Wissenschaft und Verantwortung [Reprint 2020 ed.] 9783110870794, 9783110050219

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Wissenschaft und Verantwortung [Reprint 2020 ed.]
 9783110870794, 9783110050219

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UNIVERSITÄTSTAGE 1962 VERÖFFENTLICHUNG DER FREIEN U N I V E R S I T Ä T BERLIN

WISSENSCHAFT UND VERANTWORTUNG

W A L T E R D E G R U Y T E R & CO. /

BERLIN

VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG • J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG • GEORG REIMER • KARL J. TRÜBNER • VEIT & COMP

19 62

Archiv-Nr. 3601621 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. O h n e ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokie, Mikrokopie) zu vervielfältigen.

INHALTSVERZEICHNIS WILHELM WEISCHEDEL:

Grenzen des kritischen Fragens?

5

BERNHARD W E L T E :

Credo ut intelligam als theologisches P r o g r a m m heute

16

HERMANN DIEM:

Die Bibel als N o r m der Theologie HANS

31

WENKE:

Die Erziehungswissenschaft — Spiegel oder Wegweiser der modernen Gesellschaft?

42

H A N S JUNECKE:

Gegenwartskunst und Kunstgeschichte

60

PETER SZONDI:

Z u r Erkenntnisproblematik in der Literaturwissenschaft H A N S F R H . VON

73

KRESS:

Ärztliche Verantwortung in der Therapie

92

H E L M U T SELBACH:

D e r Arzt zwischen Wahrheit und Fürsorge

104

G E O R G SÜSSMANN:

Grenzen und Schranken der physikalischen Erkenntnis

114

KONRAD LITTMANN:

Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftspolitik

132

ARMIN KAUFMANN:

Probleme rechtswissenschaftlichen Erkennens am Beispiel des Strafrechts

145

JÜRGEN HABERMAS:

Von den kritischen und konservativen Aufgaben der Soziologie . . . .

157

REINHARD ELZE:

Krise der Geschichtswissenschaft?

172

P . R . HOFSTÄTTER:

Die Selbstdeutung des Menschen in der modernen Gesellschaft . . . .

187

G R E N Z E N DES K R I T I S C H E N FRAGENS? Von

WilhelmWeischedel

Von der W i s s e n s c h a f t und ihrer

Verantwortung

Im Gesamtthema der Universitätstage dieses Jahres sind zwei Hauptworte durch ein „und" miteinander verkoppelt: „Wissenschaft" und „Verantwortung". Wenn diese beiden Begriffe ausdrücklich miteinander in Beziehung gebracht werden, und wenn demgemäß jenes „und" eigens zum Gegenstand der Besinnung gemacht wird, dann zeigt sich darin: wie sich Wissenschaft und Verantwortung zueinander verhalten, ist nicht selbstverständlich, sondern des Fragens wert. Was aber steht in dieser Frage eigentlich infrage? Was ist das Fragwürdige im Verhältnis von Wissenschaft und Verantwortung? Und zuvor: Was ist überhaupt „Wissenschaft", und was ist „Verantwortung"? Was Wissenschaft ist, ist seit ihrer Entstehung bei den Griechen der Gegenstand unendlichen Nachdenkens. Es wäre daher vermessen, wollte ich mich anheischig machen, in wenigen Sätzen ihr Wesen zu entfalten. Das ist aber auch in der Situation, in der wir uns befinden, nicht erforderlich. In einem Hörsaal einer Universität kann ich an das appellieren, was uns allen, wenn auch in je verschiedenem Grade, bekannt und vertraut ist. Wissenschaft ist, was uns, die wir sie treiben und die wir von ihr getrieben werden, den Namen und die verpflichtende Bestimmung gibt, worum wir uns im studentischen und professoralen Alltag mühen, was wir mehr oder minder zulänglich, aber niemals ausreichend verwirklichen. Im Gegensatz zum Begriff der Wissenschaft ist der Begriff der Verantwortung eingehender zu bedenken; sie liegt nicht so eindeutig als Faktum vor Augen wie jene. Im Wort „Verantwortung" steckt zum ersten das Moment des Antwortens; wer sich verantwortet, antwortet. Wer aber antwortet, ist zuvor gefragt. Entscheidend für die Verantwortung ist die Frage, die zur Antwort herausfordert. Die Antwort der Verantwortung ist zum zweiten von der Art, daß, wer sie gibt, sich selber in sie mit hineinnimmt. Verantwortung ist sieb verantworten. Audi wer eine Schuld zu verantworten hat, verantwortet immer sich, den Schuldigen dieser Schuld. Zum dritten gehört zum Wesen der Verantwortung, daß, wer sich verantwortet, sich ganz in seine Antwort hineinbegibt. Das drückt sich in der Vorsilbe „ver-" aus. Was verbrennt, geht ganz und ohne Rest 5

in das Brennen ein; was versinkt, sinkt ganz und bis zum Grunde hinab. Verantwortung ist zum vierten Verantwortung für etwas. Das kann das Verschiedenste sein, je nach der konkreten Situation, in der ich mich befinde. Dem genaueren Zusehen zeigt sich jedoch: wofür ich verantwortlich bin, bin zuletzt ich selber. Auch wo ich die Verantwortung dafür übernehme, daß die Studenten in der rechten Weise denken lernen, trage ich im Grunde die Verantwortung für mich selber: daß ich nämlich diese Aufgabe recht erfülle. Ist nun von der Verantwortung der Wissenschaft — und das heißt zugleich: von der Verantwortung derer, die Wissenschaft treiben — die Rede, dann geht es nach dem Gesagten darum, daß sie selber, und zwar als ganze, zu antworten hat. In der Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Verantwortung wird es mit der Existenz der Wissenschaft und der Wissenschaftler ernst. U n d doch ist, wenn die Verantwortung lediglich in sich selber betrachtet wird, noch nicht die volle Tiefe des Ernstes erreicht. Die Verantwortung weist über sich hinaus auf die Frage, die ihr Antworten herausfordert. Verantwortung ist wesenhaft Verantwortung vor dem, was sie infragestellt. Das entscheidende Problem in dem Thema „Wissenschaft und Verantwortung" betrifft also die Frage, die die Wissenschaft letztlich in die Verantwortung ruft und in die Verantwortung rufen darf: das Wovor der Verantwortung. V o m Wesen des

kritischen.Fragens

Mit der Frage nach dem Wovor der Verantwortung stehen wir mitten in dem besonderen Thema dieses einleitenden Vortrages. Das Fragezeichen in der Formulierung „Grenzen des kritischen Fragens?" bedeutet: welches ist die Frage, vor der die Wissenschaft verantwortlich ist; worauf hat sie selber ganz und ohne Rückhalt zu antworten? Daß dies das entscheidende Problem ist, geht aus einer Überlegung über den Sinn des Ausdrucks „Grenzen des kritischen Fragens" hervor. Was zunächst das kritische Fragen angeht, so ist festzustellen: es ist das Element, in dem die Wissenschaft lebt. Diese vollzieht sich von ihrem Ursprung her und aus ihrem Wesen heraus als Fragen; sie fragt, ob das, was sich zeigt, so ist, wie es sich zeigt, und ob es überhaupt ist. Kritisch ist das Fragen der Wissenschaft, sofern sie — der griechischen Wortbedeutung entsprechend — scheidet: dasjenige nämlich, was sich in ihrem Fragen als wahr bewährt, von demjenigen, was sich darin als unwahr erweist. Die eigentliche Problematik liegt in dem Ausdruck „Grenze". Eine Grenze hat ihr Wesen darin, daß sie das Gebiet einschränkt, in dem man sich bewegen kann, und daß sie dem Vordringen über dieses 6

Gebiet hinaus H a l t gebietet. Nun kann es sich, wenn man das im Thema liegende Problem ernst nimmt, nicht um irgendwelche zufälligen Grenzen handeln, die man mehr oder minder leicht verschieben oder gar beseitigen könnte. Es geht vielmehr um die wesenhaften Grenzen des kritischen Fragens. Diese nun — gesetzt, es gäbe sie — haben als einsdiränkende und Einhalt gebietende über das, was sie begrenzen, Macht. Wesenhafte Macht aber über ein Fragen hat nur, was dieses selber fraglich macht. Grenzen des kritischen Fragens sind demnach fraglich machende Mächte, Einhalt gebietende Instanzen, Ansprüche, vor denen es zum Schweigen kommen soll. Eben das ist das W o v o r des kritischen Fragens. Aus dem Gesagten ergeben sich folgende Fragen: 1. Gibt es Mächte, die das kritische Fragen einschränken? U n d wenn es solche gibt, worin gründet ihr Anspruch auf Begrenzung? 2. Ist das kritische Fragen in Wahrheit grenzenlos? Und wenn es das zu sein beansprucht, worin gründet sein Anspruch? 3. Muß das kritische Fragen, selbst wenn es sich gegen eine äußere Begrenzung wehrt, aus seinem Wesen heraus sich selber Grenzen setzen? U n d worin bestehen — gesetzt, es gäbe sie — diese seine inneren Grenzen? Von den g r e n z s e t z e n d e n

Mächten

G i b t es also Grenzen, die dem kritischen Fragen von außen her gesetzt werden? In der T a t : wir erfahren es alle Tage, wie die verschiedenartigsten Mächte den Anspruch erheben, das kritische Fragen in die Verantwortung zu rufen: die religiösen Mächte, insbesondere die Kirchen; die politischen Mächte, vor allem der Staat; die Gesellschaft mit ihren mannigfachen Geboten und ihren vielfältigen Tabus. Es scheint sogar, als gehöre es zum Wesen dieser Mächte, das kritische Fragen in Schranken halten zu müssen. W e r ernstlich überzeugt ist, daß die Gewißheit des Glaubens alle anderen Gewißheiten übersteigt, — wie könnte der zulassen, daß dieses Fundament aller Fundamente kritisch unterhöhlt wird? W e r den Staat und die politischen Prinzipien, auf denen dieser ruht, für absolute Werte hält, — wie könnte der untätig zusehen, wenn die kritische Frage diese in Zweifel zieht? Wer bestimmte Auffassungen darüber, was in der Gesellschaft das Schickliche ist, als unbedingt verpflichtend betrachtet, — wie könnte der dulden, daß sie von der Zudringlichkeit des kritischen Fragens angetastet werden? Das sei am Beispiel der religiösen Mächte eingehender erörtert. Daß deren Anspruch an das kritische Fragen von besonderem Gewicht ist, zeigt die Tatsache, daß die Auseinandersetzung mit ihnen die Geschichte der Wissenschaft und der Philosophie von ihren Anfängen an

7

bis heute durchzieht. Das beginnt mit den Gotteslästerungsprozessen gegen einige der frühen Philosophen des Abendlandes: gegen Anaxagoras, gegen Sokrates, gegen Aristoteles. Es setzt sich im Mittelalter f o r t : im Kampf gegen die Ketzer unter den Denkern, wie im Mißtrauen gegen das mit der Wiederentdeckung des Aristoteles neu aufbrechende kritische Fragen. Selbst Thomas von Aquino, heute der kaum bestrittene Beherrscher der offiziellen katholischen Doktrin, entgeht nicht dem Schicksal, von kirchlichen Dekreten verurteilt zu werden. Ganz zu schweigen von den Mystikern, diesen stets verdächtigen Verkündern einer tieferen Erfahrung. Der Kampf verschärft sich in der Neuzeit. Der erzwungene Widerruf Galileis, die Hinrichtung Giordano Brunos, der zornige Eifer Luthers gegen Erasmus, die Verbrennung Servets durch Calvin sind beredte Zeugen der Unterdrükkung des kritischen Fragens durch die kirchlichen Autoritäten. Descartes wird von katholischen und protestantischen Synoden verurteilt, Lessing muß die Angriffe des Hauptpastors Götze erdulden, die „Kritik der reinen Vernunft" wird in den Index librorum prohibitorum aufgenommen. U n d heute? Die päpstliche Enzyklika „Humani generis" verbietet in weiten Bereichen die freie Forschung, gegen Rudolf Bultmanns Versuch einer Entmythologisierung der christlichen Verkündigung erhebt sich eine eifervolle kirchliche Polemik. Am Ende schließt sich der Ring auf eine hintergründige Weise. Die Gotteslästerungsprozesse, mit denen der Kampf der religiösen Mächte gegen das kritische Fragen begonnen hatte, finden auch im J a h r e 1961 noch ihre Fortsetzung. Aber das sind doch offensichtlich besonders krasse Fälle, die nicht verallgemeinert werden dürfen. Hier mag tatsächlich Unrecht geschehen. Man wird jedoch einwenden können, an diesen Punkten hätten die kirchlichen Gewalten ihre Kompetenzen überschritten, und das geschehe glücklicherweise selten. Doch mit einer solchen Argumentation geriete die Problematik auf eine allzu äußerliche Ebene. Was als bedauerlicher Mißgriff der religiösen Mächte erscheint, ist in Wahrheit nur der extreme Fall eines durchgängigen und grundsätzlichen Mißtrauens gegen die Eigenmacht des kritischen Fragens. Umgekehrt würde der Streit auch dann unzulässigerweise bagatellisiert, wenn man übersähe, daß sich hinter der Abwehr des kritischen Fragens eine höchst berechtigte Sorge der religiösen Mächte verbirgt: daß die wesentlichen Erfahrungen des Glaubens schutzlos dem tödlichen Angriff der Skepsis preisgegeben würden. Besitzt auch der Glaube eine eigene Wahrheit — und wer wollte das bestreiten? —, wie sollte man ihm dann den Beistand versagen, dessen er bedarf? Erfordert nicht die verletzliche Innerlichkeit des Glaubens, daß alles getan werde, sie unangreifbar zu machen? M ü ß t e man sich also nicht damit begnü8

gen, die Auswüchse des Kampfes der religiösen Mächte gegen das kritische Fragen zu vermeiden, im übrigen aber diesen das grundsätzliche und in ihrem Wesen gegründete Recht zusprechen, das kritische Fragen abzuweisen. Von der G r e n z e n l o s i g k e i t des k r i t i s c h e n F r a g e n s und vom d i a l e k t i s c h e n W i d e r s t r e i t mit den grenzsetzenden Mächten Kann aber in einer solchen Bestimmung des Verhältnisses von Glauben und kritischem Fragen dieses noch bleiben, was es vom Wesen her ist? Dies Problem sei am Beispiel Galileis erörtert. Seine Forschungen hatten ihn zu der Einsicht in die Unhaltbarkeit des überlieferten aristotelischen Weltbildes geführt. Dagegen wandten sich die kirchlichen Autoritäten, zugestandenermaßen aus einer von ihrem Gesichtspunkt her berechtigten Sorge. N u r das aristotelische Weltbild mit seiner Behauptung, die Erde ruhe im Mittelpunkt des Kosmos, schien zu gewährleisten, daß das Erscheinen des Gottessohnes seine zentrale Bedeutung behalten könne; denn was müßte das für ein wunderlicher Gott sein, der sich in einem entlegenen Winkel des Weltalls gebären ließe? Die Frage ist nun: konnte sich Galilei als der, der er war, dem fügen? Mußte er gar aus Ehrfurcht vor den kirchlichen Mächten und zuletzt vor dem Wahrheitsanspruch des Glaubens auf sein kritisches Fragen verziditen? Sie wissen, wie er sich entschieden hat: im Äußeren zwar hat er sich gebeugt; im Innern aber konnte er nicht nachgeben. Er wußte: die Anerkennung der von außen her gesetzten Grenze hätte sein kritisches Fragen vernichtet, und damit auch den Boden, der ihm als dem Verschworenen der Wissenschaft allein Stand gewähren konnte. Die Abweisung äußerer Grenzsetzung geht aus dem Wesen des kritischen Fragens selber hervor. Wie kann denn der kritisch Fragende zu einer Antwort gelangen, in der sein Fragen wahrhaft zur Ruhe kommt? Sicher nicht, wenn ihm das Fragen abgeschnitten wird; eine solche Antwort wäre keine Antwort für den Fragenden als Fragenden. Eine Grenze könnte ihm, wenn überhaupt, höchstens in einer solchen Antwort gesetzt werden, auf die er stieße, nachdem er zuvor sein Fragen sich hat voll auswirken lassen. Tritt ihm aber auf seinem Wege eine Instanz entgegen, die ihn nötigen will, sein Fragen vorzeitig abzubrechen oder gar überhaupt nicht in Gang zu setzen, dann kann die von einer solchen Instanz gesetzte Grenze nur äußerlich sein. Eine äußerliche Grenze anerkennen aber hieße: dem kritischen Fragen überhaupt entsagen. Das kritische Fragen ist also aus seinem Wesen heraus unbegrenzt. 9

Es ist vielleicht das einzige Grenzenlose im rings begrenzten Dasein des Menschen. Es ist — um es in der Sprache der Philosophischen Theologie auszudrücken — die einzige Weise, in der der endliche Mensch an der Grenzenlosigkeit der Gottheit teilhat. Was Galilei erfahren hat, merken auch wir, wenn wir ernstlich Wissenschaft treiben und dabei wissen, was wir tun. Wo wir auf unser Fragen verzichten, weil uns eine als unverletzlich ausgegebene Grenze entgegengesetzt wird, spüren wir, wie unser wissenschaftliches Tun erlahmt und erstickt. Lebendig bleibt die Wissenschaft nur, wenn sie dem Gesetz des kritischen Fragens treu bleibt, unter dem ihr Wesen steht. Wo also die religiösen Mächte dem kritischen Fragen von außen her Grenzen setzen wollen, vermögen sie das nur um den Preis dessen, daß dieses sich selber aufgibt. Das Gleiche gilt umgekehrt: solange das kritische Fragen nicht seinem eigenen Wesen entsagt, kann es keine Grenze anerkennen, die ihm die religiösen Mächte vorschreiben wollen. Aber wenn ich hier den N a m e n Galilei nenne, rede ich dann nicht von Problemen, die doch längst entschieden sind? Keineswegs. Ich erwähnte Beispiele, an denen sich der Grenzstreit auch heute noch entzündet: die Enzyklika „Humani generis", den Kampf gegen die Entmythologisierung, die Anklagen wegen Gotteslästerung. Vor allem aber kann nicht übersehen werden, daß die gleiche Problematik heute im Felde des Politischen in äußerster Dringlichkeit auftritt. In ihrer ganzen Schärfe in den totalitären Staaten. Aber spürbar doch auch in denjenigen Gebieten der Erde, die sich der Freiheit verschrieben haben. Wer etwas davon erfahren hat, der weiß, wie wenig das kritische Fragen Aussicht hat, ungestört seinen Gang gehen zu können, wenn es sich auf die jeweils aktuelle Politik oder gar auf deren weltanschauliche Prinzipien richtet. U n d doch gibt es auch hier nur eine einzige Alternative: entweder das kritische Fragen beschränkt sich gehorsam innerhalb der ihm von außen her gesetzten Grenze; dann aber gibt es sich selber auf. Oder aber es beharrt auf seinem Wesen; dann muß es erleiden, was unser Jahrhundert denjenigen zu bereiten pflegt, die sich der Radikalität des Fragens verschrieben haben: Ächtung und Diffamierung. Die Situation wird freilich erst dann in ihrer ganzen Unheimlichkeit offenbar, wenn man sich vergegenwärtigt, daß auch im Felde des Politischen echte Sorge walten kann; da wenigstens, wo es sich nicht um das bloße Spiel mit der Macht handelt. Denn wie soll ein Staatswesen sich halten, wenn es ständig von innen her durch radikale Kritik in die Unsicherheit getrieben wird? Wie soll es sich insbesondere dann halten, wenn es sich einem seiner selbst sicheren Gegner gegenüber weiß? Damit hat sich der Gedanke in eine verhängnisvolle Dialektik ver10

strickt. In dem Streit, der zwischen den grenzsetzenden Mächten und dem kritischen Fragen anhängig ist, handelt es sich offenbar um eine unversöhnliche Gegnerschaft. Setzt sich der Anspruch der religiösen, staatlichen und gesellschaftlichen Mächte durch, dann muß das kritische Fragen in den ihm von außen her gesetzten Grenzen ersticken. Will es sich aber in seinem Wesen erhalten, dann werden jene Mächte tödlich bedroht. Stoßen beide aufeinander, dann scheint nichts übrigzubleiben, als daß jeder der Streitenden dem andern den Untergang bereitet, will er nicht selber in diesem Konflikt zugrunde gehen. Von der inneren F r a g w ü r d i g k e i t des k r i t i s c h e n F r a g e n s In diesem dialektischen Streit müssen wir, die wir uns der Wissenschaft verschrieben haben, Position beziehen. Wollen wir nicht das verraten, worin wir eben als die, die wir sind, gründen, dann müssen wir uns auf die Seite des kritischen Fragens schlagen und müssen alle Ver suche, uns von außen her die Grenze zu setzen, mit aller Entschiedenheit abweisen. Die Verantwortung der Wissenschaft ist nicht Verantwortung vor irgendwelchen grenzsetzenden Mächten; sie ist Verantwortung vor ihr selber, und das heißt: vor ihrem Weisen. Doch an diesem Punkte erfordert es die Redlichkeit des kritischen Fragens, daß es sich kritisch und fragend auch gegen sich selber wendet. Ist es denn überhaupt notwendig, daß kritisch gefragt werde? Oder ist die kritische Frage nicht selber eine höchst fragwürdige Sache? Man könnte demgegenüber darauf hinweisen, daß nicht nur das wissenschaftliche Tun, wie es seit den Griechen unser Dasein bestimmt, fragendes Tun ist, sondern daß schon die Lösung aus dem magisch verstandenen Bann der Umwelt sich in der Weise des Fragens vollzogen hat, und daß dadurch der Mensch zum Menschen geworden ist. Das Fragen gehört also offenbar zum Wesen des Menschen. Doch mit diesem Hinweis hätte man dem nicht Genüge getan, was hier zur Entscheidung steht. Wer sagt denn, daß das anfängliche Infragestellen des selbstverständlichen Eingefügtseins in die Welt sich in die Radikalität des kritischen Fragens entfalten muß? Könnte nicht der Weg der Wissenschaft, der von dorther seinen Ausgang genommen hat, ein Irrweg sein? Der besorgte Blick auf Gegenwart und Zukunft des Menschengeschlechtes kann mancherlei entdecken, was dafür spricht. Die Notwendigkeit des kritischen Fragens läßt sich also aus dem Wesen des Menschen nicht begründen. Kritisches Fragen ist nur notwendig, wenn Wissenschaft sein soll. Aber muß Wissenschaft in einem absoluten Sinne von Notwendigkeit sein? Wer sich dieser Frage in aller Ehrlichkeit stellt, wird entdecken: Wissenschaft muß nicht unbedingt sein. Daß sie ist, entspringt vielmehr 11

einer einmal getroffenen Entscheidung des Menschen. Daß sich der griechische Geist auf den Weg des kritischen Fragens begeben hat, ist nichts, was sich aus sich selber heraus verstünde. Es ist die Sache eines ursprünglich gefaßten und in der Geschichte der Selbstbesinnung des abendländischen Denkens durch alle Schwankungen hindurch festgehaltenen Entschlusses. Es gründet, anders gesprochen, in der Freiheit. Das mag denjenigen, der von der Philosophie die Verkündigung absoluter Wahrheiten erwartet, tief enttäuschen. Aber es ist nur die redliche Einsicht in das, was ist. Man muß der Illusion entsagen, als stehe es mit dem Gedanken anders als mit unserem Dasein überhaupt: als könnten wir uns jemals der N o t der Entscheidung mit all ihrer Ungewißheit entschlagen. Wer sich also für das kritische Fragen und gegen alle äußere Begrenzung entscheidet, der bleibt zwar dem Gesetz treu, unter dem die abendländische Wissenschaft ihren Weg angetreten hat. Aber er muß zugleich wissen: sich auf diesen Weg zu begeben, ist keine Sache absoluter Notwendigkeit, sondern entspringt aus der Freiheit einer Entscheidung. Diese Entscheidung wird freilich nicht blind getroffen, sondern in der wissenden Überzeugung, daß dem Menschen nur dann Zukunft geschenkt wird, wenn er es wagt, alle Verfestigungen, die ihn von der Vergangenheit her in eine bestimmte Form zwingen wollen, immer wieder in den Willen zur Zukunft aufzunehmen und so vom Grunde her zu verwandeln. Wesentlicher als die Verantwortung vor den Mächten der Vergangenheit und der Gegenwart ist die Verantwortung vor der Zukunft. Damit wird nicht der Ehrfurchtslosigkeit gegenüber dem Überkommenen das Wort geredet. Im Gegenteil: gerade indem dessen Anspruch, dem kritischen Fragen von außen her Grenzen zu setzen, in der leidenschaftlichen Abwehr ernst genommen wird, wird ihm der Respekt erwiesen, der ihm gebührt. Aber es gilt, für den Mut einzutreten, da, wo es um die letzten Entscheidungen geht, auch der Ehrfurcht vor den bindenden Mächten den Abschied zu geben. U n d nun lassen Sie mich als Professor dieser unserer Freien Universität zu Ihnen als den Studenten dieser unserer Freien Universität noch ein Wort sagen: was auch immer geschehen mag, Sie werden mich stets auf derjenigen Seite der Barrikade finden, auf der f ü r die Freiheit des kritischen Fragens gekämpft wird. Damit wird in dem Streit der Meinungen, der die Gegenwart durchzieht, ausdrücklich Position bezogen. Nicht nur in dem negativen Sinne eines Protestes gegen die konfessionelle und politische Restauration, sondern auch positiv: als Bekenntnis zur recht verstandenen Aufklärung. Sie vorzüglich hat die Grenzenlosigkeit des kritischen Fragens mit aller Leidenschaft verteidigt. 12

Die Aufklärung ist für unseren Blick allzusehr in das Zwielicht geraten, in das sie die Großen des Deutschen Idealismus gerückt haben: als die Epoche der bloßen Verstandeskultur und damit — in Fichtes gesdiichtsphilosophisdiem Entwurf — als das „Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit". Dieser Protest war zu seiner Zeit notwendig, weil die sich selber absolut setzende Aufklärung den Geist in die Gefahr brachte, über der emphatischen Begeisterung für die K r a f t des Verstandes den Blick für andere wesentlichere Zugangsarten zur Tiefe der Wirklichkeit zu verlieren. Man vergißt darüber allzu leicht, daß derselbe Hegel, der die Aufklärung als „Eitelkeit des Verstandes" und als „die heftigste Gegnerin der Philosophie" bezeichnet, sich mit aller Schärfe dagegen wendet, daß das Element des kritischen Denkens außer acht gelassen und die Tiefe des Geistes nur in der Nacht gesehen werde, die keine Unterschiede kennt. Wir stehen, wenn nicht alles täuscht, in einer Zeit, in der wieder einmal alles darauf ankommt, daß das kritische Denken nicht untergehe. Darum gilt es, mit allem Nachdruck zu betonen: das kritische Fragen ist es, mit dem die Wissenschaft steht und fällt, und mit dem wir, die wir Wissenschaft treiben, stehen und fallen. Heute bedarf es wieder des Appells, den Kant als den „Wahlspruch der Aufklärung" ausspricht: „sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen". Und das auch und gerade gegen die grenzsetzenden Mächte, mögen sie religiöser, politischer oder gesellschaftlicher N a t u r sein. Von der S e l b s t b e g r e n z u n g des k r i t i s c h e n

Fragens

Wenn das kritische Fragen in dem Sinne grenzenlos ist, daß es keine ihm von außen her gesetzte Grenze dulden kann, heißt das auch, daß es keine inneren Schranken kennt? Man könnte behaupten, es finde seine innere Grenze an der Wahrheit der Sache, nach der es fragt. Wenn es nur mit der Wahrheit so einfach stünde, daß man sie ohne weiteres an den Sachen ablesen könnte. Aber die Wirklichkeit ist vieldeutig, und das heißt zugleich: sie macht eine Vielheit von Deutungen möglich. Darum wird das kritische Fragen sich zwar je auf eine Antwort hin entwerfen, und es wird, wenn es eine solche gefunden hat, f ü r einen Augenblick innehalten. Aber nur, um erneut zu fragen, ob es denn auch die Sache richtig und in ihrer vollen Bedeutung begriffen habe. Das besagt: das kritische Fragen kann sich aus seinem Wesen heraus bei keiner gegebenen Antwort beruhigen, sondern muß unablässig über diese hinausfragen. Gibt es also überhaupt keine Begrenzung des kritischen Fragens, nicht einmal von innen her? In der Tat: eine Grenze wird nicht sichtbar, solange man allein auf das Wesen des kritischen Fragens als solchen schaut. Aber es gibt eine andere Blickrichtung, und auch sie darf nicht 13

außer acht gelassen werden; daß nämlich das kritische Fragen je konkretes Fragen eines konkreten Menschen in einer konkreten Situation ist. Hier taucht die Notwendigkeit einer inneren Grenze auf. Bliebe das kritische Fragen völlig ohne Grenze, ginge es immerfort ins Unendliche weiter, dann wäre es nichts als der öde Kreislauf des immer erneuten Infragestellens. Das aber wäre eine leere und abstrakte Angelegenheit. Wer sich in der bloßen Wiederholung der Behauptung der Fragwürdigkeit von allem erschöpft, gelangt niemals zu konkreter Entscheidung und zu konkretem Tun. Das heißt: er existiert selber abstrakt und entzieht sich dem Dasein. Denn dieses fordert in jedem Augenblick Entscheidung und Tat. Entscheidung aber ist Festlegung und damit Begrenzung des kritischen Fragens. Dieses darf sich als konkretes nicht in die Grenzenlosigkeit verlaufen, sondern muß begrenztes kritisches Fragen sein. Wäre es freilich nur begrenzt, dann verlöre es sein Wesen, das aus sich heraus auf Grenzenlosigkeit aus ist. Wie aber kann es seine innere Grenzenlosigkeit bewahren und dennoch im konkreten Augenblick die Grenze erfahren? Nicht anders als so, daß es sich selber frei die Grenze setzt. Die einzig mögliche Begrenzung des grenzenlosen kritischen Fra gens ist die Selbstbegrenzung. Fragt man weiter, woher das kritische Fragen im konkreten Augenblick seine Begrenzung erhält, so weiß ich keine andere Antwort zu geben als die: die Begrenzung kommt aus der Sorge um den anderen Menschen. Wieder und entscheidender noch als vorhin wird damit die Ebene des konkreten Daseins betreten. Zu diesem gehört eine Welt, und zu dieser gehören die anderen Menschen; dies so sehr, daß nur im Miteinander mit ihnen menschliches Dasein möglich ist. Das besagt aber: wo das kritische Fragen konkret wird, muß es auf die Existenz der anderen Rücksicht nehmen. Wer in der Tiefe vor sich selber verantwortlich ist, muß, wenn er seine Verantwortlichkeit konkret begreift, auch die Verantwortung für die andern auf sich nehmen. Hier, aber auch nur hier, liegt die innere Grenze des kritischen Fragens. Die Verantwortlichkeit für die anderen kann mich im konkreten Augenblick davon abhalten, von meiner Freiheit zum kritischen Fragen Gebrauch zu machen. Nicht daß ich sie für mich selber aufgebe. Aber ich werde sie dem andern nicht aufdrängen, ja, ich werde sie gegebenenfalls ihm gegenüber nicht einmal äußern. Ich muß vielmehr aufs sorgfältigste bedenken, ob der andere stark genug ist, die dünne Luft zu atmen, in der das kritische Fragen lebt. So werde ich den, der am Dasein verzweifelt, nicht unbesonnen in die äußerste Verzweiflung stürzen, indem ich ihm den letzten Rest von Halt, an den er sich vielleicht noch klammert, kritisch zerstöre; es sei denn, ich wüßte: er gehört zu denen, die auch diese äußerste Situation 14

noch ertragen. Den Glaubenden, der in seinem Glauben Trost findet, werde ich nicht verwegen ins kritische Fragen hineinreißen; es sei denn, ich sei mir dessen gewiß: er ist einer von denen, die erst dann wesentlich zu sich selber kommen, wenn sie die Geborgenheit des Glaubens hinter sich lassen. Ich werde mir auch sorgfältig überlegen müssen, wann die Stunde gekommen ist, um gegen die bestehenden politischen Zustände mit der ganzen Schärfe des kritischen Fragens aufzutreten. Denn ich muß bedenken, ob ich nicht dadurch mithelfe, daß das Gemeinwesen, dem idi doch selber angehöre, zerstört wird. Freilich, es kann der Augenblick kommen, an dem die Verantwortung für die Zukunft es unmöglich macht, weiterhin zu schweigen. Das ist, so will mir scheinen, die wahrhafte Grenze des kritischen Fragens: die Selbstbegrenzung im konkreten Augenblick um des konkreten Menschen willen. Die Verantwortlichkeit des kritischen Fragens ist Verantwortlichkeit vor sich selber; aber sie ist zugleich Verantwortlichkeit für die Grenze, die es sich selbst setzt: freie Übernahme der Sorge um den Mitmenschen. Hier erhält das tiefsinnige Wort Hegels seine Bedeutung: „seine Grenze wissen, heißt, sich aufzuopfern wissen".

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C R E D O UT INTELLIGAM ALS T H E O L O G I S C H E S P R O G R A M M H E U T E Von B e r n h a r d W e l t e In diesem Vortrag soll ein Gedanke ausgesprochen werden zum Programm, d. h. zur Vorzeichnung der Aufgabe der christlichen Theologie, so wie diese Aufgabe sich im Heute, d. h. in der gegenwärtigen geschichtlichen Stunde des Denkens darstellt. Es scheint mir, daß diese Aufgabe für beide christliche Kirchen, die protestantische wie die katholische, im wesentlichen dieselbe ist, wie auch die geschichtliche Stunde und ihr Schicksal uns gemeinsam sind. Aber es sind Unterschiede da, schon in den methodischen Grundlagen. Die Aufgabe der christlichen Theologie wird hier von der methodischen Basis der katholischen Theologie aus bedacht. I. D i e T h e o l o g i e u n d d a s g e s c h i c h t l i c h e Seinsverständnis Um unsere Aufgabe recht zu erkennen, suchen wir zuerst einen Uberblick zu gewinnen über die Struktur einer christlichen Theologie überhaupt1. Jede christliche Theologie setzt den Glauben voraus und geschieht im Glauben. Der Glaube ist die Basis und das Lebenselement aller möglichen Theologie. Glaubend blickt die Theologie auf die Heilige Schrift und die apostolische Überlieferung als die von der Sache her primären Quellen, die gebenden Worte, die dem Glauben und damit der Theologie das zu Glaubende gewähren und zusprechen. Das zu Glaubende und in der Glaubenswissenschaft der Theologie zu Bedenkende ist wesentlich die Gottesoffenbarung in Jesus Christus. Darum ist schließlich zu sagen: Das Zeugnis der Gottesoffenbarung in Jesus Christus, das uns die Schriften des Neuen Testamentes als Heilige Schrift aufbewahrt haben und immer neu zusprechen, und das Zeugnis desselben Offenbarungsereignisses, wie es von den apostolischen Erstzeugen her im Leben der glaubenden Gemeinde, im immer wieder sich erneuernden Kreislauf des Verkündigens und des Glaubens erwächst, dies sind die Quellen des Glaubens, dies darum auch die Quellen der Theologie, wo sie katholisch verstanden ist. Es muß aber darauf hingewiesen werden, daß beide Zeugnisse, das der Hl. Schrift und das der lebendigen apostolischen Uberlieferung 16

eigentlich nur ein Zeugnis sind2. In beiden Zeugnissen wird dasselbe und dieses im wesentlichen auf dieselbe Weise und mit derselben Autorität bezeugt. Die Heilige Schrift ebenso wie die lebendige apostolische Uberlieferung im Verkündigen der Kirche: sie bezeugen dieselbe Gottesoffenbarung in Jesus dem Christus, und sie sind von dieser selben Gottesoffenbarung zum ausgezeichneten Zeugnis ermächtigt in der Kirche. Es gibt nur eine Offenbarung, nur ein Evangelium, das so oder so zur Sprache kommt, und wo dies nicht zur Sprache käme, da wäre die Schrift nicht heilig und die Uberlieferung nicht apostolisch und da ständen Glaube und Theologie im Wesenlosen. Wir können also sagen: Die vom Offenbarungsursprung selbst ermächtigte, von Anfang mehrgestaltige, doch in der Sache eine Bezeugung dieser Offenbarung ist die maßgebliche Quelle der Theologie, aus der sie glaubend das von ihr zu Denkende zu schöpfen hat. Damit ist zugleich mitgesagt, muß aber nun eigens ausgesprochen werden, daß zur methodischen Grundlage der christlichen Theologie die Kirche dazu gehört, die Gemeinde der Glaubenden, in der der Glaube innesteht und in der der Schatz der Offenbarung, das Wort des Evangeliums und der apostolischen Tradition lebendig ist, in der Verkündigung, im Kult, im gemeinsamen kirchlichen Leben. Christliche Theologie kann darum nur auf dem Boden und im Raum der Kirche sein wie Glauben und Evangelium. Und da wir an das weiterlebende apostolische Amt in der Kirche glauben, schließt dies ein, daß für die Verkündigung und damit für das Zeugnis der Offenbarung und damit für die aus diesem Zeugnis als aus ihrer Quelle schöpfende Theologie das apostolische Amt als der amtliche Mund der Gemeinde eine ausgezeichnete Bedeutung und eine führende und regelnde Funktion hat. Die Kirche aber, in die das Evangelium als Schrift und als apostolische Botschaft niedergelegt ist, ist Kirche durch die Jahrhunderte, sich wissend als im Wesen e i n e durch den Gang der Geschlechter hin. Darum hat die Theologie, da sie im Raum der Kirche auf das Wort Gottes hört, ein wesentliches Verhältnis zur ganzen Geschichte der Kirche durch die Jahrhunderte hin. In diesem weiten geschichtlichen Raum hört sie und versucht sie immer neu zu hören das offenbarende Wort Gottes. Die Kirche durch die Jahrhunderte ist der Raum dieses Hörens, weil sie der Raum ist, in dem sich das Wort Gottes fort und fort bezeugt. Die methodische Grundlage der Theologie, so wie wir sie hier verstehen, ist also diese: selbst glaubend inmitten der glaubenden Kirche durch die Jahrhunderte das vielgestaltige, doch eine Zeugnis der Gottesoffenbarung in Jesus zu vernehmen und aus dieser Quelle zu schöpfen. Die Aufgabe der Theologie ist es dann, von dieser Grundstellung aus das Offenbarte zu verstehen und in der methodischen Durchfüh2

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rung dieses Verstehens in einem bedachten Glaubensdenken zum gemäßen Begriff, zum gemäßen Wort, vielleicht zum System zu bringen. Ihre Aufgabe ist der methodisch durchgebildete intellectus fidei. Sie kann daher immer noch durch das Wort des Anselm von Canterbury zum Ausdruck gebracht werden: Credo ut intelligam3. Suchen wir Theologie dermaßen als ein ausgearbeitetes Verstehen der Offenbarung zu bestimmen, dann muß darauf hingewiesen werden, daß auch schon das noch nicht ausgearbeitete Verständnis, wie es den anfänglichen Zeugnissen zugrunde liegt, bereits ein Verstehen des Glaubens und in diesem Sinne ein Glaubensdenken ist. Der Glaube ist von Anfang an verstehender Glaube. Die fides hat ihren intellectus fidei immer schon bei sich. Der Unterschied zwischen der anfänglichen relativen Unmittelbarkeit des glaubenden Verstehens und der reflektierten Gestalt desselben glaubenden Verstehens ist nur der, daß der intellectus fidei als das Glaubensverstehen in einem Fall eigens herausgestellt und ausgearbeitet ist, im anderen Falle dagegen nicht. Aber in beiden Fällen ist er da. Sieht man im intellectus fidei, im Verstehen der Botschaft des Glaubens im Denken, im Glaubensdenken das was Theologie zur Theologie macht, die eigentliche Sache der Theologie, so muß man also sagen: Der Glaube fängt immer und sogleich an verstandener Glaube zu sein. Er fängt immer schon und sogleich als Glaubensdenken, als intellectus fidei an, und insofern immer schon als Theologie. Nur braucht diese nicht von Anfang an eigens herausgestellt und ausgearbeitet zu sein. Dann ist sie eine Theologie in nuce, eine Theologie vor der Theologie. Die je auszuarbeitende Theologie hat dann nichts durchaus Neues beizubringen, sie bringt vielmehr nur die theoretische Sicherstellung, Herausstellung und Ausarbeitung des schon als Glaubensdenken, weil als Verstehen entwickelten Glaubens. Der Weg der Theologie geht so genau genommen nicht vom Glauben als Ungedachtem und Unverstandenem zum Gedanken, zum Begriff, zum System des Glaubens, sondern vom gedachten Glauben zu einem eigens gedachten. So könnte man die Anselmische Formel fides quaerens intellectum auch so fassen: fides intellecta, quaerens intellectum fidei. Was die Theologie sucht, ist, schon je von einem Glaubensverständnis herkommend, das ausgearbeitete Glaubensverständnis. Fragen wir nun hinsichtlich des von der Theologie auszuarbeitenden Glaubensverständnisses weiter, worin denn je der intellectus fidei lebe, in welchem Medium er durchgeführt werde, mit welchen Mitteln er zu bestreiten sei, so werden wir zu antworten haben: Im Medium und mit den Mitteln des menschlichen Denkens. Der verstehende Mitvollzug des göttlich Offenbarten und in dieser Offenbarung dem Menschen Zugedachten ist immer ein Denken des Menschen, ein Ausbilden und Be18

wegen menschlicher Gedanken. Nur insoweit Menschen bei dem, was ihnen offenbart wurde, etwas denken können, und soweit sie wirklidi sich etwas denken dabei, nur insoweit kann ihnen darin etwas klar und also offenbar werden und zu einem Verständnis kommen. Wo wir uns nichts denken können, ist nichts verstanden und nichts offenbar für uns. Das menschliche Denken ist das nicht zu umgehende Medium der Offenbarung, worin sie gesdiieht und sich offenbar macht, das Medium darum auch jeglichen intellectus fidei, sowohl des vor-theoretischen wie des theologisch-theoretisch ausgearbeiteten. Im Medium des menschlichen Denkens und aus ihm ist je der intellectus fidei zu erbilden. Jede Theologie lebt davon, von ihrer anfänglichen und noch mehr oder weniger unreüektierten Form bis zu der in der theoretischen Reflexion am meisten durchgebildeten. Jeder intellectus fidei geschieht im Medium des menschlichen Denkens. Fragen wir nun weiter, worin das menschliche Denken seinerseits gründe und lebe, so müssen wir antworten: Im menschlichen Seinsverständnis. Alles menschliche Denken ist eigentlich menschliches Seinsverständnis, in mancherlei Weisen und Wegen sich entfaltend und verlaufend4. Wie das was ist in seinem Sein sich uns zu verstehen gibt, das macht alle Gedanken möglich und gibt ihnen die Wege, sich zu ergehen. Darum denken wir ja auch immer dem nach, was ist, und wie es ist. Und darum haben alle menschlichen Gedanken die Grundform: Dies ist so oder so. Menschliches Denken ist Denken des Seins dessen, was ist. Damit ist es als Denken gegründet und durchstimmt von der Weise, wie sich das, was wir das Sein des Seienden nennen, je schon ihm zu verstehen gab und gibt. Wenn also aller intellecetus fidei im Medium des Denkens geschieht, so können wir dies nun so ausdrücken: aller intellectus fidei und damit alle mögliche Theologie geschieht im Medium und auf dem Boden des Seinsverständnisses. Dies erwächst je und je aus den Weisen, wie das Sein dessen, was ist, sich dem Menschen zuspricht. Damit sind wir im Bemühen, die Struktur der Theologie aufzuhellen, an einen entscheidenden Gedanken gekommen. Seine entscheidende Kraft wird vollends bedrängend, wenn wir ihm die Einsicht hinzufügen: Das menschliche Seinsverständnis ist stets und im ganzen ein geschichtlich bestimmtes, es steht immer in einem übergreifenden Geschick, das dieses Seinsverständnis als Ganzes je eigentümlich abwandelt und ausbildet. Mit der Geschichtlichkeit ist das entscheidende Element genannt, welches aus der gegenwärtigen geistigen Situation, aus dem geistigen Heute heraus, das theologische Programm des credo ut intelligam tief und nachhaltig modifizieren muß. Seit mehr als 100 Jahren ist der Gedanke der Geschichtlichkeit und die Geschichtlichkeit als Gedanke im europäischen Geist emporgestiegen. In Denkern 2*

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wie Hegel, Dilthey und in unseren Tagen vollends bei Martin Heidegger 5 hat dieser Aufstieg des Gedankens der Geschichtlichkeit seine entscheidenden Phasen. I m gleichen Zeitraum hat die positive historische Forschung, selber von diesem Gedanken angeregt, ihm das reichste Anschauungsmaterial beigetragen und eröffnet. Heute steht er, gleicherweise vom gedanklichen Ansatz der Philosophie wie von der positiven geschichtlichen Forschung her mächtig und unentrinnbar mitten unter uns und bestimmt unsere geistige Geschichte. Auf dem Hintergrund dieses Gedankens von der Geschichtlichkeit dürfen wir und müssen wir, wie ich glaube, heute sagen, daß alles menschliche Denken, im Seinsverständnis je gründend, damit zugleich im geschichtlichen Geschick des Seinsverständnisses wurzelt und von ihm unablösbar ist. Das Geschick, in dem sich das Sein und damit alles, was ist, je dem Menschen zuspricht, begründet dieses geschichtliche Schicksal. Von diesem Satze aus muß, wenn menschliches Denken als das Medium aller impliziten oder expliziten Theologie anzusehen ist, alle Theologie geschichtlich bestimmt sein von der je waltenden Weise des dem Menschen eröffneten Seinsverständnisses her. Mit dem Auftauchen des Gesichtspunktes der Geschichtlichkeit ist eine neue Situation für das Glaubensdenken der Theologie im ganzen entstanden. Sie macht sich immer nachdrücklicher bemerkbar. Im Lichte dieses Gedankens stellen sich die Qellen des theologischen Denkens, die Zeugnisse der christlichen Offenbarung, in einer durchaus neuen Beleutung dar, angefangen von den ersten authentischen Zeugnissen der Heiligen Schrift und der apostolischen Uberlieferung und weiter die ganze Reihe der Geschichte der Zeugnisse hindurch. Die oben geforderte Gemeinschaft der Theologie m i t der Kirche durch die Jahrhunderte muß von daher neu durchdacht werden. V o n diesem neuen Durchdenken der Lage der Theologie hinsichtlich ihrer Quellen her aber muß sich für das theologische Glaubensverständnis auch die Notwendigkeit eines Neubedenkens ihrer Aufgaben und Wege ins Künftige ergeben, und damit ein neuer Entwurf des alten Programms credo ut intelligam. II. Ü b e r b l i c k über die G e s c h i c h t e der T h e o l o g i e auf dem G r u n d e der G e s c h i c h t e des S e i n s v e r s t ä n d n i s s e s W i r versuchen zunächst in der gebotenen Kürze einen Uberblick zu gewinnen über die Geschichte der Bezeugungen der Offenbarung in der Kirche durch die Jahrhunderte. Was sehen wir, wenn wir diese Geschichte unter dem Licht des Gedankens der Seinsgeschichte durchblicken? W i r sehen dann, daß schon im Anfang, schon bei den biblischen

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Zeugen der Offenbarung diese in der Weise offenbar wurde, d. h. zum Verständnis der Zeugen kam, daß sie in einem dem Ereignis der Offenbarung selber voraus schon reich und durchgehend determiniertem Seinsverständnis aufgenommen, verstanden, gedacht und ausgesprochen wurde, und zwar sogleich in mehrfachen Weisen. Wir sehen, daß schon bei den biblischen Schriftstellern der Offenbarungsimpuls sich in einer Fülle unterschiedlicher Denkformen, Denksprachen und Wortsprachen ergoß und in ihnen darstellte, welche von den mannigfaltigen Strömen des spätjüdisch-hellenistischen Seinsverständnis gespeist und durchformt waren. Dies ergab einen jungfräulichen Wildwuchs verschiedenartiger nebeneinanderstehender Theologien in nuce, da der eine Strahl der Gottesoffenbarung in Jesus sich sogleich in verschieden geformten und verschieden gefärbten Spiegeln des menschlichen Verständnisses abbildete. Darum ist die Theologie des Markusevangeliums eine andere als die Theologie des Johannesevangeliums oder des Römerbriefes, aber in allen ist es die Theologie desselben und e i n e n Evangeliums, wenngleich in je eigentümlicher Weise gedacht und ausgesprochen. Das Bündel von Theologien, das uns so in der Heiligen Schrift entgegentritt, zeigt die Merkmale der Frühe. Alle diese Theologien sind weder völlig durchreflektiert noch durchaus einheitlich, dafür aber von umso größerer Ursprünglichkeit und geschichtlicher Potentialität. Die Offenbarung tritt mit einer Fülle von nicht ausdeterminierten, aber zukunftsträchtigen Möglichkeiten, sie zu denken, auf im Horizont der Geschichte. Gehen wir von diesem vielgestaltigen Anfang mit einem Sprung des Gedankens zu dem geschichtlichen Augenblick über, in dem das Christentum unter Konstantin Reichsreligion des spätantiken römischen Imperiums wurde, so sehen wir, daß in dieser Zeit aus der anfänglichen Fülle der Weisen, die Offenbarung zu denken, bestimmte, diesem neuen Zeitalter und seinem Seinsverständnis gemäße herausgehoben und zu einer hohen theologischen Ausdrücklichkeit weitergebildet wurden, während andere Möglichkeiten des älteren Glaubensdenkens versanken oder auf Nebenströmen wenig entwickelt weiterliefen. So wurden die großen theologischen Entwürfe der spätantiken Konzilien und ihre verpflichtenden Fassungen des christlichen Bekenntnisses entwickelt, als deren Musterbeispiel das Nikänische Symbolum gelten kann. Hält man die diesem zugrunde liegende und in ihm sich aussprechende Theologie unmittelbar neben die Theolgie etwa des Markus oder des Paulus, dann spürt man, daß sich die Gottesoffenbarung jetzt, in dieser neuen Stunde der Geschichte auf der Ebene eines Seinsverständnisses abgebildet hat, die von den früheren in vielem weit entfernt war. Schon die Weise des Fragens ist anders geworden, die Schwer21

punkte des theologischen Bewußtseins haben sich verlagert, die Begrifflichkeit ist eine andere geworden, wenngleich alles dies in einer gewissen Gruppe von Elementen der biblischen Theologie schon etwas wie einen ermöglichenden Keim hatte. Das theologische Bewußtsein konzentrierte sich jetzt um die großen fast ungeheuren christologischen und in ihrem Gefolge um die trinitarischen Formeln. Sehen wir von hier aus in einem zweiten geschichtlichen Sprung den Ubergang des solchermaßen gedachten und vom spätantiken Seinsverständnis auf seine Weise assimilierten Christentums zu den germanischen Völkern und zumal zu ihren adligen Herrenschichten in der Zeit der Spätantike und dem sich bildenden Mittelalter, so erblicken wir aufs neue eine große Umlagerung des schon geschichtlich vorgeformten Glaubensdenkens in der Folge eines neuen Seinsverständnisses, das die neu in die Geschichte eintretenden Völker aus ihren Ursprüngen mit- und einbrachten. Dieses Seinsverständnis war zunächst weitgehend noch ganz unausdrücklich, aber deswegen nicht ohne starke Eigenart und reiche neue geschichtliche Möglichkeiten. N u n wird ein reiches Material an heiligen Schriften, heiligen Symbolen, Glaubens- und Kultformen, das f ü r die aufsteigenden Völker auf fremdem Boden erwachsen war, übernommen und mit großer naiver K r a f t assimiliert von den Trägern eines neuen Seinsverständnisses. Das Gebäude der langsam sich bildenden neuen Gestalt des Glaubensdenkens wird deswegen fast ganz aus alten Steinen errichtet. Aber sie werden anders gefügt, es zeigen sich Verschiebungen, es lösen sich alte Zusammenhänge, es bilden sich neue, alte Schwerpunkte verlagern und verformen sich. Man sieht alles dies, wenn man etwa mit Geiselmann die Entwicklung des Eucharistielehre von der Spätantike bis zur ganz unantiken Formel der Transsubstantiation verfolgt 8 oder an Hand des Materials, das Poschmann 7 vorgelegt hat, die starken Verschiebungen in der Vorstellung von der christlichen Buße betrachtet, die schließlich zum mittelalterlichen Beichtinstitut führen. Die eigentlichen Entscheidungen in diesem merkwürdigen Umlagerungsprozeß fallen im vor-theoretischen Bereich, fast naiv, und sie sind schon gefallen in dem Augenblick, in dem die eigenständige K r a f t des mittelalterlichen Denkens mit Anselm etwa wirklich erwacht. Die Offenbarung, in antik vorgeformter Gestalt überliefert, wird von einem im ganzen durchaus unantiken Seinsverständnis ergriffen. Sie bildet sich in diesem neuen Spiegel auf eine neue Weise ab, und es entsteht so vom alten und immer selben Wahren ein neues Bild. Jetzt erwacht auch das Bedürfnis,, die mannigfaltigen Worte und Stimmen unter neuen Gesichtspunkten denkend zur Synthese zu führen, jetzt kommt die Stunde, das Programm fides quaerens intellectum auszusprechen, und von welch neuer Art der so angestrebte intellectus 22

fidei sei, zeigt sich bald in den großartigen theologischen Summen vor allem des 13. Jahrhunderts. Zugleich sehen -wir, daß das Mittelalter voll ist von theologischer Unruhe und theologischen Spannungen. Sie gehen von dem Sic et non Abälards und von der kluniazensischen R e f o r m über Bernhard von Chairvaux und Franz von Assisi bis zur R e f o r m Luthers, die schließlich die Einheit der abendländischen Kirche sprengte. Das Mittelalter, das so große Gestalten eines neuen Glaubensverständnisses ausbildete, war beständig in Unruhe darüber, ob es die Offenbarung auch recht verstanden habe. Aber alle Spannungen, Umwendungen und Reformen, die das mittelalterliche Denken begleiteten, vollzogen sich im Grunde doch auf dem Boden desselben Seinsverständnisses spezifisch mittelalterlicher Art. Dies gilt meines Erachtens auch noch und gerade für den reformatorischen Protest. Dieser überschreitet im Grunde, wie ich glaube, das mittelalterliche Seinsverständnis keineswegs, er setzt es vielmehr voraus und fügt ihm seinen eigenen neuen Akzent ein 8 . Man darf vielleicht noch weitergehend überhaupt sagen, daß der alles Denken im einzelnen umfassende epochale Grund von Seinsverständnis mittelalterlicher Art auch noch die Barock- und Aufklärungstheologie trägt und in ihr erscheint. Es entstehen in dieser Zeit neue Differenzierungen alter Formeln, im epochalen Sinn späte Konsequenzen früher Entscheidungen. Diese werden geschichtlich zum Austrag gebracht, es werden aber dabei doch nicht grundsätzlich die mittelalterlichen Weisen des Fragens, des Verstehens, der Begrifflichkeit des Seinsverständnisses im ganzen verlassen. Aber mit dem geistigen Ereignis, dessen Ausbruch ins Offene für uns im philosophischen Bereich an den Namen Immanuel Kant geknüpft ist und das sich fortsetzte in den gewaltigen Gedankenstößen, die durch die Gestalten Hegels, Kierkegaards und Nietzsches repräsentiert sind, brach eine epochale geistige Welt zusammen, da wurde offenbar, daß nun ein ganzer geschichtlicher Kontinent zurückblieb hinter den großen und verwirrenden Flügelschlägen des Geistes der Geschichte. In dem was das 19. Jahrhundert an Entscheidungen und Geheimnissen umfaßt, ist die mittelalterliche Weise des Verstehens dessen, was ist, ans Ende gekommen, nicht freilich ohne in einzelnen Strängen des geschichtlichen Lebens noch lange weiter zu leben. Aber nun bereitet sich in bald weltweit werdenden Krisen ein neues epochales Seinsverständnis vor, dessen eigentliche Grundworte wohl auch heute noch nicht gefunden sind, aber wir glauben ihr Heranreifen zu spüren. Immerhin kann heute ein Historiker den Versuch machen, einen „Rückblick auf das abendländische Christentum" durchzuführen 8 . Dieser kurze Uberblick mag fühlbar machen, daß die Theologie in der gegenwärtigen geschichtlichen Stunde in einer durchaus ausgezeich23

neten und neue Probleme heraufführenden Situation steht. Die Sicht der Geschichte der Offenbarungszeugnisse und damit der Zugang zum Quellenbereich der Theologie hat sich verändert. Was einstmals wie eine gleichmäßige Reihe von geistigen Gestalten erschien, vergleichbar etwa dem Bild des Gebirges, wenn man es aus weiter Ferne betrachtet, das bietet nun einen tief veränderten Anblick. Wir sind näher an das Grundgebirge der Geschichte und ihrer Ursprünge herangetreten. Seine Kulissen haben sich voneinander gelöst und hintereinandergeschoben in kaum noch zu übersehender Vielgestaltigkeit. Das neue Verständnis der Zeugen der Glaubensüberlieferung und damit der Glaubensgeschichte im ganzen läßt uns heute deutlicher als dies jemals der Fall war sehen, daß die den Glauben bezeugenden Glaubensgedanken der Kirche, die vor uns war, nicht auf einer Ebene des Seinsverständnisses liegen und darum nicht ohne weiteres untereinander austausch- und verrechenbar sind, wenngleich sie alle aus der Überzeugung der Einheit des Glaubens das eine Geglaubte aussprechen und bezeugen wollen. Aber die biblischen Autoren, die Väterkirche und das Mittelalter verstehen, denken, formulieren ihren Glauben im Medium ihres je eigentümlichen Seinsverständnisses, und von daher sagen alle Zeugnisse dasselbe je auf epochal und seinsgeschichtlich eigene Weise. Darum stehen Theologien neben Theologien, und zwar je im ganzen und nicht nur hinsichtlich einzelner Formulierungen. Gewiß werden diese Theologien, soweit es sich um kirchliche handelt, einander nicht widerstreiten, aber sie werden doch in mehreren und aufeinander nicht ohne weiteres reduzierbaren epochalen Grundsprachen des Seins und des Denkens sprechen. Infolgedessen kann das Problem der Dogmen-Geschichte heute nicht mehr auf die Weise des Johannes-Evangelist Kuhn 10 oder John Henry Newmans11 gesehen werden als eine fortlaufende Explikation eines immer schon Impliziten, die in einem eindimensional und kontinuierlich gedachten Prozeß von den etwa in der Bibel greifbaren Anfängen gradlinig bis zum jetzigen Stand des Glaubensdenkens in der Kirche als den bis jetzt explizitesten und damit deutlichsten führen würde. Heute glauben wir deutlich zu sehen, daß die seinsgeschichtlich begründeten epochalen Umlagerungen des Glaubensverständnisses keine direkten Folgen oder explikativen Verlängerungen des geschichtlich vorauslaufenden Glaubensverständnisses sind. Es sind vielmehr je Neuansätze dieses Verständnisses im ganzen aus einer je neuen Grundweise des Verstehens und damit des Fragens und Denkens im ganzen heraus, erfließend aus neu und diskontinuierlich in der Geschichte auftauchenden Verständnisweisen des Seins. Die geschichtlichen Schritte, die von einem zum andern, also von der biblisdien zur Väterkirche und von da zum Mittelalter führen, sind darum eigentlich keine Entwicklungs24

schritte. Sie können vielleicht am ehesten als Über-Setzungs-Vorgänge gedacht werden, durch welche je das Ganze des überlieferten Glaubensgutes auf den Boden eines neu in der Geschichte aufsteigenden Grundes von Seinsverständnis wie auf einen neuen Kontinent hinübergebracht wird, wo es sich dann sogleich nach den Gesetzen des neuen Verständnisbodens umorganisiert, umartikuliert, und dann von Anfang an ein neues Bild des Glaubens zu entwickeln beginnt. Innerhalb des neuen Bodens von Verständnis wird dann das Bild des Glaubens aus einem nun wieder geschichtlich frühen Anfangszustand in großenteils jetzt explikativen Entwicklungsschritten weiter ausgeformt. Entscheidend aber ist, daß der Neuansatz und damit das Ganze der epochalen Struktur des Glaubensverständnisses nicht mehr als nur explikativer Gang verstanden werden kann. Ein so nur angedeutetes Geschichtsverständnis muß die methodischen Wege der Theologie weitgehend beeinflussen und ändern. III. E n t w u r f e i n e r t h e o l o g i s c h e n M e t h o d e im B l i c k a u f das s e i n s g e s c h i c h t l i c h e S c h i c k s a l des G l a u b e n s Wenn wir die Geschichte der Glaubenszeugen und der Glaubenszeugnisse im Rahmen der Geschichte der Kirche auf die angedeutete Weise verstehen, dann müssen wir daraus die Konsequenz ziehen, den methodischen Weg des Glaubensverständnisses wenigstens im Versuch neu zu entwerfen. Als erste Aufgabe eines theologischen intellectus fidei heute würde es sich dann ergeben, die seinsgeschichtlich und epochal je eigentümlichen und untereinander verschiedenen Grundgestalten des Glaubensverständnisses aus dem weithin schon erschlossenen historischen Material zu erheben und auf einen angemessenen Begriff zu bringen. Aus der Klärung des eine Epoche beherrschenden Grundansatzes müßte sich dann ein Verständnis der daraus sich ermöglichenden Sprachformen z. B. mythischer oder kultisch-rühmender oder bekennender oder theoretischer oder welcher Art immer gewinnen lassen. Und daraus schließlich müßte eine geklärte Einsicht erwachsen können in die Gründe, warum in dieser Zeit theologisch eigentlich je so gefragt, gedacht und gesprochen wurde. Eine solche Arbeit auf den Wegen einer konkreten geschichtlichen Phänomenologie und Ontologie durchzuführen, könnte in etwa vielleicht einer geschichtlichen und phänomenologischen Stilanalyse im Bereich der Kunstgeschichte verglichen werden. Die jeder Epoche eigentümlidien theologischen Stile, Sprachen und Typen müssen aus einer solchen Arbeit in ihrem Grundcharakter deutlich hervorgehen, und eben darum sich untereinander auch deutlich qualitativ unterscheiden. Wir würden dann untereinander qualitativ 25

verschiedene, aber in ihrer inneren Konsequenz verständliche Theologien vor uns sehen, jede auf einem anderen Boden von geschichtlichem Seinsverständnis gewachsen und von ihm her verständlich und artikulierbar. Da aber diese geschichtlichen Theologien gleichwohl je dasselbe, die eine Gottesoffenbarung in Jesus verstehen, denken und aussprechen wollen, so kann doch die Theologie nicht einfach die geschichtlichen Theologien nebeneinander stehen lassen, es ergibt sich vielmehr die Aufgabe, die Differenz der epochal verschiedenen Denkformen des Christlichen auf ihr Selbes hin durchzublicken, und zwar in der Richtung auf den verpflichtenden Ursprung. Es wäre also im Hinblick darauf eine zweite methodische Arbeit durchzuführen, die ohne Zweifel die erstgenannte an Schwierigkeit und Anspruch übertrifft. Es wäre Schritt f ü r Schritt zu klären, wie und auf welche Weise die späteren epochalen Theologien den früheren entsprechen. Es wäre ein geschichtliches System epochaler Entspreebungen zu entwickeln und über sie die Kontinuität der zunächst seinsgeschichtlich so heterogen nebeneinander stehenden Gestalten des Glaubensdenkens der Kirche zu gewinnen. Es wäre im Zuge der Erhellung dieses Systems der Entsprechungen insbesondere überall zu fragen, welche Anlässe in den alten Theologien auf dem Boden eines späteren und neuen Seinsverständnisses zu neuen und dem Anlaß gegenüber heterogenen Gedankenformen führen mußten. Dadurch würde es dann umgekehrt möglich, in den neuen Gedankenformen doch die Kontinuität mit den älteren Anlässen durchzuspüren. Zu dieser Klärung des Verhältnisses der älteren Anlässe zu den späteren Entsprechungen gehört dann auch die Klärung dessen, was an den älteren Anlässen unter dem Einfluß der neueren und späteren Gedankenformen zurücktreten mußte. Es wäre, um dafür ein Beispiel von besonders hohem theologischen Rang zu nennen, also noch weiter als dies schon von manchen Seiten her geschehen ist zu klären, was an der Theologie des Markus oder des Johannes oder des Paulus zum Anlaß wurde dafür, daß unter der Gewalt einer geschichtlich neuen Fragestellung in Nikaia die homousius-Formel als entscheidender Ausdruck des alten Glaubens verkündet werden konnte, und welche Entsprechungen also bestehen zwischen dieser Lehrformel und ihren älteren und großenteils ganz anders klingenden Anlässen, und was an älteren Weisen und Aussagen, die Offenbarung zu denken, von der Größe der neuen Formel überstrahlt im Glaubensdenken der Kirche zwar nicht bestritten oder aufgegeben, gleichwohl doch absank und zurücktrat. Die epochalen geschichtlichen Übergänge und Uber-Setzungen im Glaubensdenken der Kirche wären also nicht bloß in ihrem äußeren 26

Ablauf zu erzählen, sie wären vielmehr von ihrem Inneren her zu verstehen und verstehend nachzuvollziehen, vom Ursprung des Glaubens her auf sein späteres Bild hin, damit dann vom späteren Bilde her wiederum rückwärts der Ursprung rein und maßgeblich verstanden werden könne, der immer noch, auch nach den großen geschichtlichen Verwerfungen, wenngleich nun in neuen Sprachen spricht. Durch ein solches Verfahren müßte es möglich werden, einen Standpunkt zu gewinnen, von dem aus dieselbe anfängliche Heilsbotschaft und Gottesoffenbarung in den Spiegeln der verschiedenen geschichtlichen Menschentümer erblickt werden könnte. Und es müßte möglich werden, im Glaubensdenken so elastisch und beweglich zu werden, daß dies Glaubensdenken nun dasselbe in den Gedanken und den Begriffssprachen der unterschiedlichen epochalen Menschentümer zu verstehen und gleichsam mitzusprechen vermöchte, eine Leichtigkeit des Übersetzens müßte entstehen, eine Sprachengabe sollte sich gewähren, welche das bloß äußerliche Nebeneinanderstellen unterschiedlicher theologischer Positionen in der Folge der christlichen Geschlechter überwände, so daß ein neues Bewußtsein der Gemeinschaft der aus getrennten seinsgeschichtlichen Erdteilen sprechenden Zeugen erwachsen könnte. Die Theologie, auf diesen Stand einmal gekommen, müßte dadurch zugleich auch frei werden von der ausschließlichen Gebundenheit an eine einzige geschichtliche Denk- und Sprachform, und wäre es eine so ehrwürdige wie die des der Kirche unvergeßlichen Symbolums von Nikaia. Denn dasselbe, was dieses Symbolum von Jesus, dem Christus sagte, müßte dann ja ebenso gut und ebenso gültig und ohne Nikaia zu verachten in der Sprache und Denkweise des Markus etwa gesagt werden können und dürfen. Damit aber könnte zugleich die Voraussetzung gewonnen werden für den dritten, am schwersten zu bestimmenden und am meisten entscheidenden Schritt, in welchem der Weg des credo ut intelligam erst eigentlich den uns heute oder morgen möglichen intellectus fidei gewinnen könnte. In diesem dritten Schritt wird etwas angefordert, was man vielleicht die theologische Urteilskraft, den geistlichen Spürsinn oder die pneumatische Gabe des Glaubens nennen könnte. Damit meinen wir ein Denken, das jenseits des nur feststellenden Verstandes und auch jenseits der bloßen Anwendung von Regeln in einem unmittelbaren und schöpferischen Hinblick aus der Fülle des Gegebenen quer durch die Mannigfaltigkeit der seinsgeschichtlichen Sprachen das Ursprüngliche und Wesentliche in der Sache des Christentums zu sehen vermag, analog wie ein Biograph von Rang und menschlicher Urteilskraft aus der Fülle der Spiele und Gebärden eines menschlichen Antlitzes und seiner Worte und aus dem Reichtum der Lebensgestalten das ursprünglich eine gei27

stige Gepräge der Person, die er schildern will, im unmittelbaren schöpferisch-mächtigem Hinblick zu vernehmen vermag. Nur eine so eben andeutbare theologische Urteilskraft wird es vermögen in der Gemeinschaft mit der Kirche von Anfang an und durch alle ihre Geschlechterfolgen, in der Gemeinschaft also mit allen Zeugen und Zeugnissen des Glaubens quer durch die unterschiedlichen Sprachen ihrer je epochalen Seinsverständnisse und durch die dazugehörigen geschichtlichen Sprachen Verwerfungen hindurch den einen Ursprung der Christus-Offenbarung zu vernehmen in seinem anfänglichen und alle Geschlechter der Christen verpflichtenden geistigen Gepräge. In einem solchen Vernehmen könnte nach Durchgang durch die unerläßlichen Vermittlungen der Heiligen Schrift, der apostolischen Überlieferung und der Kirche durch die Jahrhunderte und nach der geistigen Bewältigung der seinsgeschichtlichen Verschiebungen die theologische Urteilskraft, der Spürsinn des Glaubensgeistes wieder unmittelbar werden und die Unschuld zurückgewinnen und in ihr das Gewahrenkönnen und das Erhebenkönnen des einen Wesentlichen alles Christlichen. Dies würde zugleich heißen, daß es dann auch möglich werden könnte, dem neu gesehenen einen Ursprünglichen und Wesentlichen einen neuen Gedanken und ein neues Wort zu finden, um es darin zu bergen. Daß also das alte Wahre des Christentums eingebracht werden könnte in ein neues, in unser geschichtliches Seinsverständnis, das erst zögernd seine Konturen ausbildet. Und doch bedürfen wir der schöpferischen Sprachengabe der Theologie, die es uns ermöglichte, das Christliche in der Weise schließlich zu fassen und auszusprechen, wie es uns gewährt ist zu denken und zu verstehen. So könnte am Ende das Anfängliche und Bleibende des Offenbarungsereignisses in der Gemeinschaft mit allen seinen Zeugen zu einer neuen Anfänglichkeit wieder gebracht werden und darin zum Leuchten kommen, im Schöße einer neuen Sprache, in der Mitte einer neu sich bildenden Gestalt des Seins. Auf solchem Wege könnte für uns heute, die wir uns von der Geschichte und ihrer Geschichtlichkeit so eigentümlich und nachdrücklich bestimmt finden, die fides intellecta theologisch zu einem ihr und uns gemäßen intellectus fidei geführt werden. Man wird sehen, daß auf diesem Wege das uns immer beunruhigende Anliegen von Bultmann vielleicht ebenso einzuholen wäre wie zahlreiche Fragen zwischen den christlichen Konfessionen, die in dem uns geschenkten ökumenischen Gespräch erwacht sind. Die Neugeburt der Theologie aus der synthetischen theologischen Urteilskraft und dem geistlichen Spürsinn, im Durchgang durch die uns zugeschickte Seinsgeschichte, wird gewiß nie einfach zu konstruieren 28

sein, soviel an planmäßiger methodischer Arbeit sie ebenso gewiß auch voraussetzen wird. Aber ihr Entscheidendes wird geschenkt werden müssen. Der geistige Ort, an dem sich dieses Geschenk ereignen kann, wird als seinen Boden haben die Stille, den Ernst und die Bereitschaft des Glaubens, der von Anfang und inskünftig immer das Fundament aller theologischen Arbeit bleiben wird. Er wird als das Haus, das ihn birgt, die Kirche von Anfang und bis jetzt um sich haben, und als das Licht, das ihm darin leuchtet, die stets mögliche Gnade, das Geschenk des Himmels, ohne das kein Gedanke und zumal kein theologischer gedeihen kann. Es mag aber nützlich sein, wenn in diesem Raum des möglichen Geschenkes der Neugeburt das Denken sich ein wenig umsieht, das Denken in der ausdrücklichen Gestalt einer der Theologie eigens zugewandten Philosophie. Denn einem solchen Denken obliegt es, nach den Kategorien zu sehen, die verwandt werden, und es obliegt ihm auch, auf den Grund und die Abwandlungen des Seinsverständnisses aufmerksam zu machen, aus dem je die Kategorien erwachsen. Indem das Denken auf solche Umstände aufmerksam macht, wird es sich als eine gute ancilla theologiae erweisen. Als solche wird es dann auch gerne alles Weitere dem Glauben und der Gnade überlassen.

Literatur: 1

Vgl. dazu meine Schrift: Die Wesenstruktur der Theologie als Wissenschaft (Freiburger Universitätsreden. Neue Folge. Heft 19), Freiburg i. B. 1955.

2

Vgl. R. G e i s e l m a n n , Schrift-Tradition-Kirche, ein ökumenisches Problem in: M. Roesle Sc O. Cullmann, Begegnung der Christen, Stuttgart und Frankfurt i 9 6 0 , S. 131 ff.

3

Anselm von C a n t e r b u r y , Proslogion 1, Schluß (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, Edinburgh 1956, S. 100).

4

Vgl. hierzu meine Abhandlung: Die Philosophie in der Theologie, in: Die Albert-Ludwigs-Universität Freiburg 1457—1957, Die Festvorträge, Freiburg i. Br. 1957, S. 2 7 — 4 1 .

5

Es sei besonders hingewiesen auf die Abhandlung: „Uberwindung der Metaphysik" (Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 71 ff.) und neuerdings auf das Buch Nietzsche, Pfullingen 1961, namentlich auf die Abhandlungen im II. Band, S. 335 ff. Vgl. dazu: F. W i p l i n g e r , Wahrheit und Geschichtlichkeit, Freiburg/München 1961.

6

Jos. Rupert G e i s e l m a n n , Die Abendmahlslehre an der Wende der christl. Spätantike zum Frühmittelalter, München 1933. U n d : Die Eucharistielehre der Vorscholastik, Paderborn 1926.

7

Handbuch der Dogmengeschichte, Band IV Faszikel 3: Prof. Dr. Bernhard P o s c h m a n n , Buße und Letzte Ölung, Freiburg i. Br. 1951.

29

8

Vgl. dazu Albert M i r g e l e r , vor allem S. 78 ff.

0

Albert M i r g e l e r , Rückblick auf das abendländische Christentum, Mainz 1961.

10

Vgl. Jos. R u p e r t G e i s e l m a n n , Die lebendige Überlieferung als N o r m christlichen Glaubens, Freiburg i. Br. 1959. Vgl. Günther B i e m e r , Überlieferung und Offenbarung, Freiburg-BaselWien 1961.

11

30

Geschichte Europas, Freiburg i. Br. 1953,

DIE BIBEL ALS N O R M D E R T H E O L O G I E Von H e r m a n n

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Lassen Sie mich ausgehen von dem in seiner Bedeutung merkwürdigerweise nur selten erkannten Faktum, daß die Bibel in den 1500 Jahren vor der Reformation zwar die unbestrittene N o r m für Verkündigung und Dogma der Kirche bildete, diese N o r m selbst aber nie dogmatisiert wurde. Sie hatte sich offenbar als das maßgebliche apostolische Zeugnis letztlich durch sich selbst als Autorität durchgesetzt. Die Wege zwischen den Reformatoren und Rom gingen darum zunächst auch nicht in der Lehre von der Schrift auseinander, sondern in dem Gebrauch, den man von dieser N o r m machte. Dabei hat sich der Humanismus den Reformationskirchen mit seiner Losung: „Zurück zu den Quellen" als Hilfe angeboten, die zunächst auch dankbar angenommen wurde, um zu zeigen, wie viele Mißstände in der Kirche erst im Laufe ihrer Geschichte entstanden sind. Dieselbe Hilfe wurde aber auch den Reformbestrebungen in der römischen Kirche zuteil; und es zeigte sich sehr bald, daß allein mit dem Interesse an der historischen Priorität theologisch nichts auszurichten war. Dieses Interesse bekam erst dadurch theologische Revelanz, daß die Reformatoren auf diesem Wege die Bibel in deren ursprünglicher und eigentlicher Bedeutung als Predigttext wieder entdeckten und damit den echten Vorgang der Verkündigung in der schriftgemäßen Predigt wiederherstellten. Sie entwickelten dazu auch keine Lehre über das Verhältnis der Schrift zur späteren Tradition, sondern vertrauten einfach darauf, daß die gepredigte Schrift sich selbst als kritische N o r m gegen die Tradition durchsetzen werde. Es war zuerst die römische Kirche, welche in der Abwehr dieses reformatorischen Schriftgebrauchs eine Lehre von der Schrift entfaltete. Dies geschah durch die dogmatischen Definitionen der sessio IV des Tridentinums vom 8. April 1546: Schrift und Tradition werden einander so zugeordnet, daß beide „mit gleicher frommer Bereitschaft" anerkannt und verehrt werden sollen (pari pietatis affectu ac reverentia). Die Grenzen des Schriftkanons werden festgestellt, der Vulgatatext f ü r authentisch erklärt und, was das Wichtigste war, alle Auslegung der Schrift dem Lehramt der Kirche vorbehalten. Die reformatorische Gegenschrift, die Conf. Virtembergica von 1551 beschränkt sich dagegen auf die Feststellung des faktischen Gebrauches der Schrift f ü r die Predigt, in der sich ihre Suffizienz und Selbstevidenz und damit ihre Autorität erweisen wird. Und gegen den Ver31

such, die Schriftauslegung dem kirchlichen Lehramt vorzubehalten, wird gesagt, daß „der rechte Verstand der Schrift bei ihr selbst ist und bei denen, so durch den Heiligen Geist erweckt sind, die Schrift durch die Schrift auszulegen". Hier stehen sich die katholische und die reformatorische Position noch rein gegenüber. Für das Tridentinum ist die Bibel das älteste Stüde der christlichen Tradition. Weil sie das von den Propheten verheißene Evangelium aus dem Mund Christi enthält, der es durch seine Apostel weiterverkündigen ließ, ist sie „die Quelle aller heilbringenden Wahrheit und sittlichen Ordnung." Aber diese in den geschriebenen Büchern der Schrift enthaltene Quelle geht ein in den Strom der ungeschriebenen Überlieferungen, „die von den Aposteln selbst auf Eingebung des Heiligen Geistes gleichsam von Hand zu Hand weitergegeben wurden und so bis auf uns gekommen sind". Sie sind „vom Heiligen Geist eingegeben und in steter Uberlieferung von der katholischen Kirche bewahrt worden". Wie kann aber die „Quelle" der Schrift, die in den Strom der späteren Uberlieferung eingegangen ist, über ihre historische Priorität hinaus noch normierende Kraft für diese haben? Diese hat sie durch das in seiner höchstrichterlichen Instanz infallible Lehramt, das „die Irrtümer auszurotten und die Reinheit des Evangeliums in der Kirche zu bewahren" hat, indem es die Schrift richtig auslegt. Daß dieses Lehramt sich selbst erst im Laufe der Überlieferung herausgebildet hat, ist kein Einwand gegen seine Autorität, da ja in dieser Überlieferung der Heilige Geist am Werk war. Wir befinden uns hier in einem Zirkel: Christus hat die Offenbarung seiner Wahrheit in die Kirche hinein verlängert und fortgesetzt. Es kann darum durch die Kirche nichts an späterer Überlieferung autorisiert werden, was nicht aus jener Quelle stammt, oder umgekehrt: daß es überliefert und von der Kirche autorisiert wurde, bestätigt, daß es aus jener Quelle stammt. Es wird durch die Kirche garantiert, daß die Bibel die Norm ihrer Theologie ist, indem sie sich selbst als die unfehlbare Auslegerin der Bibel autorisiert weiß. Das ist der Zirkel, den Augustin so ausgedrückt hat: „Ich würde dem Evangelium nicht glauben, wenn mich nicht die Autorität der katholischen Kirche dazu bewegen würde". Wir haben es hier mit einer in sich geschlossenen Konzeption zu tun, gegen die von außen her nichts eingewandt werden kann. Die reformatorische Position erscheint demgegenüber wesentlich ungesicherter. Auch sie bewegt sich mit ihrem Grundsatz, daß die Schrift durch die Schrift auszulegen ist, in einem Zirkel, der aber völlig anders verläuft. Es handelt sich hier um die gepredigte Schrift, die im Ereignis ihres Verkündigtwerdens für den glaubenden Hörer sich selbst evident macht. Diesen Vorgang beschreibt Paulus z. B. in 1. Thess. 2, 13 so: „Darum danken wir auch ohne Unterlaß Gott, daß ihr, da ihr 32

empfinget von uns das Wort göttlicher Predigt, es aufnehmt, nicht als Menschenwort, sondern wie es denn wahrhaftig ist als Gottes Wort, welches auch wirket in euch, die ihr glaubt." Das Zeugnis des Apostels, das er im Auftrag Gottes mit der Vollmacht seines apostolischen Amtes ausrichtete, hat die Zustimmung der Gemeinde gefunden, indem sie das Menschenwort des Apostels als Gotteswort erkannten und im Gehorsam aufnahmen. Daß der Apostel für das Eintreten dieses Ereignisses so überschwenglich dankt, zeigt, daß es nicht in seiner Macht lag, es selbst herbeizuführen. Gott selbst mußte nicht nur diese Erkenntnis bewirken, sondern er mußte auch selbst erst die Bedingungen ihrer Möglichkeit schaffen, indem er selbst als der Heilige Geist handelte. Dasselbe drückt Paulus in 1. Kor. 2, 3 ff. so aus: „Ich war bei euch mit Schwachheit und mit Furcht und mit großem Zittern; und mein Wort und meine Predigt geschah nicht in überredenwollenden Worten menschlicher Weisheit, sondern in Beweisung des Geistes und der Kraft, auf daß euer Glaube nicht bestehe auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes Kraft". Es handelt sich also bei diesem Zirkel, in welchem das apostolische Zeugnis sich selbst evident macht, um den Kreis der göttlichen Selbsterschließung, der sich auf dem Weg über das apostolische Zeugnis in dem Glauben der Hörer durch den Heiligen Geist schließt. Die Ungesichertheit dieser Position im Vergleich zu der römischkatholischen besteht darin, daß das Schließen jenes Kreises, in dem das apostolische Wort als Gottes Wort sich evident macht, durch nichts garantiert werden kann. Es erfolgt nur im Selbstbeweis des Geistes zwischen Verkündigung und Glauben. Über diesen Geist verfügt aber die Kirche weder in ihren Ämtern und Institutionen im einzelnen, noch in ihrem geschichtlichen Dasein im ganzen, sondern er ist ihr und ihrem Handeln gegenüber die stets freibleibende Zuwendung Gottes, die er als die Wirkung seines Wortes verheißen hat. Die Kirche kann es darum nur auf diese Verheißung hin wagen, das menschlich-apostolische Wort zu predigen. Und sie hat durch ihr eigenes Dasein und Sosein zu bezeugen, daß sie nicht selbst über die Erfüllung dieser Verheißung verfügt, sondern auf diese Zuwendung Gottes je und je zu warten hat. Das tut sie, indem sie sich auf keinerlei historische und dogmatische Sicherungen verläßt, sondern nur auf den immer neu zu erbringenden Beweis des Geistes und der Kraft. Die Kirche kann also nicht, wie es nach jenem Wort von Augustin erscheint, durch ihre Autorität das Evangelium der Bibel für den Glauben garantieren, sondern es ist gerade umgekehrt: die Kirche lebt davon, daß in dem Vorgang der schriftgemäßen Verkündigung das Menschenwort der Bibel sich selbst der hörenden und glaubenden Gemeinde als Gotteswort evident macht. Die Bibel als die „Quelle aller Wahrheit" wie das 33 3

Tridentinum es ausdrückt, kann sich also nicht mit dem Strom der kirchlichen Tradition vermischen, sondern die Kirche lebt immer aus der Quelle selbst. Die Reformatoren drückten das so aus, daß die Kirche eine creatura verbi ist und bleibt. Wir haben damit aber bisher nur von der Bibel als Norm für die Verkündigung gesprochen, während doch in dem uns gegebenen Thema nach der Norm für die Theologie gefragt ist. Beides hängt aber untrennbar zusammen. Die Aufgabe der christlichen Theologie besteht darin, daß die Kirche sich selbst und der Welt aposteriorisch-analytisch Rechenschaft gibt über die sie konstituierende Verkündigung, indem sie diese Verkündigung kritisch befragt auf ihre Identität und Kontinuität mit der durch die Bibel bezeugten Offenbarung. Audi bei diesen theologischen Nachdenken gehen die Wege zwischen der katholischen und reformatorischen Theologie wieder auseinander. In der katholischen Theologie besteht zwischen der Bibel und der Theologie ein unmittelbarer Zusammenhang. Es ist der Heilige Geist, auf dessen Eingebung hin die Bücher der Bibel geschrieben worden sind, und der diese der Kirche als „depositum fidei" übergeben hat, damit sie dieses anvertraute Glaubensgut, wie das Vaticarum sagt, „treulich bewahre und unfehlbar erkläre". Da die Bibel in ihren eigenen Aussagen irrtumsfrei die ganze Offenbarungswahrheit in nuce enthält, besteht die Aufgabe der Theologie darin, die Aussagen mit Hilfe der kirchlichen Lehrüberlieferung weiter zu entfalten, und dabei diese Uberlieferung selbst kritisch auf ihre Kontinuität zu prüfen. Diese Entfaltung geschieht, nachdem die einzelnen veritates revelatae in der Bibel vorliegen, in grundsätzlich analoger Weise, wie der Philosoph aus bestimmten Grundwahrheiten als Prinzipien logisch deduziert, oder wie in der Rechtspraxis ein Gesetz nach dem Willen des Gesetzgebers ausgelegt wird. Aber damit auf dem Wege der Deduktion nicht falsche Schlüsse gezogen werden oder, nach der Analogie der Rechtspraxis, keine widerspruchsvolle Auslegungspraxis entstehen kann, bedarf es einer höchstrichterlichen Instanz. Darum steht die verbindliche Entscheidung in den dabei entstehenden Kontroversen nicht der Theologie zu, sondern diese fällt das kirchliche Lehramt. Daraus ergibt sich, wie das Vaticanum feststellt, daß in der Kirche „all das zu glauben ist, was im geschriebenen und überlieferten Wort Gottes enthalten ist, und von der Kirche, sei es durch feierliches Urteil oder durch das ordentliche und allgemeine Lehramt als von Gott geoffenbart zu glauben verkündigt wird." Nach gefallener Entscheidung durdi das kirchliche Lehramt hat dann die Theologie wiederum die Aufgabe, diese zu begründen, während sie für die Priester zur verbindlichen Norm für ihre liturgische und katechetische Praxis wird. Als Hauptsicherung in diesen Stromkreis des Heiligen Geistes, wenn wir so sagen dürfen, ist das 34

kirchliche Lehramt eingebaut, bzw. nach katholischer Lehre vom Heiligen Geist selbst eingebaut worden, so daß jeder entstehende Kurzschluß erkannt und behoben werden kann. Stellen wir daneben wieder die reformatorische Position. Die Aufgabe der Theologie, wie wir sie definiert haben, bleibt auch hier grundsätzlich dieselbe. Aber es besteht hier nicht jener direkte und ungebrochene Zusammenhang zwischen Bibel und Theologie, wie er durch das katholische System hergestellt wird. Zwischen beiden steht die Verkündigung. Diese darf hier nicht so verstanden werden, wie auf katholischer Seite die kirchenamtliche Lehrentscheidung ein Akt der „Verkündigung" genannt wird. Es handelt sich vielmehr um die Verkündigung im neutestamentlichen Sinn des konkreten Vorgangs der schriftgemäßen Predigt vor der hörenden Gemeinde, In diesem Vorgang, in welchem das apostolische Zeugnis nach der Verheißung des Heiligen Geistes sich dem glaubenden Hörer selbst evident machen will, hat die Aufgabe der Theologie ihren Ursprung und wiederum ihr Ziel. Diese Verkündigung beansprucht auch das im Glauben immer mitenthaltene Erkennen des Verkündigten. Das gilt zunächst für den Prediger, der das ihm in der Bibel begegnende prophetisch-apostolische Zeugnis ja nicht nur rezitiert, sondern es mit seinen eigenen Worten und nach seinem Verständnis wieder neu zu bezeugen hat. Dazu bedarf es des theologischen Nachdenkens, in welchem er seine eigene Verkündigung kritisch daraufhin zu prüfen hat, ob er mit ihr in der Kontinuität und Identität des biblisdien Zeugnisses steht. Diese theologische Besinnung stellt er nicht als privater Einzelner an, sondern er steht dabei in der Auslegungs-Verkündigungs- und Lehrtradition der Kirche, welche ihn zu dieser Verkündigung berufen und beauftragt hat. Aber so wie er das Bibelwort nicht einfach rezitieren kann, ebensowenig kann er seine Auslegung desselben einfach dieser Tradition, in welcher die bisherige Verkündigung ihren Niederschlag gefunden hat, unkritisch als unfehlbare Norm für seine Verkündigung entnehmen. Sonst würde er ja diese an die Stelle der Bibel setzen. Das geht einmal deshalb nicht, weil er damit rechnen muß, daß diese immer fehlbare, menschliche Auslegung der Schrift diese nicht nur erklären, sondern ihr rechtes Verständnis auch verdecken kann. Das geht ferner deshalb nicht, weil jede neue Verkündigungssituation mit ihren jeweils anderen Ausdrucks* und Verständnismöglichkeiten eine neue und bessere Auslegung verlangt und dabei den Prediger zwingt, immer wieder hinter die theologischen Kommentare zur Quelle des Textes selbst zurückzugehen. Aber der Theologe, ganz gleich, ob er theologischer Lehrer oder Prediger oder in Personalunion beides ist, handelt bei seiner kritischen Prüfung der Tradition wiederum nicht als privater Einzelner, sondern seine bessere Sdirifterkenntnis hat ihr Wahrheitskriterium daran, daß 35 3»

sie sich der Gemeinde predigen läßt. Der Theologe kann dabei u. U. der Gemeindetradition weit vorauseilen, ja sogar gegen sie lehren und predigen müssen. Aber wenn er seiner Erkenntnis der Schrift im Glauben gewiß ist, dann muß er es nicht nur wagen können, sondern ist er dazu verpflichtet, sich mit ihr dem Urteil der Gemeinde auf dem Weg über die Verkündigung zu stellen und um ihren Konsensus zu ringen. Und er darf das getrost tun im Vertrauen auf den einen Christus, der durch den einen Geist, der der ganzen Gemeinde verheißen ist, in die eine Wahrheit führen will. Daß es praktisch zu diesem Konsensus dann auch immer wieder nicht kommt, und stattdessen Uneinigkeit und Spaltung in der Gemeinde entsteht, und das nicht nur erst seit der Reformation, wie man weithin meint, sondern schon in der ältesten Christenheit, ist kein Einwand gegen diese Verheißung, sondern ist die Schuld der Christenheit, einschließlich ihrer Theologen. Es ist wohl der kühnste Satz des „Augsburgischen Bekenntnisses", wenn es über die Kirche sagt: „Dies ist genug zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirche, daß da einträchtiglich nach reinem Verstand das Evangelium gepredigt wird", und dabei zugleich auf alle Sicherungen f ü r das einhellige Verständnis der Schrift verzichtet, und die ganze Kirche und ihre Einheit an die Predigt der Schrift wagt. Aber nun müssen wir gleich dazu sagen, daß die Reformationskirchen diese Position nicht durchgehalten und ihre Ungesichertheit nicht ausgehalten haben. Das beginnt schon innerhalb der lutherischen Bekenntnisschriften. Die „Konkordienformel" betont zwar, daß alle Lehre an der Heiligen Schrift als der alleinigen Richtschnur geprüft werden müsse, meint aber zugleich, f ü r ihre eigene Lehre diese Prüfung bereits ein f ü r allemal hinter sich zu haben, wenn sie sagt, daß diese „nicht allein bei den Jetztlebenden, sondern auch bei unseren Nachkommen", oder wie es der lateinische Text noch stärker ausdrückt: „ad omnem posteritatem" gelten solle. Es mußte dann nur eine Theorie bleiben, wenn man späterhin unterschied zwischen der Schrift als norma normans und den Bekenntnissen als norma normata. Praktisch mußte sich das Verhältnis umkehren, sobald man den Vorgang der Verkündigung zwischen der Bibel und der Theologie ausschaltete. Denn damit fiel der theologische O r t aus, an dem die Theologie jeweils zu verifizieren und zu rektifizieren und allein darin durch die Bibel zu normieren ist. An Stelle dieses „Umweges" über die Verkündigung, bei der man auf den nicht verfügbaren Heiligen Geist angewiesen ist, suchte die altprotestantische Orthodoxie unter dem Druck der Gegenreformation nun ebenfalls einen direkten Weg von der Bibel zur Theologie. Zwar konnte sie jene katholische Hauptsicherung des unfehlbaren kirchlichen Lehramtes nicht wieder einführen, wenn sie nicht alle reformatorischen Erkenntnisse preisgeben wollte. Sie verlegte deshalb den Heiligen Geist 36

als eine für die Kirche verfügbare Größe anstatt in die kirchlichen Ämter und Institutionen in das Bibelwort, und entfaltete eine Lehre von der Schrift, nach welcher die Schrift kraft des in sie eingegangenen und mit ihr unlösbar verbundenen Heiligen Geistes mit der Offenbarungswahrheit identisch sei. U n d sie zog daraus dann auch die notwendige Folgerung, daß die Schrift auch „ante et extra u s u m " Gottes Wort sei, sich also nicht erst im Geschehen der Verkündigung als solches erweise. Die Bibel wurde damit als eine widerspruchslose Lehreinheit von geoffenbarten, göttlichen Wahrheiten verstanden, als eine „summa quaedam coelestis doctrinae", wie es der Lutheraner Johann Gerhard ausdrückt. Und die reformatorische Regel, daß die Schrift durch sich selbst auszulegen sei, konnte dann der Reformierte Heinrich Heppe klassisch so formulieren: „Die Heilige Schrift ist das Prinzip der gesamten Theologie, die ausschließliche N o r m der christlichen Lehre und die untrügliche Richterin aller Lehrstreitigkeiten, und zwar in der Weise, daß alles, was der Wortlaut der Schrift und dessen unzweifelhafte Folgerungen enthalten, Dogma ist, während das Gegenteil desselben Irrtum und alles andere, wenn es der Heiligen Schrift nicht widerspricht, für das Seelenheil gleichgültig ist". Die Reformationskirche hat sich damit die Fragestellung durch das Tridentinum vorschreiben lassen und sich dadurch grundsätzlich auf denselben Boden mit diesem begeben, indem nunmehr auch bei ihr der Vorgang der Verkündigung ausfiel als der theologische Ort, in welchem sich die Bibel als N o r m der Theologie erweisen mußte. Was sie dabei an die Stelle des katholischen Lehramtes setzte, war ein überaus kümmerlicher Ersatz. Und es war gar nicht so falsch, wenn die katholischen Theologen der Gegenreformation gegen diese Lehre den Einwand erhoben, daß damit an die Stelle des im Papst gipfelnden kirchlichen Lehramtes ein „papierener Papst" getreten sei. Die Frage, welcher dieser beiden Päpste für die Kirche besser wäre und ihrem Wesen mehr entspräche, können wir offen lassen, da wir vor dieser Alternative heute nicht mehr stehen. Als die historisch- kritische Geschichtswissenschaft auch in die Theologie eindrang, zeigte sich jedenfalls jener „papierene Papst" f ü r deren Kritik weit anfälliger als der andere, dessen dogmatisch begründete Autorität historisch nicht nachprüfbar und deshalb auch von daher letztlich nicht angreifbar ist. Die Schriftlehre der protestantischen Orthodoxie aber konnte man historisch nachprüfen. Die historischkritische Bibelwissenschaft tat das, und sie zerstörte dabei alle jene Sicherungen, welche die Orthodoxie in die reformatorische Position eingebaut hatte: Die Untersuchung der Entstehungsgeschichte des Kanons der Schrift ergab keine bestimmten Maßstäbe für seine Rezeption und 37

keine prinzipiellen Gründe für seine Abgeschlossenheit. Damit hielt man auch seine dogmatische Autorität für erledigt. Inhaltlich ließ sich seine widerspruchslose Einheit, sowohl in bezug auf die historischen Berichte, als auch auf die Lehraussagen sehr leicht als ein Irrtum erweisen. Jener harmonisierenden Konkordanzmethode im Schriftgebrauch der Dogmatiker war damit jedenfalls der Boden entzogen. Die Zerstörung jener falschen Sicherungen durch die historisch-kritische Bibelwissenschaft hat aber nicht einfach die reformatorische Position wieder freigelegt, wie von deren Vertretern oft behauptet wird. Sie hat vielmehr zunächst nur ein theologisches Trümmerfeld hinterlassen, in welchem lange Zeit von der Bibel als N o r m für die Theologie in gar keinem theologisch ernstzunehmenden Sinn mehr geredet werden konnte. Das einzige, was inmitten dieser theologischen Hilflosigkeit weiterging, war, daß nach wie vor über die Bibel gepredigt wurde. Damit blieb aber auch die Aufgabe der Theologie, über dieses Geschehen kritisch Rechenschaft zu geben, weiterhin unverändert gestellt. Eine entscheidende Wende in der Selbstbesinnung der deutschen Theologie auf diese Aufgabe erfolgte in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts, und zwar etwa gleichzeitig in den verschiedenen Disziplinen der Theologie: der Kirchengeschichte, der Bibelwissenschaft und der Dogmatik. Die Lutherstudien von Karl Holl u. a. legten den Blick auf die ursprüngliche reformatorische Position wieder frei, der durch die Auseinandersetzungen zwischen Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung verdeckt worden war. Durch die formgeschichtliche Methode, wie sie in die alttestamentliche Wissenschaft durch Hermann Gunkel u. a. und in die neutestamentliche Wissenschaft durch Martin Dibelius, K. L. Schmidt, Rudolf Bultmann u. a. eingeführt wurde, hat man den Verkündigungscharakter der biblischen Schriften wieder entdeckt und damit bestätigt, daß das reformatorische Schriftverständnis auch historisch dem Selbstverständnis der Bibel entspricht. U n d Karl Barth, der durch seine Situation als Pfarrer auf seinen theologischen Weg geführt wurde, hat die Dogmatik als geschlossenes Lehrsystem überwunden und sie wieder als Wissenschaft über das Verkündigungsgeschehen verstanden, von dem alles theologische Denken herkommen, und dem es wieder kritisch dienen muß. Wenn es sich dabei auch im großen und ganzen, obgleich auf sehr verschiedenen Wegen, um eine Wiedergewinnung der reformatorischen Position in unserer Frage nach der Bibel als N o r m der Theologie handelt, so kann das doch nicht einfach zu einer Repristination derselben führen. 400 Jahre Theologie- und Geistesgeschichte, die keineswegs bloß ein Irrtum waren, müssen aufgearbeitet werden. Ein weitgehender Konsensus hat sich dabei in der evangelischen 38

Theologie noch nicht wieder herausgebildet. Ich kann darum nur kurz den Stand der Diskussion andeuten. Sie wird vor allem beherrscht durch den nur langsam zu überwindenden alten Gegensatz zwischen historischer Bibelwissenschaft und Dogmatik. Dazu darf ich noch einmal an das Faktum erinnern, von dem ich ausgegangen bin, daß die Bibel bis ins 16. Jahrhundert die unbestrittene Norm für Verkündigung und Lehre der Kirche bildete, ohne daß diese Norm selbst dogmatisiert worden war. Aber wie hat der Schriftkanon diese faktische Geltung erlangt? Bereits um die Mitte des 2. Jahrhunderts standen die meisten Schriften des Kanons fest, während andere noch 200 Jahre lang umstritten waren. An äußeren Gründen für die Rezeption wurden dabei die apostolische Verfasserschaft und das Alter der Schriften geltend gemacht. Mit beiden Gründen kam man aber letztlich nicht durch. Bei vielen Schriften waren die Verfasser schon damals unbekannt oder umstritten, so daß schließlich umgekehrt eben das als „apostolisch" galt, was in den Kanon Aufnahme fand. Auch sind nach unserer heutigen Erkenntnis wahrscheinlich einige Schriften in den Kanon gekommen, die jünger waren als solche, die ausgeschieden wurden. Die hinterher unternommenen Versuche, innere Gründe als Kriterium für die Rezeption festzustellen, führten zu keinem einheitlichen Ergebnis, weil sie naturgemäß völlig abhängig sind von dem theologischen Standpunkt des Beurteilers. Der Rezeptionsvorgang selbst bestand in der praktischen Aufnahme der betreffenden Schrift in den gottesdienstlichen Gebrauch. Eine für die Gesamtkirche verbindlich handelnde Stelle, welche in diesem Rezeptionsvorgang hätte Regie führen können, hat es damals noch nicht gegeben. Karl Barth sagt dazu zusammenfassend: „Der erkennbare Kern der Kanonsgeschichte ist denn auch der, daß bestimmte Bestandteile der ältesten Uberlieferung sich in der Schätzung und Geltung der Christenheit innerhalb der verschiedenen Kirchen allmählich unter allerhand Schwankungen faktisch durchgesetzt haben . . . Irgendeinmal und in irgend einem Maße (neben allem Zufälligen, was diese Schätzung verstärkt haben mag) haben gerade diese Schriften kraft dessen, daß sie kanonisch waren, selbst dafür gesorgt, daß gerade sie später als kanonisch auch anerkannt und proklamiert werden konnten" (K. D. 12, S. 525). Die theologischen Historiker wollen diesem Urteil Barths nicht gern zustimmen, obwohl sie historisch im Grund auch nichts anderes feststellen können, als daß der Schriftkanon eben durch sich selbst der Kirche imponiert hat, und sie ihn darum als Norm ihrer Verkündigung und Lehre rezipiert hat. Diese Scheu des Historikers gegenüber dogmatischen Folgerungen aus dem historischen Tatbestand zeigt sich weiterhin in der Frage, wie nun dieser, nicht prinzipiell zu begründende, aber faktisch gegebene Kanon zum Norm für die Lehre wird. Rudolf Bult39

mann stellt für die alte Kirche fest: „Die Einheit der Lehre ist durch den Kanon gesichert worden und nicht durch eine normative Dogmatik" (Theol. des NT, S. 486), und er bestätigt damit ebenfalls jenes Faktum, von dem wir ausgingen. Aber bei diesem historischen Urteil kann der Theologe wiederum nicht stehen bleiben, sondern er muß diesem merkwürdigen Phänomen weiter nachgehen und fragen, wie und warum der Kanon der Schrift, obwohl er selbst keine Lehreinheit ist, in seinem Gebrauch im Verkündigen, Hören und Glauben der Kirche eine solche Einheit der Lehre herbeiführen kann. In der Beantwortung dieser Frage bricht wieder die Kontroverse zwischen den Historikern und den Dogmatikern auf. Der Dogmatiker muß auf Grund dieses historischen Tatbestandes die Lehrbildung und in deren weiterer Entwicklung das Dogma als Antwort auf die Verkündigung der ganzen Schrift erklären und in seiner eigenen Arbeit nachvollziehen. Der Historiker dagegen ist geneigt, in jenem Tatbestand nur ein zufälliges historisches Faktum zu sehen, das für ihn keine dogmatische Verpflichtung bedeutet. Er wird dann die Einheit, die er in der Schrift selbst nicht findet, durch einen bestimmten Auslegungsmaßstab in sie hineinzutragen versuchen. An die Stelle des Schriftkanons tritt dann praktisch ein hermeneutischer Kanon, der, je nach dem Standpunkt des Theologen nur einem Teilaspekt der Schrift entnommen oder von außen an diese herangetragen wird. In der Schule Bultmanns wirkt sich das dahin aus, wenn auch in unter sich wieder sehr verschiedenen Varianten — daß das ganze Interesse an der Lehre sich auf das Problem der Hermeneutik reduziert, und für eigentlich dogmatische Lehraussagen gar kein Raum mehr ist und keine Notwendigkeit besteht. Alle Lehrentscheidungen fallen bereits in der Exegese mit Hilfe der hermeneutischen Methode. Der Dogmatiker aber muß diesen Exegeten warnen vor einer willkürlichen Systematisierung seiner Ergebnisse, die nur allzuleicht zu einer theologischen Freibeuterei führt. Er fürchtet, daß dabei die Schrift durch eine hermeneutische Methode vergewaltigt und damit der reformatorische Grundsatz von der sich selbst interpretierenden Schrift durch den Exegeten durchkreuzt wird. Nicht unerwähnt bleiben dürfen hier die Bemühungen katholischer Theologen wie Karl Rahner, Hans Kiing, Peter Lengsfeld u.a., welche sich in neuer Weise um die Bibel als Norm der Theologie bemühen. Sie vertreten als legitime katholische Lehre, trotz der gegenseitigen Zuordnung von Schrift und Tradition im Tridentinum, die Suffizienz der Schrift und damit praktisch ihre Überordnung über die Tradition. Diese Einsicht könnte freilich nur dann in der Lehre und Praxis der katholischen Kirche wirklich zum Tragen kommen, wenn in ihr der Wortgottesdienst wieder seine Bedeutung bekäme als der theologische Ort, an dem die gepredigte Schrift ihre normative Kraft erweisen kann. 40

Hier könnten sich neue Ansätze entwickeln f ü r das seit der Gegenreformation steril gewordene theologische Gespräch zwischen den beiden Konfessionen. Für den, der nicht selbst in dieser Auseinandersetzung steht und das mit der dazu nötigen Zuversicht und Geduld tut, ist es oft nur schwer erkennbar, daß dabei doch alle bei derselben Sache sind und sich bemühen, von der Bibel als N o r m der Theologie den rechten Gebrauch zu machen. Diese Zuversicht in die Selbstevidenz der Schrift, die als Text bleibt, und die daraus entspringende Geduld gegenüber den wechselnden Kommentaren fehlt z. B. weithin auch den Kirchenleitungen, welche vor allem jener Gemeindefrömmigkeit Rechnung tragen zu müssen meinen, die gegen jedes theologische "Wagnis mißtrauisch ist. Die Theologie kann sich dadurch in ihrer Arbeit nicht irremachen lassen, gerade wenn sie der schriftgemäßen Predigt der Kirche in rechter Weise dienen will. Neuerungen in der Theologie, welche nicht durch die Schrift als N o r m der Theologie gefordert sind, werden sich ohnehin von selbst totlaufen, weil die Theologie damit ihrer Aufgabe selbst untreu wird und ihren Gegenstand verliert. Aber gerade wenn sie ihrer Aufgabe treu bleibt, wird sie der Kirche dies stets neue Wagnis des Glaubens zumuten müssen. Denn das Festhalten an der Bibel als N o r m der Theologie bedeutet letztlich nichts anderes als das Festhalten an der alten reformatorischen Losung: ecclesia est Semper reformanda.

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DIE ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT - SPIEGEL ODER WEGWEISER DER M O D E R N E N GESELLSCHAFT? Von H a n s

Wenke

Zum Thema meines Vortrages seien mir zwei Vorbemerkungen gestattet: ich stelle eine Beziehung zwischen Erziehungswissenschaft und moderner Gesellschaft her, die ich unter den Stichworten „Spiegel" und „Wegweiser" erörtern will. Mit der Betrachtung dieser Beziehung will ich einige Wesenszüge der Erziehungswissenschaft selbst verdeutlichen. Idi räume von vornherein ein, daß man auch andere Beziehungen, z. B. zu den Kulturgütern, zur Staatsordnung, zu Tatbeständen der Tradition, zu weltanschaulichen Bewegungen, zu philosophischen Positionen wählen kann. Ich nehme die Beziehung zur Gesellschaft als ein Beispiel f ü r die allseitige Verflechtung der Erziehungswissenschaft mit den Inhalten unserer Welt; idi halte aber gerade mein Beispiel für besonders aufschlußreich für die Einsicht in das Wesen und die Verantwortung der Erziehungswissenschaft, weil es dem Rahmenthema dieser Vortragsreihe entspricht. Außerdem ist es jedem aus eigener Erfahrung zugänglich, aber es bleibt ein Beispiel; damit will ich sagen: es ist damit kein Dogma ausgesprochen, etwa dieses, daß es von der Erziehung aus nur einen wichtigen Brückenschlag gebe, eben den zur Gesellschaft und ihren Anforderungen und Problemen. Aber ich scheine dabei den Gegenstand der Erziehungswissenschaft — nämlich die Erziehung — zu überspringen, und tatsächlich: Würde es sich nicht solider und sachgerechter ausnehmen, wenn ich Überlegungen darüber anstellte, ob und wie weit die Erziehungswissenschaft Spiegel oder Wegweiser der Erziehung sein kann? Denn es wäre keine banale sondern eine ernst zu nehmende Frage, ob die Wissenschaft überhaupt Spiegelbild der Erziehung — ihrer Wirklichkeit und ihrer Praxis — sein kann, ob es ihr gelingen kann, ob es von ihr zu erwarten ist, der Erziehungsarbeit die Wege oder gar den Weg zu weisen. Vielleicht aber gelingt es mir, auf dem Umweg über die Behandlung meines weiter ausgreifenden Themas auch diesen Sachverhalt zu klären und etwaige Zweifel zu zerstreuen, ob Wissenschaft und Erziehung etwas miteinander zu tun haben, ob sie in glücklicher oder unglücklicher Verbindung leben — eine Frage, die gewiß nicht mit dem Hinweis erledigt werden kann, daß es Lehrstühle und Seminare für Erziehungswissenschaft an den Universitäten gibt. An den Universitäten gibt es vieles, was — geschützt durch die Würde der Institution — davon dispensiert 42

ist, seine eigene Dignität nachzuweisen; hier strahlt manche Spezialität im erborgten Glänze der universitas. Die zweite Vorbemerkung betrifft die Stichworte „Spiegel" und „Wegweiser". Sie symbolisieren zwei völlig verschiedene Vorstellungen. Daß das so ist, kann ich durch Hinweis auf einen Tatbestand verdeutlichen, der uns im pädagogischen Bereich oft begegnet: Tn einem Erzieher kann der Impuls zur Wegweisung so stark sein, daß es ihm nicht mehr gelingt, die Ruhe und Kontemplation aufzubringen, um das Spiegelbild der Wirklichkeit einzufangen und auf sich wirken zu lassen. Den umgekehrten Fall will ich hier nur im Vorbeigehen erwähnen: die freudige Versenkung des Blickes in die Fülle der Spiegelbilder kann dazu führen, daß der Impuls zur Entscheidung für einen Weg, der weiterführt, gelähmt wird oder erlischt. Unter dem Titel „Historismus" ist dies hundertfach beschrieben und kritisiert worden. Jedoch reicht die Problematik weiter: Die Worte Spiegel und Wegweiser sind für sich genommen mehrdeutig. Der Spiegel im physikalischen Sinne reflektiert alle Strahlen, die ihn treffen, und die Philosophie hat das Bild von der Spiegelung oft verwendet, wenn sie die Aufnahme der Weltinhalte im Bewußtsein verständlich machen wollte, und sie hat es auch nicht an optimistischer Auslegung der individuellen Kapazität des Universalen fehlen lassen; ich erinnere an die Spiegelung des Makrokosmos im Mikrokosmos in der Pansophie des Comenius und in der Monadenlehre von Leibniz. In unserem Falle können wir weder im Sinne der Physik noch in der Nachfolge jener philosophischen Deutungen von einem Spiegelbild sprechen. Die Erziehungswissenschaft, die sich um einen Spiegel der Gesellschaft bemüht, wird nicht erreichen können und nicht anstreben wollen, ein vollständiges Bild des sozialen Lebens zu gewinnen. Sie wird das einfangen, was unter dem Aspekt der Erziehung wichtig ist, und auch dann noch hat sie ihre besonderen Schwierigkeiten; denn die Erziehungswissenschaft kann nicht auf Wertungen dessen verzichten, was nach ihrem Urteil der Erziehung förderlich und abträglich ist. Das ist nicht ihre subjektive Schwäche sondern ihre kritische Stärke und ihr Auftrag. Es ist also ein Spiegel besonderer Art: er wählt aus im Gegensatz zum physikalischen Spiegel, der alles reflektiert. Ebenso ist es notwendig zu klären, was das Wort „Wegweiser" in unserem Zusammenhang bedeuten kann. Wir denken zunächst an den Wegweiser im freien Feld oder im Wald, der — sozusagen in sich selbst ruhend und völlig unbeteiligt an dem, was um ihn herum geschieht — lediglich dem, der einen Weg sucht, eine schlichte Information gibt. Der mag nun mit dieser Information machen, was er will; er kann diesen oder einen anderen Weg gehen. Sobald aber die Wahlfreiheit nicht besteht, etwa wenn der Wegsuchende sich verirrt hat, wird dieser Weg43

weiser zu einer dringenden und gebieterischen und sogar hoch willkommenen Aufforderung. Drittens müssen wir auch damit rechnen, daß die Wissenschaft nur einen Weg für richtig und gangbar erklärt. Nidit die Situation — wie im zweiten Falle — sondern die Wegweisung selbst bedeutet dann sehr viel mehr als eine schlichte Information. Sie bedeutet Appell, Anspruch, Überredung, im besten Falle: Überzeugung, wie es allein dem Wesen der Wissenschaft entspricht. Man könnte nun — um mit Kant zu reden — „artige Betrachtungen" darüber anstellen, wie man die Spiegel herrichten und einstellen muß, wie man die Wegweiser aufzustellen hat, um einen optimalen und maximalen Effekt zu erreichen. Eine zur Zeit beliebte Beschäftigung in der Pädagogik besteht z. B. darin, die Spiegelfläche der Erziehungswissenschaft glatt und blank zu halten, und diese pädagogischen „Spiegelputzer" finden daran soviel Freude und sind von so emsiger Begeisterung ergriffen, daß sie von ihrem Geschäft nicht wieder ablassen und nicht dazu kommen, die Spiegel aufzustellen und die Bilder der Welt einzufangen. Hier darf ich nochmals an Kant erinnern; so wie er sich zu einer Streitschrift über „einen neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie" veranlaßt sah, so kann man heute über einen neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Pädagogik Klage führen. Ich werde das noch genauer beleuchten und erwähne es hier nur, weil ich mich von solchen selbstgefälligen, um den Eindruck der Wissenschaftlichkeit besorgten Erörterungen ausdrücklich distanzieren möchte, zu denen mein Thema einladen oder verführen könnte. Ich will vielmehr an konkreten Beispielen deutlich machen, ob die Erziehungswissenschaft Spiegel und Wegweiser der modernen Gesellschaft sein kann oder soll und in welcher der soeben skizzierten Formen es von Fall zu Fall gemeint ist. In dieser kasuistischen Betrachtung glaube ich, einige verläßliche allgemeine Antworten auf die Fragen zu finden, die das Thema aufwirft. Da über diese Frage in der Diskussion der deutschen Erziehungswissenschaft und Bildungspolitik besonders lebhaft gestritten wird, kann man auf den Gedanken kommen, daß es sich vielleicht nur um eine deutsche Spezialität oder gar um eine deutsche Querele handelt. Es erscheint mir deshalb angebracht, mit ausländischen Beispielen zu beginnen, in denen sich uns eine viel einfachere und weniger problematische oder problematisierte Beziehung zwischen der Erziehung und Gesellschaft, also auch der Erziehungswissenschaft und der Gesellschaft, vor Augen stellt — bei aller Verschiedenheit und Gegensätzlichkeit der Grundpositionen. Ich meine die in Amerika herrschende Auffassung und die in Sowjetrußland verkündete Doktrin. Hierbei werde ich mich sowohl bei Betrachtung der ausländischen wie der deutschen Auffassungen an offizielle Dokumente halten oder 44

solche Stimmen von Pädagogen anführen, deren Lehren eine nachweisbare dauernde Wirkung auf die reale Gestaltung des Verhältnisses von Erziehung und Gesellschaft ausgeübt haben. Ich bitte auch um Verständnis dafür, daß ich hier die Dokumente selbst sprechen lasse, die so eindeutig sind, daß sie keiner Interpretation bedürfen. Gibt es aber in Amerika so etwas wie eine herrschende Meinung oder Auffassung in dieser Frage? Bei aller Vorsicht vor der Gefahr der unerlaubten Verallgemeinerung oder der Absolutsetzung einer einzelnen Stimme kann man das bejahen. Sie spricht sich aus in der These vom engsten Zusammenhang von Erziehung, Schule und Gesellschaft in der Form, daß die Erziehung selbst sowohl Spiegel der bestehenden Gesellschaftsordnung als auch ganz besonders Wegweiser für neue Formen des sozialen Lebens ist. Sie ist am Ende des 19. Jahrhunderts von J o h n Dewey verkündet worden. Er hat sie selbst als sein pädagogisches Glaubensbekenntnis bezeichnet: „Ich glaube, daß Erziehung die fundamentale Methode des Fortschritts und der Reform der Gesellschaft ist." In seinen Büchern „Die Schule und die Gesellschaft" und „Erziehung und Demokratie" (aus dem Jahre 1915) hat er das ausführlich begründet. Aus diesem Buch führe ich die Hauptthesen an: „Die stark gewachsene soziale Bedeutung der augenfälligen industriellen Entwicklungen mußte notwendig die Frage nach der Beziehung zwischen Schulung und industriellem Leben in den Vordergrund rücken. Eine so tiefgreifende soziale Umschichtung mußte notwendig ein Erziehungswesen, das aus einer gänzlich anders aufgebauten Gesellschaft ererbt war, stark erschüttern, mußte der Erziehung neue Aufgaben stellen 1 ." Das ist die Forderung, daß sich die Gesellschaft im Leben der Schule widerspiegeln soll. Aber noch wesentlicher ist das zweite Postulat: „Die Veränderung (der Gesellschaftsordnung), die wir herbeiführen wollen, ist im wesentlichen eine Veränderung in den Dispositionen der Menschen — eine pädagogische Veränderung. . . . Es bedeutet, daß wir die Schule zu einem Modell derjenigen Gesellschaft machen, die wir gern verwirklichen möchten, und in ihr die Geister so formen, daß sie bereit und imstande sind, allmählich die Züge der größeren und widerspenstigeren Gesellschaft der Erwachsenen zu ändern." Der Schlußsatz dieser Überlegungen lautet: „Die soziale Neuordnung beruht auf der pädagogischen 2 ." Es konnte nicht ausbleiben, daß diese hochgespannten Erwartungen auch Kritik erfuhren. Man warf Dewey vor, daß er die Wirkungskraft der Erziehung überschätzt und die tiefgehenden gesellschaftlichen Zerklüftungen, die er selbst beschrieben hat, eilfertig harmonisiert habe. Aber ich sehe nicht, daß man deshalb jemals eine Abtrennung der Erziehung vom gesellschaftlichen Leben gefordert hätte. Auch als man in den letzten Jahren — unter dem schockierenden Eindruck des russischen Sputnik — heftige Kritik am Erziehungswesen 45

übte und meinte, daß der Blick auf die Einübung gesellschaftlicher Tugenden allzu sehr von den Bemühungen um gründliches Wissen und um solide Fachkenntnisse abgelenkt habe, ging keiner der Kritiker so weit, daß die von Dewey verkündete sozialpolitische Aufgabe der E r ziehung zu Gunsten der Spezialbildung zurückgestellt werden sollte. Dafür haben wir zwei eindrucksvolle Beweise: den Conant-Bericht über den gegenwärtigen Zustand der amerikanischen High School von 1959 und die Botschaft des Präsidenten Kennedy an den Kongreß der Vereinigten Staaten vom Februar 1961. Conant, der das Verhältnis zwischen Wahlfreiheit und Verpflichtung im Schulunterricht zu Gunsten der obligatorischen Fächer, besonders der naturwissenschaftlichen und mathematischen Disziplinen, neu ordnen will, hält an der Einübung der sozialen Tugenden und Verhaltensweisen fest, auf die die amerikanische Schule seit jeher W e r t legt, und — was ebenso charakteristisch ist — er ruft nicht nach einer zentralen Regelung durch die Staatsorgane sondern vertraut diese R e f o r m den Bürgern an, die er zur Mithilfe auffordert, und er will auf diesem Wege die dem Amerikaner geläufige Verbindung von Erziehung und Gesellschaft aufrechterhalten. Sein Bericht endet mit den W o r t e n : „Ich richte dieses Schlußwort an die Bürger, denen das öffentliche Schulwesen am Herzen liegt: vermeidet Verallgemeinerungen, erkennt an, daß Vielfalt notwendig ist, unterrichtet Euch über die örtlichen Gegebenheiten, wählt gute Schulaufsichtsräte und unterstützt sie in ihrer Arbeit zur Verbesserung der Schulen!" 3 Die klarste und einfachste Begründung für die Forderung des öffentlichen Interesses an allen Erziehungsfragen gibt Präsident Kennedy in seiner Botschaft an den Kongreß, in der er auf die schicksalhafte Bedeutung des Bildungs- und Erziehungswesens für die Zukunft der N a tion hinweist, und in der härteren Sprache des Staatsmannes den engen Zusammenhang von Erziehung und Gesellschaft betont: „Unser Fortschritt als Nation kann nicht schneller sein als der unseres Erziehungswesens. Die Erfordernisse für die Führung in der Welt, unsere Hoffnungen auf ein wirtschaftliches Wachstum und die Erfordernisse, die jeder als Staatsbürger zu erfüllen hat, verlangen in einer solchen Situation die größtmögliche Entwicklung der Fähigkeiten eines jeden jungen Amerikaners. Der menschliche Geist ist unser eigentlicher Reichtum. Ein ausgewogener Bundeshaushalt muß über die Verbesserung der Gebäude und der Ausstattung hinausgreifen. E r muß ebenso entschlossene Maßnahmen enthalten, um beides in den Menschen zu vermehren: die Allgemeinbildung und die Vorbereitung auf das Berufsleben. Ohne solche Maßnahmen wird die Regierung ihrer Verantwortung für die Erweiterung der Grundlage unserer wirtschaftlichen und militärischen Stärke nicht gerecht. . . . W i r nehmen die Lösung der wachsenden Bil-

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dungsprobleme nicht in Angriff, um unsere Errungenschaften mit denen unserer Gegner zu vergleichen. Diese Maßnahmen haben ihre eigene Rechtfertigung — in Zeiten des Friedens wie der Bedrohung —, sie wollen bessere Bürger erziehen und auch bessere Wissenschaftler und Soldaten. Die Verantwortung der Regierung auf diesem Gebiet ist seit den frühesten Tagen der Republik festgelegt —, es ist jetzt an der Zeit, entschlossen zu handeln, um diese Verantwortung in den sechziger Jahren einzulösen.« 4 So bestätigt es sich, daß es in Amerika eine herrschende Meinung über den engen Zusammenhang von Erziehung und Gesellschaft gibt, und so erklärt es sich, daß sich die amerikanische Erziehungswissenschaft den sozialen Tatbeständen öffnet, ohne darin irgendein Problem zu sehen. Die Problematik, die auch hier bestehen bleibt, liegt an einer anderen Stelle — dort, wo bereits die Kritiker von Dewey eingesetzt hatten: Es ist die Frage, ob und wie weit die Erziehung das Vertrauen rechtfertigen kann, das in ihre Arbeit und in ihre soziale und politische Wirksamkeit gesetzt wird. Denn darüber ist man sich klar: Die letzte Entscheidung haben nicht die bessere Institution und die vollkommenere Organisation — so notwendig sie sind — , sondern der gute Wille und der freie Entschluß des einzelnen, der sich den Bemühungen der Erziehungsarbeit öffnet oder sich ihnen verschließt oder gleichgültig an ihnen vorübergeht. Der Rockefeller-Bericht über das Erziehungswesen vom Jahre 1958 unter dem charakteristischen Titel „Das Streben nach Vortrefflichkeit in unserer Demokratie" hat das so ausgesprochen: „Freilich fordert der Zustand der Welt, daß wir an das denken, was wir als Nation leisten müssen. Aber im tiefsten Grunde drückt unser Wunsch nach Vervollkommnung aus, daß wir die Menschenwürde für das Allerwichtigste halten, daß sie kein Mittel, sondern ein Zweck ist — er drückt aus, welches Leben wir für lebenswert halten und welchen Idealen es dienen soll. . . . Erziehung und Bildung sind keine mechanischen Vorgänge, mit deren Hilfe man jungen Menschen gewisse Fertigkeiten und ein bestimmtes Wissen vermittelt. Sie gehen aus tiefen Überzeugungen hervor. U n d wenn sie lebendig und wirksam sein wollen, dann müssen Lehrer und Schüler von den Werten durchdrungen sein, aus denen dieses Bildungswesen hervorgegangen ist." 5 Mit einem W o r t : Die Polarität zwischen Individuum und Gesellschaft wird anerkannt; der Ansatzpunkt der Erziehung liegt beim Individuum; aber man hält diese Polarität und die mit ihr gegebenen Spannungen für ganz natürlich, und man hat von dem guten Willen und der Einsicht des einzelnen offensichtlich eine hohe Meinung; man hat nicht die Sorge, daß man auf unsicheren Grund baut, wenn man die freie Entscheidung der Person anruft. Jedenfalls hält man dieses Fundament für

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verläßlicher als jedes andere, das die freie persönliche Entscheidung verdrängt, um auf solche Art das gesellschaftliche Leben funktionssicher zu machen. Das wollen wir im Auge behalten, wenn wir nun einen Blick auf die kommunistische Doktrin des Verhältnisses von Gesellschaft und Erziehung in der Sowjetunion werfen. Was die hohe Einschätzung der Erziehung für den Bestand und die Entwicklung der Gesellschaft betrifft, so besteht kein Unterschied zwischen dem, was Präsident Kennedy f ü r die amerikanische Nation erhofft, und dem, was Chruschtschow von der Erziehung f ü r die kommunistische Gesellschaftsordnung erwartet, wenn er z. B. auf dem allrussischen Lehrerkongreß vom 9. Juli 1960 sich so ausspricht: „Bleiben wir mit der Bildung und Erziehung des Sowjetmenschen zurück, dann wird unvermeidlich der gesamte Aufbau des Kommunismus ins Stocken geraten." 8 Aber die Grundstruktur des Verhältnisses von Gesellschaft und Erziehung ist völlig anders. Die Erziehung ist selbst ein gesellschaftliches Phänomen, wie sich aus den Grundpositionen des Marxismus leicht ableiten läßt. Ich brauche mich dabei nicht aufzuhalten; es genügt, an einigen Äußerungen zu verdeutlichen, mit welcher Entschiedenheit dieser Standpunkt vertreten wird und wie stark diese Auffassung alle Vorstellungen vom Erziehungsvorgang prägt. In der Pädagogischen Enzyklopädie von 1927 lesen wir: „Die Schule ist eine ideologische Waffe in dem Kampf einer Klasse gegen die andere. Und jeder Klassenkampf ist ein politischer Kampf. Das Proletariat, das um die Schule kämpft, proklamiert das Prinzip der politischen Erziehung im revolutionären Geist." 7 Zwanzig Jahre später lautet eine Kapitelüberschrift im Lehrbuch der Pädagogik von Jessipow-Gontscharow: „Die Erziehung in der UdSSR als Werkzeug zur Festigung des Sowjetstaates und des Aufbaus der klassenlosen Gesellschaft" 8 . Und in einer parteiamtlichen Veröffentlichung über Probleme der kommunistischen Erziehung vom Jahre 1960 heißt es in konkreter Ausführung jenes Grundsatzes: „Die verschiedenen staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen beeinflussen zielstrebig und systematisch die Psyche des Menschen und impfen ihr bestimmte Eigenschaften ein. . . . Die aktive Rolle des subjektiven Faktors in der Erziehung besteht darin, den Menschen eine bestimmte Weltanschauung und moralische Züge einzupflanzen, die der ökonomischen Lage der Klasse oder der Gesellschaft im ganzen entsprechen." 9 Die kollektivistische Sozialordnung wird hier als die optimale Situation aller erzieherischen Einwirkungen angesehen. Auch hierfür ein Zeugnis aus dem parteiamtlichen Werk „Grundlagen des MarxismusLeninismus" von 1960: „Mit der Annäherung an den Kommunismus werden zweifellos nicht nur die Ansprüche der Mitglieder der Gesellschaft wachsen, sondern auch die Anforderungen der Gesellschaft an 48

ihre Bürger, an ihr Verhalten in der Produktion, in der Öffentlichkeit, in der Familie und in der ganzen Lebensweise. Doch ihre Forderungen werden sich immer mehr auf die Methoden der moralischen Einwirkung und Überzeugung stützen. Gleichzeitig wird sich der Schwerpunkt der Erziehung des neuen Menschen unmittelbar in das Kollektiv verlagern. . . . Es kann keinen Zweifel geben, daß der Mensch der Zukunft, der Mensch, für den die Prinzipien des Kommunismus Grundlage seines Bewußtseins, Stimme seines Gewissens sind, gerade im Kollektiv geformt wird." 1 0 Dahinter steht die Überzeugung von der menschenformenden Kraft des Kollektivs. Konkret gesprochen: Es k o m m t darauf an, die Menschen zunächst einmal in kollektive Organisationen zu bringen, die ihrerseits die ideologischen Ziele im Sinne des politischen und sozialen Systems durchsetzen. Aber diese ideologische Durchdringung ist der zweite Schritt. D e r erste Schritt ist die Eingliederung in das Kollektiv und die damit erreichte faktische Verfügungsgewalt. Man vertraut der seelischen Wirkung der Kollektiv-Situation so sehr, daß man auf das ausdrückliche individuelle Bekenntnis beim Eintritt verzichten kann, das einer freien Gemeinschaft unentbehrlich erscheint. Diese Auffassung nimmt also auch die vollständige Deckung von Kollektiv und Erziehungssituation an; die Erziehung ist deshalb kein Spiegel der Gesellschaft, denn das würde eine Distanz zwischen Urbild und Spiegelbild voraussetzen, die hier aufgehoben ist. Die Erziehung ist auch kein Wegweiser, denn es ist die Gesellschaft selbst, die die Erziehung unter ihr K o m mando stellt, und eine Befehlsstelle ist gewiß nicht das, was wir einen Wegweiser nennen können, wenn wir nicht die Begriffe verwischen wollen. Wenn ich vorhin — mit einer allgemeinen Wendung — sagte, die Erziehung sei ein gesellschaftliches Phänomen, so kann ich midi unter Hinweis auf die soeben angeführten Äußerungen präziser so ausdrücken: Die Erziehung ist ein Bezirk der Gesellschaft und eine Kraftäußerung der sozialen Dynamik. D e r Glaube an diese Wirkungskraft auf den einzelnen ist unbegrenzt, der Gedanke an den Appell der freien Entscheidung der Person für das zweckmäßige Leben in der Gesellschaft, von dem die amerikanischen Denkschriften und Deklarationen sprechen, ist hiernach eine Illusion und außerdem völlig überflüssig. Auf dem Hintergrund dieser beiden Grundauffassungen vom Verhältnis zwischen Erziehung und Gesellschaft will ich die bei uns geführte Diskussion genauer betrachten. Ich halte mich auch hier an offizielle Äußerungen, und ich finde sie in den lebhaften E r örterungen, die sich an den „Rahmenplan" des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen angeschlossen haben. In der Einleitung des Rahmenplanes steht der Satz: „Der Ausschuß hat

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schon wiederholt darauf hingewiesen, daß das deutsche Schulwesen den Umwälzungen nicht nachgekommen ist, die in den letzten fünfzig Jahren Gesellschaft und Staat verändert haben." 1 1 Das ist der Leitgedanke des Planes, mit dem eine Reihe von konkreten Reformvorschlägen begründet wird. Der Satz könnte auch in amerikanischen und in sowjetrussischen Deklarationen stehen und würde dort wohl bei den Lesern keinen anderen Gedanken wachrufen als den, daß man — wenn das so ist — unverzüglich etwas tun muß, um Versäumtes nachzuholen. Bei uns hat dieser Satz neben ähnlicher Zustimmung aber auch ganz andere Stellungnahmen herausgefordert: Manche haben zunächst einmal die Beobachtung des vermeintlichen Rückstandes für übertrieben gehalten, und — was noch wesentlicher ist — sie haben Einspruch dagegen erhoben, daß diese Rücksicht auf die Gesellschaft überhaupt zum Leitmotiv einer Neugestaltung des Schulwesens gemacht werden soll. Man stützt diese Bedenken darauf, daß man mit dem Wunsch einer Anpassung an die Gesellschaft den Erziehungsauftrag der Schulen verleugne oder sogar verrate, der gerade darin bestehe, die Bildung vor den Ansprüchen der Gesellschaft zu schützen. Man dürfe die Bildungsarbeit, die ihre eigenen kulturellen Fundamente habe, nicht der Gefahr aussetzen, daß sie in den Strudel der sozialen Dynamik gerate. Ich führe die entsprechenden Sätze aus einer Entschließung des Deutschen Philologenverbandes vom Mai 1959 an, die den Vorzug hat, daß sie diesen Widerspruch sehr klar formuliert und daß sie auf ausgedehnten Beratungen beruht und auch insofern als offizielle Stimme gelten muß: „Auffällig ist, in welcher Weise im .Rahmenplan' durchgängig von .Gesellschaft' die Rede ist, ohne daß dieser Begriff weiter differenziert wird. . . . Dieser dogmatische Begriff der Gesellschaft birgt die Gefahr in sich, daß der für die technische Welt taugliche, diesseitig verplante Mensch an die Stelle des zur freien Entscheidung, zu selbständigen Denken aufgerufenen und zu wissenschaftlicher Arbeit fähigen Menschen tritt. Bildung ist offensichtlich für die Verfasser des ,Rahmenplans' die Anpassung an die jeweiligen Gegebenheiten einer technischen Zivilisation. Damit ist in unserem Sinne diese Bildung nichts anderes als Ausbildung. Unter Bildung verstehen wir dagegen ein Dreifaches: fachliches Wissen, eine geistige Fähigkeit, dieses Wissen sinnhaft zu ordnen und zu verwenden, und eine moralische Verantwortung gegenüber den Werten, die unser Leben tragen." 1 2 In der weiteren Diskussion tritt dieser Standpunkt in der verkürzten formelhaften Kritik in Erscheinung, der Deutsche Ausschuß sei dem „ Soziologismus" verfallen. Es ist hier nicht meine Sache, zu untersuchen, ob und wieweit der Deutsche Ausschuß richtig oder falsch verstanden worden ist, midi interessiert — unter dem Aspekt meines Themas —, daß der in den bisher angeführten Stimmen als natürlich 50

und selbstverständlich angenommenen Verbindung von Erziehung und Gesellschaft ausdrücklich widersprochen wird und daß man in ihr nicht Aufgabe, Auftrag und Vollendung der Erziehung sondern eine ernste Gefährdung sieht. Man verdeutlicht diese Gefahr, indem man Bildung und Ausbildung scharf scheidet, die Ausbildung auf die Seite der gesellschaftlichen Ansprüche stellt und die Bildung als die zentrale Aufgabe der Erziehung ansieht. Der Deutsche Ausschuß hat seinerseits diese Einwendungen ernst genommen und in seiner „Kritik und Antwort" von 1960 sich dahin entschieden, daß Bildung und Ausbildung sehr wohl in ihrem Wesen verschieden seien, aber in der Erziehungsarbeit nicht getrennt werden können und nicht isoliert werden dürfen: „In Wahrheit bedingen sich in jedem geistigen Bereich Ausbildung und Bildung wechselseitig; sie sind untrennbare Grundmomente des geistigen Wachstums. Sie lassen sich nicht auf verschiedene Schularten und -typen verteilen, sondern bestimmen gleichmäßig alles, was auf sämtlichen Zweigen des allgemeinbildenden und des berufsbildenden Schulwesens geschehen sollte." 13 Insofern bleibt es bei der Polarität von persönlicher Bildungssphäre und Anforderungen der Gesellschaft. Und es bleibt auch bei der Verpflichtung, beides in den Blick zu nehmen und zum Ausgleich zu bringen. Die Bildungsarbeit soll sich nicht der Überflutung von Ansprüchen der Gesellschaft ausliefern, sie kann es sich aber auch nicht so leicht und bequem machen, daß sie ihren Bereich dadurch sichert, daß sie die Gesellschaft ignoriert. Sie kann es auch deshalb nicht, weil das Erziehungswesen ein Teil des sozialen und politischen Lebens ist. Der Deutsche Ausschuß formuliert seinen Standpunkt so: „Auf der einen Seite steht der Mensch vor der Forderung, sich den gewandelten Lebensbedingungen der neu entstehenden Welt anzupassen, denn davon hängt sein Dasein ab; zugleich aber wird er durch eben diese Welt, obwohl er sie selber geschaffen hat, in seinem innersten Bestände bedroht und muß deshalb den alten Kampf ums Dasein auf einem anderen Felde neu bestehen. Deshalb entspricht der Notwendigkeit der Anpassung die N o t wendigkeit des Widerstandes. Durch sämtliche Abschnitte des Rahmenplans zieht sich die Uberzeugung, daß unser Erziehungs- und Bildungswesen darauf eingerichtet werden muß, der Herausforderung unserer geschichtlichen Lage in Anpassung und Widerstand zu begegnen." 14 Man muß also in dieser Verbindung von Anpassung und Widerstand ein echtes dialektisches Verhältnis sehen. Es ist nicht damit getan, daß man auf einer mittleren Linie das Schiff mühsam steuert. Man muß vielmehr einsehen, daß der Widerstand der angestrebten Anpassung durchaus dienlich sein kann und daß die Anpassung an gesellschaftliche Forderungen erst die Situation schafft und sichert, in der es möglich wird, das Eigene, das nicht von der Gesellschaft gefordert wird, zu 4*

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pflegen und zu entfalten, das seinerseits wiederum nötig ist, um selbständig im gesellschaftlichen Leben zu bestehen und seinen Anforderungen gewachsen zu sein. Ich will das an zwei konkreten Beispielen verdeutlichen: Die allgemeinbildende Schule kommt auf allen Stufen in die Gefahr einer Überflutung von Anforderungen, die die Gesellschaft und die spezialisierte Arbeitswelt stellen. Sie muß diesem Drängen Widerstand leisten, wenn sie nicht die Erziehung der Kinder und Jugendlichen aus dem Auge verlieren will. Der Grund läßt sich leicht angeben; ich formuliere ihn als These: Wer in der Fundamentalbildung sicher ist, wird später ein besserer Spezialist als der, der zu f r ü h auf Spezialitäten abgerichtet wird. Hier erweist sich die Bewahrung des umgrenzten Bildungsraumes und die Distanzierung von den gesellschaftlichen Ansprüchen als die bessere Hilfe f ü r eine Anpassung an die Arbeitswelt, die am Ende erreicht werden soll. Das andere Beispiel finde ich in der Hochschule; hier ist eine ebenso lebhafte wie fruchtlose Debatte im Gange, ob akademische Bildung oder Ausbildung der richtige Weg sei, ob sie sich ausschließen, sich gegenseitig bedrängen und stören und wie man aus dieser Bedrängnis herauskommen könne. Ich verstehe die Klage vieler Hochschullehrer, die darauf hinweisen, daß die akademische Berufsausbildung die echte Begegnung mit der Wissenschaft, also die akademische Bildung verdränge, weil viele zur Universität kommen, die das Zertifikat suchen, das den ersehnten Zugang zu einem sozial angesehenen Beruf eröffnet — grob gesprochen: die den sozialen Laufzettel suchen, aber an dem, was die Universität als Stätte der wissenschaftlichen Forschung darstellt und bewirken will, kaum interessiert sind. Dennoch bleibt uns der Ausweg verschlossen, die wissenschaftliche Bildung von der Berufsausbildung zu trennen. Die Universität könnte meinen, ihre Wesensbestimmung gerettet zu haben, und müßte doch alsbald erkennen, daß sie ihre Stellung in Volk und Gesellschaft verloren hätte; sie wird in ihrer Isolierung, im Verzicht auf ihren Wirkungsraum das aufgeben, was auch zu ihrem Wesen und Auftrag gehört: die Wissenschaft als geistige Macht des modernen Lebens rein und wirksam zu erhalten. Das ist eine Verpflichtung, der sie sich nicht entziehen kann und darf in einer Zeit, in der offensichtlich alle Bereiche und Ordnungen des modernen Lebens von den Denkformen und Erkenntnissen der Wissenschaft gestaltet werden. Die Universität hat nicht die Freiheit, den öffentlichen Charakter der Wissenschaft einer privaten Idylle aufzuopfern, so sehr die Versuchung inmitten aller Bedrängnisse und schlechten Erfahrungen verständlich erscheint. An solchen Beispielen will ich deutlich machen, daß die Polarität von eigenständiger persönlicher Bildung und von Anforderungen der 52

sozialen Welt, also von Person und Gesellschaft, alle Überlegungen und Entscheidungen bestimmt und naturgemäß auch die Kritik auf den Plan ruft, ob im Einzelfalle eine sinnvolle Synthese inmitten dieser dialektischen Spannungen gelungen ist, oder ob diese Aufgabe in Einseitigkeiten verfehlt wird, wie es z. B. Helmut Schelsky dem Rahmenplan des Deutschen Ausschusses in toto zum Vorwurf macht 15 . Als Soziologe — so sollte man meinen — müßte er dem Deutschen Ausschuß Beifall spenden, daß er den Blick so entschieden auf die Gesellschaft lenkt und deren Anforderungen würdigt, aber er hält — ich will es paradox formulieren — die soziologische Einstellung des Rahmenplanes und seine Neigung zur Anpassung f ü r einen soziologischen Irrtum, und er fordert aus soziologischen Gründen, also aus dem Aspekt der Gesellschaft, mehr Widerstand gegen den Ansturm der von außen kommenden Forderungen. Nach dieser Revue, die uns über die verhältnismäßig einfachen, leicht überschaubaren Ansichten in den Vereinigten Staaten und in der Sowjetunion bis zu unserer eigenen höchst verwickelten Problematik geführt hat, die sich auch darin als wahrhaft dialektisch erweist, daß wir unter ihr ebenso leiden wie wir sie mit wahrem Selbstgenuß durchkosten — nach dieser Revue also fällt es uns leicht, die Rolle und den Auftrag der Erziehungswissenschaft zu bestimmen und die Frage zu beantworten, ob und in welchem Sinne sie Spiegel oder auch Wegweiser der Gesellschaft sein kann. Wenn die Erziehung zur Funktion der Gesellschaft wird, wie es die sowjetische Doktrin lehrt, muß es zweifelhaft erscheinen, ob es überhaupt eine Erziehungswissenschaft geben kann, ob sie nicht zur Spezialdisziplin der Gesellschaftswissenschaft wird und sich auf die Fragen der Mittel und Wege der Erziehungsarbeit, also auf die Didaktik und Methodik, einschränken muß. Wenn aber — wie in unserem Fall — die Erziehung ihren Stand gegenüber der Gesellschaft aufrechterhält, dann bleibt der Pädagogik als Wissenschaft der Gegenstand erhalten, und sie hat zwei Hauptaufgaben: Sie ist aufgerufen, ständig von neuem Antworten zu geben, worin das besondere Recht der Erziehung besteht; sodann hat sie mit offenem Blick die Tatbestände und Vorgänge des gesellschaftlichen Lebens zu klären und die Ansprüche der sozialen Welt daraufhin zu prüfen, ob sie der Erziehung gegenüber gerechtfertigt sind, und wie sie innerhalb der Erziehungsarbeit verwirklicht werden können. Diese Tatbestände und Vorgänge des gesellschaftlichen Lebens begegnen aber der Pädagogik nicht nur als Forderungen und Ansprüche sondern auch als Voraussetzungen des Erziehungswesens; das heißt, vieles, was in der Erziehungs- und Bildungsarbeit zu geschehen hat, ist abhängig von gesellschaftlichen Tatbeständen, Einrichtungen und Vor53

gängen. Zum Beispiel: der moderne Steuerstaat unterhält das gesamte öffentliche Bildungswesen von der Grundschule bis zur Universität. Aber der Steuerstaat ist nur der abstrakte Ausdruck für die Menschen, die die Steuern bezahlen, und für die Parlamente, die die öffentlichen Ausgaben für das Erziehungswesen bewilligen oder zurückhalten und die damit die Entscheidungen über die Entfaltung der Bildungsarbeit fällen. Also muß man dies alles in das Spiegelbild der heutigen Erziehung aufnehmen. Das mag selbstverständlich erscheinen und doch fällt auf, daß laut darüber Klage geführt wird, daß gerade diese Aufgabe der klaren wissenschaftlichen Erhellung solcher Tatbestände vernachlässigt worden ist. Auch dem Deutschen Ausschuß wird von Schelsky und anderen der Vorwurf gemadit, daß seine Vorschläge von ungesicherten Annahmen über soziale Tatbestände ausgehen. So sagt Schelsky: „Der Deutsche Ausschuß hat die Möglichkeit, sich über die sozialen Grundlagen der Erziehung und des Schulwesens in Westdeutschland wissenschaftlich zu informieren und davon seine Entschlüsse abhängig zu machen und sie von dort her zu begründen, nicht genügend ausgenutzt, sondern begnügt sich weitgehend mit populärsoziologischen Vorstellungen" (S. 186). Für manche wichtige Frage ist das in der Tat nicht zu bestreiten. Ich nenne die umkämpfte Frage der Begabungsreserven. Der Deutsche Ausschuß geht von der Annahme aus, daß solche Reserven vorhanden seien, andere bestreiten das. Weder die eine noch die andere Auffassung kann sich auf sichere soziologische Erkenntnisse berufen. Der Deutsche Ausschuß hat das indirekt zugegeben, wenn er in seiner „Kritik und Antwort" sagt: „So lange wir nicht alles getan haben, Begabungsreserven zu mobilisieren, können wir ihr Fehlen nicht beweisen 16 ." So wie sich diese Frage für das allgemeine Schulwesen stellt, so drängt sie sich heute auch für die Hochschulen im Blick auf die wachsende Zahl der Studenten und auf den steigenden Bedarf in den akademischen Berufen auf. Und sie motiviert zu einem wesentlichen Teil die Pläne zum Ausbau der bestehenden Universitäten und zur Neugründung von Hochschulen. Es ist zu begrüßen, daß der Wissenschaftsrat sich in seinen Empfehlungen — im Unterschied zu dogmatischen positiven oder negativen Aussagen — sehr besonnen geäußert hat: „Der Einwand, es seien nicht genügend Begabungen vorhanden, um die neu geschaffenen Plätze auszufüllen, erscheint uns unbewiesen und unberechtigt" — unberechtigt deshalb, weil es unbewiesen ist. Es heißt weiter: „Es ist das Vorrecht und die Pflicht der Hochschulen, die besten Begabungen zu suchen und zu entwickeln 17 ." Natürlich wäre es erfreulicher, wenn die Wissenschaft uns in die Lage versetzte, hierauf schon heute eine Antwort zu geben. Wir brauchten dann nicht zu warten, bis ein praktisches Verfahren mit dem Gelingen oder Mißlingen der Bemühungen die erwünschte Aufklärung bringt. 54

Ich könnte die Beispiele vermehren, um zu zeigen, wie nötig es ist, ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Verhältnisse zu gewinnen, die für die Erziehungs- und Bildungsarbeit von Belang sind. Stattdessen will ich auf zwei innere Schwierigkeiten hinweisen, die einer wissenschaftlichen Orientierung im Wege stehen. Daß der Blick auf die gesellschaftliche Welt und ihre Veränderungen dem Rahmenplan blitzschnell den Vorwurf des Soziologismus eingebracht hat, ist ein Symptom dafür, daß man dieser Betrachtung mit Mißtrauen gegenübersteht, und zwar von vornherein und grundsätzlich, nicht nur aus der Besorgnis, daß die Sache und der Wert der Bildung aus dem Horizont verdrängt werden. Man hat in diesem Zusammenhang von einem antisoziologischen Affekt gesprochen. Ich führe die Meinung von Hellmut Becker an, der in letzter Zeit mit Nachdruck auf die Notwendigkeit der Sozialforschung für die Bildungspolitik hingewiesen und in einem Referat auf dem Soziologentag in Berlin 1959 sich so geäußert hat. „Wenn man mit Deutschen über Soziologie spricht, stößt man schnell auf einen klaren antisoziologischen A f f e k t . . . Man kann nicht behaupten, daß die Soziologie dem antisoziologischen Affekt mit einem sehr gefestigten Selbstvertrauen gegenübertritt. Sie steht etwas unglücklich zwischen der anerkannten Welt der modernen Naturwissenschaften und dem Naturschutzpark der klassischen Geisteswissenschaften 1 8 ." D a f ü r aber, daß es ein deutscher Affekt ist, gibt es ein leicht nachweisbares, historisch verwurzeltes Motiv: In Deutschland hat der Staat eine so starke Vormachtstellung genossen, daß ein selbständiges Bewußtsein und eine praktische Aktivität der Gesellschaft — wie z. B. in den Vereinigten Staaten — nicht aufkamen; so hat sich auch das deutsche Bildungswesen immer in engster Verbindung zum Staat, nicht zur freien Gesellschaft, entwickelt. So sehr wir das in unserer heutigen Situation bedauern müssen, möchte ich doch nicht dahin mißverstanden werden, als ob die staatliche Pflege des Bildüngswesens ein Unglück wäre. Es war, um nur ein Beispiel anzuführen, eine große, verdienstvolle Tat des monarchischen Herrschafts- und Verwaltungsstaates, daß er f ü r die heute viel gerühmte Demokratisierung der Bildung die Voraussetzungen schuf, indem er auf dem Wege über die Unterrichts- und Schulpflicht die Bevölkerung dem Analphabetentum entrissen hat. Das war ein über Generationen durchgehaltenes Werk, das nicht mit den Kräften der Gesellschaft sondern in entscheidenden Stadien gegen sie durchgesetzt wurde. So erklärt sich zugleich, daß die öffentliche Erziehung in Deutschland dem Staate nahestand und sich nur schwer den Forderungen der Gesellschaft erschließen wollte. Dieser Vorrang des Staates spiegelt sich auch im Gefüge der deutschen Wissenschaft: Staats- und Kameralwissenschaft dominierten; ihnen gegenüber konnte sich die Gesellschaftswissenschaft, zumal in der 55

Gestalt der anglo-französischen Soziologie, nur schwer R a u m und Ansehen verschaffen, woran sie auch selbst nicht unschuldig war, weil sie — um ihre Dignität zu beweisen — sich allzu lange bei methodologischen Vorfragen aufhielt, ohne sich der Erforschung realer Tatbestände anzunehmen, denen sie sich nun endlich zugewandt hat. Die andere innere Schwierigkeit liegt in der Erziehungswissenschaft selbst. Sie war nicht weniger als die Soziologie um ihre wissenschaftliche Dignität und ihre Stellung im Gefüge der Wisenschaften besorgt und glaubte, sie dadurch am besten sichern zu können, daß sie ihre Autonomie deklarierte. Alle Beispiele, die ich angeführt habe, zeigen aber, daß dies — zum herrschenden Prinzip erhoben — mit ihrem Gegenstand, der Erziehung, nicht in Einklang zu bringen ist und deshalb zu Verkrampfungen und unnatürlichen und auch unglaubwürdigen Übersteigerungen führen muß. Die in Deutschland in jüngster Zeit geführte Diskussion zeigt mit aller Deutlichkeit, daß die Eigenständigkeit der Erziehung, die gegenüber den Anforderungen der Gesellschaft ihr Recht hat, niemals ihre Abspaltung vom Gesamtzusammenhang der Gesellschaft und natürlich auch des Kultur- und Geisteslebens nach sich ziehen darf. Erziehung ist ein Vorgang, der an Kultur und Gesellschaft gebunden ist. Erziehung an sich gibt es in unserer Lebensordnung nicht. Sie als reinen Fall zu konstruieren, führt nicht zu reinerer Erkenntnis ihres Wesens sondern zur völligen Verzeichnung ihrer Natur. Das meine ich wörtlich: In der methodischen Isolierung wird die Erziehung „denaturiert". Also wird auch die Erziehungswissenschaft verpflichtet sein, sich an die übergreifende Wirklichkeit zu halten. Die übertriebene Heftigkeit, mit der der Gedanke einer autonomen Erziehungswissenschaft verfochten wird, erklärt sich freilich nach meinen Beobachtungen aus einem ganz anderen Motiv, das mit der Wissenschaftstheorie überhaupt nichts zu tun hat: man will die organisatorische und rechtliche Autonomie der Stätten pädagogischer Lehre und Forschung, insbesondere der Pädagogischen Hochschulen, durchsetzen. Ich meine, man sollte das offen und klar sagen und die Gründe angeben, die f ü r diese institutionelle und organisatorische Regelung unmittelbar sprechen. Man sollte nicht den völlig unnötigen Umweg machen, die vermeintliche Autonomie einer Wissenschaft nachzuweisen, um erst mit diesem Nachweis die Forderung der autonomen Institution zu begründen. Die Künstlichkeit verrät sich in zwei Symptomen: Auffallend ist eine Sinnesart, die den freien und offenen Blick verwehrt und die zu einer scharfen, von tierischem Ernst getragenen Polemik neigt, die sich in steriler Aufgeregtheit gefällt. Sodann, nicht weniger deutlich: Die verkrampfte Sprache, die mit einer eigens erfundenen Terminologie und Nomenklatur theoretischen Tiefsinn vortäuscht. An die Stelle der Lebenserfahrung und der Welt56

Offenheit tritt die pathetisch beschworene „personelle Gewißheit" und die „Besinnung". Man sollte aber die schlichte Feststellung von Eduard Spranger ernst nehmen, die er in einer Abhandlung über den Wissenschaftscharakter der Pädagogik getroffen hat: „Aus der Gewißheit und der Besinnung wird erst dann eine Art Wissenschaft, wenn man alles heranholt, was die Kenntnisse der Epoche über die Welt und den Menschen und ihr Verhältnis zueinander zur Verfügung stellen 19 ." Der das gesagt hat, kann schwerlich in den Verdacht kommen, daß er die Besinnung nicht zu würdigen wüßte und des Blickes für die intime Sphäre des Persönlichen nicht fähig wäre; umso größeres Gewicht hat seine Aussage. Was hier verlangt wird, ist eine Erziehungswissenschaft, die erkannt hat, daß sie im Bündnis mit anderen Wissenschaften nichts verliert sondern an Substanz und an K r a f t und Wirkung ihrer Aussagen und Forderungen gewinnt. Eine solche Erziehungswissenschaft wird es als ihre Aufgabe ansehen, ein breiter und klarer Spiegel der Gesellschaft zu sein, und sie wird deshalb, weil sie die Sache der Erziehung inmitten des sozialen und kulturellen Lebens zu vertreten hat. sich ganz natürlich auch darüber vernehmen lassen, welche Wege die Erziehungsarbeit beschreiten und welche Abwege sie meiden soll. Damit wendet sie sich sowohl an die, die durch ihren Beruf der Erziehungsarbeit verbunden sind, zugleich aber auch an die Gesellschaft, die in unserer Lebensordnung das Erziehungswesen trägt. Aus diesem Grunde muß sie auf jegliches selbstgefällige Spiel mit konstruierten Begriffen verzichten. Damit sage ich kein Wort gegen eine gründliche begriffliche Durchdringung und Klarstellung der Tatbestände; aber so wie die Wissenschaft — um es mit Hegels berühmter Formel zu sagen — die Anstrengung des Begriffes auf sich nimmt, so fällt ihr in der Wegweisung der Gesellschaft die nicht minder große Anstrengung der Übersetzung der Begriffe zu — der Ubersetzung in eine Sprache, in der ihre Forderungen verstanden werden und wirksam werden können. Hierbei wird sie zum Wegweiser in dem dreifachen Sinn, den ich eingangs beschrieben habe: Sie soll über die Fülle der möglichen Wege informieren, sie soll das Gelände beschreiben, in dem die Erziehungsarbeit geleistet wird; dazu gehört, daß sie klare Aussagen über das macht, was sich — um im Bilde zu bleiben — auf diesem Gelände befindet, was die Erziehung fördert oder behindert. Sie soll sodann aus der Wesensbestimmung der Bildung und der Erziehung und aus der Kenntnis der Anforderungen der Gesellschaft die Wege weisen, die sie für richtig hält, und sie denen, die sich zu entscheiden haben, zur Wahl stellen. In einer freiheitlichen Gesellschaft wird dies der Regelfall sein. Wenn sie aber meint, nur einen Weg zu sehen, dann wird sie sich sehr bemühen müssen, ihre Wegweisung zu begründen, weil sie sonst in die Gefahr kommt, den Bereich der Wissenschaft zu verlassen. Es ist nötig, 57

daran zu erinnern; denn es gibt eine Neigung zur pädagogischen E m o tion, die diese Grenze leicht überschreitet. D o r t aber, -wo die politische Doktrin ohnehin nur einen Weg zuläßt — wie im totalitären Staat —, kann die Wissenschaft, wie schon gesagt, nicht Wegweiser sein, dort kann sie nur dem Kommando dienen, indem sie die Befehle rational unterbaut. In diesem Vergleich wird vollends deutlich, daß in der freiheitlichen Gesellschaftsordnung die Wegweisung nur durch Argumentationen wirkt. Damit ist zugleich gesagt, daß die Erziehungspraxis allein dieser Aufgabe nicht gewachsen ist. Sie gründet sich immer nur auf individuelle Erfahrung, die nicht breit genug und allgemein genug sein kann, um ein Spiegel der vielfältigen Erscheinungen der Gesellschaft zu sein. Es ist für die Praxis selbst heilsam und notwendig, sich an diesem größeren Spiegelbild der Wissenschaft zu orientieren, um die Fülle der möglichen Anforderungen zu erkennen und um in unserer Welt zu bestehen, die man mit Vorliebe und wohl auch m i t Recht ein Uberrasdiungsfeld nennt. In diesem Vorgriff auf die künftige Gestaltung sehe ich die Verantwortung der Erziehungswissenschaft, nach der im Generalthema dieser Universitätstage gefragt wird. Da aber in der Pädagogik nach meinem Eindruck das W o r t Verantwortung geradezu verschwenderisch gebraucht wird und in moralistischer Uberanstrengung ohne Unterlaß von der „Verantwortung des Erziehers" auch dort die Rede ist, wo es sich um schlichte Handreichungen und selbstverständliche Hilfeleistungen handelt, will ich genauer erklären, daß ich hier die Verantwortung eingrenze auf das, was im Anblick der Zukunft gefordert wird. Wilhelm Weischedel, der diese Vortragsreihe einleitete, hat vor Jahren in seiner Analyse und philosophischen Deutung der Verantwortung diesen Zukunftsaspekt in die Mitte gerückt 20 . Der Erzieher versteht das leicht; denn seine Arbeit drängt ihn, in allem, was er tut, überlegt und plant, den Blick von der Gegenwart auf das zu lenken, was er erst in der Zukunft als Frucht seiner Arbeit erhoffen kann. So muß ihm eine Wissenschaft willkommen sein, die — der Fülle der Lebenserscheinungen zugewandt — die Gegenwart spiegelt und nur deshalb für sich in Anspruch nehmen kann, die Wege in die Zukunft zu weisen. Ist sie damit aber Wegweiser der Gesellschaft? Nicht in dem Sinne, daß sie allein das Zukunftsbild der Gesellschaft entwirft und verwirklicht. Sie soll sich hüten, aus Eitelkeit oder Selbstgefälligkeit diesen Auftrag zu übernehmen oder an sich zu reißen, der die Wirkung und Macht der Bildung und Erziehung bei weitem übersteigt. Sie kann aber der Erziehung die Wege weisen, womit sie sich zu ihrem Teil und im Maße ihrer Verantwortung an der Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung beteiligt; denn diese Ordnung erhält sich nicht nur durch politischen Machtanspruch und durch Verfassungs58

regelung, sie bedarf — •wenn sie freiheitlich ist — der Menschen, die durch ihre Erziehung, Bildung und Ausbildung befähigt sind, sie zu tragen und zu entfalten. Literatur: 1

J o h n Dewey, Demokratrie und Erziehung — Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik; deutsch von Erich Hylla, 2. Aufl. Braunschweig 1949, S. 405.

2

ebenda S. 408 f, S. 411.

8

Die Schule zwischen Bewahrung und Bewährung. Eine amerikanische Besinnung auf die Maßstäbe eines modernen Bildungswesens (Rockefeller-Bericht und Conant-Beridit) übersetzt und herausgegeben von Hartmut von Hentig, Stuttgart i 9 6 0 , S. 120.

4

President Kennedy's inessage on education, in „Wireless Bulletin" (Embflssy o f the United States of America, Bad Godesberg') N r . 47 vom 21. 2 . 1 9 6 1 . vgl. Anm. 3, ebenda S. 11 und S. 61.

5 6

Zitiert aus: Oskar Anweiler, Gesellschaftliche Probleme der sowjetischen E r ziehung; in der Wochenzeitung „Das Parlament" v. 20. September 1961, Beilage „Aus Politik und Zeitgeschichte" S. 545.

7

ebenda, S. 545 f.

8

ebenda, S. 546.

9

ebenda, S. 546.

10

Grundlagen des Marxismus-Leninismus, Berlin 1960, S. 784 f.

n

Rahmenplan zur Umgestaltung und Vereinheitlichung des allgemeinbildenden öffentlichen Schulwesens (Empfehlungen und Gutachten des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen, Folge 3) Stuttgart 1959, S. 1.

12

Abgedruckt in der Dokumentation „Für und wider den Rahmenplan", ausgewählt und herausgegeben von Alfons O t t o Schorb, Stuttgart 1960, S. 27.

13

Zur Diskussion des Rahmenplans. Kritik und Antwort (Empfehlungen und Gutachten des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen, Folge 5) Stuttgart 1960, S. 98. ebenda S. 30. Helmut Sdielsky, Anpassung oder Widerstand? Soziologische Bedenken zur Schulreform, Heidelberg 1961. vgl. Anm. 13; ebenda S. 39.

14

'5 19 17

Empfehlungen des Wissenschaftsrates zum Ausbau der wissenschaftlichen Einrichtungen. T e i l l : Wissenschaftliche Hochschulen, Tübingen 1960, S. 59 f.

18

Hellmut Becker, Sozialforschung und Bildungspolitik. I n : Zeitschrift für Politik, J g . 1959, H . 4, S. 218 f. — Abgedruckt in: Hellmut Becker, Quantität und Qualität. Grundfragen der Bildungspolitik, Freiburg i. Br. 1962, S. 331 f.

18

Eduard Spranger, Vom Wissenschaftscharakter der Pädagogik, in „Beiträge zur Einheit von Bildung und Sprache im geistigen Sein" Festschrift zum 80. Geburtstag von Ernst Otto, Berlin 1957, S. 12.

20

Wilhelm Weischedel, Das Wesen der Verantwortung. Ein Versuch. l . A u f l . 1933, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1958, S. 107 ff.

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GEGENWARTSKUNST UND

KUNSTGESCHICHTE Von H a n s

Junecke

Ein vor einigen Jahren im Verlag Piper erschienenes Bändchen mit dem Titel „Dank in Farben, aus einem Künstler-Gästebuch Alfred und Thekla Hess" rief mir einen Vorgang ins Gedächtnis, der für unser Thema als Ausgangsbasis interessant ist. Dieses Gästebuch wurde in den zwanziger Jahren in einem kunstsinnigen Hause Erfurts, in dem Hause des Industriellen Alfred Hess, den prominenten Gästen, Künstlern und Gelehrten, die hier zusammenkamen, zur Eintragung vorgelegt. Sie bestand z. T. aus kleinen Zeichnungen der Mitglieder des Brückekreises, aber auch der Künstler des nahen Dessauer Bauhauses. Die Werke dieser Maler schmückten alle Räume des Erfurter Hauses. Unter den Gästen befanden sich o f t auch Gruppen von Studenten, die mit ihren Professoren von den kunstgeschichtlichen Instituten der umliegenden Universitäten zu nachmittäglichem Besuch und Gespräch kamen. So nahmen auch wir Studenten der Universität Halle mit unserem Lehrer Paul Frankl an einem solchen Nachmittag teil, bei dem W. Kandinsky zugegen war. Es mag etwa 1926 gewesen sein. Ein leidenschaftliches Kunstgespräch, ein kunsttheoretisches Gespräch zwischen Kandinsky und Frankl bestimmte die Stunden. Dabei zeigte es sich, daß der geniale Begründer der nichtfigurativen Malerei eine Theorie entwickelt hatte, die dem von Wölfflin bestimmten kunstwissenschaftlichen System Frankls zwar nicht entsprach, aber in den Grundlagen so affin war, daß Verständigung zwischen beiden Seiten, der des bildenden Künstlers und der des Kunstwissenschaftlers, auf die lebendigste Weise möglich war. Es ging in der Diskussion um ein Thema der Frankischen Methode, um die Frage nach dem Verhalten der einzelnen Formkategorien bei der Bestimmung eines Kunstwerkes. Dazu ist eine kurze Erklärung nötig. Frankl brachte an das Kunstwerk (es waren vor allem die architektonischen) die morphologischen Fragen nach Raum-, Körper-, Licht- und Sinnform heran. Jedem Formbereich sind — den Wölffinschen Grundbegriffen verwandt — je zwei Begriffe zugeordnet, dem Raum das Begriffspaar additiv—divisiv, dem Körper frontal—diagonal, dem Licht einbildig—vielbildig. Dabei gehören die jeweils ersten, bzw. jeweils zweiten Begriffe zueinander, also additiv zu frontal, einbildig und divisiv zu diagonal, vielbildig. Es ist leicht zu begreifen, wie

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solche abstrahierenden Grundbegriffe, die jede A r t von Form anzugehen imstande sind, einen denkenden Künstler wie Kandinsky Anlaß zu inniger Auseinandersetzung geben konnten. Man mag sich hier einer Formulierung erinnern, die Kandinsky schon 1910 in seiner Schrift „das Geistige in der K u n s t " ausgesprochen hatte. „Komposition", sagt er, sei eine Zusammenstellung zeichnerischer und farbiger Formen, die selbständig existieren und von der inneren Notwendigkeit herangeholt werden. Im dadurch entstandenen gemeinsamen Leben bilden sie ein Ganzes, welches „Bild" heißt. Damals war also ein schöner Einklang zwischen Gegenwartskunst und Kunstgeschichte möglich. Vielleicht entstand damals aus solcher Beziehung zur gleichzeitigen Methodik der Kunstgeschichte Kandinskys theoretisch zugespitztere zweite Schrift „von Punkt und Linie zur Fläche", die 1926 erschien. Dennoch gibt es Einwände genug gegen eine Verbindung zwischen Gegenwartskunst und Kunstgeschichte. Der wichtigste, der wohl überprüft sein will, ist der, daß wir zu geringen Abstand zur Kunst unserer Zeit hätten. Noch sei kein Überblick über die Zusammenhänge möglich, noch kein Urteil über die Formenwahl. Heinz Ladendorf hat in seiner systematischen Zusammenstellung „Kunstwissenschaft" in „Universitas Litterarum" (1954) diese Frage kurz behandelt. Er verwendet den Terminus „Dunkelfeld" und gibt ihm eine Dauer von etwa 90 Jahren. Kunst innerhalb dieses Zeitraumes, von der Gegenwart rückwärts gerechnet, ist kunstgeschichtlicher Analyse noch nicht zugänglich. Er verweist auf die Wiederentdeckung des Barock etwa 100 Jahre nach Winckelmann und auf die in unseren Tagen beginnende kunstgesdhichtliche Bearbeitung der nachklassizistischen Architektur. Der Kunsthistoriker sei der Gegenwartskunst gegenüber nur bedingter Zeitgenosse und nicht Wissenschaftler. Im Bereich der Großepochen gibt es aber gar keine Dunkelfelder, also etwa im Zeitbereich von Renaissance und Barock. Zwar gibt es da auch noch kein eigentlich historisches Denken und daher auch noch keine wirkliche Kunstgeschichte. Man mag sich hier der wundervollen Reisebriefe des Präsidenten Charles de Brosses mit ihrer sicheren Abgrenzung dessen, was auch ein geistreicher und kunstempfindenderMann um 1740 in Italien sah, erinnern. Wenn wir bereits wieder am Beginn einer Großepoche stehen sollten, dann würde sich wahrscheinlich die Möglichkeit eines „Dunkelfeldes" gar nicht einstellen. Die Kunstgeschichte braucht dann nicht (wie überhaupt die Geschichte) sinnlos oder wieder antiquarisch zu werden, sie könnte eine andere Position einnehmen. Gegen ein Verdikt, im kunstgeschichtlichen Bereich sich mit Kunst der Gegenwart zu beschäftigen, dürfte bereits eine Reihe bedeutender Werke über moderne Kunst sprechen, von denen nur zwei genannt 61

werden sollen: Werner Haftmanns „Malerei im 20. Jahrhundert" (1954) und Hans Sedlmayrs Schriften zu diesem Thema, besonders der „Verlust der M i t t e " (1948). O b die Autoren den neuen Entwicklungen der Bildenden Kunst und Architektur zustimmen oder sie ablehnen, ist vor dem ungeheuren Phänomen der modernen Kunst unwesentlich. Sedlmayr, der den neuen Entwicklungen pessimistisch gegenüber steht, sagt selbst, Haftmann gebe (auf S. 281 seines Buches) die Anfänge einer Theorie moderner Malerei. E r verwendet diese Zustimmung aber dazu, die moderne Kunst der „Unkunst" zu zeihen, weil Haftmann in jenem zusammenfassenden Abschnitt die künstlerische Entwicklung zwischen zwei dem Unkünstlerischen angehörende Extremfälle spannt, zwischen Duchamps und einem Werk von Malewitsch, mit dem der Maler eine Extremsituation aussprechen wollte. Haftmann sagt „jenseits der Kunst". Solche Grenzfälle ließen sich aber auch leicht in der alten Kunst nachweisen (z. B. Arcimboldi). Für die Zusammenarbeit von Gegenwartskunst und Kunstgeschichte läßt sich nun wenigstens ein Gebiet als unzweifelhaft notwendig und positiv feststellen; es kann in den einfachen, aber ganz wissenschaftlichen Bezirken der Kunstgeschichte, die Sedlmayr zu den untersten Stufen einer „ersten" Kunstwissenschaft zählt, im Bereich der Gegenwartskunst gearbeitet werden. Ja hier muß gearbeitet werden! Es ist jener einfachste Bereich der Kunstgeschichte, der vom Bearbeiter kein „Verstehen" (Sedlmayr) des bearbeiteten Kunstwerkes verlangt. Das sind z. B. Nachrichten über die Künstler, über die Auftraggeber, es sind Oeuvrekataloge, Mitteilungen über Meinungen der Künstler und über kritische Aufnahme der Werke. Und wann könnte das besser geschehen als in der Gegenwart? U n t e r denen, welche die Frage nach den Beziehungen der Gegenwartskunst zur Kunstgeschichte beschäftigt, nimmt Josef Gantner einen Sonderplatz ein. Ein später Schüler Wölfflins, ist er mit seinem Lehrer bis zu dessen Tode immer in freundschaftlicher Beziehung geblieben und wirkte als Vermittler zu Wölfflins Antipoden, zu Benedetto Croce. Josef Gantner, der im Bereich der präzisen Formanalyse, die auf "Wen Inhalt und auf den Künstler als eigene geniale Persönlichkeit keine Rücksicht nimmt, seine Lehrjahre verbrachte, wählte nun als Thema seiner Antrittsvorlesung in Zürich (1927) „Semper und Le Corbusier", also ein Thema, das die Problematik der Gegenwartsarchitektur in die kunstgeschichtliche Auseinandersetzung hineinnahm. Damals, um 1930, wird allgemein eine Notwendigkeit einer Wandlung in den Methoden der Kunstgeschichte empfunden. Auch hier treffen wir wieder auf Josef Gantner, der 1932 seine vehemente „Revision der Kunstgeschichte" erscheinen ließ. Ein leidenschaftliches Bekenntnis zur Moderne sucht den Atelierbereich der modernen Kunst

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als Ausgangspunkt für eine Kunstgeschichtsrevision einzusetzen. Die Erfahrung des schöpferischen Aktes in der Werkstatt des Gegenwartskünstlers wird wichtiger genommen als die Arbeit in Bibliotheken und Archiven. Ja, der Wölfflinschüler entschließt sich damals, das feine Werkzeug der Formanalyse beiseite zu legen und die Kunstgeschichte auf der Soziologie aufzubauen, eine Wendung, die bereits Hamann, wenn auch mit anderen Zielsetzungen, weit früher gemacht hatte. Die Einwirkung bedeutender Architekten der Gegenwart m i t ihrer so notwendigen Auseinandersetzung mit scheinbar unkünstlerischen Fragen sozialer Zweckerfüllung wird den Anstoß zu so extremen Formulierungen gegeben haben. Dieser revolutionäre Elan, der — wie oft bei solchen neuen Aufbrüchen — weit über die möglichen Grenzen hinausdrängt, wurde dann im Laufe der Jahre zwar nicht vermindert, aber erstredete sich nun zu einem durch Besinnung auf Traditionswerte erweiterten Horizont. Josef Gantners Vortrag, den er am 8. Januar 1957 in einem der modernen Kunst allgemein gewidmeten Zyklus an der Universität Mainz hielt und den er zuerst „die moderne Kunst im Rahmen der Kunstgeschichte" nennen wollte, macht die Wandlung zur mäßigenden Aussage merkbar. D e r Vortrag wurde aber unter dem Titel „die moderne Kunst und die Anfänge eines planetaren Stiles" gehalten, wobei „planetarer Stil" die Darlegung der Möglichkeiten einer Weltkunst bedeutet, die durch die abstrahierende Tendenz in bildender Kunst und Architektur infolge des Ausfallens alter europäischer Traditionsformen ihre Ausgangsbasis finden könnte. Nun gibt es für unser Thema „Gegenwartskunst und Kunstgeschichte" mehrere Bedeutungsauslegungen, einmal die erwartete d. h. die Kunst des 20. Jahrhunderts und die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts, dann aber auch die jeweilige Kunst und die jeweilige Kunstgeschichte. Dazu kämen für diese beiden Themen je drei weitere Untersuchungsbasen: 1. Kunst und Kunstgeschichte als nicht aufeinander bezogene Erscheinungen eines Zeitabschnittes also als freie geistige Bekundungen, 2. Wirkungen der Kunst auf die Methode der Kunstgeschichte und 3. Wirkungen der Kunstgeschichte auf die Kunst. Im Folgenden wird eine so strenge Einteilung, die weit ausholender Untersuchungen bedarf, nicht systematisch verfolgt werden können. In unserem Vortrag bestimmt sie nur hier und da, nach freier Auswahl den Gedankengang. Für den zuletzt genannten Punkt der Themeneinteilung, die Wirkungen der Kunstgeschichte auf die Kunst, sei hier nur, da nachher dieser Komplex nur schwer einzuordnen sein wird, Wilhelm Worringers „Abstraktion und Einfühlung" (1909) genannt und man wird seine „Formprobleme der G o t i k " (1910) anschließen müssen, Werke,

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die zu Beginn unseres Jahrhunderts von außerordentlicher Wirkung auf die Künstler und ein kunstliebendes Publikum waren. Worringer, der von der Ästhetik kommt, versucht sich an einer MenschheitsPsychologie, in welcher der „primitive", der „klassische", der „orientalische" und der „gotische" Mensch in bezug auf die ihrer Psyche entsprechenden Kunsthervorbringungen beobachtet werden. Der Primitive, von der übermächtigen N a t u r geängstigt, bringt als Schutzmaßnahme abstrakte Kunst hervor, der klassische Mensch aber, der die N a t u r in sich bewältigt hat, zeigt in seiner Kunst einen idealisierten harmonischen Naturalismus, der Orientale, mystischen Erlebnissen zugänglich, kann nur in flächenhaft-abstrakten Gebilden sich künstlerisch äußern, während der gotische Mensch, unter welchem Worringer alle N o r d länder von der Völkerwanderung bis zur Spätgotik versteht, sich einer komplizierten, verflochtenen Abstraktion als Ausdruck seiner irrealen Spannungen bedient. In den Reihen der Kunsthistoriker fand diese kühne, aus inniger Verbundenheit mit der Moderne entstandene Spekulation heftige Kritik (Dvorcak, Frankl, Coellen), aber gerade für den Künstler und für einen an den stupenden neuen Entwicklungen interessierten Kreis von Kunstfreunden war diese Wahrnehmung des Vorhandenseins abstrakter Tendenzen in den vergangenen Jahrtausenden in der Folge verschiedener Mensdiheitsstufen und im verschiedenartigen Bereich der Rassen eine gern gehörte, mit Begeisterung diskutierte Rechtfertigung eigener Kunstbestrebungen und Erwartungen. Bevor wir uns in unseren Betrachtungen der Gegenwart zuwenden, greifen wir erst einmal skizzierend auf die Vergangenheit im Sinne des Verhältnisses von jeweiliger Gegenwartskunst und jeweiliger Kunstgeschichte zurück. Der Beginn liegt mit einfachen Künstlergeschichten im 15. Jahrhundert, eine Richtung, die vor allem im 16. Jahrhundert mit Vasari (1550 und 1568) ihren eigentlichen Höhepunkt in den Künstlerviten erlebte. D a werden noch keine wirklich historischen Fragen gestellt. Selbst die ablehnende Stellung zur Gotik, die Begeisterung für die nachahmenswerte Antike haben den Charakter der feststehenden, d. h. der unveränderlichen N o r m . In so unproblematischer Sicherheit verharrten die folgenden zu dieser „Großepoche" gehörenden Zeiten des Barock und des Spätbarock. Auch außerhalb Italiens präsentierte sich jedes bedeutendere kunstschaffende Land mit einem eigenen Vitenschreiber: van Mander in den Niederlanden, von Sandrart in Deutschland, Felibien und Mariette in Frankreich. Solche eigentlich antiquarisch gerichteten Publikationen dienten zur sozialen Erhöhung des Künstlers selbst, aber einen Einfluß auf das Schaffen des Künstlers konnten sie wegen ihrer geschichtslosen Objektivität nicht haben. Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts entwickelt sich historisches Den64

ken. In der Kunst ist das die Epoche, die Sedlmayr absprechend urteilend mit „Verlust der Mitte", Wölfflin gemäßigter feststellend mit „Vielfältigkeit der Vorstellungsformen'' bezeichnet. Für Wölfflin beginnt diese „stillose" Vielfältigkeit erst um 1830. Winckelmann ist der Vater einer historisch einteilenden Kunstgeschichte. Von Montesquieu bestimmt, gewinnt er „zum erstenmal die Erkenntnis der Kunst eines Volkes und einer Epoche . . . eine gesetzlich zusammenhängende Ganzheit von Erscheinungen, die an die Existenz von außen her einwirkender Umstände und von innen her treibender Kräfte gleichmäßig gebunden ist" (Heidrich). Die „Linie", Winckelmanns Mittel, Formänderungen zu erläutern, ist freilich noch primitiv genug. Aber ihre Anwendung bewirkte die erste Stilgeschichte. Winckelmann war kein ausübender Künstler wie die meisten jener früheren Vitensdireiber. Es ist bezeichnend, daß mit solcher Distanz zur unmittelbaren Ausübung der Kunst das nahe, mächtige, künstlerische Zentrum Europas seit über zweihundert Jahren, daß R o m mit einer erträumten, mit den Sinnen nicht erfahrbaren Ferne, mit Athen vertauscht wird. So konnte Winckelmann seine Kunstgeschichte nur an einem Phantom entwickeln, aber es war ein Programm da! Daß man ethische Forderungen, die nie von der Kunst verlangt wurden, daß man Forderungen nach ihrer humanen Wirkung stellt, bezeichnet genau die allgemeine Tendenz, von aristokratischer Souveränität zu einer zeitbedingten, bürgerlichen, zergliedernden Einstellung überzugehen. Bei solcher auf das Ethos ausgerichteten Grundlage ist es ganz verständlich, daß Winckelmann mit seinen neuen Bemühungen vor allem darauf aus war, die Kunst seiner Gegenwart mit seiner Kunstgeschichtsschreibung zu beeinflussen und dem verhaßten Barock, dem „frechen Bernini", endgültig den Garaus zu machen. In der Tat hat sein Werk auf den gesamten Stilwechsel einen ungeheuren Einfluß ausgeübt. Die Kunstgeschichte wies bei ihrem ersten großen Auftritt der Kunst, die für sich schon nach neuen Wegen suchte, eine bestimmtere Richtung mit der Nachahmung einer neu gesehenen Antike. Winckelmanns Freundschaft mit dem bedeutenden Maler und Kunsttheoretiker A. R . Mengs, dessen Lehren für ihn kanonische Bedeutung hatten, beweist, wie sehr er bei aller historischen Ausrichtung von den Problemen der Kunst seiner Zeit engagiert war. Dieser ganze Komplex von Entwicklungsvorstellungen wechselte aber erst einmal als lebendige Weiterbildung in den philosophischen Bereich, in den Bereich Hegels. Die Kunstgeschichte selbst — angeregt durch die in Methode und Material noch ungefestigten Ausgangsstellungen Winckelmanns — spaltete sich in der aufblühenden Romantik in einen schwärmerisch verschwommenen und in einen nüchtern faßbaren Zweig. Wackenroder mit seinen „Herzensergießungen eines s

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kunstliebenden Klosterschülers" und seine Weggefährten begaben sich auf enthousiastisch vorangetriebene Entdeckungsfahrten in die Gebiete mehr geahnter als darstellbarer irrealer Gewalten, der Religion und der bewunderten Vorzeit. So wird Dürer ein neuer Begriff. Die Wirkung auf die jungen Künstler durch eine solche mehr dichterisch-seherische als wissenschaftliche Kunsterkundung ist bekannt. Desto geringer mußte die Einwirkung des anderen Zweiges der Kunstgeschichtsentwicklung sein. Denn hier wurden präzise, wissenschaftliche Grundlagen, derer das Werk Winckelmanns noch entbehrte, erarbeitet. Die Grundlagenforschung setzt mit den monographischen Arbeiten des Baron von Ruhmor und mit denen Passavants ein. Archivstudien werden getrieben und feinste wissenschaftliche Methoden für diese Gebiete ausgearbeitet, eine immer noch weiter wirkende Ruhmestat dieser stillen Gelehrtengruppe. Zwar als Kunstgeschichte wird — wie Heidrich etwas abschätzig sagt — eine historisch-antiquarische Notizensammlung angeboten. Und nun beginnen im 19. Jahrhundert jene großartigen Sammlungen der Denkmäler, vor allen Dingen der architektonischen, die nach äußeren Formmerkmalen (Rundbogen, Spitzbogen usw.) mit nationalen und zeitlichen Begrenzungen dargestellt und im Druck vorgelegt werden. Es sind vor allem die Architekten dieses Jahrhunderts, die von solchen Ergebnissen kunstgeschichtlichen Bemühens für ihre historisch auswählenden Entwürfe profitieren. Die Einwirkung der Kunstgeschichte auf die gleichzeitige Kunstausübung ist von der ethischen Hochsetzung des Klassizismus auf eine recht materielle Ebene herabgestiegen, auf die Ebene der historischen Vorlagensammlung. Bezeichnend ist die Klage, die Jacob Burckhardt in einem an Allioth gerichteten Brief über das Vordringen von neuen Bauwerken im Stile der deutschen Renaissance führt. Diese Greuel habe sein Kollege Lübke durch seine Geschichte der Renaissance in Deutschland hervorgerufen. Neben solchen kunsthistorischen Bemühungen äußerer Art entsteht das große Werk Karl Schnaases. Zum erstenmal nach Winckelmann wird hier wieder eine große Zusammenschau künstlerischer Entwicklungen, ausgehend von Hegeischen Entwicklungslehren, entworfen (Niederländische Briefe 1834 und Geschichte der Bildenden Künste 1843 bis 1864). Sdinaase hat aber am Kunstwerk selbst nur indirektes Interesse. Er sei kein guter Freund der Kunst gewesen, sagt er von sich. Er sieht die Kunst nur im Zusammenhang mit der Geschichte, besonders der Kulturgeschichte. Nicht vor dem Kunstwerk selbst, sondern auf einsamen Spaziergängen entsteht sein Werk. Aber es stellt der bisher betriebenen kunstgeschichtlichen Sammelarbeit wieder höheres geistiges Leben entgegen. Von Sdinaase aus konnten sich natürlich keine fruchtbaren Beziehungen zur Kunst seiner Zeit entwickeln. Eine Paral66

lele zu ihm wäre etwa die Historienmalerei mit genauer Beobachtung des kulturhistorischen Ambiente an Kostüm und Architektur. An das Kunstwerk selbst in einem künstlerisch verstehenden Sinne führt nun erst Schnaases Antipode J a c o b Burckhardt heran. Der Cicerone (1855) hat den Untertitel „Eine Anleitung zum Genuß der Kunstwerke Italiens". D e r Bereich seiner Forschung, zugleich der Bereich seiner Vorliebe, war die Renaissance Italiens. Barock wird noch als Niedergang betrachtet. Erst gegen Ende seines Lebens geht ihm der Wert dieser Epoche auf. Das betrachtete O b j e k t wird vor allem als Kunstwerk mit sinnlicher Eindringlichkeit gesehen. Es gibt keine geschichtlichen Konstruktionen wie bei Schnaase. N u r die Form des Kunstwerkes wird angesehen. Der Inhalt ist bei Burckhardt nicht unwichtig, aber der Formenwirkung des Objektes unterstellt. Die Geschichte der Kunst entsteht aus dem Kunstwerk selbst. Erst von hier aus sind die Arbeiten der nächsten Generation, die Arbeiten Riegls, Schmarsows und Wölfflins möglich. Sie gehen mit Stilbegriffen, also mit Formaluntersuchungen an das Kunstwerk heran. Das Werk ist Form, sein Inhalt wird nicht beachtet. Mit dem Begriff des „Kunstwollens" hat Riegl den bewußten Anstoß zu einer wichtigen Entwicklung gegeben, nämlich zur gleichen Wertung aller Kunstepochen, von der Spätantike bis zum Manierismus bzw. zum Barock. Latent liegt darin bereits auch die Anerkennung der Gegenwartskunst als eine im geschichtlichen Verlauf gültige Epoche. Die folgenreichste Wirkung war aber Wölfflins Arbeiten bestimmt. E r ist es gewesen, der mit seinem Buch „Renaissance und Barock" (J 888) die bisher als Niedergang angesehene Barockkunst in grundsätzlicher Weise der klassischen Kunst, der seine Liebe im Grunde mehr gehörte, als gleichwertig gegenüberstellte. Die Begriffe, die dabei benutzt wurden, werden in den Grundbegriffen zugeschärft (1915). Es ist vielleicht, um von der A r t dieser Begriffe eine Vorstellung zu geben, günstig, sie hier anzuführen: 1. linear—malerisch, 2. Fläche— Tiefe, 3. geschlossene—offene Form, 4. Vielheit—Einheit, 5. absolute und relative Klarheit. Die jeweils ersten Begriffe sind auf die Form der Renaissance, die jeweils zweiten auf die der Barockkunst bezogen. Wölfflin faßt sie als Vorstellungsformen des Künstlers auf und er bleibt trotz vieler Einwände von außen her bei seiner Meinung. So meint Panofsky z. B., die Grundbegriffe seien keine Kategorien, sondern nur Charakterisierungsbegriffe. Wölfflin hat aber noch 1921 in seiner kleinen, aber so gewichtigen Schrift über „das Erklären von Kunstwerken" bedauert, daß Kunsthistoriker und Kunstpsychologe noch immer zwei Personen seien. Die Abstraktion und die dadurch bedingte Ablösbarkeit der Grundbegriffe von den Gegenständen, für die sie bestimmt waren, gestattete ihnen das Eindringen in andere Disziplinen, etwa bei Fritz

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Strich in die Literaturgeschichte. Das Fazit nach dieser Seite zog Oskar Walzel mit seiner 1917 erschienenen Abhandlung über „wechselseitige Erhellung der Künste". Aber wichtiger ist für unsere Betrachtung die Schrift des Bildhauers Adolf Hildebrand „das Problem der F o r m " (1893), die zweifellos durch eine unmittelbare Wirkung der formal gerichteten Kunstgeschichte angeregt wurde, und da Hildebrand sein künstlerisches Werk, das reiche Nachfolge hatte, in strenger Weise mit seiner Theorie übereinstimmen ließ, so kann man an dieser Stelle den Gleichklang zwischen jeweiliger Kunst und jeweiliger Kunstgeschichtsmethode in einem bedeutenden Augenblick feststellen, d. h. in einem Augenblick, in welchem die Kunst unter die Vorherrschaft der bewußt eingesetzten Form gestellt wird. Einer der bedeutendsten Schüler Wölfflins, Paul Frankl, hat dann die Grundbegriffe zu einem System ausgebaut, das genauer, aber auch weniger seigneural und auch beengter war. Solche abstrakten Begriffe, die sich nicht mehr auf bestimmte Stile beziehen, sondern nur auf ein künstlerisch formales Verhalten, können nun auf andere Stile übertragen werden (z. B. auf Romanik und Gotik). Es handelt sich bei diesem System um eine reine Morphologie. Keine Vorstellungsformen mehr, sondern Beobachtungen vor allem an Bauwerken, die man nun in der Tat mit diesem System sehr genau auf ihre Stileigenschaft untersuchen kann. Die Bezugsvorstellung ist ein reiner Stil, der erreicht ist, wenn alle Formen affin sind, d. h. wenn die ersten bzw. die zweiten Begriffe restlos an ihnen nachgewiesen werden können. Die Sinnform ist so gut wie vernachlässigt und läßt ohne Einbeziehung der nichtformalen Faktoren nur allgemeine Sinnkomplexe zu. Das ist wie in der gegenstandslosen Malerei. Hier mag an unseren Ausgangspunkt erinnert werden, an die Diskussion Frankls mit Kandinsky. Übrigens wurde Kandinsky — man vermutet es nicht — von Wölfflin sehr bewundert. Wölfflin sah in der Wendung zur abstrakten Malerei eine ganz natürliche Entwicklung. Mit unwiderlegbarer Konsequenz haben die Bildenden Künste und die Architektur den Weg in die Abstraktion beschritten. A m besten läßt sich das wohl an der Geschichte der Malerei erläutern. Sie kommt durch die Jahrhunderte vom inhalterfüllten Werk immer weiter in den Bezirk des Inhaltlosen im Sinne der Gegenständlichkeit. Hier mag eine Deduktion Josef Gantners erläuternd eingesetzt werden, die mit ihrer knappen Führung geeigneter erscheint als die umständlicheren Wege einer anderen, zum gleichen Ziele gelangenden Beweisführung. Es ist die Darstellung des Verhältnisses von „Präfiguration" und „Figuration". Es ist der Weg zum ausschließlichen Subjektivismus. Präfiguration (aus einem Ausdruck Leonardos „prescientia" entstanden) bedeutet die Formung, die das Kunstwerk vor seiner Her68

Stellung im Bereich der Intuition erhält. Flüchtige Skizzen des Künstlers, die seinen Gedanken festhalten, machen die Intuition ahnbar. Im hohen Mittelalter entsprechen sich bei feststehenden Typen die Vorstufe der Figuration und die Figuration selbst. Dann — schon im Mittelalter — hat der Duktus der präfigurativen Bekundung nicht durchaus die Entsprechung zum fertigen Werk. Änderungen treten vielfach ein. Erst im 16. und dann besonders im 17. Jahrhundert treten Präfiguration und Figuration auseinander, oder besser, sie können ganz auseinandertreten, und zwar derart, daß das innerhalb des Werkes eines einzigen Künstlers geschehen kann. Gantner nennt Claude Lorrain, der wie Rembrandt skizziert und seinen Bildern die Vollkommenheit des französischen klassischen Stiles gibt. Jetzt dringt die intuitive Skizzenhaftigkeit der Präfiguration immer öfter in das fertige Werk ein als Ausdruck der sich steigernden Subjektivität. (Rembrandt, ausgesprochener Fragonard.) Die Skizze als fertiges Werk setzt sich aber erst ganz im 19. Jahrhundert durdi. Jetzt hält der Duktus die schon fast gegenstandslose Intuition des Künstlers fest. Über Delacroix hinaus wird vom Impressionismus an der Gegenstand nur noch als Vehikel subjektivster Feststellungen benutzt, wobei die angewandten „sinnleeren" Formen wie in einer Umkehrung zu strengster Genauigkeit gesteigert werden können; denn sonst ließe sich in der weiteren Entwicklung die ikonenhafte Unverrückbarkeit Mondrians hier gar nicht in diese Betrachtungsweise einbauen. Wie widerwärtig einem Martne wie Burckhardt, der mit allen Fasern seines Herzens am mächtig gegebenen Gegenstand hing, solche Entwicklungen seiner Zeit waren, davon zeugt eine respektvolle Abrechnung mit Rembrandt. Es sei nicht wahr, sagt er, daß die Gegenstände der Malerei ein bloßer Vorwand sein dürfen, damit eine einzige Eigenschaft (B. meint die Verwendung des Lichtes) ein Souveränes Gaukelspiel daran aufführen können. Rembrandt hätte seine Bilder „Lichtbild so" und „Lichtbild anders" nennen müssen. Dieser Tadel war wohl auch an die Impressionisten gerichtet, denen Burckhardt so gar keine Liebe entgegen bringen wollte. Aber die moderne Kunst wird dann ihre Werke mit „Komposition 1", „Komposition 2" usw. bezeichnen. Diese Zwiesprache des Künstlers fast nur noch mit sich selbst absolutierte sich dann im Laufe des 20. Jahrhunderts endgültig. Kandinsky spricht von einem Selbstgespräch des Künstlers. Wenden wir uns nun wieder der Kunstgeschichte zu. Mit der formalen Methode konnten nur Stilelemente festgestellt werden. Die Formanalyse wurde zu einem ungewöhnlich feinem Instrument entwickelt. Ganz neue Erkenntnisse der Formen des Kunstwerkes wurden mit ihr gewonnen. Da das Studienobjekt der Kunstgeschichte jedoch vorwiegend das im Gegenstand sich offenbarende Werk ist, muß nach so 69

glanzvoller Neuentdeckung im Bereich der Form der Inhalt zum Verstehen des ganzen Kunstwerkes wieder herangezogen werden. Ein neuer Ansatz war durchaus notwendig. Schon Dvorcak, einst ein hervorragender Formanalytiker, hatte sich mit seiner „Kunstgeschichte als Geistesgeschichte" von dem allgemein betretenen Weg gelöst. E r hatte aber — darin Schnaase nicht unähnlich — das ganze geistesgeschichtliche Ambiente um das Kunstwerk herangeholt und so verschwimmt bei ihm die Form des Kunstwerkes (d. h. das Kunstwerk selbst, das ja seine Aussagen nur durch Form geben kann). Gall sagt von dieser geistesgeschichtlichen Methode: „nebelhafte Form einer im Grunde kunstfremden Atmosphäre". An dieser Stelle taucht nun aber die Frage auf, ob nicht eine immer merkbarer werdende Notwendigkeit, den Inhalt in das kunstwissenschaftliche System einzubeziehen, jenen durch die Anwendung der formanalytischen Methode erreichten Einklang zwischen Kunstgeschichte und abstrakter Malerei wieder aufhebt? Ein Blick auf eine Kontroverse zwischen Wölfflin und Benedetto Croce mag dieses Bedenken angehen. Croce lehnte die kunstgeschichtliche Methode Wölfflins schroff ab. Sie sei aus einer Reaktion gegen Materialismus, Psychologismus und Biographismus der älteren Historiker entstanden. Sie spränge daher zu einer abstrakten Kunstgeschichte über und erfasse nicht die konkrete Kunstgeschichte, welche die Einheit von Inhalt und Form, von Gesinnung und Stil oder Bildform sei. Croce wendet sich gegen die in den Grundbegriffen sichtbar werdenden Bildformen Wölfflins. Er glaubt nicht, daß sie so in der Phantasie des Künstlers vorhanden sind. Seine Lehre beruht auf der Intuition (intuizione espressa). Ja, Croce scheut sich nicht, in letzter Konsequenz seines Denkens bis zur Absurdität zu gehen, wenn er meint, im ästhetischen Sinne sei die Zugehörigkeit eines Kunstwerkes zu einer Nation oder zu einem Stil überhaupt nicht möglich. Das seien nur äußerliche Merkmale. Er stellt die schärfste Maxime eines äußersten Subjektivismus auf, wenn er behauptet, jeder Künstler sei in jedem Augenblick am Ziel. Wölfflin hat dagegen alles getan, das Kunstwerk immer in einen Entwicklungszusammenhang zu bringen. Josef Gantner, der in einem kleinen Aufsatz die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Antipoden sehr lebendig beschreibt (er hat selbst vermittelnd aktiv daran teilgenommen), gibt einen Brief Wölfflins vom 22. September 1943 wieder. Wölfflin antwortet darin auf die Begründungen der Ablehnung durch Croce, die Josef Gantner sich in Neapel anhören mußte. „Einstweilen", schreibt Wölfflin, „imponiert mir das nicht. An der Tatsache einer gesetzmäßigen Entwicklung der Formphantasie ist nicht zu rütteln und wie kann man leugnen wollen, 70

daß es nationale Typen gibt, auch wenn sie Wandlungen unterworfen sind." Es sei eine Selbstverständlichkeit zu sagen: „das einzige Reale sei das einzelne Kunstwerk." Gantner meint nun in jenem Aufsatz, daß bei aller Gegnerschaft beide Männer, Wölfflin und Croce, einer Stilepoche zuzuzählen seien. Denn beide führten das Kunstwerk auf die unterste Stufe zurück, Wölfflin auf die Vorstellungsform, Croce auf die intuizione. Beides bedeutet Eindringen in die Sphäre des seelischen Impulses, der am Anfang jeder schöpferischen Leistung stehe. Dieser Meinung Gantners kann man an sich zustimmen, aber man sollte doch darauf achten, daß das Hereinnehmen des Inhaltes bei Croce einen Vorstoß in ganz neues Land bedeutet und daß die Subjektivität bei der weitgetriebenen Vereinzelung des schöpferischen Künstlers sehr viel umfassender ist als bei Wölfflin, bei dem der Künstler im Verein mit anderen, gebunden an die Ausdrucksmittel der Zeit und seiner Nation, Entscheidungen unterworfen ist, die nicht in ihm durch freie Wahl entstehen, freilich auch nur selten im Bereiche seiner Bewußheit angesiedelt sein dürften. Wir können an dieser Stelle vorteilhaft zu einer Formulierung Sedlmayrs greifen, zu einer „zweiten" von ihm postulierten Kunstwissenschaft. Vorhin anläßlich der Romantik war von der „ersten" Kunstwissenschaft die Rede und zwar nur von ihren untersten Stufen. Sedlmayr ist als einstiger Assistent Julius von Schlossers eng mit der Partei Benedetto Croce verbunden, zu der auch Karl Vossler gehörte. Er geht von dem Intuitionsbegriff Croces aus und verlangt, daß — wenn man „auf hoher Ebene" Kunstgeschichte treiben will — der Historiker aus sich heraus das Kunstwerk, das Einzelkunstwerk, neu schaffen müsse, um seine Entstehungsimpulse zu verstehen, um das Kunstwerk überhaupt zu verstehen. Dazu müsse der Kunsthistoriker so etwas wie ein Künstler sein. Man sagte ihm ja auch den verhinderten Künstler nach. Aus den einfachen Bezirken der „ersten" Kunstwissenschaft, die ohne Verstehen des Kunstwerkes bearbeitet werden können, nimmt der Historiker möglichst viel objektive Vorstellungen (z. B. ikonographische) und mißt sie an verschiedenen von ihm produzierten Schöpfungsmöglichkeiten. Diejenige, die den objektiven Beobachtungen in der Gestaltwerdung am meisten entspricht, soll nun die Aussicht haben, die richtige darzustellen. In diesen irrealen Bezirk der Ausgangsstellung verwiesen, wird die Mißdeutung häufig sein. Sedlmayr ist das so bei der Frage nach der Enstehung der Kathedrale gegangen. Wenn das Kombinationsziel aber — wenigstens fast — erreicht wird, wie etwa bei dem Frühwerk dieser Richtung, Sedlmayrs „Borromini", werden ganz neue Erkenntnisse möglich, die so weder durch die kulturgeschichtliche noch durch die formale Methode zu erlangen wären. Ob freilich Sedlmayrs Forderung, 71

sich in den künstlerischen Prozeß zu versetzen, also gleichsam mit dem Künstler eins zu werden, das wirkliche Ziel sein kann, bleibe erst einmal dahingestellt. Ob das Nacherleben der Intuition durch wissenschaftliche Methoden überhaupt je zu fassen sein wird, bleibt bis zum etwaigen Gelingen noch eine Frage. Das bisher Geleistete sieht doch erst nur wie eine allerdings sehr verfeinerte Formanalyse aus, die mit außerkünstlerischen Faktoren des Inhalts ins Verhältnis gebracht wird. Und auch das ist erst bei Ausnahmeerscheinungen, die dafür ganz geschaffen sind, gelungen (etwa bei der Karlskirche des älteren Fischer von Erlach, die in ihrer Formenwahl fast aufdringlich ikonologieträchtig ist). Trotzdem wird der Kunsthistoriker unserer Zeit, wenn er überhaupt im gesteigerten Sinne Kunstgeschichte treiben will, gezwungen sein, eine irreale Ausgangsposition zu wählen, die — hervorgerufen durch das Hereinnehmen der Form in den Inhalt — nun wenigstens dem Künstlerisch-Schöpferischen benachbart ist und ihm nachgeht. Aber das ist ein Grenzbezirk der Wissenschaft und ist der Sicherheit der bisherigen Methoden ganz entgegengesetzt. Der Historiker ist gleichsam in der „Unsicherheit" wie der Maler, der Bildhauer und der Architekt unserer Zeit. Aus dieser gemeinsamen Situation müßte eigentlich eine Wechselwirkung zwischen Gegenwartskunst und Kunstgeschichte auf neuer Ebene wieder fruchtbar sein, wie sie mit anderen Vorzeichen in der Vergangenheit immer wieder von neuem zustande gekommen ist.

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ZUR ERKENNTNISPROBLEMATIK IN DER LITERATURWISSENSCHAFT Von P e t e r

Szondi

Wer nach der Erkenntnisweise der Literaturwissenschaft fragt, begibt sich auf ein Gebiet, dem der alte Briest seine Lieblingswendung schwerlich versagt hätte. Es empfiehlt sich daher, das „weite Feld" schon im Eingang zu begrenzen. Wir wählen dazu einen Satz aus Schleiermachers „Kurzer Darstellung des theologischen Studiums", der nicht nur angibt, was im folgenden unter „Erkenntnis" verstanden werden soll, sondern auch schon den Weg weist dorthin, wo sich deren Problematik für die Literaturwissenschaft verbirgt. „Das vollkommene Verstehen einer Rede oder Schrift", schreibt Schleiermacher, „ist eine Kunstleistung und erheischt eine Kunstlehre oder Technik, welche wir durch den Ausdruck Hermeneutik bezeichnen 1 ". Es mag überraschen, daß der Begriff der Erkenntnis, statt sich auf den Ideengehalt und die Struktur des Kunstwerks sowie auf dessen Stellung im geschichtlichen Zusammenhang zu beziehen, auf das bloße Textverständnis beschränkt werden soll. Zudem mag Erkenntnis, ein philosophischer Begriff, befremden in der Philologie. Aber diese Wirkung verwiese im Grunde nicht minder auf das Vorhandensein einer spezifisch philologischen Erkenntnisproblematik als die Frage, die sich bei dem zitierten Satz von selber aufdrängt: warum nämlich die Literaturwissenschaft, die im „vollkommenen Verstehen einer Schrift" ihre Aufgabe sehen muß, die von Schleiermacher geforderte und in theologischen Vorlesungen auch entworfene Lehre nicht nur nicht weiterentwickelt hat, sondern sich den Problemen der Hermeneutik so gut wie ganz verschließt. In keinem der germanistischen Lehrbücher wird der Student mit den prinzipiellen Fragen des Textverständnisses bekannt gemacht; kaum je werden diese Fragen in den Diskussionen der Gelehrten aufgeworfen und als häufige Quelle ihrer Meinungsverschiedenheiten erkannt. Daß es eine theoretische Hermeneutik im germanistischen Bereich nicht gibt, könnte mit ihrem reflexiven Wesen zusammenhängen. In der Hermeneutik fragt die Wissenschaft nicht nach ihrem Gegenstand, sondern nach sich selber, danach, wie sie zur Erkenntnis ihres Gegenstands gelangt. Audi ohne dieses hermeneutische Bewußtsein gibt es Erkenntnis. Aber nicht nur ist der Stand der Unreflektiertheit der Wissenschaft inadäquat; wie wenig es der ihre ist, kann unschwer der seit Jahrzehnten nicht verstummenden methodologischen Diskussion entnommen werden. 73

Der Grund ist also anderswo zu suchen, im Selbstverständnis der Literaturwissenschaft. Daß die Problematik der philologischen Erkenntnis in der Germanistik kaum beachtet wird, scheint damit zusammenzuhängen, daß sie sich als Wissenschaft versteht, daß sie im Wissen, mithin in einem Zustand, ihr Wesensmerkmal sieht. Ein Blick auf die Verhältnisse in Frankreich und den angelsächsischen Ländern zeigt, daß dies durchaus nicht selbstverständlich ist. Die Gefahr, daß dieser Hinweis als Lob des Unwissenschaftlichen mißverstanden werden könnte, ist kein zu hoher Preis f ü r die Erkenntnis, daß die Literaturwissenschaft gerade um ihrer Wissenschaftlichkeit willen nicht die Wissenschaft sein kann, die sie, den älteren Schwesterwissenschaften nachstrebend, oft sein möchte. Die gelehrte Beschäftigung mit Werken der Literatur heißt auf englisch „literary criticism", sie ist keine „science". Ähnlich verhält es sich im Französischen. Wenn auch das deutsche Wort „Kritik" für diesen Bereich kaum mehr zu retten ist, so wäre es doch vermessen, den englischen, amerikanischen und französischen Vertretern dessen, was das Wort in ihrer Sprache meint, Unwissenschaftlichkeit vorwerfen zu wollen. Daß sie ihr Geschäft nicht als Wissenschaft verstehen, zeugt vom Bewußtsein, daß die Erkenntnis von Werken der Kunst ein anderes Wissen bedingt und ermöglicht, als es die übrigen Wissenschaften kennen. Seit Dilthey braucht der prinzipielle Unterschied zwischen Naturund Geisteswissenschaften nicht mehr erörtert zu werden, wenngleich die Literaturwissenschaft noch nicht aller ihrer den Naturwissenschaften entlehnten und dem eigenen Gegenstand unangemessenen Kriterien und Methoden entsagt haben dürfte. Aber gerade der Hinweis auf Diltheys Leistung macht die Einsicht notwendig, daß das philologische Wissen auch vom historischen sich grundsätzlich unterscheidet. Der Dreißigjährige Krieg und ein Sonett des Andreas Gryphius werden so wenig auf gleiche Weise zum Gegenstand des Wissens, daß die Geschichtswissenschaft in diesem Punkt den exakten Naturwissenschaften näher als der Literaturwissenschaft zu stehen scheint. Was die Literaturwissenschaft gegenüber der Geschichtswissenschaft kennzeichnet, ist die unverminderte Gegenwärtigkeit auch noch der ältesten Texte. Während die Geschichtswissenschaft ihren Gegenstand, das vergangene Geschehen, aus der Ferne der Zeiten in die Gegenwart des Wissens, außerhalb dessen es nicht gegenwärtig ist, hereinholen muß und kann, ist dem philologischen Wissen immer schon die Gegenwart des Kunstwerks vorgegeben, an dem es sich stets von neuem zu bewähren hat. Diese Bewährung ist nicht zu verwechseln mit jener Überprüfung des Gewußten, auf die keine Wissenschaft, auch die Naturwissenschaft nicht, verzichten kann. Dem philologischen Wissen ist ein dynamisches Moment eigen, nicht bloß weil es sich, wie jedes andere Wissen, durch neue Gesichtspunkte 74

und neue Erkenntnisse ständig verändert, sondern weil es nur in der fortwährenden Konfrontation mit dem Text bestehen kann, nur in der ununterbrochenen Zurückführung des Wissens auf Erkenntnis, auf das Verstehen des dichterischen Wortes. Das philologische Wissen hat seinen Ursprung, die Erkenntnis, nie verlassen, Wissen ist hier perpetuierte Erkenntnis — oder sollte es doch sein. Wohl kennen auch die anderen Wissenschaften eine Rückbesinnung dieser Art. Im chemischen Experiment wird die Eigenart der Elemente und ihrer Verbindungen immer wieder erneut demonstriert; die Quellenkunde f ü h r t das Entstehen des historischen Wissens jederzeit aufs neue vor. Aber weder die Chemie noch die Geschichtswissenschaft haben ihr Ziel in solcher Rekonstruktion, die pädagogischen Zwecken dient. Aufgabe dieser Wissenschaften ist, die Kenntnis ihres Gegenstands zu vermitteln, den erkannten Gegenstand f ü r das Wissen abzubilden. Anders in der Literaturwissenschaft. Kein Kommentar, keine stilkritische Untersuchung eines Gedichts darf sich das Ziel setzen, eine Beschreibung des Gedichts herzustellen, die f ü r sich aufzufassen wäre. Noch deren unkritischster Leser wird sie mit dem Gedicht konfrontieren wollen, sie allererst verstehen, wenn er die Behauptungen wieder in die Erkenntnisse aufgelöst hat, aus denen sie hervorgegangen. Das zeigt besonders deutlich der Extremfall des hermetischen Gedichts. Interpretationen sind hier Schlüssel. Aber es kann nicht ihre Aufgabe sein, dem Gedicht dessen entschlüsseltes Bild an die Seite zu stellen. Denn obwohl auch das hermetische Gedicht verstanden werden will und ohne Schlüssel oft nicht verstanden werden kann, muß es doch in der Entschlüsselung als verschlüsseltes verstanden werden, weil es nur als solches das Gedicht ist, das es ist. Es ist ein Schloß, das immer wieder zuschnappt, die Erläuterung darf es nicht aufbrechen wollen. Indem aber f ü r den Leser eines Kommentars das Wissen des Interpreten wieder zur Erkenntnis wird, gelingt auch ihm das Verständnis des hermetischen Gedichts als eines hermetischen. Das philologische Wissen darf also gerade um seines Gegenstands willen nicht zum Wissen gerinnen. Auch f ü r die Literaturwissenschaft trifft merkwürdigerweise zu, was Ludwig Wittgenstein zur Kennzeichnung der Philosophie gegenüber den Naturwissenschaften sagt. „Die Philosophie", heißt es im „Tractatus logico-philosophicus", „ist keine Lehre, sondern eine Tätigkeit. Ein philosophisches Werk besteht wesentlich aus Erläuterungen 2 ." Davon scheinen die englischen und französischen Bezeichnungen für die Literaturwissenschaft ein Bewußtsein zu haben. Sie betonen nicht das Moment des Wissens, sondern das der kritischen Tätigkeit, des Scheidens und Entscheidens. In der Kritik wird nicht bloß über die Qualität des Kunstwerks entschieden, sondern auch über falsch und richtig; ja es wird nicht bloß über etwas entschieden, 75

sondern Kritik entscheidet sich selbst, indem sie Erkenntnis ist. Es wird darum kein Zufall sein, daß der angelsächsische literary criticism, im Gegensatz zur deutschen Literaturwissenschaft, den hermeneutischen Problemen sich immer wieder zugewandt hat: I. A. Richards' „The Philosophy of Rhetoric", William Empsons „Seven Types of Ambiguity" sind Beispiele dafür. Das Fehlen eines hermeneutischen Bewußtseins in der deutschen Literaturwissenschaft scheint also damit zusammenzuhängen, daß die Literaturwissenschaft die Eigenart des philologischen Wissens zu wenig beachtet, daß sie allzuleicht die Kluft übersieht, welche sie von den anderen Wissenschaften, nicht zuletzt von der Historik, trennt. Der Eindruck verstärkt sich, wenn man dem zweiten Moment im Selbstverständnis der Literaturwissenschaft nachgeht, nämlich der Frage, wie sie ihr Wachstum, ihre Entwicklung begreift. Die Tätigkeit, durch die das Wissen bereichert und verwandelt wird, heißt Forschung. Daß es sie in der Literaturwissenschaft wie in jeder anderen Disziplin gibt, widerspricht nicht der Behauptung, daß sich das philologische Wissen nicht als die perpetuierte Erkenntnis verstehen will, die es von seinem Gegenstand her sein müßte. Denn auch der Begriff des Forschens verrät diese Position, und auch hier zeigt der englische und französische Sprachgebrauch ein anderes Bild. Den Wörterbüchern wie auch der Rede vom „forschenden Blick" zufolge bedeutete „Forschen" einst Fragen und Suchen. Aber das Moment des Fragens, mithin auch der Erkenntnis, ist dem Wortinhalt immer mehr abhanden gekommen, das Forschen ist zum bloßen Suchen geworden. Indem der Literaturwissenschaftler von seinen Forschungen spricht, gibt er zu, daß er seine Tätigkeit mehr als eine Suche nach etwas versteht, das es gibt und nur noch aufzufinden gilt, denn als Erkennen und Verstehen. Auch hier wird mehr Beachtung geschenkt der Kenntnis als der Erkenntnis. Das freilich hat seine wissenschaftsgeschichtlichen Gründe. Die moderne Geschichts- und Literaturwissenschaft entstand im 19. Jahrhundert im Gegenzug gegen die spekulativen Systeme des deutschen Idealismus. Hegels „ U m s o schlimmer für die Tatsachen" mußte gesühnt, die spekulative Erkenntnis der Tatsachenforschung geopfert werden. Der Ertrag der positivistischen Richtung ist zu groß, als daß diese Entwicklung beklagt werden sollte. Die Dankbarkeit gegenüber den Forschungen der Positivisten von einst und jetzt, auf denen man weiterbauen könne, gehört denn auch zu den oft geäußerten Gefühlen gerade der Theoretiker und Interpreten. Schon 1847 schrieb der Literarhistoriker Th. W. Danzel beim Abwägen der Verdienste der beiden extremen Möglichkeiten, „die geistlose Empirie" gebe „immer doch wenigstens einen authentischen Stoff an die Hand, welcher noch vergeistigt werden kann, aber das geistreiche Reden von Dingen, die gar nicht vorhanden sind", sei „gar nichts 76

nütze: ex niliilo nihil fit3." Selbst wenn man von der Frage absieht, ob die Kategorie des „Vorhandenseins" dem Geist adäquat ist, bleibt diese Bevorzugung des Positivismus eine Selbsttäuschung. Denn sofern die Philologie Sprache und Literatur, und nicht außerliterarische Fakten wie Biographie und Textüberlieferung, erforscht, gibt es f ü r sie jene „geistlose Empirie", von der Danzel sich einen authentischen Stoff verspricht, nicht. Die Kluft zwischen objektiver Tatsachenforschung und subjektiver Erläuterung ist allemal kleiner, als sowohl der Positivist wie der Interpret wahr haben möchten. Der Interpret, der die Tatsachen mißachtet, mißachtet auch die Gesetze der Interpretation (es gibt keine „Überinterpretation", die nicht auch schon falsch wäre); der Positivist, welcher der als subjektiv verschrieenen Erkenntnis entsagt, begibt sich zugleich der Möglichkeit, das Positive zu erforschen. Der Satz Diltheys, daß dem Erklären der Naturwissenschaften in den Geisteswissenschaften das Verstehen gegenübersteht, gilt auch f ü r die philologische Tatsachenforschung. Sobald sie um einer vermeintlichen Objektivität willen das erkennende Subjekt auszuklammern sucht, läuft sie Gefahr, die subjektiv geprägten Tatsachen durch unangemessene Methoden zu verfälschen, ohne dabei den Irrtum gewahren zu können. Indem die Forschung sich der Empirie ausliefert, kann sie sich der subjektiven Erkenntnis auch als bloßer Kontrollinstanz nicht mehr bedienen.

Diese Fragen, die für die Erkenntnisproblematik der Literaturwissenschaft von entscheidender Bedeutung sind, können nur an einem konkreten Beispiel untersucht werden. Wir wählen zu diesem Zweck eine Auseinandersetzung um die erste Strophe von Hölderlins Hymne „Friedensfeier". Die Strophe lautet: Der himmlischen, still wiederklingenden, Der ruhigwandelnden Töne voll, Und gelüftet ist der altgebaute, Seeliggewohnte Saal; um grüne Teppiche duftet Die Freudenwolk' und weithinglänzend stehn, Gereiftester Früchte voll und goldbekränzter Kelche, Wohlangeordnet, eine prächtige Reihe, Zur Seite da und dort aufsteigend über dem Geebneten Boden die Tische. Denn ferne kommend haben Hieher, zur Abendstunde, Sich liebende Gäste beschieden. Dazu wird in den Erläuterungen der kritischen Edition folgendes bemerkt: „Einige Erklärer wollen in diesem dichterisch erbauten und erhöhten Raum der Gottesbegegnung durchaus die Metapher einer Land77

schafl: sehen . . . Wäre indes eine Metapher gemeint, so stünde sie in Hölderlins gesamtem Werk ohne Beispiel da. Denn zumeist handelt es sich bei solchen metaphorischen Vorstellungen um ausgeführte Vergleiche, geradezu um ausdrückliche Gleichungen wie ,Brod und Wein' v. 57 (,der Boden ist Meer! und Tische die Berge'); immer aber bleibt die Beziehung auf das mit der Metapher Gemeinte durch Namensnennung deutlich wie z. B. noch in der kühnsten Bildverwandlung: ,Von tausend Tischen duftend' (,Patmos', spätere Fassungen, v. 30), wo vorher von ,Gipfeln' die Rede w a r ; denn im nächsten Vers schon steht verdeutlichend der Name ,Asia', und vorher sind die ,Länder' erwähnt (v. 24). Hier aber wird nirgends auf eine . . . Landschaft hingedeutet 4 ." Eine der Interpretationen, auf die sich dieser Kommentar polemisch bezieht, hat folgenden Wortlaut: „Ein Festsaal ist . . . aufgerufen, mit wohlangeordneten Tischen, ,Gereiftester Früchte voll und goldbekränzter Kelche'. Es ist, wie sogleich klar wird, ein Landschaftssaal gewaltigen Ausmaßes, der das Friedensfest der Götter beherbergen soll, und man erinnert sich der Verse aus ,Brod und Wein', in welchen auf ähnliche Weise die Landschaft als Raum der Götterversammlung gesehen ist: ,Festlicher Saal! der Boden ist Meer! und Tische die Berge, / Wahrlich zu einzigem Brauche vor Alters gebaut!' 3 " Umstritten ist also, ob eine Stelle metaphorisch gemeint ist oder nicht. Das ist eines der ältesten Probleme der Hermeneutik überhaupt, zu deren Ursprüngen die theologische Auseinandersetzung um den allegorischen Schriftsinn des Alten Testaments gehört 6 . Aber im Gegensatz dazu handelt es sich bei Hölderlins Strophe um eine Frage, die nicht prinzipieller, geschweige denn dogmatischer Natur ist. Es geht einzig um die Erkenntnis, ob in diesem besonderen Fall eine Metapher vorliegt oder nicht. Diese Frage soll hier nicht einfach weiterdiskutiert werden, vielmehr ist nach den erkenntnistheoretischen und methodologischen Prämissen der beiden Argumentationen zu fragen. Die Widerlegung der metaphorischen Deutung beruft sich auf den Unterschied, der zwischen den beiden Schilderungen des Saals unleugbar besteht. Den ausdrücklichen Gleichungen in „Brod und Wein" („der Boden ist Meer! und Tische die Berge") steht in „Friedensfeier" nichts Entsprechendes gegenüber. Dieser Hinweis indessen hätte nur dann Beweiskraft, wenn in der metaphorischen Deutung die Stelle aus „Brod und Wein" ebenso als Beleg benützt würde, wie es in der Gegenbehauptung geschieht, derzufolge Metaphern bei Hölderlin immer durch Namensnennung als solche kenntlich gemacht sind. Im Gegensatz dazu soll aber mit dem Zitat in der metaphorischen Deutung nichts bewiesen werden. Daß ein Landschaftssaal gemeint ist, wird „klar", heißt es hier, man beruft sich also auf die Evidenz. Diese Evidenz, so dürfen wir hinzufügen, verdankt sich einerseits einzelnen Stellen der Schilderung 78

selbst (die Freudenwolke duftet um grüne Teppiche, die Tische stehen auf dem geebneten Boden), anderseits aber der Stelle aus „Brod und Wein", die den metaphorischen Charakter der Friedensfeierstrophe zwar nicht beweisen kann, aber im Verein mit dem zweiten Gegenbeispiel aus „Patmos" („Von tausend Tischen duftend") klar macht, daß die metaphorische Beziehung zwischen Landschaft und Saal, zwischen Berg und Tisch ein wichtiges Element von Hölderlins dichterischer Sprache ist. Gibt man dies zu, so stellt sich die Frage, welche Rolle der Unterschied zwischen den beiden Schilderungen des Saals f ü r die Evidenz der Metaphorik in der Friedensfeierstrophe spielt: spricht er dagegen oder dafür? Wer diesen Unterschied als Gegenargument benützt, geht nicht von der einzelnen Stelle aus, auch nicht von der stilistischen Eigenart des ganzen Gedichts, sondern von einem Stellenkatalog, in dem sich die verwandten Belege gegenseitig stützen, den Einzelgänger aber verfemen. Dieser Gesichtspunkt entspricht dem berechtigten Drang der Philologie zur Objektivität. Aber wenn sie sich Objektivität einzig vom Belegmaterial verspricht und der subjektiven Evidenz mißtraut, versperrt sie sich auch den Weg zur Subjektivität der Dichtung, zu dem individuellen Vorgang, dessen Ergebnis die Stelle ist, welche sie als ihr Objekt nach deren eigenem Gesetz zu erkennen hat, wenn anders sie Wissenschaft sein will. Zur Rekonstruktion dieses Vorgangs ist daran zu erinnern, daß die Elegie „Brod und Wein" nach Angabe der Stuttgarter Ausgabe im Herbst 1800 oder früher begonnen, im Winter 1800/01 vollendet wurde. Als historischer Ausgangspunkt von „Friedensfeier" gilt der Luneviller Friedensschluß vom Februar 1801, die Hymne ist 1801 oder 1802 vollendet worden. Beachtet man die Chronologie der Entstehungsdaten der beiden Gedichte, aber auch die geringe Zeitspanne, die zwischen ihnen liegt, so wird deutlich, daß das philologische Postulat der analogen Belege f ü r das reale dichterische Geschehen eine Wiederholung bedeuten würde, die unter ästhetischem Gesichtspunkt als Zeichen der Schwäche, gar als Manier auszulegen wäre. Daß Hölderlin im Herbst oder Winter 1800/01 bei der metaphorischen Schilderung Griechenlands als eines Saals beide Vergleichsglieder identifizierend nennt, spricht nicht gegen, vielmehr f ü r die Möglichkeit, daß er wenig später bei einer ähnlichen Vorstellung sich mit dem Bild hat begnügen können, wobei mit einzelnen Epitheta wie „grüne Teppiche" und „geebnete Boden" sowie der Wendung „Freudenwolk'" die Beziehung zur Landschaft noch deutlich genug bleibt. Es gehört zu den inneren Widersprüchen der wissenschaftlichen Dichtungsbetrachtung, daß sie, auf Klarheit bedacht, eine Stelle wie „Von tausend Tischen duftend" f ü r kühner und außergewöhnlicher halten muß als die Gleichungen „der Boden ist Meer! und Tische die Berge", wo doch in der Dichtung, die ihr Wesen viel eher in 79

der Einheit der Metapher denn im rationalen Dualismus des Vergleichs hat, gerade jene Ausdrüddichkeit als Ausnahme gelten muß. Und es wäre zu untersuchen, ob solchen Stellen im Spätwerk Hölderlins nicht die Aufgabe zukommt, eine dichterische Sprache zu begründen, welche der ausgeführten Vergleiche und Identifikationen entraten kann. Daß der zweite Gegenbeleg, der Vers aus einer späteren Fassung von „Patmos" („Von tausend Tischen duftend"), wo durch zwei Wörter des Kontexts „Asia" und „Länder" die Metaphorik geklärt ist, aus der Zeit nach der Entstehung von „Friedensfeier" stammt, spricht nicht gegen diese genetische Deutung. Denn audi hier ist nicht der isolierte Beleg und der Grad seiner Ausdrüddichkeit, sondern der Entstehungsvorgang zu beachten. In der vor Februar 1803 abgeschlossenen Reinschrift von „Patmos" lautet die Stelle ohne die fragliche Metapher: „ . . . Geheimnissvoll / Im goldenen Rauche, blühte / Schnellaufgewachsen, / Mit Schritten der Sonne, / Mit tausend Gipfeln duftend, // Mir Asia a u f . . . " Wenn nun Hölderlin Monate später im Hinblick auf eine neue Fassung an die Stelle von „Gipfeln" „Tische" setzt und auf dieses Wort unmittelbar der Name „Asia" folgt, so bedeutet das nicht so sehr, daß er auch jetzt noch Wert legt auf eine Kennzeichnung der Metapher als soldier, vielmehr verrät es die Selbstverständlichkeit, die für ihn die metaphorische Bedeutung von „Tisch" inzwischen angenommen hat. Doch selbst wenn man dieses entstehungsgeschichtliche Moment außer Acht läßt, darf von da her nicht verlangt werden, daß in der Eingangsstrophe von „Friedensfeier" die allenfalls gemeinte Landschaft mit Namen genannt sei, macht es doch geradezu das Stilgesetz dieser Hymne aus, daß sie (mit der einen Ausnahme von v. 42 „unter syrischer Palme") weder substantivische noch adjektivische Eigennamen kennt 7 . Indessen soll über der Problematik der beiden Belege aus „Brod und Wein" und „Patmos" nicht vergessen werden, daß sich die Widerlegung der metaphorischen Interpretation in erster Linie nicht auf sie, sondern auf eine generelle Feststellung stützt. „ W ä r e . . . eine Metapher gemeint", heißt es, „so stünde sie in Hölderlins gesamtem Werk ohne Beispiel da." Da dieser Satz von dem basten Kenner der Hölderlinschen Dichtung stammt, wäre es müßig, das Gesamtwerk daraufhin zu untersuchen, ob es nicht doch ein weiteres Beispiel enthält, zumal auch zwei Fälle, mit dem Gesamtwerk konfrontiert, nicht ins Gewicht fallen würden. Aber wir haben gar nicht die sachliche Richtigkeit des Arguments zu überprüfen, sondern seine methodologischen und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, die eine sachliche Richtigkeit freilich allererst möglich machen. So ist denn zu fragen, inwiefern gegen die metaphorische Deutung einer bestimmten Stelle eingewandt werden kann, daß sie, wäre sie als Metapher gemeint, in Hölderlins gesamtem Werk ohne 80

Beispiel dastünde. Die Beweisführung ist deutlich naturwissenschaftlichen Ursprungs. Es gehört zu den Prinzipien der Naturwissenschaften, die in der Eigenart ihres Gegenstands begründet sind, daß sie nicht einzelne Erscheinungen verstehen, sondern allgemeine Gesetze erkennen und die Erscheinungen daraus erklären wollen. Darum wird hier das Unicum, das Beispiellose, sei's als Abnormität verstanden, die als solche noch auf die N o r m verweist, sei's als Wunder, als Durdibrechung der Gesetzlichkeit, wovor die Naturwissenschaf t dann die Waffen streckt. Keineswegs gilt dies für die Literaturwissenschaft. Zwar kann auch sie sich dieses Verfahrens bedienen, dann nämlich, wenn es ihr um eine generelle Erkenntnis geht. Will sie etwa über Hölderlins Metaphorik eine allgemeine Feststellung treffen, so wird sie vom Gesamtwerk ausgehen müssen und die zahlenmäßige Vertretung der verschiedenen Metapherntypen auszuwerten haben. Solches wird mit Belegen erreicht. Aber die Diskussion der beiden Stellen aus „Brod und Wein" und „Patmos" dürfte gezeigt haben, daß in der Literaturwissenschaft jeder einzelne Beleg, bevor ihm Beweiskraft zugeschrieben wird, nicht weniger sorgfältig für sich interpretiert werden muß als die Stelle, für deren Deutung er als Argument oder Gegenargument herangezogen wird. (Das wirft nebenbei ein Licht auf die Fußnoten. Sie gelten als Attribut des philologischen Stils, als Bürgschaft für die Solidität der Behauptungen. Aber in den Fußnoten werden zumeist gerade solche Belege untergebracht, auf die nicht näher eingegangen wird, deren Beweiskraft also noch durchaus fraglich ist. U n d es gehört zu den Gefahren der philologischen Arbeit, daß die grundsätzliche Bevorzugung der Faktizität gegenüber der Deutung als bloß subjektiver einem jeden Beleg schon auf Grund seines Vorhandenseins das zuschreiben läßt, was ihm zwar per definitionem eigen ist, worüber aber jede als Beleg herangezogene Stelle sich erst einzeln auszuweisen hätte, nämlich: Beweiskraft. Nicht selten spielt in philologischen Argumentationen der Beleg dieselbe Rolle wie das Indiz in den Verblendungstragödien eines Shakespeare oder Kleist: der Beweis bringt den Zweifel zum Verstummen, weil an ihm selber nicht gezweifelt wird. Geschähe dies häufiger, so hätten die Fußnoten schwerlich die Aura des Wohlbegründeten;) Doch selbst der einwandfreie Beleg hat seinen Platz nur in generellen Erkenntnissen, dann, wenn es um eine Regel, um eine Gesetzmäßigkeit geht. Sobald die Literaturwissenschaft ihre eigentliche Aufgabe im Verstehen der Texte sieht, verliert der naturwissenschaftliche Grundsatz des „einmal ist keinmal" seine Geltung. Denn die Texte geben sich als Individuen, nicht als Exemplare. Ihre Deutung hat zunächst auf Grund des konkreten Vorgangs zu erfolgen, dessen Ergebnis sie sind, und nicht auf Grund einer abstrakten Regel, die ohne das 6

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Verständnis der einzelnen Stellen und Werke ja gar nicht aufgestellt werden kann. Jener naturwissenschaftliche Grundsatz ist in die Philologie als Gesichtspunkt der Literaturgeschichte eingegangen — auch dies ein Zeichen, daß die Literaturwissenschaft wie alle Kunstwissenschaft von der Historik durch dieselbe Kluft getrennt wird wie von den Naturwissenschaften. Auch die Literarhistorie vermag das Besondere nur als Exemplar, nicht als Individuum zu sehen; das Einzigartige fällt auch für sie außer Betracht. Darüber hat sich Friedrich Schlegel mit scharfen Worten geäußert. Als einen der „Hauptgrundsätze der sogenannten historischen Kritik" bezeichnete er „das Postulat der Gemeinheit": „Alles recht Große, Gute und Schöne ist unwahrscheinlich, denn es ist außerordentlich, und zum mindesten verdächtig 8 ." Solche Kritik an der Literaturgeschichte schließt keineswegs die These ein, das Individuum, das einzelne Werk, sei ungeschichtlich. Vielmehr gehört gerade die Historizität zu seiner Besonderheit, so daß einzig die Betrachtungsweise dem Kunstwerk ganz gerecht wird, welche die Geschichte im Kunstwerk, nicht aber die, die das Kunstwerk in der Geschichte zu sehen erlaubt. Daß auch der zweite Gesichtspunkt seine Berechtigung hat, soll nicht bezweifelt werden. Es gehört zu den Aufgaben der Literaturwissenschaft, vom Einzelwerk abstrahierend zur Ubersicht über eine mehr oder weniger einheitliche Periode der historischen Entwicklung zu gelangen. Audi ist nicht zu leugnen, daß die Erkenntnis einer einzelnen Stelle oder eines einzelnen Werkes aus diesem, wie sehr auch problematischen, Allgemeinwissen Nutzen ziehen kann. Aber es darf nicht übersehen werden, daß jedem Kunstwerk ein monarchischer Zug eigen ist, daß es — nach einer Bemerkung Valerys — allein durch sein Dasein alle anderen Kunstwerke zunichte machen möchte. Damit ist keine persönliche Ambition des Dichters oder Künstlers gemeint, mit der sich die Wissenschaft nicht zu beschäftigen hätte, auch nicht der Anspruch auf Originalität und Unvergleichbarkeit, der dem kritischen Blick nur selten standzuhalten vermöchte. Kein Kunstwerk behauptet, daß es unvergleichbar ist (das behauptet allenfalls der Künstler oder der Kritiker), wohl aber verlangt es, daß es nicht verglichen werde. Dieses Verlangen gehört als Absolutheitsanspruch zum Charakter jedes Kunstwerks, das ein Ganzes, ein Mikrokosmos sein will, und die Literaturwissenschaft darf sich darüber nicht einfach hinwegsetzen, wenn ihr Vorgehen ihrem Gegenstand angemessen, d. h. wissenschaftlich sein soll. Sie wird es freilich tun müssen, sobald es ihr nicht mehr um die Erkenntnis des Einzelwerks, sondern um die Erkenntnis eines Oeuvre, eines Zeitstils oder einer geschichtlichen Entwicklung geht. Diese Uberschau indessen darf erst aus der Summe des begriffenen Einzelnen hervorgehen, keineswegs sollte die Erkenntnis des Besonderen verwechselt 82

werden mit dessen Subsumption unter ein historisch Allgemeines. Darauf wäre nicht eigens hinzuweisen, wenn sich Schlegels strenges Wort über die historische Kritik, lange vor der Entstehung der Literaturwissenschaft gesprochen, in der Folgezeit nicht oft genug bewahrheitet hätte. Denn nicht selten erwecken historische Arbeiten den Anschein, als wolle ihr Verfasser der intensiven Versenkung in das einzelne Kunstwerk aus dem Wege gehen, als scheue er diese Intimität und als wäre der Grund dieser Scheu die Angst, in der Nähe zum künstlerischen Vorgang jene Distanz einzubüßen, die ein Attribut der Wissenschaft sein soll. Aber es scheint das Dilemma der Literaturwissenschaft zu sein, daß sie nur in solcher Versenkung das Kunstwerk als Kunstwerk zu begreifen vermag und also gerade um ihrer Wissenschaftlichkeit, d. h. Gegenstandsangemessenheit willen, auf Kriterien wie die des Abstands und des „einmal ist keinmal" verzichten muß, die sie von anderen Wissenschaften übernommen hat. Nicht zuletzt um diesen falschen Anschein der Gemeinsamkeit zu vermeiden, verzichtet wohl die Literaturwissenschaft in den angelsächsischen Ländern und anderswo darauf, sich „science" zu nennen. Soviel zu der methodologischen Problematik des Einwands, demzufolge, wenn in der ersten Strophe von „Friedensfeier" eine Metapher gemeint wäre, sie in Hölderlins gesamtem Werk ohne Beispiel dastünde. Die Unangemessenheit der Argumentation kann deren sachliche Richtigkeit zwar nicht beeinträchtigen, wohl aber die Beweiskraft erschüttern, die ihr zugeschrieben wird. Wie es sich jedoch mit der Richtigkeit in der Sadie verhält, ergibt die Prüfung der erkenntnistheoretischen Prämissen. Daß die Schilderung des Festsaals nicht metaphorisch gemeint sein kann, wird aus dem Umstand gefolgert, daß in Hölderlins Gesamtwerk sich keine andere Metapher findet, in der die Beziehung auf das Gemeinte nicht durch ausgeführte Vergleiche, ausdrückliche Gleichungen oder zumindest durch Namensnennung deutlich bliebe. Beweiskraft haben hier also nicht Belege, sondern die Tatsache, daß es Belege nicht gibt. Aber wie in der positiven Beweisführung zunächst jede als Beleg angeführte Stelle ihren Belegcharakter zu erweisen hat, so muß in der negativen Argumentation geklärt sein, daß keine Belege gefunden worden sind, nicht, weil keine Stellen als Belege erkannt wurden, sondern weil es keine gibt. Gerade diese Voraussetzung aber bleibt in diesem Fall unerfüllt. Denn in der Behauptung, daß es in Hölderlins Gesamtwerk keine Metapher der Art gibt, wie es die Eingangsstrophe von „Friedensfeier" wäre, wird übersehen, daß solche Stellen vom sichtenden Blick als mögliche Belege gar nicht erkannt würden. Die Metaphorik der Friedensfeierstrophe vermöchten allein solche Beispiele zu bestätigen, die nicht deutlicher denn sie selbst als Metaphern gekenn-

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zeichnet sind. Wird diese Kennzeichnung aber als nicht ausreichend erachtet, so erlaubt sie auch nicht, die verwandten Stellen von dem übrigen, unmetaphorischen Material zu unterscheiden. Damit wird die Behauptung selber unhaltbar. Die Beweisführung, die nur mit Fakten zu arbeiten meint, scheitert daran, daß ihre erkenntnistheoretischen Voraussetzungen zuwenig bedacht werden, und sie werden zuwenig bedacht, weil den Fakten blind vertraut wird. Sowenig sich aber die Interpretation über die vom Text und von der Textgeschichte bereitgestellten Tatsachen hinwegsetzen darf, sowenig darf die Berufung auf Fakten die Bedingungen übersehen, unter denen die Fakten erkannt werden. Darauf hat schon vor Jahrzehnten E. Ermatinger aufmerksam gemacht, als er dem reinen Induktionsbegriff des Positivismus vorwarf, er sei keine Methode, sondern eine Selbsttäuschung, denn „wer Material sammeln und beobachten will, muß zuerst mit sich ins reine gekommen sein, nach was f ü r formalen Gesichtspunkten er es sammeln soll 9 ". Nicht nur scheint diese Warnung zuwenig beachtet worden zu sein, es wäre darüber hinaus zu fragen, ob in der Literaturwissenschaft das objektive Material von der subjektiven Interpretation überhaupt streng kann getrennt werden, ist doch die Verwendung des Materials selber schon Interpretation. Für das philologische Textverständnis besteht zwischen Beweis und Einsicht ein ganz anderer Zusammenhang als der von den exakten Naturwissenschaften her einst postulierte. Das erweist die hermeneutische Analyse des Interpretierens auf Grund von Lesarten. Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben wissenschaftlicher Textbetrachtung, die Entstehung eines Textes mit Hilfe früherer Fassungen zu rekonstruieren, eine Aufgabe, die zugleich im Dienst der Interpretation steht. Dabei wird das, freilich problematische, Postulat, ein Werk solle nur aus sich selber interpretiert werden, nicht mißachtet, gehört doch das Lesartenmaterial zu dem Werk als dessen Genesis, die auf der Stufe der Vollendung im Hegeischen Wortsinn sich aufgehoben findet. N u r die orthodoxe Phänomenologie wird darauf als auf ein der Erscheinung Fremdes verzichten wollen — doch scheint solcher Verzicht mehr der Prüfung der phänomenologischen Methode als dem Verständnis des Werkes förderlich zu sein. Wer in dem Vers der späteren Fassung von „Patmos": „Von tausend Tischen duftend" den Sinn von „Tischen" nicht zu erkennen vermag, wird darum auf die frühere Fassung „Mit tausend Gipfeln duftend" zurückgreifen. Die metaphorische Deutung von „Tischen", die er nun zu geben in der Lage ist, wird er mit dem Wortlaut der ersten Fassung stützen. Denn die Tatsache, daß dort an Stelle von Tischen von 84

Gipfeln die Rede ist, beweist, daß in der späteren Fassung Tische metaphorisch für Gipfel stehen. Aber beweist isie es wirklich? Eine andere Hymne Hölderlins beginnt mit den Versen: „Wie wenn am Feiertage, das Feld zu sehn / Ein Landmann geht, des Morgens . . . " Im Prosaentwurf lautete der Anfang: „Wie wenn der Landmann am Feiertage das Feld zu betrachten hinausgeht, des A b e n d s . . N i e m a n d würde aus der Tatsache, daß in der ersten Fassung f ü r Morgen Abend steht, folgern, in der metrischen Fassung sei mit Morgen Abend gemeint, vielmehr wird man zwischen den beiden Stufen einen Wandel der Zeitkonzeption annehmen. Das aber zeigt, daß auch in „Patmos" von einem Beweis, den die erste Fassung darstellt, nicht gesprochen werden kann. Denn diesem Beweis kommt der Interpret mit Eigenem zu Hilfe, indem er die Änderung von Gipfel in Tisch als metaphorischen Prozeß, als Übertragung, nachvollzieht und daraus folgert, daß der Sinn dabei unverändert geblieben ist. Erst in diesem Rahmen, den das Verständnis liefert, erscheint das Faktum als Beweis. Der philologische Beweis ist also auf Verständnis in ganz anderer Weise angewiesen als etwa der mathematische. Denn nicht bloß die Beweisführung muß verstanden werden. Sondern auch der Beweischarakter des Faktischen wird erst von der Interpretation enthüllt, während umgekehrt das Faktische der Interpretation den Weg weist. Diese Interdependenz von Beweis und Erkenntnis ist eine Erscheinungsform des hermeneutischen Zirkels. Wer nicht wahr haben will, daß ein Faktum erst als gedeutetes die Richtigkeit einer Deutung zu beweisen vermag, verfälscht den Kreis des Verstehens in jenes Wunschbild der Geraden, die vom Faktischen stracks zur Erkenntnis führen soll. Da es aber diese Gerade in der Philologie nicht gibt, wären die Tatsachen eher als Hinweise denn als Beweise zu bewerten. Damit sei keiner Resignation das Wort geredet, geschweige denn, daß einer unwissenschaftlichen Willkür das Tor aufgemacht werden sollte. Denn willkürlich ist es vielmehr, wenn den Fakten um eines aus anderen Disziplinen übernommenen Wissenschaftsideals willen eine objektive Beweiskraft zugeschrieben wird, die ihnen auf diesem Gebiet nicht eigen ist. Das Verfahren einer Literaturwissenschaft, die sich die Prämissen ihrer Erkenntnisweise bewußt gemacht hat — Prämissen, die nur von anderen Disziplinen her als Grenzen erscheinen — wird nicht ungenauer, sondern genauer; nicht unverbindlicher, sondern überhaupt erst verbindlich. Wie aber verfährt eine Auslegung, f ü r welche die Fakten eher Hinweise denn Beweise sind? Sie versucht, den statischen Zusammenhang des Faktischen, den die Verzettelung zu Belegen allemal zerreißt, in der Rekonstruktion des Entstehungsvorgangs dynamisch nachzuvollziehen. Für diese Rekonstruktion werden die Fakten sowohl zu Wegweisern als auch zu Warnungen vor Irrwegen. Keines der Fakten darf über85

sehen werden, soll die Rekonstruktion Evidenz gewinnen. Evidenz aber ist das adäquate Kriterium, dem sich die philologische Erkenntnis zu unterwerfen hat. In der Evidenz wird die Sprache der Tatsachen weder überhört, noch in ihrer Verdinglichung mißverstanden, sondern als subjektiv bedingte und in der Erkenntnis subjektiv vermittelte vernommen, also allererst in ihrer wahren Objektivität. Diese Symbiose von Beweis und Erkenntnis erhellt auch aus der Analyse jenes Verfahrens, das man die Parallelstellenmethode nennt. Sie gehört zu den ältesten Kunstgriffen der Hermeneutik und stellt die Umkehrung der Lesartenmethode dar. Der Sinn eines Wortes wird hier nicht mit Hilfe anderer Wörter geklärt, die in früheren Fassungen an derselben Stelle stehen, sondern auf Grund anderer Stellen, in denen aber dasselbe Wort auftritt. Freilich muß dieses Wort überall in der gleichen Bedeutung stehen, die Stellen müssen in diesem strengen Sinn Parallelstellen sein. Daran hat diese Methode ihre Grenze wie die Lesartenmethode an der Bedingung, daß der Änderung der Stelle nicht auch eine Änderung des Gemeinten entspricht. Deshalb stößt die Parallelstellenmethode wie die andere auf die Frage, welche Fakten denn die Parallelität der Stellen zu beweisen vermögen. Dazu heißt es in Schleiermachers zweiter Akademierede über Hermeneutik aus dem Jahr 1829: „ . . . wenn man die Regel stellt, ein Wort in demselben Zusammenhang nicht das eine Mal anders zu erklären als das andere, weil nämlich nicht wahrscheinlich sei, daß der Schriftsteller es das eine Mal anders werde gebraucht haben: so kann diese doch nur insofern gelten als auch der Satz, wo es zum andern Mal vorkommt noch als ein Teil desselben Zusammenhanges mit Recht kann angesehen werden. Denn in einem neuen Abschnitt können unter manchen Umständen mit demselben Recht wie in einem ganz andern Werk noch andere Bedeutungen ihren Platz finden10." Mit dieser Warnung gibt Schleiermacher keine hermeneutische Lösung des Problems, vielmehr wird die Verantwortung auf die Rhetorik übertragen. Diese steht für die Hermeneutik ein, insofern das Funktionieren der Parallelstellenmethode auf die Annahme gegründet wird, daß jeder Text der Forderung der Rhetorik entspricht, ein Wort dürfe im selben Zusammenhang nicht zweierlei bedeuten und einen neuen Zusammenhang müsse stets ein neuer Abschnitt anzeigen. Die Lösung war auch zu Schleiermachers Zeiten illusorisch, führt doch die Frage, ob diese Regeln der Rhetorik in einem gegebenen Fall befolgt sind oder nicht, stets in die Hermeneutik zurück. Vollends scheidet sie aus in einer Zeit, die sich keiner Rhetorik mehr verpflichtet weiß. Ob eine Stelle als Parallelstelle anzusehen ist, kann darum nicht etwa der Gliederung des Textes, auch nicht einer anderen Faktizität, sondern ausschließlich dem Sinn der Stelle entnommen werden. Die Parallelstelle muß sich wie jeder andere Beleg über ihren 86

Belegcharakter erst ausweisen. Das aber geschieht in der Interpretation. So wertvoll die Parallelstellen f ü r die Deutung auch sind, sie darf sich auf sie nicht als auf von ihr unabhängige Beweise stützen, denn die Beweiskraft haben sie von ihr. Diese Interdependenz gehört zu den Grundtatsachen philologischer Erkenntnis, über die kein Wissenschaftsideal sich hinwegsetzen darf. Schon Schleiermacher entgeht in dem angeführten Satz nicht ganz einer Gefahr, welche die Erkenntnisproblematik in der Literaturwissenschaft mit ausmacht. Indem er nämlich darauf vertraut, daß die Regeln der Rhetorik allemal beachtet werden, überdeckt er seinen Gegenstand mit einem Wunschbild, welches über dessen wahre Verhältnisse hinwegtäuscht. Die Literaturwissenschaft muß sich hüten, ihren Gegenstand, die Literatur, nach den vermeintlichen Kriterien ihrer Wissenschaftlichkeit umzumodeln, hört sie doch gerade dadurch auf, Wissenschaft zu sein. Diese Gefahr wird am Problem der Äquivokation besonders deutlich, jener Zwei- oder Mehrdeutigkeit, welche die Lesarten- und die Parallelstellenmethode von Fall zu Fall klären. Dabei kann es sich um die Mehrdeutigkeit eines Wortes, aber auch der Syntax, also der Funktion eines an sich eindeutigen Wortes im Satzgefüge, handeln. In Kleists „Amphitryon" antwortet Sosias auf die Frage seines H e r r n : „Auf den Befehl, den ich dir gab —?" — „Ging ich / Durch eine Höllenfinsternis, als wäre / Der Tag zehntausend Klaftern tief versunken, / Euch allen Teufeln, und den Auftrag, gebend, / Den Weg nach Theben, und die Königsburg." Man hat hier von einem Casusfehler gesprochen, müsse es doch heißen „den Weg nach Theben und der Königsburg", und den Grund im französischen Vorbild gesucht, dem die Deklination fremd ist. Darauf ließe sich erwidern, daß der letzte Satzteil „und die Königsburg" möglicherweise gar nicht zu „ging ich den Weg n a c h . . g e h ö r t , sondern zu der Partizipialwendung „Euch allen Teufeln, und den Auftrag, g e b e n d . . . " Sosias verflucht sowohl seinen Herrn und dessen Auftrag, als auch den Ort, an den ihn dieser führen soll. Aber die Frage ist nicht nur, was wahrscheinlicher ist: der grammatikalische Fehler oder die kühne Fernstellung (für beides gibt es in Kleists Werk Beispiele, und auch das Beispiellose wäre nicht deshalb schon widerlegt). Zu fragen wäre, ob es überhaupt angebracht ist, hier eine Entscheidung zu treffen, ob die Alternative nicht eine der Sache selbst ist. Wie der Einschub „und den Auftrag" zwischen „Euch allen Teufeln" und „gebend" mit der verwirrenden Assoziation „den Auftrag gebend" zu rechnen scheint, so könnte das dritte Objekt der Verfluchung, die Königsburg, an die Wendung „den Weg nach Theben" angeschlossen sein, um auf den Irrweg der Richtungsangabe zu locken. Solche Ambiguität gilt dem Philologen leicht als Skandalon. Aber wenn es auch seine Aufgabe ist, die 87

Verhältnisse des Textes zu erkennen und das Problem zu lösen, so kann doch die Lösung nicht darin bestehen, daß eine Doppeldeutigkeit, die dem Text selber angehört, aus der Welt geschafft wird. Die philologische Lösung darf sich nicht an die Stelle des Problems setzen, vielmehr muß der Satz des Sosias, so oft er vernommen wird, die Frage von neuem aufwerfen. In diesem Sinn war die These gemeint, philologisches Wissen sei perpetuierte Erkenntnis. Die Fälle werden komplizierter, sobald darauf verzichtet werden muß, die Intention des Dichters zu erkennen. Wenngleich die Philologie das Problem der Äquivokationen nicht zu übergehen pflegt, verspricht sie sich dodi eine Lösung meist von der Erkenntnis, welche Bedeutung oder auch welche Bedeutungen von dem Dichter gemeint waren und welche nicht. Dieser Anspruch ist einer von jenen, mit denen der Gegenstand oft eher verkannt denn erkannt wird. Das wissenschaftliche Postulat, daß nur die vom Dichter intendierte Mehrdeutigkeit vom Verständnis zu berücksichtigen ist, scheint nämlich weder der Eigenart des dichterischen Prozesses, noch der Eigenart des sprachlichen Kunstwerks ganz gerecht zu werden. Denn es setzt voraus, daß ein poetischer Text die Wiedergabe von Gedanken oder Vorstellungen ist. Steht das Wort gleichsam als Vehikel im Dienst von Gedanken und Vorstellungen, so dürfen im Fall einer Mehrdeutigkeit nur die Bedeutung oder die Bedeutungen beachtet werden, welche den Gedanken oder die Vorstellung ausdrücken. Mailarmes Gedicht „Prose" beginnt mit dem Wort „Hyperbole!" — meint es die Figur der Hyperbel, den Akt des Übertreibens, oder werden beide in eins gesehen, die Hyperbel als Bewegungsfigur des geistigen Aktes? Welcher Gedanke steht am Anfang? Die Antwort auf diese Frage verbietet der Ausspruch Mallarmés, Gedichte würden nicht aus Gedanken, sondern aus Wörtern gemacht. In diesem prägnanten Sinn beginnt das Gedicht mit dem Wort „Hyperbole", es muß ihm keine Vorstellung, die unabhängig vom Wort existierte, vorausgegangen sein. Sobald aber das Wort nicht mehr als bloßes Ausdrucksmittel gesehen wird, gewinnt es eine Eigenmacht, die es verwehrt, seine Auslegung einzig von der Absicht des Dichters abhängig zu machen. Wenn das Kunstwerk damit dem Dichter auch zu entgleiten droht, so ist doch dieser nicht der Verlierer, und es sollte nicht die Aufgabe der Philologie sein, die Dichtung gegen den Willen und gegen die Einsicht der Dichter ins imaginäre Netz der Intention zu ziehen. Von Stefan George wird überliefert, er habe „den Gedichten das Redit [gegeben], für sich zu bestehen; er konnte vielleicht noch einen Sinn finden, der ihm beim Dichten nicht bewußt war; ja vielleicht [könne] das späteren Lesern gelingen11." Und von Valéry stammt der Satz: „C'est une erreur contraire â la nature de la poésie, et qui lui 88

serait même mortelle, que de prétendre qu'à t o u t poème correspond u n sens véritable, unique, et c o n f o r m e ou identique à quelque pensée de l'auteur 1 2 ." Wie ungern sich die Wissenschaft solchen Einsichten öffnet, zeigt etwa eine neuere Studie über Kleist, die zwar die Kunst der Vieldeutigkeit bei ihm betont, indessen h i n z u f ü g t : „Nicht daß dieser Sachverhalt n u n auch die Vieldeutigkeit der Auslegungen rechtfertigen könnte. Ein Werk als Ganzes ist nicht beliebig auslegbar, sondern eindeutig gemeint 1 3 ." D e r I r r t u m dieses Satzes liegt nicht bloß in der Annahme, daß ein W e r k als Ganzes eindeutig gemeint ist, was nebenbei die Frage a u f w i r f t , welche Vorstellung v o n der S t r u k t u r des Kunstwerks es ü b e r h a u p t zuläßt, daß es der Vieldeutigkeit im Einzelnen z u m T r o t z als Ganzes eindeutig gemeint sei. Falsch ist zudem die Alternative: w e n n nicht „eindeutig gemeint", d a n n „beliebig auslegbar". Sie läßt zwar das Motiv dieser Behauptung erkennen, nämlich die berechtigte A b w e h r interpretatorischer Willkür, den verständlichen A n spruch jeder Wissenschaft, ihre Resultate ü b e r p r ü f e n zu können. Aber diese Ü b e r p r ü f u n g darf nicht mit Hilfe eines Kriteriums geschehen, das nicht falsche Interpretationen entlarvt, sondern den Gegenstand verfälscht. Es verfälscht auch die Bedingungen philologischer E r k e n n t nis. D e n n die Annahme, daß ein Werk nicht eindeutig gemeint sei, daß ein W o r t nicht n u r d a n n als mehrdeutiges zu verstehen ist, w e n n diese Mehrdeutigkeit v o n dem Dichter intendiert war, bedeutet keineswegs, daß n u n alle Auslegungen gerechtfertigt wären. Vielmehr wird erst jenseits dieser falschen Alternative die eigentliche Schwierigkeit, aber auch die Aufgabe des Textverständnisses sichtbar: zwischen falsch u n d richtig, sinnfremd u n d sinnbezogen zu unterscheiden, ohne das manchmal objektiv mehrdeutige W o r t u n d das k a u m je eindeutige Motiv u m der prätendierten Eindeutigkeit willen zu beschneiden. Das Problem der v o m Dichter zwar nicht beabsichtigten, doch legitimierten Äquivokation scheint freilich, wie die Beispiele zeigen, mit der Entwicklung der modernen Lyrik zusammenzuhängen. Wohl sind auch aus f r ü h e r e n Zeiten ähnliche Gedanken überliefert, so in des Chladenius „Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden u n d Schriften" v o m Jahr 1742. H i e r heißt es: „Weil die Menschen nicht alles übersehen können, so k ö n n e n ihre Worte, Reden u n d Schriften etwas bedeuten, was sie selbst nicht willenis gewesen zu reden oder zu schreiben", folglich „kann man, indem m a n ihre Schriften zu verstehen sucht, Dinge, u n d zwar mit G r u n d dabei gedenken, die denen Verfassern nicht in Sinn k o m m e n sind 14 ." T r o t z d e m sollte dieser Gedanke nicht unhistorisch auf die f r ü h e r e n Epochen angewandt werden. Aber ebensowenig darf die Wissenschaft die Erkenntnisse des Symbolismus, die aus dem Dichtungsverständnis des 20. J a h r h u n d e r t s nicht m e h r wegzudenken sind, gleichsam zu einem historischen P h ä n o m e n ver89

harmlosen, das ihre Methoden und Kriterien nicht berühren würde. Es wäre zu untersuchen, ob die Sprachauffassung Mallarmes und seiner Schüler nicht zumindest für jene Epochen der Literaturgeschichte von heuristischer Bedeutung ist, die man auf den Begriff des Manierismus zu bringen pflegt, während die rationalistische Auffassung von der Sprache, die sie zum Ausdrucksmittel herabsetzt, der Poetik jener klassischen Werke entspräche, deren Klassizität eben auf Kosten des sogenannten Manierismus geht. Noch einmal zeigt sich die Erkenntnisproblematik der Literaturwissenschaft darin, daß sie versucht ist, ihre Erkenntnis Kriterien zu unterwerfen, die, statt ihre Wissenschaftlichkeit zu verbürgen, sie gerade in Frage stellen, weil sie dem Gegenstand inadäquat sind. Die Literaturwissenschaft darf nicht vergessen, daß sie eine Kunstwissenschaft ist; sie sollte ihre Methodik aus einer Analyse des dichterischen Vorgangs gewinnen; sie kann wirkliche Erkenntnis nur von der Versenkung in die Werke, in „die Logik ihres Produziertseins 1 5 " erhoffen. Daß sie dabei nicht der Willkür und dem Unkontrollierbaren anheimzufallen braucht, jener Sphäre, die sie manchmal mit einer merkwürdigen Geringschätzung ihres Gegenstands die dichterische nennt, muß sie freilich in jeder Arbeit von neuem beweisen. Dieser Gefahr aber ins Auge zu sehen, statt bei anderen Disziplinen Schutz zu suchen, schuldet sie ihrem Anspruch, Wissenschaft zu sein.

Literatur: 1

Fr. D. E. S c h l e i e r m a c h e r , Hermeneutik, ed. H . Kimmerle. Heidelberg

2

1959, p. 20. Satz 4, 112. In: Ludwig W i t t g e n s t e i n , 1960.

Schriften. Frankfurt a. M.

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Zitiert nadi: E. E r m a t i n g e r , Berlin 1930, p. 25.

4

Hölderlin, Bd. 3, p. 549.

5

B. A l l e m a n n , Friedensfeier. In: Neue Zürcher Zeitung vom 2 4 . 1 2 . 1 9 5 4 . Ähnlich in: Hölderlins Friedensfeier. Pfullingen 1955, p. 73.

6

Vgl. W. D i l t h e y , Die Entstehung der Hermeneutik. In: Ges. Schriften. Leipzig und Berlin 1924. Bd. 5, p. 317 ff. Darauf hat Lothar Kempter hingewiesen. Vgl. Hölderlin-Jb. 1955/56, p. 88.

7

Philosophie der

Literaturwissenschaft.

Sämtliche Werke, ed. F. B e i s s n e r. Stuttgart 1946 ff.,

8

Kritische Fragmente, N r . 25 (Minor). In: F. S c h l e g e l , Kritische Schriften, ed. W. Rasch. München o. J . , p. 7.

9

E. E r m a t i n g e r , o.e., p. 334 f.

10

Fr. D. E. S c h l e i e r m a c h e r ,

11

K . H i 1 d e b r a n d t , D a s Werk Stefan Georges. Hamburg 1961, p. 359.

90

o.e., p. 142.

12 13

14

15

P . V a l é r y , Commentaires de Charmes. In: Variété III. Paris 1936, p. 80. W. M ü l l e r - S e i d e l , Versehen und Erkennen. Eine Studie über H. v. Kleist. Köln-Graz 1961, p. 216. Zitiert nadi: H.-G. G a d a m e r , Wahrheit und Methode. Tübingen 1960, p. 172. Th. W. A d o r n o , Valérys Abweichungen. In: Noten zur Literatur II. Frankfurt a. M. 1961, p. 43.

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ÄRZTLICHE V E R A N T W O R T U N G IN DER TH'ERAPIE Von H a n s F r h .

vonKress

Es war Poincaré, der einmal gesagt hat, die Wissenschaft teilt uns mit, was ist, empfiehlt uns aber nicht, was wir damit anfangen sollen. U n d Theodor Litt hat geäußert: Erkenntnis eröffnet dem Menschen Möglichkeiten des Wirkens im Guten wie im Bösen. Während die Naturwissenschaften das, was existiert, zu erkennen suchen, steht der medizinischen Forschung immer als Ziel vor Augen, das, was wir als krankhaft auffassen müssen, zu verwandeln. In ihrem Bestreben, krankhaftes Geschehen so zu beeinflussen, daß der N o r m wieder angenäherte oder sogar normale Organfunktionen resultieren, in ihrem Bestreben, Krankheitsherde zu beseitigen und Krankheiten vorzubeugen, geht die Medizin von der Voraussetzung aus, daß Gesundheit eines der erstrebenswertesten Güter dieses Daseins ist. Die praktische Medizin kann, was die exakten Wissenschaften ängstlich zu vermeiden trachten, sich nicht freimachen vom finalen Denken, vom Bemühen zu würdigen, zu werten, was ein pathologischer Zustand für das Dasein des Einzelnen bedeutet. Im ärztlichen Beruf geht es darum, solchen Tendenzen der N a t u r entgegenzuwirken, die als belästigend oder gar gefährdend für den Menschen aufzufassen sind. Stets sehen wir die Krankheit, auch in der Forschung, als etwas zu Bekämpfendes an. Die Senkung des Blutzuckerspiegels durch Insulin ist eine m i t naturwissenschaftlicher Methodik errungene Erkenntnis. Die Symptomatologie der weit verbreiteten Zuckerkrankheit war bereits im Altertum klassisch beschrieben worden. Ihr Wesen soweit zu durchschauen, daß therapeutische Konsequenzen daraus gezogen werden konnten, ist erst in den 80iger Jahren des vergangenen Jahrhunderts möglich gewesen, als Mehring und Minkowski an einem Hund, dem sie aus ganz anderer Fragestellung heraus die Bauchspeicheldrüse entfernt hatten, die charakteristischen Symptome der vermehrten Flüssigkeitsausscheidung und der gesteigerten Flüssigkeitsaufnahme beobachteten und im Harn dieses Hundes Zucker fanden. Durch dieses Experiment ist klar geworden, daß von der Bauchspeicheldrüse ein Stoff produziert wird, dessen hinreichendes Vorhandensein die Zuckerkrankheit verhütet. Vielerorts setzte damals ein fieberhaftes Suchen nach diesem Stoff ein, bis es nach Jahrzehnten Banting und Best gelang, ein Extraktionsverfahren zu ermitteln, bei dem das hochempfindliche Insulin tierischer Bauchspei-

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cheldrüsen nicht zerstört und zudem von allen für den Menschen nachteiligen Ballaststoffen befreit wird, so daß es beim Zuckerkranken als zuverlässiges Therapeutikum verwendbar war. Manche Fälle von Zuckerkrankheit, zumal die im Kindesalter bereits auftretenden, sind als schwere und lebensbedrohliche Zustände zu werten. Insulin, in der Menge genau abgestimmt auf die zugeführte Nahrung, hat sidi in diesen Fällen als lebensrettend und lebenserhaltend erwiesen. Die perniciöse Anämie, die deshalb das Beiwort perniciös erhielt, weil sie in allen Fällen nach 1 bis 2jährigem Bestand zum Tode zu führen pflegte ,ist ebenso wie die Zuckerkrankheit als eine Mangelkrankheit erkannt worden. Der Stoff, der in mühsamen Untersuchungen als fehlend festgestellt werden konnte, trägt die Bezeichnung Vitamin B 1 2 und seine künstliche Zufuhr in minimalen Mengen behebt beim Kranken mit experimenteller Sicherheit diese charakteristische Form der Blutarmut, so daß an dieser Blutarmut heute niemand mehr zu sterben braucht. Bei der Rachitis, auf die früher zahlreiche Menschen ihr Krüppeltum zurückführen mußten, ist eine Vorbeugung bzw. bei bereits eingetretener Krankheit die Heilung durdi ein Vitamin D möglich. Es könnten noch mehrere Beispiele angeführt werden von Krankheiten, bei denen man erkannt hat, daß sie dem Fehlen oder der unzureichenden Produktion eines bestimmten Stoffes zuzuschreiben sind und daß die Krankheitserscheinungen schwinden, wenn der fehlende Stoff künstlich zugeführt wird. Aus dem Gebiet der erregerbedingten Krankheiten mag die tuberkulöse Hirnhautentzündung Erwähnung finden, die früher in allen Fällen einen tödlichen Verlauf nahm. Die' Entdeckung von Stoffen, die auf die Lebenskraft der Tuberkelbakterien, auf ihre Vermehrungsfähigkeit und ihre Giftproduktion hemmend einwirken, ermöglicht auch bei dieser Krankheit heute die Heilung. Das Ausscheidungsprodukt einer Pilzart, ein Antibiotikum, nämlich das Streptomycin, erwies sich als ein das Tuberkelbakterium schädigender Stoff. Nach seinem Bekanntwerden wurde er natürlich auch bei der gefürchteten tuberkulösen Hirnhautentzündung angewandt. Er schien bei dieser, sich oft über viele Wochen hinziehenden Krankheit zunächst erfolgreich zu sein, aber in zahlreichen Fällen kam es nach einiger Zeit wieder zu einer stärkeren Ausprägung der Krankheitssymptome und die Kinder — meist werden Kinder von dieser Krankheit befallen — starben dann doch noch in größerer Zahl und wir Ärzte standen dem uns belastenden Sachverhalt gegenüber, daß wir das Leben nicht erhalten, sondern die Qual für diese Kinder nur verlängert haben. Als dann weitere, die Tuberkelbakterien in ihrer Lebenskraft hemmende Chemotherapeutika entdeckt wurden, da konnte man die Kinder, die an dieser Krank93

heit litten, mit zwei oder drei verschiedenen wirksamen Substanzen gleichzeitig behandeln und die Erfolge waren gut, die Kinder blieben am Leben. Man weiß heute auf Grund eingehender Untersuchungen, daß bei langfristiger Anwendung nur eines Stoffes manche Exemplare einer Tuberkelbakterienpopulation eine Widerstandsfähigkeit gegenüber diesem Stoff erlangen. Die Freude über die erzielte Heilung wurde nun aber in manchen Fällen dadurch getrübt, daß die am Leben gebliebenen Kinder nach überstandener Krankheit Lähmungen einzelner Hirnnerven, Schwerhörigkeit und eine Behinderung der Zirkulation der Hirn- und Rückenmarksflüssigkeit erlitten, woraus vielfach Wesens- und Charakterveränderungen und oft eine Minderung der intellektuellen Fähigkeiten resultierten. Da war auf Grund einer groben Narbenbildung an den entzündet gewesenen Hirnhäuten eine Heilung mit Defekt eingetreten. Nachdem man neuerdings nun zur Behandlung noch bestimmte H o r m o n e der Nebennierenrinde hinzuzufügen pflegt, deren Einfluß die Ausbildung dicker, schrumpfender Narben verhütet, sind die Heilergebnisse erfreulich. Aus diesem Beispiel ist zu ersehen, daß es in der Medizin ein dornenvoller Weg sein kann von einer anfänglichen Beeinflussungsmöglichkeit bis hin zum optimalen Effekt. _ Mit Hilfe von Antibioticis ist es ferner möglich geworden, die früher immer tödlich gewesene bakterielle Herzklappenentzündung, den an schwerer Lungenentzündung oder an einem bedrohlichen T y phus Erkrankten in der Regel zu heilen. Noch vor etwa 80 Jahren hat — worauf Jirasek hingewiesen hat — ein bedeutender Arzt namens Linhart die operative Entfernung der Schilddrüse für ein waghalsiges Unternehmen, ja für einen Mordversuch gehalten. So groß war das Risiko in den Anfängen der Schilddrüsenchirurgie und ganz allmählich erst hat sich durch die verbesserte operative Technik die Sterblichkeit nach diesem Eingriff so vermindert, daß sie heute bei jüngeren und kreislaufgesunden Menschen kaum mehr ins Gewicht fällt. Die Anfänge der Schilddrüsenchirurgie fielen in eine Zeit, in der man von der wichtigen Funktion dieses Organs, das bei einer Vergrößerung die Luftröhre einengen kann, noch nichts wußte. Das Ergebnis einer völligen Entfernung der vergrößerten Schilddrüse war dann oft eine auffällige krankhafte körperliche Symptomatik mit einer Wesensänderung der Betreffenden, mit einer Beeinträchtigung in den Bereichen des Geistes, der Seele und des Gemüts. Man kannte damals auch noch nicht die Funktion jener vier kleinen Drüschen an der Hinterfläche der Schilddrüse, die regulierend auf den Kalkstoffwechsel einwirken und deren Mitentfernung krankhafte Erscheinungen entstehen ließ. So hat man allmählich gelernt, daß ein kleiner Teil der Schilddrüse erhalten bleiben muß und die Nebenschilddrüsen nicht mit entfernt werden dürfen.

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Billroth, jener berühmte, auf dem Gebiet der Magenchirurgie bahnbrechende und gewiß wagemutige Chirurg, hat auch vor etwa 80 Jahren geäußert, daß Operationen des Herzens als unehrenhafte Handlungen zu bezeichnen seien. Im Laufe der Jahre hat man aus anfänglichen Fehlschlägen gelernt, und es mußten alle jene Verbesserungen der operativen Technik ersonnen werden, die zusammen mit neuen Narkosemethoden zum heutigen glanzvollen Stand der Herzchirurgie geführt haben, der es ermöglicht, das Leben von Kranken mit manchen angeborenen und erworbenen Herzfehlern zu verlängern und die Leistungsfähigkeit dieser Menschen entscheidend zu verbessern. Wenn unser heutiges Können, unser gegenwärtiges ärztliches Vermögen innerhalb aller Teilgebiete der Medizin gegenüber der Vergangenheit ganz gewaltig angewachsen ist, so sollte man doch nicht an der Tatsache vorbeisehen, daß auf dem Weg der immer erfolgreicher gewordenen Entwicklung, wie aus den angeführten Beispielen wohl ersichtlich wurde, anfängliche Mißerfolge, Enttäuschungen, Menschenopfer liegen. Die Medizin auf ihrem Siegeszug ist behaftet und wird auch in Zukunft behaftet sein mit dem ethischen Dilemma der Wissenschaft, um ein Wort von Hills zu gebraudien. Jede wirksame Therapie, sei sie chirurgisch, sei sie konservativ, wird selbstverständlich erst in ausgedehnten Tierversuchen geprüft, ehe sie am Menschen zur Anwendung gelangt, aber eines Tages muß eben, wenn die Medizin vorankommen will, die Erprobung am kranken Menschen mit aller Vorsicht vollzogen werden. Man kann im Hinblick auf die gegenwärtigen therapeutischen Möglichkeiten, die eine bemerkenswert große Bereicherung in den letzten 60 Jahren erfahren haben, sagen, daß es heute viel besser als in vergangenen Zeiten gelingt, entfernbare Krankheitsherde frühzeitig genug zu erkennen und daß sich die Technik ihrer Entfernung gefahrloser gestaltet, mag es sich nun um bedrohliche entzündliche Prozesse, um Einklemmungen von Steinen, um die Einengung der Lichtung von Hohlorganen oder um bösartige Geschwülste handeln. Die Fortschritte in der konservativen Behandlung beruhen darauf, daß für manche Krankheitsbilder, vor allem f ü r die Mangelkrankheiten ein bedeutsamer ursächlicher Faktor entdeckt wurde, weil man eben nachzuweisen vermochte, welcher Stoff in zu geringem Umfang oder gar nicht produziert wird. Mit der Einführung der Chemotherapie kann in vielen Fällen der Erreger, die Conditio sine qua non f ü r die Krankheitsausbildung getroffen werden. Wissenschaftliche Erkenntnisse haben uns instand gesetzt, sowohl in zahlreiche Vorgänge innerhalb des Organismus eingreifen zu können, als auch darüberhinaus in die Umwelt umgestaltend einzuwirken. Wir Lebenden sind Zeugen einer besonderen Dichtigkeit von Erfindungen und Entdeckungen, die der Medizin Ge95

v/inn zu bringen vermochten, die übrigens beim kranken Tier ebenso verwertbar sind wie beim kranken Menschen. In der Therapie darf ein nützlicher Effekt mit umso größerer Wahrscheinlichkeit erwartet werden, je besser die getroffene Maßnahme naturwissenschaftlich begründbar ist. Eine lebensbedrohliche Zuckerkrankheit nicht mit Insulin, eine fortgeschrittene perniciöse Anämie nicht mit Vitamin B 1 2 , eine festgestellte tuberkulöse Hirnhautentzündung nicht unverzüglich mit Tuberkulostaticis zu behandeln, sondern etwa gerade neu aufkommende, noch nicht hinreichend erprobte Verfahren anzuwenden, also bei diesen Kranken einen Versuch zu wagen, wäre ein nicht zu verantwortendes ärztliches Vergehen. Das wäre die durch nichts zu rechtfertigende V o r enthaltung einer nach dem Stand unseres gegenwärtigen Wissens optimalen Behandlung, die in den eben genannten Beispielen zudem als risikofrei zu erachten ist, es sei denn, daß ganz vereinzelte Kranke auf Grund individueller, nicht vorhersehbarer Reaktionsweisen die therapeutischen Maßnahmen mit einer Überempfindlichkeitsreaktion, etwa dem Penicillin oder einem Heilserum gegenüber, beantworten. Die Innere Medizin, die sich noch im vergangenen Jahrhundert nachsagen lassen mußte, sie sei die Lehre von den unheilbaren Krankheiten, war damals praktisch fast nur zur Symptomlinderung befähigt, konnte aber bei tödlichen Krankheiten nur selten das Leben verlängern. Das menschliche Leben, das uns als ein höchster Wert gilt und zu gelten hat, zu verlängern, solange es in menschlichen Kräften steht, ist ein Grundsatz, der nicht verlassen werden kann und darf. N u n bedenke man aber auch einmal folgende ärztliche Situation: Da handelt es sich um einen sehr betagten, nur noch dahindösenden, nur noch vegetierenden Kranken, der auf Grund einer schweren Verkalkung seiner Gehirngefäße bestimmende Merkmale des menschlichen Daseins, nämlich Geist, Seele und Gemüt eingebüßt hat und nie mehr wieder erlangen kann. Oder man stelle sich den von einem ausgedehnten Krebsleiden befallenen Kranken im finalen Stadium mit schwersten Schmerzen und entsetzlicher Hinfälligkeit vor. Eine hinzutretende Lungenentzündung hat diesen geschwächten Menschen oft die Erlösung von ihrem Leiden gebracht. Mit Penicillin können wir heute solche Lungenentzündung rasch beseitigen und damit die Leidenszeit verlängern. Gibt es einen Zeitpunkt, zu dem der Arzt berechtigt ist, die Waffen zu strecken, zu resignieren, die Verantwortung zu übernehmen für die Unterlassung einer an sich wirksamen, aber eben nur die Qual verlängernden Maßnahme? Ein Können ist zweifelsfrei gegeben. O b dabei auch das Dürfen so zweifelsfrei bejaht werden kann, das ist die Frage. Sie ist generell nicht zu beantworten. D e r Arzt muß sich im Einzelfall verantwortlich ent-

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scheiden, unabhängig von etwaigen Wünschen des Patienten oder dessen Angehörigen. Der nützliche Effekt einer richtig dosierten, symptomatischen Therapie mit bestimmten Drogen bei einer Leistungsschwäche des Herzens ist mit großer Wahrscheinlichkeit in Aussicht zu stellen, ja man kann sagen, daß angesichts einer Leistungsschwäche des Herzens, die einen Circulus vitiosus einleitet, die Unterlassung der entsprechenden Behandlung ein gravierendes Versäumnis darstellt. Man kann auch die verschiedenen Schmerzarten durch jeweils angepaßte, gründlich geprüfte und erprobte Mittel symptomatisch meist zuverlässig beeinflussen und man kann des weiteren die Beruhigung erregter Kranker mit weitgehender Wahrscheinlichkeit arzneilich herbeiführen. Es kommen mancherlei Krankheitszustände vor, die lebensbedrohliche Phasen durchlaufen und bei denen die Verabreichung jener vorhin schon erwähnten H o r mone aus der Nebennierenrinde das gefährliche Stadium zu überwinden hilft. Die Uberempfindlichkeit gegenüber einem Arzneimittel kann sich durch eine gefahrvolle Störung der Bildung oder der Reifung von Blutkörperchen dokumentieren. Im Zusammenhang mit dem akuten rheumatischen Fieber kann eine entzündliche Ergußbildung im Herzbeutel das Leben der Kranken bedrohen und bei einem Asthma bronchiale-Kranken kann sich eine tagelang anhaltende lebensgefährliche, schwerste Atemnot ereignen. In Fällen von infektiöser Gelbsucht ist eine ziemlich akut sich einstellende Steigerung des Krankheitsvorganges in den Leberzellen ein besorgniserregendes Ereignis. Dies sind einige Beispiele, in denen die Verabreichung der H o r m o n e aus der Nebennierenrinde lebensrettend wirken kann. Bei etwa notwendiger, langfristiger, hochdosierter Verabfolgung dieser Stoffe können allerdings nachteilige Nebenwirkungen auftreten, so daß solche Behandlung ein gewisses Risiko mit sich bringt. Wie es kein ganz risikofreies Operieren, keine ganz risikofreie Strahlenbehandlung gibt, so gibt es auch Arzneimittel, bei deren Anwendung unerwünschte Nebenwirkungen einmal inkauf genommen werden müssen. Wegen des Operationsrisikos eine zwingend notwendige Operation nicht durchzuführen, wegen etwaiger, da und dort einmal auftretender Nebenwirkungen ein für die Erhaltung des Lebens erforderliches Arzneimittel nicht anzuwenden, hieße, daß der Arzt aus zaghafter Ängstlichkeit heraus ein wahrscheinlich nützliches, ja lebensrettendes Verfahren unterläßt, sich der Übernahme einer vertretbaren Verantwortung entzieht. Zu den ärztlichen Geboten, nicht zu töten und nicht zu schaden, gesellt sich mit immer größerer Vordringlichkeit das Gebot, nichts zu versäumen, was Nutzen zu bringen verspricht. Den Kranken mit einer bösartigen Geschwulst, die die Grenzen des Organs, in dem sie entstanden ist, noch nicht überschritten hat, kann 7

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heute nur durch die operative Entfernung der Geschwulst nachhaltige Hilfe gebracht werden. Das ärztliche Gespräch mit solchem Kranken wird also darauf abzielen müssen, ihn unter Vermeidung jeglicher niederschmetternden und damit die Operationschancen nur verschlechternden Brutalität davon zu überzeugen, daß die Unterlassung der Operation ein später nicht mehr gutzumachendes Versäumnis darstellen würde. Der Krebskranke, dem durch eine Operation nicht mehr geholfen werden kann, durchläuft zunächst noch eine Phase, in der er nicht gewillt ist, das ihm auferlegte Schicksal hinzunehmen, er lehnt sich dagegen auf. E r fragt nach der Art seiner Krankheit und nach den Chancen einer Heilung. In einem späteren Stadium spricht er dann in der Regel nicht mehr darüber, er zieht sich in sich zurück, seine düstere Zukunft ahnend, wenn nicht wissend, aber seine trüben Vermutungen zurückdrängend. Es erfolgt eine zunehmende Distanzierung auch von den nächsten Angehörigen. Luois Grote, dieser feinsinnige ärztliche Beobachter, hat von den Krebskranken mit Recht gesagt, daß sie schon verhältnismäßig frühzeitig anfangen, Abschied zu nehmen, daß ihre Devitalisierung schon verhältnismäßig bald beginnt und daß sie sich eines Tages nicht mehr dagegen wehren. Sie fragen nicht mehr, sie wollen über ihren Zustand gar nicht mehr genau informiert werden, sie nehmen nur dankbar jedes Wort entgegen, aus dem sie eine menschliche Anteilnahme und Hilfsbereitschaft ersehen. Wenn in diesen Phasen ein operativer Eingriff nicht mehr zur Heilung, sondern nur zum Zweck der Schmerzlinderung sich anbietet, wenn eine Bestrahlungsbehandlung auch nur Linderung zu bringen verspricht, dann sind solche Maßnahmen, selbst wenn sie nur eine vorübergehende Erleichterung zeitigen, unbedingt angezeigt und ihre Unterlassung wäre ein Versäumnis. Daß belästigende Symptome, vor allem Schmerzen durch unsere stärkst wirkenden Analgetica bekämpft werden sollen, ist ein Gebot der Menschlichkeit, auch wenn dadurdi das Bewußtsein dieser Kranken eine Trübung erfährt. Natürlich ist es das ärztliche Ideal, bei der Behandlung von Krankheiten einen wichtigen Faktor im ursächlichen Bedingungskomplex ausschalten zu können, also Maßnahmen zu treffen, die einer kausalen Therapie nahekommen. Aber man soll darüber nicht die Wichtigkeit und den Wert der alten symptomatischen Therapie vergessen, ja man soll gerade ihr die größte Sorgfalt widmen. Wo keine Heilung möglich ist, da ist dem Arzt die Linderung zur Pflicht gemacht. Die bisher angeführten Beispiele wollten demonstrieren, daß es Krankheitsfälle gibt, in denen die Unterlassung einer substituierenden Behandlungsmethode als Kunstfehler angesehen werden muß und daß es bakteriell bedingte Erkrankungen gibt, die die Anwendung bakteriostatischer Substanzen geradezu gebieten und daß es schließlich Krank98

heitsfälle gibt, in denen eine selbst mit Gefahren verbundene symptomatische Medikation im Interesse der ganz überwiegenden Mehrzahl der Kranken liegt. Letzteres gilt u.a. auch f ü r die Behandlung des Herzinfarktes mit Substanzen, die auf die Blutgerinnung hemmend einwirken. Die Wissenschaft hat in den genannten Fällen gelehrt, was ist, und der Verantwortlichkeit des Arztes obliegt es, die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Wirken im Guten zu verwenden, d. h. durch sorgfältige Untersuchung den beeinflußbaren Krankheitszustand rechtzeitig zu erkennen und die nach dem Stand unseres derzeitigen Wissens aussichtsreichste Behandlung technisch einwandfrei durchzuführen. Die ärztliche Verantwortung ist schwerer zu tragen und auch an die Entscheidung des Kranken werden höhere Anforderungen gestellt, wenn ein operativer Eingriff im Augenblick nicht notwendig, auf weite Sicht aber ratsam zu sein scheint. Der tödliche Ausgang infolge einer unerwarteten Komplikation nach der Operation ist für den verantwortlichen Arzt wie für die Angehörigen des Verstorbenen eine ebenso große Belastung wie die nicht minder häufige Erkenntnis, daß der Entschluß zum operativen Vorgehen doch zu spät gefaßt worden ist. Die Medizin kennt nichts Grauenhafteres als das Wort zu spät. In der ärztlichen Praxis treten zahlenmäßig diejenigen Krankheitszustände, bei denen wir ein Behandlungsverfahren anzuwenden in der Lage sind, das einen hohen Grad von Zuverlässigkeit aufweist, zurück gegenüber denjenigen Zuständen, in denen die gängigen arzneilichen Behandlungen der wünschenswerten wissenschaftlichen Begründung ihres Nutzens und ihrer Wirkungsweise noch weitgehend entbehren. Ob es sich um Präparate handelt, denen ein Effekt auf jene ungemein häufigen funktionellen Störungen ohne erkennbaren organischen Befund zugeschrieben wird, die da Ausdruck einer Erregbarkeitssteigerimg im unwillkürlichen Nervensystem sind, Ausdruck von Belastungen und Beunruhigungen der geistig-seelisch-körperlichen Einheit Mensch, die auf Konstellationen sehr individueller Prägung zurückgeführt werden müssen, ob es sich um die Beeinflussung mancher Arten von Blutdrucksteigerung oder Blutdrucksenkung, um Zustände von Migräne, Bronchialasthma, Darmverkrampfungen oder um die Magengeschwürskrankheit handelt, ob es um die Beeinflussung nervös Erschöpfter, überarbeiteter Menschen, um die Förderung der Rekonvaleszenz nach überstandenen Krankheiten geht, die hierfür auf den Markt gebrachten und in zunehmendem Umfang neu auf den Markt kommenden Mittel sind deshalb Legion, weil ein jeweils zuverlässig nützlicher Stoff eben nicht existiert, vielleicht auch nie existieren kann. Der medizinische Laie glaubt, daß es nicht schwer sein müßte herauszufinden, ob nach der Verabreichung eines Medikaments vorhandene Krankheitserscheinungen und geklagte Beschwerden schwinden oder sich 99

verringern. Er glaubt vielleicht sogar, daß es möglich sein müßte, allein mit Hilfe des Tierexperiments hinreichend Aufschluß über die Wirkung eines Arzneimittels zu erlangen und auf Grund des Tierexperiments auch aussagen zu können, ob ein Arzneistoff nachteilige Nebenwirkungen entfaltet. Das sachverständig durchgeführte Tierexperiment gibt uns nun in der Tat wichtigste Resultate und Hinweise, aber Ludwig Lendle, der erfahrene Pharmakologe, hat gerade kürzlich im Zusammenhang mit der Beunruhigung der Bevölkerung durch die Schäden nach langfristiger Einnahme des Präparates Contergan mit vollem Recht geäußert, daß der Tierversuch eben nicht alle Nebenwirkungen erkennen lassen kann, die beim kranken Menschen sich erst nach langdauerndem Gebrauch einer Substanz zeigen. Es wurden soeben nicht ohne Absicht solche von der N o r m abweichenden Zustände erwähnt, die man als rein menschliche Krankheiten bezeichnen muß, weil sie beim Tier nicht vorkommen, auch kaum zu erzeugen sind, so daß es verständlich sein dürfte, wenn uns in diesen Fällen das Tier als Versuchsobjekt weitgehend im Stich läßt. Daß in der Medizin die Arzneimittelprüfung ein Problem darstellt, geht nicht zuletzt auf folgende Gründe zurück: Bei jeder therapeutischen Einflußnahme ist der Sachverhalt deshalb schwer durchschaubar, weil, wie Ferdinand Hoff es treffend gesagt hat, nicht nur die Faktoren Krankheit und Medikament eine Rolle spielen, sondern auch eigene Reaktionen des Organismus, seine Umstellung infolge der Krankheit, die oft zugleich als Abwehr- und Heilungsvorgänge aufgefaßt werden dürfen. Es interferieren nach Hoff's Worten auch die psychischen Vorgänge im Krankheits- und Heilungsgeschehen, die nicht der naturwissenschaftlichen Analyse nach Zentimetern, G r a m m und Sekunden zugängig, nichtsdestoweniger sehr wirksam und mächtig sind. Die bei jedem Kranken nun einmal in Rechnung zu stellende Suggestibilität erschwert uns oft die Feststellung der objektiven Wirksamkeit eines Arzneistoffes, wie uns andererseits spontane Wandlungen eines Krankheitsbildes im zeitlichen Zusammenhang mit einer Medikation zu täuschen vermögen. So kommen hinsichtlich therapeutischer Effekte eben häufig Eindrücke zustande, die keinerlei Beweiskraft besitzen. Die Methodik wissenschaftlicher Arzneimittelprüfungen am Menschen ist vornehmlich von Paul Martini befruchtet worden durch seine Empfehlung, bei akuten Krankheiten dadurch ein Urteil zu gewinnen, daß die Fälle 1, 3, 5, 7, usw. eines bestimmten Krankheitsbildes mit einem bereits eingeführten Mittel, die Fälle 2, 4, 6, 8, usw. mit dem zu prüfenden, neu eingeführten, vielleicht noch besseren Stoff behandelt werden. Die Wirksamkeit eines Arzneistoffes bei chronisch Kranken hat Martini dadurch zu objektivieren empfohlen, daß dieser erst nach einer längeren therapiefreien Vorbeobachtungsperiode zur Applikation 100

gelangt. Ohne Vergleich, das ist ein Wort von Karl Kisskalt, ist keine Forschung möglich. Die durch den Vergleich gewonnene Erkenntnis der Forschung von heute ist der Gewinn f ü r den Kranken von morgen. Eine Methode zur Objektivierung von Arzneimittel Wirkungen ist auch der sogenannte Blindversuch, bei dem eine Hälfte der Kranken mit gleichartiger Symptomatologie oder gleichem Krankheitsbild das zu prüfende Medikament und die andere Hälfte eine indifferente Substanz von gleicher äußerer Beschaffenheit, ein sogenanntes Placebo erhält, weil dann das Moment der Suggestibilität in den beiden Gruppen das gleiche sein dürfte. Man hat sogar den sogenannten doppelten Blindversuch herangezogen, bei dem selbst der behandelnde Arzt vom Versuchsleiter nicht erfährt, ob er jeweils das zu prüfende Medikament oder ein Placebo seinem Kranken gibt, um den Faktor der ärztlichen Uberzeugungskraft in allen Fällen gleichmäßig zu gestalten. Auf Grund der Erfahrung im doppelten Blindversuch hat Arthur Jores einmal geäußert, daß eine erfolgreich scheinende Placebowirkung dann vielfach festgestellt werden kann, wenn der Kranke hingabebereit ist und der Arzt an sein Mittel glaubt. Es fallen eben — dieser Sachverhalt ist immer wieder zu bestätigen — gerade bei den Kranken mit den häufigen, ungefährlichen aber lästigen funktionellen Störungen auch die ärztlichen Ausführungen, die eine medikamentöse Behandlung begleiten, ins Gewicht f ü r den Eindruck, den der Kranke von der Arzneiwirkung gewinnt und zwar keineswegs allein bei den psycholabilen Kranken. Beobachtungen, die in den Vereinigten Staaten an sehr großen Reihen angestellt wurden, haben erkennen lassen, daß gerade Schmerzen, ebenso die Erscheinungen eines Asthma bronchiale in einem auffallend hohen Prozentsatz unter Placebo-Einwirkung eine Linderung erfahren und Clauser hat darauf aufmerksam gemacht, daß eine Placebowirkung auch bei Patienten mit organischen Krankheiten ziemlich oft in Erscheinung tritt. Bei welchen Kranken solche Untersuchungen, solche therapeutischen Versuche erlaubt sind, die zweifelsohne notwendig sind im Interesse des Fortschreitens der wissenschaftlichen Erkenntnis und die diktiert werden vom berechtigten Verlangen nach therapeutischer Sicherheit, ist eine Angelegenheit des ärztlichen Gewissens, der ärztlichen Verantwortung. Sie sind selbstverständlich nur zulässig bei solchen Krankheitszuständen, denen gegenüber wir bisher noch kein zuverlässig wirksames Mittel besitzen, wenn es darum geht, einen Stoff zu erproben, der auf Grund vorangegangener gründlicher Prüfung im Tierversuch zur Hoffnung berechtigt, daß er gegenüber den bisher angewandten symptomatischen Mitteln einen Fortschritt bedeutet. Sofern bei einer Krankheit, die wir bereits beeinflussen können, ein neuentdeckter Stoff eine noch weitere Verbesserung erwarten läßt, dann sind solche Prüfungen nur zu recht101

fertigen, wenn sich in der Prüfungsgruppe lediglich Krankheitsfälle finden, bei denen es das Stadium der Krankheit ohne Bedenken zuläßt, noch einige Zeit auf die Darreichung des bisher als nützlich bekannten Mittels zu verzichten. Die Humanmedizin ist, das muß man immer wieder betonen, mehr als nur Naturwissenschaft. Das Kranksein, etwa das Erschüttertsein, das Erregtsein, das Unzufriedensein, gekoppelt mit funktionellen Syndromen, ist ein mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht faßbarer Gegenstand. Ihm muß mit Hilfe psychologischer Methoden begegnet werden, deren Forschungsergebnisse der Erkenntnis und dem therapeutischen Handeln wesentlichen Gewinn gebracht haben. Eine Behandlung mit seelischen Mitteln braucht auch nicht ganz ohne Risiko zu sein, sie erfordert dieselbe eingehende Kenntnis der Materie wie eine operative und arzneiliche Therapie. Das Für und Wider kann auch hier nur vom Sachverständigen verantwortlich entschieden werden. Das Thema, das mir gestellt worden ist, sollte sich auf die Beleuchtung der ärztlichen Verantwortung in der Therapie erstrecken. Die Ausweitung unserer differenzierten therapeutischen Möglichkeiten — das zu zeigen war mein Anliegen — hat die ärztliche Verantwortung gegenüber vergangenen Zeiten erheblich vermehrt und es gilt das gleiche für den diagnostischen Teil der ärztlichen Arbeit. Ärztliche Verantwortung übernehmen zu können hat zur Voraussetzung ein großes Maß von fachlichem Wissen, von fachlichem Können, von Erfahrung, von einfühlendem Verständnis und hat zur Voraussetzung die innere Bereitschaft zu dienen und zwar zu dienen durch die Entscheidung des Wissenden. Der Mensch ist das wohl einzige Lebewesen, das seine Handlungen vor sich selbst verantwortet, weshalb jeder Mensch verlangen kann, daß der andere verantwortungsbewußt an ihm handelt. Franz Büchner hat einmal geäußert: Was wir vom Menschen denken, bestimmt unser Handeln an ihm. Unsere Einstellung zum Menschen ist eine Frage, auf die uns die Wissenschaft die Antwort schuldig bleiben muß. Die Einstellungen, welche unser Handeln bestimmen, sind vorzugsweise abhängig von der geschichtlichen Tradition, die uns überkommen ist, von der Erziehung und religiösen Beeinflussung, der wir unterlegen sind und unterliegen. Von der jeweiligen gesellschaftlichen Lage erhält das menschliche Gewissen, wie der Theologe Hans Köhler wohl richtig bemerkt hat, entscheidende Färbungen und unterliegt dadurch im Laufe der Zeiten, das lehrt uns die Geschichte, gewissen Wandlungen. Die Entscheidungen, die wir treffen, beruhen auf erworbener Einsicht und werden gelenkt vom Gewissen. Jede Verfehlung im ärztlichen Wissensbereich schädigt den Kranken und jede Verfehlung in den Fragen des Gewissens setzt sich in Widerspruch zur Humanität, 102

von der Karl Jaspers so nachdrücklich gesagt hat, daß sie ein integrierender Bestandteil des ärztlichen Berufes ist. Die jungen Kommilitoninnen und Komilitonen, die die Medizin als Studium erwählt haben, sind von dem idealen Drang beseelt, kranken Menschen helfen zu wollen, ihnen dienlich zu sein. Möge für sie wie für die Studierenden auch der anderen Fakultäten der Inhalt eines tiefgründigen Ausspruchs von Alfred de Vigny sich bewahrheiten, der da lautet: Ein schönes Leben ist ein Gedanke aus der Jugend, der im reifen Alter verwirklicht wird.

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DER ARZT ZWISCHEN WAHRHEIT UND FÜRSORGE Von H e l m u t

Selbach

Das Hauptthema dieser Vortragsreihe: „Wissenschaft und Verantwortung" bedarf vom Standpunkt der ärztlichen Alltagsarbeit Ausweitung und Einengung. Der Arzt soll weit über die erlernbar exakte Wissenschaft und ihre Richtigkeiten hinaus im mitmenschlichen Bereich wirken und dazu die Forderung nach Wahrhaftigkeit erfüllen. Seine Haltung und Handlung werden aus Gewißheit guter Kenntnisse und begründeter Überzeugung erwartet; die ärztliche Aussage muß richtig und wahr zugleich sein. Darin liegt bereits das ganze Ausmaß selbstverständlicher Verantwortung begriffen, das hier jedoch auf seinen besonderen Aspekt der Sorgfaltspflicht, der Fürsorge als Teil der Nächstenliebe eingeengt werden muß. Wahrhaftigkeit wird vom Vertrauen beantwortet, Fürsorge vom Empfinden der Geborgenheit. Wahrhaftigkeit als männliches Prinzip bringt Klarheit, Endgültiges, kann einengen, ja schmerzen, vielleicht sogar vernichten, Nächstenliebe als weibliches Prinzip soll schonen, den Freiheitsraum, die Entscheidungs- und Entfaltungsmöglichkeit der Person offenhalten. Wahrhaftigkeit und Nächstenliebe sind unabdingbare Wesenszüge des ärztlichen Charisma. Wahrheit und Fürsorge, ihre Inhalte also, sind komplementär; seit jeher sind sie aber auch tragische Möglichkeit zu echtem Konflikt, dies umso mehr in einer modernen säkularisierten Gesellschaft, in der die alten Grundsätze von „Ehr und Gewissen" auf ökonomische Primitiv-Dogmen abgesunken und die von „Treu und Glauben" durch Tarifordnungen, Haftpflichtgesetze usw. notwendigerweise ersetzt werden. In dem oft berechtigten Mißtrauen, daß von der Wahrheit über die verschleierte Halbwahrheit bis zur Täuschung für manchen nur ein Schritt sei, soll dann auch der Arzt überwacht werden. Sein Auftrag als „Heilfunktionär" geht angeblich vom Volke aus, von einer Partei oder schließlich von einer Kasse, also von anonymen manipulierbaren Institutionen ohne Allgemeinverbindlichkeit. Unabhängig jedoch von zivilisatorischer Differenzierung einer künftigen Menschheit oder von ihrem Zurücksinken in eine homogene, von skrupellosen Dialektikern tyrannisierte Masse bleibt der Arzt stets Weisungsempfänger allein seines Gewissens: eine schreckliche Beunruhigung für atheistische Kollektiv-Planer in ihrem tiefbegründeten Haß gegenüber dem Geistigen. Damit ist der Arzt neben seiner heilenden Pflicht auch Erzieher wie 104

der Geistliche, der Richter und der Lehrer; er ist Wegweiser zur sittlichen Autonomie, zu einer „durch ständige Disziplin reifer werdenden Vernunft" (Jaspers). Zunächst aber ist er Beschützer des Einzelnen in seiner Intimsphäre gegenüber dem Konformitätsdruck technifizierter, wesenloser Organisationen, weit schwieriger aber auch gegenüber dem wahren Recht als anerkennbarer normativen Instanz! Allein schon aus dieser Spannung kann bei Erfüllung der Forderung von Wahrheit und Fürsorge eine Aporie, ein echter Konflikt des Gewissens entstehen. Kollektiv-Normierung wäre hier minderwertig, Regeln sind hilflos, das Normative einer höheren transpersonalen Zone allein ist gültig. Das Wagnis letzter Entscheidung des innerlich beauftragten einzelnen Arztes ist unumgänglich; Grundsätzliches also bleibt offen. In der Begegnung des Kranken mit seinem Arzt schließt sich mehr als ein analysierbarer juristischer Vertrag. Ihr Aufblühen geschieht über dreifache Sinnstufen (v. Gebsattel): einmal in der Hinwendung des unmittelbaren Angerufenseins und in einfacher mitmenschlicher Berührung durch die Not des Leidenden, sodann in der antithetischen Distanzierung des forschenden Erkennens, Planens und Handelns und schließlich in der synthetischen Partnerschaft „hochgesteigerten Vertrauens" (Eberhard Schmidt). Diese Stufe personaler Gemeinsamkeit wird getragen vom Inkommensurablen. Wesenhaftes bleibt hier also außerhalb des Objektivierbaren. Der Kranke sucht im Arzt je nach Ausmaß der Störung, aber auch je nach Weite seiner Bildung den Fachmann als technischen Regulator und Instruktor, vielleicht den ermutigenden Berater zu einer sinnerfüllten Existenz, im Hochmaß des Leides aber ursprünglich und in fast magischer Bindung den Verteidiger und Beschützer. Er mag und soll wissen, mehr aber soll er handeln, befreien und nicht alleinlassen! Je heftiger alle Schichten des Personalen von Qual und Leid durchsetzt sind, um so weniger ist der Anspruch auf Fürsorge, Behutsamkeit und Geborgensein ersetzbar durch Rechtsdiskussionen und Aufklärung über Eingriffs-Notwendigkeit und Eingriffs-Risiko. Allein das Vertrauen bestimmt — jedenfalls in der Human-Medizin — die Dynamik zwischen Behandlungs-Erfordernis und Behandlungs-Bereitschaft oft als Ergebnis einer Auseinandersetzung zwischen unrichtigen Vorstellungen des Kranken über sein Leiden und dem objektiven ärztlichen Befund (s. a. Göppinger). Für die Einzelheiten des Befundes ist das Vorstellungsvermögen des Kranken, oft sogar das des ärztlichen Patienten nicht gewappnet. Seine Einsichts-Begrenzung würde selbst bei eingehender Aufklärung dem ärztlichen Gewissen keine Entlastung erlauben. Aufklärung wird hier immer Belehrung mit Hilfsvorstellungen sein, deren Wert begrenzt ist und die einen großen Rest des Unbekannten an der vermeintlichen Maschine Mensch nicht zu beseitigen vermögen. Stets 105

bleibt ein Quentchen blinden Vertrauens. In letzter Verantwortung aber steht der Arzt allein. Das Wesen der organischen Krankheit, nicht des Konflikt-bedingten seelischen Leidens, sehen wir heute einmal im Verlust der Homeostase, des Gleichgewichtes lebenswichtiger Funktionen infolge Regulationsstörungen des örtlichen oder allgemeinen Stoffwechsels, und zugleich im Verlust von Ordnung an den Ultrastrukturen als den notwendigen Haftstellen dieser Regulationen. Beide Stör-Vorgänge sind statistisch faßbar, niemals jedoch mit absoluter Sicherheit am Einzel-Organismus. Kompensation und Heilung sind variable Größen. Schon bei intakten biologischen Regler-Systemen ist die Ausmerze des Zufalles niemals absolut, vielmehr ist eine leichte Ungenauigkeit, ein Quant an Abweichung von der physiologischen Norm geradezu notwendiges Grundprinzip vitaler Dynamik (Ducrocq). Audi in der ärztlichen Prognose, oft sogar auf kurze Sicht, bleibt daher ein unwägbarer Rest. Diesen Erschwernissen ärztlicher Wahrheits-Findung im Transpersonalen, Schicksals-Offenen und biologisch Unberechenbaren stehen die harten Forderungen der öffentlichen Rechtssatzung gegenüber: die Pflicht zur Aufklärung, zur Wahrheits-Vermittlung etwa über Behandlung und Eingriff in die körperliche Integrität. Begründet ist diese Pflicht im wohl-verstehbaren Verlangen nach Sicherheit. Das Unberechenbare kann auch im Versagen medizinischer Technik oder in der IrrtumsMöglichkeit des Arztes liegen. Unentschuldbar wird sie jedoch erst durch Verletzung der Sorgfaltspflicht (Fahrlässigkeit) und durch charakterliche Mängel oder grobe Unkenntnis. Da Unverletzbarkeit der Person im Grundgesetz gefordert wird, ist jede Heilbehandlung und jeder ärztliche Eingriff ohne Einwilligung des Kranken rechtswidrig und Tatbestands-mäßig ein Kunstfehler, eine Körperverletzung (§ 223 StGB) bzw. ein eigenmächtiger Eingriff (nach dem neuen Strafgesetz-Entwurf). Rechtfertigungsgrund wird erst durch Zustimmung des Kranken erzielt, der ein selbstverständliches Recht auf volle Aufklärung hat. Die Wurzel zum bedrückenden Konflikt liegt jedoch in der Forderung der vollen Aufklärung. Ihr Ausmaß mit Angaben über Sinn, Art und Gefahr einer Behandlung und eines Eingriffes (und auch dessen Unterbleiben) soll das ärztliche Handeln begründen. Bewußte Unterlassung der Aufklärung oder Eingriffe ohne rechtswirksame Einwilligung stehen hier außer Diskussion. Pflichten-Kollisionen erwachsen vielmehr in dem Zwang zur Beurteilung inkommensurabler Zonen, das Phänomen „Schicksal" einbegriffen. Wo liegen nun die Bereiche der Überforderung von Arzt und Patienten? Die Aufklärungspflicht umfaßt Mitteilung der Leidensart, auch der Unheilbarkeit, also uneingeschränkte Angaben über die Bedeutung der Diagnose (als VertragsGegenstand), die statistische Komplikationsdichte des Heilverfahrens, 106

also das Eingriffs-Risiko durch typische Gefahren, sofern sie eine gewisse, aber nicht eindeutig gesicherte Häufigkeit von 0,5—3,3 (7) °/o überschreiten (OLG Köln vom 5. 4. 55. Vers.R. 1955/349), zumal wenn sicher wirkende Gegenmaßnahmen nicht anwendbar sind. Jedoch werden auch Angaben über atypische Schadensmöglichkeiten gefordert, etwa im Hinblick auf später entstehende Beschränkung der beruflichen Aktionsfähigkeit. Besondere Gefahren durch Medikamente oder Operationen verpflichten zu betont eingehender Wahrheitsvermittlung, auch wenn Methoden im Gegensatz zur allgemein anerkannten Therapie nicht angewendet werden. Objektive, d. h. wissenschaftlich gesicherte Heiltendenz muß gewährleistet sein; nur subjektive Annahme einer solchen ist als Kurpfuscherei nicht zulässig. Je weniger dringlich außerdem ein Eingriff der Sachlage nach ist, um so umfassender sollte die Aufklärung sein (Eberhard Schmidt). All dies gilt bereits für diagnostische Eingriffe, die also erst die Notwendigkeit und Art der Therapie ergeben werden. Schließlich jedoch soll die Einwilligung des Kranken nur dann rechtsgültig sein, wenn er sich eine zutreffende Vorstellung über alles Gesagte machen kann und im Sinne der Selbstbestimmung imstande ist, die Bedeutung der Situation und die Tragweite seiner Zustimmung oder Ablehnung zu übersehen. Die Übernahme jeder Unsicherheit wird vom modernen Menschen abgelehnt, Schicksal wird als technische Panne dem ärztlichen Installateur zur Last gelegt, seinem Geschäft, seiner Haftpflichtversicherung. Nicht selten werden Prozesse von Angehörigen in der Annahme angestrengt, daß ihr Arzt dieses Schutzes sicher ist, daß es sich nur um eine Gewinn-bringende Formsache handelt und daß die Haftpflicht sich möglichst bis zur Begleichung des Leichenschmauses erstrecken soll (Krecke). Das Unwägbare des Schicksals wird abgelehnt. Gleichwohl bleibt ein Risiko unabdingbar, und Wagnis bleibt ein Wesensteil des ärztlichen Handelns. Die erwähnten Rechtsforderungen können offensichtlich nur in Annäherungs-Werten erfüllt werden. Ohne ärztliche Handlungsfreiheit nach eigenem Ermessen als Gewissens-Entscheid ist Hilfe nicht möglich. Die Kollision zwischen rücksichtsloser Wahrheit und schonender Fürsorge, zwischen der wohlverständlichen Forderung anerkannten Rechtes und dem Auftrag des Helfens reißt einen säkularen Abgrund auf: Versicherung steht gegen Gewissen! Wie aber kann die Hand des Herz-Chirurgen etwa in planvollem Einsatz seines hochgezüchteten technischen Teams sicher sein, wenn die Dämonen der Regreßpflicht hier Zugang hätten, wenn Zweifel und Unentschlossenheit ihn beunruhigten und die Furcht vor Mißerfolg, der eine Existenz um letzte Jahre verkürzt, während Erfolg ein Jahrzehntegewinn erfüllten Lebens bringen könnte (Büchner). Sicherheit der Methode ist ebenso Grundprinzip wie das Selbstbestimmungsrecht des Kranken. Beides aber ist auch dem Raum 107

des Schicksalhaften anvertraut. Wie sollte dieser vom Arzt in allen Winkeln ausgeleuchtet, wie der Einsicht des Kranken immer offen sein? Die Aporie zwischen Wahrheit und Fürsorge, schließlich zwischen der Autonomie des Kranken und dem ärztlichen Auftrag mildert sich bei fehlendem Aufklärungs-Intersse des Patienten. Doch sei hier vor Gesinnungs-Wandel des Leidenden und seiner Umgebung gewarnt. Der Konflikt löst sich im übergesetzlichen Notstand, in dem Aufklärung sinnlos oder zweckwidrig wird. Ist der Kranke zu rechtsgültiger Willenserklärung nicht imstande, bedeutet die Einwilligungs-Beschaffung vom Sorgeberechtigten oder Nächststehenden Gefahr im Verzuge, so ist dem dingenden und Erfolg-verheißenden, also dem fürsorglichen Eingriff zur Abwendung schwerer Gefahr für Gesundheit und Leben die Aufklärungspflicht nachgeordnet. Hier fände sich kein Richter, der Vorwurf erhöbe, kein Arzt, der nicht trotz böswilliger Auslegungsmöglichkeiten handeln würde. Nothilfe (§ 330 c StGB) gilt auch dem bewußtlosen Selbstmörder gegenüber, obgleich er durch Tatausführung indirekt seinen Willen kundtat, vielleicht jedoch im Zustand krankhafter Entschluß-Beeinflussung. Vorbehaltlose Aufklärung der Eltern über den Krankheitszustand ihres Kindes trotz Gefahr der Eingriffs-Verweigerung ist Gebot. Jedoch bei grober Uneinsichtigkeit, etwa aus intellektueller Beschränktheit, somit bei drohendem Mißbrauch des Personen-Sorgerechtes, kann der Arzt zur Abwendung von Gefahr die erforderlichen Maßnahmen durch das Vormundschaftsgericht (§ 1666 BGB) veranlassen: ein nicht selten segensreicher Ausweg! Grundsätzlich ist Krecke's Satz aber immer noch gültig, daß es „bei den heutigen Rechtsanschauungen sicherlich für den Arzt weit gefährlicher ist, eine medizinisch dringend angezeigte Operation bei einem Minderjährigen ohne Erlaubnis der Eltern zu machen, als durch Verzögerung der Operation bei nichterfolgter Erlaubnis das Leben zu gefährden!" Das „Zu-spät" erlebt der Arzt bei gebundenen Händen. Selbstbestimmungsrecht durch erklärten Willen des Kranken (nicht durch Annahme des inneren Willens) geht vor Gesundheit (Göppinger), und trotz gebotener eindringlichster Aufklärung der willensfähigen Rechtsperson, trotz voller Einsicht in die Schwere der Krankeit, kann vitale Indikation keine Duldungspflicht zum ärztlichen Eingriff erzwingen. Die Freiheit der Person ist unverletzlich nach Artikel 2 Absatz 2 des Grundgesetzes. Erst wenn diese Freiheit den Freiheitsraum des Mitmenschen bedroht, besteht staatliches Behandlungs-Zwangsrecht, so im Impfgesetz und in dem Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten (Schröder). In der Gewissensunruhe, dem Tod nicht wehren zu dürfen, trotz möglicher Hilfe, geht der Arzt seinen einsamen Weg. Bedrohliche 108

Rechtsunsicherheit kann sein Begleiter sein, wenn er vergaß, bei Weigerung zu dringendem, oft zum einzig möglichen Eingriff die Aufklärung in Gegenwart Dritter mit schriftlicher Bestätigung zu erteilen, dies zum Schutz vor materieller Begehrlichkeit und Schadensersatzansprüchen. Auch die Befürchtung einer Eingriffs-Verweigerung enthebt den Arzt nicht der Aufklärungspflicht und rechtfertigt kein schonendes Verschweigen wesentlicher Gefahren (BGH VI Z. R. 203/57 vom 9. 12. 58). Wie aber, wenn unbeschränkte Aufklärung, grelle Wahrheit, eine unzumutbare Belastung für den seelischen und dadurch auch körperlichen Zustand des Kranken bedeutet? Dies stände dem humanitären Auftrag des Arztes, dem nil nocere, strikt entgegen. Die Gefährdung der Operations-Chancen durch Angst und ihre Auswirkungen auf die vegetativen Regulationen wurde auf dem Deutschen Chirurgen-Kongreß 1959 konzentriert vorgetragen (Selbach). Zufügen von vermeidbarer Schädigung ist unärztlich, Vorhersagen absoluter Unheilbarkeit sind unwissenschaftlich. Vor der Unberechenbarkeit seelischer Einflüsse, regenerierender Kräfte und regulierender Kompensationen sind Aussagen statistischer Erfahrungen unzulänglich: im Einzelfall haben wir keine absolute Genauigkeit. Der Arzt lehnt deshalb strikt die Auffassung eines Urteils (Vers. R. 496 vom 10. 7. 1954) ab, demgemäß es sich „um unvermeidbare Nachteile" handelt, „die in Kauf genommen werden müssen", wenn die ärztliche Aufklärung des Kranken „die Herabdrückung seiner Stimmung oder sogar seines Allgemeinbefindens zur Folge haben". Im französischen Recht dagegen müssen ausweglose Diagnosen seit 1954 nicht mehr offenbart werden. Wahrheit ohne Behutsamkeit zerstört die Unbefangenheit, lähmt die innere Aktivität. Eindringlicher Vorhalt des Ernstes einer Situation dagegen läßt auch im Arzt-Patient-Verhältnis das Handeln offen. Erfreulicherweise betont neuerdings der Gesetzgeber, daß Urteile im Bereich drückender Pflichten-Kollision peinlichster Individualisierung unterliegen müssen, da keiner dieser Rechtsfälle dem anderen gleicht, eine Generalisierung der Urteile daher nicht zulässig sei. Außerdem wird für spezielle Fälle der Gefährdung durch psychischen Einfluß, etwa vor Operationen wegen Sdiilddrüsen-Uberfunktion, mit Recht der Sachverhalt des Notstandes diskutiert (Bockelmann). Konflikt zwischen Wahrheit und Fürsorge hat für den Arzt ein unerträgliches Ausmaß an Rechtsunsicherheit im Gefolge als Einbruchsteile von Profitsucht und besserwissender Arroganz. Seit Jahrzehnten anerkennen viele Angehörige von Kranken im Grunde nur 5 Krankheitsursachen: Erkältung, Diätfehler, Unfall, Schreck und ärztliche Behandlung! Die Gefahr des Regresses ist drohend, mag der Arzt noch 109

so rechtmäßig handeln. Wird etwa der schwer Krebskranke bei ungewisser Prognose eingehend aufgeklärt, stirbt er aber trotz Operation, so liegt schnell der Vorwurf der Schonungslosigkeit bereit, durch die der Kranke überängstlich dem Eingriff nicht mehr gewachsen gewesen sei. Empfiehlt sich bei gleicher Erkrankung die Unterlassung einer allzu intensiven Enthüllung und stirbt der Kranke trotz Operation, so ist fiugs der Verdacht kommerzieller Operationswut trotz Einsicht in Hoffnungslosigkeit bei der Hand. Vermeidet der Arzt eine nicht mehr sinnvolle Operation, so wähnt man leicht ein allzu großes Eigeninteresse, den Kranken nicht der Klinik abgegeben zu haben. Sapienti sat! Zur Groteske der Unlogik könnte der Konflikt zwischen Offenbarung schmerzlicher Wahrheit und schonender Fürsorge vor dem Antlitz des Geisteskranken werden. An dem propagandistisch wohlgezüchteten Mißtrauen der Öffentlichkeit gegen den psychiatrisch tätigen Arzt — trotz der jüngst entwickelten beglückenden Erfolge medikamentöser Behandlung der Psychosen — tragen diese Kranken schwer. Durch Uneinsichtigkeit in das Krankhafte ihres Erlebens gefährden sich diese Kranken selbst oder ihre Umgebung und bedürfen wenigstens zeitweilig der Unterbringung in geschlossenen Abteilungen. Dies ist aber nur durch Beschluß eines Amtsgerichts (Unterbringungsgesetz) möglich, nachdem sich der Richter und seine Beisitzer vom Zustand des Kranken und von der Notwendigkeit einer Heilbehandlung durch Augenschein überzeugt haben. Nur geschulte Fachkenner aber können den Gefährdungsgrad in der akuten Psychose einigermaßen beurteilen, können die völlig fremde Innenwelt des Kranken in etwa erahnen; eine Analyse ihres Sinngehaltes ist ohnedies trotz allen Bemühens nicht möglich. Die sachgerechte Verantwortung liegt also allein beim Arzt. Dies um so mehr, als heute die meisten Kranken bereits wenige Stunden nach begonnener Behandlung und vielfach noch bevor der Richter in die Klinik kommt, auf den medizinischen Laien keinen wesentlich krankhaften Eindruck mehr machen. Der Augenschein trügt also dann, insbesondere für den Laien. Eine längere Kur zur Stabilisierung des ersten Heilerfolges ist jedoch oft lebenswichtig. Ohne festbegründetes Vertrauen zwischen Richter und Arzt liefe der Kranke Gefahr, der Unterbringung und somit der Möglichkeit zur Heilbehandlung zu entgehen, bis er etwa durch Gewalttat alle Welt von der BehandlungsBedürftigkeit überzeugt hat. Im Widerstreit der Pflichten muß der Richter hier ärztlicher Wahrhaftigkeit und Fürsorge den Vorrang lassen, ersteht der Bereich des Vertrauens wieder zum Wohl des Kranken auch gemäß der dringenden Forderung SteindorfF's, daß dem Arzt nicht nur nach der Wahrhaftigkeit, sondern auch nach der Fürsorgepflicht zu handeln erlaubt sein muß. Dies gilt heute um so berechtigter, als die Erfolge klinischer Forschung und 110

Therapie zwischen Geisteskranken und solchen der internen Medizin keinen grundsätzlichen Unterschied mehr erkennen lassen. Die Wunderwelt des Stoffwechsels und seiner Regulationsstörungen sind beiden gemeinsam. Eine tiefgreifende Diskussion zwischen Gesetzgeber und Arzt ist dringendes Erfordernis, um auch an dieser Stelle einer Preisgabe der Humanitätsidee „eines sich verlierenden Arzttums" (Jaspers) vorzubeugen. Kompromißlos und konfliktfrei handhabt der Arzt als Gutachter die Wahrheit, als Gehilfe des Richters im Strafrecht, wenn Fürsorge der bedrohten Allgemeinheit mehr gilt als dem Täter, im Versicherungsund Versorgungsrecht, wenn die Allgemeinheit vor unrechtmäßiger Begehrlichkeit geschützt werden muß. Begutachtung ist rein wissenschaftliche Leistung zur Sicherung der Wahrheitsfindung. Willfährigkeit des Arztes gegenüber unbilligen Forderungen, etwa des Rentensüchtigen, wäre grober Verstoß, furchtsames Zurückweichen vor Einschüchterung durch Beschwerden bei vermeintlich vorgesetzten Institutionen oder vor plumper Androhung auf Heimzahlung bei etwa sich änderndem politischen Kurs wäre Kapitulation ohne Gewissen, das abermals hier allein entscheidet. Auch in dieser menschlichen Niederung ist der Arzt noch Erzieher in dem Versuch, den Fordernden zum Rechtmäßigen anzuhalten. Ein Bedrängnis jedoch sei hier nur angedeutet, in das der Gutachter vor dem Gericht gerät, wenn der Täter trotz Hinweis den sachlichen Auftrag des Arztes überlastet und ihm als Beichtiger Letztes anvertraut. Erfüllung der Schweigebitte, Fürsorge also, muß dann wieder vor äußerster Enthüllung stehen. Kompromißlos und konfliktfrei sollte der Arzt f ü r Wahrheit und Fürsorge vor den Problemen der Eugenik eintreten. Von Behutsamkeit niemals entbunden, rufe er zur Verantwortung, zu Verzicht auf, wenn gesicherte Erbschäden namenloses subjektives Leid der kommenden Generationen bedeuten würden. H a t irgendwo die Freiheit des Einzelnen ihre Grenze vor der Unfreiheit des Nächsten, so in diesem Bereich tiefer Tragik. Zivilisationserfolge und hohe ärztliche Kunst vermindern die natürliche Selektion Widerstands-schwachen oder gar schwer Anlagegeschädigten Lebens. Seine Mischung mit gesunden Familien vermindert die Penetranz der krankhaften Gene, so daß Ausmerze und Heilung vorgetäuscht werden. Zwangsläufig wird sich der Bestand an gesunden Erbanlagen dadurch verschlechtern, möglicherweise sogar sprunghaft auch durch Mutationen infolge des modernen Abusus an diemischen Kunstprodukten. So erhebt sich eine Grundforderung der Humanität zu Zeugungsverzicht, wenn die fachkundig bestimmbare Wahrscheinlichkeitsquote eine unzumutbar hohe erbliche Anomalie erwarten läßt (Nachtsheim, Vogel). Zur Selbstbegrenzung als Opfer in der vorbeugenden Fürsorge und Verantwortung gegenüber den Nachkommen 111

wird künftig der Arzt erziehen, wird die Kulturmenschheit sich bekennen müssen. Die Manipulation kalter Wahrheit ohne Nächstenliebe lauert als Dämonie unärztlichen Machtstrebens über den Leidenden im psychoanalytischen Verfahren. Sein Totalitätsanspruch als Heilslehre ist zwar gebrochen, die positven Erkenntnisse der Psychotherapie werden mit zunehmendem Reinigungsgrad dem Gebäude der kontrollierbaren Wissenschaft eingefügt. Ihre Methode des schrittweisen Aufdeckens unbewußter emotionaler Gehalte, der Vereinbarung zu rückhaltloser Entäußerung ist nur in den Händen und Herzen gebildeter Ärzte hoher Reife und demütiger innerer Disziplin aus Schicksal oder Begnadung gefahrlos (Rümke). Vor dem sich anvertrauenden Gewissen aus den Tiefen der Selbsttäuschung und der Entscheidungs-Unsicherheit sind schonungsloses Entblößen im selbstherrlichen Empfinden der Macht ebenso fern vom ärztlichen Auftrag wie „Koketterie" mit falschverstandenem Priestertum (Weitbrecht). Wenn auch der Arzt den Weg zur Sinnerfüllung eines Lebens erleichtern soll, so ist seine Identifizierung mit dem Seelsorger „bedenkliches Ergebnis von Glaubenslosigkeit" (Jaspers). Sein Auftrag zu Heilung und Erziehung trägt eigene und hinreichende Werte. Ein Konflikt zwischen Wahrheit und Fürsorge würde den analytisch tätigen Arzt außerhalb dieses Auftrages stellen. Schwer gewogen und geprüft steht ärztliche Haltung in der Zone des Sterbens. Mahnt schon die Unsicherheit unseres Wissens, die Ehrfurcht vor dem Unberechenbaren zur Zurückhaltung, so um vieles stärker die Achtung vor der Person zur optimalen Synthese von Wahrheit und Fürsorge. Erwüchse hier Konflikthaftes, so bliebe das Arztsein ein Geschäft und wäre kein Beruf. Empfindsamer Spürsinn f ü r das Individuale und stärkende Überzeugung des Arztes, daß die Bewältigung des Todes eine geistige Aufgabe ist, können dem Verzweifelten ebenso Hilfe bringen, wie den Gottvertrauenden bekräftigen oder den kühl Disponierenden in mannhafter Pflichterfüllung f ü r die ihm Anvertrauten bestätigen. Auch die stillschweigende Ubereinkunft unter Gebildeten (Schulten) im Wissen um das Unvermeidbare hebt Arzt und Sterbenden in die Klarheit wahrer Freundschaft. Je mehr das Personale durch Erlittenes und Erprobtes im Leben geläutert wurde, je differenzierter die seelische Struktur, um so weniger bedarf es allgemeingültiger Regeln (Martini), um so eher gewinnt die Kraft menschlicher Eigenständigkeit im Äußersten an Transparenz. Wüßte man als Arzt von diesen Bereichen humaner Überhöhung zu sprechen, so vermöchte man es doch nicht. Der Weg des Arztes zum Kranken ist ein Gang absoluter Einsamkeit, sein Verharren bei dem wissend Sterbenden ein Stand in sicherer Ruhe des Wesentlichen, in Wahrhaftigkeit und Nächstenliebe, zugleich 112

aber auch im Bewußtsein, „daß das menschliche Leben naturhaft und personhaft in Einem, gebunden und frei ist, der Verfallenheit ausgesetzt und für die Verheißung offen" (Siebeck). Literatur: B o c k e l m a n n , P.: Rechtliche Grundlagen und rechtliche Grenzen der ärztlichen Aufklärungspflicht. Neue jur. Wsdir. 14. 945-951 (1961). B ü c h n e r , F.: Von der Größe und Gefährdung der modernen Medizin. Herder-Verlag, Freiburg/Br. 1961. D u c r o c q . A . : Découverte de la Cybernetique. Paris 1955. v. G e b s a t t e l , V. E.: Zur Sinnstruktur des ärztlichen Handelns. Stud. generale 6. 461-471 (1953). G ö p p i n g e r , H.: Die Aufklärung und Einwilligung etc. Fortschr. Neur. 24. 53-107 (1956). J a s p e r s , K.: Arzt und Patient. Stud. generale 6. 435-443 (1953) J a s p e r s , K.: Der Arzt im technischen Zeitalter. Klin. Wschr. 1958. 1037-1043. K r e c k c , A. : Vom Arzt und seinen Kranken. Lehmann Verlag, München 1932. M a r t i n i , P.: Kausalität und Medizin. Stud. generale 1. 342-350 (1948). M a r t i n i , P.: Arzt und Kranker. Stud. generale 6. 450-458 (1953). N a c h t s h e i m , H.: Für und wider die Sterilisierung ect. Thieme Verlag, Stuttgart 1952. R ü m k e , H. C.: Über die Notwendigkeit einer Revision der Neurosenlehre. Schweiz.Arch. Neur. S9. 327 (1947) (s. a. Nervenarzt 1958). S c h m i d t , E.: Der Arzt im Strafrecht. In: A. Ponsold, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin. II. Aufl. Thieme Verlag, Stuttgart 1957. S c h r ö d e r , E.: Auskunftspflicht des Arztes. Gesundheitsdienst IS. 233-252 (1953). S c h u l t e n , H.: Der Arzt. II. Aufl., Thieme Verlag, Stuttgart 1961. S e l b a c h , H.: Operationsgefährdung durch Psyche und Vegetativum. Langenbeck's Arch. u. Dtsch.Zschr.Chir. 292. 70-78 (1959). S i e b e c k , R.: Vom geistigen Standort der modernen Medizin. Dtsch.Med.Wsdir. 1959. 1469-1473. S t e i n d o r f f : Therapiewoche Karlsruhe 1961. V o g e l , F.: Lehrbuch der allgem. Humangenetik. Springer Verlag Berlin 1961. W e i t b r e c h t , H . I.: Kritik der Psychosomatik. Thieme Verlag, Stuttgart 1955. Anschr. d. A u t o r s : Professor Dr. med. H . Selbach, Berlin-Charlottenburg 9, Ulmenallee 30.

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GRENZEN UND SCHRANKEN DER P H Y S I K A L I S C H E N E R K E N N T N I S Von G e o r g

Süßmann

Physikalische Erkenntnis ist eine große und schöne Sache; aber man soll sie nicht absolut setzen. Sie ist gewiß nicht die einzige Art von Erkenntnis, nach der zu streben es sich lohnt. Wer hierüber nachdenkt, stößt bald auf die Frage, ob naturwissenschaftliches Wissen nicht sogar den Blick auf andere wichtige Dinge verstellt. Wir sollten daher versuchen, Klarheit darüber zu gewinnen, wo die Grenzen der naturwissenschaftlichen Fragestellung liegen und wie sie sich mit anderen Erkenntnissen verträgt. Dieses alte erkenntnistheoretische Problem hat neben der rein theoretischen auch eine sehr praktische Seite, die in unserem Jahrhundert besonders dringend geworden ist. Die physikalische Wahrheit stellt eine Macht dar, innerlich wie äußerlich, psychisch wie technisch. Die Physik ist für viele Menschen eine weltanschauliche Autorität ersten Ranges geworden; ihre ökonomische und militärische Rolle ist beträchtlich und nimmt noch zu. Unzählige glauben blind an die von der Naturwissenschaft aufgestellten „ D o g m e n " ; unzählige fürchten mehr oder weniger dumpf die von ihr erfundenen und von der modernen Technik geschmiedeten Waffen. Aber es gibt neben der Wissenschaft Autoritäten und Mächte ganz anderer, nämlich' religiöser, politischer, wirtschaftlicher Art. Durch sie wird das physikalische Wissen beeinflußt: gefördert, gehemmt oder in Dienst genommen. Umgekehrt bleibt die Naturwissenschaft auf sie nicht ohne Einfluß. Wir fragen, wie diese Wechselwirkung im einzelnen aussieht. Wie verhält sich die reine Physik zu ihren Anwendungen? Wie steht es um die psychischen, sozialen, religiösen, ökonomischen, politischen Bedingungen ihrer Entstehung und Existenz? Warum ist beispielsweise die experimentierende Physik gerade in Europa entstanden, also in einer Kultur, deren Herzstück das Evangelium des Neuen Testamentes ist? Wie steht es mit der Verantwortung des Physikers für die praktischen Folgen seiner Wissenschaft? Welchen Mächten und Zielen darf oder soll die physikalische Erkenntnis dienen, welchen nicht? Wir fragen nach den äußeren Beschränkungen, denen die Physik ausgesetzt ist und nach den moralischen oder religiösen Schranken, die ihr gesetzt sind. Damit betreten wir ein weites Feld, das in einer kurzen Stunde nicht durchschritten werden kann. (Man könnte leicht mehrstündige 114

Semestervorlesungen oder Seminare darüber abhalten.) Ich werde mich mit einigen Aussichtspunkten begnügen müssen. Im ersten Teil meines Vortrages werde ich darüber sprechen, wie die physikalische Erkenntnis ihrer eigenen Natur nach begrenzt ist; also über die Grenzen, die sie nicht überschreiten kann, ohne ihr eigenes Wesen zu verleugnen. Im zweiten Teil werde ich davon sprechen, welche Einflüsse und Forderungen von außen an die Physik herangetragen werden. I. T h e o r e t i s c h e r

Teil

Vor 90 Jahren hielt der Berliner Physiologe Du Bois-Reymond einen berühmt gewordenen Vortrag „Uber die Grenzen des Naturerkennens", der mit dem Wort „Ignorabimus" schließt. Damit deutlich wird, worauf sich dies Urteil „Wir werden es nie wissen" bezieht, zitiere ich den Schlußsatz jener Rede: „Gegenüber den Rätseln der Körperwelt ist der Naturforscher längst gewöhnt, mit männlicher Entsagung sein Ignoramus zu sprechen. Im Rückblick auf die durchlaufene siegreiche Bahn trägt ihn dabei das stille Bewußtsein, daß, wo er jetzt nicht weiß, er wenigstens unter Umständen wissen könnte, und dereinst vielleicht wissen wird. Gegenüber dem Rätsel aber, was Materie und Kraft seien, und wie sie zu denken vermögen, muß er ein für alle mal zu dem viel schwerer abzugebenden Wahrspruch sich entschließen: Ignorabimus". Du Bois-Reymond war überzeugt, daß die Naturwissenschaft zwar die Struktur der Körper zu erforschen vermag, daß sie jedoch grundsätzlich nicht imstande ist, das Wesen von Kraft und Stoff und deren Zusammenhang mit dem Bewußtsein zu verstehen. Diese Thesen haben im Laufe des knappen Jahrhunderts, das seitdem verflossen ist, nichts von ihrer Uberzeugungskraft eingebüßt. Völlig gewandelt haben sich hingegen unsere Vorstellungen darüber, was naturwissenschaftliches Erkennen sei. Du Bois-Reymond definiert zu Beginn jenes Vortrags: „Naturerkennen — genauer gesagt naturwissenschaftliches Erkennen oder Erkennen der Körperwelt mit Hilfe und im Sinne der theoretischen Naturwissenschaft — ist Zurück-, führen der Veränderungen in der Körperwelt auf Bewegungen von Atomen, die durch deren von der Zeit unabhängige Zentralkräfte bewirkt werden, oder: Auflösen der Naturvorgänge in Mechanik der Atome". Es ist erstaunlich zu sehen, wie radikal sich die Anschauungen hier geändert haben. Am meisten befremdet uns heute, daß Du BoisReymond die fundamentalen Kategorien aller reinen Naturerkenntnis genau zu kennen meint; er sieht sie in der klassischen Mechanik eines Systems von Massenpunkten, die zentrale Fernwirkungskräfte aufeinander ausüben. Uns mutet dieser Dogmatismus eines führenden Naturforschers seltsam an. Erstaunlich ist auch die Naivität seines Bildes von dem, was die Welt im Innersten zusammenhält. Die Physik hat ihre

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Grundlagen seitdem mehrfach revidieren müssen; sie sind dabei immer weniger anschaulich und einleuchtend geworden. Zunächst zeigte es sich noch im 19. Jahrhundert, daß es nicht möglich ist, den Elektromagnetismus (einschließlich der Optik) auf die Mechanik — schon gar nicht auf eine Mechanik von Atomen — zurückzuführen. So mußte sich die Atomtheorie, noch bevor sie zu Beginn unseres Jahrhunderts endgültig anerkannt wurde, eine entscheidende Einschränkung gefallen lassen: Es gibt nicht nur die Atome und den leeren Raum; daneben kennen wir so etwas wie kontinuierlich ausgebreitete Felder, insbesondere Licht- und Radiowellen. Ihre Trägersubstanz ist nicht irgendein stofflicher „Äther", sondern gewissermaßen der Raum selbst. Den vorläufigen Abschluß dieser wissenschaftlichen Entwicklung bildeten die Theorien Albert Einsteins, in denen sogar die Begriffe von Raum und Zeit einer kritischen Revision unterworfen wurden. Zum Beispiel hatten nach der Einsteinschen Gravitationstheorie in dem Streitfall Galileis mit der römischen Inquisition genau genommen beide Parteien unrecht. Denn einerseits übt die Erde nach Ausweis des Foucaultsdien Pendelexperiments auch für die Begriffe der Einsteinschen Theorie eine absolute Rotation gegen den Raum selbst aus, während der Fixsternhimmel im wesentlichen in Ruhe ist. Andererseits laufen nach Einstein sowohl die Erde wie die Sonne auf sog. geodätischen Linien, d. h. ihre beiden Schwerpunkte sind eigentlich „in Ruhe"; die scheinbare Relativbewegung wird durch die sog. Raumkrümmung vorgetäuscht. Noch gründlicher waren die Wandlungen innerhalb der Atomtheorie: Diejenigen Gebilde, die wir heute „Atome" oder „Elementarteilchen" nennen, haben eine nur noch sehr entfernte Ähnlichkeit mit den Massenpunkten der klassischen Physik oder gar mit den Atomen der griechischen Philosophie. Die sog. Elementarteilchen verhalten sich nicht nur wie diskrete Partikel, sondern häufig auch wie kontinuierliche Felder; und sie sind keineswegs unveränderlich, sondern können sich bei Zusammenstößen oder auch spontan ineinander umwandeln. So kann man heute Gold aus unedlen Metallen machen, und man hat mehrere in der Natur nicht vorkommende chemische Elemente künstlich erzeugt. Licht kann in elektrisch geladene oder auch neutrale Teilchen wie Elektronen, Positronen, Mesonen umgewandelt werden. Die moderne Atommechanik, die sog. Quantenmechanik, ist bedeutend abstrakter als die klassische Mechanik, an die sich Du Bois-Reymond hielt. Allem Anschein nach beinhaltet sie sogar eine Änderung der logischen und ontologischen Grundlagen der Physik. An die Stelle der deterministischen Kausalität der klassischen Physik tritt die statistische der modernen Physik. Damit wird die Wahrscheinlichkeit zu einem Grundbegriff der naturwissenschaftlichen Logik. Es ist nämlich im 116

allgemeinen „objektiv unbestimmt", ob ein atomares Objekt eine seiner möglichen und präzise definierten Eigenschaften besitzt oder nicht. Beispielsweise ist nach der Heisenbergschen Unschärferelation entweder der O r t oder die Geschwindigkeit eines atomaren Teilchens zu jedem Zeitpunkt objektiv unbestimmt. Das Teilchen ist sozusagen — obwohl ungeteilt — an verschiedenen Stellen zugleich anwesend und läuft mit einer in sich unentschiedenen Geschwindigkeit weiter. Man sieht, daß hier nicht nur unser Vorstellungsvermögen, sondern auch unsere Sprache versagt. Das ist insofern nicht verwunderlich, als uns ja die Welt der Atome sehr fern und fremd ist. Philosophisch ist es besonders bedeutsam, daß die Phänomene der Atomphysik nicht streng objektivierbar sind. „Heisenbergs Unbestimmtheitsrelation . . . zeigt, daß wir die Begriffe, in denen wir die Atome beschreiben, nicht einmal definieren können, ohne darauf Bezug zu nehmen, wie wir im aktuellen Experiment von den Atomen Kenntnis nehmen. Das isolierte materielle Objekt und das isolierte menschliche Bewußtsein erweisen sich gleichermaßen als fiktive Begriffe" (C. F. v. Weizsäcker). Durch all diese „Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft" hat es die Physik gründlich lernen müssen, ihren eigenen Prinzipien gegenüber kritisch zu sein. An die Stelle des engen Postulats von Du Bois-Reymond tritt wieder das sehr viel allgemeiner gehaltene und doch strengere von Kant (aus der Vorrede zu den „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft"), nämlich, „daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen sei". Dabei haben wir einen noch abstrakteren Begriff von Mathematik als ihn Kant haben konnte, vor allem bezüglich der Geometrie. Gegenüber jedem materialen Apriori sind wir skeptsich geworden, sofern es unbedingte Geltung beansprucht. Wir trennen in unserer Erkenntnistheorie (oder Logik) scharf zwischen Physik und reiner Mathematik. Die Mathematik spielt in der Physik die Rolle einer Hilfswissenschaft. Keine physikalische Aussage ist denknotwendig. (Die selbstverständliche Forderung nach der inneren Konsistenz oder Selbstverträglichkeit einer physikalischen Theorie betrifft nicht ihre physikalischen Grundlagen, sondern nur ihre mathematische Durchführung.) Zu fordern ist von physikalischen Theorien lediglich, daß sie allen Erfahrungen gerecht werden und sämtliche experimentellen Prüfungen bestehen. Im übrigen dürfen die Axiome beliebig wenig evident sein. Absolute Gewißheit kann es daher nur in der Mathematik geben, in der Physik nirgends. Die Physik beruht auf Fundamenten, deren Haltbarkeit von einem streng logischen Standpunkt aus nicht bewiesen, sondern nur angenommen ist. Für diese Annahme haben wir oft gute Gründe, aber 117

niemals mathematisch exakte Beweise. Nach Planck sind die Grundlagen der Physik das am wenigsten sichere an ihr. Jedes physikalische Prinzip oder Axiom, jedes sogenannte Naturgesetz ist eine Hypothese oder hängt von Hypothesen ab. Es ist anzunehmen, daß alle diese Hypothesen nur eine bedingte, beschränkte Gültigkeit besitzen. Bisher hat es sich jedenfalls gezeigt, daß jeder brauchbaren physikalischen Theorie ein bestimmter Geltungsbereich zukommt, innerhalb dessen sie die Wirklichkeit mehr oder weniger gut annähert, außerhalb dessen sie jedoch unzuverlässig, wenn nicht irreführend wird. An vielen Stellen kennen wir die Grenzen dieser Bereiche, an anderen noch nicht. Jedenfalls werden wir niemals streng beweisen können, daß der Geltungsbereich eines Naturgesetzes mit dem Universum übereinstimmt. Das folgt einfach daraus, daß wir die Welt in ihrer ungeheuren Ausdehnung und Komplexität nur zum geringsten Teil kennen. Weitgehend unbekannt bleiben der Physik sicher die ferne Vergangenheit, die Zukunft und die höheren Lebewesen, insbesondere die Menschen. Hierher gehört auch die bemerkenswerte Tatsache, daß alle physikalischen Gesetze, selbst die der deterministischen klassischen Mechanik, ihren Gegenstand keineswegs vollständig festlegen; die sog. Anfangsbedingungen bleiben offen. Auch ein „deterministisches" Gesetz bestimmt das Geschehen nur im Sinne eines „Wenn-so"; die durch das „Wenn" bezeichnete Voraussetzung kann nur der Erfahrung entnommen werden. Unerklärt hinzunehmen ist auch die Tatsache, daß gerade dieses Gesetz gilt, ja daß überhaupt irgendwelche Gesetzmäßigkeiten bestehen. In der modernen Physik ist dieser Bereich des Kontingenten, d. h. des naturgesetzlich nicht Bestimmten, noch wesentlich erweitert: sogar bei gegebenem „Wenn" ist das „So" nur statistisch bestimmt. Hinzu kommt, daß weder die Gesetze noch die Anfangsbedingungen genau bekannt sind, und daß kleine Ursachen oft große Wirkungen haben. Daraus folgt: Eine rationale Erfassung der gesamten N a t u r ist nicht möglich; sie gelingt der Physik nicht einmal innerhalb des anorganischen Bereiches vollständig. Für solche partiell nicht rationalen Phänomene wie Turbulenz, Geschichte, Entscheidung bleibt genügend Spielraum. Diese Einsichten sind heute unter den Physikern weit verbreitet, und es bestehen hierüber kaum noch wesentliche Meinungsverschiedenheiten, sofern man von den Kollegen in den kommunistisch regierten Ländern absieht, die unter dem starken politischen Druck einer wissenschaftsgläubigen Ideologie stehen. Allerdings begegnet man auch in einer freieren Umgebung gelegentlich Wissenschaftlern (häufiger noch Laien), die szientistische Auffassungen vertreten. Vor etwa drei Wodien hielt der bekannte Münchener Physiker Walter Gerlach in Frankfurt 118

einen Vortrag unter dem Thema „Anbetung der Physik — Muß oder Mode?". Gerlach rühmte an H a n d zahlreicher Beispiele die physikalischen Erkenntnisse und ihre für die Menschheit segensreichen Auswirkungen. Unter anderem führte er den Satz von der Erhaltung der Energie an. Er nannte ihn ein Prinzip von universeller Gültigkeit, das niemals durchbrochen werden könne, weil dann die ganze Physik sinnlos würde. Es tut mir leid, sagen zu müssen, daß diese Aussage — die für andere Aussagen und für die Hauptlinie jenes Vortrags charakteristisch ist — in keiner Weise stimmt. Daß die Gültigkeit eines physikalischen Gesetzes nicht beweisbar ist, habe ich bereits angeführt. Die Gerlachsche Begründung aber ist völlig unhaltbar: Die Physik würde keineswegs ihren Sinn verlieren, wenn sich herausstellen sollte, daß der Energiesatz eine nur begrenzte Gültigkeit besitzt. Die Physik hat sich ja schon ganz andere Einschränkungen ihrer Prinzipien und Gesetze gefallen lassen müssen und hat trotzdem ihren guten Sinn behalten. Im Gegenteil: wir verstehen jetzt, nachdem dies geschehn ist, besser, was Physik eigentlich ist. Ich erinnere an die so sehr überholte Definition von D u Bois-Reymond. Ich erinnere ferner an den vor etwa sechs Jahren eingetretenen „Sturz der Parität", wonach der früher für allgemeingültig gehaltene Satz von der Erhaltung der sog. Parität — der sogar eine gewisse Verwandtschaft mit dem Satz von der Erhaltung der Energie hat — f ü r die sog. schwachen Wechselwirkungen nicht zutrifft. Ich erinnere schließlich daran, daß es in der Einsteinschen Gravitationstheorie nicht gelungen ist und wohl auch nicht gelingen kann, den Begriff der „Gravitationsenergie" allgemein exakt zu definieren, so daß in dieser sehr guten, erfolgreichen und durchaus sinnvollen Theorie ein strenger Energiesatz im allgemeinen gar nicht formuliert werden kann. Sinnlos sind in der Physik, ganz im Gegenteil, starr festgehaltene Gesetze. Zudem ist zu sagen: Selbst wenn man zugeben könnte, daß eine Durchbrechung des Energiesatzes die ganze Physik sinnlos machen würde, wäre das f ü r einen Wissenschaftler kein Beweis für die Unmöglichkeit eines solchen Ereignisses. Die leider so beliebte Begründung „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf" ist bekanntlich nicht schlüssig. In Wahrheit aber würde ein solches Vorkommnis die Physik keineswegs sinnlos machen, sondern nur die schon immer unsinnige Vorstellung einer grenzenlosen Physik. Es fällt schwer zu verstehen, warum ein so bedeutender Physiker wie Gerlach derart dogmatische Sätze ausspricht, zumal er im gleichen Vortrag den Dogmatismus vergangener Epochen und ihrer physikalischen Lehren kritisiert. Glücklicherweise sind sich die meisten Physiker dessen bewußt, daß die Physik eine Erfahrungswissenschaft ist, und daß man daher stets auf Überraschungen gefaßt sein muß, gerade auch in den fundamentalen Fragen. 119

Diesen empirischen Charakter teilt die Physik mit den meisten, wenn nicht allen Wissenschaften mit Ausnahme der reinen Mathematik und der mathematischen Logik. Selbst die historischen Uberlieferungen und die Offenbarungen können vielleicht als Erfahrungen der Menschheit verstanden werden. Wir fragen daher: Wodurch unterscheidet sich die Physik von den übrigen Wissenschaften? Wo liegen ihre Grenzen im wissenschaftstheoretischen Sinne? Eine Definition des Begriffes Physik würde uns deren natürliche Grenzen zeigen, denn „Definition" heißt „Abgrenzung". Ich vereinfache die Fragestellung, indem ich sie auf den Begriff der „Naturwissenschaft" mit Einschluß der naturwissenschaftlichen Medizin ausweite. Durch die Atomphysik sind Physik und Chemie zu einer einheitlichen Wissenschaft verschmolzen worden. Werner Heisenberg schreibt hierzu: „Früher waren Chemie und Physik getrennte Wissenschaften, die sich auf ganz verschiedene Seiten der Natur bezogen, und die Physik selbst zerfiel in eine Reihe verschiedener Disziplinen — Mechanik, Optik, Elektrizitätslehre, Wärmelehre usw. —, die wiederum verschiedene Arten von Vorgängen und Gesetzmäßigkeiten zum Gegenstand hatten. Unsere Zeit hat verstanden, daß alle diese Erscheinungen gesetzmäßig zusammenhängen, daß man aber, um die größeren Zusammenhänge zu erkennen, in Bereiche der Natur vordringen muß, die nicht unmittelbar sinnlich erfahren werden können. Mit dem Verständnis der Physik der Atomhülle wurde die Vereinigung von Chemie und Physik vollzogen; bei den heute mit den größten technischen Mitteln durchgeführten Experimenten über die Elementarteilchen kommt der Zusammenhang zwischen allen Arten von Kräften in der Natur zum Vorschein, und die Formulierung ihrer Gesetze erfordert ein Maß von Abstraktion, das früher in der Naturwissenschaft unbekannt war." Diese Verschmelzung wird durch das Lebenswerk des Chemikers Otto Hahn sichtbar bestätigt, in gewisser Weise auch durch die Existenz der Physikalischen Chemie. Entsprechendes gilt für die Astrophysik und Astronomie, die Geophysik und Geologie und wohl auch für die Biochemie und Biologie. Daher will ich im Augenblick den Begriff „Physik" etwa in dem Umfange fassen, in welchem er durch Aristoteles — mit guten Gründen — in die Wissenschaft eingeführt worden ist. Ich hoffe, daß mir dies nicht als eine illegitime Grenzüberschreitung, als Akt eines „geistigen Imperialismus" der Physik, ausgelegt wird. Noch im vergangenen Jahrhundert war bei uns ein „Physikus" ein Arzt, und dieser Sprachgebrauch besteht im Angelsächsischen heute noch. Was ist Naturwissenschaft? Durch welches Merkmal kann sie von anderen Erkenntnisbemühungen unterschieden werden? Der Gegenstand der Naturwissenschaft ist die sogenannte Natur, deutlicher: das 120

Natürliche (griechisch: Physis). Der GegenbegrifF dazu ist das Künstliche, das von Menschen Gemachte. Diese antike Definition ist aber für unsere Verhältnisse unzureichend, denn die neuzeitliche Naturwissenschaft unterscheidet sich von den Geisteswissenschaften nicht nur durch den Gegenstand, sondern vor allem auch durch die Methode, mit der sie sich ihrem Gegenstand nähert. Allerdings hängt beides eng miteinander zusammen: Das Objekt ist durch die Methode definiert, die Methode daher diesem Objekt genau angemessen. Deutlicher gesagt: Die gewählte Methode legt die Forschung von vornherein auf eine bestimmte Sicht, auf einen einseitigen Aspekt des Gegenstandes fest; diese eine, der Methode allein zugängliche Seite des Gegenstandes ist das tatsächliche Objekt der Naturwissenschaft. Entsprechendes gilt auch innerhalb der Naturwissenschaft: Physik, Chemie, Biologie unterscheiden sich vor allem durch ihre Methoden, ihre Sichtweisen; nur sind die Grenzen hier nicht so ausgeprägt wie die zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften. Die Methode der neuzeitlichen Naturwissenschaft besteht darin, die Dinge und ihre Veränderungen durch Experiment und Mathematik auf ihre raumzeitliche Struktur hin zu untersuchen. Alle uns tiefer bewegenden Fragen werden durch eine Art Askese ausgeschieden. Man forscht nicht nach dem Sinn, dem Ziel, dem Symbolgehalt der Dinge und Ereignisse, sondern beschränkt sich auf die äußerlichen, aber sicherer zu beantwortenden Fragen nach Zahl, Zeitpunkt, Ort und Gestalt. Dieser Unterschied zwischen der bewertenden Deutung auf der einen und der wertfreien, aber genauen Kenntnis auf der anderen Seite ist für das Verständnis des Charakters der neuzeitlichen Naturwissenschaft grundlegend. Ein typisches Beispiel ist der Gegensatz zwischen der Astrologie oder Sterndeutung und der Astronomie oder Sternkunde, oder auch der zwischen Alchemie und Chemie. Von ähnlicher Art ist der Unterschied zwischen unserer natürlichen Menschenkenntnis (die ja stark von Sympathien bestimmt und auf Wesensdeutung ausgerichtet ist) einerseits und der Anatomie, Physiologie, exakten Psychologie (oder Verhaltenswissenschaft) andererseits. Die naturwissenschaftliche Denkweise entsteht aus dem natürlichen Weltverständnis des Menschen durch eine bestimmte Abstraktion: Um die Fragen nach der raum-zeitlichen Struktur präzise beantworten zu können, wird von allen Fragen nach Wesen, Ursprung, Grund, Geheimnis, Sinn, Ziel konsequent abgesehen. Die neuzeitliche Naturwissenschaft lehrt daher nicht, was die Dinge sind, warum und wozu sie sind, sondern nur wie sie sind, und auch das nur in raum-zeitlicher Hinsicht. Sie will und kann die eigentlichen Warum-Fragen nicht beantworten. Die naturwissenschaftliche „Kausalanalyse" bleibt im Rahmen der raumzeitlichen Morphologie und ist daher nichts anderes als (detaillierte) Strukturanalyse. Beispiels-

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weise ist die sog. Gravitation f ü r die Physiker nicht eigentlich der Grund f ü r das Fallen der Körper, sondern nur der Ausdruck der allgemeinen Tatsache, daß freigelassene Körper zu fallen pflegen. Auch die akustischen, optischen, thermischen Erscheinungen werden grundsätzlich auf raum-zeitliche Begriffe reduziert. Alle naturwissenschaftlichen Aussagen sind auf Feststellungen raum-zeitlicher Koinzidenzen zurückführbar; darauf beruht die Exaktheit der Experimente. Insbesondere ist der Streit zwischen Kausalismus und Finalismus naturwissenschaftlich nicht zu entscheiden und daher f ü r eine sich selbst streng verstehende Naturwissenschaft durchaus gegenstandslos. Leider war die Naturwissenschaft im Laufe ihrer Geschichte hier oft genug inkonsequent. Sie findet nur langsam ihr eigenes Wesen. Ich fasse zusammen: Naturwissenschaft ist raum-zeitliche Strukturanalyse des Natürlichen, des nicht Gemachten, vermittels Mathematik und Experiment. Hierin bedeutet „Mathematik" die Wissenschaft von den denkbaren Strukturen und „Experiment" die Kunst der Erfahrung unter zweckmäßig hergestellten Bedingungen. Aus der Tatsache, daß von den uns tiefer angehenden Fragen in der Naturwissenschaft abgesehen wird, folgt natürlich nicht, daß diese Fragen keinen Sinn hätten. Im Gegenteil: wir Naturwissenschaftler leben doch auch davon, daß andere Menschen sich diesen objektiv viel schwereren Problemen widmen. Der Naturwissenschaftler spezialisiert sich bewußt auf diejenigen Züge des Wirklichen, über die sich Menschen, unabhängig von ihrer jeweiligen Persönlichkeit, verhältnismäßig rasch einigen können. Diese Spezialisierung und Einstellung auf die äußerliche, einfache, allgemein sichtbare, uns in unserem eigenen Menschsein nur oberflächlicher berührende Seite der Dinge nennt man „Objektivierung", den auf ihr beruhenden Charakter der Naturwissenschaft deren Objektivität. Sie verleiht den naturwissenschaftlichen Aussagen ihre besondere Verbindlichkeit. Der Objektivität eignet unbedingte Unparteilichkeit und damit eine gewisse, wenn auch abstrakte Gerechtigkeit. Daher kann saubere, ihre Grenzen strikt einhaltende Naturwissenschaft auch f ü r die Beziehungen zwischen den Menschen und den Völkern hilfreich sein. Mit ihr allein werden wir allerdings nicht auskommen. Es ist ein innerer Widerspruch und eine Ungerechtigkeit, wenn der dialektische Materialismus sich einerseits auf die Naturwissenschaft zu gründen meint, andererseits aber die Parteilichkeit bewußt fördert und den sog. Objektivismus so stark verpönt. Viele Naturwissenschaftler begehen den entgegengesetzten Fehler, indem sie beispielsweise den Politikern empfehlen, mit naturwissenschaftlichen Methoden zu arbeiten. Sie vergessen, daß die menschlichen Probleme dazu viel zu kompliziert sind. Man ist hier auf andere Mittel der Unterscheidung und Erkenntnis angewiesen. Daß die naturwissen122

schaftlichen Fragen uns bei weitem nicht so tief berühren wie die philosophischen, politischen, theologischen wird durch die Tatsache bestätigt, daß es so gut wie keine Märtyrer der Naturwissenschaft gibt. Galilei war bekanntlich keiner, denn er hat widerrufen, im Gegensatz etwa zu dem Dominikaner Giordano Bruno. Keplers Standhaftigkeit seinen verschiedenen Obrigkeiten gegenüber gründet nicht in seiner Astronomie, auch nicht in seiner Astrologie, sondern in seinem Christentum. Die Konzentration auf eine verhältnismäßig enge und besonders leicht zugängliche Seite der Wirklichkeit hat es der Naturwissenschaft ermöglicht, sehr weit vorzudringen und erstaunliche, ungeahnte Gestalten, Kräfte und Zusammenhänge zu entdecken. Doch ändert auch diese eigenartige Tiefe der naturwissenschaftlichen Erkenntnis nichts an ihrer Einseitigkeit. Die Fragen nach Leben, Seele, Geist, nach Schönheit, Güte, die letzten Fragen nach dem Sinn der Existenz, nach Sünde und Gerechtigkeit, bleiben unbeantwortet. Sie kommen im naturwissenschaftlichen Aspekt der Welt nicht vor. Innerhalb ihres Aspekts aber kann die Naturwissenschaft — falls es ihr wirklich gelingt, sich von Vorurteilen frei zu halten — an keine äußere Grenze ihrer Auffassung stoßen; ihre durch die Methode vorgezeichnete Ebene ist bereits ihre Grenze. Es kann nichts eintreten, das sich nicht irgendwie wertfrei ih Raum und Zeit einordnen ließe, und sei es unter den Begriff des (bisher) Einmaligen. Jedenfalls ist es sinnlos, von einer „Durchbrechung der Naturgesetzlichkeit" zu reden, denn es kann sidi immer nur um ein Ereignis handeln, das aus den Geltungsbereichen der bisher bekannten Naturgesetze herausfällt. In vielen Fällen wird man es einem übergeordneten, noch abstrakteren Naturgesetz mit erweitertem Geltungsbereich einfügen können. Ob sich alles Geschehen schließlich dem Gesichtspunkt der Naturgesetzlichkeit — der Beständigkeit und Wiederholung — fügt, oder ob es letztlich Singulares, Unvergleichbares gibt, bleibt in der naturwissenschaftlichen Ebene offen. Der religiöse Begriff des Wunders hat damit nichts zu tun; denn er kommt in der Naturwissenschaft überhaupt nicht vor, so wenig, wie etwa der psychologische Begriff der Farbe in der physikalischen Optik vorkommt. Wunder heißen diejenigen Ereignisse, die — unabhängig von der Frage nach den sog. Naturgesetzen — so unerwartet eintreten, daß sie uns zum neuen Nachdenken über die letzten Fragen nötigen. Doch kann man sich jeder solchen Begebenheit gegenüber auf die distanzierte, objektivierende Haltung der Wissenschaft zurückziehen. Gegen diese abstrakte, rein wissenschaftliche Einstellung ist logisdi nichts einzuwenden, so unzulänglich sie in menschlicher Hinsicht gewiß ist. Ein charakteristisches Beispiel f ü r die Universalität und innere Geschlossenheit der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise wie auch 123

für ihre außerordentliche Einseitigkeit und Abstraktheit stellt die physikalische Akustik dar: Tonbänder lassen sich mechanisch vervielfältigen, obwohl sie viele Feinheiten auch des persönlichen Ausdrucks enthalten können. Das zeigt, daß der innere Gehalt, das Seelische und Geistige in der Musik, nicht auf Lücken in der Physik angewiesen ist. Auf der anderen Seite kommt der Begriff des Klanges in der Physik gar nicht vor, denn sie betrachtet den Schall nur in einer Hinsicht, nämlich in Gestalt der „stummen", raum-zeitlichen Gebilde, die man Schallwellen nennt. Als reine Physiker interessiert uns an der Musik nur das, was der Oszillograph anzeigt. Die Menschen können sich über den physikalischen Aspekt der Dinge besonders leicht einigen. Es wäre aber ein Fehler zu meinen, nur das so Feststellbare sei real. Was sich uns im ästhetischen, ethischen oder theologischen Aspekt zeigt, ist nicht deshalb weniger wirklich, weil es stärker auf den jeweiligen Menschen bezug nimmt. Relationen sind ebenso real wie Prädikate oder Subjekte. Die „Objektivität" der Naturwissenschaft ist ihre InterSubjektivität. Sie besagt insbesondere nicht, daß die Physik die Dinge so zeigt, wie sie „an sich" sind. Wir müssen sogar damit rechnen, daß die Gegenstände durch den Zugriff der naturwissenschaftlichen Methode verändert werden. Das physikalische Objekt stimmt vielfach mit dem natürlichen, sich selbst überlassenen Gegenstand, um den es ursprünglich geht, nicht genau überein. Die neuzeitliche Naturwissenschaft trägt in die von ihr zu erforschenden Dinge etwas Künstliches hinein, weshalb sie ihren Namen eigentlich nicht ganz zu recht trägt. Diese Verhältnisse bezeichnet man heute gelegentlich mit dem Terminus „Komplementarität", der ursprünglich von Niels Bohr zur Deutung der Quantenmechanik geprägt worden ist. Bohr nennt zwei Weisen der Wirklichkeitsbewältigung, insbesondere zwei Fragestellungen, komplementär, wenn sie einander zu einem gemeinsamen Zeitpunkt ausschließen und sich gerade dadurch zur Erfassung der vollen Wirklichkeit ergänzen. Komplementäre Forschungsmethoden oder Erkenntnisweisen sind unverträglich, indem die Durchführung der einen die gleichzeitige Durchführbarkeit der anderen unmöglich macht. Diese Definition ist so weit gefaßt, daß mit dem Komplementaritätsbegriff recht verschiedene Phänomene bezeichnet werden können (selbst wenn man von der Farbenlehre und der Mengenlehre absieht, wo das Wort eine formal verwandte, aber logisch doch verschiedene Bedeutung hat). Ich unterscheide daher drei Stufen der Komplementarität: die statische, die dynamische und die quantenmechanisdie. Die dynamische Komplementarität ist eine Verschärfung der statischen, die quantenmechanische eine Verschärfung der dynamischen. Statische Komplementarität 124

liegt immer dann vor, wenn es nicht

möglich ist, einen Gegenstand von verschiedenen Seiten zugleich zu betrachten, wenn aber angenommen werden kann, daß der Gegenstand selbst durch die jeweilige Betrachtung nicht wirklich verändert wird. Der Anblick des Gegenstandes ist hier standpunktbedingt, nicht jedoch die wahre Gestalt des Gegenstandes. Diese wahre Gestalt kann aus den verschiedenen Aspekten gedanklich konstruiert werden. Der Prototyp hierfür ist die Perspektive. Man denke etwa an den Grund- und Aufriß eines Hauses, die man nur nacheinander betrachten kann, die man aber zu einem einheitlichen räumlichen Bilde, einem Modell des Hauses, zusammenfügen kann. Ein ähnliches, wenn auch abstrakteres Beispiel ist die statische Komplementarität von Buchstabieren und Lesen, die in verschiedenen Formen auftritt, insbesondere beim Betrachten eines jeden feineren Kunstwerks. Hingegen handelt es sich um dynamische Komplementarität, wenn die wirkliche Gestalt des Gegenstandes davon abhängt, welche Untersuchungsmethode man auf ihn anwendet. Diese Verhältnisse liegen immer dann vor, wenn die Methoden ihr Objekt nicht unberührt lassen. Ein charakteristisches, physikalisches Beispiel hierfür ist die Komplementarität von Energie und Temperatur: durch Temperaturmessung wird die Energie und durch Energiemessung die Temperatur modifiziert. Man hat stets mit dynamischer Komplementarität zu rechnen, wenn es sich darum handelt, etwas Lebendiges zu erforschen; denn hier ist eine Beeinflussung des Objekts unumgänglich. Es ist sogar denkbar, daß jede allzu genaue Analyse die untersuchte lebende Struktur notwendig tötet. Das schließt allerdings nicht aus, daß sich nachträglich die wahre Gestalt des noch unberührten Lebewesens hypothetisch rekonstruieren läßt. Die dynamische Komplementarität widerlegt nicht die Möglichkeit einer zutreffenden Theorie lebender Systeme. Im Falle der quantenmechanischen Komplementarität hingegen ist eine solche Rekonstruktion nicht möglich. In der Atomphysik kann es nach der Quantenmechanik so etwas wie die „wahre Gestalt des noch unberührten Gegenstandes" nicht geben. Jedes mögliche Bild vom Objekt, etwa von einem Atom, entspricht einer bestimmten, durch die jeweilige Meßmethode bedingten Beeinflussung des Objekts. Diese Unmöglichkeit eines rein theoretischen Bildes vom Gegenstand an sich beruht auf jener eigenartigen „objektiven Unbestimmtheit" aller nicht gerade durch Beobachtung festgestellten Bestimmungsstücke, von der Bereits die Rede war. Die Unbestimmtheit wiederum hängt eng mit den sog. Interferenzphänomenen zusammen, die den Wellencharakter der Atompartikel beweisen. Die Entdeckung der quantenmechanischen Komplementarität gehört zu den erstaunlichsten Errungenschaften unseres Jahrhunderts. Durch sie werden Erkenntnistheorie, Logik und Ontologie vor eine gänzlich veränderte Situation gestellt. 125

Wir fragen nun: Von welcher Art ist die Komplementarität zwischen der physikalischen Erkenntnis und anderen Erkenntnisweisen? Die bereits angeführten Beispiele zeigen, daß man es gelegentlich mit der statischen, meist jedoch mit der dynamischen Komplementarität zu tun hat. Ein überzeugender Fall von quantenmechanischer Komplementarität ist mir in diesem Zusammenhange jedoch nicht bekannt geworden. Es mag aber sein, daß der Dualismus von Bewußtsein und Materie (von „mind and matter") eine Komplementarität vom quantenmedianischen oder einem ihm analogen T y p ist. Falls diese H y p o these zutrifft, gibt es sicher keine monistische Theorie, die beide Phänomene in voller Deutlichkeit zur Geltung bringt. Ähnliches gilt vielleicht auch für die Komplementarität von Theorie und Praxis oder für die von Objektivität und Interesse. Es scheint so, als könne man den Anforderungen der Theorie und der Praxis nicht zugleich voll gerecht werden. II. P r a k t i s c h e r

Teil

Damit komme ich zum zweiten Teil meines Vortrags, der von den praktischen Einschränkungen der physikalischen Erkenntnis handeln soll. Ich gehe davon aus, daß die Physik heute sehr viel stärker mit der Technik, der Wirtschaft, der Politik verknüpft ist als je zuvor. Vermutlich werden diese Wechselbedingungen in Zukunft noch zunehmen. Die neuzeitliche Physik war schon immer auf kunstvolle Werkzeuge angewiesen, angefangen bei Uhren, Luftpumpen, Thermometern. Man hat gesagt, sie sei ein Kind aus einer Ehe des mittelalterlischen Handwerks mit der antiken Philosophie. Umgekehrt hat die Physik die abendländische Technik wesentlich gefördert. Die moderne Technik ist ohne die Physik nicht denkbar, aber es gilt auch die Umkehrung: die moderne Physik ist ohne unsere hochentwickelte Technik undenkbar. Besonders die Kernphysik und die Astrophysik benötigen äußerst komplizierte und feine Geräte, die teilweise schon die Dimensionen einer mittelgroßen Fabrik annehmen. Ein Maß dafür sind die Preise solcher Großgeräte: Das noch im Bau befindliche Hamburger Elektronensynchrotron kostet rund 70Millionen D M ; das bereits arbeitende Genfer Protonsynchrotron sogar an die 300 Millionen Schweizer Franken. Die jährlichen Unterhaltungskosten gehen ebenfalls in die Millionen. Wirtschaftlich schwache Länder sind von den interessantesten Forschungen von vornherein ausgeschlossen. Doch auch in den reicheren Ländern stößt die Physik immer wieder auf ökonomische Schranken. Ich bin nicht der Meinung, diese Kosten seien unverhältnismäßig hoch. Man braucht im Gegenteil nur daran zu erinnern, daß ein einziger Düsenjäger mehrere Millionen Mark kostet; ein einziger 126

Tag des Algerienkriegs verschlingt ein Vielfaches. Dennoch ist es klar, daß der Physik finanzielle Grenzen gesetzt sind, denn je tiefer man in die Atome, Atomkerne, Elementarteilchen eindringt, desto höher werden die technischen Anforderungen an die Werkzeuge. Die zunehmende Wechselwirkung zwischen Naturwissenschaft und Technik besagt, daß Hochschulwissenschaft und Industrie immer enger zusammenarbeiten. Wir können uns dieser Entwicklung nicht verschließen, sollten uns aber dessen bewußt sein, daß sie nicht ohne Problematik ist. Wir teilen nicht die Meinung der Alexandrinisdien Akademie, die den großen Archimedes exkommunizierte, weil er die Reinheit des wissenschaftlichen Gedankens durch Berührung mit Experiment und Handwerk profaniert habe. Auf der anderen Seite sollten wir daran festhalten, daß es in der Wissenschaft vor allem um zweckfreie, reine Erkenntnis geht. Zweckfreie Wissenschaft ist nicht der höchste Wert, und ich wünsche, wir könnten uns von dem Fehler frei halten, sie absolut zu setzen. Sie ist aber ein sehr hoher Wert — innerlich wie äußerlich — den sich die menschliche Gesellschaft schon etwas kosten lassen kann. Ich brauche nur daran zu erinnern, daß der starke wirtschaftliche Vorsprung, den die westliche Kultur vor den übrigen Kulturkreisen erlangt hat, nicht zum geringsten Teil auf dem verhältnismäßig weiten Raum beruht, den man im Abendland den freien Künsten und Wissenschaften gelassen hat. Die europäische und amerikanische Universität, im hohen Mittelalter begründet und bis heute im wesentlichen ungeändert, ist der institutionelle O r t dieser Freiheit des kritischen Fragens und Forschens. Wissenschaftliche Arbeit gewährt nicht nur eine unvergleichbare Befriedigung; sie hat sich auch in einem mehr äußeren Sinne des Wortes als lohnend erwiesen. Zu den nicht geringfügigen, aber lohnenden Unkosten, die das zweckfreie Forschen der menschlichen Gesellschaft bereitet, gehört zweifellos auch die dogmatische und politische Unsicherheit oder Unruhe, die eine autonome Wissenschaft notwendig bewirkt. Geordnetes menschliches Zusammenleben beruht stets auf festen Grundsätzen, die von der Gemeinschaft akzeptiert sind und deren öffentliche Geltung von ihr durchgesetzt wird. Aber das kritische Fragen einschließlich der physikalischen Forschung macht vor ihnen nicht Halt. Hierdurch entstehen Spannungen, ja Konflikte zwischen der Physik und der jeweiligen Dogmatik oder Politik, die um so schwerer sind, je weniger liberal die Gesellschaft ist. Für die betroffenen Physiker resultiert hieraus eine tragische Situation, denn sie unterstehen der doppelten Loyalität zweier Autoritäten, die miteinander im Streit liegen. Die eigentliche, die innere Autorität ist dann zweifellos die der Wissenschaft; aber der Forscher wird auch fragen müssen, ob nicht berechtigte Interessen der menschlichen Gemeinschaft — der er die äußerliche Er127

möglidiung seiner Arbeit sehr weitgehend verdankt — auf dem Spiele stehen. Gegebenenfalls werden wir vom Wissenschaftler erwarten müssen, daß er hierauf Rücksicht nimmt. Von den politischen und religiösen Autoritäten aber müssen wir verlangen, daß die Integrität des wissenschaftlichen Gewissens gewahrt bleibt. Die Freiheit zum Forschen mag ihre Grenzen haben; die Freiheit des Gewissens aber ist unbedingt. Das klassische Beispiel für derartige Konflikte ist derjenige Galileis mit dem römischen Lehramt. Hier haben wohl beide Parteien ihre Grenzen überschritten, wobei allerdings der Fehler der Inquisition viel schwerer wiegt. Jene äußere und innere Tyrannei widersprach nämlich nicht nur dem Wesen der Wissenschaft, sondern ebenso strikt auch dem des Christentums. In unserem schlimmen Jahrhundert gibt es Schwierigkeiten dieser Art vor allem durch diktatorische Staaten. Unter dem Nationalsozialismus galt ein großer Teil der theoretischen Physik als „jüdische Physik" und wurde dementsprechend verunglimpft. In den Ostblockstaaten sind die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik aus philosophischen Gründen starkem Argwohn ausgesetzt; das Studium kosmologisdier Fragen ist gänzlich unterdrückt. Die ideologischen Führer glauben es sich nicht leisten zu können, daß das Dogma von der Unendlichkeit des Kosmos in Frage gestellt wird. Hier werden der Wissenschaft Schranken vorgesetzt, die von den sowjetischen Astrophysikern sicher nur äußerlich akzeptiert werden; es gibt keinen einsichtigen Grund, aus dem sie auch innerlich respektiert werden könnten. In anderen Fällen — vor allen, wenn das Leben und die Würde anderer Menschen auf dem Spiele stehen — ist die Rücksicht auf außerwissenschaftliche Belange berechtigt, sogar geboten. Die physikalische Erkenntnis stößt hier auf Schranken, die sie von sich aus nicht kennt, die ihr vielmehr von außen gesetzt sind. Diese durchaus heteronomen und doch zu bejahenden Grenzen betreffen allerdings nicht die reine, kontemplative Erkenntnis, sondern nur ihre Anwendungen. Für diese aber ist die Wissenschaft mit verantwortlich. Denn niemand ist nur Forscher, sondern wir sind alle berechtigte und verpflichtete Glieder der menschlichen Gesellschaft. Es ist zu erwarten, daß der Wissenschaftler die menschlichen Folgen seines Tuns beachtet. Gegebenenfalls muß er sogar die Forschung auf einem bestimmten Gebiet einstellen oder zumindest in der Wahl seiner Methoden sich einschränken. Menschen dürfen nicht nur als physikalische Objekte angesehen werden. Man soll überlegen, ob nicht etwa durch die Weltraum-Forschung bedauerliche irreparable Eingriffe in die Natur vorgenommen werden, und soll sich bemühen, den Schaden möglichst gering zu halten. Es wird immer wieder geschehen, daß Naturwissenschaftler vor moralische Probleme gestellt werden. Bei weitem am häufigsten ist dies in der Medizin: daher ist es nicht verwunderlich, daß wir hier die älteste Ethik eines wissen128

schaftlichen Berufes finden; ich denke an den hippokratischen Ärzte-Eid und seine Weiterbildung zu unserer medizinischen Ethik. Wir stehen heute vor der Aufgabe, auch für die anderen Disziplinen eine Berufsethik zu entwickeln. Bisher gibt es nur. einige Ansätze dazu neben einigen vorbildlichen und auch einigen warnenden Beispielen. Zu erwähnen ist hier vor allem der sog. Franck-Report, in dem bereits im Frühstadium der nuklearen Waffen auf deren unübersehbare physische und ideelle Gefahren hingewiesen wird. Dieser Bericht von sieben amerikanischen Physikern an ihren Kriegsminister wurde bereits während des Krieges und vor dem Einsatz der amerikanischen Atombomben auf Japan geschrieben. Ein Gegenbeispiel ist die bejahende Antwort einer Kommission von Naturwissenschaftlern auf die von der amerikanischen Regierung an sie gerichtete Frage, ob Japan mit Atombomben angegriffen werden solle oder nicht. Diese Entscheidung sollte nicht verteidigt werden, wie es leider immer wieder geschieht. Der sowjetische Physiker Kapitza verweigerte Stalin seine Mitarbeit an der Entwicklung nuklearer Waffen. Die Geschichte des Physikers Fuchs, der unter Täuschung seiner Freunde britische Atomgeheimnisse verriet, ist bekannt. Nach dem Kriege haben Physiker immer wieder vor den unheimlichen Gefahren der nuklearen Kräfte und Strahlungen gewarnt. Am meisten Eindruck machte bei uns die „Göttinger Erklärung", die u. a. eine Weigerung der 18 führenden deutschen Atomphysiker zur Mitarbeit an der nuklearen Bewaffnung der Bundesrepublik enthält. Die Tatsache, daß der politische und moralische Erfolg dieser Erklärung bisher gering war, hebt ihre Berechtigung und Bedeutung nicht auf. Neben solcher Aktivität nach außen darf die dem Physiker näher liegende akademische Aktivität nicht vernachlässigt werden. Ich meine die wissenschaftliche und pädagogische Arbeit an den ethischen Problemen. Das Bewußtsein dafür, daß die Physik für die Folgen ihrer technischen Anwendung mitverantwortlich ist, muß geweckt werden. Wir müssen uns darum bemühen, daß das moralische Gewissen der Wissenschaft ebenso empfindlich wird wie es ihr intellektuelles bereits ist. Die Gefahren einer einseitigen Spezialisierung beim Lehren und Studieren müssen überwunden werden. Die naturwissenschaftlich nicht geschulten Mitbürger haben ein Recht darauf, in einer für sie verständlichen Form über die Fortschritte der Wissenschaft, ihre Segnungen und Gefahren, informiert zu werden. Das gleiche Recht gilt selbstverständlich auch für die legitime Regierung des eigenen Landes. In diesem Zusammenhang wird oft gesägt, ein Forscher, der eine für die Menschheit sehr gefährliche Entdeckung gemacht hat, müsse diese verheimlichen. Das mag in extremen Fällen richtig sein. Wir sollten aber nicht in den Fehler verfallen, diese äußerste Grenzsituation

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als typisch f ü r die Ethik des Wissenschaftlers anzusehen. Die Wissenschaft ist — heute mehr denn je — ein soziales und internationales Phänomen. Charakteristisch hierfür ist die Entdeckung der Kernspaltung. Als Hahn und Strassmann Ende 1938 ihre Forschungsergebnisse publizierten, ahnten sie nichts von den möglichen Folgen. Wenige Monate danach aber hatten sich bereits Physiker verschiedener Länder die Möglichkeit einer Kettenreaktion klargemacht. Kurz nach Entfesselung des Krieges durch das nationalsozialistische Deutschland wurde Roosevelt von dem Pazifisten Einstein und anderen Physikern zum Bau einer Atombombe gedrängt, um den Deutschen zuvorzukommen. Den isolierten Einzelforscher, wie wir ihn vielleicht aus Romanen kennen, gibt es heute nur noch in unserer Phantasie. Eine bedeutende Entdeckung kann nicht über längere Zeit verborgen bleiben; zudem würde sie vermutlich recht bald an einer anderen Stelle wiederholt werden. Die neuzeitliche Wissenschaft war immer öffentlich; es kann hier keine Geheimlehren geben, die einer bestimmten Menschengruppe vorbehalten bleiben. Der Physiker hat im allgemeinen nicht nur das moralische Recht, sondern sogar die Pflicht, seine Ergebnisse durch Veröffentlichung den Kollegen zur Diskussion vorzulegen. Er wird immer wieder dafür eintreten, daß die militärisch bedingte Geheimhaltung rein wissenschaftlichen Materials aufgehoben wird. Sie widerspricht dem Geiste der Wissenschaft und ist zudem gefährlich, da sie das zwischen den Nationen herrschende Mißtrauen vermehrt. Vertrauen ist dringend erforderlich; einer der Wege dazu ist Kenntnis und Verständnis der anderen Länder und Völker. Daher ist es ratsam, möglichst viel Information auszutauschen; besser als durch Verheimlichung könnte dadurch den Entdeckungen manches von ihrer Gefährlichkeit genommen werden. Es ist wichtig, daß die Wissenschaft, insbesondere die Physik, hier ihre Ideale und ihre Rechte verteidigt. Ebenso wichtig ist es aber, daß sie ihre eigene Rolle nicht überschätzt. Zu meinem Bedauern muß ich hier wieder Walter Gerlach widersprechen, der vor einem Jahr vor der Goethe-Gesellschaft zu Hannover folgendes gesagt hat: „Den Menschen stellt die Gegenwart die größte Humanitätsaufgabe: Die Zunkunft der Menschheit sicher zu stellen. Man muß diese Aufgabe immer wieder ins Gedächtnis rufen — denn fertig geworden ist mit ihr — außer dem Physiker — noch keiner: nicht der Techniker, nicht der Wirtschaftler, noch weniger Militär und Kirche, und ganz und gar nicht die Politiker. Die Zukunft liegt in der Hand der Menschheit — auch ihre Selbstvernichtung durch den Mißbrauch des größten Geschenks, der tiefsten Einsicht in unsere Welt. Längs dieser Grenzen muß die Menschheit jetzt immer wandern, Humanität, welche sie aus Naturwissenschaft und Technik erwarb, kann einzig ihr Führer sein." Ich halte es dagegen f ü r evident, daß die Physiker mit dieser Aufgabe ebenso wenig fertig 130

geworden sind wie alle anderen Menschen und daß die naturwissenschaftlich-technisch erworbene Humanität allein ein durchaus unzureichender Führer wäre. Uberzeugend ist, was Carl Friedrich v. Weizsäcker im Rahmen einer in Schottland gehaltenen Vorlesungsreihe ausgeführt hat: „Wissen ist Macht, und Macht sollte Verantwortung bedeuten. Daß uns aber die wissenschaftliche Erkenntnis zugleich mit der sittlichen Größe ausstattet, die wir brauchen, um diese Verantwortung zu tragen, ist eine Hoffnung, der die Tatsachen nicht entsprechen. Ich glaube, wir müss e n . . . sagen: wenn der Szientismus seine Hoffnung darauf setzt, die Wissenschaft werde aus ihrem eigenen Wesen heraus die nötige Leitung in den Angelegenheiten der Menschen geben, so ist er eine falsche Religion. Geht sein Glaube so weit, so ist er Aberglaube; die Rolle des Priesters steht dem Wissenschaftler nicht an, und die guten Wissenschaftler wissen das; das Verhaltensschema der Wissenschaft braucht den Hintergrund einer Ethik, die uns die Wissenschaft selbst nicht zu geben vermocht hat."

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WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFT UND WIRTSCHAFTSPOLITIK Von K o n r a d

Littmann

„Wissenschaft und Verantwortung" lautet das Thema der Universitätstage. Ein Ausschnitt aus dem Problemkreis einer Verantwortung einer Disziplin, nämlich der Wirtschaftswissenschaft, soll in dieser Stunde zur Diskussion gestellt werden. Gestatten Sie mir bitte, einen Weg einzuschlagen, der auf der ersten Strecke zwar kaum etwas von unserer Frage erkennen läßt, aber gleichwohl unmittelbar zum Zentrum der Kontroverse führen wird. Im Jahre 1903 wurde zum erstenmal auf einer wissenschaftlichen Tagung in Deutschland das Problem der wirtschaftlichen Störungen erörtert. Der Wechsel von Hochkonjunktur und Depression war seit langem beobachtet — die um die Jahrhundertwende einsetzende Arbeitslosigkeit, die eine Krisensituation anzeigte, bildete aber den aktuellen Anlaß der Verhandlungen. So sorgsam die Referate indes auch vorbereitet waren, so blieb doch das Ergebnis der Beratungen in wissenschaftlicher und wirtschaftspolitischer Hinsicht unbefriedigend. Eugen von Philippovich, einer der hervorragensten Gelehrten seiner Epoche, konnte in seinem Schlußwort nur feststellen 1 : „Wenn wir die Erkenntnis über den Verlauf der Krise vertieft haben werden, . . . dann werden wir die Möglichkeit haben, Organisationen zu schaffen, um durch die Gesetzgebung, durch Einfluß auf die Stimmung der Menschen, wenn nicht die Krisen zu beseitigen, so doch ihre Wirkungen zu mildern." Das war die Situation im Jahre 1903. Ein Viertel-Jahrhundert später unterbrach die Weltwirtschaftskrise die Phase der Nachkriegskonjunktur. Den „Goldenen Zwanzigern" folgte unmittelbar die große Depression der „Dreißiger", ein wirtschaftlicher Rückschlag unvergleichlichen Ausmaßes, der in den hochentwickelten Volkswirtschaften ein soziales Chaos hinterließ. Die Regierungen versuchten mit allen Kräften, den Prozeß des ökonomischen Niederganges unter Kontrolle zu bekommen, jedoch blieb ihre Aktivität erfolglos, die kumulierenden Abwärtsbewegungen der Produktion und die ihnen auf der Gegenseite entsprechende Zunahme der Arbeitslosenziffern verstärkten sich sogar bis zum Spätsommer des Jahres 1932. Rational zwar nicht erklärbar, aber doch naheliegend, tauchte damals ein mystischer Verdacht auf. War es dank der Fortschritte der Medizin gelungen, die früheren Geißeln der Menschheit — Pest, Cholera, Pocken — aus dem 20. Jahrhundert zu verbannen, so kamen 132

nunmehr andere, nicht minder einschneidende Bürden auf eine seuchenfreie Generation zu. Die neuen Geißeln waren wirtschaftlicher N a t u r und trugen den Namen „Arbeitslosigkeit". In der Tat vermochte die Nationalökonomie auch bei Ausbruch der Weltwirtschaftskrise noch keine allgemein anerkannte Antwort auf die Frage nach den Ursachen von Wachstumsstörungen zu liefern, geschweige denn eine mit hinlänglicher Wahrscheinlichkeit erfolgreiche Therapie vorzuschlagen. Das Urteil, das von Philippovich ein Menschenalter zuvor über den Stand der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung gefällt hatte, galt uneingesdiränkt weiter. Zur Zeit der großen Depression war die Nationalökonomie unfähig, auf Grund wissenschaftlicher Erkenntnisse einen Beitrag zur Lösung der damals drängendsten wirtschaftspolitischen Problemen zu leisten. Soweit von Gelehrten des Fachs den Regierungen Ratschläge erteilt wurden — und mehrere Expertenkommissionen waren mit entsprechenden Aufgaben betraut — stützten sich die Vorschläge stärker auf ein nobles credo als auf die notwendige ratio. Die Weltwirtschaftskrise, vor allem ihre tiefgreifenden sozialen und politischen Folgen belebten aber die wissenschaftliche Aktivität auf dem Felde der Ökonomie, sie gaben den aktuellen und mächtigen Anstoß zu einer Neuformulierung weiter Bereiche der Wirtschaftstheorie. Unabhängig voneinander entstanden so um die Mitte der „Dreißiger" verschiedene, ähnlich lautende Hypothesen, die dann zur Grundlage der modernen Wirtschaftswissenschaften werden sollten. Insbesondere ein Werk, John Maynard Keynes: „The General Theory of Employment, Interest and Money" (1936) 2 , fand unmittelbar nach seinem Erscheinen weltweite Beachtung. Die Untersuchung erhielt sogar — trotz zahlreicher Fehler im Einzelnen — den Rang einer bahnbrechenden Forschungsleistung, die an Genialität mit den großen Entdeckungen in den Naturwissenschaften gemessen werden darf. Keynes erkannte die funktionalen Abhängigkeiten zwischen Arbeitslosigkeit einerseits und den Veränderungen in der Gesamtnachfrage andererseits, und er vermochte damit sehr wesentliche Determinanten der Vollbeschäftigung zu bestimmen. Es war nunmehr möglich, den Prozeß einer Depression widerspruchslos zu erklären. Noch mehr: Die Wissenschaft verfügte über eine Grundlage, um die Wirkungen der konjunkturpolitischen Operationen des Staates mit genügender Sicherheit abzuschätzen. Unter diesem Aspekt zeigte sich freilich erst die ganze Tragik, die das Drama der Weltwirtschaftskrise ausmacht. Die Vermutung, daß die bona fide eingeleiteten Stabilisierungsaktionen der Regierung Instabilität erzeugt hätten, wurde nunmehr zur Gewißheit. Der ökonomische Zusammenbruch hatte zwar in den privaten Wirtschaftssektoren seinen Ausgang genommen, er war aber durch die verfehlten Maß133

nahmen der konjunkturpolitischen Zentrale wesentlich verschärft worden. Obschon die Spekulation zuweilen reizt, ist es müßig zu fragen, wie der Gang der Geschichte in Deutschland verlaufen wäre, wenn die Wirtschaftswissenschaft schon im Jahre 1930 und nicht erst 1935 eine theoretische Konzeption der Bedingungen vollbeschäftigter Volkswirtschaften vorzulegen vermocht hätte. Jedoch, der Gedankengang fordert eine abschließende Bemerkung. Sie lautet: Bei dem heutigen Stande der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung ist die Nationalökonomie in der Lage, rationale Vorschläge zu entwickeln, um Depressionen größeren Ausmaßes und damit zugleich Massenarbeitslosigkeit ein für allemal zu verhindern. Die Bedeutung dieser Aussage dürfte der heutigen Studentengeneration kaum mehr in vollem Umfang zum Bewußtsein kommen, denn tiefe wirtschaftliche Depressionen sind seit 1945 dank der erfolgreichen wirtschaftspolitischen Aktivität der Regierungen oder — wie in der Bundesrepublik Deutschland — auf Grund der außergewöhnlichen wirtschaftlichen Bedingungen der Nachkriegsepoche nicht mehr in Erscheinung getreten. Aber hüten wir uns vor einem folgenschweren Irrtum. Der störungsfreie Ablauf des Wirtschaftsprozesses ist ebensowenig auf eine glückliche Fügung mystischer Kräfte zurückzuführen, wie die Ausrottung der verheerenden Seuchen in Europa. Hier wie dort kann das Ergebnis nur als ein Triumpf menschlichen Geistes, als großartige Leistung der Wissenschaften gewürdigt werden. Die These von der Beherrschung der Konjunkturen bedarf freilich noch einer kleinen, jedoch nicht unwesentlichen Einschränkung. Die Wiederkehr einer großen Depression ist dann, aber auch nur dann auszuschließen, wenn sich die Regierungen vom Sachverstand und nicht von Ideologien in ihren Handlungen leiten lassen. In Anbetracht der außerordentlichen Bedeutung, die eine stabile wirtschaftliche Ordnung f ü r unsere Gesellschaft besitzt, mag aus diesem Satz die prononcierte Folgerung gezogen werden, daß Wirtschaftspolitik eine zu ernste Angelegenheit geworden ist, um sie noch den „professionellen Politikern" in Exekutive und Legislative allein überlassen zu können. Oder positiv ausgedrückt: Das Gebot unserer Zeit ist eine rationale, will sagen, wissenschaftlich fundierte Wirtschaftspolitik. Die These steht im Raum. Sie scheint auf den ersten Blick so plausibel zu sein, daß sie keiner Diskussion bedarf. In Wahrheit ist sie jedoch nichts weniger als heftig umstritten. Somit fällt es nicht schwer, eine Antithese zu formulieren. Den Kontrapunkt mag das oft zitierte Votum eines Bundestagsabgeordneten der Koalition bilden. In der 48. Sitzung des 2. Deutschen Bundestages vom 14. Oktober 1954 fiel laut Protokoll der Satz: „Wir lassen uns auch nicht durch größeren Fachverstand von unserer politischen Richtung abbringen 3 ." 134

Das Aufbegehren gegen die ratio, gegen die „ Verwissenschaftlichung der Politik", das hinter dieser freimütigen Erklärung steht, darf gewiß nicht als Äußerung eines Outsider ausgelegt werden. Vielmehr ist von diesem Abgeordneten nur das offen zum Ausdruck gebracht worden, was außerhalb der Hohen Schulen nur allzuoft still gedacht wird. Wir würden dem Kern des Problemes ausweichen, wenn wir mit einer überlegenen Handbewegung den Einwand abtäten und doktrinär die Karte der Wissenschaft ausspielten. Denn erstens sticht unser Trumpf nicht immer, und zweitens haben sich die Politiker bisher in der Tat selten durch den größeren Fachverstand von ihrer politischen Richtung abbringen lassen. „Tendenziell wird im Konfliktsfalle die Ideologie höher bewertet als die Wahrheit und das wissenschaftliche Urteil kommt dem Politiker nur gelegen, wenn es das ideologie-gebundene Vorurteil bestätigt 4 ." Die Frage nach der Verantwortung des Nationalökonomen taucht damit in ein neues Licht. Die Verantwortung der reinen Wissenschaft erstreckt sich, wie wir sahen, auf das Erkennen der differenzierten Abläufe in den modernen Wirtschaften. Ohne eine theoretische Grundlage vermag die angewandte Wissenschaft kein rational fundiertes Urteil zu fällen. Sine ira et studio, allein der Wahrheit verpflichtet, muß der Wirtschaftstheoretiker f ü r das „richtig" oder das „falsch" der von ihm vertretenen Hypothesen einstehen, wobei jeder Irrtum nicht überschaubare und oftmals nicht mehr korrigierbare Leiden über die Menschheit bringen kann, wenn wirtschaftspolitische Maßnahmen auf einer fehlerhaften Hypothese aufbauen.Die Erfahrungen der „Dreißiger" mögen in ihrem Ausmaß einmalig sein, aber sie unterstreichen die Verantwortung der reinen Wissenschaft nachdrücklich. Offensichtlich besitzt aber dieser Aspekt der Verantwortung der Wissenschaften kaum einen Bezug zu der Kontroverse, ob der größere Sachverstand den Vorrang über die Politik haben solle oder nicht. Der Appell gegen das rationale Element in der Politik richtet sich ja weniger gegen die reinen Wissenschaften, da deren Erkenntnisse politisch indifferent sind. Das theoretische Raisonement über den Verlauf einer Konsumfunktion in der Gestalt c = a + b X und der aus ihr abzuleitenden Prozesse bei Einführung autonom bestimmter Variabler liegt jenseits von Kapitalismus und Sozialismus. In dem Konflikt zwischen Wissenschaft und Politik ist vielmehr die angewandte Wissenschaft angesprochen, also jene Disziplin, die notwendig normative Züge besitzt, in dem sie f ü r eine gegebene Zielfunktion die optimale Lösung aufzeigt. Gesetzt den Fall, die zunehmende 135

Vermögenskonzentration in der Bundesrepublik Deutschland soll zugunsten einer vollkommen gleichmäßigen Verteilung der Vermögen beeinflußt werden (Zielfunktion), so hat die angewandte Nationalökonomie nicht nur die möglichen Maßnahmen der Steuer-, Ausgabenund Kreditpolitik usw. selbst darzustellen, sondern auch die Rangfolge von Alternativen unter Berücksichtigung ihrer Nebenwirkungen zu bestimmen. In der Regel wird dabei nur einer von mehreren denkbaren Strategien der Zielfunktion voll oder approximativ entsprechen. W i r wollen diese Alternative als Bestlösung bezeichnen. Den Anspruch auf Auswahl von Bestlösungen erhebt aber auch jede „gut verpaßte Ideologie" (H. Freyer). Das Eingeständnis von etwaigen Zweifeln an die Richtigkeit der Aussage würde die politische Überzeugungskraft zerstören und ließe die Ideologie hinfällig werden. Zuweilen spürt deshalb der kritische Betrachter der politischen Bühne mit Unbehagen, daß der Anspruch auf eine optimale Entscheidung desto aggressiver vorgetragen wird, je weniger der Anspruch selbst berechtigt ist. Wenn auch nicht häufig, so wird nun aber doch unter Umständen eine Deckung von wissenschaftlichem Urteil und ideologischer Forderung eintreten. Das gilt etwa für die Existenzfrage unserer Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung, die getrost auf das Problem der Verhinderung einer neuen Weltwirtschaftskrise zurückgeführt werden kann. Vollbeschäftigung ist eben nicht nur ein zeitlos sinnvolles ökonomisches Postulat, sie ist auch in der Gegenwart politische Notwendigkeit". W e r möchte bezweifeln, daß eine Wiederkehr der Massenarbeitslosigkeit in einer der westeuropäischen Volkswirtschaften die Abwehrkräfte gegen den Kommunismus paralysieren würde? Mithin lautet eine der grundlegenden Stabilitätsbedingungen in der Westlichen W e l t : Erhaltung der Vollbeschäftigung. Da dieses Ziel gemeinsam von wissenschaftlicher wie politischer Seite — wenn auch mit feinen Nuancen in der Motivation — übereinstimmend als vordringend anerkannt wird, ist im Eventualfall eine rationale Konjunkturpolitik (soweit eine Stabilisierung von Abwärtsbewegungen ansteht) mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit zu erwarten. U n d insoweit besagt das gemeinsame Urteil, daß eine Bekämpfung von Massenarbeitslosigkeit eine zu ernste Aufgabe ist, um den Politiker m i t dieser Verantwortung allein betrauen zu dürfen. Die Konjunkturpolitik als Demonstrationsobjekt, das uns bisher so treffliche Dienste leistete, erweist sich mit diesem Lichtblick freilich als ungeeignet für den weiteren Gedankengang. Nicht dem atypischen Fall der Ubereinstimmung von wissenschaftlichem Urteil und Ideologie, sondern gerade den entgegengesetzten Konstellationen soll ja unsere 136

Aufmerksamkeit gelten. Fragen wir deshalb, wie es überhaupt zu Diskrepanzen kommen kann. Die allgemeine Antwort f ü h r t uns auf die Spur des wachsenden Einflusses wirtschaftlicher Faktoren in allen Lebensbereichen, ein Umstand, der f ü r das 20. Jahrhundert geradezu konstitutiv geworden ist. Ich denke hierbei weniger an das schöne Beispiel der höheren Tochter, die einst lustvoll das Klavier strapazierte und inzwischen längst das Piano mit der einkommensträchtigen beruflichen Karriere vertauscht hat — so sie nicht," mit Verlaub, zur Vervollkommnung moderner Bildung Volkswirtschaftslehre studiert; obschon auch dieser soziale Prozeß zum Kapitel der zunehmenden ökonomisierung menschlichen Verhaltens zählen dürfte. Viel wichtiger erscheint mir, daß in unserer verwalteten Welt kaum eine Entscheidung mehr getroffen wird, in die nicht der Staat als ökonomische Instanz verwickelt ist. Gleichgültig, ob wir den Staat in seiner Funktion als Kulturmäzen, in seiner Eigenschaft als Förderer der Seefahrt und der Landwirtschaft, als Institution des sozialen Ausgleichs oder in seiner Rolle als Helfer junger Nationen betrachten, so wie die Dinge nun einmal liegen, sind diese Aufgaben mit qualitativ und quantitativ spürbaren, wenn nicht sogar ausschlaggebenden wirtschaftlichen Momenten verbunden. In der Umkehrung ist es freilich auch zutreffend, daß speziell wirtschaftspolitische Ziele in außerökonomische Räume strahlen. Ich denke unter anderem an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, eine zunächst ökonomische Zielsetzung, deren Verwirklichung aber gewiß nicht ohne Einfluß auf den allgemeinen politischen Status der assoziierten Nationen bleiben dürfte. Und wenn es noch eines Beweises für die These bedarf, daß wirtschaftliche Erwägungen einen hervorragenden Rang in der heutigen Gesellschaft besitzen, dann mag auf die Motive der Entscheidungen bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag hingewiesen werden. Wohlstandskriterien — so vordergründig sie zuweilen auch sind — haben bei den letzten drei Wiederwahlen zum Bundestag für den Bürger wahrscheinlich ein größeres Gewicht gehabt, als andere zur Entscheidung stehende innen- oder außenpolitische Probleme. Die unlösbare Verknüpfung des wirtschaftlichen Elementes mit allen anderen Lebensäußerungen mindert die Qualität des rein ökonomischen Urteils, vereitelt oftmals die Durchsetzung von wirtschaftlichen Bestlösungen. Vom ökonomischen Standpunkt her war die Kleineuropäische Wirtschaftsgemeinschaft im Vergleich zu der Konzeption einer Freihandelszone die schlechtere Alternative, weil durch den Abbau der Binnenzölle zwar eine interne Verbesserung in den europäischen Volkswirtschaften, durch die Errichtung hoher gemeinsamer Außenzollbarrieren aber eine Diskrimination des internationalen Handels mit der übrigen Welt geschaffen wurde 6 . 137

Von einer allgemeinen politischen Warte aus beurteilt, kam jedoch der Wirtschaftsunion die Präferenz zu, da diese Lösung kurzfristig eine bessere Annäherung an das politische Ziel einer europäischen Föderation versprach. So gesehen, erhält jedoch das V o t u m „Wir lassen uns auch durch den größeren Fachverstand nicht von unserer politischen Richtung abbringen" eine zunächst unvermutete Legitimation. Die wirtschaftliche Komponente hätte sich also dem politischen Element unterzuordnen und dem Nationalökonom wäre allein noch die Verantwortung übertragen, für eine bestmögliche technische Ausführung der Maßnahmen in dem ihm vorgegebenen Spielraum Sorge zu tragen. Der Fachverstand ist damit in seine Grenzen verwiesen, er hat die Stellung zugesprochen erhalten, die ihm in einer demokratischen Gesellschaft wohl ansteht. Wir könnten uns fast mit der Auskunft zufrieden geben, falls nicht ein Einwand bliebe. Der Zweifel an der Ansicht, die Staatsraison müsse über dem Sachverstand stehen, wird jedoch sichtbar, sobald wir extreme Konstellationen prüfen. Muß etwa der Nationalökonom auch dann als Soziotechniker verantwortlich seine Funktion ausüben, wenn er die von der Politik vorgegebene Aufgabe nicht vertreten kann oder diese gar — aus welchen Gründen auch immer — von sich weisen muß. War, um diese Frage unzweideutig zu umreißen, der Nationalökonom etwa verpflichtet, eine verantwortliche ökonomischtechnische Lösung von Teilenteignungen deshalb vorzulegen, weil eine pervertierte Politik die „Arisierung" ganzer Industrien verfügte? Sicherlich nicht, vielmehr würde zu Recht der Akzent der Verantwortlichkeit nunmehr verschoben werden. W e r es sich leicht machen möchte, wird den Ausgang der Verlegenheit benutzen und darauf hinweisen, daß in einer Demokratie derartigen politischen Verirrungen ein Riegel vorgeschoben sei. Mit anderen Worten, die Grenzlinie der Verantwortung müßte in verschiedenen Gesellschaftsordnungen abweichend gezogen werden. Das Denken in Schubladen — hier Demokratie mit dem ihr zugeordneten Verantwortungsbereich, dort totalitäres System mit anderen Kompetenzen — hat mich allerdings noch niemals überzeugt. U n d ich beabsichtige auch nicht, diesen Weg hier zu gehen. Zugegeben, das Beispiel der Enteignung paßt schlecht auf unsere heutige Situation. Weniger gravierende, in der Tendenz jedoch ähnliche Vorgänge, die Konfliktsituationen in der Verantwortung des Wissenschaftlers hervorrufen, sind aber auch für die Bundesrepublik nachzuweisen. Dem allgemeinen politischen Grundsatz der Wohlstandsforderung — der unter dem Slogan „alle sollen besser leben" geradezu Popularität erlangte — können zahlreiche der wirtschafts138

politischen Ziele untergeordnet werden, deren Verwirklichung zu der einmaligen Vermögens- und Einkommenskonzentration des Nachkriegs-Deutschlands beitrugen. Sollte der Nationalökonom wirklich seine Aufgabe nur darin sehen, daß er — die politischen Zielsetzungen tolerierend — die technisch-ökonomische Ausgestaltung derartig wirkender Maßnahmen durchführt? Oder gehört es nicht vielmehr zur Verantwortung des Wissenschaftlers, die politische Entscheidung selbst nach Möglichkeit in eine Richtung zu drängen, die von vornherein ein besseres wirtschaftliches und soziales Ergebnis enthält? Man sage nicht, der durch die Abgeordneten repräsentierte Wille des Volkes würde verfälscht, falls die nicht legal verankerte Gewalt des Sachverstandes an der politischen Willensbildung teilhabe. Man berufe sich überhaupt nicht auf die „Volonté générale", die hinter der politischen Entscheidung stehe. Rousseau's klassisches Modell der Demokratie 7 ist eben eine Fiktion, die auch in grober Annäherung nur selten realisiert wurde und die für die modernen Gesellschaften — vielleicht mit Ausnahme der Schweiz — nicht mehr als verbindliche Erklärung angenommen werden kann. Wollen wir uns einer wenigstens tendentiell der Wirklichkeit angepaßten wissenschaftlichen Hypothese bedienen, so bietet sich wahrscheinlich nur das Sdiumpeter-Downs-Modell an. Nach ihm ist die moderne Demokratie dadurch ausgezeichnet, daß erstens das Volk die Möglichkeit hat, „die Männer, die es beherrschen sollen, zu akzeptieren oder abzulehnen" 8 , und daß zweitens freier Wettbewerb um die Stimmen der Wählerschaft herrscht. „Die soziale Funktion der parlamentarischen Tätigkeit" schreibt Schumpeter dann, "besteht zwar darin, Gesetze und . . . Verwaltungsmaßnahmen hervorzubringen. Aber um zu verstehen, wie die demokratische Politik diesem sozialen Ziel dient, müssen wir vom Konkurrenzkampf um Macht und A m t ausgehen und uns klar werden, daß die soziale Funktion . . . nur nebenher erfüllt wird — im gleichen Sinne, wie die Produktion eine Nebenerscheinung beim Erzielen von Profiten ist" 9 . Anthony Downs hat in seinem Buch „ A n Economic Theory of Democracy" 1 0 den Gedanken Schumpeters aufgenommen und weiter entwickelt. Als Unterstellung wird eingeführt, daß das Kalkül der Abgeordneten darauf gerichtet ist, die nächste Wahl zu überleben und darüber hinaus der Partei die notwendige Stimmenzahl zu verschaffen, um in der Regierung zu bleiben oder aus der Opposition in das A m t hinüber zu wechseln. Der Stimmengewinn oder -Verlust sei abhängig einerseits von dem Verhalten der Parteien in der laufenden Legislaturperiode, also von der Erfüllung der sozialen Funktion; andererseits von dem Wahlprogramm; und schließlich von persönlichen oder sachlichen Präferenzen des Kandidaten — sind die Kandidaten telegen oder ge139

hören sie einer bestimmten Konfession an — Sachverhalte, die hier jedoch vernachlässigt werden können. Unter den genannten Bedingungen ist ganz exakt anzugeben, wie die Regierungen ihre soziale Funktion erfüllen müssen, um die Stimmenzahl zu maximieren: Jeweils hat die letzte zusätzliche Mark, die für eine bestimmte öffentliche Aufgabe verwandt wird, den gleichen marginalen Stimmengewinn zu erbringen wie die dafür erforderlich letzte zusätzliche Mark an Steuerlasten marginale Stimmenverluste ausmacht. Sinngemäß ist das Kriterium auch auf solche Tatbestände zu übertragen, die weder neue Ausgaben noch Steuern erfordern. Dieses formale Kalkül besagt also, daß es für die Stimmaximierung unter Umständen zweckmäßig sein kann, spezifische Gruppeninteressen durch Staatsausgaben zu befriedigen und auf die Gesamtheit den Gegenposten der finanziellen Lasten zu verteilen. Zweckmäßig ist dieses Vorgehen nämlich dann, wenn die Begünstigten für die intervenierende Partei ihre Stimmen abgeben, die Stimmverluste aufgrund der Besteuerung jedoch nicht zu Buche schlagen. Deshalb erfreuen sich politisch Labile oder zur eigenen Parteiengründung neigende Wählergruppen in unserer politischen Ordnung regelmäßig auch besonderer Protektion. In diesem Zusammenhang paßt etwa die Tatsache, daß die Subventionierung des Agrarsektors in denjenigen Ländern am stärksten entwickelt ist, in denen keine interessengebundenen Bauernparteien existieren. Allerdings, die aus dem politischen System heraus verständliche Rücksichtnahme auf Gruppeninteressen kann durchaus mit dem am Gemeinwohl orientierten wissenschaftlichen Urteil kollidieren. Und hier stoßen wir auf eine erste Ursache, die Abweichungen zwischen Fachverstand und politischer Auffassung auszulösen vermag. Eng hiermit verknüpft ist ein zweiter Umstand. Die Parteien rechnen meist nicht nur damit, daß sie nach ihrem bisherigen Verhalten beurteilt werden, sondern sie dürfen dazu auch getrost annehmen, daß die Wähler Vorgänge der Vergangenheit vergessen und nur die jüngsten Handlungen abwägen. In der Bundesrepublik zumindest sprechen zahlreiche Ereignisse für die These. Daraus folgt jedoch, daß kurzfristige Erfolge der Politik für die Wahlentscheidung ausschlaggebend sein können. Oder umgekehrt, Reformen, deren Effekte zwar die Stabilität der Gesellschaftsordnung langfristig optimal erhöhen, deren Wirkungen aber kurzfristig noch nicht deutlich in Erscheinung treten, erfüllen aus der Sicht der Stimmenmaximierung die Zielfunktion schlechter als kurzfristig effektiv werdende Maßnahmen. Der Hinweis auf die verbreitete Taktik der Vergabe von „Wahlgeschenken" mag das Argument illustrieren. Wiederum zeigt sich hierbei aber eine Ursache für die Kluft zwischen der wissenschaftlich fundierten und der politischen Bestlösung. 140

Schließlich bleibt noch zu erwähnen, daß Parteien bei ihrer Wahlvorbereitung vor dem Phänomen der Unsidierheit des Eintreffens der Erwartungen, oder anders ausgedrückt, vor dem Phänomen der unvollständigen Information über die Ansichten der Wähler stehen. Da die Kosten für eine Verbesserung der Information regelmäßig den Ertrag an Wählerstimmen übersteigen, hat sich in der Politik ein Verfahren durchgesetzt, das uns aus dem kommerziellen Bereich der Werbung gut vertraut ist. Damit sich die Wähler über alternative Programme der Parteien orientieren können — und das ist offensichtlich die Umkehrung zu Rousseau's Annahme der Wirksamkeit der Volonté générale — werden einfache, plausible Programmformeln aufgestellt, denen man nach Möglichkeit — gleich einer gut eingeführten Firmenmarke — treu bleibt. Die Grundsatzkonzeption verhärtet sich, erhält eine eigene Existenz unabhängig von Zeit und Raum, die Konzeption wird zur Ideologie. Aber die Ideologie begrenzt nunmehr auch die Bahn der politischen Entscheidungen, sie schließt konzeptionsfremde Gedanken von vornherein aus der Diskussion aus. Ein drittes Mal stoßen wir hier auf einen Prozeß, der Konflikte zwischen Politik und Wissenschaft hervorrufen kann. Ehe ich diesen Punkt des Konfliktes, ausgerichtet auf unser Kardinalproblem — die Verantwortung der Wirtschaftswissenschaft gegenüber der wirtschaftspolitischen Entscheidung — nochmals aufgreife, gestatten Sie mir bitte eine Zwischenbemerkung. Das Schumpeter-Downs-Modell ist eine Hypothese mit hohem Abstraktionsgrad, ein Modell, das Licht auf einige Seiten einer sehr diffizilen und differenzierten Angelegenheit wirft, ohne alles erklären zu können. Ich zweifle jedoch nicht daran, daß es etwa altruistische Abgeordnete gibt, die durchdrungen von hohen Idealen ihr A m t ausüben und deren Aktivität nicht in dieser Fiktion enthalten ist. Der Findung der Wahrheit wäre indes gedient, wenn in dem Modell grosso modo der politische Prozeß in modernen Demokratien im Hinblick auf die hier zur Diskussion stehenden Probleme zutreffend wiedergegeben, genau, besser erklärt wird, als mit jeder anderen vorliegenden Hypothese. Das ist aber in der Tat meine Überzeugung. Und damit darf ich zur abschließenden Auswertung der skizzierten Gedanken übergehen. Die Eigenarten der politischen Willensbildung können, wie wir sahen, zu Ergebnissen beitragen, die von der rationalen Bestlösung abweichen. Somit müssen wir zu der Frage Position beziehen, welcher Platz k o m m t der Wissenschaft in unserer demokratischen Gesellschaft zu? Kann die Gesellschaft die Wissenschaft von ihrer Verantwortung entbinden, der Wahrheit dienend auf die Politik einzuwirken, soweit eine Intervention für das Gemeinwohl notwendig werden sollte? Mir scheint, zweihundert Jahre nach der Aufklärung ist 141

diese Grundsatzfrage als entschieden zu betrachten. Zur Debatte steht nicht, ob sondern wie wir die ratio in unserer politischen Ordnung verankern, wie wir den wissenschaftlichen Argumenten ein größeres Gewicht in dem Prozeß der politischen Willensbildung verschaffen. Eine Beantwortung der Frage kann nicht im Sinne von Plato in der Übernahme politischer Führung durch den Gelehrten gesehen werden. Max Weber gab bereits zu erkennen: „Es hängt der Wert des Mensdien ja nicht davon ab, ob er Führerqualitäten besitzt" 11 . Und jedenfalls sind es nicht die Qualitäten, die jemanden zu einem ausgesprochenen Gelehrten machen, die ihn zum Führer auf dem Gebiet . . . der Politik machen" würden. Nach meiner Ansicht — und nunmehr lege ich ein Bekenntnis ab — sind Lösungen nur im Rahmen der Gesellschaftsordnung zu diskutieren, die das Epitethon „frei" im abendländischen Sinn trägt. Diese Gesellschaftsordnung beruht aber auf der parlamentarischen Demokratie, selbst dann noch, wenn die Demokratie nicht mehr dem Ideal eines Rousseau entspricht. Die uneingeschränkte Anerkennung des parlamentarischen Fundamentes läßt jedoch allein eine Antwort auf unsere Frage zu. Wir müssen das U r teil der Wissenschaft während des Prozesses der politischen Willensbildung zum Tragen bringen, wir haben das wissenschaftliche Element in unserer politischen Ordnung institutionell festzulegen. Praktisch bedeutet das die Errichtung von Gremien unabhängiger wissenschaftlicher Berater bei den Regierungen und Parlamenten, die jederzeit das Recht besitzen, zu allen Gesetzesvorlagen öffentlich Voten abzugeben. Es bliebe den Regierungen und Parlamenten allerdings überlassen, den wissenschaftlichen Ratschlag anzunehmen oder zu verwerfen. Eine derartige Institutionalisierung des wissenschaftlichen Urteils beim Vorgang der politischen Willensbildung gibt es materiell in Deutschland nicht. Zwar bestehen wissenschaftliche Beiräte bei verschiedenen Bundesministerien, aber ihre Stellung überzeugt nicht. Die Beiratsmitglieder sind ehrenamtlich tätig, wodurch bereits in Quantität und Qualität ihr Einfluß geschmälert und auf gelegentliche Stellungnahmen zu Grundsatzentscheidungen beschränkt wird. Der gleichwohl hoch zu schätzende Einsatz dieser Wissenschaftler wird durch die geringe Öffentlichkeit ihrer Arbeit in seiner Effizienz weiter gemindert, sofern nidit gar — wie lange Jahre beim Bundesministerium der Finanzen — nur ausgerechnet jene Teile der wissenschaftlichen Gutachten veröffentlicht werden, die die ideologische Konzeption des verantwortlichen Politikers zu bestätigen scheinen. Ein Mißbrauch der Wissenschaft ist jedoch noch gefährlicher als ihre Negation. Weitergehend ist die Kompetenz und die Effizienz wirtsdiafts142

wissenschaftlicher Beratergremien im Ausland geregelt. Der In Großbritannien 1957 eingesetzte „Council on Prices, Productivity and Incomes" scheint zu einem wesentlichen Organ der wirtschaftspolitischen Willensbildung zu werden. Freilich sind die Erfahrungen noch nicht ausreichend, um hier ein abschließendes Urteil abgeben zu können. Die ältere Institution, der in den USA 1947 geschaffene „Council of Economic Advisers of the President" hat demgegenüber seine Bewährungsprobe bereits abgelegt 12 . Wenngleich die zeitweilig vertretene Auffassung, der „Council" entwickle sich zu einem obersten Gerichtshof f ü r ökonomische Angelegenheiten, reichlich euphemistisch genannt werden darf, so kennzeichnet die Bemerkung doch den großen Einflußbereich dieses Gremiums. Hinzu kommt, daß das „Joint economic Committee", das sich aus Vertretern beider Häuser des Kongresses zusammensetzt, über einen ganz hervorragenden wirtschaftspolitischen Mitarbeiterstab verfügt, der zu allen Fragen der Wirtschaftspolitik um R a t ersucht wird. Ich muß es mir leider versagen, auf Beispiele anderer Länder einzugehen. Die kurze Skizze muß überhaupt genügen, um in einem Satz die Konsequenz zu ziehen. Die grundsätzliche Möglichkeit einer Stärkung des wissenschaftlichen Elementes in der Politik wird in heutiger Zeit auch und gerade in Deutschland zur Notwendigkeit. Den Wissenschaftler drängt es zwar nicht zur politischen Macht, aber da ihn niemand von der Verantwortung entbinden kann, die aus dem Wissen um die Zusammenhänge resultiert, vermag er auch nicht gegenüber der Politik zu schweigen. So hat die Wissenschaft ihre politische Verantwortung zu erfüllen im Geiste der Wahrheit, der Freiheit und der Gerechtigkeit. Anmerkungen: 1 Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. C X I I I (Verhandlungen der Generalversammlung in Hamburg 1903), Leipzig, 1904, S. 3 1 1 . 2 John Maynard K e y n e s : „The General Theory of Employment, Interest and Money", London, 1936. 3 Abgeordneter S c h m ü c k e r (CDU/CSU), Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 2. Wahlperiode (1953), Stenographische Berichte, Bd. 21, S. 2342. 4 Herbert G i e r s c h , „Allgemeine Wirtschaftspolitik", Bd. 1, Wiesbaden 1960, S.248. B

Erwin von B e c k e r a t h , „Politik und Wirtschaft: ist eine rationale Wirtschaftspolitik möglich?" in: Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F. Bd. 13 (1956), Berlin, 1957, S. 40.

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Herbert G i e r s c h , „Einige Probleme der kleineuropäischen Zollunion" in: Zeitschrift f ü r die gesamte Staatswissensdiaft, Bd. 1 1 3 (1957), S. 602 ff. J . - J . R o u s s e a u , Contrat social, 1762.

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J . A. S c K u m p e t e r , „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie", Bern 1950, S. 452. J . A. S c h u m p e t e r , a.a.O., S. 448. A. D o w n s , „An Economic Theory of Democracy", N e w York, 1957; vergleiche auch: H . G i e r s c h : „Allgemeine Wirtschaftspolitik, Bd. 1, Wiesbaden 1960, S. 239 ff. Max W e b e r , „Wissenschaft als Beruf" in: „Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre", Tübingen 1951, S. 590. W. A. J ö h r , H . W. S i n g e r : „The Role of the Economist as Official Adviser", London, 1955.

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PROBLEME RECHTSWISSENSCHAFTLICHEN E R K E N N E N S AM BEISPIEL DES STRAFRECHTS Von A r m i n K a u f m a n n Die Jurisprudenz ist eine Wissenschaft, die bei tieferer Reflexion sich selbst in Zweifel ziehen muß, der fraglich werden muß, ob das von ihr gemeinte Objekt überhaupt verifizierbar ist, und damit, ob sie selbst als Wissenschaft überhaupt existiert. Gewiß, die Rechtswissenschaft ist Wissenschaft vom Recht. Und mit dem Gegenstand „Recht" verbinden wir alle — Juristen wie Nichtjuristen — eine bestimmte Vorstellung: Recht ist, was vom Staat oder mit seiner Zustimmung zur Regelung des Gemeinschaftslebens geordnet, angegeordnet worden ist, — wie es uns in Gesetzessammlungen und Verordnungsblättern entgegentritt. Von der Verfassung bis zur Rechtsverordnung umfaßt dieser Gegenstand der Jurisprudenz alles geschriebene Recht; fügen wir das ungeschriebene sogenannte Gewohnheitsrecht hinzu — in den Grenzen, die die lex scripta seiner Anwendbarkeit setzt, — so gelangen wi* zum Begriff des sogenannten positiven Rechtes. Und dies meinen wir in der Tat, wenn wir unreflektiert von „unserer Rechtsordnung" oder „dem Recht unseres Staates" sprechen. Freilich zeigt der Begriff „positives Recht" schon an, daß es sich hierbei nur um eine bestimmte Position, um eine Auffassung vom Recht handelt. Wenn es positives Redit gibt, so muß es — so sollte man meinen — auch nichtpositives Recht geben. Und wir sprechen auch wirklich von sogenanntem überpositivem Recht, sei es Naturrecht, göttliches Recht, Vernunftrecht, der Rechtsidee entsprechendes „richtiges" Recht, usf. Positives und überpositives Recht sind nun keineswegs etwa zwei Teile einer ganzheitlichen Rechtsordnung. Im Gegenteil, sie widersprechen sich in ihrem Geltungsanspruch prinzipiell. Der Gegensatz bleibt zwar verborgen, soweit und solange sidi positives und überpositives Recht inhaltlich decken. Er tritt jedoch klar zutage, wenn positives und überpositives Recht widersprechende materiale Aussagen liefern. Und das ist der Regelfall, schon deswegen, weil es auch ein einheitliches überpositives Recht nicht gibt, sondern nur eine schwer überschaubare Zahl von Konzeptionen des „richtigen" Rechts. — Uberpositives Recht bezieht seinen Geltungsanspruch aus der Qualität seines Inhalts oder seiner Herkunft; das positive Recht behauptet zu gelten, weil es da ist, weil es sich durchsetzt, weil es befolgt wird. 10

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Nun ist „geltendes Recht" ein Pleonasmus. Denn die Rechtsordnung als Sollensordnung mit verpflichtender Wirkung existiert überhaupt erst, indem sie gilt, indem sie gültig ist für die Rechtsgenossen. Ist nur das positive, das sich durchsetzende Recht gültig, dann ist überhaupt nur hier Recht. Dem sogenannten überpositiven Recht ist mit der Geltung auch das Recht-Sein schlechthin abgesprochen. Das ist genau die Position des juristischen Positivismus, der in den letzten Dezennien des vorigen Jahrhunderts und in den vier ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts in Deutschland Rechtswissenschaft und Rechtspraxis beherrschte und der, wenn nidit alles trügt, auch heute wieder im Vordringen ist. Zur Ausbreitung des Positivismus haben mannigfache Strömungen beigetragen: Die historische Schule zog das Interesse ab von philosophischer Spekulation und lenkte es hin zu den Rechtstatsachen. Denselben Effekt hatte die Übernahme naturwissenschaftlichen Denkens in die Geisteswissenschaften; sie rückte in der Jurisprudenz als alleinigen Gegenstand empirischer Untersuchung in den Mittelpunkt die Rechtswirklichkeit, eben das angewandte, das sich durchsetzende, das positive Recht. Und der mindestens bis zum ersten Weltkrieg ungebrochene Fortschrittsglaube suchte und fand in der Jurisprudenz seine Bestätigung im liberalen Rechtsstaat; dieser mochte zwar nodi partiell und vorübergehend schlechtes Recht aufweisen; daß aber i/nrecht als Recht positiviert werden könne, das erschien als undenkbar. — Selbst die Philosophie, nämlich die Südwestdeutsche Schule des Neukantianismus, wurde — übersetzt in juristischen Relativismus — herangezogen, um die Stellung des Positivismus zu festigen. Seinen formvollendetsten Ausdruck fand der juristische Positivismus im System der sogenannten reinen Rechtslehre, deren Begründer, Hans K e l s e n , bis heute an dieser Position festhält, trotz seiner neuesten Wendung zur Imperativentheorie. Die reine Rechtslehre macht sich zum konsequenten Vollstrecker des positivistischen Ansatzes: Recht ist nur diejenige Anforderung, für die ein staatlicher Zwangsakt angedroht ist für den Fall der Nichtbefolgung. Und umgekehrt: Rechtlich, einer Rechtspflicht entsprechend ist ein Verhalten immer dann, wenn zu seiner Erzielung staatlicher Zwang angedroht ist. — Damit hängt die die Gültigkeit des Rechts, das Recht-Sein überhaupt, von der Zwangsandrohung ab. Auch für die Rechtswissenschaft werden von der reinen Rechtslehre daraus die Konsequenzen gezogen. Die Jurisprudenz habe sich streng zu beschränken auf jene mit Zwangsandrohung ausgestatteten Normen, auf deren Zergliederung, Systematisierung und Anwendung. Jeder Blick darüber hinaus sei metajuristische Spekulation, sei methodisch illegitim; und eben deswegen nennt sidi diese Theorie die reine Rechtslehre. Der 146

Jurist wird zum bloßen Rechtstechniker, der sich so weit wie möglich dem Ideal der Subsumtionsmaschine zu nähern hat. Selbst die Gesetzgebung ist nicht seine Aufgabe, nicht ein Problem der Rechtswissencbaft, sondern ausschließlich der Politik. Dieses in seiner Klarheit bestechende Bild des positiven Rechts hat freilich niemals der Rechtswirklichkeit entsprochen, auch nicht zu Zeiten der Hochblüte des Positivismus. Selbst wenn wir einmal von der Kennzeichnung des Rechts als durch den Zwang gültig ausgehen, so mußte doch die Jurisprudenz die ihr durch die reine Rechtslehre angelegten Fesseln notwendigerweise sprengen. Denn auch für diese Theorie stellt sich das Problem, für welche Fälle denn eine Zwangsandrohung vorgesehen ist, das Problem der Auslegung des Rechts. Keine Rechtsordnung — auch und gerade nicht die positivistisch gedeutete — ist vollständig in dem Sinne, daß sie für jeden denkbaren Fall eine Lösung parat hätte, eine Lösung, die sich unmittelbar auf den kritischen Fall bezieht. Nun mag man darüber streiten, ob Vollständigkeit im Sinne des Erfassens aller sozialrelevanten Phänomene zum Wesen der Rechtsordnung gehört; das wäre — jedenfalls im Verstände der reinen Rechtslehre — auch bereits eine metajuristische Fragestellung. Jedenfalls aber muß — auch für den Positivismus — negative Klarheit darüber erzielt werden, wo das Recht nicht eingreift, und positive, wie das Erfaßte geordnet ist. Jede juristische Auslegung, die über die grammatische Interpretation hinausgeht, weist aber auch über das positive Recht hinaus. Denn es geht immer um die Frage, ob die positive Regelung einer Fallgruppe, auf eine andere übertragen werden darf, oder gerade nicht. Die Kriterien, nach denen wir uns für die eine oder andere Lösung entscheiden, sind nur scheinbar solche des positiven Rechts; in Wahrheit vermag das sogenannte positive Recht uns für den Streitfall gerade kein Kriterium zu liefern. Dazu ein Beispiel von unzählbar vielen: § 53 des Strafgesetzbuches erklärt in Ubereinstimmung mit § 227 des Bürgerlichen Gesetzbuches die Notwehr für gerechtfertigt. Das heißt, wer in Notwehr handelt, macht sich durch dieses Handeln weder strafbar noch schadensersatzpflichtig. Die Notwehr wird definiert als diejenige Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwehren. — Der Anwendungsbereich dieses sogenannten Rechtfertigungsgrundes hängt nun u. a. entscheidend davon ab, wann ein Angriff „rechtswidrig" ist. In dieser Frage sind mindestens zwei Auslegungen möglich, die beide vertreten werden: Es läßt sich einmal die Rechtswidrigkeit vom Angreifer her bestimmen, indem gefragt wird, wann die Handlung des Angreifers rechtswidrig ist. Zum anderen läßt sich die Rechtswidrigkeit des Angriffs vom Angegriffenen io:

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her sehen, indem gefragt wird, welche Angriffe der Angegriffene nicht zu dulden braucht. Aus dem positiven Recht läßt sich auf diese Frage keine Antwort finden. Der Hinweis etwa, daß es bei der Notwehr um die Kollision von Gütern des Angegriffenen — Leben, Gesundheit, Eigentum — mit Gütern des Angreifers — etwa Leben und Gesundheit — gehe, und daß diese sogenannten Rechtsgüter an einer anderen Stelle in unserer positiven Rechtsordnung geschützt und damit positiv gewertet werden, ist sicher richtig; er besagt aber nichts für unseren Fall: Denn wir haben ja gerade durch Auslegung darüber zu entscheiden, wie diese Kollision von Rechtsgütern in der konkreten Notwehrsituation zu beurteilen ist; und gerade das sagt das positive Recht uns nicht. Die Kriterien, nach denen wir — Rechtsprechung und Wissenschaft — uns hier entscheiden, entnehmen wir unserer juristischen Vernunft. Das heißt: Bei jeder echten Auslegung entwerfen wir ein partielles Konzept vom „richtigen" Recht, wenn auch ein begrenztes. — Jedenfalls aber können wir nicht die Zwangsandrohung zum Kriterium unserer Entscheidung machen; denn darum gerade geht es ja erst, ob und in welchem Umfange der Zwang — etwa die Strafdrohung — Platz greifen soll. So ist es denn auch keineswegs verwunderlich, sondern selbstverständlich, daß in der Argumentation dezidierter Positivisten die Berufung auf die „Natur der Sache" auftaucht oder synonyme Wendungen, die schon durch die Begriffswahl deutlich machen, daß es um mehr geht, als um das Abnehmen des Rechtssatzes von der Vorhandenheit des Zwangsaktes. — Deshalb wird auch die reine Rechtslehre gelten lassen müssen, daß die Jurisprudenz eine normative Wissenschaft im echten Sinne ist. Sie muß dies auch gelten lassen aus einem anderen Grunde. Denn die Quintessenz ihrer Aussage — daß nämlich Recht erst „ist" mit der Existenz der Zwangsandrohung — wird von ihr selbst als Äecfeistheorie bezeichnet. Eine Rechtstheorie aber — und gerade auch eine grundlegende — muß es sich gefallen lassen, von der Rechtswissenschaft auf ihre Haltbarkeit hin geprüft zu werden. Die Geltung des Rechts beweist und bewährt sich in seiner verpflichtenden Kraft. Woher nimmt nun die reine Rechtslehre diese Verpflichtungswirkung ihrer Normen? Der Zwang zwingt, aber verpflichtet nicht. Und die Androhung von Zwang mag zur Erfüllung einer Forderung nötigen, besagt aber gewiß nicht, daß diese Erfüllung zur Rechtspflicht wird. Anders wäre die Forderung des Erpressers eine Rechtsnorm. Nun soll es sich freilich um staatliche Zwangsandrohung handeln, zur Verwirklichung aufgegeben den Staatsorganen, ebenfalls wieder unter diesen angedrohtem Zwang. Aber soll wirklich die penible Ordnung des Konzentrationslagers mit Gaskammer und Verbrennungsöfen rechtliche 148

Ordnung sein mit verpflichtender Wirkung allein um deswillen, weil staatliche Zwangsdrohungen hinter ihr stehen? — Ist nidit überhaupt der Staat erst durch das Recht — und nicht das Recht durch den Staat? Und wenn selbst das Recht erst durch den Staat wäre, wodurch unterscheidet sich der Staat von anderen Machthabem und damit die staatliche Zwangsnorm als Recht von der nackten Gewaltf — Hier hat die reine Rechtslehre kein Kriterium mehr zu liefern, das den Räuberhauptmann vom obersten Staatsorgan und damit das Unrecht vom Recht unterscheiden könnte. — Nicht aus dem Zwang schöpft eine Sollensforderung ihre verpflichtende Kraft und damit die Geltung als Recht, sondern allein aus ihrem Inhalt, ihrem Wert, ihrer inneren Richtigkeit. Das ist im Ansatz auch die Meinung des juristisdien Relativismus, der seine bedeutendsten Vertreter in M. E. M a y e r und Gustav R a d b r u c h gefunden hat. Durch einen eigentümlichen Denkprozeß verwandelt sich dieser Ansatz zunächst in Wertrelativismus und schließlich in juristisdien Positivismus. Der Relativismus der Werte wird zum Absolutismus des positiven Rechts. Der Relativismus geht davon aus, daß es zwar eine Rechtsidee, eine Idee des richtigen Rechts, gibt, daß es aber nicht gelungen ist, diese Rechtsidee mit konkretem Inhalt zu füllen: Wir erkennen zwar Rechtswerte — oder wenigstens Auffassungen, die Rechtswerte prätendieren. Aber wir erkennen nicht, welche Rangordnung unter diesen Rechtswerten besteht und wie die notwendige Kollision unter ihnen zu ordnen ist. — Aus der Unmöglichkeit der Erkenntnis des richtigen Rechts wird dann die Relativität der Rechtswerte abgeleitet. Die Aussage, die hier den Ausgangspunkt bildet, ist — jedenfalls in weitem Umfange — richtig: In der Tat ist es uns nicht gelungen, mit letzter Stringenz konkrete Regelungen als richtiges Recht zu erweisen. Der daraus gezogene Schluß, daß es unmöglich sei, richtige Rechtsinhalte zu erkennen, ist aber schlechterdings falsch. Daraus, daß ich nicht erkannt habe, was richtiges Recht ist, folgt nicht, daß es unmöglich ist, das richtige Recht zu erkennen. Jene These ließe sich nur durch den Nachweis erhärten, daß es prinzipiell unmöglich ist, das richtige Recht zu erkennen. Ein solcher Beweis ist bis heute nicht erbracht worden. (Daß selbst aus der Unmöglichkeit, richtiges Recht zu erkennen, auf die Nichtex/sfewz richtigen Rechts nicht geschlossen werden dürfte, sei am Rande vermerkt.) Auch die Aussage über die Relativität der Reditswerte hängt in der Luft. Denn wie es uns trotz Unmöglichkeit der Erkenntnis doch möglich sein sollte, die Rechtswerte in ihrer Relativität zu erkennen, bleibt ungeklärt. Daß zudem der Satz von der Unerkennbarkeit des richtigen Rechts und der Relativität aller Reditswerte rechtspolitisch höchst gefährlich ist, das ist evident. Denn er raubt uns die geistige Wehr gegenüber allem, 149

was mit der Behauptung auftritt, das „richtige" Recht zu sein; relative Richtigkeit dürfte diesem ja niemals abgesprochen werden. Nun scheint der juristische Relativismus — rechtspolitisch gesehen — bei allem Negativen wenigstens das eine Positive zu enthalten, daß nämlich die relativistische Position auch gegenüber dem positiven Recht einzunehmen ist. Audi das sogenannte positive Recht könnte — so sollte man meinen — nur relativ richtige Werte verkörpern, nur relative Geltung beanspruchen. Indessen, gerade an dieser Stelle schlägt der Relativismus um in Positivismus: Weil das Nebeneinander verschiedener Auffassungen über richtiges Recht unerträglich sei und die Wissenschaft keine verbindliche Auswahl vornehmen könne, müsse eine dritte Instanz — die Macht, der Staat — die Entscheidung treffen. Anders, mit den Worten R a d b r u c h s , ausgedrückt: „Das Recht . . . gilt, wenn es sich wirksam durchzusetzen vermag." Aber damit wird nur den schon bestehenden Widersprüchen ein weiterer hinzugefügt: Denn wenn wir nicht wissen, was Recht ist, und es sogar unmöglich sein soll, das zu erkennen, wie können wir dann zu der Erkenntnis gelangen, daß die sich durchsetzende Ordnung die Rechtsordnung ist? Entweder wir haben prinzipiell die Möglichkeit zu erkennen, was Recht ist; dann wäre es ja immerhin denkbar — wenn auch bis heute ganz unbewiesen — daß gerade das sich Durchsetzende auch gültiges Recht (und' damit überhaupt erst Recht) ist. Oder aber wir haben — der relativistischen Grundposition entsprechend — diese Erkenntnismöglichkeit nicht; dann ist es auch unmöglich, auszusagen, daß das sogenannte positive Recht überhaupt Recht ist. Tertium non datur, — es sei denn, auch den Satz, daß Möglichkeit und Unmöglichkeit sich gegenseitig ausschließen, erwiese man als nur relativ richtig. Zur Begründung des juristischen Positivismus wird noch ein weiterer Gesichtspunkt herangezogen, gerade auch von den Relativisten, aber nicht nur von ihnen: Jede sich durchsetzende Ordnung gewähre wenigstens eines, nämlich Rechtssicherheit. Und diese Sicherheit durch Ordnung sei ein eigenständiger, dem Rechte eigentümlicher hoher Wert, der für sich allein schon die Gültigkeit und verpflichtende Kraft der effektuierten Ordnungsformen, eben des positiven Rechts, zu tragen vermöge. In der Tat scheint es die Grundfunktion jeder Rechtsordnung zu sein, daß der Rechtsfrieden hergestellt, daß Rechtssicherheit geschaffen wird und daß das bellum omnium contra omnes ein Ende findet. Aber dieser Gedankengang setzt das bereits voraus, um was es allererst geht. Schon der Begriff sagt das im Grunde genommen: Rechtssicherheit ist Sicherheit des Rechts; wo nicht das Rechte — sondern etwa das ¿/«rechte — gesichert wird, da mag zwar Sicherheit in hohem Maße herrschen, aber niemals Rechtssicherheit. Die perfekte Sicherheit der Todesordnung im KZ ist keine Rechtssicherheit; und die effektive Ord150

Illing, die diese Sicherheit erreicht, ist nicht Teil der Rechtsordnung. — Nicht aus der Sicherheit, die sie gewährt, sondern allein aus den Werten, die sie sichert, kann eine Ordnung ihre verpflichtende Kraft und daher ihren Charakter als Rechtsordnung ableiten. Das aber gerade will der Tositivismus vermeiden. Der Rekurs auf die Rechtssicherheit enthält freilich eine Wahrheit, wenn auch keine normative, sondern eine statistisch-historische: Die Mehrzahl aller Ordnungen schützt wenigstens teilweise echte Rechtswerte. Und indem idi diese Ordnung angreife, um sie in ihrem unrechten Teil durch eine bessere zu ersetzen, gefährde oder verletze ich häufig gerade jene Güter, die Rechtsgüter sind. Hier ruht die Problematik jeglichen Widerstandes, jeglicher Auflehnung gegen eine effektuierte Ordnung. Aus alledem ergibt sich, daß sich der juristisch« Positivismus nicht begründen läßt. Im Gegenteil — die Begründungsversuche machen deutlich, daß die Richtigkeit dessen, was als Recht bezeichnet wird, bereits vorausgesetzt wird. Es erweist sich, daß die verpflichtende Kraft einer an den Menschen herantretenden Forderung sich nur aus deren Inhalt ergeben kann, aus der Richtigkeit, aus der Werthaftigkeit des Geforderten. Auch die äußere Eindruckskraft des Positivismus hat sich erheblich vermindert nach den Erfahrungen des Dritten Reiches und der Zeit danach. Der an die Wurzeln des Rechts greifenden Problematik des Unrechtsstaates, die sich damals stellte — und heute noch stellt —, war der Positivismus nicht gewachsen. Wir konnten deshalb seit dem Kriege eine Rückbesinnung auf überpositives Recht beobaditen, eine neue Blüte der Konzeptionen des Naturrechts im weitesten Sinne dieses Wortes. Gleichwohl befinden wir uns bei diesem Ringen um das richtige Recht in einer mißlichen Lage, die, wenn sie falsch verstanden wird, — und sie ist bereits mißdeutet worden — zu einer Neubelebung des Positivismus führt (und schon geführt hat). Die rechtsphilosophische Situation ist heute die: Es haben sich gesicherte Aussagen über konkrete rechtliche Inhalte nicht gewinnen lassen. Es ist bislang nicht gelungen, mit einer Stringenz, die jeder Kritik standhält, zu erweisen, wie eine genügend konkretisierte Situation des menschlichen Zusammenlebens richtig und notwendig zu ordnen ist. Vielleicht ist in allgemeine Prinzipien Einsicht gewonnen worden. Sobald es aber um die Konklusionen geht — und diese allein zählen letztlich in der Jurisprudenz —, fehlt die letzte Stringenz. W e 1 z e 1 hat für die Naturrechtskonzeptionen alter und neuer Prägung nachgewiesen, daß sich aus ihnen keine unwiderlegbaren Einsichten in die Richtigkeit konkreter rechtlicher Gehalte gewinnen lassen. Und W e i s c h e d e l hat eindrucksvoll dargelegt, daß auch der Rüdegriff auf die philosophische Ethik versagt; audi die Ethik — bis hin zur materialen Wertethik H a r t m a n n s oder S c h e l e r s — hat kein schlüssig be151

wiesenes System von Werten oder gar von Regeln für die Kollisionsfälle anzubieten. Lassen Sie midi die Problematik, um die es hier geht, an einem im Verhältnis recht einfachen Beispiel verdeutlichen: Recht bedeutet Regelung menschlichen Zusammenlebens. Im Mittelpunkt der Rechtsordnung steht deshalb als deren Subjekt und als Träger vielfältiger Bezüge der Mensch, in seiner spezifisch menschlichen Existenz. Ich kann diesen Gedanken mannigfach variieren und daraus folgern, daß die Rechtsordnung itrr eigenes Subjekt, den Menschen, nicht vernichten darf, sondern gerade schützen muß. Das scheint zu bedeuten, daß damit das Tötungsverbot unmittelbar einsichtig gemacht und allem Zweifel enthoben ist. Genau genommen aber ist bewiesen nur dies: Daß eine Ordnung, die unter allen nur denkbaren Umständen das Töten aller anderen Menschen erlaubt oder gar gebietet, keine i?ec&isordnung ist. — Vielleicht ließe sich nun doch sagen, daß damit die Notwendigkeit des Tötungsverbotes erwiesen sei. Wenn ja, dann aber jedenfalls nur im Ansatz, als ein oberstes Prinzip, das der Konkretisierung erst noch harrt. In der Fragestellung des Juristen: Die Regel hör ich wohl; allein mir fehlt die Ausnahme! — Wie steht es mit der Zulässigkeit der Todesstrafe? Wie mit der Tötung des Feindes im Kriege? Wie mit der Tötung in Notwehr, um auf dies Beispiel zurückzukommen? Darf ich töten, um mein Eigentum zu verteidigen? Einst hatte P u f e n d o r f i m Namen des natürlichen Rechts das rigorose Notwehrrecht gefordert nach dem Grundsatz: „Das Redit braucht dem Unrecht nicht zu weichen!" — gegen das damalige positive Recht. Heute, nachdem schon lange das positive Recht den Notwehrgrundsatz in all' seiner Schärfe übernommen hat, ist er uns zweifelhaft geworden, zumindest in seinem Umfang. Dazu ein Beispiel, das die meisten Juristen unter Ihnen als Schulfall kennen werden: Ein Knabe sitzt im fremden Kirschbaum und stopft sich Mund und Taschen voll. Der gelähmte Bauer, der das vom fernen Fenster seines Hauses sieht, hat keine andere Möglichkeit, diesen rechtswidrigen Eingriff in sein Eigentum abzuwehren, als den Knaben durch einen wohlgezielten Schuß zu töten. — Nach dem Wortlaut des Gesetzes ist kein Zweifel, daß berechtigte Notwehr vorliegt. Will ich den Fall ins Groteske heben, so ersetze ich den Knaben durch einen Affen, der gerade dem Zirkus entsprungen ist. Bei Sachen nämlich — und zu diesen zählt der Affe — ist die Zerstörung nicht zulässig, wenn sie außer Verhältnis zum drohenden Schaden steht. Den Affen also dürfte der Bauer nicht töten. Nun, ich darf Sie beruhigen. Wir entscheiden heute fast einmütig so, daß auch das Töten des Knaben nicht vom Notwehrrecht gedeckt wird. 152

Wir entscheiden uns damit gegen das positive Gesetz, wenn auch mit unterschiedlicher Begründung. Und das nimmt nicht wunder. Denn ob diese Entscheidung die richtige ist und wie überhaupt der Umfang des Notwehrrechts richtig zu bestimmen ist, das ist bislang nicht unwiderlegbar dargetan. — Vielleicht bietet sich für solche zweifelhaften Fälle ein Rückgriff auf das Gewissen an; könnten wir doch im Gewissen einen Ort für metaphysische Erfahrung besitzen. Dieser Rekurs ist verbreitet, und mit dem richtigen „Wertgefühl" bei Nicolai H a r t m a n n , mit dem „Rechtsgefühl" bei vielen Juristen oder mit dem „Urerlebnis des Sollens" bei L a u n ist wohl eben dies gemeint. Ich kann auf die erkenntnistheoretische Problematik hier nicht eingehen. Nur soviel sei bemerkt: Ge-wissen kommt nicht zufällig von Wissen. Ohne vorhandenes Wissen oder neues Wissen, das in „gewissenhafter" Prüfung gewonnen ist, kommt keine Gewissensentscheidung zustande; das bestätigt uns Strafjuristen jeder Fall eines Uberzeugungstäters. — Auch Gewissensznspznnung ist also ein Erkenntnisakt und bedarf wie jede Erkenntnis des Beweises. Um diesen aber gerade geht es uns. — Die Zweifel, die sich sogar bei einem so hohen und evidenten Rechtsgut wie dem menschlichen Leben nicht ausräumen lassen, belegen die Problematik des Ringens um das richtige Recht: Daß es nicht gelungen ist, für konkrete Situationen des menschlichen Zusammenlebens die jeweils richtigen Regelungen schlüssig nachzuweisen. Aus diesem gegenwärtigen Stande der Dinge folgt m. E : 1. Daß sich konkrete Rechtsgehalte nicht haben beweisen lassen, sagt nichts über die Möglichkeit, noch Erkenntnis zu gewinnen, und erst recht nichts über die Existenz des Rechts. Unkenntnis darf nicht mit Unmöglichkeit der Erkenntnis noch gar mit Nichtexistenz des Objektes des Erkennens gleichgesetzt werden. 2. Eine Rückkehr zum Positivismus ist versperrt, und dies erwiesenermaßen. 3. Der Rechtswissenschaft bleibt die Aufgabe gestellt, sich auch weiterhin um die Erkenntnis der jeweils richtigen rechtlichen Regelungen zu bemühen. Sie unterzieht sich dieser Aufgabe all-täglich — teils bewußt, teils unbewußt —, indem sie sich um richtige Auslegung bemüht anhand von Kriterien, die dem sogenannten positiven Recht gerade nicht entnommen werden können. 4. Speziell die Rechtsphilosophie sollte sich noch eine andere — vielleicht bescheidenere — Aufgabe stellen: Wenn es schon bis heute nicht gelungen ist, das jeweils richtige „Wie" rechtlicher Regelung nachzuweisen und auf diese Weise alles Nicht-Redit als nicht richtig vom Recht säuberlich zu scheiden, so könnte es doch leichter gelingen, wenigstens einen 153

Teil des Nichtrechts anhand positiver oder negativer Kriterien auszusondern. Diese Fragestellung ist einfacher; es geht nur um Kriterien, die das Recht aufweisen muß oder nicht aufweisen darf, ohne daß es dadurch schon präzise mit Inhalt gefüllt wäre. Sollte es etwa nicht gelingen, stringent darzutun, daß die Regeln, nach denen innerhalb einer Räuberbande die Beute verteilt wird, keine Rechtsnormen sind und daß die Todesordnung des K Z nicht Teil der Rechtsordnung ist? — Ansätze dazu sind in der Ethik, in den Naturrechtslehren und in der Rechtsphilosophie vorhanden. 5. Aus der Diskussion um den richtigen Inhalt, der jeweils die Regelung erst zur Rechtsnorm macht, müssen Probleme ausgeschieden werden, die sachlich und methodisch ganz anders gelagert sind und deren Mitbehandlung nur zu Irrtümern führt. Diesem Gesichtspunkt wollen wir uns nunmehr zuwenden. W e 1 z e 1 hat in seiner Analyse der Naturrechtslehren — und schon früher — auf sogenannte „sachlogische Strukturen" hingewiesen, die allererst das Substrat rechtlicher Regelung bilden und in ihrer Seinsbeschaffenheit, in ihrer Struktur, der Reditsnorm als deren Gegenstand vorgegeben sind. — Liege es nun an dem Ausdruck „Sachlogik" oder liege es an dem Zusammenhang mit den Naturrechtslehren, die dieses Problem auch behandeln, — jedenfalls ist das Mißverständnis aufgekommen, es gehörten diese sachlogischen Strukturen in einen Topf mit der „Natur der Sache" und würfen dieselben oder doch gleiche Probleme auf, wie sie eben behandelt wurden. Indessen ist die Fragestellung und vor allem auch die Methode ihrer Beantwortung bei diesen „sadilogischen Strukturen" eine radikal verschiedene. Wir müssen differenzieren: Bislang galt unser Fragen dem riditigen Inhalt einer Regelung, der Wertung, die in dieser Inhaltsbestimmung steckt und die überhaupt erst der Anforderung ihre Verpflichtungskraft und damit ihr Rechtsein verleiht. So fragten wir nach dem richtigen Umfang des Notwehrrechtes. Und so können wir danach fragen, ob die Einehe ein Rechtsgut ist, ob der Ehebruch rechtlich mißbilligt und verboten ist, ob der Ehebruch strafwürdig ist, ob man auch die fahrlässige Sachbeschädigung mit Strafe belegen sollte, usw. Dieses Fragen nach den jeweils einzelnen Wertungen bewegt sich im Bereich der reinen Axiologik. Neben dieser axiologischen Frage stellt sich aber noch ein anderes Problem: Wie ist der Zweck der Einzelwertung, das Ziel der jeweiligen Regelung zu erreichen? — Und an dieser Stelle setzt die Bindung des Rechts an das ein, was als „sachlogische Struktur" bezeichnet wird. Will das Recht das werdende Leben schützen, so wird es — unter anderem — den Frauen verbieten, Fehlgeburten herbeizuführen. Ein Verbot, Fehlgeburten zu bekommen, wäre ebenso sinnlos wie ein Verbot an den Schnee, sich zur Lawine zu ballen. Nicht Kausalpro154

zesse können geboten oder verboten werden, sondern nur Handlungen. Hier steht das Recht gar nicht vor einer Wahl, die etwa durch Wertung entschieden werden könnte; es muß sich die spezifisch menschliche Fähigkeit, sich an Zwecken zu orientieren und nach Zwecken tätig zu werden, zu eigen machen. Es kann nicht gebieten, ursächlich zu werden, sondern nur gebieten, willentlich zu handeln, final zu handeln. Kurz: Die Seinsstruktur der menschlichen Handlung bestimmt die mögliche Struktur des Gegenstandes der Gebote. Ob eine bestimmte Handlung geboten wird, entscheidet die Wertung, gehört zum axiologischen Bereich. Daß das Gebotene stets die Struktur zwecktätigen menschlichen Handelns aufweisen muß, ist sachlogisch, nämlich durch die Seinsstruktur vorgezeichnet. Die den Objekten von Geboten oder Verboten vorgegebene Struktur bestimmt entsprechend — nur jeweils umgekehrt — den Gegenstand der Gebots- oder Verbotswidrigkeit: Das Rechtswidrigkeitsurteil — soweit es überhaupt menschlichem Verhalten gilt und nicht bloß Zuständen oder Ereignissen — bezieht sich notwendig auf finale Handlungen oder deren Unterlassungen. Mehr als diese sachlogische Struktur der Handlung interessiert in unserem Zusammenhang eine andere, die damit freilich eng verknüpft ist. Der modernen Verbrechenslehre ist es gelungen, Einsicht zu gewinnen in die Mindestvoraussetzungen, unter denen wir den Menschen für sein Verhalten verantwortlich machen können. Wir wissen heute — und stimmen übrigens darin fast völlig überein —, unter welchen Voraussetzungen beim Vorliegen welcher Phänomene wir einen Schuldvorwurf erheben dürfen, wann wir sagen dürfen, ein Mensch habe für sein Verhalten einzustehen, weil er sich anders — nämlich normgemäß — hätte verhalten können. Diese Einsicht ist nur zum Teil eine unmittelbare Leistung der Strafrechtswissenschaft. Das Wesentliche stammt aus der Empirie, aus der Psychologie, aus der Tierpsychologie, aus der Psychiatrie, aus der Anthropologie schlechthin. Das ist in Einzelheiten hier nicht nachzuzeichnen. In die Begriffssprache unseres Gesetzes übertragen lautet — formelhaft — das Ergebnis: Schuld trifft nur denjenigen Täter, der in der Lage war, das Unrecht seiner Tat zu erkennen und sich gemäß dieser Unrechtseinsicht zu motivieren. Diese Einblicknahme in die Struktur „Schuld" hat uns instand gesetzt, z. B. die vom Reichsgericht bis zuletzt judizierte These des: „error iuris nocet" zu überwinden. Nach dieser Lehre wurde auch derjenige für schuldig erachtet und bestraft, der das Verbotensein seines Handelns weder kannte noch erkennen konnte. Heute hingegen trifft denjenigen, der sich in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befand, nach einmütiger Rechtsprechung und Lehre keine Schuld. 155

Nun wird von dieser Schuldstruktur sowohl bei manchen juristischen Autoren wie auch vom Bundesgerichtshof in Formulierungen gesprochen, die einem bestimmten sogenannten „Menschenbild" entstammen oder auf dieses verweisen; sei es nun das Menschenbild des Humanismus, der Kantischen Ethik oder des christlichen Naturrechts. Das hat diesem Menschenbild die berechtigte Kritik W e i s c h e d e l s eingetragen. Denn diese sogenannten Menschenbilder stehen und fallen mit den ethischen und rechtlichen Aussagen, mit denen sie zusammenhängen. Und insoweit gerade befinden wir uns in der gekennzeichneten mißlichen Situation, daß sich diese Ordnungsinhalte nicht als richtig hatten verifizieren lassen. In der modernen Schuldlehre geht es aber gar nicht um diese Bilder, sondern um die Schul ¿struktur selbst. Um beim sogenannten Menschenbild im Bilde zu bleiben: Der Strafrechtswissenschaft liegt eine empirisch gewonnene Röntgen-Aufnahme vom menschlichen Personaufbau vor. Nicht aber handelt es sich um ein Gemälde, das je nach dem Ideal des Malers die Pinselstriche in dieser oder jener Richtung verzerrt. An die vorliegende Röntgenaufnahme ist das Strafrecht gebunden. Wie der Arzt nicht willkürlich das Auge verschließen darf vor dem, was ihm die Röntgenaufnahme zeigt, so muß auch das Strafrecht das ganze, empirisch gewonnene Röntgenbild zugnmdelegen. Das ist gemeint, wenn von der „Sachlogik" der Struktur der Schuld gesprochen wird. Eine Frage der Wertung, der Axiologik, ist es zwar, ob nur Schuldige bestraft werden dürfen — oder auch ¿/»schuldige. Wenn aber ohne Schuld keine Strafe sein darf — und davon ist die ganze deutsche Strafrechtswissenschaft überzeugt —, dann ist das Strafrecht an die Einsicht in die sachlogische Struktur der Schuld gebunden. — So wissen wir nun zwar, wann Schuld sein kann; aber wir haben keine letzte Gewißheit darüber, ob das zur Schuld Vorgeworfene auch jeweils nach seinem konkreten Inhalt rechtswidrig ist. Und eben hierin zeigt sich die Verantwortung wie die Verdammnis der Jurisprudenz als einer zugleich normativen und praktischen Wissenschaft: Daß wir Recht sprechen müssen, ohne die letzte Sicherheit, auch das Rechte zu sprechen.

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VON DEN K R I T I S C H E N UND KONSERVATIVEN AUFGABEN DER SOZIOLOGIE Von J ü r g e n

Habermas

Wenn man heute aufgefordert ist, über die praktisch relevanten Aufgaben der Soziologie zu sprechen, liegt die Versuchung nahe, sich in die Rolle eines Handelsreisenden für empirische Sozialforschung drängen zu lassen; die public-relation-Techniken, die man sonst bei anderen untersucht, bieten sich dann zum eigenen Gebrauch. Ich möchte mich dieser Neigung zur soziologischen Selbstpropaganda entziehen. Ich werde Ihnen deshalb nicht erläutern, was die Soziologen inzwischen alles können, sondern unterstellen, daß wir ein Verkaufsgespräch über die soziale Nützlichkeit dieses Faches schon absolviert und von seiner Leistungsfähigkeit ein optimistisches Bild gewonnen haben. In die Dimension unserer Fragestellung sind wir damit noch nicht gelangt. Praktisch vorgegebene Fragen können Soziologen mit technischen Empfehlungen beantworten, die sie aus einer methodisch strengen Analyse von Wenn-Dann-Beziehungen gewinnen. An der organisatorischen Verwertbarkeit solcher Empfehlungen bemißt sich nun der kritische oder konservative Charakter einer Soziologie noch nicht. Der hängt vielmehr davon ab, ob die Forschungsinstrumente per se im Dienste der bestehenden Institutionen und Autoritäten beansprucht werden — oder ob sie auch mit dem Ziel verwendet werden, auf deren Veränderung oder gar Auflösung hinzuwirken. Carl Brinckmann hat in diesem Sinne die Soziologie als OppositionsWissenschaft reklamieren wollen; wir werden aber sehen, daß sie gleichermaßen eine Stabilisationswissenschaft gewesen ist. Vorerst sei dahingestellt, ob dieser historisch richtige Sprachgebrauch heute noch sinnvoll ist. Jedenfalls stößt, wer der Soziologie überhaupt noch kritische oder konservative Aufgaben dieser Art zumutet, auf energischen Widersprudi. Als eine Erfahrungswissenschaft, die sich in ihrem logischen Aufbau und den methodischen Verfahrensweisen an die Regeln empirisch-theoretischer Systeme hält, oder zu halten wenigstens bestrebt ist, bleibt die Soziologie gegenüber den möglichen politischen Folgen ihrer in die Praxis umgesetzten Ergebnisse neutral. Wohl mag sie, so lautet ein Gegenargument, nachträglich die politische Relevanz ihrer Auswirkungen in der Praxis wiederum zum Gegenstand der Untersuchung erheben; sie kann aber diese Wirkungen nicht von vornherein als ihre eigene Aufgabe wollen. Es sei denn, Soziologie würde das positivistische 157

Wissenschaftsmodell, dem sie heute, mit einigen, wenn auch nicht unbedeutenden Ausnahmen, verpflichtet ist, sprengen. Innerhalb dieses wissenschaftstheoretischen Selbstverständnisses bleibt dem Soziologen allenfalls der Spielraum seiner Doppelrolle als Wissenschaftler und Staatsbürger: er kann die Aufgaben, die er soziologisch bearbeiten möchte, nach Gesichtspunkten politischer Relevanz auswählen, aber auf die wissenschaftliche Arbeit selbst kann dann eine solche staatsbürgerliche Vorentscheidung keinen Einfluß haben. Diesem Selbstverständnis der Soziologie liegen die berühmten Unterscheidungen Max Webers zugrunde. Jedoch nicht an diese Diskussion, die die Sozialwissenschaften von Motiven der Gesellschaftspolitik reinigen sollte, möchte ich anknüpfen. Fürs erste ist die Frage nach den kritischen und den konservativen Aufgaben der Soziologie nur aus dem Gang ihrer eigenen Geschichte legitimiert. Wir vergewissern uns daher zunächst wissenschaflshistoriscb, wie ursprünglich die Soziologie ihr politisches Verhältnis zur etablierten Ordnung begriffen hat. I. Die Soziologie hat sich, zusammen mit der Ökonomie, während des 18. J h . vom Corpus der praktischen Philosophie gelöst. Die Tradition der klassischen Lehre von der Politik hatte damals freilich schon, bei den Schotten, die utilitaristisch modernisierte Gestalt der Moralphilosophie angenommen. Diese war ihrerseits in Auseinandersetzung mit der Sozialphilosophie eines Hobbes entwickelt worden — : die natürliche Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft, die im rationalen Naturrecht noch juristisch mithilfe des Vertragsinstruments konstruiert worden war, suchte die Schule der schottischen Denker alsbald „historisch" zu begreifen. Hume hatte die Frage noch moralphilosophisch gestellt: wie wäre eine wissenschaftliche Politik möglich, wenn nicht die Gesetze und die Einrichtungen der Herrschaft einen uniformen Einfluß auf die Gesellschaft ausübten; wie wäre eine wissenschaftliche Grundlegung der Moral möglich, wenn nicht bestimmte Charaktere entsprechende Gefühle, und diese wiederum, in einem konstanten Verhältnis, Handlungen determinieren würden? 1 Die drei großen Schotten der zweiten Jahrhunderthälfte, Adam Smith, Adam Ferguson und John Miliar, geben darauf bereits eine soziologische Antwort: die bürgerlichen Gesetze und die Einrichtungen der Herrschaft seien ebenso wie das Verhalten der Menschen, ihre Gefühle und Bedürfnisse, abhängig vom State of society; und diese gesamtgesellschaftliche Verfassung bestimme sich je nach dem Entwicklungsstand in der Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. J o h n Miliar hat den Grundsatz formuliert, der es diesen ersten „Soziologen" erlaubte, die natural history of civil society als einen gesetzmäßigen Zusammenhang zu begreifen: die Menschengat158

tung sei von N a t u r aus dazu disponiert, ihre Lebensumstände zu verbessern; und die Gleichartigkeit ihrer Bedürfnisse habe ebenso wie die Gleichheit der Fähigkeiten, diese Bedürfnisse zu befriedigen, überall zu einer bemerkenswerten Gleichförmigkeit in den Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung geführt 2 . Dieser evolutionistische Begriff der Gesellschaft macht es dem Soziologen zur Aufgabe, die Naturgeschichte der menschlichen Gattung als eine histoire raisonné zu schreiben. Ursprünglich stellt also Soziologie den Anspruch einer theoretical oder philosophical history, die die vom Historiker festgehaltenen Erscheinungen in ihrer inneren Gesetzmäßigkeit begreift, damit Pädagogen und Politiker jene gesellschaftlich sich zugleich wandelnden und anreichernden Traditionen ergreifen und in eine gewünschte Richtung lenken können. Der Wandel der Traditionen vollzieht sich zwar meist naturwüchsig in der Art einer unbewußten Anpassung der Menschen an wediselnde Lagen. Weil Miliar ihn aber gesetzmäßig als einen Fortschritt in der Zivilisierung der Menschheit, weil er ihn aus dem Zusammenhang mit den Methoden der gesellschaftlichen Arbeit und den Ordnungen privaten Eigentums, mit dem System der sozialen Schichtung und der politischen Herrschaft zu erkennen glaubt, scheint sich die Entwicklung auch f ü r den modifizierenden Eingriff, f ü r bewußte Hemmung oder Beschleunigung zu öffnen. Unter diesem Gesichtspunkt beurteilt Miliar auch die englische Politik seines Jahrhunderts: die Tory-Politik stütze sich auf die Autorität der bestehenden Institutionen und auf das Interesse der previlegierten Klassen; sie halte am status quo fest, während sich die Whig-Politik an Gesichtspunkten der sozialen Nützlichkeit orientiere. In diesem Streit zwischen authority und Utility nimmt die Soziologie durchaus Partei, aber nur die Partei, die die von ihr entdeckte und begriffene Naturgeschichte der Gesellschaft selbst vorschreibt: „Wenn wir historisch das Ausmaß des Tory- und des Whigprinzips untersuchen, ist es evident, daß mit den Fortschritten von Gewerbe und Handel jenes nach und nach verschwindet und dieses im gleichen Verhältnis Boden gewinnt . . . Seit jener Zeit (der großen Revolution) gab es einen stetigen Fortschritt der öffentlichen Meinung. Die Philosophie . . . hat ihre Forschungen auf politischem Gebiet vorangetrieben . . . Die Mysterien der Herrschaft sind immer mehr entschleiert worden; und die Umstände, die zur Perfektion der gesellschaftlichen Ordnung beitragen, sind bloßgelegt worden. Die Regierung . . . erscheint nun als der eigentliche Diener des Volkes, dazu bestellt, um die große politische Maschine zu übernehmen und in Bewegung zu halten . . . Die Gewohnheit, öffentliche Maßnahmen auf ihre gesellschaftliche Nützlichkeit hin zu prüfen, ist universell geworden; sie beherrscht die literarischen Zirkel und den Großteil des Mittelstan159

des, und dringt nun auch in die unteren Klassen vor." 3 Miliar schließt mit der Behauptung: „ . . . und wenn ein Volk weithin damit beschäftigt ist, die Vorzüge verschiedener politischer Ordnungen zu diskutieren, fühlt es sich am Ende zu dem System hingezogen, das zur Angleichung der gesellschaftlichen Ränge und einer Verbreitung der bürgerlichen Gleichheitsrechte tendiert" — das ist also der Weg, den die soziologisch dechiffrierte Naturgeschichte der Menschheit stillschweigend und mit der Kraft natürlichen Wachstums ohnehin nimmt. Die Soziologie der schottischen Moralphilosophen richtet sich gegen den blinden Respekt vor bestehenden Institutionen und Autoritäten; sie förderte insofern eine kritische Untersuchung ihrer Nützlichkeit und ihrer Fehler. Aber gleichzeitig weiß sie die Tradition als die ruhige Grundlage einer kontinuierlichen Entwicklung; sie stellt die Naturwüchsigkeit des Fortschritts nicht grundsätzlich in Frage und ist insofern konservativ zugleich — ihre Kritik hält sich im Einklang mit dem Konservatismus der Naturgeschichte selbst. Typisch ist dafür Millars Urteil über die französische Revolution: „Im großen und ganzen ist klar, daß die Verbreitung des Wissens das Prinzip der Utilität in allen politischen Diskussionen fördert; aber wir dürfen daraus nicht schließen, daß der Einfluß bloßer Autorität, die ohne Reflexion wirkt, vollkommen unnütz wäre." 4 Die Gehorsamsbereitschaft der breiten Masse sei ein brauchbares Korrektiv gegen Aufruhr und voreilige Neuerungen. — Die kritische Absicht der ersten Soziologen überschritt niemals die Grenzen des konservativen Grundsatzes ihres gemeinsamen Lehrers David Hume: liberty is the perfection of civil society; b u t . . . authority must be acknowledged essential to its very existence 5 ." Wir haben an diese Anfänge der Soziologie erinnert, um die eigentümliche Verschränkung ihrer zugleich kritischen und konservativen Intentionen zu zeigen. Sie ist damals schon im eminenten Sinne Gegen-wartswissenschaft. Sie begreift die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Gattung aus der Perspektive des englischen 18. Jh.s. Ihr Thema ist die civil society, die sich unter dem Parlamentsabsolutismus einer durch kapitalistische Interessen zunehmend verbürgerlichten Aristokratie als eine eigentümliche, und in ihrer Eigengesetzlichkeit alsbald erkennbare Sphäre des Sozialen verselbständigt. Die Emanzipation der bürgerlichen. Gesellschaft vollzieht sich auf der Basis der Revolutionsordnung von 1688. Diese Entwicklung macht die neue Soziologie nicht nur zum Untersuchungsgegenstand, sie selbst begreift sich als deren Teil. Sie bleibt sich insofern ihres gleichsam whiggistischen, ihres eigenen revolutionären Ursprungs bewußt. Sie verfolgt fraglos ein kritisches Interesse — nämlich die Aufklärung der ebenfalls im 18. Jahrhundert sich bildenden politischen Öffentlichkeit von Privatleuten, und zwar betreibt sie deren Aufklärung im Sinne eines natürlichen Fort160

Schritts des bürgerlichen Verkehrs nach Maßstäben gesellschaftlicher Nützlichkeit. Gleichwohl ist dieses erkenntnisleitende Interesse, eben auf der Grundlage der gelungenen Revolution, auch konservativ. Die evolutionäre Entfaltung der revolutionär freigesetzten Kräfte hat den Fortschritt, wie es scheint, selbst zur zuverlässigsten Tradition gemacht. Diese Tradition des Fortschritts gilt es ebenso gegen den voreiligen Abbau sozial nützlicher Autoritäten zu konservieren, wie auch kritisch abzusichern gegen die blinde Behauptung der historisch überfälligen Autoritäten. II. Geschichte bleibt Naturgeschichte, weil der Zusammenhang von authority und Utility im natürlichen Fortschritt der Gesellschaft zur bürgerlichen Freiheit objektiv so gewahrt zu sein scheint, wie in der Theorie, die ihn zum Thema hat. E r zerreißt erst, als mit der französischen Revolution in der politischen Form des Bürgerkriegs der soziale Gehalt eines Klassenkampfes sichtbar wurde, der von den Triebkräften der industriellen Revolution dann auch ins folgende Jahrhundert hinübergetragen wird. Erst seitdem ist Soziologie eingestandenermaßen Krisenwissenschaft: „Die ganze und nackte' Wahrheit, die unter den heutigen Umständen gesagt werden muß, lautet: der Augenblick der Krise ist gekommen 8 ". Dieses Wort des Grafen St. Simon ist ausschließlich in kritischer Absicht gesprodien; in genau entgegengesetzter Absicht könnte ihm darin sein konservativer Gegenspieler, de Bonald, zugestimmt haben. Wie St. Simon stammt er aus einer alten Adelsfamilie; wie bei diesem ist die Sensibilität f ü r den sozialen Zusammenhang der politischen Ereignisse sozusagen Mitgift der Lebensgeschichte: die beiden Zeitgenossen sind von Haus aus zu einer A r t der Betrachtung genötigt worden, die auf dem Kontinent Soziologie erst begründet. Hier, im nachrevolutionären Frankreich der zurückgekehrten Bourbonen, wird Soziologie sogleich in zwei unversöhnlichen Versionen entworfen, als Oppositionswissenschaft von St. Simon, als Stabilisationswissenschaft par excellence von de Bonald. Beide wollen gleichermaßen dazu beitragen, die mit der Revolution eingeleitete, seitdem permanent gewordene Krise zu lösen; beide deuten diese Krise als eine soziale Umwälzung — nämlich als die Loslösung einer im engeren Sinne sozialen, durch Interessen des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit zusammengehaltenen Sphäre, von einer politischen Ordnung, deren Legitimation bis dahin unmittelbar und im wesentlichen unangefochten in der gesellschaftlichen Hierarchie verwurzelt gewesen war. J e nachdem, ob diese Loslösung, diese Trennung der Gesellschaft vom Staat, als Emanzipation oder Anarchie gedeutet wird, tritt Soziologie in den Dienst von

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„Industrialismüs" oder „Traditionalismus" — beide Worte werden damals erst geprägt. St. Simon möchte die Revolution durdi eine Organisation der Gesellschaft epochal vollenden; de Bonald durch eine „Rekonstitution" der Gesellschaft zur vergänglichen Episode stempeln. Während St. Simon die Sphäre der gesellschaftlichen Arbeit ganz von den bloß politischen Gewalten befreien, und einer Selbstverwaltung der leitenden Industriellen unterstellen möchte — damit die Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens rational geregelt und der soziale Nutzen f ü r alle Werktätigen maximiert werden kann; sieht de Bonald umgekehrt das Heil einzig in der Unterwerfung dieser „natürlichen Gesellschaft", einer bloßen Erwerbsgesellschaft, unter die Herrschaft der sogenannten „politischen Gesellschaft", also unter Monarchie, Klerus und Aristokratie. Denn die Menschen finden ihr substantielles Dasein nur in der Konkretion einer gesellschaftlichen Institution, die mit undiskutierbarer Autorität ausgestattet ist. In diesem Sinne „konstituiert" sich die bürgerliche Gesellschaft in der konkreten Gestalt von Staat und Kirche, Erbmonarchie und Staatskatholizismus. N u r unter solch genuin politischen Gewalten tendiert, das ist de Bonaids Überzeugung, „die konstituierte Gesellschaft danach, aus allen Menschen, allen Familien, allen Berufen Körperschaften zu machen. Sie sieht (dann) die Menschen nur in der Familie, die Familie nur in den Berufen, die Berufe nur in den Korporationen 7 ". Dieser Begriff der konstituierten Gesellschaft verhält sich polemisch zum Begriff der industriell organisierten. In dieser ist, St. Simon zufolge, die Regierungsgewalt, die Gehorsam erzwingt, zugunsten einer Verwaltungstätigkeit, die den gesellschaftlichen Verkehr regelt, verabschiedet — „die höchste Verwaltung der Gesellschaft besteht in der Erfindung, Prüfung und Ausführung der f ü r die Masse nützlichen Vorhaben 8 ". Die Ausübung von Autorität ist hier Gesichtspunkten der Utilität ganz untergeordnet. Die Gesellschaft, die im Interesse aller produktiv Arbeitenden vernünftig organisiert ist, hat den Staat gleichsam in sich zurückgenommen — statt nur die Herren zu wechseln, verändert sie die Natur der Herrschaft selbst9. Soziologie als Krisen Wissenschaft ist von Anbeginn gespalten: sie ist gleichermaßen aus dem Geist der Revolution wie der Restauration entsprungen; jede der Bürgerkriegsparteien hat sie f ü r sich reklamiert. Und die doppelte Intention einer kritischen Auflösung von Autorität oder ihrer Konservierung um jeden Preis hat die Richtungskämpfe auch in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, hat sie fast bis auf unsere Tage noch bestimmt. Zunächst war freilich das soziologische Selbstverständnis des Verhältnisses von Theorie und Praxis prekär. Schon de Bonald hatte mit der Schwierigkeit zu kämpfen, mit der es seitdem alle Theoretiker der 162

Gegenaufklärung zu tun haben/ Ich meine die Schwierigkeit, mit Mitteln der Reflexion einer Autorität zu dienen, deren Stabilität einzig dadurch gewahrt werden kann, daß sie der Diskussion entzogen bleibt. Selbst ein ganzes Volk von Philosophen, so heißt es, würde nicht die substantielle Sittlichkeit zur Darstellung bringen, die in den gesellschaftlichen Institutionen immer schon wirklich ist, Die Konsequenz hieße dann allerdings; daß eine in Unordnung geratene Gesellschaft, die nur durch unmittelbare Autorität wiederhergestellt werden kann, durch eine Theorie der Gesellschaft nur fortgesetzte Verunsicherung erwarten darf. Soziologie könnte einzig in Gestalt einer Theologie auf Wirksamkeit hoffen — ein Schluß, den de Bonald nicht scheut, den aber gerade auch die Schüler St. Simons gezogen haben. Denn auch für diesen stellt sich eine nicht minder große Schwierigkeit; er sucht für seinen Konstruktionsplan einer organisierten Gesellschaft die Ingenieure, die' ihn nun ausführen, vergebens. Wer, wie de Bonald, die Gesellschaft als einen autoritätsgebietenden Zusammenhang im Kern irrationaler Institutionen wiederherstellen möchte, sieht sich auf sozialethische Erziehung verwiesen; wer hingegen, wie St. Simon, Gesellschaft als rationale Organisation eines weitgehend entpolitisierten Verkehrs herstellen möchte, verlegt sich am Ende auf die sozialutopische Beschwörung: genauso lesen sich die zahlreichen Appelle an die Chefs der industriellen Unternehmen, nun endlich den reichen Müßiggängern die Mächt zu entreißen. Die englische Moralphilosophie, und die aus ihr hervorgehende Soziologie einer Naturgeschichte-der bürgerlichen Gesellschaft, hatten insofern immer noch in der Tradition der klassischen Lehre von der Politik gestanden, als sie sich im Zusammenhang mit einer politischen Öffentlichkeit räsonierender Privatleute verstehen konnten. Diese Art Theorie war Anleitung der staatsbürgerlichen Praxis und des individuellen Verhaltens geblieben — eher philosophische Orientierung des Handelns von Menschen unter Menschen als eine wissenschaftliche Vorschrift für die Leitung von Produktionsprozessen, für eine Rationalisierung des bürgerlichen Verkehrs. Die Soziologie der Schotten konnte sich auf diese im engen Sinne, praktische Beförderung des geschichtlichen Prozesses, weil sie sich mit ihm im Einklang wußte, beschränken: sie kam nicht auf den Gedanken, daß der soziale Fortschritt durch die Menschen selbst organisiert werden müsse. Als dann aber St. Simon in eben diesem Gedanken seine Soziologie entwarf, verschloß sich ihm jene Dimension der Praxis, die Seit Aristoteles streng von Poiesis, der planmäßigen Hervorbringung eines • Werkes getrennt worden war. Für St. Simon löst sich politische Praxis in die politische Technik der sozialen Organisation auf, so daß am Ende die Umsetzung der Theorie in Praxis nicht mehr selbst' theoretisch verhandelt werden kann; es

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bleibt vielmehr bei der vagen Hoffnung, daß sich die Industriellen eines Tages durch die Lektüre St. Simons doch noch zur Revolution bewegen lassen würden. Erst Marx stellt bekanntlidi den Anspruch, die sozialutopische Schwelle, an der St. Simon verharrt, zu nehmen. Mit der revolutionären Aktion des Proletariats führt Marx die politische Praxis in die Theorie selbst wieder ein. Erst das praktische Zerbrechen des bestehenden Staatsapparats soll zur Technik jener von St. Simon abstrakt entworfenen Gesellschaftsorganisation ermächtigen. Marx kann dem Utopismus der Frühsozialisten nur entgehen, wenn erden Nachweis führt, daß die Sozialtechniken der Gesellschaftsplaner durch die politisch erfolgreiche Praxis der Klassenkämpfer vermittelt werden können. Er muß soziologisch glaubhaft machen, daß diese Praxis aus der Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft ebenso hervorgetrieben wird wie die Elemente der neuen Gesellschaftsformation selbst. Dazu reicht freilich der naive Evolutionismus der Schotten nicht mehr aus; es bedarf einer Gesetzmäßigkeit eigener Art. Nun muß historische Dialektik eine Entwicklung verbürgen, in der sich die Gesdiichte kraft ihrer Naturwüchsigkeit gleichwohl als Naturgeschichte am Ende aufhebt; in der sie also die Machbarkeit des gesellschaftlichen Geschehens und die Mündigkeit der menschlichen Gattung zugleich, so hervorbringt, daß die Menschen die objektive Möglichkeit, ihre Geschichte mit Willen und Bewußtsein zu lenken, dann auch ergreifen. Auf diese Weise denkt Marx die Vermittlung der politischen Technik durch politische Praxis. Marx hat der dialektischen Soziologie die kritische Aufgabe gestellt, zur praktischen Gewalt zu werden; wir wissen heute, daß sie sich auf diesem Wege ihrerseits in einer Dialektik verfangen hat, die sie nicht voraussah: in die Dialektik von revolutionärem Humanismus und stalinistischem Terror. Wir sollten uns indessen dadurch nicht verbieten lassen, zu prüfen, ob der alternative Weg, den die akademische Soziologie seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts genommen hat, wirklich zu Positionen jenseits des prekären Zwiespalts führt, der ihr als einer Krisenwissenschaft eigentümlich war. Sollten ihr vielleicht jene kritischen oder konservativen Aufgaben, deren sie sich als Aufgaben bewußt entschlägt, hinterrücks doch wieder zuwachsen? III. Der Abstand der modernen Soziologie zu den Anfängen, die wir im England des 18. und im Frankreich des beginnenden 19. Jahrhunderts kurz berührt haben, ist gewaltig. Damals tritt, mit der Verselbständigung einer Sphäre bürgerlicher Gesellschaft, Gesellschaft als ganze in den Blick; die strenge Erfahrungswissensdiaft muß hingegen auf einen expliziten Begriff des gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs in seiner 164

Totalität verzichten. Damals drängt die Ablösung neuer Elemente von einer alten Gesellschaftsformation zu einer entwicklungsgeschicktlichen Deutung; die strenge Erfahrungswissenschaft m u ß sich hingegen mit dem richtungsneutralen Begriff des sozialen Wandels begnügen. Damals war der Zusammenhang der Theorie der Gesellschaft m i t der praktischen Einflußnahme auf deren Entwicklung selbstverständlich; die strenge Erfahrungswissenschaft m u ß sich auf technische Empfehlungen beschränken. Vor allem zwei historische Tatbestände kommen, wie mir scheint, der akademischen Zähmung jener durch und durch politisierten Krisenwissenschaft entgegen. Erstens die Verlagerung des europäischen Bürgerkriegs auf die Ebene einer zwischenstaatlichen Rivalität konkurrierender Gesellschaftssysteme (also der Vorgang, den schon Lenin als Internationalisierung des Klassenkampfes gedeutet hat). Mit der gleichzeitigen internen Befriedung und Befestigung der fortgeschrittenen Industriegesellschaften verlor auch der Konflikt, an dem sich die Soziologie in OppositionsWissenschaft und Stabilisationswissenschaft geschieden hatte, seine Schärfe. Sowie dieser Konflikt institutionalisiert und gleichsam nach außen transponiert werden konnte, wurde die Soziologie vom aktuellen Gesinnungsdruck entlastet. Der zweite Tatbestand, der mir in diesem Zusammenhang wichtig zu sein scheint, ist die zuerst von Max Weber analysierte Bürokratisierung gesellschaftlicher Bereiche und eine parallele Verwissenschaftlichung der Praxis. Dem Funktionszuwachs des Verwaltungsstaates, der sozialtechnisch in Bigentumsordnung und Wirtschaftskreislauf immer weiter eingreift, entspricht innerhalb der industrialisierten Arbeits- und einer urbanisierten Lebenswelt ein gewisser Zwang zu Selbstorganisation und rationaler Planung. So wenig heute die Soziologie zur Thematisierung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung angehalten und f ü r eine Klärung des praktischen Bewußtseins in der politischen Gesamtwillensbildung beansprucht wird, so sehr sind deshalb von Seiten der staatlichen und der gesellschaftlichen Bürokratien und einer verwissenschaftlichten Berufspraxis die Detailansprüche an die Soziologie gewachsen. Sie ergeben sich gleichsam aus dem Alltag unserer Gesellschaft: immer wenn die Routinen des normalen Ablaufs auf obstinate Widerstände stoßen, sind sozialtechnische Empfehlungen und sozialorganisatorische Vorschläge vonnöten — sei es, daß die Fluktuation in einer einzelnen Betriebsbelegschaft steigt; sei es, daß die Absatzmärkte einer ganzen Industrie bedroht sind; sei es, daß die Lehrer vor der Indolenz der Halbwüchsigen, oder die Pfarrer vor der Indifferenz ihrer Gemeinden ratlos werden; Berufsvertreter klagen über das Ausbildungsniveau ihres Nachwuchses, Ärzte über die Reform der Krankenversicherung; und Parteien sind 165

von der unbeweglichen Struktur ihres Wähleranhangs so betroffen wie der Familienminister von der Scheidungsstatistik. Diese Liste ließe sich beliebig, und mehr oder minder harmlos, verlängern. Die Soziologie hat nicht nur treffliche Methoden entwickelt, um solchen institutionellen Verkehrsstörungen einer bürokratisierten Gesellschaft empirisch beizukommen. Einige ihrer bedeutendsten Vertreter haben sogar ein. pragmatistisches Wissenschaftsideal entworfen, das der Bearbeitung dieser praktischen Einzelprobleme genau entspricht. Ein deduktiver Zusammenhang hypothetischer Sätze, eben eine Theorie, soll jeweils bei dem konkreten Anstoß durdi ein praktisch vorgegebenes, technisch lösbares Einzelproblem ad hoc entwickelt werden. Konnte jene Kritik, die zur praktischen Gewalt werden sollte, um die Gesellschaft im ganzen zu verändern, als eine Art weltgeschichtlicher Pragmatismus verstanden werden; so wird durch diesen strengeren Pragmatismus die Soziologie zur Hilfswissenschaft im Dienste von Verwaltungen instrumentalisiert. Das herrschende Selbstverständnis der modernen Soziologie gibt sich damit freilich nicht zufrieden. Der Erkenntnisanspruch zielt nach wie vor darauf, die funktionellen Abhängigkeiten in einem sorgfältig begrenzten sozialen Bereich systematisch zu untersuchen. Bei dieser möglichst vollständigen Durchdringung der in Sektoren aufgeteilten gesellschaftlichen Realität soll es dann einer general theory vorbehalten sein, die den klassifizierten Gegenstandsgebieten entsprechenden Einzeltheorien (in einer möglichst weitgehend fomalisierten Sprache) zusammenzufassen. Diese von Talcott Parsons inspirierten Versuche setzen in gewisser Weise die Intentionen unserer alten formalen Soziologie fort. Wie bestimmt sich hier das Verhältnis der Theorie zu den wachsenden Ansprüchen der sogenannten Praxis? Parsons selbst verbindet mit seiner Theorie das Programm eines Control of Social Change, also der planmäßigen Beeinflussung und Lenkung des gesellschaftlichen Wandels. Seit die kontrollierten Entwicklungen ganzer gesellschaftlicher Sphären, z. B. des Schul- und Hochschulwesens, in den Entscheidungsradius einer sozialorganisatorisch tätigen Staatsverwaltung einrücken, erstreckt sich auch die sozial wissenschaftliche Vorbereitung und Beratung auf Planungsarbeiten größeren Maßstabs. Die Planungen f ü r einzelne Entwicklungsländer geben nur ein drastisches Beispiel. Auch in der Rolle einer solchen Planungswissenschaft muß sich freilich die Soziologie auf analytische Leistungen beschränken; diese dürfen nicht mit technokratischen Entwürfen verwechselt werden. Die Kooperation mit den großen Bürokratien im Dienste einer wissenschaftlichen Anleitung der politischen Praxis erfüllt nicht etwa die Utopie St. Simons. Die Soziologen werden auch heute nicht zu Autoren 166

gesellschaftsorganisatorischer Entwicklungsprogramme bestellt. Eine analytisch-empirische Wissenschaft ist ja, solange sie die positivistische Selbstbeschränkung nicht vorsätzlich oder fahrlässig verletzt, unfähig, Zielvorstellungen und Ordnungsgesichtspunkte selbst zu produzieren, Prioritäten festzulegen, Programme zu entwerfen. Gewiß kann sie das politische Handeln zu Zweckrationalität anhalten; aber die Zwecke selbst und die Richtung der Entwürfe und Planungen, für die sie in Anspruch genommen wird, bleiben ihr vorgegeben. Gerade in der Kooperation mit den großen Planungsbürokratien, in der Soziologie folgenreicher denn je wirksam werden kann, muß sie sich also der strengen Arbeitsteilung von Analyse und Dezision, Diagnose und Programm fügen: je mehr sie sich, wenn nicht in praktische, so doch in technische Gewalt umsetzen lassen kann, um so sicherer verschließt sich die Dimension, in der sie aus eigener Verantwortung kritische oder konservative Aufgaben als Aufgaben übernehmen könnte. Helmut Schelsky hat diesen Sachverhalt präzise formuliert: „Die soziale Handlung ist endgültig nicht mehr nach den anthropologischen und geistigen Strukturen zu denken, die sich auf die Einheit der Person beziehen; weder der Wissenschaftler noch der Praktiker kann heute die Attitüde und das Selbstverständnis in Anspruch, nehmen, als Person das sozusagen verallgemeinerte Subjekt des sozialen Handelns zu sein. Das soziale Handeln ist vielmehr grundsätzlich als ein System der Kooperation und Spezialisierung zu verstehen, in dem nicht nur der Gegenstandsbereich, sondern die Handlungs- und Denkformen selbst arbeitsteilig aufgespalten und aufeinander verwiesen sind. Dieses System der sozialen Handlung erlaubt es nicht mehr, diagnostische und programmatische Denkformen, Sollens- und Seinsgesichtspunkte in dem gleichen Kopf zusammenzufassen". Und weiter: „Die Betonung der rein analytischen Funktion der Soziologie oder ihrer Aufgabe, die Wirklichkeit als solche zur Geltung zu bringen, setzt also gerade voraus, daß sich die Soziologie in keiner Weise der sozialen Handlung gegenüber als total begreift 10 ". Auch Schelsky nennt diesen Tatbestand nicht nur, um ihn affirmativ zu registrieren. Ihn zu interpretieren heißt aber, die Selbstreflexion der Soziologie auf einer Stufe aufzunehmen, auf der diese von ihrer eigenen Pragmatik Abstand nimmt. Schelsky selbst gibt eine sehr bemerkenswerte Interpretation. Er ist der Auffassung, daß die Soziologie gerade auf der Basis jener strengen Arbeitsteilung zwischen Analyse und Dezision über die pragmatischen Aufgaben hinaus den Freiheitsspielraum einer neuen Kontemplation findet. Wenn die arbeitsteilig integrierte Sozialwissenschaft, so überlegt er, den Entscheidungsspielraum der sozialorganisatorisch tätigen Verwaltungen zwar klären, aber 167

nicht eigentlich einengen kann; wenn sie vielmehr wertneutral in ein Handlungssystem eingespannt ist, das ihre technischen Empfehlungen konsumiert, ohne sich doch von „soziologischen Generalrezepten der Weltveränderung" steuern zu lassen; dann kann sich Soziologie auf der Stufe der Selbstreflexion erst recht von allen unmittelbar praktischen Ansprüchen lösen und dem kontemplativen Geschäft zeitgeschichtlicher Deutung hingeben. Dieses Geschäft bestehe dann darin, „sichtbar zu machen, was sowieso geschieht und gar nicht zu ändern ist 11 ." In der Rolle einer Deutungswissenschaft gewinnt die Soziologie explizit die konservative Aufgabe einer Metakritik ihrer selbst als Planungswissenschaft: sie hätte die Grenzen der Planung aufzuweisen, nämlich die Verfestigung eines Bestehenden, das sich der Machbarkeit entzieht. Dieser konservativen Aufgabenstellung liegt die These zugrunde, die Schelsky an einer anderen Stelle ausgesprochen hat: „Die Soziologie steht einer Erfahrung gegenüber, die wider Erwarten aller intellektuellen Utopien intellektuell am schwierigsten anzuerkennen sein wird: der Stabilisierung der industriellen Gesellschaft, der Erstarrung des neuen sozialen und natürlichen' Milieus12". Nun, der Ausgangspunkt dieser Überlegung ist problematisch. Schelsky gelangt, so vermute ich, zu seinem Stabilitätstheorem nur durch eine vorgreifende Entschärfung und Verharmlosung der institutionalisierten Planungs- und Neuerungsaktivitäten; er deutet nämlich jene arbeitsteilige Kooperation von Sozialwissenschaften und Planungsbürokratien stillschweigend nach dem Muster jener naturwüchsigen Institutionen, von denen sich schon de Bonald eine Wahrung des substanziellen Daseins versprach: „Die Institutionen sind nicht nur Zweck-, sondern auch Denksynthesen, in die die einzelnen Wissenschaften mit ihren partiellen Wahrheiten einzugehen haben, um das System eines sozialen Handelns zu ermöglichen13". Ein solches Handlungssystem gewinnt aber nicht schon dadurch, daß in ihm gewisse dezisionistische Leerstellen ausgespart und gegen rationalisierende Ubergriffe abgedichtet sind, jene zuverlässige Unmittelbarkeit stabiler Institutionen zurück, in denen einst das Zusammenleben der Menschen nach tradierten Regeln autoritativ gereglt gewesen sein mag. Das Aufregende ist im Gegenteil eben die Tatsache, daß die zentralen Plan- und Verwaltungsstellen in einer hochindustrialisierten Gesellschaft mit ungeheuer weitreichenden Kompetenzen und entsprechend wirksamen Instrumenten ausgestattet sein müssen, ohne daß eine wissenschaftliche Rationalisierung die inneren Höfe spontaner Entscheidung durchdringen kann. Faktisch wächst die Machbarkeit der Dinge und der gesellschaftlichen Beziehungen, unabhängig davon, ob wir sie machen wollen oder nicht. Das betont Schelsky neuerdings selbst14. Dabei entsteht die Gefahr, daß die stete und vorerst stetig steigende technische und organisato168

rische Beeinflussung des sozialen Wandels innerhalb ihrer täglichen Routinen tatsächlich eine zweite Naturwüchsigkeit zurückgewinnt. Als Gefahr möchte ich eine solche im Gehlenschen Sinne „institutionelle" Verfestigung von rationalisierenden Eingriffen bezeichnen, weil dadurch die Schwelle eines Risikobewußtseins hochgedrückt wird, das sonst alle unsere in eigener Verantwortung betriebenen Prozesse begleitet — und zum Schutze unserer selbst begleiten muß. Wenn daher Soziologie über die Pragmatik einer empirisch-analytischen Planungswissenschaft hinaus eine Aufgabe übernehmen kann 15 , dann ist es die: statt sichtbar zu machen, was ohnehin geschieht, gerade bewußt zu halten, was wir ohnehin machen, nämlich planen und gestalten müssen, gleichviel, ob wir es mit Willen und Bewußtsein tun oder blindlings und ohne Besinnung. Eine derart kritische Soziologie denkt gerade fiktiv aus der Perspektive eines verallgemeinerten Subjekts des sozialen Handelns, während die empirisch-analytische Soziologie, die dem Handlungssystem unmittelbar integriert ist, den Standpunkt des Handelnden allerdings ignorieren muß. N u r in dieser doppelten Rolle kann Soziologie zum Bewußtsein ihrer selbst gelangen; kann sie sich und die Gesellschaft vor einer kritiklosen Bearbeitung des Bestehenden, seiner permanent gewordenen Befestigung und auch Verwandlung mit wissenschaftlichen Mitteln bewahren. Kritisch wäre diese Soziologie gewiß in dem höchst dialektischen Sinne einer peinlichen Konservierung ihrer eigenen kritischen Tradition. Es ist nämlich dieselbe Tradition, aus welcher der in unseren Institutionen programmatisch investierte Anspruch stammt — ein, im Sinne des objektiven Geistes, objektiv gewordener Sinn der humanischen Aufklärung, der den historisch einzig angemessenen Maßstab abgibt für die soziologische Erfolgskontrolle des seinerseits wissenschaftlich angeleiteten politisch-technischen Handelns. Die kritische Soziologie ist der Erinnerung dessen mächtig, was mit dem heute täglich zu Verwirklichenden und tatsächlich Erreichten einst intendiert war. Sie nimmt den prätendierten Sinn der bestehenden Einrichtungen beim Wort, denn gerade die utopischen Worte entdecken, realistisch verstanden, die defizienten Züge am Bestehenden, also das, was es nicht ist. Die falschen Identifikationen des Gesollten mit dem Erreichten sind in gleicher Weise, wenn auch nicht gleichermaßen, verhängnisvoll, ob sie nun terroristisch erzwungen oder manipulativ erzeugt sind. Wenn die kritische Soziologie ohne Anklage und ohne Rechtfertigung das, was Zwang ist, Zwang nennt, das was Versagung ist, Versagung nennt, das was Herrschaft ist, Herrschaft nennt; wenn sie zeigt, daß Sekurität um den Preis eines gewachsenen Risikos nicht Sicherheit, Emanzipation um den Preis steigender Reglementierung nicht Freiheit, Prosperität um den Preis der Verdinglichung des Genusses nicht Reichtum ist; dann 169

ist diese wie immer bittere Erfolgskontrolle ihr Beitrag, die Gesellschaft entgegen dem Huxleysdien Alptraum, entgegen dem Orwellschen Grauen offen zu halten. Diese Erfolgskontrolle hätte das dediziert politische Ziel, unsere Gesellschaft davor zu bewahren, sich unter einem autoritären Wohlfahrtsstaat in eine geschlossene Anstalt zu verwandeln — sogar dann noch, wenn es außer dem erreichten gar keinen anderen Erfolg geben sollte. Wir haben das Konzept einer Naturgeschichte der Menschheit im Fortschreiten zum je Besseren, das der Soziologie einst Pate gestanden hat, aufgegeben. Die Erfahrungen unseres Jahrhunderts geben keinen Anhalt für die Überzeugung, daß die Zivilisierung der Menschheit die stärkste der Traditionen sei. Gleichwohl scheint Soziologie in einer Art ironischen Wiederholung, wenn auch ohne die metaphysische Garantie einer natürlichen Ordnung, ihre kritischen Aufgaben als die eigentlich konservativen betreiben zu müssen; denn die Motive der Kritik zieht sie einzig aus einer Konservierung ihrer eigenen kritischen Tradition. Ich verhehle nicht die spekulative Überlegung, die dem zugrunde liegt. Diese kann ich nicht mehr mit der Kompetenz des Soziologen mitteilen, sondern allenfalls unter Kuratel jener Narrenkappe, die ein wissenschaftliches Zeitalter der Philosophie übergezogen hat. Mit der wachsenden Machbarkeit auch der gesellschaftlichen Beziehungen wachsen offensichtlich die mit unseren Konflikten verbundenen Risiken; gleichzeitig wird aber die pure Reproduktion des Lebens von immer anspruchsvolleren Voratissetzungen abhängig. Die eigentümliche Dialektik, die von Anbeginn darin begründet sein mag, daß die menschliche Natur mehr ist als Natur, entfaltet sich daher in weltgeschichtlicher Dimension: angesichts der mit Händen zu greifenden Katastrophen, die sich immer deutlicher als die einzigen Alternativen zur Abschaffung des Krieges, zur Sicherung des Wohlstandes und, obwohl nicht ebenso deutlich, zur Erweiterung der persönlichen Freizügigkeit abzuzeichnen beginnen, scheint es so zu sein, daß gewisse utopische Entwürfe zum erzwungenen Minimum der Existenzfristung; daß das kostspieligste, großzügigste und zerbrechlichste Leben zur beinahe einzigen Form des Überlebens wird. Literatur: 1 David H u m e , Works, Boston 1854, Bd. IV, S. 102. 3

John M i l i a r , The Origin of the Destination of Ranks in der Ausgabe von W. C . L e h m a n n , Cambridge 1960, S. 176.

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übers, nadi M i l i a r ,

ebenda S. 354.

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übers, nach M i l i a r ,

ebenda S. 357.

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H u m e , a.a.O., Bd. III, S. 222.

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Zit. nach: Der Frühsozialismus, ed. Th. R a m m , Stuttgart o. J . , S. 58.

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übers, nach L. G. A. Vicomte de B o n a l d , Ouvres compl. ed. Migne Paris 1864, Bd. I, S. 757. R a m m , a.a.O., S. 45. —, ebenda S. 54. Helmut S c h e 1 s k y , Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, Düsseldorf 1959, S. 124. —, ebenda S. 125. —, Zur Standortbestimmung der Gegenwart, in „Wo stehen wir heute?" ed. Bahr, Gütersloh 1960, S. 193. —, Ortsbestimmung S. 126. —, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation. Arbeitsgem. f. Forsch, d. Landes N R W H . 56, Köln-Opladen 1961. Die damit verknüpfte wissenschaftstheoretische Problematik muß hier dahingestellt bleiben.

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KRISE DER

GESCHICHTSWISSENSCHAFT? Von R e i n h a r d

Elze

Die Geschichtswissenschaft steht wie alle anderen Wissenschaften heute im Zeichen der Spezialisierung, der Aufgliederung in Teilgebiete; das ist nichts Neues. Schon lange werden etwa Kirchengeschichte und Rechtsgeschichte in anderen Fakultäten getrieben, schon lange wird in der Philosophischen Fakultät die Geschichte des Altertums getrennt von der des Mittelalters und der Neuzeit. Verhältnismäßig neu ist nur die weitere Aufgliederung der mittelalterlichen und neueren Geschichte nach sachlichen und zeitlichen Gesichtspunkten. Mein Gebiet ist die mittelalterliche Geschichte, die viel weniger aktuell ist und viel weniger interessant zu sein scheint als die Geschichte der letzten 50 oder 100 Jahre. Von der Krise der Geschichtswissenschaft, nach der ich zu fragen habe, spricht man heute vor allem in bezug auf die Erforschung und Darstellung der Geschichte dieser 50 oder 100 Jahre. Davon zu hören werden Sie deshalb erwarten, und ich muß fürchten, Sie zu enttäuschen, wenn ich über die Wissenschaft von der Geschichte des Mittelalters spreche. Ja, an den Stellen, wo ich doch über das Mittelalter bis zur Gegenwart ausgreifen muß, möchte ich Sie bitten, besonders kritisch zuzuhören und das, was Sie besser wissen, stillschweigend und mit Nachsicht zu korrigeren. Wer von einer Krise der Geschichtswissenschaft spricht, übt Kritik an der Geschichtswissenschaft. Bevor ich Ihnen von dieser Kritik spreche, bitte ich Sie nun, mir auf einem scheinbaren Umweg zu folgen, der mir aus verschiedenen Gründen nötig oder doch nützlich erscheint. A m 2. Februar 962, heute vor 1000 Jahren, ist der deutsche König Otto der Große in R o m zum Kaiser gekrönt worden. Diese Erneuerung des Kaisertums, das den ersten großen mittelalterlichen Kaiser Karl kaum 100 Jahre überdauert hatte, ist ein Ereignis, das für den Gang der deutschen Geschichte größte Bedeutung hat. Es ist ein Ereignis, dessen wir uns heute so wenig wie je vor irgendjemandem zu schämen brauchen, und doch feiern wir es nicht. Ich habe hier nicht eine Festrede zu halten, sondern einen allgemeinen Vortrag über die Lage der Geschichtswissenschaft, für den ich gewiß viel weniger kompetent bin. Im geteilten Deutschland wird, so viel ich weiß, heute nirgends eine dem Anlaß entsprechend würdige Jahrtausendfeier begangen. In Wien dagegen ist heute eine dreitägige Jahrtausendfeier beendet worden, die vorgestern mit einem Festakt, beinahe einem 172

Staatsakt, in der Aula der Universität begann und gestern und heute mit Vorträgen von Historikern aus verschiedenen Ländern fortgesetzt worden ist. Und schon im November vergangenen Jahres hat in Ravenna eine Internationale Arbeitstagung aus Anlaß des „Millenario della Restaurado Imperii" stattgefunden, bei der ebenfalls Historiker verschiedener Nationalität gesprochen haben. Ist es die so oft beschworene Geschiditsmüdigkeit, die „Kapitulation vor der Geschichte", der „Verlust der Geschichte", die uns hindern, den heutigen Tag zu feiern? Sind es die tiefen Einbrüche in den kontinuierlichen Gang der deutschen Geschichte, die uns in diesem Jahrhundert das Mittelalter so fern gerückt haben, daß wir die deutschen Kaiser, den ersten deutschen Kaiser nicht mehr als uns zugehörig ansehen? Würde nicht für diese zweite Interpretation sprechen, daß gerade in der Kaiserstadt Wien, deren oberster Gerichtshof noch eben den Nachkommen des letzten Kaisers den Aufenthalt im Lande versagt hat (doch wohl aus Furcht, warum sonst?), daß gerade in Wien die erste deutsche Kaiserkrönung gefeiert wird, während man bei uns, wo die Kaiserenkel eher populär sind als daß man sie fürchtet, nicht an solche Feiern denkt? Ich glaube nicht, daß man unsere sogenannte Geschichtsmüdigkeit oder unsere tatsächliche Entfernung, ja, fast möchte ich sagen, Entfremdung vom Mittelalter als Gründe für das Ubergehen des heutigen Gedenktages in Deutschland ausschließen kann. Aber, und das ist der Grund, warum ich überhaupt davon spreche, ich bin überzeugt, daß nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch die deutsche Geschichtswissenschaft schuld ist an dieser Unterlassungssünde. Nicht so sehr allerdings, und jedenfalls nicht in erster Linie, die Geschichtswissenschaft der Gegenwart. Lassen Sie midi 100 Jahre und noch etwas mehr zurückgehen. 1855 hat Wilhelm Giesebrecht den ersten, 1858 den zweiten Band seiner Geschichte der deutschen Kaiserzeit veröffentlicht, dieses ebenso unentbehrlichen, wie — verzeihen Sie — unmöglichen Buches. Unentbehrlich ist es noch heute wegen der gewissenhaften Verwertung der Quellen, unmöglidi wegen der schon seiner Gegenwart nicht ganz, unserer Gegenwart aber ganz und gar nicht entsprechenden Auffassung des Ganzen. 1859 hat Heinrich von Sybel, einer der führenden Vertreter der damaligen deutschen Geschichtswissenschaft, entschieden gegen Giesebrechts Ansicht der deutschen Geschichte der Kaiserzeit protestiert; der westfälische, in Innsbruck tätige Professor Julius Ficker hat heftigst darauf erwidert. Die Replik von Sybel und die Duplik von Ficker, die beiden wichtigsten Schriften im Streit um die deutsche Kaiserpolitik des Mittelalters, sind vor 100 Jahren, im Jahre 1862 erschienen. Keine von beiden, und auch keine 900-Jahrfeier hat von der Krönung Ottos des Großen 962 besonderes Auf173

heben gemacht. Was war der Gegenstand der Kontroverse? Giesebrecht hatte seine Kaisergeschichte durchaus nicht ohne Bezug auf die Gegenwart, auf seine Gegenwart geschrieben. Er wollte die Zeit darstellen als „die Periode, in der unser Volk, durch Einheit stark, zu seiner höchsten Machtentfaltung gedieh, wo es nicht allein frei über sein eigenes Schicksal verfügte, sondern auch anderen Völkern gebot, wo der deutsche Mann am meisten in der Welt galt, und der deutsche Name den vollsten Klang hatte". Ihm war die deutsche Kaisergeschichte des Mittelalters das beste Modell für die Gestaltung der Wünsche der nach Einheit strebenden Deutschen der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts, und in den Vorworten zu den späteren Auflagen seines Werkes hat er den Bezug zwischen dem Kaisertum von 1871 und dem des Mittelalters deutlich genug betont. Anders H. von Sybel, der „kleindeutsche" Historiker, wie er nicht erst heute genannt wird. Nicht das Kaisertum, das ihn an den „Spanier" Karl V., an den Erzfeind Napoleon erinnerte, sondern das nationale Königtum des deutschen Mittelalters war für ihn das Vorbild für die Gegenwart. Heinrich I., der Vater Ottos, war für ihn „der Stern des reinsten Lichtes am weiten Firmament unserer Vergangenheit", „der Gründer des deutschen Reiches und damit Schöpfer des deutschen Volkes". Und obwohl Sybel's Gegner Ficker ebenso wie der angegriffene Giesebrecht, die die Erneuerung des Kaisertums nicht als ein Unglück für die deutsche Geschichte ansahen, nach der Auffassung der gegenwärtigen Historiker gegenüber Sybel im wesentlichen Recht behalten haben, ist es noch heute in Deutschland so, daß Heinrich, der Städtegründer, der in Wahrheit nicht Städte gegründet, sondern Burgen gebaut hat, daß dieser Heinrich populärer ist als sein größerer Sohn. Und so wurde Heinrich 1936, 1000 Jahre nach seinem Tode, als Gründer des tausendjährigen Reiches gefeiert. Gleichzeitig gedachte man zwar auch seines Nachfolgers Otto, der in Magdeburg den Grund gelegt hatte für die den Kleindeutschen wie den Nationalsozialisten sympathische mittelalterliche Ostpolitik. Aber Ottos Italienzüge, seine Kaiserkrönung und die mittelalterliche Kaiserpolitik wurden von den Vertretern der Wissenschaft ohne weithin wirksamen Erfolg gegen den damaligen Vorwurf verteidigt, unnütz, abwegig, ja schädlich gewesen zu sein. Weder das Bündnis mit dem faschistischen Italien noch der Anschluß Österreichs hat in der offiziellen Bewertung der mittelalterlichen Kaiserpolitik eine Wende gebracht. Erst 1941, nach der Eroberung weiter Teile Europas, hat ein nationalsozialistischer Historiker und, so würden wir ihn heute nennen, Ideologe, Karl Richard Ganzer, versucht, das „Reich als europäische Ordnungsmacht" darzustellen, als Vorbild für die Politik gegenüber den Besiegten. Dieser Versuch, die nationalsozialistische Eroberungspolitik nachträg174

lidi aus der Geschichte zu rechtfertigen, ist, soviel ich weiß, ohne Wirkung geblieben. Erst das Wort „europäische Ordnungsmacht'', in einem Zeitungsbericht der letzten Tage sorglos verwendet, hat midi wieder daran erinnert. Warum, so werden Sie fragen, habe ich so ausführlich vom Streit um die Kaiserpolitik des Mittelalters gesprochen? Weil ich glaube, daß er für das Verhältnis zwischen der Öffentlichkeit, dem Publikum, und der Geschichtswissenschaft sehr bezeichnend ist — ich möchte es einmal kurz die Schwerhörigkeit des Publikums nennen, obwohl das die Sache zu sehr vereinfacht —, zugleich aber weil er auch in die Problematik der Wissenschaft selbst hineinführt. Von doppelter Kritik an der Geschichtswissenschaft muß ich hier sprechen, der Kritik, die von außen, von der Öffentlichkeit, vorgebracht wird, und der Selbstkritik. Die äußere Kritik richtet sich vor allem gegen die Geschichtsschreibung, nicht so sehr gegen die Lehre der Geschichte an der Universität, am wenigsten gegen die Geschichtsforschung, die als „zu speziell" außerhalb des Kreises der Fachgenossen nur wenige Interessenten findet. Nur selten einmal wird den Historikern vorgeworfen, daß sie sich mit abseitigen Themen befassen, die keinen Bezug zur Gegenwart haben, daß sie es unterlassen, wichtigeres zu erforschen. Besonders die in Deutschland vielfach vernachlässigte Sozialgeschichte wird gern als Beispiel angeführt. Die Lehre der Geschichte dient vor allem der Ausbildung der Gesdiichtslehrer an den höheren Schulen. Hier werden die Klagen schon lauter: die traurigen Erfahrungen, die Eltern und Schüler, die Lehrer selbst und ebenso — im Umgang mit Studenten — die Universitätslehrer mit dem gegenwärtigen Geschichtsunterricht gemacht haben und machen, die fast unzählbaren Versuche, den Geschichtsunterricht zu reformieren, die nicht selten zum Gegenteil des Erstrebten führen, d. h. verschlimmern, was sie verbessern wollen, das alles führt zur Frage nach dem Schuldigen. Leicht ist es, die Schuld den Lehrern an der Universität zuzuschreiben, die ihren Studenten nicht die nötige und genügend gründliche Ausbildung vermittelt haben. Die Wissenschaft ist schuld; da wahre Wissenschaft aber nicht irren kann, ist diese Wissenschaft falsch, befindet sich zum mindesten in einer Krise, die sie hindert, ihre Pflicht gegenüber der Öffentlichkeit zu erfüllen. Das ist vielleicht eine Übertreibung und grobe Vereinfachung. Jeder, der sich mit einer Wissenschaft beschäftigt, weiß natürlich, daß die Wissenschaft nicht nur irren kann, sondern tatsächlich oft in die Irre geht, jeder kennt in seinem Fach die fruchtbaren Irrtümer und die unfruchtbaren. Aber ich glaube, daß dieses Wissen vom möglichen Irrtum in der Wissenschaft wesentlich weniger verbreitet ist als die 175

hohe Wertschätzung der Wissenschaft, die vielleicht nie so groß war wie heute, wo sie gelegentlich bis in die religiöse Sphäre zu reichen scheint. Wissenschaft aber ist Menschenwerk, und Irren ist menschlich, das sollte nie vergessen werden. Ida habe nicht die Absicht, damit die Irrtümer der Historiker zu rechtfertigen. Es ist und bleibt unsere Pflicht, so wenig zu irren, wie es uns möglich ist. „Nichts Falsches zu sagen, nichts Wahres zu verschweigen, das zu wagen ist oberstes Gesetz der Geschichtsschreibung", das sagt schon Cicero. Und damit komme ich zu der Kritik an der Geschichtsschreibung. Da liegt unsere schwerste Aufgabe, und nicht jeder ist dafür gleich gut befähigt. Was sollen wir hier leisten? In klarer, verständlicher Darstellung ein wahres Bild der Geschichte oder bestimmter Zusammenhänge oder Personen geben, das dem neuesten Stand der Forschung Rechnung trägt, das Interesse des Lesers befriedigt, lernbar und lehrbar ist. Ein solches Buch muß selbstverständlich gut geschrieben sein, und je spannender es sich liest, desto mehr Leser wird es finden. Aber wie viele solcher Bücher gibt es? Wenige, leider sehr wenige. Und das ist nicht nur heute so, sondern es war zu allen Zeiten nicht anders. Die großen Geschichtsschreiber wie Ranke und Burckhardt waren weder zu ihrer Zeit noch sind sie heute das Maß, an dem man die Fachvertreter der Geschichtswissenschaft messen darf, wenn man gerecht sein will. Vielmehr ist es so, daß gerade heute der verantwortungsbewußte Historiker, der nichts Falsches sagen, nichts Wahres verschweigen will und darf, eine ausführliche detaillierte Darstellung eines größeren Teils der Geschichte oft nicht wagen kann. Den Vorwurf, sie ließen die deutsche Geschichte der letzten 50 Jahre von Ausländern schreiben und statt es selbst besser zu machen, begnügten sie sich, diese Bücher zu kritisieren, müssen sich die Vertreter der neueren Geschichtswissenschaft ruhig gefallen lassen. Sie dürfen nicht nur, sondern sie müssen kritisieren, was falsch ist, auch dann, wenn sie für das Ganze noch nicht vollen Ersatz leisten können. Angesichts der Flut von mehr oder weniger irreführenden Veröffentlichungen über die jüngste Vergangenheit ist es sogar eine notwendige Pflicht der zuständigen Historiker geworden, den Irrtümern entgegenzutreten, Legenden zu zerstören, durch Kritik der Wahrheit zu dienen. Und das kostet viel Zeit und Kraft. Trotzdem aber wird Geschichte geschrieben, erscheinen Jahr für Jahr gute oder sogar vorzügliche Darstellungen, die sich mit der wissenschaftlichen Produktion vergangener Generationen von Gelehrten durchaus vergleichen lassen. Aber die Resonanz, die sie finden, ist nicht die gleiche. Die Zahl der Menschen wächst von Tag zu Tag, die Zahl der Leser wissenschaftlicher Darstellungen aus der Geschichte wächst nicht mit. Ich will niemandem Unrecht tun, aber ich glaube, sagen zu dürfen, 176

daß die Zahl derer eher sinkt als steigt, die in Muße ein umfangreiches Buch über ein schwieriges Thema gründlich lesen, und nicht nur ein solches Buch, sondern eins nach dem anderen. Aber es gibt wohl noch einen gewichtigeren Grund für die geringe Resonanz der heutigen Geschichtsschreiber. Das ist die Diskrepanz zwischen der Gegenwart und der Geschichte oder besser vielleicht die Distanz, die mit jedem Tage größer wird. Zu wenig stimmt das, was der Historiker schreibt, mit den Erwartungen des Lesers der Gegenwart überein; weder dem Glauben des Optimisten an den stetigen Fortschritt noch der Aussicht des Pessimisten auf den Untergang gibt er Nahrung, zeigt nicht, wie herrlich weit wir es gebracht haben, oder wie schlimm die Gegenwart im Vergleich zur guten alten Zeit ist, wie schuldig oder unschuldig wir an der Verschlimmerung unserer Lage sind. Jedenfalls kann und darf das nicht seine Hauptaufgabe sein. Sybel und seine Anhänger betrachteten das als ihre Aufgabe: „die geistige Ergreifung und Verarbeitung des Stoffes nach politischen und sittlichen Prinzipien und Gruppierung und Verbindung der Tatsachen nach organischen, durchgreifenden, einheitlichen Gesichtspunkten . . . ist jedenfalls die unerläßliche Voraussetzung . . . des gerechten historischen Gerichtes". Dafür verlangte Sybel nach einem „festeren und schärferen politischen Blick, einem reiferen und konsequenteren politischen Urteil." Die politischen und sittlichen Prinzipien, die einheitlichen Gesichtspunkte, das konsequente politische Urteil nahm er aus seiner Gegenwart. Und begeistert sind ihm seine Zeitgenossen gefolgt. Von 1862 bis 1936 und darüber hinaus war die so gewonnene Beurteilung der deutschen Kaiserpolitik in Schulen und Öffentlichkeit populär, obwohl von Anfang an gewichtige Vertreter der Geschichtswissenschaft gegen den aus falscher Gegenwartsbezogenheit herrührenden Irrtum protestiert haben; obwohl es in unserem Jahrhundert mehrere gute, ja glänzende, lesbare wissenschaftliche Darstellungen gab, die das richtige Bild von der deutschen Kaiserpolitik vermitteln konnten. Wenn in der Öffentlichkeit von der Krise der Geschichtswissenschaft gesprochen wird, weil das, was sie produziert, nicht den Erwartungen entspricht, so muß diese Kritik also nicht unbedingt berechtigt sein. Machen nicht die gleichen Leute, die von den Historikern mehr Rücksicht auf die Anforderungen der Gegenwart verlangen, denen gerechte Vorwürfe, die seinerzeit der nationalsozialistischen Gegenwart zu viel Raum bei ihrer Arbeit gegeben haben? Von außen her ist die Frage nach der Krise der Geschichtswissenschaft deshalb nicht ohne weiteres zu beantworten. Wenn ich nun zur inneren Kritik an der Geschichtswissenschaft übergehe, dann rechne ich wiederum auf Ihr Wdhlwollen, das mir, 12

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wie ich hoffe, die unbekümmerte Darlegung von Schwierigkeiten, mit denen unsere Wissenschaft zu kämpfen hat, verzeihen wird. Grundpflicht jedes Gelehrten ist der Respekt vor den Leistungen seiner Vorgänger. Was sie erarbeitet haben, darf er nicht als eigene Leistung ausgeben. Das Urheberrecht an Erkenntnissen und Feststellungen gehört dem, der sie zuerst veröffentlicht hat. Wer später zum gleichen Ergebnis kommt, muß das anmerken. Wer aber zu anderem Ergebnis gelangt, muß, so verlangt es das ungeschriebene Gesetz unserer Wissenschaft, die Fehler des Vorgängers berichtigen, dessen falsche Auffassung widerlegen, die eigenen Ergebnisse begründen. Ich wüßte nicht, was gegen die Notwendigkeit dieses Verfahrens vorgebracht werden könnte, das dazu geführt hat, daß der jeweilige Autor seine eigene Stellung gegenüber seinen Vorgängern dem Leser, der zwischen den neuen und den alten Ergebnissen die Wahl zu treffen hat, darlegt und ihm diese Wahl ohne lange eigene Untersuchungen möglich macht. Und nicht nur der Respekt vor der Leistung der Vorgänger, sondern auch die Rücksicht auf den Leser ist Pflicht eines jeden, der von seiner Arbeit schriftlich Rechenschaft ablegt. Die Konvention, so zu verfahren, ist in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts entstanden, sie zu befolgen gilt noch heute als richtig. Aber ist es auch möglich? Für die deutsche Geschichte, das ist — ich brauche es kaum zu betonen — zwar das wichtigste Gebiet, mit dem sich ein deutscher Historiker zu beschäftigen hat, aber bei weitem nicht das einzige, für die deutsche Geschichte besitzen wir eine unschätzbare Bibliographie, die nach ihren ersten Herausgebern „der Dahlmann- Waitz" genannt wird. Die 5. Auflage von 1883 enthielt fast 4000 Titel. Die heute noch maßgebende 9. Auflage von 1931 enthält etwa 40 000 Titel, und es ist dabei schon eine gewisse Auswahl getroffen worden. Die 10. Auflage, die zur Zeit vom Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen geplant und mit Hilfe zahlreicher Mitarbeiter bearbeitet wird, soll aus einer großen Zahl von Titeln die 120 000 unentbehrlichen auswählen. Und Jahr für Jahr erscheinen Hunderte, ja Tausende neuer Aufsätze und Bücher in Deutschland und im Ausland. An keinem Ort der Welt, in keiner Bibliothek der Welt sind alle diese Bücher und Zeitschriftenbände vorhanden. Kein Historiker kann hoffen, für alle ihn beschäftigenden Fragen alle einschlägige Literatur an einem Ort zu finden. Denn, wenn weit mehr als 100 000 Arbeiten die deutsche Geschichte betreffen, dann ist die Zahl der Arbeiten über die englische, französische, auch die amerikanische Geschichte und viele weitere Teilgebiete der Geschichte der Menschheit kaum geringer und so ist die Million von Titeln der historischen Fachliteratur längst überschritten. Da« Prinzip der Vollständigkeit bei den Angaben 178

über die verwertete Literatur ist schon deshalb heute nicht mehr durchführbar, obwohl es in der Theorie noch gilt und die Arbeit erheblich erschwert — allein schon durch den Zeitaufwand, der mit der Beschaffung der am Orte nicht vorhandenen Bücher verbunden ist. Die Zahl der Doktoranden wächst mit der Zahl der Studenten, und ebenso wächst die Zahl der Doktorarbeiten, die — das muß trotz aller möglichen laudatio temporis acti gesagt werden — heute im Durchschnitt besser, d. h. aber zugleich beachtenswerter sind als etwa vor 50 Jahren. Es wächst auch die Zahl der Lehrstühle und mit ihr die der Lehrstuhlanwärter, die durch Zahl und Gewicht ihrer Veröffentlichungen ihr Berufsziel zu erreichen streben. Die Deutschen beschränken sich dabei nicht auf die deutsche Geschichte, Angehörige anderer Nationen liefern uns dafür gewichtige Beiträge zu dieser unserer Geschichte, nicht nur für die Geschichte der neuesten Zeit, wie ich vorhin schon andeutete, sondern auch f ü r die Geschichte des Mittelalters. Das grundlegende Buch über das Nachleben Karls des Großen im mittelalterlichen Deutschen Reich ist von einem Franzosen, Robert Folz, 1950 verfaßt, wenig später hat er über die Kaiseridee im Mittelalter geschrieben, und noch viele andere Beispiele könnte ich nennen. Wir untersdieiden Literatur und Quellen; die Literatur, die wissenschaftlich die Quellen auswertet; um zur Erkenntnis von Tatbeständen, Sachverhalten, Kausalitäten in der Geschichte zu kommen, und die Quellen, die selbst zeugen von der Geschichte, seien sie nun zeitgenössische Darstellungen des Geschehens oder Uberreste, Spuren von dem, was damals war. Der Fortschritt der Geschichtswissenschaft vollzieht sich nicht nur in der immer besseren Interpretation der vorgegebenen Quellen, sondern auch in der Entdeckung neuer Quellen, in der Vermehrung der Quellen. Zu den geschriebenen. Quellen, den Geschichtsschreibern der Vorzeit und den Urkunden, kommen immer neue hinzu. Mehr und mehr werden Zeugnisse der Archäologie, aber auch schriftliche Werke, die nicht die Absicht haben, Geschichte zu überliefern, theologische, liturgische, rechtliche, als Quellen für die Vergangenheit erschlossen. Gerade für das 10. Jahrhundert, das Jahrhundert Ottos des Großen, wird erst jetzt eine gewichtige liturgische Quelle, das in Mainz entstandene Pontificale romanogermanicum veröffentlicht, dessen Auswertung für die Geschichte dieser Zeit, die der Liturgie ein viel höheres Gewicht beimaß als die heutige, noch kaum begonnen hat. Lassen Sie mich zusammenfassen. Auf Literatur und Quellen beruht die Arbeit des Historikers. Literatur und Quellen vermehren sich ständig so sehr, daß die Vollständigkeit in der Berücksichtigung beider, wie sie der älteren Wissenschaft als Regel, der heutigen als Ideal vorschwebt, in zunehmendem Maße unmöglich wird. D a f ü r noch 179 12»

ein konkretes Beispiel. Ein wertvolles, unentbehrliches Arbeitsinstrument sind für uns die von J. F. Böhmer begründeten Regesta Imperii. Das ist eine chronologisch geordnete Sammlung aller Quellen zur Kaiser- und Reichsgeschichte des Mittelalters, die nicht im vollen Wortlaut, sondern in Regesten, d. h. Auszügen, die das Wesentliche wiedergeben oder zusammenfassen, dargeboten werden. Für den, der mehr wissen will, als dort ausgewählt ist, wird genau angegeben, wo er den vollen Text und wo er Erläuterungen dazu findet. Zwischen 1831 und 1849 hat Böhmer diese Regesten für die Zeit von Karl dem Großen bis zu Ludwig dem Bayern veröffentlicht, eine außerordentliche Leistung, deren Ungenügen Böhmer selbst jedoch gespürt hat, der bis zu seinem Tode 1863 unablässig Ergänzungen sammelte. Die Neuausgabe wurde dem vorhin schon erwähnten Julius Ficker übertragen. Diese von verschiedenen Bearbeitern seit 1877 veröffentlichte Neubearbeitung übertrifft Böhmers ursprüngliches Werk um ein Vielfaches. Aber sie ist bis heute nicht abgeschlossen. Außer anderem fehlt uns vor allem der Teil des Werkes, der die Regierungszeit Kaiser Friedrich Barbarossas (1152—1190), d.h. die Zeit eines der größten deutschen Kaiser, behandeln sollte. Der in diesem Band zu verwertende Stoff ist so umfangreich, daß man getrost sagen kann: dieser Band kann niemals fertig werden, wenn der Bearbeiter sich an das für dieses Werk besonders notwendige Prinzip der Vollständigkeit, der gewissenhaften Berücksichtigung und Prüfung aller Quellen und Literatur hält. Mitarbeiter könnten ihm kaum helfen, nur Handlangerdienste leisten, denn eine solche Arbeit läßt sich nicht beliebig aufteilen. Der Bearbeiter müßte den Mut zur Unvollständigkeit, zum wissentlichen Verstoß gegen die Prinzipien seiner Wissenschaft haben. Dann könnte er vielleicht in mühsamer Arbeit das leisten, was Ficker und Winkelmann für die Zeit von 1198—1272 geleistet haben. Die drei, bzw. fünf Bände der Regesten aus dieser Zeit sind 1881—1901 erschienen. Kein Zweifel, daß sie, mehr als 60 Jahre alt, heute weitgehend veraltet sind. Zu ihrer Zeit entsprachen sie dem Stande der Wissenschaft in vorbildlicher Weise. Jeder von uns benutzt sie in größter Dankbarkeit, und wie froh wären wir, wenn wir einen ebenso veralteten Band für die Zeit Barbarossas besäßen! Nidit leicht, aber möglich wäre es wohl, diesen Band heute so zu machen, wie es dem Stande der Wissenschaft von 1890 entspräche. Aber wie würden die Kritiker über den Bearbeiter eines so rückständigen Werkes herfallen! Und wie wenig befriedigt würde er selbst sein! So wird das Buch nie erscheinen. Nie wird es für die Geschichte Friedrichs I. eine so sichere Grundlage geben, wie sie seit 60 Jahren für die Gesdiichte seines Enkels, Friedrichs IL, vorliegt. Hier ist es leicht, von einer Krise unserer Wissenschaft zu spre180

dien, leicht zu sagen, daß es so nicht immerfort weitergehen kann, wesentlich schwerer, auszudenken, wie es weitergehen soll, denn, das muß ich wohl noch hinzufügen, die Werke der Geschichtsschreibung können zwar veralten, die der Geschichtsforschung aber nicht oder doch nur teilweise, und wo die Geschichtsschreibung auf selbständiger Forschung beruht, gilt für sie das gleiche. Deshalb sprach ich vorhin von dem ebenso unentbehrlichen wie unmöglichen Werk von Wilhelm Giesebrecht. Der ganze Giesebredit ist unmöglich, viele Einzelangaben von ihm sind unentbehrlich, und das Gleidie gilt für viele Bücher, die nicht selten weit mehr als 100 Jahre alt sind. Tiefer in die Problematik der heutigen Geschichtswissenschaft führt eine weitere Frage. Ich habe Ihnen von der Beurteilung der deutschen Kaiserpolitik erzählt. Die Gegner der kleindeutschen, der Sybelschen These sind schließlich zu der uns heute selbstverständlich scheinenden, den Streitenden aber lange verborgenen Erkenntnis gelangt, daß es in Wirklichkeit niemals im Mittelalter eine echte Alternative zwischen der Ostpolitik der deutschen Könige und ihrer Italienpolitik, der Kaiserpolitik, gegeben hat, wie die kleindeutschen Historiker sie ihrerseits als selbstverständlich voraussetzten. Lange Zeit war man damit beschäftigt und hat viel Zeit und Mühe darauf verwendet, die Thesen Sybels und seiner Nachfolger zu widerlegen. Das ist ein sehr deutliches Beispiel dafür, daß und wie eine falsche Fragestellung die Wissenschaft in ihrer Bemühung um die Erkenntnis der Wahrheit lange Zeit in die Irre oder doch auf Abwege führen kann. Immer wieder stehen wir vor falschen Antworten auf falsche Fragen, und nichts ist schwerer als ohne Rücksicht auf sie richtig zu fragen und zu antworten. Wir verdanken unseren Vorgängern in der Wissenschaft viel, fast alles, aber wie oft hindern sie uns auf dem Wege zur Wahrheit, weil sie uns zwingen, ihre Irrwege zu berücksichtigen! Das gilt nicht nur für unser Fragen, das durch die notwendige Ablehnung älterer Fragen eingeschränkt wird, sondern auch für unsere Aussagen. Unsere Sprache, die Fachsprache, ist ein Produkt der Wissenschaft, ein Produkt der Wissenschaft, deren Ergebnisse wir zu verbessern suchen. Nicht nur in der Geschichtswissenschaft versucht man deshalb neue Wörter anderen Inhalts an die Stelle der gewohnten Wörter zu setzen. Das ist nicht neu. Schon lange spricht man von sacerdotium und regnum statt von Kirche und Staat im Mittelalter. Und viele andere Beispiele könnte ich nennen. Aber was ist damit gewonnen? Vor etwa 20 Jahren habe ich eine Vorlesung von Heidegger gehört. Das war eindrucksvoll. Da sprach ein Mann, der sich so radikal von der Wissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts gelöst hatte, daß er nur Begriffe verwendete, die nicht den geläufigen 181

entsprachen. Das war (und ist) eine eigene Sprache, ad hoc geschaffen, die Sie wohl alle kennen. Das Wahre, griechisch ¿Ar|6£; ist bei ihm das Unverborgene aus a privativum und von Accv6ä;co verbergen, usw. Dieser und andere Begriffe Heideggers, die ich hier nicht aufzählen will, bieten den großen Vorteil, am Sprachschatz und Begriffsvorrat des 19. und 20. Jahrhunderts vorbei auf das Eigentliche zu zielen, dessen Ansicht und Auffassung uns auch in der Philosophie durch die Wissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts weitgehend versperrt wird. Und doch haben diese neuen Begriffe den Nachteil, daß sie für sich nicht ohne weiteres verständlich sind. Erst nach verhältnismäßig komplizierten Denkoperationen, bzw. Obersetzungsversuchen, glaubt der Hörer, das neue Wort zu verstehen, aber dabei bedient er sich der vertrauten Beigriffe, und die Absicht dessen, der die neuen Worte geprägt hat, um die alten Begriffe auszuschalten, wird hinfällig. So jedenfalls erging es dem Freiburger Studenten von 1942, und das Gleiche kann der Fall sein nicht nur bei Geschichtsstudenten, sondern auch bei fertigen Historikern, die sich neugeprägten Begriffen gegenübersehen, zumal dann, wenn diese Begriffe vieldeutig sind wie etwa das schon genannte Paar regnum und sacerdotium. Das kann bedeuten Königtum und Priestertum, Kaisertum und Papsttum, Reich oder Staat und Kirche oder Klerus und noch mehr, oder nichts von alledem allein, sondern alles zusammen. Kein Wunder, daß die Gelehrten, die sich um die Klärung des Verhältnisses von regnum und sacerdotium im 12. und 13. Jahrhundert bemühen, nicht einig werden können, wenn sie angesichts der Vieldeutigkeit dieser Begriffe nicht genau definieren, was sie meinen; kein Wunder, daß die Leser der Kontroverse oft das Gelesene nicht ganz zu verstehen glauben, ja, daß es ihnen manchmal so scheint, als sei nicht so sehr das Verständnis mittelalterlicher Anschauungen der eigentliche Gegenstand dieser Bemühungen, sondern vielmehr der Versuch, historische Aspekte zu gewinnen für das ganz aktuelle Problem des Verhältnisses von Staat und Kirche. „Nicht genau definieren, was sie meiilen". Ist das nicht der schwerste Vorwurf, den man den Vertretern einer Wissenschaft machen kann? Der Historiker braucht sich durch solchen Vorwurf nicht getroffen zu fühlen. Er darf sich auf Jacob Burckhardt berufen, den ich hier zitieren muß: „Die Geschichte ist ja überhaupt die unwissenschaftlichste aller Wissenschaften, nur daß sie viel Wissenswürdiges überliefert. Scharfe Begriffsbestimmungen gehören in die Logik, aber nicht in sie, wo alles schwebend und in beständigen Übergängen und Mischungen existiert. Philosophische und 'historische Begriffe sind wesendich verschiedener Art und verschiedenen Ursprungs; jene müssen so fest und geschlossen als möglich, diese so flüssig und offen als 182

möglich gefaßt werden". Ich glaube nicht, daß es heute einen Historiker gibt, der dem widersprechen kann, und doch gibt es kaum einen, der nicht notgedrungen im Widerspruch zu diesem Satz handelt, und ich kann mich dabei nicht ausschließen. Was wollen wir? Die historische Wirklichkeit erkennen. Der Erkenntnis der Wirklichkeit sind Grenzen gesetzt. Das fortgesetzte Bemühen der Wissenschaft um die Verfeinerung der Methoden, die Ausweitung durch Einbeziehung von Nachbardisziplinen aller Art hat die Grenzen der Erkenntnis hinausgeschoben, aber die Erkenntnis der Irrtümer unserer Vorgänger hat uns diese Grenzen zugleich besser kennen, deutlicher sehen gelehrt. Sie liegen oft weit vor dem erstrebten Ziel, der klaren Antwort auf eine bestimmte Frage. Was tun, wenn ein anderer die Frage bereits klar aber falsch beantwortet hat? Darf und kann man sagen „ich weiß aus den und den Gründen, daß das eine falsche Antwort ist, aber die richtige Antwort weiß ich nicht, die kann niemand so genau wissen"? Nein, wir müssen mindestens eine Hypothese, eine mögliche Antwort geben, und auch wenn das mit aller gebotenen Vorsicht geschieht, sind wir nie sicher, daß nicht der erste beste diese Hypothese als sicheres Ergebnis ansieht, verwendet und notwendig unsichere, wenn nicht falsche Folgerungen zieht. Es gibt noch einen zweiten, besseren Ausweg: das zu definieren oder doch möglichst genau zu beschreiben, was Burckhardt das „Schwebende", „die beständigen Übergänge und Mischungen" nennt. Das tun oder versuchen die immer zahlreicher werdenden Monographien über einzelne Begriife, aus denen wir dankbar lernen. Philologie und Geschichtswissenschaft arbeiten dabei Hand in Hand. Und doch bleibt das, was man das Übersetzungsproblem genannt hat, vor allem dann, wenn man es nicht nur mit einem Begriff oder Wort, sondern mit einem ganzen Sprachwerk zu tun hat. Seit vielen Jahren bemühen sich Philologen, Literaturwissenschaftler und Historiker um Dantes Göttliche Komödie. Es gibt zahlreiche deutsche Ubersetzungen des Ganzen oder doch von wesentlichen Teilen — weit mehr als hundert — und keine kann das genau wiedergeben, was der Kenner der italienischen Sprache zu lesen und zu verstehen gelernt hat. Dante hat vor mehr als 600 Jahren gelebt. Seine Sprache ist nicht die heutige italienische Sprache und deshalb ist manches in seinem Werk umstritten. Dante lebt nicht mehr. Wir haben vor uns, was er schrieb. Was er gedacht hat, können wir nur erschließen, ja o f t nur erraten. Wir können ihn nicht fragen, nur wieder und wieder alles lesen, was er geschrieben hat und den Sprachgebrauch und die Denkweise seiner Zeitgenossen zu ergründen suchen. N u r mit sehr viel Einfühlungsvermögen, mit einem sicheren Gefühl f ü r die Dich183

tung, mit gründlicher Kenntnis des Dichters und der Welt, in der er lebte, können wir hoffen, ihn ganz zu verstehen. Das kann keine Ubersetzung vermitteln. Deshalb sind die meisten Übersetzungen mit Erläuterungen versehen, und doch kann keine zum ganzen Verstehen führen. Die „Göttliche Komödie" — jeder weiß, daß das keine Komödie ist und verwendet das Wort doch, ohne es falsch zu verstehen — die Göttliche Komödie ist eine Dichtung. Normalerweise hat es der Historiker nicht mit Dichtungen, sondern mit der Prosa des Alltags zu tun. Doch wird von ihm deshalb nicht weniger Einfühlungsvermögen verlangt. Menschen stehen ihm gegenüber, Menschen, die gelebt, gehandelt, gelitten, gedacht, gesprochen, geschrieben haben. Sie zu verstehen, sie verstehen zu lehren, das ist die wichtigste Aufgabe des Historikers. Das ist wahrlich nicht immer leicht. Im 13. Jahrhundert ist in Italien die Sage von den drei Kronen des deutschen Kaisers entstanden, von der silbernen, die er in Aachen als deutscher König, von der eisernen, die er in Monza als König von Italien, von der goldenen, die er in Rom als Kaiser erhält. Als der künftige Kaiser Heinrich VII. im Herbst 1310 nach Italien zog, muß er davon gehört haben. Weder in Monza, noch in Mailand war die eiserne Krone aufzufinden. Da ließ er eine Krone aus Eisen, oder vielmehr aus Stahl, anfertigen, ließ sich am 6. Januar 1311 damit krönen und vermachte diese Krone der Kirche S. Ambrogio in Mailand, wo er sich statt in Monza hatte krönen lassen. So wurde aus der Sage Wirklichkeit. Die stählerne Krone in Mailand ist bis ins 15. Jahrhundert nachzuweisen; die heute in Monza gezeigte „Eiserne Krone" ist aus Gold, sie war 1310 und 1311 schon da; damals war sie noch nicht die „eiserne", sie hat erst im 15. Jahrhundert diesen Namen bekommen. Sollen wir die Leichtgläubigkeit des von Dante bewunderten Kaisers Heinrich tadeln, der einer Sage zuliebe eine stählerne Krone anfertigen und sich damit krönen ließ? Sollen wir ihn und seine Zeitgenossen deshalb primitiv, naiv nennen? Oder hat dieses Ereignis für uns nicht vielmehr die Bedeutung, daß wir nicht nur diese Sage, sondern auch andere Sagen und Legenden des Mittelalters sehr ernst nehmen müssen, einfach deshalb, weil die Zeitgenossen sie ernstgenommen haben? Das Verstehen des Denkens, des Verhaltens der Menschen vergangener Zeiten ist deshalb, und ich könnte noch viele andere Beispiele anführen, durchaus nicht leicht. Dafür ist außer aller Fachausbildung und Begabung noch eins notwendig, wovon idi bisher noch nicht gesprochen habe: Menschenkenntnis. Kenntnis der Menschen und ihres Verhaltens, wie es nur die persönliche Erfahrung lehren kann, und Selbsterkenntnis, das 184

heißt, das Wissen um die eigenen Grenzen. Menschenkenntnis, Erfahrung und Selbsterkenntnis aber sind etwas, was Jungen und Alten nicht in gleicher Weise gegeben ist. Mag Intuition sie gelegentlich glücklich ersetzen können, darauf verlassen kann sich niemand. Aber sicher ist, daß die gewissenhafte Beschäftigung mit der Geschichte den Schatz der Erfahrungen bereichern kann. Soll das geschehen, dann darf die Geschichtswissenschaft nicht nur nach der Vorgeschichte der Gegenwart fragen, nicht richten nach den politischen oder sittlichen oder irgendwelchen anderen Prinzipien der Gegenwart. Nicht die „Bewältigung der Vergangenheit" ist die Aufgabe des Historikers, so wenig wie das Voraussagen der Zukunft. Nicht das Verständnis der Gegenwart ist das erste Ziel, sondern das Verständnis des Menschen, der heute wie eh und je ein historisches Wesen ist, das ohne Geschichte gar nicht verstanden werden kann. Der Mensch ist aber auch ein geselliges Wesen und alle menschlichen Beziehungen, Familie, Gesellschaft, Staat (um nur wenige zu nennen), sind deshalb Gegenstand der Geschichtswissenschaft. Ebenso alles, was von Menschen geschaffen, gedacht, gesagt wurde, die ganze Umwelt, auch wenn sie uns als eine ferne, fremde Welt erscheint. Ausdrücklich möchte ich deshalb das wiederholen, was Wolfram von den Steinen vor einigen Monaten hier in Berlin gesagt hat, und mich dazu bekennen: „Daß die Geschichte, auch die Geschichte als strenge Wissenschaft, es wesenhaft mit dem Menschen zu tun habe, darauf bestehe ich. Wem das nicht ausreicht, der müßte dann über die Wissenschaft hinausgreifend sagen, die Geschichte zeige uns etwas von dem Spiel höherer Wesen mit den Menschenkindern, ein Spiel, worin der Mensch seine Natur erfüllt." Und damit ist auch schon das letzte angedeutet, was ich noch vorzubringen habe. Der letzte Sinn der Geschichte, die Erklärung f ü r Schicksal, Zufall, Unglück und ähnliches, bleibt auch dem gewissenhaftesten Bemühen des Historikers stets verborgen, ist nicht Gegenstand seiner Wissenschaft. Scheinbar ohne Rücksicht auf das Rahmenthema „Wissenschaft und Verantwortung" habe ich Ihnen möglichst konkret von einigen Problemen meiner Wissenschaft berichtet. Und ich denke doch, es ist dabei auch manches zu dem größeren Thema gesagt worden. N u n aber bin ich Ihnen zum Schluß noch eine Antwort schuldig. Sind dies die untrüglichen Anzeichen einer Krise? Die erdrückend anschwellende Masse des Stoffes und des Schrifttums, die Irreführung durch falsche Fragestellungen der Vorgänger und der Öffentlichkeit, die Verständigungsschwierigkeiten auf Grund der Unzulänglichkeit der sprachlichen Mittel: das alles gibt es doch wohl nicht nur in unserer Wissenschaft, das berechtigt deshalb niemanden dazu, von ihrer Krise zu sprechen, 185

sofern Krise als bedrohliche Wendung zum Schlimmen gemeint ist. Wer aber diese Krise als Wendung zum Guten, zur Besserung auffaßt und damit vor dem Ausruhen auf dem Erreichten, vor dem Weitermadien im alten Trott warnen will, dem stimme ich gern zu. Ob das dann freilich noch Krise genannt werden kann, sei dahingestellt.

186

DIE SELBSTDEUTUNG DES MENSCHEN IN DER MODERNEN GESELLSCHAFT Von P. R. H o f s t ä t t e r Eines der ältesten und wohl auch gültigsten Symbole für die Befindlichkeit des Menschen in der Welt — zudem eines, das uns Psychologen ganz besonders fasziniert — ist das Labyrinth, in dem Theseus den Minotaurus erlegte (Abb. 1). Nach einer freundlicheren Version mag

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Abb. 1. Das Labyrinth (Graffito, Villa d. Lucretius,

Pompeji)

es sich dabei allerdings nicht um ein beängstigendes Gewirr dunkler Gänge gehandelt haben, sondern um einen meandrisch verschlungenen Frühlingstanz (pxoös) zu Ehren der „sehr heiligen" und „weithin sichtbaren" Mondgöttin Ariadne. Es könnte sein, daß die höfische Gesellschaft kaum sehr weit vom Ursprung abwich, als sie Ende des 16. Jahrhunderts mit der Anlage von Gartenlabyrinthen begann, in denen sich Kavaliere und Damen köstlich vergnügten. Vielleicht ist die Geschichte somit nicht bedrohlicher als eine Metapher, die Schiller am 13. 2. 1793 in einem Brief an Gottfried Körner gebrauchte: „Ich weiß für das Ideal des schönen Umgangs kein passenderes Bild als einen gut getanzten und aus vielen verwickelten Touren komponierten englischen Tanz . . . Er ist das treffendste Sinnbild der behaupteten eigenen Freiheit und der geschonten Freiheit des anderen." Sei dem wie immer, das kultische Element läßt sich kaum verkennen, denn Tanz und agon sind beide Formen der Initiation. Das gilt auch vom Labyrinth, wie man es nun deuten mag, und an genau dieser Stelle beginnt die Psychologie — nicht etwa wie Nietzsche meinte, beim „Müßiggang", der zum Laster führt, weil ihm die Schönheit des Umgangs und die sakrale Regel des Tanzes fehlt. Das Laster schont weder eigene noch fremde Freiheit. 187

Das Labyrinth stellt eine Ordnung dar, die sich nicht dem einmaligen Uberblick, sondern erst dem allmählichen und •wiederholten Durchschreiten erschließt. Sprechen wir von einer Welt, deren Regelhaftigkeit sich nur im Handeln oder meinetwegen nach dem Prinzip von „trial and error" offenbart, und erinnern wir uns beiläufig daran, daß das Labyrinth seit etwa 1900 zum Prüfstein der Theorien des Lernens und auch der Intelligenz geworden ist. Es repräsentiert nämlidi die Ungewißheit, über die wir staunen — davon leitet sich ja das englische Wort „maze" her — und der gegenüber wir uns zu entscheiden haben bzw. der gegenüber wir als Absolventen eines kulturellen Initiationsprogramms bestimmte Weisen des Sichentsdieidens gelernt haben. Das uns umgebende soziale Labyrinth besitzt sozusagen Sackgassen, die zu vermeiden untunlich wäre, obwohl sie den Weg bloß verlängern. Wie schnöde wäre es doch zum Beispiel, eine ehrenvolle und schwierige Aufgabe zu übernehmen, ohne vorher die eigene Unzulänglichkeit entsprechend betont zu haben. Nicht bloß der Vollständigkeit halber muß auch an die Motivationskomponente im Lern-Verhalten erinnert werden. Von den hungrigen und durstigen Ratten, die unsere Laboratorien bevölkern, soll hier nicht die Rede sein, wohl aber von Theseus, den ein edler Vorsatz leitete, nämlich die Rettung der athenischen Opfer, und der außerdem vor dem Minotaurus Angst hatte. Damit geraten wir freilich auf einen neuen Irrweg, denn dem „Helden" läßt sich „Angst" nicht gut nachsagen; zwischen den beiden Begriffen besteht — im Deutschen — nahezu ein ausschließendes Gegensatzverhältnis. Die amerikanische „anxiety" tut hingegen dem „hero" keinen Abbruch; sie ist männlicher konzipiert als unser Wort, da sie auch ein eifriges Streben (eagerness) oder eine angespannte Erwartung bedeuten kann (Tab. 1) Einzelfragen der Forschungstechnik müssen hier freilich unerörtert bleiben; im vorliegenden Fall handelt es sich um ein Ergebnis der Methode des Polaritätsprofiles (Hofstätter 1959). Mir liegt an dem Hinweis auf das sprachliche Labyrinth, in dem sich unsere Gedanken bewegen. Zwischen „Angst" und „Furcht" verirren sie sich leidit in seltsame Philosopheme, und wir verirren uns abermals, wenn wir die neuerdings so zahlreich entwickelten Anxiety-Fragebogen der amerikanischen Kollegen auf unseren Angstbegriff beziehen. Zur Motivation des Theseus gehört entscheidend auch, daß er in die Tochter des Labyrinth-Besitzers verliebt war und daß er deren Gegenliebe fand. Diesem Umstand verdanken wir die Geschichte von dem Wollknäuel (dyctöis), dessen Faden Theseus am Eingang befestigte, um sich an ihm bei der Rückkehr zu orientieren. Ein gespannter Faden macht keine Umwege; er schaltet die Verwirrung aus, und er läßt sich damit in seiner Wirkung der durch Lernen im Ge188

Tabelle 1: Angst und

A N X I E T Y (A) A N X I E T Y (E) A N G S T (D) Gefahr Tragödie Haß Diktator Männlich Erfolg Liebe Held Ekel Einsamkeit Weiblich Schlaf Langeweile Ermüdung

Anxiety*)

ANXIETY (A)

ANXIETY (E)

ANGST (D)

— 65 30

65 — 65

30 65 —

96 68 59 55 54 47 37 32 20 08 -06 -34 -63 -68

60 57 61 48 -11 -36 -35 -19 60 13 -53 -64 13 -20

-07 38 42 16 -67 -74 -85 -68 74 36 -63 -47 63 33

*) Hier und in den folgenden Tabellen werden die Ähnlidikeitsmaße (Korrelationskoeffizienten : - 1 , 0 0 ^ Q iS 1,00) ohne Null und Komma geschrieben. A = Amerikanisch, E = Englisdi, D = Deutsch.

däditnis gespeicherten Erfahrung vergleichen. Der Faden der Ariadne ist vielleicht ein besseres Bild als der Fluß Heraklits f ü r die Kontinuität in der Veränderung. Kein einziger seiner Querschnitte ist selbst ein Faden und doch besteht er aus nichts als diesen. Von der Zeit läßt sich etwas Ähnliches sagen und von der „Persönlichkeit" noch einmal. Der erlernte Weg durch das Labyrinth ist wie ein Faden, der seine Identität bewahrt, und jene Identität im Wandel der zeitlichen Begebenheiten, deren wir uns zu erinnern vermögen, ist unsere Persönlichkeit. „Ich bin mein Erinnern" übersetzt Joseph Bernhart Augustinus (ego sum qui memini, Conf. X, 16) ganz im Sinne John Lockes („the same thinking thing in different times and places"; An essay concerning human understanding II, 27, 9; 1690), Leibnizens (Nouveaux Essais sur l'entendement humain, 1704/1765) und Christian Wolfis („persona dicitur ens, quod memoriam sui conservat"; Psychologia rationalis § 741; 1734). Der Faden im Labyrinth beschwichtigt, wie ich meine, nicht bloß die Besorgnis in einem äußerlichen und dinglichen Sinn, er garantiert vielmehr „the sameness of a rational beeing" (Locke), die in Frage zu stellen das wesentliche Merkmal aller Lebensangst ist. So gesehen erweist sich der Mythos von Kreta aber als symbolische Schilderung einer Initiation, in der immer und überall wieder — wenn auch der 189

Form nach vielfältig variiert — das wegbestimmende Wort „ D u bist" gesprochen wird. Dieser Sachverhalt war nicht eigentlich zu entschleiern, sondern bloß in Erinnerung zu rufen, nachdem ihn Johann Jacob Bachofen schon am Bilde des Seilflechters Oknos („Versuche über die Gräbersymbolik der Alten", 1859) herausgearbeitet hat 1 . Ich kann mich freilich auch nicht ganz der Vermutung erwehren, daß selbst noch in Schillers Brief von 1793 eine Initiation gemeint ist; das „Ideal des schönen Umgangs" assoziiert sich leicht mit Adolph von Knigge's 5 Jahre zuvor erschienenem „Umgang mit Menschen", und die Maxime von der behaupteten eigenen Freiheit und der geschonten Freiheit des anderen klingt fast wie die Devise des durch Weishaupt und Knigge repräsentierten Illuminaten-Ordens. Daß alljährlich mehrere tausend Ratten in psychologischen Laboratorien durch Labyrinthe laufen, ist f ü r unser Thema recht belanglos. Audi die daran anknüpfenden Theorien brauchen uns hier nicht zu beschäftigen, denn sie sprechen das eine nicht aus, woran mir im Moment liegt: die Sinnbildlichkeit des Labyrinths für eine Wissenschaft, die es mit der Selbstdeutung des Menschen zu tun hat, des Menschen, der im Vollzug eben dieser Selbstdeutung zur „personal identity" (Locke) gelangt: „ K r a f t (dieser Erkenntnis) ist jeder für sich das, was er sein eigenes Ich nennt" überträgt Leibniz den Lodte'schen Text. Vielleicht geht vom Labyrinth so etwas wie eine geheime Faszination aus, die wir uns im emsigen Betrieb des Alltags der Forschung bloß nicht einzugestehen die Zeit finden. Wollten wir uns die besinnliche Pause dennoch einmal gönnen, würde uns bald klar, daß ausnahmslos alle Fragen der Psychologie nach dem Labyrinth konvergieren. Das ist näher auszuführen: Sie gelten einmal der Orientierung des Verhaltens in der Umwelt und zum anderen der Amplifikation des mystischen Wortes „ D u bist". Faden, Seil und Tanz haben diesen doppelten Bezug auf die Dauer im Wandel, auf den Kosmos im Chaos. Von „ D ä m o n " und „Tyche" spricht Goethe in „Urworte orphisch" (1817/1820). Unterbrechen wir für einen Augenblick den Gedankengang durch den Hinweis darauf, wie lächerlich billig wir zuzeiten die Ordnung der Welt einzuhandeln bemüht sind. Ich meine damit die Klischeevorstellungen, mit denen wir uns im Labyrinth zu orientieren pflegen. D a gibt es z. B. „Berliner" und „Wiener", die beide recht genau zu wissen vermeinen, wie einerseits sie selbst und zum anderen ihre Gegenüber beschaffen sind. Wir können einige von ihnen bitten, uns diese Vorstellungen in einer aus zwei Dutzend Gegensatzpaaren bestehenden Primitiv-Sprache mit Hilfe des sogenannten Polaritätsprofiles zu beschreiben und wir erhalten immer wieder recht ähnliche Auskünfte, d. h. Profile. Vergleichen wir diese mit den Profilen anderer 190

Auto-Stereotype

BB WB WW BW Held DD Männlich Freiheit Gesundheit Liebe Persönlichkeit Selbstbeherrschung Genuß Intelligenz Gefahr Weiblich Stolz ö ö Gemüt Leichtlebigkeit Bescheidenheit Schlaf Diktator Haß Einsamkeit Ekel Ermüdung Angst Langeweile

Tabelle 2: und Hetero-Stereotype der Berliner und der BB

WB

— 74 48 28 94 92 90 90 90 84 83 74 74 72 57 55 53 45 36 34 24 20 19 06 -24 -57 -78 -79 -92

Wiener*)

ww

BW

74 — 21 -07

48 21 — 80

28 -07 80 —

85 72 87 72 61 47 67 56 36 70 67 15 77 09 -08 25 -16 -19 64 38 -12 -24 -92 -48 -62

43 48 30 53 61 60 38 37 72 18 22 66 -08 92 52 53 57 43 -20 -65 -35 -49 -11 -66 -46

14 15 -02 25 47 41 14 08 60 00 -10 71 -12 87 46 53 58 43 -48 -69 -64 -52 07 -62 -20

-

* ) B B = Berliner beschreiben Berliner, W B = Wiener beschreiben Berliner, W W = Wiener beschreiben Wiener, B W = Berliner beschreiben Wiener, D D = Deutsche beschreiben Deutsche, ö ö = Österreicher besdireiben Österreicher.

Begriffe quantitativ durch Korrelationskoeffizienten, so ergibt sich ein recht einprägsames Bild (Tab. 2). Berliner sowohl als Wiener sehen „den Berliner" als männlich, tatkräftig und selbstbeherrscht; „der Wiener" erscheint sidi selbst und den Berlinern als -weiblich, genußorientiert und bescheiden. Auffällig ist, wie sehr in beiden Fällen Selbsturteil und Fremdbild übereinstimmen (Q = 0,74 bzw. 0,80); aber beide Städte treiben ja auch nicht wenig an „kultureller Propaganda", wodurch sie jeweils die Bilder, die sich andere von ihnen madien, im Sinne ihrer Selbstbilder zu beeinflussen trachten. Zur Sache selbst mag hier der Kommentar Goethes

191

(Maximen und Reflexionen, Nr. 293) genügen: „Wie in Rom außer den Römern noch ein Volk von Statuen war, so ist außer dieser realen Welt noch eine Welt des Wahns, viel mächtiger beinahe, in der die meisten leben". Statuen für wirkliche Menschen, zu halten, das heißt, aus dem Labyrinth unverrichteter Dinge zurückzukehren statt es zu bewältigen; der Minotaurus würde weiterhin athenische Jungfrauen und Jünglinge verschlingen — Opfer des Wahns. Nach diesem Exkurs zurück zur Psychologie! Von ihr wäre nun in Abhebung von der Pseudo-Psychologie des Statuenvolkes zu sagen, was von manch' einer Disziplin gilt, daß sie nämlich aus der sakralen Sphäre stammt und — um als Wissenschaft bestehen zu können — sich der Säkularisierung verschrieben hat. Mit dieser Einsicht ist jedoch zunächst wenig gewonnen, denn sie stellt sich verfrüht in unserem Konzept ein. Sie wird an Tiefgang gewinnen, wenn wir die uns zwar geläufige, aber an sich recht merkwürdige Konstitution einer Gesellschaft betrachten, in der Anliegen der Selbstdeutung von der Allgemeinheit auf die Inhaber bestimmter Rollen delegiert werden. Idi bin ziemlich sicher, auf einhellige Ablehnung zu stoßen, wenn ich die Ansprüche der Zeit an die Psychologie karikierend auf die Formel bringe, sie wäre die Stelle, wo man sich erkundigt, wer man eigentlich sei. Ist die These aber wirklich ganz so falsch? Sicherlich läßt sich gegen sie einwenden, daß sie in radikalster Weise dem Imperativ des delphischen Apollo zuwiderläuft, wonach jeder sich unablässig zu bemühen habe, sich selbst zu erkennen. Bei einiger Neigung zum Moralisieren wäre ferner entgegenzuhalten, daß es ein Armutszeugnis schwerster Art darstelle, wenn Menschen aus sich heraus nicht mehr wüßten, wer sie denn wirklich seien. Derlei möchte wohl dem „Massenmenschen'' geziemen oder dem zum Hades dafür verdammten Zauderer Oknos, nicht aber einer echten und wohlgerundeten Persönlichkeit, nicht Theseus also, sondern vielmehr dem Minotaurus oder den Ratten. Warten wir etwas ab und erinnern wir uns einstweilen bloß des Umstandes, daß Theseus den Faden von Ariadne und diese wiederum von Daidalos, dem Erbauer des Labyrinths, erhalten hat. Der Faden kommt somit „von außen", wie die Vernunft in der Lehre des Aristoteles: T Ö U VOÜV HÖVOV 6üpa6ev I M I C T I E V A T (de gen. an. 736 b). Von Heraklit 2 bis Plutarch3 wiederholt die Antike die Lehre von der scheinbar inneren Stimme, die von außen her ins Innere gelangte. Wir sollten sie daher wohl nicht leichten Herzens verwerfen, auch wenn Schiller versichert . . . das Wahre! Es ist nidit draußen, da sucht es der Tor es ist in Dir, D u bringst es ewig hervor 4 .

Es liegt mir daran, so scharf wie möglidi zu kontrastieren, denn 192

Tabelle 3: Die Verteilung der Erwerbstätigen auf Industrie, Landwirtschaft und Dienstleistungen in Prozent (nach R. Wagenführ). Land Thailand Türkei Pakistan Indien Ägypten Mexiko

Jahr

I

L

D

D'

D—D'

1947 1950 1951 1951 1947 1950

2,4 7,4 7,6 9,9 12,4 16,8

85,8 85,7 79,5 73,9 65,4 60,8

11,8 6,9 12,9 16,2 22,2 22,4

14,4 17,4 17,5 18,9 20,5 23,2

- 2,6 -10,5 - 4,6 - 2,7 1,7 - 0,8

18,0

59,0

23,0

1954 1950 1950 1947 1954 1947 1951 1950 1954 1951 1950 1954 1951 1947

22,3 25,5 30,0 30,1 31,4 34,2 36,0 37,0 37,2 37,6 41,1 46,4 49,2 50,2

45,2 49,6 45,0 26,7 41,2 19,8 19,3 12,5 27,5 32,6 20,5 20,6 5,3 12,5

32,5 24,9 25,0 43,2 27,4 46,0 44,7 50,5 35,3 29,8 38,4 33,0 45,5 37,3

E r d m i 11 e 1 Japan Spanien UdSSR Argentinien Italien Niederlande Kanada USA Frankreich Österreich Schweden Bundesrepublik Großbritannien Belgien

Deutschland

26,6 28,5 31,3 31,4 32,2 33,8 35,0 35,6 35,7 36,0 38,2 41,4 43,1 43,7

-

-

5,9 3,6 6,3 11,8 4,8 12,2 9,7 14,9 0,4 6,2 0,2 8,4 2,4 6,4

die Frage nach der Selbstdeutung des Menschen in der modernen Gesellschaft beantwortet sich anders, wenn der Faden uns durch die Tür hereingereicht wird oder wenn wir ihn selbst hervorbringen; letzteres nennt man „spinnen". Um klar zu sehen, müssen wir den im Titel enthaltenen Begriff „moderne Gesellschaft" etwas zu präzisieren versuchen. Ich bediene midi zweier Ansätze zur Bestimmung des Ortes, an dem wir im historischen Prozeß stehen. Der eine entstammt nationalökonomischen Überlegungen, und zwar der Verteilung der Erwerbstätigen eines Landes auf primäre, sekundäre und tertiäre Beschäftigungen (C. Clark, 1951; J. Fourastii, 1954). Nach den Zahlenangaben von R. Wagenführ (1959) ergibt sich ein sehr deutliches Bild (Tab. 3): Mit zunehmender Industrialisierung — d. h. mit der Zunahme des Prozentsatzes der in der Industrie Erwerbstätigen (I) — sinkt der Prozentsatz (L) der in der Landwirtschaft Beschäftigten (r = —0,96), während der Prozentsatz (D) der in den Dienstleistungen Beschäftigten ansteigt (r = 0,85)5. Als charakteristische Übergangsphasen eines im Prozeß der Industrialisierung begriffenen Landes scheinen die Punkte L = 70 °/o 13

193

(D = 19 ®/