, Strategien, Verhaltensweisen und Kunstgriffe zu empfehlen. Das ist das Ziel dieses dritten Buchabschnitts, in dem wir in die konkreten Techniken des wissenschaftlichen Arbeitens, das „Handwerkszeug" des Soziologiestudiums, einftihren wollen. Neben den im Folgenden vorgestellten Techniken soll zunächst auf die unserer Ansicht nach wichtigste Arbeitstechnik eines sozialwissenschaftlichen Studiums hingewiesen werden: das wissenschaftliche Gespräch. Bereits von Beginn des Studiums an sollten Studierende versuchen, nicht nur in den Seminaren, sondern auch darüber hinaus mit ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen über wissenschaftliche Themen ins Gespräch zu kommen, um Gedanken, Meinungen, Fragestellungen und auch Texte auszutauschen. Die Vorstellung, nur allein im stillen Kämmerlein, umgeben von Büchern, Kopien und Zeitschriftenartikeln und im „Dialog" mit dem Computerbildschirm einer wissenschaftlichen Tätigkeit nachgehen zu können, sollte möglichst schnell abgelegt werden. Sicherlich mögen derartige „Klausuren" zeitweise notwendig oder sogar angemessen sein, beispielsweise im Rahmen von Prüfimgsvorbereitungen, aber das Reden und Diskutieren gehören neben dem Lesen und Schreiben zu den Grundwerkzeugen des Studiums der Soziologie.

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3.1.

Aibeitstechniken

Ideen sammeln und ordnen

Beginnen wir mit einem grundlegenden und im Studium häufig auftretenden Problem, der ersten Annäherung an umfangreiche Begriffsund Themenwelten. Zur Gliederung schriftlicher und mündlicher Informationen, sowie eigener Gedanken ist es notwendig, die gesammelten Fakten, Details, Stichworte und Ideen in eine sinnvolle Ordnung zu bringen, so dass diese offene Stoffsammlung einen Überblick über das zur Verfugung stehende Material, die einzelnen „Bausteine" des Themas, bietet und in dieser Form als erste thematische Gliederung dienen kann. Exemplarisch sollen die Methoden des Brainstorming, des spontanen Schreibens und des Mindmapping erläutert werden.^' Abbildung 3 Beispiel des Ergebnisses eines Brainstorming zum Thema „Soziologie":

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Die beiden ersten Techniken dienen vor allem dazu, die „Angst vorm leeren Blatt" zu überwinden. Beim Brainstorming geschieht dies, indem ohne große Vorüberlegungen einfach alle durch den Kopf schieWeitere Methoden finden sich beispielsweise in: Zielke, Wolfgang (1988); Handbuch der Lem-, Denk- und Arbeitstechniken: So rationalisieren Sie Ihre geistige Arbeit, Landsberg am Lech: mvg-Verlag, S.44-56.

Ideen sammeln und ordnen

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ßenden, mit dem betreffenden Thema in Verbindung gebrachten B e griffe, Sätze oder Fragen in einer Liste notiert werden. Das spontane Schreiben erreicht einen ähnlichen Effekt, indem frei assoziierend und ohne abzusetzen 10 Minuten lang alles in einem ersten Text aufgeschrieben wird, was einem zum Thema einfällt. Genau genommen haben beide Techniken also das Ziel, die persönlichen Gedanken und Assoziationen zu verschriftlichen und sichtbar zu machen. Die damit vorliegenden ersten Bausteine können in weiteren Schritten gebündelt, geordnet und als Ausgangspunkt weiterer Assoziationsketten genutzt werden, wie in Abbildung 4 dargestellt. Dabei geht es Abbildung 4 Beispiel eines Mindmap Hauptast 1 ^

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Thema

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Zweig Hauptast 2

Zweig Zweig

darum, die Fülle der gesammelten Informationen zu strukturieren. Dies wird möglich mit der Technik des Mindmapping. Wie beim Zeichnen einer Landkarte werden in Form eines Diagramms Linien und Pfeile genutzt, um jeweils aufeinander bezogene Sätze oder Begriffe in ihren Beziehungs- oder Abhängigkeitsverhältnissen einander zuzuordnen. Abgetrennte Anordnungen markieren dabei Unter- oder Überordnungen bzw., bei gleichem Abstand zum Kernthema, Gleichrangigkeit. Auf einem leeren Blatt Papier wird in der Mitte das Thema notiert, um dann rings um diesen Zentralbegriff erste grundlegende Assoziationen durch Verbindungsäste anzufügen. Hierbei ist zunächst darauf zu achten, dass die Begriffe zwar vom zentralen Thema, nicht aber untereinander abhängig sind. Diese Verzweigung kann nun weitergeführt werden, wobei man ebenso auf Sackgassen wie auch auf wichtige

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Aibeitstechniken

thematische Knotenpunkte stoßen kann, die wiederum an mehreren Zweigen anschlussfähig sind.^' Diese Methode kommt besonders visuell orientierten Menschen zugute, da sie auf grafische Weise argumentative Zusammenhänge, Lücken in der Argumentation und offene Fragen vor Augen fuhrt. So können zentrale Aussagen oder Fragestellungen erarbeitet und in den Abbildung 5 Mindmap zum Thema Soziologie: Oesellschaft soziales Handeln

EriJäninK Verstehen Oesellschaflskrilik

Ziel

soziale Systeme Themen

Individuum ^Verhalten Obernien und Werte

Statistik Analyse ModeUe

Methoden

Beobachtung Max Weber

Diskussionen Theorien^

Karl Marx

Personen

Emile Durkheim Soziologinnen Reflexivilät Dialektik I d e o l o w e ^ ^ Probleme Objektivitlt

Wissenschaft akademisches Fach

Forschung Lehie Leidenschaft

Chaos^

Gesamtkontext eingebettet werden. Es empfiehlt sich des Weiteren, Kennzeichnungen fiir Fragen (?), Zusammenfassungen (X) und Gegensätze ( o ) einheitlich zu verwenden. Durchstreichungen oder Symbole (©, ©) können gegensätzliche Meinungen, abzulehnende Auffassungen usw. markieren. Auf das obige Beispiel des Brainstorming zum Thema „Soziologie" angewandt, könnten die einzelnen Begriffe, wie in Abbildung 5 exemplarisch dargestellt, in einem Mindmap einander zugeordnet werden.

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Die Grafik wurde erstellt mit dem Programm MindMan. The Creative MindManager, ©MichaelJetter 1994-97.

Protokollieren

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3.2. Protokollieren Der akademische Betrieb lebt von der mündlichen Kommunikation. Nicht nur Vorlesungen, wissenschaftliche Vorträge, sowie Referate und Diskussionsbeiträge in Seminaren werden mündlich dargeboten, auch die Arbeit in den akademischen Selbstverwaltungsgremien basiert auf mündlicher Rede. Gleichzeitig erfordert der akademische Betrieb in vielen Fällen, dass diese mündliche Kommunikation schriftlich dokumentiert wird, um später für Beteiligte und Nicht-Beteiligte zugänglich zu sein. Genau dies ist die Aufgabe eines Protokolls. Es hat eine spezifische Funktion, der eine spezifische Form zugeordnet ist. Sowohl in der Lehre als auch in der akademischen Selbstverwaltung ist das Protokoll eine der wichtigsten Textgattungen. Deswegen ist das Schreiben eines Protokolls eine der grundlegendsten Techniken des wissenschaftlichen Arbeitens.

Welche Funktion hat das Protokoll? Die Funktion des Protokolls besteht darin, mündlich erfolgte Kommunikation in schriftlicher Form zugänglich zu machen. Daher sind es in erster Linie die Argumente einer Diskussion, die fiir die Beteiligten der protokollierten Sitzung dokumentiert werden, um die Rekapitulation einer Sitzung zu ermöglichen. Oftmals sind die verschiedenen Stränge einer Diskussion am Ende einer Sitzung so verwirrt, dass es einer Systematisierung bedarf, um alle Ergebnisse festzuhalten. Dies leistet das Ergebnisprotokoll, das durch die Systematisierung den Teilnehmenden an der Sitzung zu einem genaueren Verständnis dessen verhelfen kann, was in der mündlichen Kommunikation auf der Sachebene überhaupt geschehen ist. Dies ist um so wichtiger, als im Verlauf akademischer Sitzungen gelegentlich die Wahrnehmung der Beziehungsebene die der Sachebene überlagert, so dass die inhaltlichen Punkte zurückgedrängt werden. Erst in zweiter Linie dient das Ergebnisprotokoll der Dokumentation einer Sitzung fiir Interessierte, die nicht an der Sitzung teilgenommen

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Arbeitstechniken

haben oder denen das diskutierte Thema gar unbekannt ist. Doch auch diese Funktion des Protokolls für Nicht-Beteiligte ist nicht zu vernachlässigen, denn mündliche Kommunikationsprozesse werden dadurch auch Abwesenden zugänglich gemacht, die anhand des Protokolls befähigt werden sollen, die Inhalte einer beispielsweise durch Krankheit verpassten Seminarsitzung selbstständig nacharbeiten zu können. Welche Form hat das Protokoll? Aus seiner Funktion ergibt sich auch die Form des Protokolls. Das Protokoll kann definiert werden als eine „schriftliche Zusammenfassung der wesentlichsten Ergebnisse einer Sitzung"^^ wobei sich zwei Varianten des Protokolls unterscheiden lassen: das Verlaufsprotokoll und das Ergebnisprotokoll. Während das eine in möglichst exakter Weise den Verlauf einer Sitzung wiedergibt, werden im anderen nur die Ergebnisse der mündlichen Kommunikation dokumentiert. Im Bereich der universitären Lehre und der akademischen Selbstverwaltung sind nur Ergebnisprotokolle üblich. Verschiedene Formmerkmale sollten bei der Erstellung von Ergebnisprotokollen beachtet werden. Wichtige Textbestandteile des Seminarprotokolls sind zunächst verschiedene Angaben: Datum, Titel der Veranstaltung, Leiter der Veranstaltung, Thema der Sitzung, Teilnehmende u.ä. Der Name der Protokollantin oder des Protokollanten sollten unbedingt enthalten sein. Der Text selbst sollte mit einer klaren Benennung der Thematik der protokollierten Sitzung beginnen, an die knappe Ausführungen zur Hauptfrage, zum Hauptproblem oder zur Hauptthese, d.h. zum zentralen Gegenstand der Sitzung anschließen. Der Hauptteil gliedert sich in die Argumente oder Themen, durchaus auch in ihrer groben zeitlichen Reihenfolge, die in der Sitzung des Weiteren besprochen und diskutiert wurden. Dabei können diverse Aspekte der Diskussion unterschieden werden: die im Verlauf der Diskussion vertretenen Argumente, deren Begründungen, die zu den jeweiligen Argumenten und ihren Begründungen aufgeworfenen Fragen und gegebenenfalls deren Beantwortung. Abschließend werden im Protokoll die offen gebliebenen Fragen, die erreichte Übereinstim-

Vgl. DUDEN-Fremdwörterbuch 2001.

Protokollieren

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mung in der Diskussion und die womöglich weiterbestehenden Differenzen zusammengefasst. Nicht in das Ergebnisprotokoll gehören die Aneinanderreihung von Redebeiträgen, Seitenkommentaren, Wiederholungen usw. Die eigenen Meinungen oder Überlegungen der Protokollantin oder des Protokollanten gehören nicht in das Ergebnisprotokoll, da seine Funktion eben die möglichst genaue und objektive Dokumentation der mündlichen Kommunikation ist. Stilistisch ist das Ergebnisprotokoll daher von einer sachlichen, möglichst objektiven Sprache gekennzeichnet.

Wie schreibe ich ein Protokoll? Ein Ergebnisprotokoll zu schreiben, setzt vor allen Dingen voraus, die zu protokollierende Sitzung genau zu verfolgen und sich zu den einzelnen vorgetragenen Aussagen und Argumenten möglichst vollständige Notizen zu machen. Bereits in diesem Arbeitsschritt ist es allerdings wichtig, die unterschiedlichen Aspekte der Diskussion systematisch voneinander zu unterscheiden. Aufmerksames und kritisches Zuhören ist dafür unabdingbar, hilfreich ist die Verwendung grafischer Symbole, farblicher Markierungen u.ä. bei der Erstellung der Notizen. Bei der Erstellung des Ergebnisprotokolls sollten die Notizen nochmals einer systematischen Durchsicht unterzogen werden, um Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden und um einzelne Argumente präziser herauszuarbeiten. Im Unterschied zum Verlaufsprotokoll können Wortmeldungen, die an unterschiedlichen Zeitpunkten der Diskussion erfolgt sind, durchaus in einem inhahlichen Punkt zusammengefasst werden, wenn dies der Logik der Argumentation entspricht. Ein Seminarprotokoll ist dann gelungen, wenn es präzise, nachvollziehbar und vollständig den Inhalt einer Sitzung wiedergibt und ihn in einer Weise strukturiert bzw. systematisiert, dass Beteiligte und NichtBeteiligte in gleicher Weise von der Lektüre des Protokolls profitieren.

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Arbeitstechniken

3.3. Literatur recherchieren Trotz der wachsenden Bedeutung audiovisueller Medien bleiben nach wie vor schriftliche Texte die Grundlage des wissenschaftlichen Arbeitens. Texte sind nicht mehr unbedingt nur in Büchern zu finden. Zu den gedruckten Buchstaben zwischen Pappdeckeln kommen verstärkt elektronisch vermittelte Zeichen auf dem Bildschirm hinzu. Doch auch diese müssen entziffert werden. Wichtige Formen der Aneignung schriftlicher Texte sind das Kopieren und das Speichern. Auf dieses „Jagen und Sammeln" folgt aber unausweichlich eine Kulturtechnik, die vor allem Soziologiestudierende nicht verkümmern lassen sollten: das Lesen... Wie finde ich Literatur? Am Anfang der Literatursuche steht ein spezifisches Interesse, sei es ftir eine bestimmte Information, einen Autor oder eine thematische Fragestellung. Je nachdem sind verschiedene Suchstrategien sinnvoll. Zunächst ist es hilfreich, verschiedene Arten von Literatur zu unterscheiden: Nachschlagewerke wie Wörterbücher, Lexika, Literaturverzeichnisse (Bibliografien) u.ä. liefern grundlegende Informationen und dienen zum Einstieg bzw. zur ersten Orientiening. Als Primärliteratur werden wissenschaftliche Originaltexte und sonstige schriftliche Quellen bezeichnet. Diese wiederum sind Gegenstand von Sekundärliteratur, also von Texten der Kritik, Interpretation, historischen Einordnung oder mit einem anderen Bezug zum Original- bzw. Quellentext. Normalerweise sind wissenschaftliche Schriften (wie wohl alle Texte) ein Zusammenspiel von Primär- und Sekundärliteratur, wenn z.B. in Auseinandersetzung mit bestehenden wissenschaftlichen Theorien eine eigene Forschungsperspektive entwickelt wird. Ein und derselbe Text kann daher je nach Interessenlage zum einen als Primärliteratur gelesen werden (z.B. als eine der Veröffentlichungen eines bestimmten Autors) und zum anderen als Sekundärliteratur (z.B. als Kritik einer soziologischen Theorie). Für die konkrete Suche nach Buchtiteln stehen die Bibliothekskataloge und verschiedene Datenbanken zur Verfiigung. Kataloge umfassen

Literatur recherchieren

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den Bestand der jeweiligen Bibliothek, den sie entweder nach der Autorenschaft (alphabetischer Katalog) oder thematisch (Sachkatalog) ordnen. Die früher üblichen Zettelkataloge werden gegenwärtig schrittweise von der elektronischen Form des Katalogs abgelöst, die neben der Autorenschaft und dem Sachgebiet auch weitere Suchoptionen eröffnet (z.B. eine bestimmte Begriffskombination im Titel, Erscheinungsjahr, u.ä.). Diese elektronischen Kataloge erfassen in der Regel die verfugbaren Bücher aller universitärer Bibliotheken, also die Bestände sowohl der zentralen Universitäts- als auch fachspezifischer Bibliotheken. Außerdem ermöglicht die Vernetzung verschiedener elektronischer Kataloge den Zugang zu Bibliotheken anderer Universitäten und Institutionen. Von den PC-Plätzen in den Bibliotheken und über das Internet können spezielle Datenbanken aufgerufen werden, die weitere Literaturtitel auflisten, darunter auch solche, die nicht über die Bibliothekskataloge zu finden sind, z.B. Beiträge in Sammelbänden oder Fachzeitschriften. Eine fur Soziologen interessante Zusammenstellung von Monografien, Zeitschriften- und Zeitungsartikeln aus den Bereichen Wirtschaftsund Sozialwissenschaften, Psychologie und Politik bietet z.B. die Online-Datenbank WISO-NET, die regelmäßig aktualisiert wird und inzwischen über die meisten Universitätsbibliotheken zugänglich ist. Anhand der mitgelieferten Zusammenfassungen lässt sich schnell beurteilen, ob die gefundene Literatur fur die eigene Fragestellung bedeutsam ist. Ebenfalls hilfreich bei der Literaturrecherche ist die elektronische Ausgabe der Bibliografien „Sociological Abstracts", die nicht nur Aufsätze, Bücher und Dissertationen mit kurzen Inhaltsangaben erfasst, sondern auch Rezensionen von Fachliteratur beinhaltet. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf anglo-amerikanischer Literatur. Die Datenbanken geben jedoch keinen Aufschluss darüber, ob die Literaturtitel auch in den lokalen Bibliotheken vorhanden sind. Um dies zu überprüfen, müssen wiederum die Kataloge der jeweiligen Universitätsbibliotheken bemüht werden. Oft sind es nicht zuletzt die Literaturverzeichnisse bereits recherchierter Abhandlungen zu einem fachwissenschaftlichen Thema (Monografien), die auf weitere Titel hinweisen.

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Arbeitstechniken

Wie beschaffe ich mir Literatur? Nachdem man nun weiß, dass interessante Veröffentlichungen existieren, stellt sich das Problem, wo und wie an diese heranzukommen ist. Die Signaturen, die die Kataloge für die gefundenen Literaturtitel angeben, verweisen auf den Standort der Schriften in der Bibliothek. Die Bibliotheken als Hüter der Wissensbestände gewähren den Zugang nach bestimmten Regeln. Die Präsenzbestände, z.B. im Lesesaal der Universitätsbibliotheken, sind zwar frei zugänglich, können aber meist nicht ausgeliehen werden. In der Regel besteht jedoch die Möglichkeit zum Kopieren der Texte. Auf weitere Bücher aus den nicht öffentlich zugänglichen Magazinen einer Bibliothek kann über die Bibliotheksmitarbeiter zugegriffen werden. Dabei ist zwischen der Benutzung im Lesesaal und der Ausleihe zu unterscheiden. Je nach Bibliothek gelten verschiedene Ausleihbestimmungen und -fristen. Schriften, die nicht am Ort vorhanden sind, können gegen eine Gebühr mittels Fernleihe aus einer anderen Bibliothek angefordert werden. Oft kommt es vor, dass Bücher von anderen Benutzern ausgeliehen sind. In einem solchen Fall können Bücher für die eigene Ausleihe vorgemerkt werden. Auch hierfür gibt es je nach Bibliothek unterschiedliche Regelungen, die man sich im Rahmen einer Führung vom Bibliothekspersonal vermitteln lassen kann. Selbstverständlich ist es ratsam, sich auch selbst Bücher, die man für wichtig erachtet und sich dauerhaft verfügbar halten will, anzuschaffen. Dabei leisten die Datenbank „Verzeichnis lieferbarer Bücher" (VLB) des Buchhandels und vergleichbare Angebote deutscher Antiquariate gute Dienste. Schritt für Schritt lässt sich so eine eigene Bibliothek anlegen.

Wie erfasse ich Literatur? Nicht jedes Buch, das man nach einer aufwendigen Recherche und Ausleihprozedur in Händen hält, erfüllt die Erwartungen, die sein Titel geweckt hat. Literatur jedoch, die für relevant befunden wird, soUte man sich dauerhaft verfügbar haken. Es gibt verschiedene Verfahren, um auf gewonnene Leseerfahrungen bei Bedarf zurückgreifen zu können.

Literatur recherchieren

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Das Erfassen von Materialien und Texten kann durch die systematische Anlage einer bibliografischen Kartei, in Form von Pappkarten oder mit Hilfe eines entsprechenden Computerprogramms (z.B. Endnote, Litman, LiteRat) stattfinden.^^ Eine derartige Erfassung des aufgefundenen Materials sollte alle Informationen enthalten, die den korrekten bibliografischen Quellenverweis ermöglichen. Darüber hinaus können stichwortartig die inhaltlichen Schwerpunkte, Thesen usw. notiert werden. Eine sorgfältig geführte bibliografische Kartei kann langsam zum persönlichen „Katalog" des während des Studiums Gelesenen werden, wenn sie beispielsweise nach dem folgenden Schema aufgebaut wird: Abbildung 6 Beispiel einer Literaturkarteikarte: AUTOR(EN) Nachname, Vorname TITEL (des Artikels, Buchabschnittes, Buches oder Herausgeberwerkes) evtl. in: Quelle des Artikels, Buchabschnittes mit Seitenangaben JAHR des Erscheinens ORT des Erscheinens: VERLAG

Raum fur Inhaltsstichworte, Hinweise auf besondere Details (z.B. wichtige Tabellen oder Grafiken im Text) STANDORT (z.B. Signaturhinweise, Verweis auf Femleihe oder Ort an dem eigene Kopien abgeheftet sind)

Das eingangs erwähnte Kopieren von Texten ist ein schnelles, bei übermäßiger Anwendung aber recht kostspieliges Verfahren. Auf jeden Fall ist auch hier ein geeignetes Ordnungssystem vonnöten, um abgelegte Texte wiederzufinden. Außerdem sollten die Kopien unbedingt mit der genauen Literaturangabe des Textes versehen werden. 39

Vgl. Albrecht, Ralf; Nicol, Natascha (1994): Literaturverwaltimg in Studium und Beruf, Düsseldorf: ECON Taschenbuch-Verlag.

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Arbeitstechniken

So erspart man sich aufwendige Nachforschungen, die anstehen, wenn ein Text zitiert werden soll, von dem man womöglich nicht mehr weiß, wer ihn geschrieben hat und wo er veröffentlicht wurde. Darüber hinaus ist es sinnvoll, eine kurze Textzusammenfassung mit eigenen Kommentaren zu notieren. Noch besser ist es, besonders bei intensiver Textarbeit, ein Exzeφt zu verfassen.

Lesen und ехгефхегеп

3.4

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Lesen und ехгефхегеп

Bei der Vorbereitung eines Themas trifft man oft schon während der ersten Suche in der Bibliothek auf derartig umfangreiche Mengen an Material, dass sich sehr schnell die Frage nach Methoden der systematischen Erfassung und Speicherung der relevanten Informationen, Ideen und Argumente stellt. Hierzu bieten sich verschiedene Techniken an, von denen wir einige exemplarisch vorstellen wollen und an deren Beginn zunächst das Lesen steht. W i e erarbeite ich mir Texte? Wie für alle Texte gilt auch för soziologische Texte, dass sie sprachlich verfasst sind und daher nach den Gesetzen der Kommunikation funktionieren, z.B. den Regeln des Ausdrucks wie Grammatik, Form, Stil u.a., und daher die Mitteilung von Informationen durch Redebeiträge und Texte nicht unproblematisch ist. Die Besonderheiten sprachlicher Äußerungen sind stets sowohl bei der Produktion als auch der Rezeption von mündlichen und schriftlichen Texten zu berücksichtigen." Dies gilt bei den Texten, die einem im Soziologiestudium begegnen, in unterschiedlichem Ausmaß. So stellt beispielsweise die Auseinandersetzung mit einem Vortrag von Jürgen Habermas oder einem Buch von Auguste Comte ganz andere Anforderungen an den Rezipienten als die Lektüre eines Statistikbuches: Wer den Comte-Text verstehen will, muss sich in den historischen Kontext seiner Entstehung einarbeiten, die Qualität der deutschen Übersetzung in Betracht ziehen, die Stellung des Textes im Zusammenhang der anderen Schriften des Autors berücksichtigen, usw. Bei der Lektüre des Statistikbuches sind solche Fragen zweitrangig. Hier erhält der Leser in der Art einer Gebrauchsanweisung nachvollziehbare Handlungsanweisungen für die Durchführung statistischer Operationen. Allerdings gilt für jede Äußerung, auch für ein Statistik-Übungsbuch, dass die Rezeption immer vom persönlichen Vorverständnis und von

"" Ausführlicher hierzu siehe: Ueding, Gert (1985): Rhetorik des Schreibens: Eine Einführung, Königstein/Ts.: Athenäum Verlag. Göttert, Karl-Heinz (1999): Kleine Schreibschule für Studierende, München: Fink.

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Aibeitstechniken

Vorurteilen beeinflusst wird. Solche Voreinstellungen in Bezug auf das Thema, den Redner bzw. den Autor, die Rede oder den Text, die Rezeptionsgeschichte u.ä. sind nicht vermeidbar und als solche auch gar nicht zu disqualifizieren. Bei der Erarbeitung eines Textverständnisses ist aber wichtig, dass man sich diese zunächst unbewusst wirksamen persönlichen Voreinstellungen bewusst macht und ihre Wirksamkeit bei der Auseinandersetzung mit dem Text in Betracht zieht. Um einen ersten Eindruck des jeweiligen Textes zu erlangen, bietet sich zunächst das auszugsweise Lesen an, welches sich auf die Einleitung und die Zusammenfassung am Schluss des Textes konzentriert. Dadurch sollten die klare Umgrenzung des Themas, der theoretische und methodische Hintergrund, die Hypothesen und Ergebnisse des Textes deutlich geworden sein. Man kann nun überlegen, ob eine detaillierte Lektüre des gesamten Textes, respektive bestimmter Textpassagen für die eigenen Zwecke sinnvoll erscheint. Um einen Überblick über den Inhalt einzelner Abschnitte zu erhalten, kann nun das Querlesen oder kursorische Lesen folgen, bei dem man sich auf die zentralen Schlüsselbegriffe des Textes konzentriert, die beim schnellen „Überfliegen" der Seiten ins Auge fallen.'*^ Doch diese Methoden dienen nur der weiteren Eingrenzung der Textpassagen, die nun wirklich gründlich gelesen und erarbeitet werden müssen. Hier liegt die Besonderheit des wissenschaftlichen Lesens. Das wissenschaftliche Lesen geschieht grundsätzlich mit mindestens einem Stift (meist bietet sich jedoch eine Kombination von Textmarker und Bleistift an). Durch die Unterstreichung und Anmerkung wichtiger Textstellen kann das eigene Verständnis des Gelesenen überprüft und gefestigt werden. Dabei liegt die Kunst in der Auswahl von Schlüsselbegriffen und zentralen Textstellen, so dass nicht der gesamte Text angestrichen wird. Hierftir mag es hilfreich sein, nach jedem Absatz innezuhalten und den Text in eigenen Gedanken zusammenzufassen, bevor man mit dem Markieren beginnt. Bei einer genaueren Analyse ist es dann hilfreich, drei Aspekte jeder sprachlichen Kommunikation zu unterscheiden: die Syntaktik, die Rationelle Lesetechniken zum ersten Erfassen vorliegender Literatur sind ausftlhrlicher beschrieben in: Zielke, Wolfgang (1988): Handbuch der Lem-, Denk- und Arbeitstechniken: So rationalisieren Sie Dire geistige Arbeit, Landsberg am Lech: mvg-Verlag, S.16171.

Lesen und exzerpieren

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Semantik und die Pragmatik: Auf der syntaktischen Ebene geht es um den „Stil" einer Äußerung. Dabei wird davon ausgegangen, dass sich sowohl mündliche als auch schriftliche Äußerungen aus verschiedenen Elementen und deren Beziehungen zusammensetzen, die insgesamt eine Einheit bilden. Als solche Elemente sind Wörter, grammatische Formen, Modi (z.B. Aktiv/Passiv), Rede- oder Textgattungen, Gliederungen usw. zu betrachten. Für das Verstehen einer Äußerung kann es von wesentlicher Bedeutung sein zu beachten, welche von diesen Elementen ein Autor bei der Abfassung seines Textes wie verbunden hat (Wie wird etwas gesagt?). Auf der semantischen Ebene wird das Thema beleuchtet, dass eine Rede oder einen Text insgesamt durchzieht und als eine Einheit ausweist. Leitend sind dabei Überlegungen zu den bedeutungstragenden Begriffen, die verwendet werden, und zu den Argumenten und den Argumentationsschritten (Was sagt der Autor mit seiner Rede/seinem Text?). Auf der pragmatischen Ebene wird sowohl nach den kommunikativen Entstehungsbedingungen als auch nach der (beabsichtigten und tatsächlichen) kommunikativen Wirkung einer Äußerung fìir ihre Rezipienten gefragt (Was wird wie gesagt, um welche Reaktion damit zu erzielen?). Wie erstelle ich Exzerpte? Durch die Anlage einer systematischen Exzerptkartei (wie schon die in 3.3. vorgestellte Literaturkartei entweder elektronisch oder auf Karteikarten) auf der die wichtigsten Textelemente zusammengefasst oder herausgeschrieben werden, macht man sich die Gedanken des Autors oder wörtliche Zitate für Referate und größere schriftliche Arbeiten verfugbar. Unter einem Exzerpt (d.h. Textauszug) versteht man die Wiedergabe einer Textstelle. Es gibt keine einzig gültige Art fur die Anlage einer Exzerptkartei, doch sollte beachtet werden, dass bei einem wörtlichen Exzerpt die Regeln der genauen Zitierweise zu berücksichtigen sind. Bei einem sinngemäßen Exzerpt sollten eigene Gedanken und Überlegungen deutlich von denen des Autors unterschieden und als solche kenntlich gemacht werden (vgl. dazu Kapitel 3.6.). Wichtig ist, Exzerpte durch Schlagworte, Überschriften und genaue Quellenangaben zu strukturieren. Für die Anlage einer

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Arbeitstechniken

entsprechenden Kartei, deren Inhalt sich noch nach Jahren auszahlt, empfiehlt sich die Verwendung von DIN A5- oder A6-Karteikarten: Abbildung 7 Schema einer Exzerptkarteikarte: Ordnungsbegriff Schlagwort Exzerpierter Text

Eigene Weitung, Stellungnahme, Gedanken, Beurteilungen Verweis auf anderes Material, andere Karten Bibliografische Angaben zum Quelltext (mit Seitenzahl!), und dessen Standort (BibUothekssignatur, eigene Kopie, wo abgeheftet?)

Im Falle umfangreicherer Texte kann auf der Exzerptkarte auf an anderer Stelle abgelegte Kopien usw. hingewiesen werden. Alle Karten sollten von vornherein unter dem Gesichtspunkt der Wiederauffmdbarkeit an einem Ort gesammelt werden, so dass man sich langfristig einen Überblick und die Möglichkeit späterer Verwertung gelesener Literatur und Unterlagen verschafft.'*^ Um Exzerpte auf eine rationelle Weise zu erstellen, sollte man bedenken, welche Inhalte des Textes für die eigene Arbeit von Bedeutung sind, und nur diese notieren. Wie bei den Unterstreichungen muss auch beim Exzeφieren „Mut zur Lücke" aufgebracht werden, indem große Textpassagen in eigenen Worten zusammengefasst oder die zentralen Zitate identifiziert werden. Beim wörtlichen Exzerpieren ist Genauigkeit die oberste Richtlinie. Direkte Zitate sollten in Anfuhrungszeichen gesetzt werden, Interpunktion, Orthografie und Hervorhebungen (kursiv, fett usw.) exakt mit dem Original übereinstimmen. Auslassungen innerhalb eines Satzes oder zwischen einzelnen Sätzen sollten durch „[...]" ebenso kennt-

42

Büß, Eugen et al. (1994): Kompendium für das wissenschaftliche Arbeiten in der Soziologie, 4. Aufl., Heidelberg: Quelle & Meyer, S.61.

Lesen und exzerpieren

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lich gemacht werden, wie eigene Änderungen oder Einfügungen. In letzterem Fall ebenfalls durch eine eckige Klammer und u.U. mit dem Zusatz des eigenen Namenskürzels (vgl. ausführlich Kapitel 3.6.). Abbildung 8 Wörtliches Exzeφt: Wissenschaftliches Arbeiten Exzerpieren ,Jvlan notiert Exzeφte, indem man entweder den Inhalt einer Stelle mit eigenen Worten umreißt oder die Stelle wörtlich unter Verwendung von Anführungszeichen zitiert oder beide Formen miteinander verbindet Wichtig ist dabei die eindeutige Verzeichmmg der Quelle mit genauer Angabe der Seitenzahlen imd den vorgenommenen Kürzungen, besonders wenn vielleicht das Buch später nicht mehr verfügbar ist." Standop, Ewald 1990": Die Form der wissenschaftlichen Arbeit, Heidelberg: Quelle & Meyer, S.15.

Abbildung 9 Sinngemäßes Exzerpt: Wissenschaftliches Arbeiten Stil wissenschaftlicher Arbeiten Standop fordert: 1. Sachlichkeit und Präzision, keine Weitschweifigkeit 2. Logische Argimentation, beruhend auf: - Tatsachen imd Schlußfolgerungen, - Behauptung und Beweis - Darstellung und Zusammenfassung Standop, Ewald 1990'': Die Form der wissenschaftlichen Arbeit, Heidelberg: Quelle & Meyer, S. 12.

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Aibeitstechniken

Was ist ein wissenschaftliches Journal? Für die Verwaltung inhaltlicher Informationen bietet sich neben dem Exzerpieren auch das Anlegen eines persönlichen wissenschaftlichen Journals an."^^ Dabei handelt es sich um ein gebundenes Heft oder Notizbuch, in das man alles hineinschreibt, was man für wichtig hält, neu lernt, nachdenklich diskutiert. In gewisser Weise fungiert es somit als „Erweiterung des Gedächtnisses". Das Journal stellt daher eine Art Schnittmenge zwischen eigenen und fremden Gedanken dar. Nach dem Motto nulla dies sine linea („kein Tag ohne geschriebene Zeile") wird regelmäßig, aber spontan, ohne festes Schema und ohne besondere sprachliche Sorgfalt notiert, was immer im Studium bemerkenswert erscheint. Da das informelle Schreiben eines wissenschaftlichen „Tagebuchs" keinen objektiven Regeln unterliegt, fördert es die Phantasie und ermutigt zu neuen Ideen, Verknüpfungen und Fragestellungen. Damit werden zugleich „drei akademische Fliegen mit einer Klappe geschlagen", denn ein derartig geführtes wissenschaftliches Journal bietet: (1) ein kontinuierliches Schreibtraining, (2) ein Reservoir von Kenntnissen, auf die man bei Bedarf zurückgreifen kann, und (3) vor allem die Gewöhnung daran, sich „beim Arbeiten über die Schulter (zu) schauen"'^, also selbstreflexiv zu arbeiten. Damit ist bereits ein wichtiger Aspekt des Schreibens im wissenschaftlichen Studium angesprochen (vgl. Kapitel 3.7.). Man könnte annehmen, dass das Schreiben stets am Endpunkt der eigenen wissenschaftlichen Arbeitsprozesse steht. Zunächst in Form verschriftlichter Referate und Hausarbeiten, sowie in diversen Klausuren und Protokollen und am Ende des Studiums schließlich in Form der wissenschaftlichen Abschlussarbeiten zur Erlangung des Magister- oder Diplomgrades oder der Promotion. So isoliert kann das Schreiben aber kaum betrachtet werden, denn es ist neben dem Lesen und der wissenschaftlichen Diskussion die dritte tragende Säule eines sozialwissenschaftlichen Studiums. Durch den eigenen kontinuierlichen Schreibprozess gelingt es Studierenden, die vielfältigen Informationen des

^^ Vgl. Kruse, Otto (2000): Keine Angst vorm leeren Blatt - Ohne Schreibblockaden durchs Studium, 8. Aufl., Frankfijrt am Main: Campus. Schmale, Wolfgang (Hrsg.) (1999): Schreib-Guide Geschichte: Schritt für Schritt wissenschaftliches Schreiben lernen, Wien: Bühlau, S.194.

Lesen und ехгеф^егеп

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Studiums der Soziologie zusammenzufassen, diese besser zu verstehen, eigene Gedanken zu formulieren und einen eigenen wissenschaftlichen Standpunkt zu entwickeln, kurzum: wissenschaftlich zu lernen. Wenn es kontinuierlich gefuhrt wird, kann ein wissenschaftliches Journal daher selbstständiges wissenschaftliches Denken erleichtem, das eigene wissenschaftliche Sprachniveau erhöhen und zu einer Fundgrube fur das Abfassen schriftlicher Arbeiten werden. In das Journal könnte Folgendes aufgenommen werden: •

Fragen, Begriffe und Namen, für die eine Antwort oder Erläuterungen gesucht werden



Titel, Themen, Ideen und Notizen für mögliche eigene Texte



Notizen aus Vorlesungen, Vorträgen und Gesprächen



Gliederungen, Diagramme, Skizzen, Beobachtungen, Zitate, Zeitungsausschnitte



Titel und bibliografische Angaben von Büchern, die man lesen könnte oder sollte



Aufgaben, die zu erledigen sind, und Zeitpläne

Ein solches Journal soHte von Beginn des Studiums an geführt werden, denn es ist in allen Phasen der wissenschaftlichen Ausbildung von Bedeutung: So kann es in der Eingangsphase helfen, die zahlreichen Informationen zu bewältigen sowie eigene Interessen und Präferenzen zu erkennen. In der Übergangsphase vom Grund- zum Hauptstudium bietet es eine Möglichkeit, die wissenschaftliche Reflexion zu vertiefen und eigene Studienschwerpunkte zu rekonstruieren. In der Vorbereitung der wissenschaftlichen Abschlussarbeit ist es eine Quelle für erste Gliederungen, Texte usw. Wichtig ist in allen Fällen jedoch die Regelmäßigkeit, im Idealfall sollte das Schreiben im eigenen Journal zur festen Gewohnheit werden.'*'

Vgl. Kruse, Otto (2000): Keine Angst vorm leeren Blatt - Ohne Schreibblockaden durchs Studium, Frankfurt am Main: Campus, S.35f.

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Aibeitstechniken

3.5. Referieren Im Studium der Soziologie wird die Arbeitsform des Referates zumeist als mündlicher Vortrag in einer Seminarveranstaltung eingesetzt. Das Seminar - gleichgültig, ob Pro-, Haupt- oder Doktorandenseminar - ist mit seiner diskursiven Anlage die anspruchsvollste Veranstaltungsform für Lernende wie Lehrende. Zwar wird in Vorlesungen in der Regel eine größere Menge an Informationen verarbeitet, aber die monologische Präsentationsform erschwert die aktive Aneignung dieser Informationen. Dem gegenüber soll die Arbeit in einem Seminar die selbstständige und kritische Auseinandersetzung mit Themen ermöglichen und Studierende dazu befähigen, sich Fachwissen selbst zu erarbeiten. Aus diesem Verwendungszusammenhang bestimmen sich Funktion, Form und Präsentation eines Referates."®

Welche Funktion hat das Referat? Die Funktion eines Referates besteht darin, die anderen Seminarteilnehmer über Texte oder Forschungsergebnisse zu informieren. Dem gemäß lassen sich Textreferate und Themenreferate unterscheiden. Im Textreferat werden die Aussagen von Texten unter Berücksichtigung von Aufbau, Inhalt und Kontexten vorgestellt, während im anspruchsvolleren Themenreferat die bereits aus Texten erarbeiteten eigenen Forschungsergebnisse dargelegt werden. Das Ziel beider Referatstypen ist es, im Seminar einen gemeinsamen Informationsstand herzustellen, um sich in der Seminardiskussion mit den referierten Inhalten kompetent auseinander setzen zu können. Dieser Funktion entsprechend, ist ein Referat primär daraufhin anzulegen, den Aussagegehalt von Texten oder von Forschungsergebnissen zu reproduzieren. Die Stellungnahme des Referierenden zum Inhalt des Referates tritt weitestgehend in den Hintergrund und geht höchstens als eine das Referat

^

Zur Vertiefimg vgl. Büß, Eugen et al. (1994): Kompendium für das wissenschaftliche Arbeiten in der Soziologie, 4. Aufl., Heidelberg: Quelle & Meyer, S. 145-165. Rückriem, Georg et al. (1997): Die Technik wissenschaftlichen Arbeitens: Eine Praktische Anleitung, 10. Aufl., Paderborn: Schöningh.

Referieren

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abschließende Überleitung in die Diskussion ein. Dabei kann ein Thesenpapier nützlich sein, in dem der Referent kurz und prägnant seine eigene Meinung zum Referatsinhalt skizziert oder eine Problemlösung andeutet.

Welche Form hat das Referat? Ein Referat ist immer entlang einer Gliederung aufgebaut, die der formalen und inhahlichen Unterteilung dient. Ihre grundlegende Form ist dreiteilig: Einleitung - Hauptteil - Schluss. Alle weiteren Verfeinerungen, insbesondere des Hauptteils, sind unter Berücksichtigung des Referatszweckes und der zu referierenden Sachverhalte als Argumentationslogik des Referates zu entwickeln. Das bedeutet, dass eine Gliederung das Referat nicht in beliebig zu bestimmende Abschnitte unterteilt und auch nicht das Gliederungsschema der gelesenen und verarbeiteten Texte kopiert. Stattdessen hat sie die Aufgabe zu erfüllen, die Inhalte und Aussagen, welche den Hörern mitgeteilt werden sollen, in einen nachvollziehbaren und informativen Zusammenhang zu bringen (vgl. dazu auch 3.7.). Der dafür zur Verfugung stehende Zeitrahmen ist mit der Seminarleitung abzusprechen, vorab kann man sich aber an der Erfahrung orientieren, dass ein Vortrag von deutlich über 40 Minuten den Zuhörern kaum zumutbar ist. Für die an ein Referat anschließende Aussprache sollte der Referent bzw. die Referentin stets vorbereitet sein und dabei auch Anreize und Strukturierungsangebote für die Diskussion bereithalten.

Wie präsentiere ich ein Referat? Ein Referat kann als manuskriptfreie oder als manuskriptgestützte Rede vorgetragen werden."*' In jedem Fall hat der Referent zu berücksichtigen, dass er einen mündlichen Vortrag hält und nicht einfach nur ein Manuskript voriiest. Dazu ist es unerlässlich, sich bei der Vorbereitung eines Referates in die Situation eines Zuhörenden hinein zu denken und die eigenen Ausführungen aus dieser Perspektive zu konzipieren. Als Leitlinie kann dabei die Frage dienen, ob die Zuhörer und Zuhörerinnen dem mündlichen Vortrag folgen können. Dies gilt ^^ Detaillierte Übungen hierzu bietet: Pabst-Weinschenk, Marita (1995); Reden im Studium: Ein Trainingsprogramm, Frankfurt am Main: Comelsen.

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Arbeitstechniken

nicht nur für den Aufbau sondern auch fìir die sprachliche Gestaltung des Referates, die sich durch die Charakteristika der mündlichen Sprache auszeichnet, insbesondere durch eine einfache parataktische Struktur, kurze Sätze, Redundanzen und Zusammenfassungen. Es empfiehlt sich, das Referat mit der Nennung des Themas und der Vorstellung und Begründung der eigenen Gliederung zu beginnen. Die mündliche Vorstellung ergänzend, können Thema und Gliederung an der Tafel, auf einer Overhead-Folie oder auf einem Informationspapier, das vom Thesenpapier zu unterscheiden ist, den Zuhörern veranschaulicht werden. Die Länge des gesamten Referates ist den Gegebenheiten im Seminar anzupassen. Damit sich die Zuhörer auf die voraussichtliche Dauer einstellen können, ist ein Hinweis zu Beginn sinnvoll. Bei der Verwendung von Zitaten ist darauf zu achten, dass Anfang und Ende eines Zitats nicht nur im Vortragsmanuskript zu kennzeichnen sind, sondern auch beim mündlichen Vortrag („Ich zitiere ...", „Zitat...", „Ende des Zitats..."). Grundsätzlich ist zwischen referierten Aussagen einerseits und Interpretationen, Bewertungen und Meinungen andererseits deutlich zu trennen. Für die schriftliche Ausarbeitung eines Referats gehen allgemein die Standards für das Verfassen schriftlicher Arbeiten (vgl. Kapitel 3.7.). Je nach Thema und Inhalten kann es sinnvoll sein, ein Referat durch den Einsatz von Präsentationsmedien zu unterstützen.'*® Da neben der Tafel bzw. dem Flipchart häufig auch Overhead-Projektoren und Video-Beamer zur Auswahl stehen, ist der Referent gezwungen, das richtige Medium zu bestimmen. Wer z.B. Statistiken oder Typologien referiert, soHte diese seinem Publikum als Overhead-Folie oder über einen Video-Beamer vor Augen führen. Auch bei der Erläuterung von Theoriegebäuden kann eine Visualisierung eine hilfreiche Unterstützung sein. Für einfache Grafiken oder für das Anschreiben von Namen oder Lebensdaten der Autoren, über die referiert wird, ist in den meisten Fällen Kreide und Tafel ausreichend. Präsentationsmedien solhen in jedem Fall so eingesetzt werden, dass sie das Referat unterstützen, nicht aber zum Selbstzweck werden. Ebenfalls wäre es unan-

Vgl. Gressmann, Markus et al. (1999): Präsentation mit elektronischen Medien, Künzell: Neuland-Verlag für lebendiges Lernen.

Referieren

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gebracht, Medien wie z.B. Overhead-Folien dazu zu verwenden, das Publikum mit Informationen zu überfluten. „Weniger ist oft mehr" lautet eine Grundregel für die Präsentation, die im Übrigen auch beim Referieren beherzigt werden sollte. In einem Referat soll schließlich nicht „alles" gesagt werden, was zu einem Thema zu sagen ist. Vielmehr sollte man sich auf wesentliche Inhalte und Argumente konzentrieren, um einer anschließenden Diskussion Raum zu lassen. Bei der Vorbereitung einer Referatspräsentation ist es hilfreich, sich die Räumlichkeiten rechtzeitig anzuschauen, um den Einsatz von Präsentationsmedien zu planen und eventuell die Funktionsfähigkeit vorhandener Apparate zu testen. Die Begehung der Örtlichkeiten kann auch dem Abbau von Nervosität dienen. In dieser Hinsicht wird aber jeder Studierende seine eigenen Techniken und Tricks entwickeln, um sich von der Aufregung, die jede Präsentation begleitet, nicht blockieren zu lassen, sondern sie positiv für einen lebendigen und engagierten Vortrag zu nutzen.

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3.6.

Arbeitstechniken

Zitieren

Wissenschaftliche Forschung steht stets in sozialen Zusammenhängen, in denen eigene Ansichten und Argumente in Auseinandersetzung mit den Erfahrungen, Mitteilungen und Interpretationen anderer entstehen. Insbesondere in schriftlichen Arbeiten ist jede Bezugnahme auf fremdes Gedankengut zu dokumentieren. Dies erhöht die Nachvollziehbarkeit von Argumenten, weil auf diese Weise den Leserinnen die genutzten Quellen offen gelegt werden. Außerdem gebietet es die Redlichkeit, die Forschungsergebnisse anderer Wissenschaftlerinnen nicht als eigene Leistung auszugeben. Für die Anfertigung wissenschaftlicher Texte gelten Regeln, die wir im Folgenden durch ein konkretes Zitationssystem vorstellen.'*'

Wie weise ich die Bezugnahme auf Quellen aus? Bei der Anfertigung von wissenschaftlichen Texten gibt es zwei Möglichkeiten, fremdes Gedankengut auszuweisen: der in Klammern gesetzte Hinweis, der direkt in den laufenden Text eingefugt wird, und die Fußnote. Es obliegt den Vorlieben von Autoren und Herausgebern, Regeln für die Verwendung dieser beiden Möglichkeiten zu bestimmen. Zur Verdeutlichung stellen wir im Folgenden das Verweissystem vor, das sich in soziologischen Fachzeitschriften weitgehend durchgesetzt hat. In den Fachzeitschriften der Soziologie wird die Bezugnahme auf fremdes Gedankengut durch einen in Klammern gesetzten Literaturnachweis in Kurzform direkt im Text ausgewiesen. Die Kurzformen der Literaturhinweise müssen dabei so gestaltet sein, dass sie problemlos auf die ausfuhrliche Literaturangabe hinweisen, die in dem an den Text angehängten Literaturverzeichnis aufgeführt ist. So wird beispielsweise für den Hinweis auf den ersten Abschnitt in Jürgen

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Zur Vertiefung: Büß, Eugen et al. (1994): Kompendium filr das wissenschaftliche Arbeiten in der Soziologie, 4. Aufl., Heidelberg: Quelle & Meyer, S. 120-126. Sesnik, Werner (1997): Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten mit und ohne PC, 3. Aufl., München: Oldenbourg, S.102-115. Standop, Ewald (1988): Die Form der wissenschaftlichen Arbeit, 12. Aufl., Heidelberg: QueUe & Meyer, S.33-72.

Zitieren

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Habermas' Buch Die Einbeziehung des Anderen in den Haupttext die folgende Kurzform eingegeben: (Habermas 1997: 11). Dabei bezieht sich die Jahreszahl nach dem Autorennamen auf das Erscheinungsdatum des Buches, die Zahl nach dem Doppelpunkt gibt die Seite mit der Information an, auf die Bezug genommen wird. Im Literaturverzeichnis wird diese Kurzform aufgelöst und der Literaturverweis ausfuhrlich dargestellt. In ihm wird der Nachname, durch Komma getrennt, dem Vornamen in der Regel vorangestellt, so dass eine alphabetische Ordnung der Literaturliste für Übersichtlichkeit sorgt. Neben dem Autorennamen wird das Erscheinungsjahr angegeben und dann, nach einem Doppelpunkt, der vollständige Titel des Buches, hier in Kursivschrift. Wenn nicht aus der ersten Auflage des Buches zitiert wird, kann danach die verwendete Auflage des Buches angegeben werden. Abschließend folgt dann der Erscheinungsort des Buches und der Namen des Verlages, in dem es publiziert wurde. Die oben genannte Kurzform erscheint also im Literaturverzeichnis in der folgenden ausfuhrlichen Form: Habermas, Jürgen, 1991. Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie. 2. Aufl., Frankfurt/Main: Suhrkamp. Auf diese Weise lässt sich die im Haupttext verwendete Kurzform leicht entschlüsseln und die Leserinnen und Leser können die Bezugnahme auf die Gedanken von Jürgen Habermas überprüfen. Für den Fall, dass im weiteren Text auf einen zweiten Text von Habermas verwiesen wird, der im gleichen Jahr erschienen ist, empfiehlt es sich, zum Zwecke der Eindeutigkeit die Texte über verschiedene Buchstaben auseinander zu halten, die in alphabetischer Ordnung an die Angabe des Erscheinungsjahres angefügt werden. Im eigenen Text wird also beispielsweise auf die Schriften von Jürgen Habermas mit den folgenden Kurzformen verwiesen: (Habermas 1997a: 11), (Habermas 1997b: 319). Im Literaturverzeichnis werden diese Kurzformen folgendermaßen entschlüsselt: Habermas, Jürgen, \991 di. Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie. 2. Aufl., Frankfurt/Main: Suhrkamp.

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Arbeitstechniken

Habermas, Jürgen, 1997b: Über den öffentlichen Gebrauch der Historie. Warum ein „Demokratiepreis" für Daniel Goldhagen? In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 42, H. 4, S. 408-416. Im Gegensatz zur Angabe einer Monografie im ersten Literaturhinweis gibt der zweite exemplarisch die Form wieder, in der auf Aufsätze verwiesen wird. Hier sind neben dem Zeitschriftennamen, dem Jahrgang und der Heftnummer insbesondere auch die Seitennummern der ersten und der letzten Seite des zitierten Textes anzugeben. In Fußnoten werden dieser Regelung zufolge lediglich Hinweise, Ergänzungen und kurze Ausführungen eingefugt, die über den im Haupttext dargelegten Argumentationsgang hinausgehen und dort nur stören würden. Beispiel: Zu den Formeigenschaften des modernen Rechts gehört Habermas zufolge nicht nur sein positiver und zwingender, sondern auch sein universalistischer Charakter (Habermas 1997a: 294-296).^

' Inwieweit diese Analyse modernen Rechts durch die Unterscheidung von System und Lebenswelt in Habermas Gesellschaftstheorie bedingt ist (Habermas 1988), kann ich hier nicht ausfuhrlich diskutieren, da die praktischen Probleme der Politikgestaltung im Vordergrund stehen. Es erscheint mir aber notwendig, auf die Parallele zwischen den gesellschaftstheoretischen und den normativ-praktischen Arbeiten von Habermas hinzuweisen, um die Art und Weise zu verstehen, in der er modernes Recht thematisiert. Diese Informationen können auch konzentriert am Ende eines Textes in Form von Endnoten gesammelt werden, was aber heute in den soziologischen Fachzeitschriften kaum noch praktiziert wird.

Zitieren

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Wie gebe ich fremdes Gedankengut wieder? Bei der Anfertigung von wissenschaftlichen Texten gibt es zwei Möglichkeiten, fremdes Gedankengut wiederzugeben: die Paraphrase und das Zitat. Bei einer Paraphrase wird ein fremder Text in eigenen Worten wiedergegeben und belegt. In der Belegangabe wird durch Kürzel wie „vgl." [= „vergleiche"] oder „cf" [= „confer"] (die bei Satzanfängen groß geschrieben werden) deutlich gemacht, dass es sich um einen indirekten Bezug auf fremdes Gedankengut handelt. Beispiel: Moderne Rechtsfindung lässt sich, Klaus Eder zufolge, als ein empirisch stattfindender Argumentationsprozess begreifen, in dem Kommunikation systematisch auf Rationalitätskriterien bezogen wird (vgl. Eder 1986: 25). Bei einem Zitat wird ein fremder Text wörtlich wiedergegeben und die Quelle ausgewiesen. Beispiel: „Wer sich auf argumentative Auseinandersetzung - und d.h. für das Recht, auf legislative und gerichtliche Verfahren einläßt, der wird zur Explikation seiner Gründe gezwungen" (Eder 1986: 25). Bei der Verwendung eines Zitats ist zu beachten, dass genau und wörtlich zitiert wird und der zitierte Text durch entsprechende Zeichen („...", »... «) markiert wird. Diese allgemeinen Grundsätze sind durch verschiedene Zitationsregeln ergänzt:

(1) Quellen des Zitats Ein Zitat sollte möglichst „aus erster Hand" sein, das heißt, man sollte aus dem Text zitieren, auf den man sich bezieht. Dabei ist insbesondere bei sogenannten klassischen Texten darauf zu achten, dass aus der Erstauflage zitiert oder zumindest das Erscheinungsjahr der Erstauflage im Literaturverzeichnis angegeben wird.

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Arbeitstechniken

Beispiel: Im Text steht das folgende Zitat: „Der Beruf ist das, was der Mensch als göttliche Fügung hinzunehmen hat, worein er sich 'zu schicken' hat: - diese Färbung übertönt den auch vorhandenen anderen Gedanken, daß die Berufsarbeit eine oder vielmehr die von Gott gestellte Aufgabe sei" (Weber 1988a: 77f). Im Literaturverzeichnis steht: Weber, Max, 1988a: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I [1920]. 9. Aufl., Tübingen: Mohr. Bei schwer zugänglichen oder fremdsprachigen Texten lässt es sich allerdings zuweilen nicht vermeiden, dass ein Zitat aus der Sekundärliteratur übernommen wird. Man fugt dann an den Literaturnachweis die Quelle an, aus der man zitiert hat. Beispiel: Peirce, C.S. 1977: Semiotics and Signifies. The Correspondence between Charles S. Peirce and Victoria Lady Welby, ed. C.S. Hardwick, Bloomington; London, S. 83; deutsch zitiert nach: Pape, Helmut, 1983: Einleitung. In: Peirce, Charles S. Phänomen und Logik der Zeichen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 26.

(2) Auslassungen im Zitat Soüte bei der Einfügung von Zitaten in den eigenen Text aus syntaktischen Gründen die Auslassung von Teilen des Zitattextes erforderlich sein, dann wird dies im zitierten Text durch drei Punkte innerhalb einer eckigen Klammer [...] gekennzeichnet.

Zitieren

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Beispiel: „Charisma bezeichnet [...] nichts anderes als die pragmatische Handlungsstruktur, in der mit Bezug auf eine Krise, die entweder anschaulich überzeugend vorliegt oder erfolgreich eingeredet wird, ein Versprechen auf Krisenlösung überzeugend vermittelt wird und sich praktisch bewährt" (Oevermann 1991: 331).

(3) Hervorhebungen und Einfügungen Hervorhebungen und erläuternde Einfügungen, mit denen der Verfasser einer schriftlichen Arbeit in den Text eines Zitates eingreift, müssen kenntlich gemacht werden. Dazu werden die Veränderungen in eckigen oder runden Klammem angegeben. Die folgenden Beispiele verdeutlichen das Verfahren. Beispiel für Hervorhebungen: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben" (Präambel des Grundgesetzes, Hervorhebung {Initialen des Verfassers}oder: Hervorhebung von mir oder: Hervorhebung nicht im Original).

Beispiel für Erläuterungen: „Das Verhältnis [von positiv zueinander in Beziehung stehenden menschlichen Willen, (Initialen des Verfassers}] selber, und also die Verbindung, wird entweder als reales und organisches Leben begriffen - dies ist das Wesen der Gemeinschaft, als ideelle und mechanische Bildung - dies ist der Begriff der Gesellschaft (Tönnies 1991: 3).

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Arbeitstechniken

(4) Anpassung des zitierten Textes durch Aufteilungen Kommt es bei der Einbeziehung eines Zitattextes zu einer Unterbrechung und Aufteilung des Zitats, etwa durch einen Einschub wie „sagt xy", dann müssen beide Teile des Zitats - vor und nach dem Einschub, der mit Kommata abgetrennt wird - in Anftihrungsstrichen stehen. Beispiel: „Alle Metaphysiker sind demnach", so schreibt Kant hierzu, „von ihren Geschäften feierlich und gesetzmäßig so lange suspendiert, bis sie die Frage: Wie sind synthetische Erkenntnisse a priori möglich? gnugthuend beantwortet haben (Kant 1981: 2)"

(5) Anpassung des zitierten Textes durch Umstellungen Adaptationen werden an entsprechender Stelle in Klammem eingefugt und nicht ausgewiesen. Beispiel: Referenzsatz: „Gerade in dieser Zeit steUte diese Partei in Preußen jenen Kulturminister, unter dem der Nationalsozialismus im Bildungswesen gedeihen konnte." Zitat: Die Politik dieser Partei, die in Preußen „[...] jenen Kultusminister (stelhe), unter dem der Nationalsozialismus im Bildungswesen gedeihen konnte", führte zeitweise zu jenen Folgen.

(6) Anpassung des zitierten Textes an den grammatischen Kontext Die Angleichung von einzeln zitierten Wörtern an den Kontext, sofern sie nur in Veränderungen bestehen, die einzelne Worte des zitierten Textes betreffen (z.B. in Gestalt von Hinzufügung, Weglassung oder Änderung einzelner Buchstaben entsprechend den Konjugations- und Deklinationsregeln), aber nicht in der Hinzufiigung von einzelnen Worten oder Satzteilen bestehen (wie oben unter (5.) dargelegt), werden durchgeführt, ohne diese Veränderungen zu kennzeichnen.

Zitieren

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Beispiel: Referenzsatz: „Hierbei liandelt es sich im wesentlichen um wissenschaftssystematische und wissenschaftstheoretische Überlegungen." Zitat: Nach Auffassung des Autors handelt es sich hierbei hauptsächlich um Fragen „wissenschaftssystematischen und wissenschaftstheoretischen" Charakters.

W o hat der Verweis auf eine Quelle im Text zu erscheinen? Dass Quellenangaben im Text an bestimmten Positionen stehen, haben wir bislang stillschweigend vorausgesetzt. Es erscheint uns aber wichtig zu sein, diesen Punkt noch einmal explizit aufzunehmen, weil hier der Teufel im Detail versteckt ist. Allgemein ist zu sagen, dass sich die Position einer Quellenangabe danach bestimmt, ob sie in einer im laufenden Text eingeftigten Klammer oder in einer Fußnote steht. Die Quellenangabe, die mit Klammern in den Text eingeftigt wird, steht bei Zitaten nach den Anftihrungsstrichen am Zitatende, aber vor dem Punkt, der den gesamten Satz abschließt. Bei Paraphrasierungen steht sie unmittelbar hinter dem Wort oder dem Satzteil, auf den sich die Angabe bezieht. Das in soziologischen Fachzeitschriften übliche Verweissystem, das wir vorgesteüt haben, kann hier als Beispiel dienen. Das Fußnotenzeichen steht unabhängig davon, ob die Fußnote eine Quellenangabe enthält oder einen die Argumentation im Haupttext weiterftihrenden Hinweis, unmittelbar hinter dem Satzteil, auf den sich die Angabe bezieht. Treffen Fußnotenzeichen und Satzzeichen aufeinander, dann gilt folgende Regel: Das Fußnotenzeichen steht vor dem Doppelpunkt, aber hinter dem Komma, dem Semikolon und dem Punkt. Wer ein wenig durch dieses Buch blättert und dabei auf die Fußnoten achtet, wird reichlich Anschauungsmaterial für dieses Verweissystem finden.

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3.7

Arbeitstechniken

Schriftliche Arbeiten verfassen

Dass wissenschaftliches Arbeiten ein rationales, methodisch kontrolliertes Arbeiten ist, sollte sich auch in der Form der schriftlichen Produkte niederschlagen. Die schriftliche wissenschaftliche Arbeit ist neben dem Referat und der Diskussion ein wichtiges Medium der Vermittlung wissenschaftlicher Argumente, wobei neben dem Inhalt auch die formale Gestaltung, also das Erscheinungsbild des Textes, eine wichtige Rolle spielt. Eine gut gegliederte, formal einwandfreie und damit für die Leser transparente schriftliche Arbeit lässt erkennen, wie gründlich das Thema bearbeitet worden ist.

Wodurch entstehen Schreibblockaden? Das Verfassen eines eigenen wissenschaftlichen Textes kann ein intellektuell höchst befriedigender Prozess sein. Zugleich beinhaltet das wissenschaftliche Schreiben aber auch Herausforderungen, die mitunter zu Schreibhemmungen oder sogar Schreibblockaden ftihren. Diese zählen zu den schwerwiegendsten Problemen im Studium und werden häufig wie folgt verursacht: •

Man nimmt sich zu viel auf einmal vor, ohne sich darüber klar zu sein, dass ein wissenschaftlicher Text nur in mehreren, nacheinander folgenden Schritten entwickelt werden kann. Die Annahme, dass ein Text auf Anhieb „druckreif sein sollte und kann, ist leider weit verbreitet, da man als Leser nur mit den fertigen Endprodukten der komplizierten Schreibprozesse anderer in Berührung kommt.



Das Thema einer Arbeit ist zu wenig eingegrenzt oder beinhaltet keine klare Fragestellung. Bei einem zu breit angelegten oder unklaren Thema ist es u.a. schwierig, die Menge der vorhandenen Literatur auf ein vernünftiges Maß zu reduzieren und aus den Texten das tatsächlich Wichtige herauszuarbeiten. Der Versuch, „alle" Aspekte eines Themas zu erfassen, fuhrt häufig zu einer unübersichtlichen Informationsansammlung, die nicht mehr in einem Text mit begrenztem Seitenumfang darzustellen ist.

Schriftliche Arbeiten verfassen

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Schreiben wird häufig nur als abbildender, nicht aber als erkenntnisfordernder Prozess verstanden. Dies hat zur Folge, dass das Schreiben so lange hinausgezögert wird, bis man meint, alles verstanden zu haben, um dann den Text „nur noch" aufzuschreiben. Das erschwert gerade bei längeren und komplexeren Texten den Beginn des Schreibprozesses ganz erheblich.



Schriftliche Arbeiten werden häufig zeitlich zu wenig geplant. Dabei ist die Überlegung, bis wann die Arbeit fertiggestellt sein soll, welche einzelnen Schritte dabei anstehen und wie viel Zeit dafür jeweils zur Verfugung steht, also eine genaue zeitliche Planung, auch eine Hilfe, sich nicht in inhaUlichen Details zu verzetteln.

Leider sind in Deutschland immer noch viele Professorinnen und Professoren der Meinung, dass das Schreiben bereits in der Schule ausreichend erlernt wurde. In den USA hingegen besuchen Studierende Schreibkurse, die in den meisten Studiengängen verpflichtend sind und häufig in Zusammenarbeit mit einem universitären Writing Center oder „writing-lab" stehen. Vergleichbare Angebote sind in Deutschland vereinzelt und als Zusatzangebot erst seit den 1990er Jahren entstanden.^" Durch die beispielhafte Schilderung von Schreibhemmungen sollte deutlich geworden sein, dass sich derartige Schwierigkeiten zu einem erheblichen Teil durch geeignete Techniken und Vorgehensweisen vermeiden bzw. besser bewältigen lassen.'^ Hierzu gehören zunächst die folgenden grundsätzlichen Vorüberlegungen, die dem eigentlichen Schreibprozess vorangestellt werden soUten.

Wie gehe ich an eine schriftliche Arbeit heran? Das Thema der schriftlichen Ausarbeitung sollte zur gestellten Aufgabe, also beispielsweise dem Inhalt und den Diskussionen eines Seso

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Hier sind beispielsweise das 1993 gegründete „Schreiblabor" an der Universität Bielefeld zu nennen, die „Schreibwerkstätten" der Universitäten Essen und Dortmund sowie die Schreibzentren an der Ruhr-Universität Bochum und der Universität zu Köln. Eine detaillierte Beschreibung des schrittweisen Vorgehens beim Schreiben einer wissenschaftlichen Hausarbeit bietet: Kruse, Otto (2000): Keine Angst vorm leeren Blatt - Ohne Schreibblockaden durchs Studium, Frankfurt am Main: Campus, S.86fF. Weitere Übungen zum wissenschaftlichen Schreiben fmden sich in: Werder Lutz v. (1993): Lehrbuch des wissenschaftlichen Schreibens: Ein Übungsbuch ftlr die Praxis, Berlin: Schibri-Verlag.

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Arbeitstechniken

minars passen. Zugleich sollte aber auch ein eindeutiges persönliches Interesse vorhanden sein, da das Verfassen einer wissenschaftlichen Arbeit einen nicht zu unterschätzenden Teil der Arbeitszeit in Anspruch nehmen wird. Daher ist besonders bei längeren Texten, z.B. Examensarbeiten, eine persönliche Begeisterung an der Sache von Vorteil. Im Vorfeld sollte geklärt werden, wie die genaue Fragestellung des gewählten Themas lautet, so dass eine umfassende und zugleich detaillierte Darstellung ermöglicht wird. Wie will man sich dem Thema nähern, soll ein sozialer Tatbestand definiert, verglichen, analysiert, für oder gegen ihn argumentiert werden und warum? Das Schreibinteresse sollte demnach eng mit der Themenwahl verbunden sein und in der konkreten Fragestellung zum Ausdruck kommen. Schließlich sollte man sich über die Adressaten der schriftlichen Arbeit Gedanken gemacht haben. Welches Vorwissen kann vorausgesetzt, welche Erwartungen wollen und sollen mit der Erarbeitung des Themas erftillt werden? Noch wenig routinierte Verfasser einer schriftlichen Arbeit mögen es hilfreich finden, sich an vorliegenden Hausarbeiten von Kommilitonen, Diplom- und Magisterarbeiten sowie Promotionen und Aufsätzen in einschlägigen Fachzeitschriften in der jeweiligen Universitätsbibliothek zu orientieren. Für dieses Stadium des Schreibprozesses ist es wichtig, dass dem Schreiben von vornherein eine systematische Struktur gegeben wird. Dabei ist es zunächst egal, ob man sich mit einem Brainstorming, ausgehend von einer vorliegenden gesetzten Fragestellung, aus einem persönlichen Interesse oder an Journaleintragungen ansetzend dem Thema nähert.

Wie strukturiere ich meinen Schreibprozess? Die Bearbeitung eines Themas, beginnt mit einer ersten Eingrenzung des Themas, der Literaturrecherche und dem Aufstellen eines Zeitplans. Da der Zeitfaktor beim Verfassen schriftlicher Arbeiten meistens unterschätzt wird, sei hier einleitend darauf hingewiesen, dass für die Literatursuche und eine erste Grobgliederung ungefähr zwei Wochen einzuplanen sind, in denen auch die Möglichkeit genutzt werden soll-

Schriftliche Arbeiten verfassen

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te, eventuelle Lücken in der zur Verfugung stehenden Forschungsliteratur durch Fernleihen zu schließen oder Themenveränderungen mit der Seminarleitung abzusprechen.^^ Nachdem man sich mit der relevanten Literatur zum bisherigen Forschungsstand vertraut gemacht hat und diese bearbeitet worden ist (vgl. Kapitel 3.4.), folgt die Formulierung eines konkreten Problems, der Fragestellung. Diese Fragestellung wird in Arbeitshypothesen formuliert (vgl. auch Kapitel 2.2.). Aus den Arbeitshypothesen werden nun einzelne Punkte abgeleitet, aus denen sich eine erste Gliederung der Arbeit ergeben kann. Spätestens jetzt sollte man sich von der Vorstellung befreien, mit einer klaren Fragestellung eine Arbeit „in einem Guss" schreiben zu können. Es gibt wohl kaum jemanden, der mit dem ersten Entwurf eines Textes vollkommen zufrieden ist, d.h. Korrigieren, Streichen, Ergänzen und Überarbeiten sind essentielle Bestandteile jedes wissenschaftlichen Schreibprozesses. Schreiben und forschendes Lesen greifen dabei meist ineinander und sind reziproke Hälften der Textproduktion. In der Zeitplanung sollte daher auch genügend Raum ftir die Überarbeitung, Kontrolle, Formatierung und Korrektur des Textes vorhanden sein, schließlich kann auch der beste Inhalt durch eine mangelhafte Präsentation in Mitleidenschaft gezogen werden. So hat es sich bewährt, „Pufferzeiten" einzuplanen, die eine mögliche Verzögerung in der Literaturbeschaffung oder ein Stocken des Schreibprozesses abfedern können und verhindern, dass kurz vor der Abgabe der Arbeit Nachtschichten eingelegt werden müssen.

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Konkrete Vorschläge für die Zeitplanung von Seminar- und Examensarbeiten finden sich z.B. in: Jacob, Rüdiger (1997): Wissenschaftliches Arbeiten: eine praxisorientierte Einführung für Studierende der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1997, S.49fr. Vgl. Kruse, Otto (2000): Keine Angst vorm leeren Blatt - Ohne Schreibblockaden durchs Studium, Frankfurt am Main: Campus, S.246fr. Lück, Wolfgang (1997): Technik des wissenschaftlichen Arbeitens: Seminararbeit, Diplomarbeit, Dissertation, 5. Aufl., München: Oldenbourg, S. 1 Iff.

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Arbeitstechniken

Wie strukturiere ich meine Arbeit? Das formale Erscheinungsbild einer Arbeit ist nicht nebensächlich, denn es ist der erste Eindruck, den ein Text vermittelt. Rechtschreibung, Interpunktion, Grammatik und Satzbau sollten spätestens bei einer Endkorrektur sorgfältig überprüft werden. Wie auch beim inhaltlichen Korrigieren ist es hier durchaus sinnvoll, den Text auch von einer zweiten oder dritten Person kontrollieren zu lassen, da Autoren nach einer längeren Zeit der intensiven Beschäftigung mit einem Text zu einer gewissen „Betriebsblindheit" neigen und offensichtliche Schnitzer übersehen. Grundlegende formale Elemente einer schriftlichen Arbeit sind: •

Das Deckblatt. Es beinhaUet den Titel der Veranstahung, den Namen der Veranstalter/in, Angaben über die formale Funktion des Textes (Hausarbeit, Referatsausarbeitung o.ä.), das Thema der Arbeit als Titel, den Namen der Autorin bzw. des Autors mit der Nennung von Hauptfach und Semesterzahl, dem Abgabedatum bzw. der Angabe des Semesters (z.B. SoSe 2002). Im Falle von studienbegleitenden Prüfimgsarbeiten, Magister- oder Diplomarbeiten sind die jeweiligen Vorgaben zu beachten, die in der Regel aus der Prüfungsordnung zu entnehmen sind.



Ein Inhaltsverzeichnis mit Seitenangaben



Eventuell ein Abkürzungsverzeichnis



Eventuelle Tabellen- und/oder Abbildungsverzeichnisse



Der Haupttext mit der Bearbeitung des Themas



Ein alphabetisch geordnetes Literaturverzeichnis



Eventuell ein Anhang (für umfangreichere Materialsammlungen, transkribierte Interviews usw.)

Inhahlich besteht die schriftliche Ausarbeitung eines Themas im Haupttext der Arbeit aus drei Elementen: Einleitung, Hauptteil und Schluss bzw. Zusammenfassung. Handelt es sich um eine Gruppenarbeit, so sind die Beiträge der einzelnen Autoren inhahlich und formal zu einer Einheit zu integrieren. Wer welchen Abschnitt bearbeitet hat, ist aber anzugeben.

Schriftliche Arbeiten verfassen

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In der Einleitung, die das Thema der Arbeit formuliert und die Vorgehensweise erläutert, wird meist ein Überblick über die Problemstellung gegeben, um dem Leser deutlich zu machen, auf welcher Grundlage der Verfasser aufbaut und womit er sich im weiteren Verlauf der Arbeit beschäftigen will. Außerdem können in der Einleitung folgende Aspekte behandelt werden.^^ (1) Abgrenzung des Themas, (2) Stand der Forschung, (3) Methode oder Verfahren der Arbeit, (4) Hinweise auf das verwendete und vorgefundene Literaturmaterial, (5) Überblick über den inhaUlichen Aufbau und (6) Ziel der Arbeit. Der Umfang der Einleitung schwankt zwischen einer und fünf Seiten. Sollten allerdings ausfuhrliche theoretische Vorbemerkungen in die Einleitung einbezogen werden, wird sie entsprechend länger sein. Im an die Einleitung anschließenden Hauptteil werden die Arbeitshypothesen nun entlang der einzelnen Gliederungspunkte und mit Hilfe des entsprechenden Materials diskutiert und argumentativ bearbeitet. Die Argumentation entsteht dabei durch die Anordnung einzelner Elemente oder Gedankenschritte, wobei sich als Grundmodell ein Dreischritt empfiehlt. Der erste und der letzte Schritt entsprechen dabei der Einleitung und dem Schlusskapitel, der zweite dem Hauptteil, der sich unterschiedlich strukturieren läßt, z.B.: •

als nebeneinandergestellte Einzelargumente: unterschiedliche Begründungen eines Sachverhahes.



als argumentative Kette: historische Entwicklungen, schrittweise Begründungen.



als abwägende Gegenüberstellung: Vergleich unterschiedlicher Positionen, These-Antithese-Synthese.

Für das Schlusskapitel werden oftmals auch die Bezeichnungen „Zusammenfassung", „Schlussbetrachtung" oder „Ausblick" verwendet. Hier werden die gewonnenen Ergebnisse an die Ausgangshypothesen angeschlossen. Dazu enthält das Schlusskapitel eine knappe Zusammenfassung der eingangs aufgestellten Hypothesen, der Hauptargumente und der wichtigsten Ergebnisse der Arbeit. Letztere werden ^^ Büß, Eugen et al. (1994): Kompendium für das wissenschaftliche Arbeiten in der Soziologie, 4. Aufl., Heidelberg: Quelle & Meyer, S. 129.

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meist thesenartig in klaren kurzen Sätzen formuliert. Zusätzlich können in einer Zusammenfassung die wichtigsten Ergebnisse bewertet und in eine übergeordnete Problemstellung eingebunden werden. Auch ein abschließender Ausblick auf noch ungelöste Probleme oder aus den gewonnenen Erkenntnissen resultierende neue Fragen ist hier richtig platziert. Beispiel aus einer Gliederung: 1. Einleitung Problemstellung 1.1. Abgrenzung der Fragestellung, 1.2. Gegenwärtiger Forschungsstand 1.3. Hypothesen 1.4. Ziel der Arbeit 2. Hauptteil 2.1. 2.1.1. 2.1.2. 2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.3. 2.3.1. 2.3.2. 3. Schluss (Zusammenfassung und Ausblick) Durch die Art und Weise wie man sich über vorliegende Erkenntnisse zum gewählten Thema informiert, sie darstellt, beurteilt und kreativ an diese anknüpft, entsteht die Struktur des Haupttextes. Dies bedeutet, dass man keine „Scheinklassifikation"''* in einzelne Kapitel und Unterkapitel vornimmt, sondern dass der logische Aufbau der Arbeit anhand der Gliederung ständig überprüft werden kann. Deswegen verändern sich Gliederung und Inhaltsverzeichnis während des Schreibprozesses und forschenden Lesens mehrfach, eine endgültige Gliede-

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Büß, Eugen et al. (1994): Kompendium für das wissenschaflliche Arbeiten in der Soziologie, 4. Aufl., Heidelberg: Quelle & Meyer, S.142.

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rung kann erst nach Fertigstellen des gesamten Manuskripts feststehen. Aus Gründen der Einheitlichkeit und der Übersichtlichkeit sollte ein formales Gliederungsschema verwendet werden. In unserem Beispiel einer hierarchisch numerischen Ordnung werden die Hauptabschnitte eines Textes, mit „1." beginnend, fortlaufend durchnummeriert. Jede nachgeordnete Stufe beginnt erneut mit der Ziffer 1. Eine weitere Möglichkeit, sich die Gliederung einer schriftlichen Arbeit zu verdeutlichen und diese auf ihre logischen Zusammenhänge, eventuellen Lücken zu überprüfen, ist die bereits in Kapitel 3.1. erläuterte Technik des Mindmapping. Immer wieder solUe man sich während des Schreibprozesses fragen, ob die eigene Argumentation klar ist und einen „roten Faden" hat oder ob wichtige Schritte fehlen bzw. von der Argumentationslinie abgewichen wird.'' Werden den potenziellen Leserinnen und Lesern genügend Informationen und Belege für die eigenen Thesen geboten? Welches sind die Stärken, welches die Schwächen des Arguments, was ist der interessanteste Punkt und wird dieser deutlich? Müssen weitere Details recherchiert werden? Muss der Aufbau der Arbeit verändert werden? Welche formalen Aspekte sollte ich beachten? Hervorhebungen im Text können sinnvoll sein, sind aber nicht unbedingt notwendig und sollten eher sparsam verwendet werden. Die Form der Hervorhebungen (Unterstreichungen, Fett- oder Kursivdruck) sollte in jedem Fall einheitlich gewähh werden. In den folgenden Fällen können Hervorhebungen sinnvoll eingesetzt werden.'^ •

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Wörter und Wendungen, die nicht direkt zum Sprachschatz des Verfassers gehören, in den Sprachstil des Textes passen oder zur Fachterminologie der Soziologie gehören. Durch die Hervorhebung wird kenntlich gemacht, dass man sich der Eigentümlichkeit Vgl. Schmale (Hrsg.) (1999), Schreib-Guide Geschichte: Schritt für Schritt wissenschaftliches Schreiben lernen, Wien: Böhlau, S.77f. Standop, Ewald; Meyer, Matthias (1998): Die Form der wissenschaftlichen Arbeit, Heidelberg: Quelle und Meyer, S.SOff.

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Arbeitstechniken

einer Wendung oder eines Begriffs in einem bestimmten Zusammenhang bewusst ist. •

Fremdsprachliche Wörter und Ausdrücke, die 2aim Stil des Verfassers gehören und noch nicht als eingebürgert gelten.



Titel von Büchern, Zeitschriften und Zeitungen, die im Textteil genannt werden.



Wenn auf bestimmten Einzelwörtern die Betonung liegt, ohne dass sich dies aus dem syntaktischen Zusammenhang ergibt, sollten sie hervorgehoben werden.



Wichtige Begriffe, die im Zuge der Darstellung diskutiert werden, sollten möglichst nur in seltenen Fällen und nur der Übersichtlichkeit halber hervorgehoben werden.



Wenn man innerhalb eines Kapitels verschiedene Gesichtspunkte in Form von Schlagworten oder Thesen herausstellen möchte, ist eine Hervorhebung sinnvoll.



Abschnittstitel im Sinne von Überschriften im Textteil können ebenfalls hervorgehoben werden.

Anmerkungen in Form von Fußnoten auf einer Seite oder als Auflistung sogenannter Endnoten im Anschluss an den Textteil enthalten Kommentare, Erläuterungen, Exkurse usw., die den Text aufljlähen und damit seine Lesbarkeit erschweren würden, zugleich aber wichtige Zusatzinformationen zum vertiefenden Verständnis des Textes bieten. Anmerkungen erfüllen in erster Linie drei Funktionen^': (1) Dokumentation von Quellenangaben, die zu umfangreich sind, um sie im Text in Klammern einfügen zu können (vgl. Kapitel 3.7.). (2) Erläuterungen und Modifizierungen, Einschränkungen und erweiternde Problemsicht des Themas. (3) Angaben von Querverweisen in der eigenen Arbeit.

"

Standop, Ewald; Meyer, Matthias (1998): Die Form der wissenschaftlichen Arbeit Heidelberg: Quelle und Meyer, S.57ff.

Schriftliche Arbeiten verfassen

-153 -

Tabellen und Schaubilder sind mit Überschriften und genauen Quellenangaben zu versehen und fortlaufend zu nummerieren. Auch hierbei gilt: Maß, Ziel und Gestaltung sind zweckgebunden.

-154 -

3.8

Aibeitstechniken

Exkurs : Der wissenschaftliche Essay

In den Sozialwissenschaften besitzt die Textgattung des Essays eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Der Essay ist eine spezifische Form der Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnis, die sich gattungsgeschichtlich auf die 1580 veröffentlichten Abhandlungen von Michel de Montaigne zurückfuhren lässt. Im Alltag begegnet uns diese Textgattung in der schöngeistigen Literatur aber auch in Zeitungen und Zeitschriften (beispielsweise in Die ZEIT). In der Soziologie sind insbesondere die Essays von Georg Simmel (1858-1918) bekannt geworden, die, wie z.B. im „Exkurs über den Fremden" von einem spezifischen Problem ausgehend, theoretische Überlegungen entfalten und diese u.U. sogar zu philosophischen, politischen oder künstlerischen Gedanken in Beziehung setzen. Ganze soziologische Monografien sind in der Textgattung des Essays verfasst worden, ja der Essay ist sogar als Textgattung eines spezifischen Typs soziologischer Theoriebildung angesehen worden.'' Welche Funktion hat der Essay? Die Funktion des Essays besteht in der intellektuellen Erkundung unbekannten Terrains beziehungsweise in der Einübung einer neuen, unbekannten Perspektive auf Bekanntes. Für die Autorin besitzt das Schreiben eines Essays die Funktion der vorläufigen Formulierung von Argumenten. Er dient dazu, sich schriftlich mit einem Thema vertraut zu machen, z.B. einen Gegenstand, einen Begriff oder eine Theorie kritisch zu reflektieren. Der Essay bietet dabei aufgrund seiner Formmerkmale den Freiraum für die Entwicklung ungesicherter Argumente, ohne dass das betreffende Thema bereits erschöpfend 58

59

Vgl. Simmel, Georg (1983): Exkurs über den Fremden, in: ders.: Soziologie: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesammelte Werke [Erstausgabe: 1908], Bd. 2,6. Auflage, Berlin: Duncker und Humblot, S.509-512. So von Adorno, Theodor W. (1974): Der Essay als Form, in: ders.: Noten zur Literatur, Gesammelte Schriften, Bd. 9, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.9-33. Zu einer eingehenden Formanalyse soziologischer Essays vgl. Bude, Heinz (1989): Der Essay als Form der Darstellung sozialwissenschaftlicher Erkenntnis; in: Kölner Zeitschrift ftlr Soziologie imd Sozialpsychologie, 41 (3), S.526-539.

Exkurs: Der wissenschaftliche Essay

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oder streng systematisch aufzuarbeiten wäre. Insbesondere eignet er sich fur die Formulierung abduktiver Schlussfolgerungen (vgl. 2.2.) und soll somit zur weitergehenden Diskussion des betreffenden Themas anregen. Damit ist auch bereits die Funktion des Essays in Bezug auf das lesende Publikum angesprochen. Für den Leser bedeutet die durch die Wahl der Textsorte des Essays beschlossene Offenheit des Textes, dass er selbst an der Herstellung des Sinns aktiv beteiligt ist. Insofern soll der Essay auch die Leser zur eigenständigen Entwicklung einer eigenen Perspektive auf Bekanntes anregen. Welche Form hat der Essay? Fragt man nach der Form des Essays, die sich aus dieser Funktion herleitet, so wird man von den Lexika zumeist auf eine Definition wie die Folgende verwiesen: „Abhandlung, die eine literarische od. wissenschaftliche Frage in knapper u. anspruchsvoller Form behandelt".^" Für die Form des Essays ist also zunächst die Verknappung einer Argumentation, anders gesagt: ihre sprachliche Verdichtung charakteristisch. Diese sprachliche Verdichtung hat zur Folge, dass nicht alle Argumente systematisch miteinander verknüpft werden, sondern oftmals in einem noch ungeklärten Zusammenhang zueinander stehen. Explorative, positionelle und provokative Argumente sind daher typisch für den Essay. Dass die im Essay dargestellten Argumente im Bereich des Mutmaßlichen, Vorläufigen, Ungesicherten verbleiben, spiegelt sich auch im Vokabular essayistischen Schreibens wider. Wörter wie „vermutlich", „womöglich", „meine ich" usw. deuten darauf hin, dass die dargestellte Erkenntnis nicht mit Gewissheit daherkommt, sondern sich selbst nur als vorläufig begreift. Für die Gliederung des Essays charakteristisch ist der Beginn mit einem zufällig entdeckten Gegenstand, von dem ausgehend allgemeinere Überlegungen entwickelt werden. Im Hauptteil werden diese Überlegungen dann in experimentierender Weise argumentativ entfaltet, wobei der Leserin ein unüblicher Blick auf den Gegenstand angeboten wird. Der Essay endet zumeist mit einem offenen Schluss, der die dargestellte Erkenntnis selbstkritisch reflektiert und sie dabei eventuell sogar relativiert.

^^ Vgl. DUDEN-Fremdwörterbuch 2001

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Arbeitstechniken

Wie schreibe ich ein Essay? Das Schreiben von Essays lernt man letztlich natürlich nur dadurch, dass man selbst Essays schreibt. Gleichwohl lassen sich einige praktische Hinweise zum Verfassen von Essays geben. Ausgangspunkt für die Entfaltung des Textes ist die Wahrnehmung eines auffälligen Phänomens. Dieses kann auf eigene Alltagsbeobachtungen zurückgehen (z.B. die eigene Fremdheitserfahrung im Ausland). Vielleicht hat sich dieses Phänomen auch bereits in den Notizen im wissenschaftlichen Journal niedergeschlagen, die nun in eine argumentative Struktur über&hrt werden sollen (vgl. Kapitel 3.5.). Die Erkundung dieses Phänomens sollte auf die Auseinandersetzung mit einer allgemeineren Frage abzielen. Diese Frage kann entweder die Darstellung eines Gegenstandes (z.B. „Fremdheitserfahrungen im Prozess der Migration"), die Angemessenheit eines Begriffs (z.B. „Ethnizität - sozialwissenschaftlicher Begriff oder gesellschaftliches Konstrukt?") oder die Schlüssigkeit einer Theorie (z.B. „Wie erklärt die Theorie fiinktionaler Differenzierung die Bedeutung ethnischer Identität in modemer Gesellschaft?") betreffen. Dabei kann es hilfreich sein, sich zur Präzisierung der Frage an der wissenschaftlichen Position einer Autorin oder eines Autors („Simmeis Begriff des Fremden") oder an einer allgemein geteilten Einschätzung eines Sachverhalts („Deutschland ist kein Einwanderungsland") zu orientieren. Beides sollte aber im Verlauf der Argumentation problematisiert werden. Zur Begründung der einzelnen Argumente lässt sich auf unterschiedliche Materialien zurückgreifen, z.B. auf Statistiken, Daten, historische Fakten, wissenschaftliche Literaturberichte. Gerade für den Essay können auch außerwissenschaftliche Materialien aufgegriffen werden, wie z.B. Belletristik, Zeitungskommentare, Videoclips, Liedtexte, Werbesprüche oder sonstige Alltagseindrücke. Die Formmerkmale des Essays begünstigen also kreative Schreibprozesse. Gerade deswegen ist der Essay eine geeignete Gattung, um ganz allgemein das wissenschaftliche Schreiben einzuüben.

Datenquellen erschließen

3.9

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Datenquellen erschließen

Mit den Methoden der empirischen Sozialforschung werden weltweit Daten produziert, die Soziologen nutzen können, um ihre theoretischen Aussagen über soziale Tatbestände mit empirischen Befunden zu untermauern. Solche Daten können sowohl als Rohdaten, in aufbereiteter Form, z.B. als Statistiken, oder in veröffentlichten Textbeiträgen vorliegen. Neben den universitären sozialwissenschaftlichen Instituten gibt es eine Reihe von öffentlich finanzierten und privatwirtschaftlichen Forschungseinrichtungen, die empirische Daten erheben, auswerten und dokumentieren. Je nach ihrer Ausrichtung betreiben diese Einrichtungen Sozial-, Wahl-, Markt- oder demografische Forschung und zielen dabei eher auf sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung oder sind explizit anwendungsbezogen, wie z.B. Auftragsuntersuchungen im Bereich der kommerziellen Marktforschung. Über das Internet lässt sich eine Übersicht der Forschungsfelder und Informationsangebote dieser Einrichtungen gewinnen. Im Folgenden wollen wir einige Beispiele vorstellen: Die nationalen Statistikbehörden erstellen amtliche Statistiken. Das Statistische Bundesamt sowie die einzelnen Landesämter sind die wichtigsten Lieferanten dieser Statistiken für die Bundesrepublik. Diese Behörde ist für die Mikrozensus-Erhebungen verantwortlich und gibt jährlich das „Statistische Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland" heraus, das inzwischen auch als Online-Angebot abgerufen werden kann. Mit der Datenbank STATIS, die über die meisten Universitätsbibliotheken zugänglich ist, können Zeitreihen dieser amtlichen Daten gebildet werden, um gesellschaftliche Entwicklungen darzustellen. •

Statistisches Bundesamt, Gustav-Streseman-Ring 11, 65180 Wiesbaden, http.V/www.statistik-bund.de (mit Links zu den Landesämtern und Statistikbehörden anderer Staaten und Organisationen)

Daneben sind Behörden aller politischen Ebenen Ansprechpartner für statistisches Material. Im Bereich der Arbeits- und Berufsforschung ist das lAB (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung) als For-

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Arbeitstechniken

schungseinrichtung der Bundesanstalt fur Arbeit von besonderem Interesse. •

Bundesministerien, http://www.bundesregierung.de



lAB, Nürnberg, Regensburger Straße 104, 90478 Nürnberg, http://www.iab.de

Differenziertes Datenmaterial über verschiedenste Themenbereiche und Unterstützung bei der Durchführung empirischer Forschungsprojekte bieten akademisch ausgerichtete Institute. Die GESIS (Gesellschaft Sozialwissenschaftlicher Infi-astruktureinrichtungen) fasst drei wichtige Institute zusammen: Das ZUMA (Zentrum fur Umfragen, Methoden und Analysen) forscht und berät auf dem Gebiet der empirischen Sozialwissenschaft und fuhrt selbst Untersuchungen durch. Hierbei ist vor allem der ALLBUS (Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften), eine jährliche und repräsentative Erhebung von Einstellungs- und soziodemografischen Daten, ein bedeutender Beitrag. Außerdem arbeitet das ZUMA mit ähnlichen Einrichtungen anderer Länder zusammen, so dass auch auf internationales Datenmaterial zugegriffen werden kann. Das ZA (ZentralarchiV für Empirische Sozialforschung der Universität zu Köln) sammelt die Daten von Umfragen und Erhebungen aus verschiedensten sozialwissenschaftlichen Bereichen. Die Datensätze werden der universitären Forschung für eigene Auswertungen (Sekundäranalysen) zur Verfügung gestellt. Das ZA gibt ebenso wie die ZUMA halbjährig eine Publikation heraus, die neben allgemeinen Informationen zur Arbeit der Einrichtung Aufsätze über empirische Forschungen beinhaltet. Diese Publikationen (ZA-Information und ZUMA-Nachrichten) werden Interessierten kostenlos zugesandt. Das IZ (Informationszentrum Sozialwissenschaften) schließlich dokumentiert und vermittelt Informationen zum Stand der Forschung und zur Literatur für den Bereich der Sozialwissenschaften. Rechtlicher Träger des IZ ist die ASI (Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute), ein Zusammenschluss gemeinnütziger Forschungsinstitute.

Datenquellen erschließen

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GESIS, http://www.social-science-gesis.de (mit Links zu den drei folgenden Instituten)



ZUMA, Quadrat B2.1, 68159 Mannheim, Postfach 122155, 68072 Mannheim

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ZA, Bachemer Str. 40, 50931 Köln, Postfach 410960, 50869 Köln



IZ, Lennéstr. 30, 53113 Bonn



ASI, Lennéstr. 30, 53113 Bonn, http://www.bonn.iz-soz.de/extern/asi

Neben der GESIS und ihren Instituten gibt es weitere Forschungseinrichtungen mit nützlichen Angeboten. Das DIW (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) betreut mit dem SOEP (Sozio-ökonomisches Panel) eine seit 1984 jährlich wiederhohe Befragung von 12000 bundesdeutschen Haushalten mit 20000 Personen (Stand 2000). Durch die kontinuierliche Erhebung von Daten der Bereiche Arbeit und Soziales werden Veränderungen in Erwerbs- und Familienbiografien erfasst. Der Datensatz kann von der universitären Forschung ausgewertet werden. Neben den eigenen Analysen werden durch das DIW auch alle anderen empirischen Auswertungen dokumentiert, die sich auf das SOEP stützen. •

DIW, Königin-Luise-Str. 5, 14195 Berlin, http://www.diw.de



SOEP, http ://www. diw. de/deutsch/sop/index. html

Das WSI, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut in der Hans-Böckler-Stiftung, stellt sich als gewerkschaftsnahes Forschungsinstitut die Aufgabe, praxisrelevante Fragestellungen im Bereich der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik bis hin zur Sozial-, Tarif- und Mitbestimmungspolitik wissenschaftlich zu bearbeiten. •

WSI, Bertha-von-Suttner-Platz 1, 40227 Düsseldorf, http://www.boeckler.de/wsi

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Arbeitstechniken

Die Max-Planck-Gesellschaft unterhält eine geisteswissenschaftliche Sektion (http://www.mpg.de/deutsch/institut/geistwiss.html), aus der einige Institute soziologisch relevante Forschungen betreiben. •

Max-Planck-Institut fur Bildungsforschung, Lentzeallee 94, 14195 Berlin, http://www.mpib-berlin.mpg.de



Max-Planck-Institut fur demografische Forschung, Doberaner Str. 114, 18057 Rostock, http://www.demogr.mpg.de



Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Paulstr. 3, 50676 Köln, http://www.mpi-fg-koeln.mpg.de

Das WZB (Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung) führt unter dem Leitthema „Entwicklungstendenzen, Anpassungsprobleme und Innovationschancen moderner demokratischer Gesellschaften" sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung in ausgewählten Problemfeldern durch. •

WZB, Reichpietschufer 50, 10785 Berlin, http://www.wz-berlin.de

Während die bisher aufgeführten öffentlich finanzierten Einrichtungen in der Regel darauf angelegt sind, universitäre Forschungen zu unterstützen, sind kommerzielle Institute weniger freizügig mit Auskünften über ihre Forschungsprojekte und dem Zugang zu den von ihnen produzierten Daten. Trotzdem stellen die kommerziellen Institute mögliche Kooperationspartner für empirische Forschungsarbeiten dar. Zu verweisen ist hier zunächst auf den Dachverband ADM (Arbeitskreis Deutscher Marktforschungsinstitute). •

ADM, Langer Weg 18, 60489 Frankfurt am Main, http://www.adm-ev.de

Exemplarisch seien weiterhin folgende Institute genannt: •

GfK AG, Gesellschaft für Konsumforschung AG, Nordwestring 101, 90319 Nürnberg, http://www.gflc.de



IfD, Institut für Demoskopie Allensbach, Radolfzeller Straße 8, 78472 Allensbach am Bodensee, http://www.ifd-allensbach.de



Infas, Institut für angewandte Sozialforschung, Margaretenstr. 1, 53175 Bonn, http://www.infas.de

Datenquellen erschließen

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Infratest Burke GmbH & Co., Landsberger Str. 338, 80687 München, http : //www. infratest-burke. com



Infratest dimap, Moosdorfstraße 7-9, 12435 Berlin, http://www.infratest-dimap.de



TNS EMNID - Taylor Nelson Softes EMNID, Institut für Markt-, Media- und Meinungsforschung, Stieghorster Straße 90, 33605 Bielefeld, http://www.emnid.tnsofres.com

Abschließend noch ein Tipp: Unter http://www.sozialforschung.de sind weitere nützliche Links zu anderen Angeboten rund um das Themenfeld empirische Sozialforschung aufgeführt.

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Anhang: Lehrplan Der hier vorgestellte Lehrplan einer einfuhrenden Übung in das Studium der Soziologie und die wichtigsten Arbeitstechniken wissenschaftlichen Arbeitens ist in der Praxis entstanden und entsprechend unserer Erfahrungen und der Rückmeldung durch die Studierenden modifiziert worden. Im vorgeschlagenen Lehrplan bilden die in Teil 2 thematisierten Grundzüge der Soziologie das Gerüst der Veranstaltung, die auf 14 Doppelstunden veranschlagt ist. Neben den einleitenden Texten werden dabei vor allem die Arbeitstexte diskutiert. Parallel zu dieser Einfuhrung in das soziologische Denken werden nach und nach die wissenschaftlichen Arbeitstechniken aus Teil 3 vermittelt und eingeübt, u. a. indem sie zur Erarbeitung der Beispieltexte eingesetzt werden. Diese Verknüpfung des soziologischen Propädeutikums und der Darstellung der Arbeitstechniken zur Wissensaneignung und -Vermittlung ist unseres Erachtens geeignet, selbst eine Einfuhrungsübung auf der Grundlage der in diesem Buch enthaltenen Texte zu planen und durchzufuhren, sei es durch einen Lehrenden oder in studentischer Eigeninitiative. Die erfolgreiche Realisierung einer solchen Lehrveranstaltung hängt erfahrungsgemäß vor allem von der Zahl der Teilnehmenden ab. Leider ist es oft so, dass gerade die einfuhrenden Übungen, die ja per Definition einen hohen Anteil an zeit- und betreuungsintensiven Arbeitseinheiten umfassen sollen, überfüllt sind und nicht immer studentische Hilfskräfte als Tutoren zur Verfügung stehen. Insbesondere ein diskursiv angelegtes Veranstaltungskonzept wie das vorliegende leidet unter solchen Bedingungen darunter, dass der einzelne Studierende, wenn er überhaupt seine Scheu überwindet, vor einer größeren Gruppe zu sprechen, viel zu wenig Gelegenheiten bekommt, seine Fragen und Ideen einzubringen und den wissenschaftlichen Diskurs auch tatsächlich praktisch einzuüben. In solchen Fällen hat sich in unseren Veranstaltungen die Aufteilung der Teilnehmenden auf kleinere Arbeitsgruppen als sinnvolle Strategie erwiesen. In der Gruppenarbeit können

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sich alle Studierenden in einem angemessenen Umfang die Inhalte und Techniken aneignen und diskutieren, so dass sie dann auch in der Lage sind, vor dem Plenum ihre Vorstellungen zu vertreten. 1. Sitzung - Was ist Soziologie? Warum studieren Sie Soziologie? Vorstellung des Veranstaltungsprogramms, Klärung der Formalitäten Bearbeitung des Sitzungsthemas durch das Sammeln, Ordnen, Dokumentieren und Präsentieren der studentischen Vorstellungen, Erwartungen, Motivationen Vorstellung der Arbeitstechnik 3.2. „Protokollieren" Arbeitsformen. Vortrag, Kleingruppenarbeit, Ergebnispräsentation und Plenumsdiskussion Arbeitsaußrag: Vorbereitung der Arbeitstexte 1 (Der Spiegel) und 2 (Esser) 2. Sitzung - Der soziologische Blick Vorstellung der Arbeitstechnik 3.1. „Ideen sammeln und ordnen" anhand der Ergebnisdokumentationen aus der vorangegangenen Sitzung Erarbeitung der Unterschiede zwischen einem journalistischen und einem soziologischen Text anhand der vorbereiteten Arbeitstexte 1 und 2 Spezifizierung des soziologischen Blicks auf soziale Tatbestände (2.1.)

Vorstellung der Arbeitstechnik 3.4. „Lesen und exzerpieren" Arbeitsformen·. Vortrag, Kleingruppenarbeit, Brainstorming, Mindmapping, Plenumsdiskussion und Protokoll Arbeitsauftrag·. Vorbereitung der Arbeitstexte 3 (Kreckel) und 4 (Esser)

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Lehrplan

3. Sitzung - Wie kommunizieren wir wissenschaftlich über soziale Wirklichkeit? Einfuhrung in die Formen des Argumentierens (2.2.) Bearbeitung und Diskussion der Arbeitstexte 3 und 4 in Auseinandersetzung mit dem Arbeitstext 2

Arbeitsformen: Vortrag, Kleingruppenarbeit, Plenumsdiskussion und Protokoll

Arbeitsauftrag·.

Vorbereitung des Arbeitstextes 5 (Nassehi)

4. Sitzung - Wissenschaftlicher Streit Bearbeitung und Diskussion des Arbeitstextes 5 in Auseinandersetzung mit den Arbeitstexten 2, 3 und 4

Arbeitsformen·. Kleingruppenarbeit, Plenumsdiskussion und Protokoll

Arbeitsauftrag·. Bibliotheksexkursion (möglichst unter Anleitung eines Bibliothekars, einer Bibliothekarin) 5. Sitzung - Soziologie und theoretische Forschung Vorstellung der Arbeitstechniken 3.3. „Literatur recherchieren" und 3.5. „Referieren" Erörterung des Stellenwerts der theoretischen Forschung (2.3.) Verteilung der Einführungsreferate zu den Sitzungen 6 und 7

Arbeitsformen·. Vortrag und Protokoll

Arbeitsauftrag·. Vorbereitung des Arbeitstextes 6 (Durkheim)

Lehiplan

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6. Sitzung - Theorie- und Textarbeit I Einfuhrungsreferat „Emile Durkheim: Person und Werk" Formale und inhaltliche Kritik des Referats Bearbeitung und Diskussion des vorbereiteten Arbeitstextes 6

Arbeitsformen·. Referat, Referatskritik, Kleingruppenarbeit, Plenumsdiskussion und Protokoll

Arbeitsauftrag-. Vorbereitung des Arbeitstextes 7 (Weber) 7. Sitzung - Theorie- und Textarbeit II Einfuhrungsreferat „Max Weber: Person und Werk" Formale und inhaltliche Kritik des Referats Bearbeitung und Diskussion des vorbereiteten Arbeitstextes 7

Arbeitsformen·. Referat, Referatskritik, Kleingruppenarbeit, Plenumsdiskussion und Protokoll

Arbeitsauftrag·. Nachbereitung der Arbeitstexte 6 (Durkheim) und 7 (Weber) 8. Sitzung - Theoriediskurs Gegenüberstellung der erarbeiteten theoretischen Konzeptionen der Arbeitstexte 6 und 7 als exemplarischer Theoriediskurs Zwischenresümee der ersten Semesterhälfte Vorstellung der Arbeitstechniken 3.7. „Schriftliche Arbeiten verfassen" und 3.6. „Zitieren"

Arbeitsformen·. Kleingruppenarbeit, Plenumsdiskussion, Vortrag und Protokoll

Arbeitsauftrag·.

Entwicklung einer soziologischen Fragestellung

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Lehrplan

9. Sitzung - Entwicklung einer soziologischen Fragesteilung Präsentation und Diskussion der entwickelten Fragestellungen Vorstellung der Arbeitstechnik 3.8. „Der wissenschaftliche Essay" Arbeitsformen: Individuelle Kurzreferate, Plenumsdiskussion, Vortrag und Protokoll Arbeitsauftrag·. Verfassen eines wissenschaftlichen Essays über die entwickelte Fragestellung 10. Sitzung - Soziologie und empirische Forschung I Erörterung des Stellenwerts empirischer Forschung und ihrer Grundregeln, Vorstellung exemplarischer Methoden (2.4.) Vorstellung der Arbeitstechnik 3.8. „Datenquellen erschließen" Arbeitsformen·. Vortrag, Plenumsdiskussion und Protokoll Arbeitsauftrag·. Vorbereitung der Arbeitstexte 8 und 9 (beide Thomas und Znaniecki) 11. Sitzung - Soziologie und empirische Forschung Π Bearbeitung und Diskussion der Arbeitstexte 8 und 9 hinsichtlich der Verknüpfung von Theorie und Empirie in der exemplarischen Studie Bildung von Projektgruppen zur Entwicklung von empirischen Forschungsprojekten auf der Basis einiger in den Essays bearbeiteter Fragestellungen Arbeitsformen·. Kleingruppenarbeit, Plenumsdiskussion und Protokoll Arbeitsauftrag·. Durchftihrung eines (kleinen) empirischen Forschungsprojekts

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12. Sitzung - Empirische Analyse eines sozialen Tatbestandes Präsentation und Diskussion der realisierten empirischen Projekte und Erörterung der aufgetretenen forschungstheoretischen und forschungspraktischen Probleme

Arbeitsformen: Gruppenreferate, Plenumsdiskussion und Protokoll

Arheitsauftrag·.

Vorbereitung des Arbeitstextes 10 (Bourdieu)

13. Sitzung - Vom Nutzen der Soziologie Erörterung des Praxisbezugs soziologischer Analyse (2.5.) Diskussion über den Nutzen der Soziologie ausgehend vom vorbereiteten Arbeitstext 10 und unter dem Einbezug weiterer Standpunkte

Arbeitsformen: Kleingruppenarbeit, Plenumsdiskussion und Protokoll 14. Sitzung - Veranstaltungsfeedback Fortsetzung der Diskussion über den Nutzen der Soziologie Rückblick auf das erste Fachsemester, Formulierung bestätigter und veränderter Erwartungen im Hinblick auf die dokumentierten Ergebnisse der ersten Sitzung Veranstaltungskritik

Arbeitsformen: Plenumsdiskussion

Weiterführende Literatur

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Weiterfuhrende Literatur Fachzeitschriften zur ersten Orientierung BJS

Berliner Journal für Soziologie. Opladen: Leske + Budrich.

Das Argument

[Zeitschrift fìir Philosophie und Sozialwissenschaften]. Hamburg, Berlin: Argument-Verlag.

KZfSS

Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.

Leviathan

[Zeitschrift fìir Sozialwissenschaft]. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Sociological abstracts

Soziale Welt

[Referat internationaler Fachveröflfentlichungen], San Diego, Kalifornien: American Sociological Association et al. [Zeitschrift fìir sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis], Baden-Baden: Nomos-Verl.-Ges.

Sozialwissenschaft und Berufspraxis

[Hrsg. Vom berufsverband Deutscher Soziologen]. Leverkusen: Leske + Büderich.

Soziologie

[Mitteilungsblatt der Deutschen Gesellschaft fìir Soziologie]. Opladen: Leske + Budrich.

Weiterführende Literatur

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Soziologische Revue

[Besprechungen neuer Literatur]. München: Oldenbourg.

ZfS

Zeitschrift &r Soziologie. Stuttgart: Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH.

1. Einführungen in die Soziologie Abels, Heinz (2001): Ein&hrung in die Soziologie. Grundbegriffe, Themen, Theorien (2 Bände), Opladen: Westdeutscher Verlag. Afshar, Farhad (1990): Der Kampf mit dem Drachen: Anleitung zur Sozio-Logie, Stuttgart: Metzler. Bellers, Jürgen; Schulte, Peter (1998): Einfuhrung in die Sozialwissenschaften: Grundlagen menschlichen Handelns, Münster: Lit-Verlag. Berger, Peter L.; Berger, Brigitte (1969): Wir und die Gesellschaft: eine Einfuhrung in die Soziologie - entwickelt an der Alltagserfahrung, Reinbek: Rowohlt. Ciaessens, Dieter; Tyradellis, Daniel (1997): Konkrete Soziologie: eine verständliche Einfuhrung in soziologisches Denken, Opladen: Westdeutscher Verlag. Essbach, Wolfgang (1996): Studium Soziologie, München: Fink. Henecka, Hans Peter (1999): Grundkurs Soziologie, Opladen: Leske + Budrich, Nebelung, Andreas (1994): Soziologie als Reise: 14 Vorlesungen zur Einführung in das soziologische Denken, Pfimgstadt: Edition Ergon. Rieder, Jonny; Röbkers, Axel (1995): Einblick in das Studium der Soziologie: Studenten vermitteln Inhalte ihres Fachs, München: OPSVerlag.

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Weiterführende Literatur

2. Einführungen in soziologische Denkweisen und Theorien Arbeitsgruppe Soziologie (1999): Denkweisen und Grundbegriffe der Soziologie: eine Einfuhrung, Frankfurt am Main: Campus. Bahrdt, Hans Paul (1999). Schlüsselbegriffe der Soziologie: Eine Einfuhrung mit Lehrbeispielen, München: Beck. Berger, Peter L. (1982): Einladung zur Soziologie: eine humanistische Perspektive, München: dtv. Büschges, Günter; Abraham, Martin; Funk, Walter (1998): Grundzüge der Soziologie, München: Oldenbourg. Elias, Norbert (1993): Was ist Soziologie?, Weinheim: Juventa-Verlag. Esser, Hartmut (1999): Soziologie: Allgemeine Grundlagen, 3. A u f , Frankfurt am Main: Campus. Giddens, Anthony (1999): Soziologie, 2. Aufl., Graz; Wien: Nausner & Nausner. Joas, Hans (2001): Lehrbuch der Soziologie, Frankfurt am Main: Campus. Kiss, Gabor (1977): Einfuhrung in die soziologischen Theorien. Vergleichende Analyse soziologischer Hauptrichtungen, Opladen: Westdeutscher Verlag. Körte, Hermann (1993): Einfuhrung in spezielle Soziologien, Opladen: Leske + Budrich Körte, Hermann; Schäfers, Bernhard: (2000)' Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie, 5. Aufl., Opladen: Leske + Budrich. Körte, Hermann (2000): Einfuhrung in die Geschichte der Soziologie, Opladen: Leske + Budrich. Körte, Hermann (2001): Soziologie im Nebenfach. Eine Einführung, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz. Mikl-Horke, Gertraude (2001): Soziologie: Historischer Kontext und soziologische Theorie-Entwürfe, 5. Aufl., München: Oldenbourg.

Weiterführende Literatur

-171 -

Mills, C. Wright (1963): Kritik der soziologischen Denkweise, Neuwied: Luchterhand Ritsert, Jürgen (2000): Gesellschaft: ein unergründlicher GrrundbegrifF der Soziologie, Frankfurt am Main: Campus. Ruggiero, Vincent R. (1996): A Guide to sociological thinking, London: Sage. Schülein, Johann August; Brunner, Karl-Michael (2001): Soziologische Theorien: eine Einfuhrung für Amateure, Wien: Springer. Treibel, Annette (2000): Einfuhrung in soziologische Theorien der Gegenwart, 5. Aufl., Opladen: Leske + Budrich. 3. Lern- und Arbeitstechniken 3.1. Allgemein

Büß, Eugen et al. (1994): Kompendium für das wissenschaftliche Arbeiten in der Soziologie, 4. Aufl., Heidelberg: Quelle & Meyer Gressmann, Markus et al. (1999): Präsentation mit elektronischen Medien, Künzell: Neuland-Verlag für lebendiges Lernen Junne, Gerd (1992): Kritisches Studium der Sozialwissenschaften: Eine Einführung in Arbeitstechniken, 3. Aufl., Stuttgart: Kohlhammer. Meehan, Eugene J. (1992): Praxis des wissenschaftlichen Denkens: Ein Arbeitsbuch für Studierende, Reinbek: Rowohlt. Pabst-Weinschenk, Marita (1999): Reden im Studium: Ein Trainingsprogramm, 2. Aufl., Berlin: Cornelsen Scriptor. Peterßen, Wilhelm H. (1999): Wissenschaftliche(s) Arbeiten: eine Einfuhrung für Schüler und Studenten (Lemmaterialien), 6. Aufl., München: Ehrenwirth. Preißner, Andreas (1998):Wissenschaftliches Arbeiten, 2. Aufl., München: Oldenbourg.

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Weiterführende Literatur

Rückriem, Georg; Stary, Joachim; Franck, Norbert (1997): Die Technik wissenschaftlichen Arbeitens: Eine praktische Anleitung, 10. Aufl., Paderborn: Schöningh. Rüdiger, Jacob (1997): Wissenschaftliches Arbeiten: eine praxisorientierte Einführung für Studierende der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Opladen: Westdeutscher Verlag. Standop, Ewald; Meyer, Matthias L. G. (1998): Die Form der wissenschaftlichen Arbeit, 15. Aufl.; Heidelberg: Quelle & Meyer. Zielke, Wolfgang (1988): Handbuch der Lem-, Denk- und Arbeitstechniken, Landberg am Lech: mvg-Verlag.

3.2. Texte lesen und schreiben

Albrecht, Ralf; Nicol, Natascha (1994): Literaturverwaltung in Studium und Beruf Düsseldorf: ECON Taschenbuch-Verlag. Bänsch, Axel (1999): Wissenschaftliches Arbeiten: Seminar- und Diplomarbeiten, 7. Aufl., München: Oldenbourg. Becker, Howard S. (2000): Die Kunst des professionellen Schreibens: Ein Leitfaden für die Geistes- und Sozialwissenschaften, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Campus. Bünting, Karl-Dieter; Bitterlich, Axel; Pospiech, Ulrike (2000): Schreiben im Studium: mit Erfolg. Ein Leitfaden, Berlin: Comelsen Scriptor. Eco, Umberto (1993): Wie man eine wissenschaftliche Abschlußarbeit schreibt, 8. Aufl., Heidelberg: Müller. Franck, Norbert (1998): Fit furs Studium: erfolgreich lesen, reden, schreiben, München: Dtv. Göttert, Kari-Heinz (1999): Kleine Schreib schule für Studierende, München: Fink. Haefner, Klaus (2000): Gewinnung und Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse: insbesondere für universitäre Studien-, Staatsexamens-, Diplom- und Doktorarbeiten, München, u.a.: Oldenbourg.

Weiterführende Literatur

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Krämer, Walter (1999): Wie schreibe ich eine Seminar- oder Examensarbeit?, Frankfurt am Main: Campus. Kruse, Otto (2000): Keine Angst vorm leeren Blatt - Ohne Schreibblockaden durchs Studium, 8. Aufl., Frankfurt am Main: Campus. Lück, Wolfgang (2001): Technik des wissenschaftlichen Arbeitens: Seminararbeit, Diplomarbeit, Dissertation, 8. bearb. Aufl., München, u.a.: Oldenbourg. Narr, Wolf-Dieter (1999): Lust und Last des wissenschaftlichen Schreibens: Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer geben Studierenden Tips, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Poenicke, Klaus (1988): Duden: Wie verfaßt man wissenschaftliche Arbeiten?: ein Leitfaden vom ersten Studiensemester bis zur Promotion, 2. Aufl., Mannheim: Dudenverlag. Richlin-Klonsky, Judith; Giarrusso, Roseann (2001): A guide to writing sociology papers, 5. Aufl., New York: St. Martin's Press. Schmale, Wolfgang (Hrsg.) (1999): Schreib-Guide Geschichte: Schritt fur Schritt wissenschaftliches Schreiben lernen, Wien: Böhlau Werder, Lutz v. (1993): Lehrbuch des wissenschaftlichen Schreibens: Ein Übungsbuch für die Praxis, Berlin: Schibri-Verlag.

3.3. Prüfungen und Zeitmanagement

Dietze, L. (1999): Mündlich: ausgezeichnet - Informationen, Tipps und Übungen fur ein optimales Examen, Berlin: Comelsen Scriptor. Knigge-Illner, H. (1999): Keine Angst vor Prüfungsangst, Frankfurt am Main: Eichborn. Koeder, Kurt W. (1998): Studienmethodik: Selbstmanagement fur Studienanfänger, 3. Aufl., München: Vahlen.

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Weiterfuhrende Literatur

3.4. Computer und Internet

Stegbauer, Christian; Tiedemann, Paul (1999): Internet fur Soziologen: eine praxisorientierte Einfuhrung, Darmstadt: Primus. 4. Studium und Praktikum Artus, Helmut M.; HerfUrth, Matthias (Hrsg.) (1996): Soziologielehre in Deutschland: Lehre, Studium, beruflicher Verbleib, Lehrangebot, Studien- und Prüfungsordnungen, Opladen: Leske + Budrich. Henniger, Wolfgang (1993): Uni-Start: Orientierungsbuch für Studienanfänger, 5. Aufl., Frankfurt am Main: Comelsen Verlag Scriptor. Herrmann, D. et al. (Hrsg.) (2000): Handbuch der Wissenschaftspreise und Forschungsstipendien, Lampertheim: Alpha-Verlag. Hoffmann, Rainer-W.; Rüb, Stefan (Hrsg.) (1996): Sozialwissenschaften - wo, wie und was dann? Alles Wissenswerte zu Studieninhalten, Studienaufbau und Studienpraxis. Aktuelles zu Beruf und Arbeitsmarkt, Neuried: ars una. Körte, Hermann; Schäfers, Bernhard (1997): Einfuhrung in Praxisfelder der Soziologie, 2. Aufl., Opladen: Leske + Budrich. Kroll, Ekkehard; Setz, Kurt H. (1997): Zu Hause in Europa: ein Ratgeber fur: Ausbildung, Studium, Beruf, Freizeit im vereinten Europa; Möglichkeiten, Praxis und Alltag, Adressen, Programme, 2. Aufl., Köln: Omnia-Verlag. Nohr, Barbara (Hrsg.) (2000): Kritischer Ratgeber Wissenschaft, Studium, Hochschulpolitik, Marburg: BdWI-Vertag Sydow, Momme von et. al. (1999): Handbuch Studium und Praktikum im Ausland, Frankfurt am Main: Eichborn.

Weiterfuhrende Literatur

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5. Studienalltag Dichtl, Erwin (1998): So finanziere ich mein Studium!: der Ratgeber fur alle Fachrichtungen, Wiesbaden: Gabler. Kruse, Otto (1998): Handbuch Studieren: von der Einschreibung bis zum Examen, Frankfurt am Main: Campus. Rückert, Hans-Werner (1999): Schluss mit dem ewigen Aufschieben: Wie Sie umsetzen, was Sie sich vornehmen, Frankfurt am Main: Campus. Verse-Herrmann, Angela; Herrmann, Dieter (1999): So finanziere ich mein Hochschulstudium: Stipendien, Förderprogramme, Unterstützungsmöglichkeiten für Studierende, Frankfurt am Main: Eichborn. Wagner, Wolfgang (1992): Uni-Angst und Uni-Bluff, Berlin: Rothbuch - Verlag.

6. Beruf Das ganze Umfeld von Studium und Arbeitsmarkt und auch der Vergleich der Arbeitsmarktchancen der sozialwissenschaftlichen mit anderen Studienrichtungen erschließt sich in den Informationsmaterialien der Bundesanstalt für Arbeit. Die Hefte des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit: Akademiker/innen - Studium und Arbeitsmarkt, Sonderserie in der Reihe „Materialien aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung" (Mat AB 1.0 - 1.7/1998), sind im Volltext als PDF-files (lesbar mit Acrobat Reader) aus dem Internet herunterzuladen (http://www.iab.de/ matabl.htm), oder anzufordern bei der Zentralstelle für Arbeitsvermittlung der Bundesanstalt für Arbeit, Arbeitsmarktinformationsstelle, Feuerbachstraße 42-46, D-60325 Frankfurt am Main; e-mail: [email protected]: Parmentier, Klaus, Schade, Hans-Joachim; Schreyer, Franziska (1998): Studium und Arbeitsmarkt im Überblick, Materialien aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Nr. 1.7/1998, und:

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Weiterführende Literatur

Parmentier, Klaus; Schade, Hans-Joachim; Schreyer, Franziska (1998): Gesellschaft und Soziales, Materialien aus der Arbeitsmarktund Berufsforschung Nr. 1.4/1998.

Gleiser, Sigmar (1997): Studium und Arbeitsmarkt : Hochschulabsolventen an der Schwelle zu neuen Arbeitsformen, Frankfurt am Main: Zentralstelle für Arbeitsvermittlung

In den folgenden Zeitschriften erscheinen außerdem regelmäßig Informationen über den Arbeitsmarkt für Soziologen/Sozialwissenschaftler. Übrigens: Nur eine Minderheit der Stellenvermittlungen erfolgt durch die Fachvermittlungsdienste der Bundesanstalt für Arbeit, Sozialwissenschaftler kommen überwiegend über informelle Kanäle (z.B. durch Kontakte, die bereits während eines Praktikums entstanden sind) oder über Stellenausschreibungen in der Presse zu ihren Arbeitsstellen: Berufsverband Deutscher Soziologen e. V. (Hrsg.): Sozialwissenschaften und Berufspraxis. Bundesanstalt fiir Arbeit (Hrsg.): UNI Magazin - Perspektiven für Beruf und Arbeitsmarkt.