Wissenschaft als Bricolage: Die soziale Konstruktion der Schweizer Nanowissenschaften [1. Aufl.] 9783839423400

Das herkömmliche Verständnis der Konfiguration von disziplinären Wissenschaften wird in diesem Buch zur Diskussion geste

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Wissenschaft als Bricolage: Die soziale Konstruktion der Schweizer Nanowissenschaften [1. Aufl.]
 9783839423400

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Peter Biniok Wissenschaft als Bricolage

Peter Biniok ist akademischer Mitarbeiter an der Hochschule Furtwangen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Wissenschafts- und Technikforschung, Mensch-Technik-Interaktion und Innovationsforschung.

PETER BINlOK

Wissenschaft als Bricolage Die soziale Konstruktion der Schweizer Nanowissenschaften

[ transcript]

Die vorliegende Arbeit wurde 20r2 von der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:/ jdnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfaltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Motivs von: .marqs j photocase.de Lektorat & Satz: Peter Biniok Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2340-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http:jjwww.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort 17 1. Einleitung: Dynamik von Wissenschaft

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2. Neue Wissenschaftsfelder 19 2.1 Die Theorie des Handeins von Anselm L. Strauss I 20 2.2 Bricolage als Form prozessualen Ordnens 136 2.3 Wissenschaftliche Disziplin als Strukturmerkmal der Makroebene 147 2.4 Forschungsarbeit als Interaktionen der Mikroebene I 55 2.5 Entstehung von Wissenschaftsfeldern durch Forschungsarbeit I 65 2.6 Konstruktion eines Wissenschaftsfeldes I 79 1

3. Nanowissenschaftliche Forschung und soziologischer Zugang 83 3.1 Was ist nanowissenschaftliche Forschung? I 84 3.2 Methodisches Vorgehen und Forschungspraxis I 91 3.3 Schweizer Nanowissenschaften- eine Ortsbegehung 1105 3.4 Empirieaufriss 1121 1

4. Entwicklung der Nanowissenschaften an der Universität Basel 1123 4.1 Ein Symposium zu Ehren des »Nano-Papstes« 1124 4.2 Rastersondenmikroskopie und Instrumentationskollektiv 1129 4.3 Zwischenstand: eine nanowissenschaftliche Physik-Trajektorie I 148 4.4 Disziplinäre und institutionelle Erweiterung 1149 4.5 lnstitutionalisierung durch Arenenmanagement 1160

5. Technologische Plattformen der Nanowissenschaften 1 165 5.1 Technologische Plattformen in der Schweiz 1167 5.2 Passive Infrastruktur vs. handlungsleitende soziotechnische Arena 1170 5.3 Technologieentwicklung und technische Ausbildung 1175 5.4 Prägung der Nanowissenschaften in technologischen Plattformen I 193 6. Nanowissenschaftliche Events 199 6.1 Nanowissenschaftliche Events, deren Teilnehmer und Formate 1200 6.2 Events als eine spezifische Veranstaltungsform 1203 6.3 Situative Vergemeinschaftung 1207 6.4 Adressierungsdimensionen 1211 6.5 Sichtbarkeit, Legitimation, Kontaktgenerierung 1221 6.6 Prägung der Nanowissenschaften auf Events 1226 1

7. Schluss: verteilte Interaktionen und aggregierte Wissenschaftsfelder 229 7.1 Arenen der Nanowissenschaften und komplementäre Prägung 1229 7.2 Beständige Vielfalt und fortwährende Assoziation 1235 7.3 Konstruktion der Nanowissenschaften: weiterführende Thesen 1237 7.4 Aggregation durch verteilte Forschungsaktivitäten 1240 1

Anhang I 243 Anhang A- Geführte Interviews I 243 Anhang B - Durchgeführte Beobachtungen I 244 Literatur I 247

Vorwort

Die vorliegende Publikation ist das Ergebnis meiner Promotion und stellt Resultate aus dem vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Projekt »EpistemicPractice, Social Organization, and Scientific Culture: Configurations of NanoscaleResearch in Switzerland« (2006-2012) unter Leitung von Prof. Martina Merz an der Universität Luzern vor. Ich danke dem Nationalfonds für die Finanzierung des Projekts, der Universität Luzern für die Bereitstellung von Infrastruktur und Dienstleistungen sowie den beiden Gutachtern der Dissertation Martina Merz und Prof. lngo Schulz-Schaffer. Verschiedene weitere Personen haben zu einem erfolgreichen Abschluss der Promotion beigetragen. Ich bin vor allem dem Projektteam der Universität Luzern für dessen Unterstützung bei der Anfertigung der Dissertation zu Dank verpflichtet: sowohl insbesondere Martina Merz als auch Dr. Daniela Baus und Philippe Sormani PhD für inhaltliche Diskussionen, kritische Anmerkungen und konstruktive Anregungen sowie Anna Chudozilov, Nina Hochstrasser, Marianne Jossen und Laura Schneider für Transkriptionen, Auswertungen von Datenbanken und andere Hilfestellungen. Ebenso möchte ich die kollektive Leistung der Forschungs- und Doktorierendenwerkstatt der Universität Luzern hervorheben, die mir immer wieder zu einer sachdienlichen Reflexion meines Vorhabens verholfen hat. Ich spreche zudem Prof. Jürgen Raab und Prof. Jörg Strübing für die gewinnbringenden Diskussionen zur handlungstheoretischen Fundierung im Allgemeinen und zu Strauss' Theorie des Handeins im speziellen meinen Dank aus. Weiterhin ist die hohe Bereitschaft der Schweizer Nanowissenschaftler zu betonen, sich als Interviewpartner zur Verfügung zu stellen und mir Zugang zu den Orten ihrer Forschung zu gewähren. Im Einzelnen möchte ich mich ausdrücklich bei den Wissenschaftlern des »Swiss Nanoscience Institute« der Universität Basel bedanken. Zudem danke ich der Leitungsgruppe des »Centre of MicroNanotechnology« an der Ecole Polytechnique Federale de Lausanne für

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die Erlaubnis zum Besuch des Reinraums, dem PolLux-Team dafür, dass sie mir Zutritt zu ihrer Strahlenlinie und ihren Arbeitsplätzen am Paul Scherrer Institut ermöglicht haben, und den Organisatoren nanowissenschaftlicher Events für deren Unterstützung beim Besuch von Veranstaltungen wie der »NanoConvention«. Nicht zuletzt bin ich Carola Biniok für ihr Vertrauen in meine Arbeit und die andauernde Ermunterung sowie Doreen Marke für ihr Verständnis für mein Vorhaben und ihre Geduld zu Dank verpflichtet.

1. Einleitung: Dynamik von Wissenschaft

Wissenschaft befindet sich in steter Veränderung. Die der Publikation zugrunde liegende Studie zur Konstruktion eines Wissenschaftsfeldes untersucht diesen Wandel am Fallbeispiel der Schweizer Nanowissenschaften. 1 In den letzten zwanzig Jahren haben die mit der frühen Nanotechnologie verbundenen Versprechen auf Erhöhung der allgemeinen Lebensqualität, Minderung gesundheitlicher Beschwerden, volkswirtschaftliche Produktivitätssteigerung usw. das Interesse wissenschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Akteure geweckt. Ausgehend von diesen Versprechen sind vielfaltige Aktivitäten in Bezug auf das sich entwickelnde Wissenschaftsfeld zu beobachten. An Universitäten konstruieren Physiker leistungsfahige Mikroskope für die Beobachtung und Manipulation von Atomen, synthetisieren Chemiker Moleküle zur Fertigung neuer funktionaler (z.B. kratzfester und beschlagfreier) Oberflächen und erforschen Biologen und Mediziner, wie Medikamente >verpackt< und präzise an die Stellen des Körpers transportiert werden können, an denen sie ihre Wirkung entfalten sollen. 2 Dem jungen Wissenschaftsfeld wird auch eine große forschungspolitische Aufmerksamkeit zuteil, die auf den von prognostizierten Innovationspotentialen nanowissenschaftlicher Forschung gründet. Weltweit werden finanzintensive nationale Forschungsförderprogramme aufgelegt, und die Nanotechnologie avanciert zu der Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts. Es entstehen vielerorts Forschungszentren und -duster eigens für nanowissenschaftliche Forschung,

Ich werde in dieser Arbeit zunächst - bevor definitorische Festlegungen eingeführt werden (vgl. Kapitel 3.1)- die Begriffe Nanowissenschaft bzw. Nanowissenschaften und Nanotechnologie synonym verwenden. Der Präfix »Nano« bezieht sich auf die Längenmaßeinheit Meter: 1 Nanometer (nm) = 10 9 Meter (m). 2

Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint

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während sich anderenorts altehrwürdige Forschungsinstitute in Hinblick auf die wissenschaftliche Exploration der Nanometerebene neu ausrichten. Im wirtschaftlichen Umfeld stößt eine erhebliche Zahl von Großunternehmen eine strategische Reorientierung ihrer Geschäftstätigkeiten mit dem Ziel an, die technologischen Anwendungspotentiale des neuen Wissenschaftsfeldes sowie die Realisierung entsprechender Entwicklungsvorhaben einer Prüfung zu unterziehen. Gleichzeitig nehmen, vor allem im Bereich der Geräteherstellung, zahlreiche kleine Unternehmen als universitäre Ausgründungen oder Start-ups ihre Arbeit auf. Nanowissenschaftliche Forschung gilt unter den beteiligten Akteuren verschiedener Gesellschaftsbereiche als ein Wissenschaftsfeld, das bislang keine festen Konturen aufweist, das quer zu den üblichen disziplinärenund institutionellen Grenzen liegt und von Angehörigen der verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen und Spezialgebiete gemeinsam bearbeitet wird. Der fächerübergreifende Charakter der Forschung wird als außerordentliche Chance für große wissenschaftliche Entdeckungen und technologische Innovationen wahrgenommen. Zugleich begreifen sowohl Vertreter der Wissenschaft als auch der Wirtschaft und Politik die damit verbundene Integration unterschiedlichster Akteure in den Forschungsprozess und die Koordination der jeweiligen Aktivitäten als eine besondere Herausforderung zur fruchtbaren Überwindung bestehender Grenzen. Die vorliegende Arbeit ist im Kontext eines sozialwissenschaftliehen Projektes zur Konfiguration nanowissenschaftlicher Forschung in der Schweiz entstanden.3 Dieses Feld bietet insofern einen besonders interessanten Untersuchungsgegenstand, als dass in der Schweiz die Rastersondenmikroskopie, die sowohl von nanowissenschaftlichen Akteuren, als auch von Forschern der »Science and Technology Studies« als besonders bedeutsam für die Konstitution der Nanowissenschaften angesehen wird, ihren Ursprung hat. Zudem sind mit der Konstruktion dieser Technologie im Jahr 1981 frühzeitig einsetzende Forschungsaktivitäten verbunden, die mehr als zwanzig Jahre zurückliegen. Sie markieren insofern eine Differenz zur Entwicklung nanowissenschaftlicher Forschung in anderen Ländern. Ebenso lässt die im internationalen Vergleich eher geringe finanzielle Unterstützung von staatlicher Seite darauf schließen, dass es sich bei den Nanowissenschaften in der Schweiz um einen außergewöhnlichen Fall handelt.

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Es handelt sich um das vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierte Projekt »Epistemic Practice, Social Organization, and Scientific Culture: Configurations of Nanoscale Research in Switzerland« (2006-2012) unter Leitung von Prof. Martina Merz.

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EINLEITUNG: DYNAMIK VON WISSENSCHAFT

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FORSCHUNGSVORHABEN UND FRAGESTELLUNG

Die Prominenz eines fachlich und institutionell heterogenen, sich in Wandlungsprozessen befindlichen Wissenschaftsfeldes wie den Nanowissenschaften gibt Anlass, die Entstehung und Entwicklung des damit assoziierten Forschungszusammenhangs genauer zu untersuchen. Ziel des empirischen Teils der vorliegenden Studie ist es, ein besseres Verständnis der Bedingungen und Grundlagen dafür, dass sich nanowissenschaftliche Forschung heute auf die gegebene Weise und nicht anders präsentiert, zu erarbeiten. Insbesondere die Charakterisierung der fortwährenden Dynamik des Feldes stellt dabei ein zentrales analytisches Moment dar. An dieser Stelle setzt mein Forschungsvorhaben zunächst mit der Frage an, aufwelche spezifische Weise das Wissenschaftsfeld Nanowissenschaften hervorgebracht wird. In den Science and Technology Studies, zumal soziologischer Prägung, wird die Dynamik von Wissenschaft bereits seit vier Jahrzehnten als zentrales Forschungsthema behandelt. 4 Bis heute hat diese Forschung nicht an Aktualität verloren, da immer wieder andersartige Formen wissenschaftlichen Arbeitens entstehen und sich fortwährend neue wissenschaftliche Strukturen und Institutionen herausbilden. Nanowissenschaften erscheinen hier als ein aufschlussreiches kontrastierendes FallbeispieL Einerseits lassen sich Beobachtungen zur Entstehung und Entwicklung von Wissenschaftsfeldern aus anderen Forschungszusammenhängen überprüfen und die derart gewonnenen Erkenntnisse differenzieren. Andererseits stellen die spezifischen Charakteristika nanowissenschaftlicher Forschung eine Herausforderung für die soziologische Analyse des Phänomens und des damit verbundenen konzeptuellen und methodischen Zugangs dar. Denn obwohl nanowissenschaftliche Forschung bislang nicht als kohärentes Wissenschaftsfeld oder neue Disziplin in Erscheinung tritt, präsentiert sich dem Beobachter inzwischen eine kontinuierlich bestehende und relativ stabile Konfiguration nanowissenschaftlicher Forschungsaktivitäten. Die o.g. Frage nach der Hervorbringung der Nanowissenschaften lässt sich vor diesem Hintergrund bezüglich des Ursprungs der Feldentfaltung konkretisieren: Auf welche Weise wird das Wissenschaftsfeld Nanowissenschaften durch Interaktionen fachlich und institutionell heterogener Akteure konstruiert? Die Reformulierung impliziert, dass die Entstehung und Entwicklung eines Wissenschaftsfeldes aus interaktionistischer Perspektive erklärt werden kann. Diese Annahme gründet auf dem theoretischen Argument, dass die Dynamik der Nanowissenschaften über einen strukturalistischen oder (struktur-)funktionalisti4

Vgl. zu den Arbeiten der Science and Technology Studies bspw. Heintz/Nievergelt 1998; Sismondo 2003; Weingart 2003; Jasanoffu.a. 2007; Rammert 2007.

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sehen Ansatz nicht hinreichend gefasst werden kann. Denn »systematische Aussagen zum sozialen Wandel sind diesen Theorien schon aufgrundihrer Anlage nicht >entsprungen«< (Joas/Knöbl 2004: 516, Hervorhebung weggelassen). Solche theoretischen Ansätze fokussieren Ursachen für die Beständigkeit sozialer Strukturen, Formen der Reproduktion von Gesellschaft und andere allgemein gültige Gesetzmäßigkeiten. Bei der Formierung neuer Wissenschaftsfelder liegen- im Gegensatz zu etablierten Disziplinen, die insbesondere in den Organisationsstrukturen von Universitäten verankert und als Forschungsrichtungen institutionalisiert sind -jedoch kaum profilierte Strukturen vor, an denen eine sozialwissenschaftliche Untersuchung ansetzen könnte. Auch sind die fachspezifischen Institutionen, die die Konstitution und Etablierung des Wissenschaftsfeldes unterstützen - zu denken wäre dabei an nanowissenschaftliche Forschungs- und Technologiezentren, Abteilungen in Forschungsförderorganisationen, Gerätehersteller und Zulieferer von Forschungsinfrastruktur oder behördliche Instanzen zur Regulierung von Nanoprodukten- oft ebenfalls noch im Entstehen begriffen, unterliegen kurzfristigen Wandlungsprozessen oder sind erst das zukünftige Ergebnis der Modifikation und Transformation bestehender Strukturen. Da sich nanowissenschaftliche Forschung einer strukturalistischen Konzeptualisierung entzieht und ex ante nicht beurteilt werden kann, inwiefern entsprechend stabile Strukturen innerhalb des Wissenschaftsfeldes vorliegen, bedarf es einer alternativen Zugangsweise seitens der Sozialwissenschaften. Aus diesen Gründen favorisiert die vorliegende Untersuchung eine interaktionistische Perspektive. Ihr liegt die Prämisse zugrunde, dass durch die Interaktionen der Akteure gesellschaftliche Strukturen erzeugt und gestaltet und demzufolge auch neue Wissenschaftsfelder durch das Handeln der Akteure konstruiert werden. Dies bezeichnet den Versuch, über einen interaktionistischen Ansatz insofern hinauszugehen, als dass auf dessen Grundlage auch Strukturbildungsprozesse erschlossen werden. In diesem Strukturbildungs- bzw. Konstruktionsprozess, so ein weiteres empirisch begründetes Argument der Arbeit, stellt Bricolage eine besondere Handlungsfarm dar. Die Befunde, dass nanowissenschaftliche Forschung in der Schweiz aufgrund der Erfindung des Rastertunnelmikroskops schon sehr früh einsetzte, jedoch ohne dass ein besonderes Engagement staatlicher Institutionen und eine gesonderte Bereitstellung erforderlicher Ressourcen zu erkennen sind, deuten auf eine wichtige Hypothese hin: dass die Akteure unter den gegebenen Bedingungen vergleichsweise spontan, opportunistisch und situativ im Umgang mit den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen nanowissenschaftliche Forschung betreiben.

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Dies würde implizieren, dass im Unterschied zur Konstitution der Nanowissenschaften in manch anderen Ländern anscheinend gerade das Fallbeispiel Schweiz die Chance bietet, im Konstruktionsprozess und Entwicklungsverlauf spezifische Interaktions- und Handlungsmuster mit Bricolagecharakter zu identifizieren. Diese Überlegungen führen zu der folgenden ausdifferenzierten zentralen Forschungsfrage: Aufwelche Weise wird das Wissenschaftsfeld Nanowissenschaften durch Interaktionen fachlich und institutionell heterogener Akteure konstruiert und inwiefern sind diese Interaktionen durch Bricolage charakterisiert?

THEORETISCHER ZUGANG: THEORIE DES HANDELNS UND BRICOLAGE

Entsprechend der Fragestellung und den obigen Überlegungen wurde als theoretische Grundlage für die Untersuchung die Theorie des Handeins von Anselm Strauss (1978b, 1993) gewählt, die den Dualismus von Handeln und Struktur zugunsten eines wechselseitigen Konstitutionsverhältnisses auflöst (vgl. Kapitel 2.1). In der Strauss'schen Theorie wird einerseits Struktur als ein Kontext des Handeins begriffen, der die Interaktionen und Aktivitäten der Akteure ermöglicht und beschränkt. Andererseits wirkt Handeln auf die Strukturen zurück und verändert diese. Akteure stellen demzufolge in kurz- und langfristigen Wandlungsprozesseil durch ihre Interaktionen soziale Strukturen her, die als Handlungsbedingungen dieser Aktivitäten wiederum wirksam werden. Entsprechend der Strauss'schen Konzeption ist die Konstruktion des Wissenschaftsfeldes Nanowissenschaften als ein kontinuierlicher Prozess zu verstehen, der sich aus heterogenen und verteilten Interaktionen zusammensetzt und zu einem gegebenen Zeitpunkt die Konfiguration des nanowissenschaftlichen Forschungszusammenhangs bestimmt. In dieser Hinsicht ist es erforderlich, die bislang vorherrschende wissens- und wissenschaftssoziologische Auslegung von Wissenschaft als System disziplinärer Einzelwissenschaften zu überdenken und entsprechend der Strauss'schen Theorie zu reformulieren. Eine solche Reformulierung stellt das konzeptuelle Ergebnis meiner Untersuchung dar und bildet zugleich den theoretischen Ausgangspunkt für den empirisehen Teil der Arbeit. In Analogie zum wechselseitigen Konstitutionsverhältnis von Handeln und Struktur wird auf eine analytische Trennung von wissenschaftlichen Disziplinen als Struktur (vgl. Kapitel 2.3) und Forschungsarbeit als Handeln (vgl. Kapitel 2.4) abgestellt (vgl. ähnlich Stichweh 1994; Weingart 1997). So gelingt es, die durch Forschungsarbeit hervorgerufenen Veränderungen im

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Gefüge wissenschaftlicher Spezialgebiete und die damit verbundene Entstehung und Entwicklung neuer Wissenschaftsfelder zu erfassen. Unter Forschungsarbeit sind verschiedene Formen wissenschaftlicher Praxis zu verstehen, die von den beteiligten Akteuren (Wissenschaftler, Unternehmer, Techniker, Politiker etc.) mehr oder weniger gemeinsam, kooperativ und grenzüberschreitend vollzogen werden und wissenschaftliche Strukturen verändern. Projektarbeit als eine dieser Formen beinhaltet das Vorbereiten von Proben und das Mikroskopieren ebenso wie das Konstruieren von Instrumenten und das Schreiben von Artikeln. Um Projektarbeit durchführen zu können, sind sowohl Vermittlungsarbeit, wie etwa Akquirieren von Fördergeldern und die Pflege von Netzwerken, als auch Organisationsarbeit (Projektleitung) notwendig. Neben diesen Formen der Forschungsarbeit treten außerdem Grenz- und Identifikationsarbeit zur Bestimmung der eigenen Forschungsrichtung und des eigenen wissenschaftlichen Selbstverständnisses auf. In Bezug auf die Fragestellung der vorliegenden Studie ist von besonderem Interesse, wie und in welchem Umfang verschiedene Disziplinen und Forschungsgebiete an der Konstruktion des Wissenschaftsfeldes nanowissenschaftlicher Forschung beteiligt sind, ob einzelne Akteure besonders aktiv sind und ob bestimmte Forschungseinrichtungen durch fortwährende Präsenz hervortreten. Strukturen (als interaktionale Sedimente) sind kontextspezifische Bedingungen, unter denen Forschungsarbeit an unterschiedlichen Orten des Wissenschaftsfeldes stattfindet, bspw. in akademischen Laboren und Instituten, in Technologiezentren und auf Konferenzen. Der strukturelle Kontext reicht dabei von Nationalstaaten, Hochschulen und organisatorischen Regelungen über die räumliche Aufteilung von Laboren und Infrastruktur bis hin zu den Routinen in der Handhabung von Technologien und dem spezifischen Know-how der Akteure. Die Analyse der an diesen Orten stattfindenden Interaktionen wird von der Frage begleitet, unter welchen Voraussetzungen welche relevanten Strukturen in diesen Situationen wirksam und/oder von den Akteuren auf welche Weise eingesetzt werden. Insbesondere interessiert hier die Rolle von Technologie bei der Entwicklung nanowissenschaftlicher Forschung. Denn es scheint, dass Technologie in Form von Forschungsinfrastruktur, d.h. Mikroskopen, technischen Anlagen und Maschinen, als Verbindungsmechanismus zwischen den Akteuren zur Konstruktion des Wissenschaftsfeldes beiträgt. Eine weitere zentrale Frage der Untersuchung lautet, wie sich die Konstruktion der Nanowissenschaften näher charakterisieren lässt, ob bspw. in Bezug auf das Handeln der Akteure bestimmte Interaktionsmuster existieren und als besondere Kennzeichen des Konstruktionsprozesses hervortreten. In diesem Zusammenhang wird die These problematisiert, dass die Konstruktion und der Verlauf

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nanowissenschaftlicher Forschung Merkmale von Bricolage aufweisen, einem spezifischen Typus des Handelns, der sich bspw. von Durchbruch (>BreakthroughLaufbahn< des Wissenschaftsfeldes unter Berücksichtigung des Beginns der K.onstruktionsprozesse, richtungweisender Ereignisse in der weiteren Entwicklung und der für die Forschung spezifischen Technologien sowie der individuellen und institutionellen Akteure, die in Interaktionsbeziehungen miteinander verknüpft sind. Im Einzelnen stellen sich Fragen wie folgt: Wie werden die grenzüberschreitenden Forschungsaktivitäten der unterschiedlichen Akteure ermöglicht und organisiert? Durch welche sozialen Mechanismen und Triebkräfte wird die Kohärenz und Bindungskraft zwischen den heterogenen Komponenten des Wissenschaftsfeldes erzeugt? Und inwiefern werden derartige Konstruktionsprozesse durch vorhandene und/oder in diesem Kontext entstehende Strukturen unterstützt? Dabei erweist sich die Tatsache, dass das Wissenschaftsfeld in actu beobachtet werden kann, als besonderer Vorteil. Die sozialen Wandel anstoßenden Konstruktionsprozesse werden direkt erfasst und nicht ex post, nachdem sie bereits Rationalisierungsprozessen unterlegen haben. Die Schweiz bietet als kleines Land zusätzlich den forschungspraktischen Vorteil, besonders umfassend Daten erheben und demzufolge detaillierte(re) und differenzierte(re) Schlussfolgerungen zur Entstehung und Entwicklung des Wissenschaftsfeldes Nanowissenschaften ziehen zu können. Dieser Sachverhalt läuft zugleich konform mit der Forderung einer ganzheitlichen Fallbetrachtung innerhalb des qualitativen Forschungsparadigmas, das der Arbeit zugrunde liegt.

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Ausgehend von der theoretischen Verankerung der Studie in der interaktionistisch-pragmatistischen Forschungstradition basiert das empirische Vorgehen auf einem ethnographischen Forschungsansatz (vgl. Kapitel 3.2). Ethnographische Methoden bieten die Möglichkeit, an der Forschungsarbeit der Akteure zu partizipieren und diese im Vollzug zu beobachten (vgl. Amann/Hirschauer 1997). Gespräche während der Beobachtung und eigens geführte Interviews bilden zudem den Ausgangspunkt flir die Rekonstruktion der Entwicklung des Wissenschaftsfeldes. Dessen Existenz offenbart sich in den retrospektiven Erzählungen der Akteure, die dem Feld eine Geschichte verleihen, und gleichsam in den prospektiven Darstellungen, die eine Zukunft des Feldes entstehen lassen. Vor Ort haben mir einerseits Professoren und Leiter nanowissenschaftlicher Institute und Organisationen sowie Nachwuchswissenschaftler verschiedener Forschungseinrichtungen in qualitativen Interviews ihre Arbeit innerhalb des nanowissenschaftlichen Forschungszusammenhangs erläutert und ihre Einschätzungen zum Status von Nanowissenschaft und Nanotechnologie in Wissenschaft und Forschung dargelegt. Andererseits hatte ich Gelegenheit, mittels teilnehmender Beobachtung in zentralen Forschungseinrichtungen und auf Konferenzen einen Einblick in die Abläufe und die Organisation nanowissenschaftlicher Forschung zu gewinnen. Dieses Vorgehen wurde von einer Dokumentenanalyse verschiedener Jahresberichte, Selbstdarstellungen, Rundbriefe, Konferenzreports usw. begleitet.

EMPIRIE: KONSTRUKTION DER NANOWISSENSCHAFTEN

Ausgehend vom wechselseitigen Konstitutionsverhältnis von Forschungsarbeit und Wissenschaft werden in drei Kapiteln verschiedene Interaktionskontexte der Schweizer Nanowissenschaften analysiert (vgl. Kapitel 4 bis 6). Anhand der gewonnenen Daten lässt sich empirisch begründen, wie Akteure durch kollektive Interaktionsprozesse in den verschiedenen organisationalen Milieus das Wissenschaftsfeld Nanowissenschaften konstruieren. An erster Stelle wird die Entstehung und Entwicklung eines regionalen nanowissenschaftlichen Forschungszusammenhangs an einer Universität nachgezeichnet (vgl. Kapitel 4). Ausgehend von einer kleinen physikalischen Forschergruppe, die ihre Forschung frühzeitig auf Rastersondenmikroskopie ausrichtet, etabliert sich (relativ ungeplant) im Laufe der Zeit ein national anerkanntes und bis heute in der Schweiz einzigartiges nanowissenschaftliches Forschungsinstitut. An diesem Konstruktionsprozess, der inkrementell, kontinuierlich und kon-

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tingent verläuft, sind fachlich und institutionell heterogene Akteure beteiligt. Der Technologie Rastersondenmikroskopie kommt dabei eine besondere Rolle zu. In einem zweiten und dritten Teil der Analyse stehen technologische Plattformen und nanowissenschaftliche Events als weitere Orte der Nanowissenschaften im Zentrum des Interesses. Technologische Plattformen (vgl. Kapitel 5) sind zentralisierte Eimichtungen, in denen verschiedene Technologien einer großen Zahl heterogener Akteure zur Nutzung bereitgestellt werden. Plattformen zeichnen sich durch eine besondere Form der Arbeitsteilung aus. Wissenschaftlichtechnisches Personal mit spezifischem Know-how leitet und betreut die Einrichtungen. Nutzer unterschiedlicher wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Bereiche verrichten kopräsent instrumentelle Forschungsarbeit in den Plattformen sie stellen mikroelektronische Bauelemente her, charakterisieren die Oberflächen von Materialien oder untersuchen biologische Proben. Von Bedeutung für die Konstitution der Nanowissenschaften sind schließlich auch Events (vgl. Kapitel 6), eine besondere Form von Veranstaltungen, an denen Akteure aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik aufeinander treffen. Anders als bei den Konferenzen homogener wissenschaftlicher Gemeinschaften steht hier nicht die Erhaltung und Erweiterung eines spezifischen Wissenskorpus im Vordergrund. Stattdessen richten sich Events an unterschiedliche Öffentlichkeiten aus Wirtschaft, Politik usw., denen Wissen über Nanotechnologie vermittelt wird und zwischen denen eine Kontaktaufnahme angeregt werden soll. Die drei untersuchten organisationalen Milieus Hochschullabore, technologisehe Plattformen und nanowissenschaftliche Events zeichnen sich durch spezifisehe Akteurskonstellationen, Interaktionszusammenhänge und Konstruktionsprozesse aus. Im Ergebnis zeigt sich eine hinsichtlich dieser Kontexte komplementäre Prägung der Schweizer Nanowissenschaften, aus der die spezifische Beschaffenheit des Wissenschaftsfeldes resultiert.

WISSENSCHAFTEN IN BEWEGUNG

In der vorliegenden Arbeit wird aufgezeigt, auf welche Weise sich in der Schweiz trotz Heterogenität und hoher Dynamik des nanowissenschaftlichen Forschungszusammenhangs kohärente Entwicklungslinien in Bezug auf ein gemeinsames Wissenschaftsfeld herausbilden. Die Form des nanowissenschaftlichen Forschungsfeldes wird in der Studie in einen Zusammenhang mit den fortwährenden Aushandlungen der Akteure und den Verläufen konstituierender Trajektorien gestellt. Wegleitend ist dabei die Vermutung, dass sich Nanowissen-

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schaften (derzeit) als dauerhafte Aggregation heterogener Komponenten manifestieren. Im Rahmen der Wissenschafts- und Techniksoziologie leistet die Untersuchung damit einen Beitrag zum Verständnis der Dynamik von Wissenschaft, d.h. der Entstehung und Entwicklung von Wissenschaftsfeldem, Spezialgebieten und Disziplinen. Komplementär zur Akzentuierung einzelner Entstehungsfaktoren wie bspw. Erwartungen, Diskursen und Erfindungen wird der Blick auf konkrete Interaktionen und Situationen gelenkt und gezeigt, inwiefern durch verteilte Interaktionen institutionell und fachlich heterogener Akteure in verschiedenen organisationalen Milieus ein neues Wissenschaftsfeld konstruiert wird. Zusammenfassend ist das Ziel dieser Arbeit, das Verständnis der Konfiguration von disziplinären Wissenschaften zur Diskussion zu stellen, die Dynamik von Wissenschaftsstrukturen interaktiv zu begründen und damit dem kontinuierlichen Fluss von Forschungsaktivitäten mehr Bedeutung zuzumessen.

2. Neue Wissenschaftsfelder Theoriebasis, Konzepte, Entstehungsdimensionen

Die vorliegende Arbeit untersucht die Entstehung und Entwicklung der Nanowissenschaften in der Schweiz- ein Wissenschaftsfeld, das sich durch hohe Dynamik und Heterogenität auszeichnet. Im Vordergrund steht die Frage, wie sich in solch einem Fall der Forschungszusammenhang konstituiert, was ihn zusammenhält und wie sich das bisherige Ergebnis der Entwicklung der Schweizer Nanowissenschaften mit Blick auf vorhandene sozialwissenschaftliche Studien zur Entstehung von Wissenschaftsfeldern und Disziplinen deuten lässt. Die Beantwortung dieser Fragen erfolgt mit Bezug auf die Theorie des Handeins von Anseim Strauss, die von der Prämisse ausgeht, dass Akteure das neue Wissetlschaftsfeld in und durch ihre Interaktionen konstruieren. Dieses Kapitel setzt sich mit den in der Arbeit verwendeten theoretischen Konzepten auseinander. Zunächst wird, ausgehend vom Wechselwirkungsverhältnis von Handlung und Struktur, Strauss' Theorie des Handeins anhand ihrer primären Konzepte »Arena«, »soziale Welt«, »prozessuales Ordnen« und »Trajektorie« vorgestellt (2.1 ). Da die Theorie des Handeins als Gesellschaftstheorie zu allgemein ist, um auf den Gesellschaftsbereich Wissenschaft angewendet zu werden, wird sie durch das Konzept »Bricolage« (franz.: Bastelei) entsprechend angepasst (2.2). Bricolage fasse ich als eine Form des prozessualen Ordnens, durch die die Konstruktion des neuen Wissenschaftsfeldes erfolgt. Die Bezugnahme auf das Bricolagekonzept erlaubt es außerdem, bei der Analyse Materialität und Lokalität als besonders relevante Strukturmerkmale zu berücksichtigen. Da sich diese Studie mit der Untersuchung von Wissenschaft beschäftigt, wird anschließend auf den Grundgedanken von Disziplinen und deren Entstehung eingegangen (2.3). Disziplinen sind keine homogenen, sondern in sich differenzierte Strukturen, weshalb bei der Analyse von Wissenschaft und Forschung die heterogenen Fach- und Spezialgebiete oder andere Forschungszusammenhänge zu unterscheiden und entsprechend in den Blick zu nehmen sind.

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Neue Disziplinen und Wissenschaftsfelder bauen stets auf vorhandenen Forschungsgebieten auf und entstehen über zwei gegenläufige Modi. Erstens sind es Prozesse der Spezialisierung und Differenzierung, die neue Disziplinen, Subdisziplinen bzw. Spezialgebiete entstehen lassen, und zweitens führen Prozesse der Rekombination und Aggregation solcher spezialisierten Strukturen wieder zu neuen größeren disziplinären Zusammenhängen. Entgegen einer derartigen Makroperspektive auf die Dynamik der Wissenschaften liegt der Ausgangspunkt meiner Analyse auf der Interaktionsebene. Disziplinen bzw. Spezialgebiete gehören als mögliche relevante Strukturen weiterhin zum Erklärungsschema, da Disziplinen und Forschungsarbeit, gemäß der Theorie des Handelns, als Struktur und Handeln verstanden werden. Handeln findet in der vorliegenden Untersuchung seinen Ausdruck in Forschungsarbeit, die ich als heterogene Kooperation konkretisiere, um die zahlreichen Facetten von Forschungsaktivität und die Vielzahl der beteiligten Akteure zu erfassen (2.4). Durch den kollektiven Prozess der Forschungsarbeit werden die Strukturen wissenschaftlicher Disziplinen kontinuierlich und mehr oder weniger dauerhaft verändert (2.5). Neue Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefelder entstehen aus der eingenommenen Mikroperspektive aufgrund verschiedener Faktoren, die jeweils in unterschiedlichem Umfang wirksam werden, u.a. Entdeckungen und Erfindungen, Erwartungen, staatliche Forschungsförderung und die Einrichtung von Forschungszentren oder zentrale Akteure und deren Netzwerke. Eine Zusammenschau diverser Studien der »Science and Technology Studies« (i.F. STS) werden dies - auch flir den Fall nanowissenschaftlicher Forschungillustrieren (2.6).

2.1

DIE THEORIE DES HANDELNS VON ÄNSELM

l.

5TRAUSS

Im Folgenden wird der theoretische Grundstein für die Analyse der Entwicklung des Wissenschaftsfeldes Nanowissenschaft gelegt. Ausgehend vom Wechselwirkungsverhältnis von Handlung und Struktur wird Strauss' Theorie des Handeins anhand ihrer primären Konzepte vorgestellt.

2.1.1 Ausgangspunkt: Handlung und Struktur Soziologische Handlungstheorien werden u.a. danach unterschieden, ob sie in ihrer grundlegenden Argumentation die untersuchten Phänomene strukturalistisch

2.

THEORIE NEUER WISSENSCHAFTSFELDER

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oder interaktionistisch begründen oder ob sie eine Position beziehen, die weder Strukturen noch soziales Handeln vorrangig betont. Im letzteren Fall wird eine Theorierichtung vertreten, die weder für eine determinierende Beeinflussung sozialen Handeins durch gesellschaftliche Strukturen Stellung bezieht noch voluntaristisch soziales Handeln als unbeeinflusst durch die bestehenden Gesellschaftsstrukturen und lediglich als Ergebnis individueller Norm- oder Zweckerfüllung begreift. Vertreter dieser Denkrichtung unternehmen den Versuch, die Dualität von Handlung und Struktur zu überwinden und deren Wechselwirkungsverhältnis für die Erklärung sozialer Phänomene und sozialer Ordnung heranzuziehen. Heidenreich (1998) verortet derartige Theorien jenseits bzw. im Kreuzpunkt rationaler und sinnhafter sowie individualistischer und kollektivistischer Konzepte. Dies begründet er damit, dass Individuen in einer kollektiven Leistung, bestehend aus einzelnen Handlungen, Gesellschaft immer wieder neu herstellen, d.h. »socialized individuals recreate society as a collective force through contingent acts offreedom« (Alexander/Giesen 1987: 14). Auch wenn die Dualität von Handlung und Struktur vermittelt wird, bleibt ungeklärt, wie stark die Seite der Handlungen und die Seite der Strukturen betont werden. Anders aufgelöst stellt sich die Frage, ob das zu untersuchende Problem bzw. soziale Phänomen primär den Wandel oder die Reproduktion von Gesellschaft betrifft. In dieser Stoßrichtung fragt Reckwitz (2003: 297) in Bezug auf Praxistheorien, ob soziale Praktiken insbesondere durch vorreflexive Routinisiertheit und Wiederholbarkeit gekennzeichnet sind oder ob ein kontinuierliches Potential kultureller Innovation und eigensinniger Veränderung der herkömmlichen Praxismuster vorauszusetzen ist. 1 »Es scheint, dass die klassische sozialtheoretische Kontroverse zwischen >strnctnre< and >agency< hier unter neuen Vorzeichen wiederaufgelegt wird.[ ... ] Im Extrem tendieren die ersten Autoren zu einem Modell unendlicher sozial-kultnreller Reproduktion, die letzteren zu einem Modell unendlicher kultnreller, >spielerischer< Offenheit.« (Reckwitz 2003: 297)

Zu den praxeologischen Kulturtheorien bzw. den Theorien sozialer Praktiken, die in diesem Kontinuum von Reproduktion und Innovation verortet werden Nach Reckwitz (2004) lassen sich innerhalb moderner Sozialtheorien Kultnrtheorien klassifizieren, bei denen kollektive Handlungsmuster und kognitive Wissensordnungen im Mittelpunkt soziologischer Untersuchungen stehen. Reckwitz unterscheidet die Kulturtheorien weiter- und damit will er zunächst eine Richtung angedeutet wissen- in eine mentalistische und eine praxeologische Variante, wobei bei ersterer der Ort des Sozialen in Eigenschaften des Geistes und des Bewusstseins zu suchen ist, während dies bei letzterer die sozialen Praktiken sind.

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können, zählt Reckwitz u.a. die Habitustheorie von Pierre Bourdieu und die Strukturationstheorie von Anthony Giddens, jene zwei prominenten Ansätze, welche die Dualität von Handlung und Struktur in ein fruchtbares Beziehungsverhältnis gesetzt haben. Bourdieus (1987, 1994) Vermittlung von Handeln und Struktur setzt auf der Ebene internalisierter Handlungsformen an. Damit gibt er eine Antwort auf die Frage, warum Akteure so handeln wie sie handeln, nämlich infolge bestimmter Dispositionen (Habitusformationen) und aufgrund struktureller Bedingungen (Ausstattung mit Kapitalsorten), welche die Reproduktion der Gesellschaft ermöglichen. Reproduktion fokussiert auch Giddens (1979, 1995), wenn er problematisiert, wie Kontinuität der Gesellschaft über Raum und Zeit hinweg erreicht werden kann, wie also in gleicher oder ähnlicher Art und Weise zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten zusammenhängende Aktionen und Interaktionen stattfinden können. In beiden theoretischen Ansätzen werden Praktiken, Mechanismen und Gegebenheiten analysiert, durch die soziale Ordnung aufrechterhalten und reproduziert wird. Die vorliegende Arbeit unternimmt den Versuch zu klären, auf welche Art und Weise ein neues Wissenschaftsfeld entstehen und sich entwickeln kann. Dadurch werden Fragen nach sozialem Wandel in den Vordergrund gerückt, während das Problem der Reproduktion von Gesellschaft in den Hintergrund tritt. Die Wahl dieser Perspektive erfordert es, einen bestimmten theoretischen Rahmen zu wählen, den ich im folgenden Abschnitt erörtern werde. 2.1.2 Interaktionistische Handeinstheorie Ich gehe davon aus, dass die Herausbildung eines neuen Wissenschaftsfeldes durch eine starke Dynamik gekennzeichnet ist, die über einen interaktionistisehen Ansatz einträglich analysiert werden kann. Denn der Interaktionismus ist gerade dort besonders erklärungsmächtig, »wo offene Strukturen und Wandel gegenüber fest gefügten und weitgehend beständigen lnstitutionalisierungen dominieren, also etwa dort, wo es [ ... ] veränderte Verlaufsformen zu analysieren oder neu entstehende Felder zu strukturieren gilt« (Strübing 2004b: 231 ). Bei der Untersuchung stehen die Interaktionen und somit die Konstruktionsleistungen der Akteure, die das Wissenschaftsfeld hervorbringen, im Mittelpunkt. Es werden zwar ebenfalls Handlungen untersucht, dies geschiehtjedoch - und hier sehe ich Differenzen zu Bourdieu und Giddens - auf der interaktionsebene in spezifischen Situationen, d.h. zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort. 2 2

Zur sozialen Situation vgl. aus anderen theoretischen Perspektiven bspw. Goffman ( 1971) oder Esser ( 1996) sowie in Bezug auf Esser Schulz-Schaeffer (2008a, 2009).

2.

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Anselm Strauss ist einer der Autoren, der die Frage des Zusammenhangs von Handlung und Struktur aus interaktionistischer Perspektive bearbeitet hat. Im Zeitraum von 30 Jahren hat Strauss in empirischer Verankerung einen Theorieentwurf geschaffen, der sich als überaus anschlussfähig an die Science and Technology Studies erweist. 3 Neben insbesondere Strübing (2005, 2007) arbeiten im deutschsprachigen Raum bspw. Münch (2003), Hildenbrand (2004) und Böhm (2006) unter Rückgriff auf die Strauss'schen Arbeiten. Im angelsächsischen Raum sind es vor allem Strauss' Schülerinnen Adele Clarke, Susan Leigh Star und Joan Fujimura, die das Theorieangebot für ihre empirischen Arbeiten im Bereich der STS verwenden und Strauss' Tradition fortführen (Fujimura 1987, 1988; Star/Griesemer 1989 und Star 2004; Clarke/Montini 1993; Clarke/Star 2003, 2008). 4 Speziell Clarke hat entscheidende Aspekte des Strauss'schen Denkens in ihrem Konzept der »situational analysis« weiterentwickelt und modifiziert (Clarke 2005; Clarke/Friese 2007). Strauss' Theorie des Handeins ist eine »theory of acting« (Strauss 1993: 258), die Strauss selbst als »structural or Pragmatist [... ] interactionism« (Strauss 1985: 1) klassifiziert und die Strübing (2005) folglich der neueren pragmatistisch-interaktionistischen Handlungstheorie zuordnet. Die Innovation des Theorieansatzes liegt darin, die Perspektive des symbolischen Interaktionismus mit der Berücksichtigung struktureller und strukturbildender Momente anzureichern und so Handeln an Strukturen zu binden. »Strauss fuhrt damit Blumers Interpretation des symbolischen Interaktionismus aus seiner mikrosoziologisch verengten Perspektive heraus und erweitert den interaktionistischen Theorieentwurf- unter Rückgriff auf seine pragmatistischen Ursprünge -zu einer umfassenden Sozialtheorie.« (Strübing 2006: 155)

Die Verknüpfung von Strauss' Theorieansatz mit Fragen des sozialen Wandels erweist sich für die Analyse von Routinebrüchen und problematischen Situationen als besonders geeignet. Das bedeutet jedoch nicht, dass in der Theorie des Handeins die notwendige Reproduktion struktureller Elemente nicht ebenso mitgedacht wird. 5 Die interaktiven Konstruktionsleistungen der Akteure werden in 3

Zudem entwickelten Strauss und Bamey Glaser das Konzept der »Grounded Theory« (Corbin/Strauss 1990; Strauss/Corbin 1996), welches in keinem Lehrbuch qualitativer Forschung fehlt, und auf das ich mein methodisches Vorgehen stütze (vgl. 3.2).

4

Insbesondere die Festschrift von Maines (1991) und weitere Sonderbände wie Denzin

5

Ebenso wenig soll behauptet werden, dass in den Theorien von Bourdieu und Giddens

(1997) oder Clarke und Star (1998) sind hier ebenfalls zu nennen. nicht auch die Möglichkeit der Veränderung von Strukturen angelegt wäre.

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den Mittelpunkt der Analyse gerückt und in Bezug auf die gegebenen strukturellen Bedingungen analysiert. Das Strauss'sche Theoriemodell vermittelt auf diese Weise zwischen Handlung und Struktur und richtet den Fokus auf das Problem der interaktiven Erzeugung von (neuen) Strukturen. Es soll daher in dieser Arbeit genutzt werden, um die Entstehung und Entwicklung des Wissenschaftsfeldes Nanowissenschaft zu beschreiben. Strauss' Theorie des Handeins erklärt die Herstellung sozialer Ordnung aus dem Handeln (action) bzw. den Interaktionen (interaction) der Akteure heraus. Akteure orientieren sich in Interaktionssituationen an vorhandenen Strukturen und verändern sie durch eben diese Interaktionen. Das setzt ein bestimmtes Verständnis von sozialen Strukturen voraus, welches konträr zu Konzepten des Funktionalismus oder Strukturalismus steht, in denen Strukturen als beständige Bestandteile von Gesellschaft aufgefasst werden (vgl. Abschnitt 2.1.4 zu Strukturen und Ressourcen). Aus Strauss' Perspektive sind Strukturen nicht festgesetzt, sondern- und dabei bezieht er sich aufElihu Gerson- ständig im Wandel, auch wenn dies von den Akteuren nicht wahrgenommen wird: >»Structure< [ ... ] may be conceptualized simply as larger-scale and/or Ionger-term process« (Strauss 1978b: 257, zitiert nach Gerson 1977: 15). In diesem Sinne konstatiert auch Clarke, dass »structural elements are not unchanging; rather, they are just slower to change than other aspects of situations« (Clarke 1991: 129), wobei dies immer aufgrund des Handeins der Akteure geschieht. Daher existiert für Strauss keine gesetzte Ordnung, sondern ist Ordnung immer ausgehandelt. 2.1.3 Aushandeln und Ordnen Das Konzept der ausgehandelten Ordnung (»negotiated order« in Strauss 1978b), welches Strauss und seine Mitarbeiter aufbauend auf Krankenhausstudien in den 1960er Jahren entwickelten, hat Strauss später zum Konzept des prozessualen Ordnens erweitert und verallgemeinert (»processual ordering« in Strauss 1993). Bei der Analyse ausgehandelter Ordnung, so Strauss, müssen drei Elemente untersucht werden (vgl. Strauss 1978b: 98/99). Erstens sind dies die Aushandlungen selbst und entsprechende Unterprozesse; zweitens der Aushandlungskontext, der direkten Einfluss auf die Aushandlungen hat, bspw. Anzahl der beteiligten Akteure oder Machtverhältnisse; drittens der strukturelle Kontext, in dem die Aushandlungen stattfinden. Ein Zusammenhang von Interaktion und Struktur wird dabei explizit angenommen: »[L]arger structural considerations need to be explicitly linked with microscopic analyses of negotiation processes« (Strauss 1993: 235). Die Akzentuierung des erweiterten Konzeptes des prozessualen Ordnens besteht einerseits in der Nutzung des Verbs »ordnen« statt des

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Substantivs »Ordnung«, um die kreative Leistung der Akteure hervorzuheben. »My use of the verb - ordering - instead of the usual noun is meant to emphasize the creative or constructive aspect of interaction, the >working at< and >working out of< ordering in the face of inevitable contingencies, small and !arge« (Strauss 1993: 245). Andererseits wird betont, dass nicht nur Aushandlungen mögliche Interaktionen sind, sondern auch andere Formen dazu zählen: » The analytical focus is on action. [ ... ] Possibilities include conflict, competition, Cooperation, exchange, andnegotiation« (Clarke 1991: 128). Analytisch setzen sich Interaktionen bei Strauss aus »interactional« and »action processes« zusammen, wobei erstere jene Aushandlungen, Kooperationen etc. beschreiben und letztere solche Aktivitäten wie Arbeiten, Spielen usw. charakterisieren (vgl. Strauss 1993: 59). Des Weiteren stellen Interaktionen nach Strauss einen kontinuierlichen Fluss dar; 6 und weil sich Handlungen und Strukturen beständig ändern, geht das gesamte Arrangement aus Akteuren, Organisationen, Regeln usw. anders aus einer Situation hervor als es in diese hinein ging. Akteure entstammen in der Theorie des Handeins verschiedenen sozialen Welten. Das Konzept sozialer Welten (Strauss 1978a; vgl. zur Übersicht auch Clarke 2005: 45ff.) verwendet Strauss unter Rückbezug auf Tomatsu Shibutani: »Soziale Welten, so schreibt er [Shibutani], sind wesentlich gemeinsame Perspektiven« (Strauss 1974: 176). Kennzeichnend für jede soziale Welt ist, dass es »one primary activity« (Strauss 1978a: 122) gibt, auf die sich alle Akteure beziehen. 7 Das Spektrum sozialer Welten ist sehr vielfältig. Diese können klein oder groß, lokal oder international sein und beschränken sich nicht auf reine Interaktionen, sondern enthalten auch Technologien und Organisationen, worauf Beispiele, wie Baseball, Surfen, Politik, Homosexualität, Wissenschaft usw., verweisen. Ein weiteres Merkmal sozialer Welten ist, dass sie sich in laufender Veränderung befinden, wobei Prozesse der Segmentierung einerseits und der Überschneidung andererseits diese Veränderungen vorantreiben (vgl. Strauss 1978a: 122f.). Mit Segmentierung bezeichnet Strauss die Unterteilung sozialer Welten in Sub-Welten, die sich überlagern und in Form von Arenen überschneiden. 6

Rammert und Schulz-Schaeffer (2002) gehen ähnlich von einem »Handlungsstrom« und nicht von einzelnen, aneinandergereihten Handlungen aus. So gelingt es, die Aktivitäten von Menschen und Technik in ihrer Verteiltheit und Verkettung zu beschreiben und zu untersuchen.

7

Vgl. »going concems« in Hughes 1993, welche die Grundlage für dauerhafte Zusammenschlüsse, wie Organisationen oder Familien bilden. Solche going concems entstehen durch ein gemeinsames Anliegen und die Interaktionen der beteiligten Akteure. Going concems erreichen zwar eine gewisse Stabilität, unterliegen jedoch einem steten Wandel, der von der Umwelt bzw. dem Kontext abhängt.

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In diesen Arenen, in denen Akteure verschiedener sozialer Welten aufeinander treffen, finden die Interaktionen statt. Das Konzept Arena bezieht sich demzufolge auf »interaction by social worlds around issues« (Strauss 1993: 226) und kann bspw. auf eine Versammlung, die Familie, das Theater oder einen Hinterhof verweisen. Grundlegend flir die Interaktionen in Arenen ist eine Uneinigkeit, die bearbeitet wird, wobei die Problembearbeitung zwischen »großem Einvernehmen und heftigen Konflikten variieren kann« (Strübing 2005: 186). Wie die Beispiele zu sozialen Welten und Arenen bereits verdeutlichen, handelt es sich hier um zwei Konzepte, die bei der Analyse von Handeln und Struktur unterschiedliche Skalierungsebenen zulassen. » The key analytical power of social worlds/arenas theory [ ... ] is that one can take advantage of the elasticity of the concepts to analyze at multiple Ievels of complexity« (Clarke 2005: 51f.). Konkrete Studien zu Aushandlungen in sozialen Welten haben Clarke und Montini (1993) in der »Abtreibungsarena« und Garetty (1998) in der »Cholesterin-Arena« vorgenommen. Clarke und Montini (1993) zeigen, wie eine neue Abtreibungstechnologie zwischen heterogenen Akteuren ausgehandelt wird. Jede Akteursgruppe entspricht einer anderen sozialen Welt, wie Wissenschaftler, Pharmaunternehmen, Frauengesundheitsgruppen u.v.a.m., und hat eine spezifische Sichtweise auf die neue Technologie, die in wechselseitigen Interaktionsprozessen konstruiert wird. Garetty (1998) verdeutlicht, wie vor allem in »staged intersections«, d.h. während einzelner Veranstaltungen, bei denen die Akteure sozialer Welten aufeinander treffen, Kontroversen zu Diabetes, entsprechenden Vorsorgemaßnahmen usw. bearbeitet werden und wie sich dabei Macht und Legitimation, insbesondere zwischen Wissenschaft und Politik, immer wieder neu auf die verschiedenen Akteure verteilt. Akteure sind bei Strauss »a unit of any size« (Strauss 1985: 6) und sowohl als Einzel- als auch Kollektivakteure denkbar, wodurch Organisationen ebenfalls Handlungsträgerschaft zukommt, d.h. Aushandlungen auch zwischen Organisationen untersucht werden können (vgl. Strauss 1982). Damit haben Organisationen eine Doppelstellung: sie sind sowohl Akteure als auch eine Einheit, die aus organisatorischen Prozessen besteht. Letzteres unterstreicht einmal mehr die Vorstellung, dass Strukturen keine festen, vorgegebenen Einheiten sind, sondern dass sich die Idee von bspw. Organisationen als einer unabhängig vom Zutun ihrer Mitglieder existierenden Entität als Fiktion erweist (vgl. Strübing 2005: 193). 8 Wie genau Handeln eines Kollektivakteurs aussieht, bleibt in Strauss' Darstellungen weitgehend ungeklärt. Hier teile ich die Auffassung Strübings (vgl. 2005: 196), dass der Handeinsbegriff eines Kollektivakteurs von den ein8

Argumentationen der gleichen Stoßrichtung finden sich in Weick (1995) und Czarniawska (2008).

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zeinen Interaktionen abstrahiert. Dennoch müssen jeder Aktion eines Kollektivakteurs, die nur durch einen Vertreter erfolgen kann, verschiedene organisatiansbezogene und -interne Interaktionen vorausgehen. Das bedeutet weiter, dass ein Vertreter der Organisation (als einer sozialen Welt) in einer Arena diese Organisation repräsentiert und in deren Sinn interagiert. Obwohl Strauss Interaktionen als Ausgangspunkt nimmt, liegt der analytische Fokus seiner Theorie auf der Mesoebene, denn es sind stets Arenen und soziale Welten, in denen von Akteuren in einem Kontext kollektiv »ordering« vollzogen wird. 9 Strauss (und seine Kollegen) »quickly moved analytically to more meso-level concerns, framing social worlds/arenas and negotiated ordering« (Clarke 2005: 53). Das bedeutet zugleich, dass die sich langsamer verändernden Strukturen nicht aus der Betrachtung ausgeschlossen werden dürfen. »An interactionist theory of acting follows through on its own assumptions, opting for the primacy of collective action. It therefore emphasizes contingencies and the inevitable changes brought about them. But at the same time it cannot, must not, fail to link contingencies and action to the more slowly moving, more stable elements ofthe social environment created and maintained sometimes many generations ago.« (Strauss 1993: 261)

2.1.4 Strukturen und Ressourcen Soziale Strukturen beziehen sich nach Strauss auf »the more or less stable or slowly changing social entities, such as institutions, organizations, social classes, stratification systems, and deep cultural or national values« (Strauss 1993: 246). Soziale Entitäten sind die Dinge, die uns in Handlungssituationen als etwas Gegebenes, als objektive Wirklichkeit begegnen und die dennoch sozial konstruiert sind (vgl. Berger/Luckmann 1995). »Structures are the enduring, >given< aspects or conditions ofsituations [and] are consequences ofprior action« (Clarke 1991: 129). Strukturen werden als Bedingungen oder Gegebenheiten relevant, wenn sie zu dem zu untersuchenden Phänomen gehören. Wird eine Gesamtheit von strukturellen Gegebenheiten in der Gesellschaft angenommen, so ist in den situativen Interaktionen nur ein Ausschnitt dessen zu berücksichtigen. » When we talk about structure we are, or should be, referring to the structural conditions that pertain to the phenomena under study« (Strauss 1978b: 257). 9

In diesem Sinn drängt Maines (1982: 277) darauf, die Mesostrukturen stärker in den Blick zu nehmen. Er sieht in der Mesostruktur den Ort, an dem Interaktion und Struktur in einen dialektischen Prozess treten: »Mesostructures are realms of human conduct through which social structures are processed and social processes become structured.«

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In den frühen Arbeiten von Strauss ist die Interaktionssituation eine Bushandlungssituation, die in einen »negotiation context« eingebunden ist, der direkte Auswirkungen auf die Aushandlung hat (vgl. Strauss 1978b). Zum Aushandlungskontextgehören bspw. die Anzahl der beteiligten Akteure, die Art der Aushandlung, Machtunterschiede, Optionen zum Abbruch der Aushandlung. Darüber hinaus hat gleichzeitig, jedoch indirekt, der »structural context« Einfluss auf die Interaktionen. »I distinguish between that !arger, structural context and a negotiation context. The structural context bears directly on the negotiation context, but the latter refers more specifically to the structural properties entering very directly as conditions into the course of the negotiation itself.« (Strauss 1978b: 99, Hervorhebungen weggelassen)

Der weitere strukturelle Kontext bezieht sich auf Variablen, wie das Justizsystem, das Gesundheitssystem, Arbeitsteilung usw. In späteren Werken verfeinert Strauss (mit Corbin) das Konzept des strukturellen Kontextes zur sog. »conditional matrix« (vgl. Strauss/Corbin 1990). 10 Die Dimensionen der konditionellen Matrix beginnen (vgl. Strauss 1993: 61/62), nach einer Art Zwiebelmodell, mit der internationalen Ebene, gefolgt von der nationalen Ebene bis hin zur Interaktionsebene (»interactionallevel«) und schließlich dem Kern der Matrix: der Handlung (»action«). Die Elemente bzw. Dimensionen, die dabei relevant werden, sind Normen und Werte, Umwelt (im Sinne von Natur), aber ebenso Löhne, Professionen und Wissen oder die Art, wie miteinander gesprochen wird. Auch wenn in den Werken von Strauss (bzw. Clarke) kaum von Ressourcen die Rede ist, ist anzunehmen, dass Akteure strukturelle Gegebenheiten für sich nutzen, die als Bedingungen »dem Handeln einen Rahmen geben, es sowohl ermöglichen als auch ihm Grenzen setzen« (Strübing 2005: 191). Zumindest in Bezug auf Organisationen spricht Strübing an einer Stelle seiner Strauss-Rezeption von Ressourcen: »Die Handelnden beziehen sich auf[ ... ] Organisationsbestände aber nicht im Sinne zwingender Strukturen, sondern vielmehr in der Art von Ressourcen« (a.a.O.: 193). Eine Möglichkeit, wie strukturelle Gegebenheiten genutzt werden können, zeigen Star und Griesemer (1989) anhand des Konzeptes der »boundary objects« (Grenzobjekten). Grenzobjekte sind Objekte (Technologie, Natur, Dinge, etc.), die einerseits allgemein genug sind, um für verschiedene Akteure als gemeinsame Referenz zu dienen, aber gleichzeitig in der jeweils eigenen Sinnwelt eine spezifische Bedeutung haben und so die Zusammenarbeit zwischen den Akteuren ermöglichen. Die Autoren beschreiben dies beispielhaft am Aufbau eines I 0 Clarke (2005) modifizierte dieses Konzept weiter znr »situational matrix«.

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Wirbeltiermuseums, an dem Sammler, Wissenschaftler und Hobby-Naturkundler beteiligt waren, als gemeinsames Kooperationsprojekt zwischen Akteuren verschiedener sozialer Welten. Eines der Grenzobjekte ist in diesem Fall der Bundesstaat Kalifomien: Hobby-Biologen wollen dessen Natur bewahren, Sammler bekommen Geld für die Felle von einheimischen Tieren und die Initiatoren des Museumsbaus stehen für die Bildung der Bevölkerung und Wissenschaftler ein. Die Landkarte der USA bzw. das räumlich abgegrenzte Gebiet Kalifornien ist Teil des strukturellen Kontextes der Interaktionen (s.o. konditionelle Matrix). Jeder Akteur hat eine andere Sicht auf die Charakteristika des Staates: Hobby-Naturkundler beziehen sich auf bekannte Straßen und Campingplätze, Sammler kennen geheime Pfade und die Orte, an denen ihre Fallen aufgestellt sind, und Biologen markieren auf der Karte Biotope und Biosphären. Auch wenn die Perspektiven der Akteure divergieren, können sich alle auf die Karte von Kalifomien als Referenzstruktur beziehen, und diese als Ressource zur Koordination der Aktivitäten und Interaktionen zwisehen den heterogenen Akteuren nutzen. Ein weiteres Grenzobjekt bei der Errichtung des Museums sind die von der Projektleitung angefertigten, standardisierten Formulare, die von den Akteuren beim Auffinden von Tieren ausgefüllt werden müssen. Dieses Grenzobjekt hat für die Sammler und Biologen usw. zwar kaum eine Bedeutung, wird jedoch seitens der Leitung als Ressource eingesetzt, um die Akteure zu disziplinieren und deren Aktivitäten zu lenken. Außerdem stehen die Formulare über die gefunden Tiere und die lokalen Gegebenheiten der Fundstelle in einer größeren Datensammlung allen Beteiligten als Informationsquelle zur Verfügung, aus der die Akteure das jeweils für sie relevante Wissen extrahieren. Der Grund dafür, dass die explizite Benennung von Strukturen als Ressourcen (wie bspw. bei Giddens) und die damit zusammenhängende Thematisierung von Kreativität in den interaktionistischen Texten keine Rolle spielt, findet sich in der Auffassung von sozialem Handeln als einem Handeln, in dem Kreativität per se angelegt ist. 11 Strauss' definitorische Nutzung des Verbs »ordnen« (vgl. 2.1.3) soll gerade »emphasize the creative or constructive aspect of interaction« (Strauss 1993: 254). Dies wird von ihmjedoch nicht weiter expliziert. Und auch die Aussagen zu Routine, Innovation und Kreativität (a.a.O.: 200-207) bleiben in Bezug darauf undeutlich. Festzuhalten ist, dass »there is a cyclical process whereby routine plays into creativity and innovation, which in time flow back into the realm of the routine« (a.a.O.: 206f.). Es gibt demnach einen Zirkel von Routine und Kreativität, in dem sich beide wechselseitig voraussetzen (vgl. auch II So geht es bspw. Joas darum, »für alles menschliche Handeln eine kreative Dimension

zu behaupten« (Joas 1992: 15).

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Planung und Routine in Soeffner 1991). Kreativität als Abweichung von Routine wird selbst zur Routine und sedimentiert sich als strukturelle Handlungsbedingung. In dieser Arbeit erhält die Ressourcen nutzende Kreativität der Akteure als Grundvoraussetzung von Bricolage besondere Bedeutung (vgl. 2.2.). 2.1.5 Trajektorien, prozessuales Ordnen und Forschungsarbeit Auch wenn in Strauss' Theorie die Strukturen das Handeln ermöglichen, wird einer strukturdeterministischen Position allerdings kein Platz eingeräumt. »Die interaktionistische Position ist vielmehr die, dass Akteure ihr Handeln im Lichte von in der Situation, so wie sie sie wahrnehmen, präsenten Handlungsbedingungen entwerfen« (Strübing 2005: 191 ). Diese Situationen sind vorstrukturiert und lassen somit nicht beliebig viele Möglichkeiten des Handeins zu. Handeln und den Kontext, den die Akteure in den jeweiligen Situationen als stabil erfahren, nennt Strauss Trajektorie. Als Bahn- oder Verlaufskurve von Geschossen bekannt, bezeichnet die Trajektorie in der Strauss'schen Theorie einen bestimmten Weg, auf dem sich Interaktionen aufgrund vorhergehender Interaktionen und Strukturierungen >bewegenEigenlebenmachbar< ist, und passen ihre Projekte dem an oder entwickeln sie entsprechend. Dabei sind sie ständig damit beschäftigt, funktionierende Resultate zu produzieren für Ziele, auf die sie sich im Augenblick eingelassen haben.« (Knorr Cetina 1984: 65)

Für die Forschungspraxis bedeutet es, wie K.norr Cetina an zahlreichen Beispielen verdeutlicht, dass im Fall fehlender Infrastruktur oder defekter Geräte Alternativen, die gerade zur Hand sind, genutzt oder Stoffe, weil sie gerade verfügbar sind, eingesetzt werden. Möglich ist auch, dass Projekte erdacht werden, um mit für das Labor neu angeschafften Instrumenten arbeiten zu können. Allerdings sind »tinkerer keine passiven Opportunisten, die nur auf lokale Möglichkeiten reagieren« (K.norr Cetina 1984: 71 ). Die Wissenschaftler sind nicht »tändelnd und desinteressiert mit der Bricolage von Materialien beschäftigt, die sich ihnen quasi aufdrängen« ( a.a.O. 1984: 11 0), sondern richten ihre Forschungsaktivitäten aus, d.h. sie wählen Erfolg versprechende Wege und suchen aktiv nach Gelegenheiten. K.norr Cetina nutzt die Beschreibung von Aktivitäten als tinkering bzw. Bricolage, um aufnicht vorgezeichnete Verläufe innerhalb bestimmter Vorhaben hinzuweisen. Planung und vorherige Akkumulation von Ressourcen treten in den Hintergrund, und aktiver Opportunismus sowie die Nutzung von vorfindbaren Ressourcen werden primär handlungsleitend.

15 Knorr Cetina übernimmt hier den Begriff des tinkerers von J acob, der damit »biologisehe Evolution als nicht-optimalen, redundanten, spielerischen Zufallsprozess« (1984: 282, Fußnote 2) kennzeichnet.

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Bricolage ist in dieser Perspektive eine lokale Aktivität an einem gegebenen Ort, die in gleicher Art und Weise an anderer Stelle nicht durchzuführen wäre. Bricolage findet in einer ortsgebundenen Arena statt. Vergleichen wir diese Auffassung von Arena mit Arenen, wie sie in der Strauss'schen Theorie angelegt sind, wird deutlich, dass Strauss' Arenen einen viel weiteren Bedeutungsraum zulassen. So werden konkrete Arenen als »sites of controversy« (Garetty 1998) beschrieben oder dadurch näher bestimmt, dass sie alle diejenigen Akteure umfassen, die »active around the technology« (Clarke/Montini 1993) sind. Erst mit Knorr Cetinas Bricolagekonzept tritt die lokale Verankerung viel stärker in den Vordergrund und damit auch die Verquickung mit der Materialität vor Ort. Knorr Cetina lehnt sich eng an den ursprünglichen Entwurf von Bricolage durch den Ethnologen Claude Levi-Strauss an, auf den ich nun kursorisch und zur weiteren Veranschaulichung eingehen werde. Ausgehend vom Vergleich zweier Formen der Erkenntnisgewinnung, nämlich Magie und Wissenschaft, führt Levi-Strauss (1968) das Konzept Bricolage ein. Magie (>wilder Völkerobjektiver< Kriterien, wie Masse oder chemische Zusammensetzung. Magische und wissenschaftliche Erkenntnis, so Levi-Strauss, seien keine Gegensätze, sondern zwei parallele Arten der Erkenntnis. Und nicht nur das, es handle sich sogar um zwei Arten der wissenschaftlichen Erkenntnis- einerseits über den Weg der sinnlichen Intuition (Sphäre der Wahrnehmung und Einbildungskraft) und andererseits über einen Weg, der ihr ferner liegt (vgl. Levi-Strauss 1968: 25-27). Erkenntnisgewinn über ersteren Weg nennt Strauss die Wissenschaft vom Konkreten. »Diese Wissenschaft vom Konkreten musste ihrem Wesen nach auf andere Ergebnisse begrenzt sein als die, die den exakten Naturwissenschaften vorbehalten blieben; aber sie war nicht weniger wissenschaftlich, und ihre Ergebnisse waren nicht weniger wirklich.« (LeviStrauss 1968: 29) Bricolage, so Levi-Strauss, ist eine Tätigkeit dieser >ersteren< Form der Wissenschaftlichkeit, welche heute immer noch in der Gesellschaft beobachtet werden kann. Während in einem ursprünglichen Sinn das Verb bricoler auf Billard und Ballspiel angewandt wurde, um eine nicht vorgezeichnete Bewegung zu betonen, ist heutzutage »der Bastler jener Mensch, der mit seinen Händen werkelt und dabei Mittel verwendet, die im Vergleich zu denen eines Fachmanns abwegig sind« (Levi-Strauss 1968: 29). Im Unterschied zum Ingenieur macht der Bastler seine Arbeiten nicht davon abhängig, ob die für das Projekt notwendigen Roh-

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stoffe und Werkzeuge verfügbar sind. Sondern seine Mittel sind begrenzt und »die Regeln seines Spiels bestehen immer darin, jederzeit mit dem, was ihm zur Hand ist, auszukommen« (Levi-Strauss 1968: 30). Die Mittel des Bastlers haben sich über die Zeit angesammelt und sind heterogen in ihrer Art. Diese heterogenen Gegenstände - den »Schatz« wie es LeviStrauss in Anschluss an Hubert und Mauss nennt - werden situativ eingesetzt, und jede Wahl eines Elementes führt zu einer vollständigen Neuorganisation der strukturellen Gegebenheiten. Das verwirklichte Projekt wird aufgrundder Spannung zwischen der Struktur des instrumentalen Ganzen und des geplanten Projektes immer von der ursprünglichen Absicht verschoben sein (vgl. a.a.O.: 34). Das Ergebnis des Vorhabens oder Projektes liegt lediglich in groben Zügen vor, und der Ablauf ist kontingent, da sich die Wahl von Ressourcen und die eingeschlagenen Wege des Bastlers auf dessen Fortgang auswirken. Mit Strauss' Worten ist der Verlauf der Trajektorie von den Interaktionen und vorfindbaren strukturellen Bedingungen abhängig. Eine ethnografische Studie von Rarper (1987) beschreibt sehr anschaulich die Verkörperung eines Brieoieurs im Sinne von Levi-Strauss. Eine Person namens Willie besitzt einen kleinen Autoshop in einer ländlichen Gegend in den USA und bietet den Einwohnern in der näheren Umgebung Dienstleistungen an, vor allem in Form von Reparaturen. »Willie does each type ofwork for a certain clientele, and each is bought and sold in its own way« (Harper 1987: 5). Im Laufe der Zeit haben sich in Willies Shop unzählige Teile von Autos, Werkzeuge und andere Gegenstände angesammelt und im Vorgarten stehen alte Autokarosserien. Die Arbeiter und Farmer aus der Gegend kommen mit spezifischen Anliegen zu Willie, der für jedes Problem eine individuelle Lösung findet. So wird in einem Fall eine Ofentür mit Scharnieren aus den Materialien, die in Willies Shop lagern, gebaut und in einem anderen Fall eine Türklinke eines Autos mit ganz anderen Mitteln, als dem Original zugrunde liegen, nachentworfen (im Original: redesigned). In einem weiteren Beispiel wird beschrieben, wie Willie einen Kühlergrill aus dem Gitter eines Gasofens, einem Eisenring eines Schomsteins und einer alten Stoßstange fertigt. Rarper (1987: 131 f.) resümiert: » The kineasthetic sense infuses all ofthe work. [ ... ] Willie's training has been informal and years-long, and it has trained the hand and the eye as weil as the mind. The result is more than the sum of its parts«. Der Akteur bzw. Bricoleur ist in der in diesem Abschnitt vorgestellten Perspektive eine Einzelperson, die kreativ die zuhandenen Mittel- mit Blick auf das zu verwirklichende Projekt- in suboptimaler Umwelt einsetzt. Er unterscheidet sich dadurch von einem Ingenieur, der über spezielles Wissen verfügt, nach ge-

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eigneten Mitteln sucht und das Ergebnis des Projektes an den Zielvorgaben misst (vgl. zu dieser Differenz neben Levi-Strauss auch Duymedjian/Rüling 2010). 16 Im Kontext der vorliegenden Arbeit ist an dieser Konzeption von Bricolage besonders interessant, dass erstens die Aktivitäten zwar stark von den lokalen Kontexten (Strukturen) geprägt und restringiert sind, die Akteure dennoch kreativ eine Lösung für vorliegende Probleme finden. Zweitens führen Ressourcen und Möglichkeiten, die zur Hand sind und sich anbieten, zur Entwicklung neuer Ideen und Vorgehensweisen, auch wenn kein dringliches Problem bestanden hat. Beide Aspekte tragen zu einem kontingenten und opportunistischen Handeln der Akteure bei. 2.2.2 Rekombination von Ressourcen und Vermehrung von Kontakten

An Levi-Strauss' Bricolagekonzept hat sich vor allem die Organisations- und Unternehmensforschung orientiert. In deren Texten zum Wandel von Organisationen und Institutionen wird im Allgemeinen ebenfalls der Einzelakteur in den Mittelpunkt gestellt; dessen Kompetenzen und Fähigkeiten werden jedoch mit Blick aufandere Sachlagen betont (vgl. zurÜbersieht Duymedjian/Rüling 2010). Es geht dabei einerseits um die Rekombination vorhandener Mittel aufgrund interner und externer Einflüsse und andererseits, dies ist ein weiterer wichtiger Punkt, um die Erhöhung von persönlichen Kontakten, die wiederum zur Aneig-

16 Ebenfalls auf der Akteursebene, jedoch als allgemeines Merkmal individuellen Lebensvollzugs in modernen Gesellschaften, beschreiben Hitzier und Honer (1994) die »Bastelexistenz«. Die alltägliche Lebenswelt der Individuen ist isoliert und durch eine Vielzahl von heterogenen Entscheidungssituationen gekennzeichnet, die sie bewältigen müssen, um sich >einzubettenprivaten< Motiven, ein durchaus zwischen Dilettantismus und Genialität changierendes Werkeln und Wirken« (31 0). Der Sinnbastler ist ein Akteur, der insbesondere fur einen Fachmann abwegige Mittel verwendet und eine hohe pragmatische Kompetenz im Bewältigen von problematischen Situationen verfugt. Der Sinnbastler weiß typischerweise genug Bescheid, um sich sein »individuelles Lebensstil-Paket« zusammenzustellen bzw. sich zwischen den »vor- und zuhandenen Alternativen« (bis auf weiteres) zugunsten einer Sinn-Heimat zu entscheiden.

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nung von Ressourcen oder in Aushandlungsprozessen mit anderen Akteuren genutzt werden können. Rekombination von Ressourcen Eine Untersuchung von Baker und Nelson (2005) beschäftigt sich mit ressourcenschwachen Firmen, die durch Rekombination von materiellen und immateriellen Gütern, die zur Hand sind, aufneue Zielstellungen reagiert haben. Die verwendeten Mittel in den untersuchten Fällen sind vielfältig und beziehen sich u.a. auf materielle Artefakte, Software, aber auch Dienstleistungen. Kreativität entsteht in diesem Ansatz primär durch Abweichung von der Routine. Dieses Vorgehen nennen die Autoren »entrepreneurial bricolage«. Bricolage definieren die Autoren als »making do by applying combinations of the resources at hand to new problems and opportunities« (Baker/Nelson 2005: 333). »Making do« zeigt sich im Testen von Begrenzungen, d.h. es werden neue Lösungen gesucht und neue Praktiken erprobt, mit dem Ziel, von konventionellen Lösungen Abstand zu nehmen. Campbell ( 1997) erklärt den Wandel ökonomischer Institutionen als Rekombination bestehender Institutionen und bezieht sich damit vor allem auf die Umgestaltung des Managements und die Re-Organisation der Unternehmen. Neben einer »mechanical imitation«, die sich auf inkrementelle (fast routinierte) V eränderungen der Organisation bezieht, identifiziert Campbell einen Prozess von »dynamic innovation«, den er mit dem Begriff Bricolage beschreibt, um damit insbesondere die Agency, d.h. die Kreativität der Akteure, zu betonen. 17 »Actors gradually craft new institutional solutions by recombining these principles through an innovative process of bricolage whereby new institutions differ from but resemble old ones« (Campbell 1997: 22). Turpin u.a. (1996) beschreiben - aufbauend auf Untersuchungen von Unternehmen und Forschungskonsortien - verschiedene Arten, wie Allianzen zwischen Industrie und Wissenschaft zustande kommen können. Grundlage dafür ist 17 In seinem Text zur Plattfonn-Organisation verweist Ciborra (1996) mit dem Konzept der Bricolage (unter Bezug aufStrauss) ebenfalls auf Akteure, die durch ihre Aktivitäten Einfluss auf die Unternehmensstruktur nehmen. Plattform-Organisation ist nach Ciborra für Unternehmen eine Möglichkeit, in turbulenter Umwelt zu überleben. Dem Management kommt dabei die Aufgabe zu, die modularen Organisationsteile je nach Situation neu zu kombinieren. »[T]he platform is the resilient outcome manufactured from the ingenious reconciliation of existing organizational mechanisms and forms, picked by management according to subjective and situated plans and interpretations« (Ciborra 1996: 104). Die Manager bezeichnet Ciborra als improvisers and bricoleurs und die Gesamtheit der Aktivitäten als »pragmatic muddling through« (a.a.O.: 116).

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ein Vier-Felder-Schema, in dem die Autoren erstens unterscheiden, ob die Initiative von der Wissenschaft oder der Industrie ausgeht. Zweitens wird das Merkmal des technologischen Fokus des Akteurs in entweder ein weites Spektrum an Technologien oder eine Kerntechnologie unterteilt. Im Anschluss daran lassen sich (die beiden Industrierollen seien vernachlässigt) zwei Wissenschaftlerrollen identifizieren: »Bricoleur« und »Boundary Rider«. Für unsere Thematik ist vor allem der wissenschaftliche Bricoleur interessant, der stets nach »new messages« Ausschau hält, die zu neuen industriellen Innovationen und wissenschaftlichen Anwendungen ftihren könnten. Nach Einschätzung der Autoren handelt es sich dabei um Wissenschaftler, die in vielen und sehr heterogenen Gruppen und Netzwerken partizipieren und dadurch Möglichkeiten flir Anschlüsse an die eigene Forschung wahrnehmen. Als Beispiel wird ein Physiker genannt, der als größten Stimulus für seine Forschungsarbeit eine Assoziation nennt, die aus Industrieakteuren, Wissenschaftlern und anderen Akteuren besteht, die alle ein gemeinsames Interesse haben: Farben. »[T]he scientific structure within which his Iabaratory work takes place [ ... ] provides the basis for his scientific knowledge. His networks [ ... ] on the other hand provide a wide range of potential applications of his knowledge« (Turpin u.a. 1996: 278). Reformulieren wir dieses Beispiel aus Sicht der Theorie des Handelns, so stellen die Treffen der Akteure unterschiedlicher sozialer Welten in Arenen einen wichtigen Kontext dar, den der Physiker für seine eigene wissenschaftliche Arbeit nutzt. Das Thema, welches in den Arenen ausgehandelt wird, weist stets einen Bezug zu Farben auf. Möglicherweise sind solche heterogenen Akteurskonstellationen in den Arenen ein Katalysator flir den Fortgang von Forschungsarbeiten und ein locus für neue Ideen, wenngleich eine hohe Heterogenität auch zu größeren Aushandlungsproblemen führen wird. Vermehrung von Kontakten In ihrer Untersuchung von jungen Unternehmen und deren Improvisationsleistungen beim Versuch, sich im Wettbewerb in wissensintensiven Bereichen (hier: Unternehmensberatung) zu behaupten, weisen Baker u.a. (2003) auf das Prinzip der »network bricolage« hin. Zunächst unterscheiden die Autoren die beiden Konzepte Improvisation und Bricolage, indem sie konstatieren, dass »improvisation implies bricolage, but bricolage does not imply improvisation. They are not the same construct« (Baker u.a. 2003: 265), denn Bricolage kann auch in anderen Zusammenhängen, bspw. bei der Umsetzung von bereits bestehenden Plänen, auftreten. In ihrer Studie stellen die Autoren fest, dass bei Unternehmensgründungen nicht zwingend strategisch vorgegangen wird, sondern- in Anlehnung an Levi-Strauss- durch Zurückgreifen auf »resources readily at hand« (Ba-

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ker u.a. 2003: 264) eine Chance zur Gründung wahrgenommen wird. Die Unternehmensgründernutzen dafür vor allem ihre bestehenden persönlichen Netzwerke. »A recurring and common theme across this diversity of bricolage was the role of personal and professional networks as the means at hand. W e Iabel dependence on pre-existing contact networks as the means at hand network bricolage« (a.a.O.: 265). Networking wird bei Netzwerk-Bricolage als zentrale Aktivität angesehen, um auf neue Akteure oder neue Fördermöglichkeiten aufmerksam zu werden. Das Ergreifen sich bietender Gelegenheiten erfolgt nicht nach einem festgesetzten Vorhaben und ist in den Augen der Autoren daher weniger mit Suchen als vielmehr mit Entdecken oder Erkennen zu beschreiben: »Üpportunities came to people who were not searching for them; the process of >discovery< was mainly a process of >recognitionembedded agency< that we suggest actors enjoy in their involvement with a technology« (Garud/Karn0e 2003: 278, Fußnote 2). 18 Dosi (1982) definiert eine technologische Trajektorie als »the pattem of >normal< problern solving activity [... ] on the ground ofa technological paradigm« (152). Diese Auffassung leitet sich aus einer Analogie zu wissenschaftlichen Paradigmen ab (Kuhn 1967) und teilt diese unter der Perspektive der evolutionären Ökonomie.

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Für die beiden untersuchten Länder fanden Garud und Karn0e unterschiedliehe Ansätze, die bei der Entwicklung der Windturbinen verfolgt wurden: in Dänemark einen Bricolage- und in den USA einen Breakthrough-Ansatz. Bricolage wird von den Autoren- in Anlehnung an Strauss- zur Konnotation von Ressourcenreichtum und Improvisation bei der Technologieentwicklung genutzt und ist »characterized by co-shaping of the ernerging technological path« (Garud/Karn0e 2003: 278f.) durch die verschiedenen Akteure (Designer, Produzenten, Nutzer). In Dänemark arbeiteten die Akteure eng zusammen und tauschten Wissen in diversen Feedback-Schleifen aus. Die Entwicklung ging in inkrementellen Schritten voran und mündete in einer erfolgreichen Innovation. Der Versuch der USA, ausgehend von einem theoretischen Konzept und hoher finanzieller Investition, einen technologischen Breakthrough zu erreichen, schlug fehl. Einer der Hauptgründe war, dass keine Kollaborationsnetzwerke ausgebildet wurden und ein technologischer Pfad nicht etabliert werden konnte. Denn allein die Nutzung von Ressourcen, die gerade verfügbar sind und aufgrundder Vielzahl von Akteuren aus verschiedenen Quellen stammen, führt durch kontinuierliches Zusammenfügen zu fruchtbaren Grenzüberschreitungen und zu wechselseitigen Lernprozessen. »Indeed, the continual melding ofinputs from actors in different domains resulted in the blurring of boundaries between design and production, planning and execution, rule making and rule following« (a.a.O.: 33). Im Gegensatz zu den USA gab es in Dänemark keinen Masterplan, der befolgt hätte werden müssen oder können, sondern der technologische Pfad emergierte aus den Bricolageaktivitäten der Akteure. »Bricolage embodies loose coupling between actions and structure [... ] wherein actors probe their worlds, even as they create it, through local negotiation processes to spawn global orders. [... Actors] navigate a flow of events by being mindful of when to persist and when to desist, when to credit and when to discredit, and when it might be possible to make changes in the boundary conditions.« (Garud/Kamoe 2001: 23)

Die Parallelen zwischen technologischen Pfaden bei Garud und Karn0e und Trajektorien bei Strauss sind offensichtlich. Bricolage beschreibt ein Verhältnis von Handeln und Struktur, bei dem durch lokale Aushandlungsprozesse der Akteure, die sich an übergeordneten Strukturen orientieren, ein Pfad kreiert wird. Garud und Karn0e verwenden, wie bereits erwähnt, absichtsvoll die Begriffe Pfad und Pfadkreation, um dem Konzept der Pfadabhängigkeit einen konstruktivistischen Entwurf entgegenzusetzen. 19 19 Als analytischen Mittelweg zwischen Pfadabhängigkeit und Pfadkonstruktion erörtern Meyer und Schubert (2007) unter Pfadkonstitution die Integration beider Konzepte.

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Wenn auch nicht explizit als Trajektorie bezeichnet, beschreibt Weick (2001) Design als (kollektive) Improvisation und als kontinuierlichen Prozess. Er stellt sich damit gegen Ansätze, die Design als einmalige Architekturlösung ansehen, denn ein Entwurf oder ein Modell werden - und da zeigt sich eine Nähe zu Strauss- ständig rekonstruiert und immer wieder neu hergestellt: »Improvisation is about process and about designs that are continuously reconstructed« (Weick 2001: 60). 20 Weicks Konzept von Improvisation weist viele Ähnlichkeiten mit Bricolage auf und im zitierten Text nutzt Weick diesen Begriff auch- synonym mit Design. Die Idee von Bricolage führt Weide sehr ausführlich in Bezug auf LeviStrauss aus. Bricolage ist, so Weick, ein Prozess, der stets mehr auf die Vergangenheit gerichtet ist als in die Zukunft, denn die Materialien stammen aus der Vergangenheit und haben einen bestimmten Charakter, vorherige Erfahrungen treten in den Prozess ein usw. In der vorstehenden Studie von Baker u.a. (2003) wurde argumentiert, dass Improvisation zwar Bricolage impliziert, aber Bricolage nicht umgekehrt auch Improvisation. Unter Bezug auf diese Autoren kann nun behauptet werden, dass Weick mit seinem Konzept von Improvisation durchaus Bricolageaktivitäten assoziiert, allerdings Improvisation für den elementaren Prozess hält, der neben Bricolage weitere Merkmale trägt, bspw. ständige Aufmerksamkeit für das Geschehen. Auch wenn es leichte Differenzen in den Konzepten von Improvisation und Bricolage gibt, folgt aus Weicks Betrachtungen ein wichtiger Punkt, den ich für Bricolage als prozessuales Ordnen geltend machen möchte: »There are more routes to orderliness than the one through intention, planning, and implementation. Orderliness can also result from improvisation based on intimate knowledge of

20 Aus einer etwas anderen Perspektive ergründet Weick (1998) das Phänomen der Improvisation in seinem Essay »Improvisation as a Mindset for Organizational Analys-

is«. Er beschreibt Jazzmusik als Improvisation, die durch folgende Merkmale charakterisiert ist: sie baut auf Vorhandenem und bisherigen Erfahrungen auf, schließt das Unvorhersehbare ein, kommt ohne vorherige Absprachen aus, der weitere Fortgang wird sitnativ entschieden, es entsteht eine emergente Struktur in der Gruppe, an die jede/r anschließen kann. »Improvisation is a mixtnre of the precomposed and the spontaneous, just as organizational action mixes tagether some proportion of control with innovation, exploitation with exploration, routine with innovation, automatic with controlled« (Weick 1998: 551). Allerdings räumt Weick ein, muss beijeder Organisation abgewogen werden, ob Improvisation (>>Order through improvisation«) eine adäquate Verfahrensweise ist und wie viel Improvisation möglich und brauchbar ist.

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resources. Intimate knowledge often suggests artful re-combinations of seemingly miscellaneous materials, which can make a !arge difference.« (Weick 2001: 64)

Ordnung wird nicht nur durch Planung und strategisches Handeln hergestellt, sondern ebenso durch Improvisation, Bricolage oder prozessuales Ordnen. 2.2.4 Interaktion und Konstruktion durch Bricolage

Wie oben beschrieben, ist Bricolage einerseits als Aktivität auf der Akteursebene verortet Diese Aktivitäten können den Umgang mit Technologien und Materialien ebenso umfassen, wie den Aufbau persönlicher Netzwerke und deren Pflege. Die Projektarbeit der Akteure ist durch einen pragmatischen Umgang mit Beschränkungen (making do), bspw. knappe finanzielle oder nicht vorhandene Fördermittel, und Lernen >by doing, using und making< gekennzeichnet. Das Zusammentreffen heterogener Akteure in Arenen wird als gehaltvoll angesehen, nicht nur, weil sich die Akteure untereinander vernetzen können (network bricolage ), sondern weil die Aushandlungsprozesse Zugriff auf Ressourcen bieten, über die die Akteure sonst nicht verfügen. Bricolage ist andererseits nicht auf die Beschreibung einzelner Handlungen von Akteuren beschränkt, sondern wird ebenso zur Beschreibung kollektiver Prozesse genutzt. Zentral in derartigen Fällen ist nicht der einzelne Bricoleur, sondern das Zusammenspiel der verschiedenen Interaktionen und Tätigkeiten in einem umfassenden Bricolageprozess (bspw. einer technologischen Trajektorie), der sich inkrementell und situativ fortsetzt. Ziel meiner Analyse ist es, die spezifischen einzelnen und kollektiven Prozesse der Konstruktion des Wissenschaftsfeldes zu identifizieren und zu beschreiben. Im Kontext von Strauss' allgemeiner Gesellschaftstheorie stellt Bricolage meinen Vorschlag flir eine Adaption und Zuspitzung auf den Gegenstandsbereich Wissenschaft und Forschung und speziell die Entstehung von Wissetlschaftsfeldern durch prozessuales Ordnen dar. Bricolage wird hiermit als eine mögliche Form des prozessualen Ordnens definiert. 21 Im Mittelpunkt des Konzeptes Bricolage steht eine Handlungspraxis, die Strukturen erzeugt und formt. Sie ist durch Kontingenz im Prozessverlauf, situative Entscheidungsfindung und ergebnisorientierte Wahl von Alternativen sowie opportunistische, pragmatische Nutzbarmachung von zuhandenen Möglichkeiten und (Re-)Kombination von Ressourcen gekennzeichnet. In einem kontinuierli21 Andere Fonnen wären Breakthrough (vgl. Garud/Kamoe 2003) oder routinisiertes Handeln, das zur Rekombination von Strukturen beiträgt (vgl. Bourdieu und Giddens in 2.1.1 ).

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chen Konstruktionsprozess werden vorhandene materielle und immaterielle Ressourcen (der »Schatz«, vgl. Levi-Strauss in 2.2.1) kreativ eingesetzt und so das Fortdauern einer Trajektorie ermöglicht. Die vorstehenden Analysen zeigen, dass in Unternehmen oder bei gemeinsamen Unternehmungen und Projekten nicht nur rationales und strategisches Kalkül die Entscheidungen und Vorgehensweisen beeinflusst, sondern stattdessen von Standards und Routinen abgewichen wird und neue Praktiken getestet werden. Die stattfindenden Interaktionen sind an einen lokalen Rahmen und die vorhandene Materialität gebunden und darin »embedded« (vgl. Granovetter 1985). Beide Aspekte, die sich als wichtig für die Analyse nanowissenschaftlicher Forschung erweisen werden, rücken durch das Bricolagekonzept stärker in den Vordergrund. Bricolage, verbunden mit dem Konzept prozessualen Ordnens, dient der Beschreibung einer Trajektorie- in diesem Fall der Trajektorie» Wissenschaftsfeld Nanowissenschaft«. So wie Kamoche und Cunha (2001) ein Improvisationsmodell von Innovationen entworfen haben, bei dem Innovationsentstehung auf ungeplanten und relativ kontingenten Handlungen beruht, ist der Fortgang der Trajektorie Nanowissenschaft durch Bricolageaktivitäten bestimmt. Durch diese Aktivitäten werden nicht nur wissenschaftliche Fakten produziert (vgl. Knorr Cetina in 2.2.1), sondern ebenso Organisationsstrukturen und Technologien konstruiert und modifiziert sowie Interaktionszusammenhänge und persönliche Netzwerke transformiert.

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WISSENSCHAFTLICHE DISZIPLIN ALS STRUKTURMERKMAL DER MAKROEBENE

Nachdem der theoretische Ansatz formuliert wurde und deutlich geworden ist, aus welcher Perspektive die Entstehung und Entwicklung der Nanowissenschaften untersucht wird, thematisieren die Kapitel 2.3 bis 2.5 den Gegenstand der Untersuchung: Wissenschaft und Forschung. Wenn sich ein neues Wissenschaftsfeld oder eine neue Disziplin herausbilden, bauen diese auf existierenden Wissenschaftsfeldern und Disziplinen auf. Die Entstehung wird in der Literatur mit Prozessen der Differenzierung und Spezialisierung einerseits sowie mit Rekombination und Hybridisierung andererseits erklärt. Im Folgenden (Abschnitt 2.3.1) soll der Blick zunächst auf diese Prozesse und die zugrunde liegende Kategorie »wissenschaftliche Disziplin« gerichtet werden. Ich werde das Konzept der wissenschaftlichen Disziplinen kritisch diskutieren und darstellen, dass Disziplinen zwar dominantes Prinzip im Wissenschaftssystem sind, der Disziplinenbegriff für die geplante Analyse jedoch unzureichend ist.

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2.3.1 Entwicklung und Beständigkeit von Disziplinen Der Ursprung der Disziplinen reicht bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Seit dem frühen 19. Jahrhundert ist mit einer Disziplin der Gedanke einer Forschungsgemeinschaft und eines Kommunikationszusammenhangs von Wissenschaftlern und Gelehrten verbunden (vgl. Stichweh 1993: 241). Nach Stichweh sind Disziplinen »Formen sozialer Institutionalisierung eines mit vergleichsweise unklaren Grenzziehungen verlaufenden Prozesses kognitiver Differenzierung der Wissenschaft« (Stichweh 1994: 17) und durch folgende Merkmale gekennzeichnet: ein homogener Kommunikationszusammenhang (»scientific community«), ein geteilter Korpus wissenschaftlichen Wissens, problematische Fragestellungen, Forschungsmethoden und paradigmatische Problemlösungen sowie eine Karrierestruktur und institutionalisierte Sozialisationsprozesse (vgl. ebd.). Nach Stichweh formierten sich Disziplinen um Problemstellungen und Gegenstandsbereiche. Ausgehend davon wurde die Struktur der Disziplinen an den Hochschulen und Universitäten (Departements, Institute usw.) institutionalisiert und bildet seither ein wichtiges Strukturmerkmal des Wissenschaftssystems. »Die Universität wird zu dem institutionellen Ort der disziplinären Struktur der modernen Wissenschaft« (a.a.O.: 18, Hervorhebung weggelassen). Das Überdauern der Disziplinen ist auf diese erfolgreiche Institutionalisierung zurückzuführen, denn waren Disziplinen erst einmal in der Gesellschaft verankert und galten als Orientierungsmuster, war an eine alternative Zusammensetzung der Wissenschaften nicht mehr zu denken (vgl. Fuller 2003). Die Dauerhaftigkeit begründet Stichweh, indem er für die sich herausgebildeten Disziplinen (etwa Chemie, Physik oder Geschichtswissenschaften) eine Kontinuität, im Sinne von Stabilität eines Sozialsystems, feststellt. Er plausibilisiert dies mit einer Reihe von Argumenten (vgl. Stichweh 1993: 244ff.), zu denen bspw. zählt, dass Rollenkategorien in den Beschäftigungsstrukturen des Wirtschaftssystems auf das Wissenschaftssystem über Nachfragemodi zurückwirken, dass Verknüpfungen der Disziplinen mit dem Sekundarschulsystem oder entscheidende Nebenfach-Abhängigkeiten an den Universitäten bestehen. Stichweh äußert weiterhin die Vermutung, dass »Disziplinen in angehbaren Hinsichten Kulturen sind« (a.a.O.: 249), die sich u.a. durch kohärente Lebensstile und disziplinäre Weltbilder auszeichnen. Disziplinen formieren sich in kognitiver Perspektive über geteilte Normen und Werte, Ansichten, etc. zu einer geschlossenen Einheit und sind aus struktureller Perspektive widerstandsfähig, weil sie bestimmte Funktionen erfüllen. Disziplinen besitzen aus Sicht von Organisationen, wie Universitäten und Hochschulen, ein strukturierendes Moment und bilden die Grundlage deren Arbeits- und Funktionsfähigkeit.

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2.3.2 Differenzierung und Spezialisierung von Wissenschaft

Trotz der Beständigkeit von Disziplinen diagnostizieren Stichweh (1994) und Weingart ( 1997) eine fortschreitende Innendifferenzierung von Wissenschaft. Diese erreicht auch die disziplinäre Ebene und führt dazu, dass sich Disziplinen immer weiter in Subdisziplinen und Spezialgebiete- bzw. soziale Welten auf einer niedrigeren Skalierungsebene - untergliedern, die oft keine inhaltlich dichten Bezüge mehr zueinander aufweisen. »Empirische Studien dokumentieren, dass es zwischen zwei Subdisziplinen derselben Disziplin oft keine ausgeprägteren kommunikativen Verbindungen gibt als zwischen zwei Subdisziplinen verschiedener Disziplinen« (Stichweh 1994: 19/20). Auch andere Autoren konstatieren, dass es keine einheitlichen Disziplinen (mehr) gibt, sondern dass es sich um verschiedene Spezialgebiete handelt, d.h. um »congeries of narrow specialties each one of which covers no more than one-tenth of the discipline with even a shallow competence« (Campbell 1969: 330). Campbeils Argument basiert auf der Annahme, dass die heutige Konfiguration der Hochschulen eine historische Zufalligkeit sei: »The present organization of content into departments is highly arbitrary, a product in large part ofhistorical accident« (a. a. 0.: 331). Im gleichen Kanon formuliert Turner diesen Sachverhalt ft.ir die Ebene der verschiedenen disziplinären Wissensbestände: » The distinction between forrns of knowledge [... ] are for the most part, as I shall suggest, the product of the historical accidents that created disciplines in the first place.« (Turner 2000: 52). Aus den benannten Entwicklungsgängen im Bereich der Wissenschaften folgt, dass einander thematisch nahe Spezialgebiete oder zusammengehörige Wissensbereiche durch die organisatorische Aufteilung in Departements bzw. Fakultäten separiert worden sind. Campbell konstatiert in den 1960er Jahren, dass die eigenwillige Aufteilung in Departements grenzüberschreitende Zusammenarbeit und Kommunikation verhindert und stattdessen Isolation und Konkurrenz forciert, da die Grenzen der Departements von den Wissenschaftlern als natürliche Begrenzungen wahrgenommen werden und sich im schlimmsten Fall in diesen Bereichen eigene Sprachen entwickeln. Als Lösung zur Überwindung der »künstlichen Trennung« benennt Campbell (1969) das »fish-scale model of omniscience«, das eine stetige Überlappung benachbarter Spezialgebiete fordert und damit vor allem auf die ursprüngliche Nähe von Spezialgebieten aufmerksam macht, die durch die Universitätsstruktur getrennt worden sind. Klein (1993: 190) stellt in Bezug auf die Behauptung eines einheitlichen Charakters von Disziplinen ebenfalls fest, dass »the notion of disciplinary unity is triply false«. Erstens werden mit der postulierten Einheit einer Disziplin die Unterschiede der lose gruppierten Spezialgebiete in den Hintergrund gestellt.

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Zweitens werden Verbindungen von Spezialgebieten separater Disziplinen außer Acht gelassen. Und drittens werden die Auswirkungen disziplinenübergreifender Einflüsse unterschlagen. Würden diese Aspekte berücksichtigt werden, wäre eine Disziplin aufzufassen als »interacting system in which research tasks and specialities are created, abolished, and reshaped by internal and external factors « (Klein 1993: 190). Mit anderen Worten sind Disziplinen aus dieser Perspektive eine Menge von Spezialgebieten, die sich durch Differenzierung kontinuierlich verändern und zur Ausbildung neuer Forschungsfelder führen. So erwachsen nach Lemaine und Kollegen (1976) neue Disziplinen i.d.R. aus bestehenden Forschungsgebieten und bauen auf vorhandenen Wissensbeständen auf. »In one way or another, all new areas of scientific investigation grow out of prior research or out of the extension of an established body of scientific and/or technical knowledge« (Lemaine u.a. 1976: 2). Bei der Emergenz von Disziplinen wirken nach Lemaine u.a. (1976) verschiedene »problematic spheres«, zu denen interne intellektuelle und soziale Prozesse, externe intellektuelle Faktoren, der institutionelle Kontext sowie ökonomische und politische Faktoren gehören (vgl. a.a.O.: 13). Wie und in welcher Stärke diese Ursachen wirksam werden, ist eine empirische Frage. Die vier Beispiele des Bandes zeigen eine starke Divergenz, was die beeinflussenden Faktoren anbelangt: Radioastronomie entstand aufgrund technischen Fortschritts und des Einflusses sozialer Gruppierungen; Tropenmedizin ist vor allem das Resultat politischer Entscheidungsprozesse; Agrarchemie bildete sich aufgrund ökonomischer und demographischer Einflussfaktoren; die Entstehung der physikalischen Chemie wird auf das Wachstum einer peripheren Region innerhalb einer wissenschaftlichen Gemeinschaft zurückgeführt. Allen gemeinsam ist die Spezialisierung und Abspaltung von einem umfassenderen Forschungsgebiet, wie bspw. der Chemie. Überdies wird von Merz (2004) am Beispiel von Pharmazie und Meteorologie aufgezeigt, dass im Wissenschaftssystem disziplinäre Zusammenhänge existieren, die sich, abweichend von klassischen Disziplinen, durch instabile und wechselhafte Grenzen auszeichnen - also keine einheitliche und dauerhafte Disziplin bilden. Eine andere Sichtweise auf die Ausdifferenzierung von Disziplinen bietet Turner (2000), indem er argumentiert, dass Disziplinen jeweils autoritär abgegrenzte Bereiche, sog. Kartelle, sind und neue Spezialgebiete durch die Besetzung unerforschter Wissensgebiete entstehen. »Disciplines [... ] are cartels that organize markets for the production and employment of students by excluding those job-seekers who are not products of the cartel« (Turner 2000: 51). Disziplinen sind Zonen der Macht und dienen dazu, Vormachtstellungen zu behaupten und Märkte für Berufe zu verwalten, denn Angehörige der Disziplinen entschei-

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den über Inklusion und Exklusion neuer Akteure und mithin darüber, wie sich die Disziplin weiter entwickelt. Die Aufrechterhaltung der wissenschaftlichen Machtzone garantiert, wie bereits bei Stichweh angesprochen, eine gewisse Stabilität und Dauerhaftigkeit der Disziplinen. 22 Da Kartelle nur eine begrenzte Anzahl von Stellen für den wissenschaftlichen Nachwuchs bereithalten und nicht alle wissenschaftlichen Bereiche durch Kartelle besetzt sind, bieten sich in diesen Forschungsbereichen Möglichkeiten, neue Märkte zu schaffen. Diese Märkte, bspw. Ozeanologie und biomedizinische Forschung, sind zu Beginn durch Interdisziplinarität gekennzeichnet, können sich nach Turner jedoch später zu Disziplinen entwickeln. Die Rigidität und Abschottung der Disziplinen schafft demzufolge die Möglichkeiten zu lnterdisziplinarität und damit auch zur Entstehung neuer Disziplinen: »The same market forces that enabled physics and economics departments to become more demanding and selecting with respect to students made it profitable for university administration to provide alternatives, such as vocationally oriented programs, for those students who were excluded by the more demanding, pure fields« (Turner 2000: 64). Einen ähnlichen Standpunkt vertritt Weingart (2001, 2003), der die Innendifferenzierung der Wissenschaft als einen Mechanismus begreift, mit dem auf das Wachstums innerhalb des Wissenschaftssystems reagiert wird. 23 Sein Argument basiert nicht auf Macht, wie im Fall von Turners Kartellen, sondern bezieht sich auf zunehmende Konkurrenz in stark beforschten Wissenschaftsfeldern. Denn wenn die Zahl der Wissenschaftler in einem Forschungsgebiet zunimmt, so steigt die Konkurrenz unter den Akteuren und in der Folge wird sich ein Teil der Wissenschaftler aufgrund bspw. knapper werdender Ressourcen oder der notwendig höheren Investition von Arbeitsleistung einem anderen Forschungsbereich zuwenden. »Nimmt die Zahl der Konkurrenten und damit auch die Intensität der Konkurrenz unter ihnen zu, dann steigt auch der Anreiz für die Differenzierung über die Suche nach >Nischen< und/oder die Spezialisierung und Verengung des Forschungs- und Lehrbereichs« ( Weingart 2001: 106).

22 Die Idee der »boundary work« (vgl. Gieryn 1983) zielt ebenfalls darauf ab, Aktivitätsbereiche von Akteuren aufrechtzuerhalten, auch wenn Gieryn auf jene Grenzarbeit abgestellt hat, die Wissenschaftler betreiben, um Wissenschaft von Nicht-Wissenschaft zu trennen. 23 Der andere Mechanismus ist Strukturierung und bezieht sich auf die selektive Aufmerksamkeit der Wissenschaftler, um mit der großen Menge an wissenschaftlichen Arbeiten und neuen Publikationen umgehen zu können.

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2.3.3 Rekombination und Hybridisierung von Spezialgebieten

Komplementär zur fortschreitenden Differenzierung und Spezialisierung lassen sich, bspw. aufgrundbestimmter wissenschaftlicher Problemlagen und der Verwandtschaft getrennter Spezialgebiete, innerhalb und zwischen Disziplinen Prozesse der Rekombination und Hybridisierung von Spezialgebieten feststellen. Dogan und Pahre (1990) untersuchen, wie es in den Sozialwissenschaften zu Innovationen kommt- was m.E. auch auf Naturwissenschaften übertragen werden kann - und sehen den Grund dafür in der Rekombination von Spezialgebieten (ähnlich Dogan 1995). Dieser »specialization-fragmentation-hybridization process« ist ein kontinuierlicher Vorgang, der das Wissenschaftsfeld in einem steten Wandel begreift. »Growth has implied fragmentation, specialization, and [ ... ] hybridization. The details change continually, as if one was slowly turning a kaleidoscope« (Dogan/Pahre 1990: 229). Dogan und Pahre gehen von einer andauernden Änderung wissenschaftlicher Strukturen aus, in deren Folge neue Spezialgebiete durch lnstitutionalisierungsprozesse stabilisiert werden. Neue Gebiete würden gleiche Forschungsobjekte und ähnliche Problemlagen, aber Wissensbestände und Methoden verschiedener Art enthalten und seien daher durch einen Hybridcharakter gekennzeichnet (vgl. Klein 2004). Auch Stichweh (1994) geht von der Existenz einerseits von Übergangsfeldern (bspw. physikalische Chemie) und andererseits Hybriddisziplinen (wie Biophysik) als Resultat innerwissenschaftlicher Differenzierung aus. Diese Gebiete haben eine integrative Funktion flir das Wissenschaftssystem insofern, als Übergangsfelder der Transmission von Wissen zwischen den Disziplinen dienen und Hybriddisziplinen die Methodenübertragung auf spezifische Problemlagen in unterschiedlichen Disziplinen unterstützen. Klein (2004: 3) erläutert Hybridisierung als »second form of specialization focused on areas missed or only partially examined by traditional disciplinary specialties« und nennt Astrophysik und Künstliche Intelligenz als Beispiele. Ähnlich neuen Kartellen bei Turner (2000) entstehen »second form specialties« in den Forschungsbereichen, die bislang nicht oder kaum bearbeitet sind. Während Rekombination und Hybridisierung oft auf den V erbund zwei er Disziplinen oder Spezialgebiete abzielen, wird die Entstehung neuer Wissenschaftsfelder durch Aggregation in der Literatur kaum beschrieben. Eine Ausnahme bilden die Untersuchungen von Bensaude-Vincent (2001) sowie Bensaude-Vincent und Hessenbruch (2004) zur Entstehung der Materialwissenschaften (material science and engineering) in den USA. 24 24 Ähnlich beschreiben Groenewegen und Peters (2002) die Entwicklung der Materialwissenschaften - abgesehen von der Konnotation der Effekte, die der Ausbau von

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»The new discipline which emerged in universities in the United States around 1960 resulted from the aggregation of several weil established disciplines like metallurgy, mechanical, and chemical and electrical engineering, with more recent fields such as solid state physics and electronics.« (Bensaude-Vincent 200 I: 223)

Aggregation verstehe ich in diesem Zusammenhang als die dauerhafte Kopplung mehrerer Spezialgebiete, ohne dass Homogenisierungstendenzen eintreten. Die einzelnen Forschungsbereiche bleiben, trotzgemeinsamer Interaktion der Akteure, bestehen und zeichnen sich durch überdauernde Heterogenität aus. Möglieherweise handelt es sich dabei um ein neues Phänomen in der Dynamik der Wissenschaften. Wichtige Fragen, die sich aus dieser Annahme ergeben, zielen auf die Grundlage und die Form der Zusammenarbeit der heterogenen Akteure sowie die Bindung zwischen den Spezialgebieten ab. 2.3.4 Disziplin als dominantes Strukturprinzip interdisziplinäre Forschung als Effekt

Einzelne Disziplinen bilden keine homogene Einheit. Dennoch bleiben sie das dominante Strukturprinzip an Hochschulen und zwar allein aus dem Grund, dass sie Institutionen sind (vgl. Stichweh 1993). Es gibt keinen Anlass, das Disziplinengefüge an den Hochschulen zu ändern: »Monodisciplinarity still plays a very useful role in the transmission of leaming: General knowledge must necessarily precede specialized knowledge« (Dogan 1995: 103). Erst allgemeines Wissen innerhalb der Disziplinen und dessen Vermittlung kann zu spezialisiertem Wissen in den Spezialgebieten führen. Nach Weingart (1997) dienen Disziplinen der Selbstkontrolle und bieten einen gedanklichen Bezugsrahmen, der bspw. Interdisziplinarität (vgl. 2.4.2) möglich macht. Sowohl Interdisziplinarität als auch Disziplinen sind seiner Meinung nach flir unterschiedliche Funktionen positiv zu bewerten: »Innovationen auf der einen Seite und methodische Strenge und Irrtumskontrolleauf der anderen« (Weingart 1997: 524). Interdisziplinäre Zusammenarbeit als temporäre Zusammenführung (d.h. Rekombination) bestehender Spezialgebiete stellt nach Weingart einen gegenläufigen Prozess zu Spezialisierung dar. »Interdisziplinarität und Spezialisierung verlaufen parallel. Sie sind sich wechselseitig verstärkende Strategien und folglich komplementäre Beschreibungen des Prozesses der Wissensproduktion« (a.a.O.: 528).

Forschungszentren nach sich zieht: »It is shown that organizational changes also have an impact on disciplinary identity as witnessed by a strong increase in interdisciplinary materials Ph.D.s awarded« (Groenewegen/Peters 2002: 1).

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Disziplinen bilden aus dieser Perspektive einen strukturellen Rahmen für interdisziplinäre Forschung bzw. für Forschungsarbeit im Allgemeinen. Stichweh (1994) argumentiert dahingehend, dass den Kommunikationsprozessen des Wissenschaftssystems in Form von Publikationen, die zur Autopoiesis desselben beitragen, ein weiterer Handlungstyp gegenübergestellt werden muss. Dies ist notwendig, da sonst kein neues Wissen produziert werden würde. Da also Forschungshandeln »als operative Grundlage neben die Publikation als den kommunikativen Basisakt tritt« (Stichweh 1994: 73), bietet sich die Möglichkeit »der Zirkularitätsunterbrechung moderner Wissenschaft« ( ebd.). Forschung dient nicht der Erhaltung und Reproduktion wissenschaftlicher Strukturen, sondern unterliegt dem »Primat des Erkenntnisgewinns« (ebd.) und führt zu Veränderungen in der Wissenschaft. Diesen Gedanken fortführend plädiert Schützenmeister (2008) für eine Unterscheidung zwischen disziplinärer Wissenschaft und interdisziplinärer Forschung. Forschung findet nicht im Wissenschaftssystem (als System wissenschaftlicher Kommunikation) statt, sondern wissenschaftliche Disziplinen sind in Forschungskontexten nur als ein Teil der Umwelt präsent (vgl. Schützenmeister 2008: 62). Bei Verrichtung von Forschungsarbeit kann dann entschieden werden, auf das Wissen von- auch vielen verschiedenen- Disziplinen oder aufnichtwissenschaftliches Wissen zurückzugreifen (a.a.O.: 99). Das Wissenschafts- und Hochschulsystem folgt einer klaren disziplinären Organisation, während im Forschungssystem aufgabenbezogen, instrumentspezifisch und disziplinenübergreifend operiert wird. Mit anderen Worten: »Während das Forschungssystem in lmgnitiv unterschiedliche epistemische Felder differenziert ist, ist das Hochschulsystem organisatorisch in strukturell ähnliche Einheiten - in Disziplinen - gegliedert« (Heintz 2004: 42). Durch diese Differenzierung lässt sich das Spannungsverhältnis von wissenschaftlichen Disziplinen als einerseits funktionalen beständigen Strukturen und andererseits veränderlichen Gefügen fruchtbar auflösen. 2.3.5 Wissenschaft als Struktur Der vorstehenden Diskussion zu wissenschaftlichen Disziplinen sind zwei Abgrenzungen zu entnehmen, durch die es gelingt, je nach Fragestellung einen anderen Fokus auf Disziplinen zu legen: erstens die Unterscheidung zwischen Disziplinen und Spezialgebieten und zweitens zwischen Wissenschaft und Forschung. Zu Erstens: Disziplinen stellen einerseits umfassende Strukturen eines klar definierten Gesamtforschungszusammenhangs dar zur Erklärung bspw. organisa-

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torischer Bedingungen von Hochschullehre oder als Ausgangspunkt bibliometrischer Studien. Unter diesen disziplinären Strukturen sind nach Strauss (vgl. 2.1.4) neben institutionellen Arrangements auch Kooperationsweisen sowie kognitiv und epistemische Orientierungsschemata zu verstehen. Andererseits sind Disziplinen durch Spezialgebiete gekennzeichnet, die sich aufgrund von Differenzierung und Spezialisierung herausbilden und durch Rekombination und Hybridisierung neu zusammensetzen und ebenfalls als strukturelle Kontexte (»conditional matrix«) das Handeln der Akteure bedingen. Da die Entwürfe zur Disziplinenentstehung über Spezialisierung und Rekombination jedoch nicht die Mikroebene und entsprechende Mechanismen fokussieren, können kaum Aussagen darüber getroffen werden, welche konkreten Prozesse und Interaktionen zu Wandlungsprozessen führen. Zu Zweitens: Entsprechend den bisherigen Ausführungen müssen Wandlungsprozesse an das Handeln der Akteure rückgebunden werden. Hier hilft die Unterscheidung von Wissenschaft als Strukturmerkmal der Makroebene und Forschungsarbeit als Interaktionen der Mikroebene. Disziplinäre Strukturen stellen die Grundlage und Reproduktionsbedingungen des Wissenschaftssystems dar, während grenzüberschreitend (bspw. interdisziplinär) geforscht und das Wissenschaftssystem verändert wird. Die Forschungsarbeit der Wissenschaftler verändert Grenzen, erzeugt Spezialgebiete und möglicherweise neue Disziplinen. Forschungsarbeit hält die Dynamik von Wissenschaft aufrecht. Gleichzeitig erscheinen wissenschaftliche Disziplinen als der unveränderliche Teil von Wissenschaft und rahmen die Forschungsarbeit der Wissenschaftler. Eine derartige Konzeption von Wissenschaft und Forschung wird durch das Strauss'sche Theoriemodell gestützt und gewinnt dadurch Erklärungskraft

2.4

FORSCHUNGSARBEIT ALS INTERAKTIONEN DER MIKROEBENE

Der von mir - in Adaption der Theorie des Handeins - gewählte Analysefokus zur Untersuchung der Konstruktion eines Wissenschaftsfeldes richtet sich nicht per se auf wissenschaftliche Disziplinen, sondern auf die Interaktionsebene und den Bereich der Forschungsarbeit Im Folgenden werden Überlegungen angestellt, wie sich Forschungsarbeit näher bestimmen lässt. Eine vollständig vom strukturellen Kontext isolierte Betrachtung von Forschung erweist sich dabei als nicht realisierbar, da in den nachfolgend besprochenen Untersuchungen stets auch bedingende Faktoren, Einflüsse und Restriktionen der umgebenden Umwelt auf die wissenschaftlichen Forschungsaktivitäten thematisiert werden.

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2.4.1 Kooperation in Projekten Forschungsarbeit aus mikrosoziologischer Perspektive zu bestimmen, öffnet den Blick für die Zusammenarbeit von Akteuren in Projekten und anderen kooperativen Zusammenhängen. 25 In der Literatur der Science and Technology Studies wird Kooperation sowohl im deutschen als auch im angelsächsischen Sprachgebrauch häufig von Kollaboration unterschieden (vgl. Strübing 1998). Shrum u.a. (2007) argumentieren bspw. in ihrer empirischen Studie zu wissenschaftlicher Zusammenarbeit, dass Kooperation die Berücksichtigung der Interessen der jeweils anderen beteiligten Akteure voraussetzt und folglich nur zwischen individuellen Akteuren möglich ist. Kollaborationen hingegen können auch zwischen korporativen Akteuren bestehen, die eine gemeinsame Zielsetzung verfolgen. In dieser Sichtweise ist Kooperation das absichtsvolle koordinierte Zusammenwirken von Akteuren auf der Mikroebene und Kollaboration eine Art übergeordnetes Schema oder übergeordneter Prozess der Zusammenarbeit, der verschiedene Ausprägungen annehmen kann. Winer und Ray (1994) unterscheiden in ähnlicher Weise Kooperation und Kollaboration. Kooperation ist in den Augen der Autoren dadurch gekennzeichnet, dass die an der Zusammenarbeit beteiligten Gruppen ihre Autorität behalten, ihre Ressourcen selbständig verwalten und kein übergeordnetes gemeinsames Ziel nötig ist. Kollaboration hingegen bedeutet, dass in einer neu entstandenen Struktur einem gemeinsamen Zweck nachgegangen wird und die Ressourcen der Gruppen geteilt werden. In Anlehnung an diese Studien fasse ich in dieser Arbeit Kooperation als absichtsvolles, koordiniertes Zusammenwirken von Akteuren, das keinem gemeinsamen Ziel folgen muss. Verschiedene Studien haben die Kooperation von Forschern und die Zusammenarbeit in Projekten näher untersucht und dabei Arbeitsteilung, die Motive und Interessen der Forscher bei der Entstehung von Publikationen und Erfolgsfaktoren von grenzüberschreitenden Projekten analysiert (bspw. Katz/Martin 1997; Melin 2000; Laudel2001; grenzüberschreitend u.a. Strübing 1998; Laudei 1999; Jonas 2004; Loibl 2004; Böhm 2006). Ich möchte mich an dieser Stelle auf die Motivationen für Kooperationen beschränken, da in der Folge detailliert auf Aspekte und Charakteristika vor allem grenzüberschreitender Zusammenarbeit eingegangen wird. 26 25 Die Organisationsforschung bietet eine Vielzahl von Publikationen, die interorganisationale Zusammenarbeiten, meist in Verbindung mit Netzwerken, thematisieren (bspw. Powell u.a. 1996; Hirsch-Kreinsen 2002; Sydow 2005). 26 Auch wenn in vielen englischsprachigen Studien der Begriff »collaboration« benutzt wird, gibt es oft keine Differenzierung zum Begriff »cooperation«, wie sie bspw. bei

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Laudei (2001) identifiziert in ihrer Untersuchung der Zusammenarbeit von Forschungsgruppen zwei Kollaborationsweisen. Zum einen stellt sie, basierend auf der Unterscheidung von theoretischer und experimenteller Expertise, eine vertikale Kollaboration fest, wie sie zwischen Gruppen- oder Projektleitung (oft Professoren) und Doktoranden auftritt. Doktoranden sind flir die instrumentelle Forschungsarbeit und erfolgreiches »>tinkering< in the laboratory's everyday life« (Laudei 2001: 767) zuständig, während Gruppenleiter thematische Bezüge zu anderen Projekten und Forschungsarbeiten herstellen und die strategisch-organisatorischen Zusammenhänge regeln. Zum anderen unterscheidet Laudei fünf Typen horizontaler Kollaboration (in deren Reihenfolge der Umfang der Beteiligung des Kollaborators stetig abnimmt): Kollaboration mit Arbeitsteilung, Dienstleistungskollaboration, Übertragung von Wissen, Gewährung des Zugangs zu Equipment für die Forschung und gegenseitige Stimulation. Ähnlich stellen Katz und Martin (1997) heraus, dass eine derartige Form von Forschungskollaboration auf einem Kontinuum zwischen dem Bereitstellen eines Gerätes und der ständigen produktiven Mitarbeit liegt. Auch Melin (2000) formuliert als wichtige Gründe flir Kollaboration die spezifischen Kompetenzen eines Kollaborators sowie den Bedarf an speziellen Instrumenten und Daten. Interessanterweise stellt sich für die Autorin auch »a pragmatic attitude to collaboration« (Melin 2000: 39) heraus: »when there is something to gain, then a particular collaboration will occur, otherwise it will not« (ebd.). Folglich schlägt Melin mit Blick auf Forschungspolitik vor, Arenen für soziale Interaktionen zu schaffen und elektronisehe Informations- und Kommunikationssysteme auf- und auszubauen. Es existieren also eine ganze Reihe von Motivationen dafür, dass Wissenschaftler miteinander kooperieren. Diese Motive bieten einen Anschluss an die Diskussion von Interdisziplinarität als Resultat von Differenzierung und Spezialisierung. Denn bestimmte Probleme können scheinbar nur gemeinsam und arbeitsteilig gelöst werden, wenn bspw. die passenden Instrumente an einem Ort fehlen und geborgt werden müssen, Zuarbeiten nötig sind oder fachfremde Theorien zum Tragen kommen (vgl. Klein 1996: 38). Die unterschiedliche Verteilung von Know-how, Kompetenzen, Technologien und Materialien ist eine Eigenschaft des strukturellen Kontextes Wissenschaft, in dem Forschungsarbeit verrichtet wird und der sich nicht nur auf die Notwendigkeit der Zusammenarbeit auswirkt, sondern ebenso auf die Formen von Forschungsarbeit und Kollaboration (vgl. Whitley 1982, 2000; Chompalov u.a. 2002; Shrum u.a. 2007). Die vorgestellten Untersuchungen zu Forschungskooperationen beziehen sich vor allem Shrum u.a. (2007) vorgenommen wird. Entfällt eine Unterscheidung in den angeführten Studien, gehe ich davon aus, das collaboration und cooperation synonym gebraucht werden.

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auf innerakademische und wissenschaftsinterne Interaktionsbeziehungen und stellen auf interdisziplinäre Zusammenarbeit ab, der wir uns im folgenden Abschnitt zuwenden.

2.4.2 Inter-, multi- und transdisziplinäre Kooperation Interdisziplinarität beschreibt allgemein, und hier besteht zu einem großen Teil Einigkeit in der STS-Literatur, diejenige zielgerichtete Zusammenarbeit, in der Akteure mindestens zweier Disziplinen derart kooperieren, dass Konzepte und/oder Methoden der einen Disziplin in der anderen Disziplin fruchtbar gemacht werden (vgl. dazu Schummer 2004a oder Jansen 2007). 27 Neben lnterdisziplinarität werden weitere Formen von ~Disziplinarität unterschieden. 28 Multidisziplinarität bezeichnet ebenfalls die Zusammenarbeit hinsichtlich eines gemeinsamen Forschungsziels, die Akteure führen jedoch lediglich die Forschungsergebnisse der verschiedenen Disziplinen zusammen (vgl. Schummer 2004a). Die beiden Begriffe Inter- und Multidisziplinarität lassen zwar Raum, sich mit Kooperationen zwischen Akteuren unterschiedlicher Fächerkulturen auseinanderzusetzen, weitere Unterschiede zwischen den Akteuren werden aller27 Es gibt eine Reihe von szientometrischen und insbesondere bibliometrischen Studien, die die disziplinäre und fachspezifische Zusammensetzung des nanowissenschaftlichen Forschungsfeldes nachzeichnen (vgl. Leydesdorff/Zhou 2007; Bassecoulard u.a. 2007; Leydesdorff 2008 sowie zur Entwicklung der entsprechenden Abfragen Zitt/Bassecoulard 2006; Mogoutov/Kahane 2007; Porter u.a. 2008; zur Innovationsfähigkeit der Nanotechnologie vgl. Meyer 2007 sowie zur Institutionalisierung Schummer 2007). Basierend auf der angenommenen Vielzahl von am Forschungsfeld beteiligten Disziplinen wird zudem geprüft, inwiefern interdisziplinäre Forschungsarbeit festzustellen ist. Die entsprechenden Analysen von Ko-Publikationen (vgl. Meyer/ Perssan 1998; Meyer 2001; Hullmann/Meyer 2003; Schummer 2004a; Schummer 2004b) zeigen im Wesentlichen, dass statt von Interdisziplinarität eher von Multidisziplinarität auszugehen ist. Denn aus Schummers Vergleich von monodisziplinären Journalen und Nano-Journalen, ergibt sich zwar ein reiches Spektrum an disziplinärer Abstammung bei den Autoren in Nano-Journalen; die Ko-Autorenschaft zwischen den unterschiedlichen Disziplinen ist jedoch bei Nano-Journalen nicht höher als bei einem typisch monodisziplinären Journal. Der Zugang zu Forschungsarbeit über bibliometrisehe Studien wird durchaus kritisch eingeschätzt (vgl. Katz/Martin 1997 oder Laudei 2002), da bspw. die Reihenfolge der Autoren keine direkten Schlüsse auf den Anteil der geleisteten Arbeit zulässt und viel informelle Arbeit anderer Beteiligter (bspw. Techniker) überhaupt nicht sichtbar wird. 28 Das Zeichen ~ steht gleichzeitig fur die drei Vorsilben inter, multi und trans.

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dings vernachlässigt (Gläser u.a. 2004: 10). Transdisziplinarität erweitert den Fokus auch auf Bereiche außerhalb der Wissenschaft und sensibilisiert für die Tatsache, dass Wissensproduktion nicht allein und primär Aufgabe wissenschaftlicher Akteure ist und bspw. enge Verbindungen zu Technikern und zu Forschern aus Wirtschaftsunternehmen bestehen. 29 Transdisziplinäre Projekte sind insofern vor allem durch den Einbezug von Nicht-Akademikern und das Aufgreifen von Problemlagen, die nicht einzig dem wissenschaftlichen Kontext entspringen, gekennzeichnet (vgl. Maasen u.a. 2006: 395). Inter-, multi- und transdisziplinäre Kooperationen bezeichnen Formen der Zusammenarbeit zwischen Akteuren verschiedener Disziplinen, Spezialgebiete und Institutionen und lassen sich als Prozesse der Grenzüberschreitung begreifen, die zu einer vorübergehenden Zustandsänderung im Wissenschaftssystem führen (vgl. Maasen 2000: 174). Grenzüberschreitungen ermöglichen die Generierung neuen Wissens und werden als opportunistisches Verhalten der Forscher im Prozess der Wissensproduktion verstanden (vgl. Weingart 1997: 528). Neben disziplinären und institutionellen Grenzen macht Weingart (1995) auf weitere vielfältige Grenzen innerhalb der Wissenschaft, wie etwa unterschiedliche Sprachen, nationale Stile, disziplinäre Kulturen (Knorr Cetina 2002; Arnold 2004) und epistemische Stile, aufmerksam und gibt damit eine Orientierung an die Hand, inwiefern Akteure unterschiedlichster Couleur in Kooperationen involviert sein können. Bei der Analyse von Forschungskooperationen ist demzufolge eine Vielzahl von Dimensionen zu berücksichtigen, die einen Akteur und seine soziale Welt charakterisieren, und zu prüfen, inwieweit im Prozess der Zusammenarbeit tatsächlich Grenzen überschritten oder gerade nicht überschritten werden. Es ist ein 29 Neben den genannten Definitionen von Inter-, Multi- und Transdisziplinarität finden sich in wissenschaftstheoretischen Arbeiten Auslegungen über -Disziplinarität, die andere Konnotationen enthalten. Dabei geht es weniger um eine Kombination verschiedener Ressourcen zur Aufgabenerfüllung, sondern eher um eine (Re-)Kombination von Ressourcen aufgrund bestehender Gemeinsamkeiten zwischen den beteiligten Gebieten. Heckhausen (1987) bspw. beschreibt drei Pole interdisziplinärer Forschung, nämlich Intra-, Trans- und Chimärendisziplinarität und legt dabei die Leituntetscheidung von Disziplin und Fach zugrunde. Im Anschluss an Heckhausen beschreibt Käbisch (200 I) Interdisziplinarität als das Vorhandensein von Gemeinsamkeiten bzw. Überschneidungen, die bereits in den Disziplinen angelegt sind. Die Basis dafür bereitet Käbisch, indem er eine Disziplin über die vier Aspekte Gegenstand, Methode, Interesse und Theorie definiert. Jede Disziplin hat je Aspekt spezifische Ausprägungen. Gleichen sich die Ausprägungen verschiedener Disziplinen in bestimmten Aspekten, so sind dies Überschneidungen und »Momente interdisziplinärer Verknüpfung«.

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Konzept notwendig, dass nicht bei strukturellen Merkmalen wie Disziplinen oder unterschiedlichen Funktionssystemen der Gesellschaft ansetzt, sondern offen lässt, »welche Unterschiede zwischen Kooperationspartnerinnen bestehen und wie diese Unterschiede ausgehalten werden« (Gläser u.a. 2004: 10). Das Konzept der heterogenen Kooperation bietet diese Möglichkeit, da erst im konkreten Fall, d.h. in der Analyse der lnteraktionssituation, bestimmt wird, was den Unterschied zwischen den Akteuren ausmacht. 2.4.3 Heterogene Kooperation Heterogene Kooperation ist als allgemeiner Ansatz zur Beschreibung von Kooperationen zwischen Akteuren unterschiedlicher Herkunft zu verstehen, der ~Disziplinaritäten als spezielle Formen inkludiert. »[Der Begriff heterogen] steht für das Zusammenfügen von Beiträgen aus unterschiedlichen Quellen, derentwegen die gemeinsame Aktivität >Kooperation< meist unternommen wird. Wir beobachten heterogene Kooperation dort, wo Akteure auf Leistungen angewiesen sind, die in ihrem eigenen sozialen Kontext nicht erbracht werden können.« (Gläser u.a. 2004: 7) Das Konzept der heterogenen Kooperation umfasst nicht nur mehrere Formen der Zusammenarbeit, sondern geht zudem über die Fragestellungen der Untersuchungen zu Forschungskooperation und ~Disziplinarität hinaus. Neben den Gründen und Bedingungen flir ein Gelingen oder Scheitern von Zusammenarbeit fokussieren die Studien zu heterogener Kooperation insbesondere die Koordination von Interaktionen auf der Mikroebene. Wie erfolgt in Projekten die Abstimmung zwischen den beteiligten Akteuren, aufgrund derer die Zusammenarbeit schließlich vollzogen werden kann? Welche Akteure, Technologien, organisatorische Reglements usw. sind in diesen Prozess involviert? Und wie wird die Heterogenität in der Zusammenarbeit fruchtbar überbrückt? Fragen dieser Art verweisen darauf, dass für die Realisation einer Kooperation zusätzliche Aushandlungen notwendig sind, die über die direkten Tätigkeiten zur Zielerreichung innerhalb von Projekten hinausgehen. Forschungsarbeit, wie ich sie in der vorliegenden Arbeit verstehe, beinhaltet demzufolge all jene Handlungen, die ausgeführt werden, um Projekte oder andere Kooperationsvorhaben durchführen zu können. Nach Strauss beinhaltet ein Projekt (auch Arbeitsvorhaben) eine bestimmte Anzahl an Aufgaben ( vgl. Abschnitt 2.1.5). Die Gesamtheit der Aufgaben ist der sog. Arbeitsbogen (auch Arbeitsprozess), der nicht nur die direkten Tätigkeiten

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im Projekt, sondern ebenso projektbezogene Arbeiten umfasst. Durch Artikulationsarbeit wird der Arbeitsfluss aufrechterhalten und die Interaktionen der Akteure koordiniert. Denn Forschungsarbeit wird in Strauss'scher Perspektive- sei es im eigenen Institut, mit Projektpartnern anderer Universitäten oder mit Organisationen aus Politik oder Wirtschaft - aufgrund der begrenzten Planbarkeit von Projekten dauerhaft »artikuliert«. Zwei Beispiele der Artikulation von Arbeitsvorhaben heterogener Akteure haben wir bereits kennengelernt (vgl. 2.1.4 und 2.1.5): Grenzobjekte (Star/Griesemer 1989) und »standardized packages« (Fujimura 1987, 1992). Der Kerngedanke beider Konzepte besteht darin, eine koordinierende Instanz zu schaffen, die zwar in jeder sozialen Welt eine spezifische Bedeutung hat, über deren allgemeinen Bedeutungsgehalt die Akteure dennoch kommunizieren und ihre Interaktionen abstimmen können. Einen anderen Ansatz zur Erklärung gelungener heterogener Kooperation wählt Peter Galison mit dem Konzept der sog. »trading zones« (Galison 1996, 2004). Handelszonen sind Bereiche, in denen die lokalen Aktivitäten heterogener Akteure über eine durch die Akteure ausgebildete Kontaktsprache (»pidgin«, »creole«) koordiniert werden. Ähnlich den Grenzobjekten erlaubt es die Kontaktsprache von den herkömmlichen Sprachen und Termini der verschiedenen sozialen Welten zu abstrahieren und ein geteiltes Vokabular über zu bearbeitende Phänomene und die auszuführenden Arbeitsprozesse bereitzustellen. Trotz globaler Unterschiede besteht dadurch eine »lokal begrenzte Zone der Aktivität, in der ein eingeschränktes Repertoire von Handlungen und Überzeugungen in Anschlag gebracht wird« (Galison 2004: 47). Meister (2002) erweitert das Konzept der Handelszonen mit seinem Entwurf der »Grenzzonenaktivitäten«, indem er zusätzlich zu den Interaktionen der Akteure nach der Handlungsbeteiligung von Artefakten fragt. Das »wordless pidgin« als vereinfachte Darstellung von formalen Verfahren (Poster, Folienvorträge) wird dabei als Mechanismus der Handlungskoordination und als verteilte Aktivität identifiziert. Das Konzept der trading zone wurde in der STS-Literatur aufgegriffen und erweitert, um nanowissenschaftliche Forschungsarbeit näher zu charakterisieren (vgl. Gorman u.a. 2004; Collins u.a. 2007). Nach Gorman u.a. (2004) gibtes-in Anlehnung an drei Ebenen geteilter Expertise (Collins/Evans 2002)- drei Arten von Handelszonen. Dies sind erstens Handelszonen, in denen keine Expertise geteilt wird, sondern die Wissensbestände isoliert bleiben. Zweitens existieren Zonen des ursprünglichen Typs nach Galison, in denen über eine Kontaktsprache Aktivitäten koordiniert werden und multidisziplinäre Kooperation stattfindet. Die Autoren sprechen in diesen Fällen von »interactional expertise«. Und schließlich unterscheiden Gorman u.a. drittens Zonen der »contributing expertise«, in der alle Akteure an allen Aktivitäten beteiligt sind und interdisziplinäre

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Forschung durchgeführt wird. In Abhängigkeit von der Zusammensetzung der Handelszonen und von den Interaktionen der Akteure ist eine Transformation von einem Zonentyp in einen anderen möglich, so bspw. der Wechsel von multizu interdisziplinärer Forschung. Um im Bereich nanowissenschaftlicher Forschung interdisziplinär in einer Zone »beisteuernder Expertise« arbeiten zu können, sind nach Ansicht der Autoren bestimmte Voraussetzungen nötig, die sie in einer Pilotstudie eruiert haben. Gegenstand der Untersuchung war das Projekt einer kleinen heterogenen Forschungsgruppe, die unter Berücksichtigung sozialer und technologischer Aspekte >N anodots< 30 hergestellt und auf ihre Anwendbarkeit bezüglich gesellschaftlieher Problemlagen geprüft hat. Gorman und Kollegen zeigen, dass das Projekt erfolgreich war, weil es gelang, eine Kontaktsprache zu entwickeln. Die Kreolsprache basiert darauf, dass sich einerseits die Akteure durch wechselseitiges Lernen ein geteiltes Verständnis grundlegender Aspekte der Projektarbeit angeeignet haben und andererseits eine metaphorische Sprache (hier: des Bergsteigens) zur Verständigung über Projektziele entwickelt wurde. Collins u.a. (2007) unterscheiden ähnlich der vorstehenden Studie vier verschiedene Arten von Handelszonen in Abhängigkeit von Formen der Kollaboration. Je nachdem, auf welcher Grundlage die Zusammenarbeit erfolgt, differenzieren die Autoren »enforced« (es findet kein Austausch statt), »fractionated« (es werden Grenzobjekte genutzt; ähnlich der »interactional expertise«-trading zone), »inter-language« (Mischkultur und voll entwickelte Kreole) oder »subversive« (Hegemonie mit einer dominanten Sprache) Handelszonen. Im Fall der beiden Zonentypen enforced und subversive erfolgt der Austausch des Wissens zwischen den Akteuren unter Zwang; in den beiden anderen Zonen durch Zusammenarbeit. In den enforced und fractionated Handelszonen existieren heterogene Kulturen, während in den beiden anderen Fällen homogene Kulturen vorliegen. Ebenso wie Gorman und Kollegen (2004) konstatieren Collins und seine Mitarbeiter einen Wandel der Handelszonen, der sich als Evolution in der o.g. Reihenfolge vollzieht. Nanowissenschaftliche Kooperationen ordnen die Autoren der inter-language Handelszone zu und behaupten damit eine Form der Zusammenarbeit, die auf einer zur Homogenität tendierenden Misch-Kultur und einer voll ausgebildeten Kreole beruht (zu divergenten Ergebnissen vgl. Baus 2012). Im Kontrast zu Konzepten der Grenzobjekte und Handelszonen wurde von Shinn und Joerges (2002, 2004; auch Shinn 2005) ein Konzept heterogener Kooperation entwickelt, das eine wissenschaftlich-technologische Fundierung auf30 Nanodots oder auch Nanopunkte sind aus vielen Atomen bestehende kugelförmige Strukturen, die als Speichermedien und für Lasertechnologie eingesetzt werden.

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weist. In die Diskussion um die Beziehung von wissenschaftlicher und technologischer Dynamik ist die Vorstellung verschiedener Regimes der Produktion von Wissenschaft und Technologie eingebettet. Nach Shinn und Joerges lassen sich vier dieser Produktionsregimes identifizieren: disziplinäre, transitorische, utilitaristische und transverse Regimes. Die Autoren heben transversale Regimes als besonders geeignet flir heterogene Kooperationen hervor, da diese u.a. folgende Charakteristika aufweisen. Forscher identifizieren sich über Projekte statt über Disziplinen oder Institutionen. Geteilte Wissensbestände zu Technologien, Methoden und Ideen ermöglichen Grenzüberschreitungen der Akteure. Dadurch werden die voneinander isolierten Spezialgebiete verbunden und die kognitive und soziale Fragmentierung in Wissenschaft und Forschung überwunden. Heterogene Kooperation ist nur auf Basis des transversen Regimes möglich, wie die Autoren anhand sog. »research-technology« (kurz: RT) exemplifizieren. Eine RT ist die Manifestation des transversalen Regimes und bezeichnet ein wenig sichtbares Praxisfeld, in dem Wissenschaftler-Ingenieure grundlegende (generische) Instrumente entwickeln, die sie in andere Arenen inner- und außerhalb der Wissenschaft überführen und die in diesen Forschungsbereichen Anwendung finden: Transversale Regimes »versorgen, über die Instrumentierungsprodukte der RT, viele unterschiedliche und voneinander entlegene Zielgruppen und Allwendungsbereiche anderer Wissenschafts- und Technik-Kulturen« (Shinn/Joerges 2004: 91 ). Beispiele für erfolgreiche RT sind nach Shinn u.a. »the ultracentrifuge, the Iaser, cybemetics, Fourier transformation spectroscopy, the Cooley-Tukey algorithm, the C++ multipurpose object oriented computer language, the scanning tunneling microscope« (Shinn 2008: 2). Obwohl die empirischen Studien- nicht zuletzt aufgrundder unterschiedlichen Besonderheiten der einzelnen Fälle -jeweils andere Analyseschwerpunkte und Herangehensweisen aufweisen, können Gemeinsamkeiten identifiziert werden. Erstens ist in allen Konzepten der Analysefokus auf die Akteure und deren Interaktionen gerichtet und es wird der Versuch unternommen, die Koordination der Forschungsarbeit (sei es über Sprachen oder Praktiken) und die erfolgreiche Kooperation nachzuzeichnen. Heterogene Kooperation ist stets ein interaktiver Prozess und schließt eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure und Institutionen sowie Technologien und Objekte ein. Zweitens werden in den Studien konkrete Lokalitäten beobachtet. Heterogene Kooperation stellt auf die temporäre Zusammenarbeit verschiedener Akteure ab, die als »intersektionale« Aktivität (Maasen 2000) in Grenzbereichen und Schnittstellen, in »Systems ofnegotiating contexts« (Klein 2000), »interstitial arenas« (Shinn 2005) oder Handelszonen stattfindet. Derartige örtliche oder virtuelle Arenen finden sich in verschiedenen hybriden Strukturen, angefangen von interdisziplinären Zentren und Forschungsprogram-

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men über Netzwerke bis hin zu Nischen (Schot/Geels 2007) und »Enklaven« (Turpin u.a. 1996). Drittens werden in heterogenen Kooperationsprojekten von den Akteuren oft unterschiedliche Zielsetzungen verfolgt und verschiedene Vorgeheusweisen gewählt. Ein gemeinsames Ziel oder ein Konsens unter den Akteuren sind bei heterogener Kooperation nicht erforderlich. Heterogene Kooperation erweist sich als geeignete konzeptuelle Anschlussmöglichkeit, um Forschungsarbeit in wissenschaftlichen Arenen zu beschreiben und zu analysieren. In Arenen treffen (nach der Theorie des Handelns) Akteure verschiedener sozialer Welten aufeinander und interagieren. Arenen bilden somit Schnittpunkte zwischen sozialen Welten und schließen dabei nicht nur Akteure, sondern ebenso- als Kontextbedingungen- Technologien und Objekte mit ein. Die Akteure handeln entsprechend ihrer sozialen Welten und bringen die verschiedenen Interessen und Sichtweisen durch Artikulationsarbeit soweit in Einklang, dass eine Ordnung entsteht, an die sich neue Handlungen anschließen können. Heterogene Kooperation fasse ich in dieser Arbeit dementsprechend als absichtsvolle, koordinierte Zusammenarbeit verschiedener Akteure mit unterschiedlichen Motivationen unter Nutzung der spezifischen lokalen Kontextbedingungen. 2.4.4 Vom Projekt zum Wissenschaftsfeld In einigen der Untersuchungen zu heterogener Kooperation wird angedeutet, dass Interaktionen einen Einfluss auf vorhandene Strukturen haben und zur Entstehung neuer Strukturen führen. So kann durch die Diffusion von Standardpaketen (Fujimura) im Wissenschaftssystem ein neues Paradigma der Krebsbekämpfung institutionalisiert werden, und eine Forschungstechnologie (Shinn und Joerges) kann die Bildung einer wissenschaftlichen Gemeinschaft stimulieren (vgl. Reinhardt/Steinhauser 2008 zur Ausbildung einer wissenschaftlich-technischen Gemeinschaft bzgl. der Kernspinresonanzspektroskopie in Deutschland; Pfadenhauer 2010 allgemein zu Artefaktgemeinschaften). In Bezug auf die vorliegende Arbeit stellt sich nun die Frage: Wie werden durch Forschungsarbeit die Grundlagen für die Entstehung eines Wissenschaftsfeldes geschaffen, in dem heterogene Komponenten miteinander verbunden sind und (grenzüberschreitende) Zusammenarbeit möglich ist? Mit dieser Frage erweitert sich der Untersuchungsfokus von Einzelprojekten und einzelnen Arbeitsvorhaben auf mehrere Arbeitsvorhaben und demgemäß auf ein gesamtes Wissenschaftsfeld. Die vorstehenden Fallbeispiele zeigen zwar, unter welchen Bedingungen heterogene Kooperationen erfolgreich sind und in welcher Weise die notwendigen Aushandlungen erfolgen, sie verbleiben dennoch auf der Mikroebe-

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THEORIE NEUER WISSENSCHAFTSFELDER

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ne und thematisieren kaum Strukturierungsprozesse auf der Meso- und Makroebene, denen wir uns im folgenden Teil der Arbeit zuwenden.

2.5

ENTSTEHUNG VON WISSENSCHAFTSFELDERN DURCH FORSCHUNGSARBEIT

Nachdem wissenschaftliche Disziplinen als struktureller Kontext flir heterogene Forschungskooperationen diskutiert wurden, befasst sich dieser Teil des Kapitels mit der Konstruktion und Strukturierung von Disziplinen durch Forschungsarbeit Ich verwende dabei einen weiten Begriff von Forschungsarbeit, der sowohl instrumentelle und projektbezogene Aktivitäten als auch Artikulationsarbeit usw. einschließt (vgl. 2.4), und zeige anhand von Beispielen, wie diese Forschungsaktivitäten zur Entstehung neuer Wissenschaftsfelder und Disziplinen beitragen. In der Analyse der Strukturierung von Wissenschaftsfeldern unterscheide ich zwischen den Dimensionen rhetorische (2.5.1), wissenschaftlich-technologische (2.5.2) und organisatorische (2.5.3) Konstruktion (vgl. Tabelle I). Tabelle 1: Konstruktionsdimensionen und Entstehung,~faktoren Konstruktionsdimension Entstehungsfaktoren

Initiator

Rhetorisch

Wissenschaftlichtechnologisch

Organisatorisch

Terminologien, Definitionen, Erwartungen, Diskurse

Entdeckungen und Erfindungen, inkrementelle Innovationen, Breakthroughs

Abteilungen, Forschungsinstitute, F orschungszentren, Netzwerke

Wissenschaft, Politik, (Wirtschaft)

Wissenschaft, Wirtschaft

Politik, Wirtschaft, Wissenschaft

Alle drei Dimensionen beziehen sich auf eine frühe Phase im Konstruktionsprozess eines Wissenschaftsfeldes und fokussieren vorrangig Entstehungsfaktoren anstelle von Aspekten der Etablierung und Stabilisierung in späteren Phasen der Entwicklung. Grundsätzlich sind an der Konstruktion wissenschaftliche, wirtschaftliche und politische Akteure beteiligt, deren Initiative jedoch von Dimension zu Dimension unterschiedlich stark ausgeprägt ist. So werden bspw. politische Akteure kaum an wissenschaftlich-technologischen Entdeckungen beteiligt

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sein und Erwartungen und Visionen primär von wissenschaftlichen und politischen Akteuren kommuniziert. Die drei Konstruktionsdimensionen werden im Folgenden eingeführt und anhand eines Fallbeispiels sowie eines Entstehungsfaktors illustriert. Dabei ist einzuräumen, dass typischerweise mehrere Faktoren im Entstehungs- und Entwicklungsprozess wirksam sind und dass die einzelnen Dimensionen in jeweils anderen Zusammensetzungen eine Rolle spielen (2.5.4). Auch überzeichnet die von mir vorgenommene Aufteilung, dass die Fälle in den jeweiligen theoretischen Vorannahmen und den gewählten konzeptionellen Ansätzen differieren. In einem letzten Abschnitt werde ich auf jene Studien der Science and Technology Studies zur Entstehung von Wissenschaftsfeldern eingehen, die sich dezidiert mit der Entstehung nanowissenschaftlicher Forschung auseinandersetzen (2.5 .5). 2.5.1 Rhetorische Konstruktion durch Erwartungen

Ein Faktor der Entstehung von Wissenschaftsfeldern, der in STS-Publikationen häufig hervorgehoben wird und den ich zur Dimension der rhetorischen Konstruktion von Wissenschaftsfeldern zähle, sind die an eine neue Technologie oder ein neues Forschungsgebiet gerichteten Erwartungen. 31 Die mit dem jeweiligen Gegenstand verbundenen Prognosen, Perspektiven und Visionen werden vor allem im wissenschaftlichen und forschungspolitischen Umfeld formuliert, verbreiten sich verbal oder in Schriftform inner- und außerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft und bilden den Ausgangspunkt der Neuausrichtung von Forschungsaktivitäten auf den entsprechenden Wissenschaftsbereich (vgl. auch Herausbildung neuer Spezialgebiete in 2.3). Erwartungen wirken auf das Handeln der Akteure, indem durch Interaktionen die notwendigen Bedingungen (Bereitstellung von Fördergeldern und anderen Ressourcen) und sozialen Strukturen (Netzwerke, Forschungsinstitute) dafür geschaffen werden, dass die angestrebten Situationen eintreten. Rhetorische Konstruktion bedeutet demnach, dass auf der Grundlage von kommunizierten Erwartungen konkrete Handlungsoptionen und -wirkungen entstehen, die sich in disziplinären Strukturen niederschlagen. 31 Ich habe den Begriff Rhetorik gewählt, um auf das allgemeine Phänomen der >Beredsamkeit< zn verweisen, d.h. auf die Wirkmacht der Rede, in deren Verlauf die Zuhörer überzeugt werden, diese oder jene Handlungen vorznnehmen. In der vorliegenden Arbeit wird einerseits das Argument der Wirkmacht der Rede auf geschriebene Sprache bzw. schriftliche Dokumente sowie Rede und Gegenrede (Diskurs) erweitert. Andererseits werden Konkretisierungen in Bezug auf die Form der Rhetorik (bspw. Erwartungen, Visionen) vorgenommen, so dass i.A. von einer rhetorischen Konstruktionsdimension zu sprechen ist.

2.

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Van Lente und Rip (1998a, 1998b) bspw. führen die Emergenz der Membrantechnologie in den Niederlanden auf Erwartungen zurück. 32 Obwohl bereits vor den späten 1970er Jahren Forschung zu Membranen betrieben wird, kann nicht von einem kohärenten und institutionalisierten Wissenschaftsfeld gesprochen werden. Erst mit der Einführung des Terminus »Membrantechnologie« in einer Publikation von Cornelis A. Smolders aus dem Jahr 1982 wird der Grundstein für die Entstehung des neuen Gebiets gelegt. » The rise of membrane technology did not follow breakthrough route. What happened was that a rhetorical entity, >membran technologyworld< refers to a set ofheterogeneous actors, related by their shared interest in the promise of membrane technology, and by mutual dependencies in their activities. There is a clear overlap with the central concept of >social world< analysis [... ] We want to capture what we think is a new kind of dynamic in which actors relate to each other, while not yet embedded in an established social strncture. « (van Lente/Rip 1998a: 234)

2.5.2 Wissenschaftlich-technologische Konstruktion durch Breakthroughs Ein zweiter Faktor, der bei der Entstehung und Entwicklung neuer Wissenschaftsfelder zur Geltung kommt, sind wissenschaftliche Durchbrüche als Teil der wissenschaftlich-technologischen Konstruktionsdimension. Diese Innovationen eröffnen bislang nicht vorhandene (oder nicht wahrgenommene) Forschungsperspektiven, erweitern den Tätigkeitsbereich des innovierenden Feldes oder finden in externen Forschungsbereichen Einsatz. Auch wenn sich Diffusion und Adaption der konstruierten Technologien, Prozesse oder Materialien in Abhängigkeit von Faktoren wie Komplexität, Preis, Know-how der Anwender etc. unterschiedlich gestalten, treten die Wissenschaftler, die sich mit den Neuerungen befassen, miteinander in Kontakt, tauschen sich in Gesprächen oder mittels Publikationen über ihre Forschungsarbeiten aus und bilden Netzwerke, die eine Grundlage für neue Wissenschaftsfelder darstellen. Bei der wissenschaftlichtechnologischen Konstruktion werden Akteure auf der Basis von Innovationen verbunden und bilden in der Folge disziplinäre Strukturen aus.

2.

THEORIE NEUER WISSENSCHAFTSFELDER

I 69

In ihrer Studie zur Emergenz des Forschungsfeldes Hochtemperatursupraleiterforschung (i.F. HTSL) bspw. zeigen Nowotny und Feit (1997), dass der Ausgangspunkt der Entstehung des Feldes eine wissenschaftliche Entdeckung ist. Supraleitfähigkeit ist seit Beginn des 20. Jahrhundert bekannt und die Forschungsarbeiten, die dazu in den späten 1950er Jahren beginnen, haben u.a. zum Ziel, ein Material zu finden, dass auch bei hohen Temperaturen, d.h. über 23 Kelvin (-250 °Celsius), supraleitend ist. Dies gelingt trotz intensiver Bemühungen bis Mitte der 1980er Jahre nicht, und innerhalb der wissenschaftlichen Community wird kaum noch mit einer Überraschung gerechnet. Der radikale Durchbruch (Breakthrough) gelingt im Jahr 1986, als Alex Müller und Georg Bednorz im IBM Forschungslabor in Rüschlikon (Schweiz) ein Material entdecken, das bei 35 Kelvin (-238,15 °C) supraleitend wird: »High-temperature supercondictivity was bom« (Nowotny/Felt 1997: 1). Von diesem Zeitpunkt an setzen die Forschungsarbeiten zu HTSL ein und das neue Wissenschaftsfeld beginnt sich zu entwickeln. Die Entdeckung der beiden Wissenschaftler Müller und Bednorz ist zwar nicht unbeabsichtigt, da sie planvoll nach einem supraleitenden Material suchen und verschiedene Komposite testen. Allerdings ist die Entdeckung unerwartet, da sie den vorherrschenden Lehrbuchmeinungen und Forschungsansätzen widerspricht oder zumindest teilweise existierende wissenschaftlich-theoretische Konzeptionen in Frage stellt. Dementsprechend führt die Publikation des Ergebnisses zu einer, wie die Autorinnen es nennen, »shock wave through the research system« (ebd.: 1). Die Ergebnisse aus dem IBM Forschungslabor werden in der wissenschaftlichen Community zunächst skeptisch aufgenommen; auch weil es sich bei Müller und Bednorz um feldfremde Akteure handelt. Nachdem jedoch andere Wissenschaftler die Ergebnisse reproduzieren, folgt eine Phase der Euphorie, in der immer mehr Forscher aus Disziplinen wie Chemie, Festkörperphysik und Kristallographie am neuen Wissenschaftsfeld HTSL partizipieren und ein rasanter Anstieg der Forschungsarbeiten zu verzeichnen ist. »Not only had Müller's and Bednorz's results been reproduced and widely accepted, the detection of even higher critica1 temperatures in other materials suddenly bestowed unprecedented prestige on the new, very >hot< line of research« (a.a.O.: 35). In den Jahren bis 1998 etabliert und festigt sich das Feld derart, dass es auch weiterhin Bestand hat, obwohl sich - aufgrund fehlender Fortschritte- die Euphorie legt und viele Forscher wieder ihre ursprünglichen Forschungsarbeiten aufnehmen. Konzeptuell beschreiben Nowotny und Felt den Konstruktionsprozess der HTSL als ein Durchlaufen verschiedener Interessensebenen (»Ievels of interest«), mittels derer sich das Feld schrittweise konstituiert (vgl. Nowotny/ Felt 1997: 37f.). Zunächst ist die Entdeckung vor allem für das wissenschaftliche

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Publikum interessant, da sie Optionen für innovative Forschungsaktivitäten bietet. Liegt eine Reihe von Arbeiten im Bereich der Grundlagenforschung vor und werden erste wissenschaftliche Erkenntnisse publik, schließt sich technologisches Interesse wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Akteure sowie die Suche nach neuen Anwendungen an. Und schließlich zieht die Prominenz des neuen Forschungsgebietes politisches Interesse und die damit verbundene Förderung von Forschungsarbeiten auf sich. Ausgehend von einer wissenschaftlichen Entdeckung bzw. einem radikalen Durchbruch werden so fortwährend neue Akteure an das sich formierende Wissenschaftsfeld gebunden, und es entstehen dauerhafte Strukturen. 2.5.3 Organisatorische Konstruktion durch Forschungszentren

Der dritte Faktor, der zur Entstehung von Wissenschaftsfeldern beiträgt und den ich der organisatorischen Konstruktion zuordne, ist die Einrichtung von Forschungsinstitutionen, wie etwa Infrastrukturzentren oder Laborkomplexen. Die Einrichtung solcher Forschungszentren geht in der Regel auf Initiativen staatlieher Akteure der Forschungsförderung oder auf privatwirtschaftliche Investitionen zurück und gründet auf der Annahme, dass sich die Zentralisierung von Technologien und das Zusammenbringen von unterschiedlichen (akademischen und wirtschaftlichen) Akteuren und deren Know-how positiv auf die Entstehung von Innovationen auswirken. Basierend auf der strukturellen und räumlichen Verknüpfung der Akteure formt sich, so das Argument, im Laufe der Zeit eine sozial und kognitiv verbundene Community, aus der sich ein neues Wissenschaftsfeld zu formieren vermag. Die organisatorische Konstruktion ist dadurch gekennzeichnet, dass sich gleichzeitig mit der Entstehung neuer Forschungseinrichtungen oder Organisationseinheiten neue disziplinäre Strukturen entfalten. Dieser Argumentationslinie folgend, konstatiert Bensaude-Vincent (200 1) in ihrer Untersuchung zur Entstehung der Materialwissenschaften in den USA eine starke Forcierung des Konstitutionsprozesses durch staatliche Akteure, die insbesondere in der Gründung von Forschungsinstitutionen und der Einrichtung von Forschungszentren zum Ausdruck kommt. Während des Kalten Krieges stellen staatliche Akteure (und insbesondere das Militär) einen Bedarf an neuen Materialien, u.a. in den Bereichen Magnetismus, Festkörperphysik und Halbleitertechnologie, fest. Mit dem Ziel, die entsprechende Forschungsrichtung Materialwissenschaften und -technologie angemessen zu unterstützen und auf möglichst effiziente Weise aussagekräftige Forschungsergebnisse zu erhalten, strebt die Regierung eine langfristige Zusammenarbeit mit wissenschaftlich-akademischen Akteuren an. Dazu gründet das Verteidigungsministerium die »Advanced Rese-

2.

THEORIE NEUER WISSENSCHAFTSFELDER

I 71

arch Project Agency« (ARPA), durch die die Wissenschaftler mit Technologien und finanziellen Ressourcen versorgt werden, die sie selber hätten niemals aufbringen können. Insbesondere werden in den 1970er Jahren knapp 20 interdisziplinäre Labore (sog. »material research laboratories«) eingerichtet, in denen technologische Anlagen zum Prozessieren und Testen von Materialien bereitgestellt werden. Diese Labore sind der Ausgangspunkt der Etablierung materialwissenschaftlicher Forschung in den USA. »Materials science as a research field first materialized around !arge research facilities« (Bensaude-Vincent 2001: 228). Die interdisziplinären Forschungszentren ermöglichen und erleichtern durch das Teilen von Technologie grenzüberschreitende Zusammenarbeit und tragen so zur Konstitution einer wissenschaftlichen Gemeinschaft bei. »The ARPA fimding typically resulted in the construction ofnew buildings built araund a central unit of heavy equipment for processing and testing materials. Instrumentation acted as a driving force to prompt meetings and collaborations, to develop a common culture or what one actor called >a spiritual entityStandardstory< der Nanotechnologie konstituiert. Aufbauend auf den aus dieser Standardstory resultierenden sozialwissenschaftliehen Kritiken haben Wissenschaftssoziologen alternative Argumentationslinien entwickelt, die die Konstruktion des Wissenschaftsfeldes vorrangig auf Rhetorik einerseits (rhe34 Zur allgemeinen Übersicht über nanowissenschaftliche Forschung in der STS vgl. die Sammelbände Baird u.a. 2004; Nordmann u.a. 2006; Fisher u.a. 2008; Gammel u.a. 2009; Ferrari/Gammel2010; Kaiser u.a. 2010; Lucht u.a. 201 0; Cozzens u.a. 2010.

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I WISSENSCHAFT ALS BRICOLAGE

torisehe Konstruktion) und technologische Entwicklungen anderseits (wissenschaftlich-technologische Konstruktion) zurückführen; Studien zur organisatorischen Konstruktion liegen bislang nicht vor. Die >Standardstory< der Entstehung der Nanotechnologie Die Entwicklung der Nanotechnologie beginnt, gemäß der Standardstory, mit einem Vortrag des Physikers Richard Feynman im Jahr 1959, in dem er äußert: » There's plenty of room at the bottom« (Feynman 1960). Mit dieser Aussage verknüpft er die Vision, dass es zukünftig möglich sein wird, Materie auf atomarer Ebene zu manipulieren. Im Jahr 1974 taucht der Begriff »Nanotechnologie« erstmals in einem Artikel auf - Norio Tanigucchis beschreibt damit Herstellungsmethoden im Bereich von einigen Nanometern. Als nächster Meilenstein in der Entwicklung der Nanotechnologie wird die Erfindung des Rastertunnelmikroskops durch die PhysikerGerd Binnig und Heinrich Rohrer im Jahr 1981 bei IBM in der Schweiz bezeichnet. Mit diesem Mikroskop sei es erstmals möglich gewesen, einzelne Atome abzubilden. Im Jahr 1986 verhilft der Physiker Eric Drexler mit seiner Publikation »Engines of Creation« der Nanotechnologie erstmals zu breiter Aufmerksamkeit, und im Jahr 1990 gelingt es Don Eigler und Erhard Schweizer mit einem Rastertunnelmikroskop, das Wort IBM aus 35 XenonAtomen zu »schreiben«. Diese Standardstory variiert von Fall zu Fall, indem zuweilen bspw. die Publikation Drexlers ausgelassen oder weitere Bestandteile, wie die Entdeckung von Kohlenstoff-Nanoröhrchen, hinzugefügt werden (vgl. bspw. Stix 2001; Baird/Shew 2004; Boeing 2004). STS-Forscher stehen dieser Standardstory aus mehreren Gründen kritisch gegenüber. So weisen Baird und Shew (2004) darauf hin, dass einerseits mit dem Elektronenmikroskop bereits seit den 1950er Jahren Strukturen in der atomaren Ebene aufgelöst werden können und dass sich andererseits Atome aufgrund chemischer und physikalischer Eigenschaften nicht beliebig platzieren lassen. Das Potential der Rastersondenmikroskopie sei also nicht völlig neu, und Nanotechnologie habe nicht das Leistungsvermögen, das ihr zugesprochen wird. Shew (2008) fügt hinzu, dass die Feynman-Rede von den zentralen Akteuren der Nanotechnologie weder gehört noch gelesen wurde und keinen Einfluss auf deren Arbeit hat. Und der Aufsatz von Tanigucchi, so stellt Schaper-Rinkel (2006) fest, ist in einer wenig relevanten Konferenzdokumentation publiziert und bleibt seinerzeit ohne Wirkung. Diese Kritiken gehen einher mit einer >Korrektur< der Entstehungsgeschichte nanowissenschaftlicher Forschung, im Zuge derer die rhetorische Konstruktion stärker hervorgehoben und die technologische Entwicklung im Wissenschaftsfeld differenzierter betrachtet wird. Die rhetorische Konstruktion nanowissen-

2.

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schaftlicher Forschung wird in Studien der STS nuanciert dargestellt. Diese orientieren sich a) an Erwartungen, b) wählen Diskurse als Ausgangspunkt der Untersuchung und führen c) eine terminologisch-orientierte Begründung an. 35 Aus Perspektive der wissenschaftlich-technologischen Konstruktion stellen die STSAnalysen d) auf die technologische Erfindung der Rastersondenmikroskopie ab. Ich werde diese vier Ansätze im Folgenden skizzieren und die von den Autoren identifizierten Entstehungs- und Entwicklungsfaktoren erläutern. a) Entstehungsfaktor Erwartungen In Anlehnung an Studien, in denen Erwartungen als zentraler Entstehungsfaktor hervorgehoben werden (van Lente/Rip 1998a, 1998b), argumentiert Se!in (2007), dass »the rhetorical development of nanotechnology reveals how speculative claims are powerful constructions that create legitimacy in this ernerging technological domain« (Selin 2007: 196). Die Frage, wie sich Nanotechnologie konstituiert und was zu Nanotechnologie zählt, hängt nach Selin nicht allein von der experimentell zugänglichen Größenskala ab, sondern wird zugleich durch Aushandlungen seitens der Akteure bestimmt. Für die Nanotechnologie gibt es nach Meinung der Autorin eine Reihe populärer Meinungen (»Skripts«) über Nanotechnologie, deren Potentiale und die zukünftige Beschaffenheit des Feldes. Von diesen Skripts, die bspw. durch Feynman, Taniguchi oder Drexler geschaffen wurden, ist allerdings keines für sich allein in der Lage, die Bedeutung und Signifikanz der Nanotechnologie zu erfassen. Daher stehen sich die verschiedenen Auffassungen über Nanotechnologie gegenüber und werden zwischen den beteiligten Akteuren ausgehandelt (bspw. in der Smalley-Drexler-Debatte (vgl. Baum 2003)). 36 »As new actors [ ... ] 35 Entsprechend der Perspektive der rhetorischen Konstruktion nanowissenschaftlicher Forschung bilden Vorhersagen zukünftiger Entwicklungen und die Kommunikation visionärer Prognosen die Basis für politische Entscheidungen, Technikfolgenabschätzung und Bürgerbeteilignng (Barben u.a. 2008; Burri 2009; Kaiser 2009) sowie ethische Beurteilungen des Forschungszusammenhangs (vgl. kritisch dazu Nordmann/Rip 2009). 36 Es handelt sich hierbei um eine Form von Grenzarbeit (»boundary work« nach Gieryn 1983), die sich in erster Linie auf die Herstellung eines Unterschieds zwischen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Anschauungen, Forschungsthemen und Aktivitäten bezieht. So wird bspw. durch die Smalley-Drexler-Debatte (Baum 2003) ein Forschungsgebiet, das sich mit molekularen Assemblem beschäftigt und bis zu diesem Zeitpunkt zur Nanotechnologie zählt, diskursiv in den Bereich der Sciencefiction verschoben und so als >>Unwissenschaftlicher Nanofuturismus« (Kaiser 2006) aus dem wissenschaftlichen Kontext entfernt (vgl. zu diesem Vorgehen kritisch Drexler

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entered the scene, the meaning of nanotechnology has been transformed and fractured from Drexler's original meaning ofmolecular manufacturing to an ubiquitous, yet nonetheless ambiguous, technology« (Selin 2007: 206). Als Ergebnis findet eine, mehr oder weniger dauerhafte, Festlegung auf eine der existierenden Sichtweisen und die damit verbundenen Erwartungen statt.

b) Entstehungsfaktor Diskurs Im Gegensatz zur Darstellung der Standardstory der Nanotechnologie als »linear wissenschaftlich-technische Fortschrittsgeschichte« (Schaper-Rinkel 2006: 3) wird die Entwicklung der Nanotechnologie von Schaper-Rinkel als rückbezügliche Konstruktion und damit »diskursive Konstituierung des Technologiefeldes« (a.a.O.: 9) durch insbesondere forschungs- und technologiepolitische Akteure verstanden (vgl. auch Schaper-Rinkel 2010a). 37 So argumentiert die Autorin, dass bspw. die Feynman-Rede durch regelmäßige Bezugnahme und Diffusion im technologiepolitischen Umfeld als Beginn der Nanotechnologie gefestigt und so zu einem autonomen Element innerhalb der Standardstory geformt wird. Schaper-Rinkel sieht die Zusammenfassung der sehr heterogenen technologischen Entwicklungen unter dem Begriff »Nanotechnologie« daher nicht primär naturwissenschaftlich, sondern strategisch begründet. »Da die soziale, politische und ökonomische Reflexion neuer Technologien heute nicht mehr der technischen Entwicklung nachfolgt, sondern Teil der Entwicklung von Schlüsseltechnologien ist, bekommen Diskurse [... ] einen neuen Status: [... ] sie formieren das Technologiefeld.« (Schaper-Rinkel2006: 7) Die Strukturierung bzw. Govemance von Nanotechnologie, wie es Schaper-Rinkel nennt, erfolgt in den Augen der Autorin im Zusammenspiel staatlicher und privater Akteure, die Ein- und Ausschlüsse bezüglich der Grenzen des Wissen2004). Lucht (2010) argumentiert fortführend, dass Grenzarbeit in der Nanotechnologie nicht nur funktional sei, weil dadurch der Ausschluss von Forschungssträngen ermöglicht werde, sondern der Bezug auf Sciencefiction diene auch dazu, neue Denkweisen zu fördern, neue Forschungsbereiche zu besetzen und so eine stetige Neuausrichtung des nanowissenschaftlichen Forschungsfeldes zu bewirken. 37 Ganz ähnlich stellt Lösch eine Konstitution der Nanotechnologie »im kommunikativen Gebrauch ihrer Zukunftsbilder« (Lösch 2010a) fest, an der die öffentlichen Medien mitwirken (vgl. auch Lösch 2006; Lösch 2010b). Lösch zeigt bspw., wie sich im Laufe der Zeit die Bildbezüge in Diskursen zu Nanotechnologie von einer visionären Aufbruchsphase über die Metaphorisierung bei Risikodiskussionen hin zu einer DeFuturisierung in heutiger Zeit gewandelt haben.

2.

THEORIE NEUER WISSENSCHAFTSFELDER

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schaftsfeldes, der ökonomisch relevanten Möglichkeiten und der Risikodiskussionen produzieren. c) Entstehungsfaktor leerer Signifikant Die dritte Möglichkeit einer rhetorischen Konstruktion von Nanotechnologie besteht in der Verwendung bestimmter Terminologien. So begreift Wullweber (2008) den Begriff Nanotechnologie als einen »empty signifier«, d.h. als Bezeichnung für ein Phänomen, das sich einer konkreten Beschreibung und Definition entzieht. Darin liegt in den Augen des Autors jedoch gerade die Funktionalität dieses Terminus. Politische und wirtschaftliche Akteure füllen den leeren Signifikanten »Nanotechnologie« entsprechend ihrer eigenen Ziele mit Bedeutung, argumentieren so ihre Zukunftsvisionen und sind entscheidende Triebfedern bei der Entwicklung von Nanotechnologie. 38 »By emptying the signifier from its >original< meaning it was possible to refill the term with different contents and associate it with other positive connotations, such as the mext industrial revolutionBrückenkapitel< einen Bogen von den theoretischen Konzeptionen über forschungspraktische Entscheidungen zur Darstellung der empirischen Ergebnisse in den Kapiteln 4 bis 6 zu spannen (3.4) und das Format der vorliegenden interaktionistisch angeleiteten, institutionellen Mesolevelanalyse zu erörtern.

3.1

WAS IST NANOWISSENSCHAFTLICHE FORSCHUNG?

Der Begriff »Nanotechnologie« wird in der Öffentlichkeit und in politischen Diskursen vor allem dann genutzt, wenn nanowissenschaftliche Forschung als Schlüsseltechnologie dargestellt wird und Zukunftsszenarien für das Wissenschaftsfeldund dessen Potentiale entworfen werden (bspw. Bachmann 1998; Paschen u.a. 2003). Nanotechnologie ist demnach keine Technologie im strikten Sinne, sondern ein Sammelbegriff für viele verschiedene Akteure, Aktivitäten und Strukturen des neuen Forschungszusammenhangs. Hessenbruch (2004) verweist in diesem Kontext darauf, dass vor allem die Novität, die in der Rastertunnelmikroskopie- bzw. in der Rastersondenmikroskopie als übergeordnetem Typus- begründet ist, den Reiz der Nanotechnologie ausmacht (zur Rastersondenmikroskopie vgl. Abschnitt 3.3.1). 2 Dass es sich beim Rastertunnelmikroskop um eine Innovation handelt, davon sind die Wissenschaftler überzeugt, die sich ab Mitte der 1980er Jahre mit dem neuen Instrument auseinandersetzen und Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Rastersondenmikroskopie durchführen. Folgen wir der Ansicht, dass sich mit der Rastersondenmikroskopie die nanowissen2

Da jedoch bereits seit den 1950er Jahren die atomare Ebene durch Elektronenmikroskopie zugänglich ist (vgl. Abschnitt 2.5.5), muss - so argumentiert Hessenbruch (2004) - die Neuheit der Nanotechnologie, also das Innovationspotential der Rastertunnelmikroskopie, erst hergestellt werden. Der Autor verdeutlicht dies anhand einer Publikationsanalyse der Zeitschriftenartikel von Gerd Binnig und Heinrich Rohrer zur Rastertunnelmikroskopie, in denen die beiden Erfinder Schritt für Schritt die Innovation ihres Mikroskops begründen. Siehe zu dieser Thematik auch die Diskussion von Hessenbruch im Internet unter http://authors.library.caltech.edu/5456/l/hrst.mit.edu/ hrs/materials/public/BR_papers/BR_1981-86.htrnl (letzter Zugriff 15.12.20 I 0).

3.

NANOFORSCHUNG UND SOZIOLOGISCHER ZUGANG

I 85

schaftliehe Forschung zu entwickeln beginnt, stellt sich die Frage, wie das Verhältnis von Nanotechnologie und Rastersondenmikroskopie gedeutet werden kann. Empirisch zeigt sich, dass der Begriff Nanotechnologie nicht zeitgleich mit dem neuen Instrument aufkommt, im Lauf der Zeit einer Bedeutungsverschiebung unterliegt und im Feld variabel eingesetzt wird.

3.1.1 Nanotechnologie als variabler Feldbegriff Der Leiter einer nanowissenschaftlichen Abteilung, der sich bereits seit Ende der 1980er Jahre mit Forschung im Nanometerbereich beschäftigt, beschreibt mir gegenüber in einem Interview drei verschiedene Phasen im Umgang mit dem Begriff Nanotechnologie, die jeweils verschiedene Aspekte von und Annahmen über nanowissenschaftliche Forschung widerspiegeln. Wie zu sehen sein wird, sind die in Abschnitt 2.5.5 vorgestellten Studien der Science and Technology Studies zur Entwicklung des nanowissenschaftlichen Feldes an diese Ausführungen anschlussfahig.

Neuheit: Rastersondenmikroskopieforschung auf der Nanometerskala In einer frühen Phase Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre existierte der Begriff Nanotechnologie, wie er heute in Publikationen, Medien und der Öffentlichkeit verwendet wird, noch nicht. »Ja also ich bin da durch Phasen gegangen. Ich hab Nanotechnologie gemacht, da hieß es noch gar nicht so. [... ]Das hieß einfach AFM [atomic force microscopy] und STM [scanning tunneling microscopy], da haben wir Mikroskopie gemacht auf der Nanometerskala. Haben versucht Atome zn untersuchen- Sachen gemacht, die heute ganz klar Nanotechnologie sind.« (Leiter einer nanowissenschaftlichen Forschungsabteilung, I.4 3)

Zu dieser Zeit wurde Forschung in einem bestimmten Größenbereich, der Nanometerskala, betrieben und das Wissenschaftsfeld, das sich zu entwickeln begann, hieß Rastersondenmikroskopie (vgl. 2.5.5 zur Konstruktion von Wissenschaftsfeldern durch Technologie). Der Größenmaßstab und der Verweis auf die atomare Ebene werden bis heute zur Bestimmung dessen, was nanowissenschaftliche Forschung kennzeichnet, verwendet. Das Leitungsgremium der im Jahr 2001 gestarteten »National Nanotechnology Initiative« in den USA- eines der ersten finanzintensiven Förderprogramme nanowissenschaftlicher Forschung weltweit expliziert bspw. Nanotechnologie in sehr allgemeiner Form als »the ability to 3

I.4 steht für Interview Nummer 4 (vgl. Anhang A).

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I WISSENSCHAFT ALS BRICOLAGE

understand, control, and manipulate matter at the Ievel of individual atoms and molecules, as weil as at the >supramolecular< Ievel involving clusters of molecules« (Roco 2004: 890). 4 Diese Definition von Nanotechnologie stellt auf die Erforschung und die Veränderung von Atomen, Molekülen und Supramolekülen ab. Zusätzlich zur (a) Größenskala und (b) der Manipulation von Atomen und atomaren Strukturen wird oftmals auf (c) die neu auftretenden Eigenschaften von Materie im Nanometerbereich hingewiesen 5 : »Eine der besten Definitionen, die ich persönlich gehört habe, geht in die Richtung, dass der Nanobereich da beginnt, wo sich Eigenschaften drastisch ändern.« (Doktorandin EPFL, I.13). Nanotechnologie ist in dieser Anfangsphase nanowissenschaftlicher Forschung gleichzusetzen mit der Untersuchung von Atomen und Molekülen auf dem Gebiet der Rastersondenmikroskopieforschung. Die zielgerichtete Manipulation zur Erreichung neuer Materialeigenschaften ist eine Bestrebung, die erst mit der Etablierung nanowissenschaftlicher Forschung einhergeht. Hype: Expansion der Nanotechnologie und Grenzziehungen Einige Jahre später gibt es in den Augen des Interviewten eine Zeit des >Hypenanotechnology< in commercials and press releases.« (Choi/Mody 2009: 42)

Auch Merz (2010c) beschreibt am Beispiel eines Forschungsinstitutes in der Schweiz, wie Nanotechnologie als Ressource genutzt werden kann, um Institutionen strategisch neu auszurichten, Organisationale Strukturen zu modifizieren und so eine Re-Positionierung in der Forschungslandschaft zu erreichen. Mit der Entwicklung nanowissenschaftlicher Forschung gehen demnach vielfaltige Veränderungen bestehender disziplinärer und institutioneller Strukturen einher. Gleichzeitig sind im Feld Prozesse der Abgrenzung und Grenzarbeit zu beobachten, die entweder darauf abzielen, die eigene Forschung als die >richtige< Nanowissenschaft zu bestimmen: »Reines Nano hat mit Atommolekülen zu tun, nicht mit den Strukturen.« (Nanowissenschaftler, 1.21 ). Oder es wird umgekehrt argumentiert, die eigene Arbeit sei gerade nicht dem Bereich nanowissenschaftlicher Forschung zuzuordnen, wie ein Wissenschaftler der Strukturbiologie betont: »Also Nanotechnologie so wie ich das verstehe, sind mehr irgendwelche Nanopartikel als Katalysatoren oder Nanopartikel für Oberflächenbeschichtungen. Also mehr etwas, was

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I WISSENSCHAFT ALS BRICOLAGE

man strukturiert und so weiter. Und das hier das sind Proteine, das sind die DNA, RNA, das sind die Grundbausteine des Lebens, die untersucht werden.« (Leiter Abteilung eines Technologiezentrums, 1.17)

Ähnlich stellen Kehrt und Schüßler (2010) fest, dass Kristallographen zwar auf der Nanometerebene-und zwar schon sehr viel länger, als Nanotechnologie in der Öffentlichkeit thematisiert wird- arbeiten, sich aber dennoch von nanowissenschaftlicher Forschung abgrenzen und sich nicht mit dem neuen Wissenschaftsfeld identifizieren. Etwas anders wird die Frage der Identität und Zugehörigkeit für das Forschungsgebiet der Toxikologie beantwortet, denn in diesem Fall wird Nanotechnologie als Chance wahrgenommen, an dem neuen Wissenschaftsfeld zu partizipieren und ein neues Selbstverständnis hervorzubringen (Kurath/Maasen 2006; Kurath/Kaiser 2010). In dieser zweiten Phase der Entwicklung nanowissenschaftlicher Forschung wird der BegriffNanotechnologie populär, mit positiven Erwartungen verknüpft, und auch andere Forschungsgebiete als die Rastersondenmikroskopie werden mit nanowissenschaftlicher Forschung assoziiert. Dies führt zu Aushandlungen darüber, was nanowissenschaftliche Forschung ist, welche Spezialgebiete dazu gehören und welche nicht (vgl. 2.5.5 zur Konstruktion von Wissenschaftsfeldern durch Diskurse). Alltag: Akzeptierte Diffusität Derzeit scheint die Diskussion um den Begriff Nanotechnologie nachgelassen zu haben, und das Wort existiert als mndefinierter< Bezugsrahmen. »Und mittlerweile hat sich das Ganze so ein bisschen gelegt, die Diskussion um den Begriff selber. Jetzt ist es einfach Nanotechnologie [ ... ] Puh, ich bin da nicht mehr religiös mit dem Begriff Nanotechnologie. Der ist einfach.« (Leiter einer nanowissenschaftlichen Forschungsabteilung, I.4)

Der BegriffNanotechnologie »ist einfach«, wie der Interviewte angibt, und insofern besteht eine gewisse Ähnlichkeit zu Wullwebers (2008) »empty signifier«, der stets mit Bedeutung gefüllt werden muss (vgl. II.5.5). Allerdings bleibt der Begriff Nanotechnologie heutzutage >leer< und wird kaum noch strategisch eingesetzt. Vielmehr liegt die Vermutung nahe, dass sich ein unausgesprochener Konsens unter den nanowissenschaftlichen Akteuren herausgebildet hat, nicht (weiter) über Begrifflichkeiten wie »Nanotechnologie« zu debattieren, sondern im Forschungsalltag auf die Spezialgebiete des Forschungszusammenhangs zu

3.

NANOFORSCHUNG UND SOZIOLOGISCHER ZUGANG

I 89

rekurrieren, die konkret genug sind, um Forschungsarbeiten einordnen und sich darüber austauschen zu können. Die vorstehenden Aussagen verdeutlichen, dass der BegriffNanotechnologie diverse Bedeutungen in Abhängigkeit von Forschungsgebiet, Institution und Zeit besitzt und Rastersondenmikroskopie als Komponente subsumiert. Nanotechnologie erweist sich damit als unhandliche Vokabel, die forschungspolitisch aufgeladen ist und zwischen der Verwendung als leerem Signifikanten und einem >catch allSample< definiert? Welche Prioritäten setze ich im weiteren Untersuchungsverlauf, und mit welchen Problemen werde ich konfrontiert werden? Die Antworten darauf diskutierte ich im folgenden Kapitel.

3.2

METHODISCHES VORGEHEN UND FORSCHUNGSPRAXIS

Die Theorie des Handeins erweist sich als geeignete Perspektive, um strukturelle Veränderungen der Meso- und Makroebene auf kollektive Interaktionsprozesse zurückzuführen. Der Zugang fokussiert lokale Interaktionszusammenhänge als Ausgangspunkt (> locusgelöst< hat: »Obwohl es sich ursprünglich nicht um eine eigenständige Auswertungsmethode handelte, gibt es in der Literatur immer mehr Hinweise darauf, dass das Kodieren zu einer eigenständigen Auswertungsmethode auch außerhalb der grounded theory geworden ist« (43). II Ebenso konstatiert Hirsehauer (2008), dass der die Beschreibungen erzeugende Prozess des Herausfindens - im Gegensatz zu finden und erfinden - eine »Knobelei, ein Tinkering-Prozeß« (175) ist, im Zuge dessen treffende Fragen gestellt werden, und der eine umfassende Mobilität des Forschers in Bezug auf Feld, Datenmaterial, Literatur, usw. erfordert. 12 Vgl. Kalthoff/Hirschauer/Lindemann 2008.

94

I WISSENSCHAFT ALS BRICOLAGE

3.2.2 Soziologische Ethnographie: von Laborstudien zu »multi-sited ethnography« Sozialwissenschaftliche Forschung darf sich nach Hirsehauer (2008) nicht auf das Verwalten existierender Wissensbestände beschränken, sondern soll durch Verfremdung der eigenen Gesellschaft immer wieder neues Wissen generieren. Im Sinne einer derartigen Verfremdung ist die vorliegende Studie an der mikrosoziologischen Perspektive der in den Science and Technology Studies (STS) prominenten soziologischen Ethnographie ausgerichtet. Die Ethnographie hat zwei Wurzeln. Zum einen hat sie ihren Ursprung in der Kulturanthropologie (insbesondere durch Bronislaw Malinowski) und Ethnologie (vor allem durch Clifford Geertz). Zum anderen ist sie, wie Kromrey ausführt, »genuin soziologischen Ursprungs« (Kromrey 2009: 389) und fußt auf den Forschungsarbeiten der »Chicago School« zu Beginn des 20. Jahrhunderts (bspw. Park 1984; vgl. ebenso Lindner 2007). Die Differenz im Untersuchungsgegenstand ist das Hauptunterscheidungsmerkmal zwischen ethnologischer und soziologischer Ethnographie. In der soziologischen Ethnographie wird die eigene Gesellschaft erforscht im Gegensatz zu der ethnologischen Ethnographie, in der andere Kulturen und Gesellschaften den Untersuchungsgegenstand bilden. Mit der Fokussierung eigener Gesellschaft ist die Notwendigkeit verbunden, sich als Forscher die Welt stets von neuem fremd zu machen und die »falsche Vertrautheit mit der eigenen Kultur« (Amann/Hirschauer 1997: 11) zu hinterfragen, was selbst bei einer Fahrstuhlfahrt gelingen kann (vgl. Hirsehauer 1999). Ziel der soziologischen Ethnographie ist es, spezifische soziologische Phänomene oder theoretische Konzepte im Feld ausfindig zu machen und zu untersuchen, anstatt eine umfassende Analyse kultureller Gemeinschaften und Ethnien zu erstellen. 13

13 Zur soziologischen Ethnographie finden sich eine Reihe unterschiedlicher Ausrichtungen, Ansätzen und Spezialisierungen. Als Erforschung der Lebenswelt erfolgt die »explorativ-interpretative Erkundung, Beschreibung und Übersetzung von - teils mehr, teils weniger >apartenUnübersichtlich< erweisenden spätmodernen Gesellschaften« (Hitzler 2002: 21; vgl. auch Honer 1989; Knoblauch 1996; Pfadenhauer 2005b ). In ethnomethodologischer Richtung werden mit den »Workplace Studies« (Knoblauch/Heath 2006) oder den »Studies of Work« (Bergmann 2006) insbesondere Arbeitszusammenhänge, der Gebrauch von Technologien und verkörperte Praktiken untersucht. Mit Videographie (vgl. Knoblauch 2009) und Technografie (vgl. Rammert/Schubert 2006) wird der Fokus aufvisuell aufgezeichnete Situationen und soziotechnische Konfigurationen gelegt.

3.

NANOFORSCHUNG UND SOZIOLOGISCHER ZUGANG

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»Sociology works with a concept of culture different from classical cultural anthropology. [ ... ] Object of the study is not a particular field and all its culture, but some theoretical concept, which supposedly can be studied best in a certain context or field.« (Nadai/Maeder 2005: 22)

Auch wenn der Untersuchungsgegenstand zwischen soziologischer und ethnologischer Ethnographie differiert, zeigen sich konzeptionelle und forschungspraktisehe Parallelen. In beiden Fällen erarbeitet sich der Forscher eine Vorstellung über das zu untersuchende Phänomen »from the native's point of view« (Geertz 1984), typischerweise durch teilnehmende Beobachtung im Feld. Ethnographien sind dabei weit mehr als bloße Beschreibungen des Beobachteten- sie sind analytische Repräsentationen des untersuchten Feldes. Sie setzen, mit den Worten Geertz, eine »dichte Beschreibung« (Geertz 1983) voraus, mittels derer der Forscher Bedeutungsstrukturen, die von Akteuren im lokalen Kontext erzeugt werden, erkennt und analysiert. Der verfremdende Blick wird differenziert statt ganzheitlich auf die eigene Gesellschaft gerichtet. »[Dann] kann man verschiedenste Bereiche in der Wissenschaft, der Ökonomie, in Intimbeziehungen oder sozialen Bewegungen als >Laboratorien< oder Bühnen begreifen, wo nicht bloß ein >sozialer Wandel< sich diffus ereignet, sondern wo Sozialität aktiv und in sehr unterschiedlicher Weise neu erfunden wird.« (Amann/Hirschauer 2000: 171)

Methodisch ergeben sich flir die soziologische Ethnographie besondere Anforderungen und Voraussetzungen. Eine davon ist die Kopräsenz des Forschers im Feld, da nur Teilnahme am Geschehen eine situations-und damit kontextsensitive Erfassung der relevanten Ereignisse, Handlungen und Gespräche sowie Objekte ermöglicht. 14 Teilnehmende Beobachtung befähigt den Forscher, Handlungsweisen und Routinen zu erfassen, die von den Beobachteten nicht expliziert werden (können). Gleichwohl muss er Distanz wahren, um nicht die Perspektive der Beobachteten zu übernehmen. Denn es geht der soziologischen Ethnographie nicht darum, »die Welt der Anderen mit deren Augen zu sehen, sondern diese Weltsichten als ihre gelebte Praxis zu erkennen« (Amann/Hirschauer 1997: 24). Laborstudien: ethnographische Analyse lokaler Faktenproduktion Innerhalb der STS etablierte sich in den 1980er Jahren im Zuge der wissenssoziologischen (Re-)Orientierung ein ethnographischer Ansatz, der sich mit der Wissensproduktion in naturwissenschaftlichen Laboren auseinandersetzt die La14 Zur Ethnographie von Objekten vgl. Tilley 2001.

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borstudien (vgl. Knorr Cetina 1995b, 2002; ebenso Latour/Woolgar 1979; Lynch 1985; Traweek 1988). Das Labor steht in dieser Forschungsrichtung für einen Ort, an dem die zu untersuchenden Objekte von den Wissenschaftlern kultiviert und in den Forschungsprozess eingepasst werden, um einen epistemischen Gewinn über sie erzielen zu können (vgl. Knorr Cetina 1988). Mit der wissenschaftlichen Faktenproduktion geht demnach eine »kulturelle >Domestizierung< natürlicher Prozesse« (Knorr Cetina 1984: xv) einher, die sich auf den Forschungsprozess im Labor auswirkt. In den wissenschaftssoziologischen Ethnographien der Laborstudien wird dieser Entstehungskontext von Wissen in den Blick genommen und analysiert. »Das Labor ermöglichte es den Wissenschaftssoziologen, das technische Handeln der Wissenschaft innerhalb des weiteren Kontextes der Aktivitäten und symbolischen Praktiken, in die sie eingebettet waren, zu untersuchen« (Knorr Cetina 1995b: 103). Zur Rekonstruktion der »Fabrikation von Erkenntnis« (Knorr Cetina 1984) folgen die Sozialforscher den Naturwissenschaftlern in ihre Labore und zeichnen mittels ethnografischer Methoden und verschiedener Spielarten der Diskursanalyse die mikroskopischen Konstruktionsprozesse im wissenschaftlich-sozialen Handeln nach (vgl. 2.2.1). Es wird bspw. danach gefragt, welche Geräte und Instrumente aus welchen Gründen in einem bestimmten Augenblick eingesetzt werden. Sind die Technologien die beste Wahl oder gerade zur Hand oder sind sie neuartig und werden deshalb genutzt? Weiterhin sind die Experimentieranordnungen der Forscher von Interesse. Aufwelche Weise sind diese Apparaturen das Ergebnis konsensueller Aushandlungen bzw. Ausdruck existierender Machtverhältnisse? Und produzieren spezifische Experimente jeweils bestimmte Ergebnisse? Schließlich wird in den Laborstudien auch die Publikationspraxis untersucht. Was besagt die Reihenfolge der Autoren eines wissenschaftlichen Textes, wie werden Bilder eingesetzt und mit welcher Regelmäßigkeit erscheinen Publikationen in welchen Zeitschriften? Die Ergebnisse der Studien einzelner Labore werden kontrastiv gegenübergestellt und geben bspw. Auskunft über unterschiedliche »Wissenskulturen« in den Naturwissenschaften (vgl. Knorr Cetina 2002). Die Laborstudien vertreten konzeptuell einen »empirischen Konstruktivismus« (Knorr Cetina 1989; vgl. auch Knoblauch/Sehnettier 2007), dessen Grundaussage lautet, dass Fakten und Objekte, die gegeben oder natürlich erscheinen, durch Akteure handelnd erzeugt und gestaltet wurden. Wissenschaftliche Tatsachen werden in den Laboren nicht einfach entdeckt, sondern hergestellt. Das Labor präsentiert sich den Naturwissenschaftlern dabei als ein Raum möglicher Alternativen, der die Konstruktion von Fakten situativ beeinflusst. Konstruktionsprozesse sind Aushandlungen zwischen verschiedenen Parteien, in die auch

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nicht-technische Überlegungen und Entscheidungen der Akteure einfließen, und die durch rhetorische Praxis gestützt werden und lokal verankert sind (vgl. Knorr Cetina 1995b: 113ff.; vgl. auch »Gesprächsapparaturen« in Knorr Cetina 1988). Multi-sited ethnography: soziologische Analyse von fuzzy fields Seit einiger Zeit stellen sich sowohl in der Soziologie als auch in den STS Fragen danach, wie translokale gesellschaftliche Strukturen und weit verzweigte Interaktionszusammenhänge aus ethnographischer Perspektive zu untersuchen sind. Unter anthropologischer Perspektive adaptiert der Ansatz der »multi-sited ethnography« (vgl. Marcus 1995; ebenso Falzon 2009) hierzu die Methode der Ethnographie und überträgt sie auf komplexe Untersuchungsgegenstände, wie das kapitalistische Weltsystem: »multi-sited ethnography arises in response to empirical changes in the world and therefore to transformed locations of cultural production« (Marcus 1995: 97). Im ethnographischen Vorgehen, so Marcus, gilt es, die Menschen, Objekte, Metaphern, Biografien oder Konflikte zu begleiten und an ihren jeweiligen Orten zu beobachten. Ethnographen sind unter diesen Umständen »circumstantial activists« (vgl. a.a.O.: 113f.), die sich den Orten im Feld anpassen, die Tiefe des analytischen Fokus in Abhängigkeit von den lokalen Bedingungen und Möglichkeiten des Feldzugangs wählen und so einen eigenen Relevanzkontext in Bezug auf die Forschungsfrage herstellen. Erst auf diese Weise lassen sich bspw. Verbindungen und Spannungen aufdecken, die den zunächst >offensichtlichen< Abgrenzungen widersprechen. Betrachten wir das Argument in einer (wissenschafts-)soziologischen Perspektive, so liegt eine Erweiterung des Laborstudienansatzes heute aus verschiedenen Gründen nahe. Erstens erfordert die Analyse der Distribution und Stabilisierung wissenschaftlicher Ergebnisse, d.h. die Herstellung eines globalen Konsens, die Berücksichtigung mehrerer Labore und wissenschaftlicher Institutionen (vgl. Knorr Cetina 1995a). Zweitens wurden der z.B. polit-ökonomische Kontext der Labore sowie die Wechselwirkungen zwischen wissenschaftlicher Forschung und außer-akademischen Institutionen in den Analysen der Wissensproduktion bisher nicht hinreichend berücksichtigt (ebd.). Wissenschaft, so spitzt Hine (2007) die Argumentation zu, wird nicht nur im Labor betrieben, sondern an vielen unterschiedlichen und miteinander in Verbindung stehenden Orten. 15 Die Wissenschaftsforschung müsse sich dieser Tatsache durch eine Neujustierung ihrer Blickrichtung stellen. Als Erweiterung der traditionellen Laborstudien bietet 15 In ähnlicher Stoßrichtung entwirft Livingstone (2003) sehr anschaulich eine »geography of scientific knowledge«, in die Orten wie etwa Labore, Ausstellungen, Zoos, usw. einbezogen werden.

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sich laut Hine das von Marcus entwickelte Konzept der multi-sited ethnography

an.l6 »Placing too much emphasis on the laboratory as a field site for ethnography will increasingly be an obstacle to developing approaches that engage with the experience of doing science: because science is about practices carried out between varyingly identified groups and institutions and individuals; because it increasingly takes place not just in physically bounded laboratories but also in computer-mediated locations; because different media combine into complex communication ecologies; because material and virtual cultures are imbricated and inextricable.« (Hine 2007: 669) In ihrer Studie zur Biologischen Systematik (Biological Systematics) 17 untersucht Hine (2008) insbesondere die Nutzung des Internets sowie neuer Informations- und Kommunikationstechnologien und zeichnet die Emergenz einer virtuellen Kultur nach, die jenseits ortsgebundener Labore und wissenschaftlicher Organisationen existiert. Die jeweiligen Lokalitäten, die die Autorin online und offline besucht, konstituieren sich wechselseitig und bilden miteinander verbundene »landscapes«, die sich erst im Verlauf der Untersuchung herauskristallisieren. 18 Diesen wichtigen Aspekt der multi-sited ethnography heben auch Nadai und Maeder (2005) in ihrer Untersuchung zum Bereich der Sozialhilfe hervor. Sie konstatieren Marcus folgend, dass die soziologische Ethnographie Felder zum Gegenstand hat, die sich nicht auf einen Ort beschränken und deren Konturen sich erst im Forschungsprozess abzeichnen. »A field for sociological ethnography is most likely not restricted to one observational site. Its contours emerge only during the research process as the ethnographer traces informants across multiple sites that turn out to become relevant in the light of the research question.« (Nadai/Maeder 2005: 10)

16 Hess (2001) bestimmt zwei Generationen von Ethnographien in der STS: Laborstudi-

en gehören zur ersten, die multi-sited ethnography zur zweiten Generation. 17 Das Spezialgebiet Biological Systematics beschäftigt sich mit der Erkundung und

Systematisierung biologischen Lebens auf der Erde. 18 Auch Greschke (2009) hat bei ihrer Untersuchung von paraguayanischen Migranten

anschaulich gezeigt, wie mittels multi-sited ethnography sowohl der globale virtuelle als auch der lokale reale Raum analysiert und aufeinander bezogen werden können. Seide »Lokalitäten« zusammen erzeugen eine nationale Gemeinschaft, die sich durch Loyalität und Solidarität auszeichnet.

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Die Autoren gehen insbesondere davon aus, dass der Soziologe bzw. Ethnograph bei seiner Untersuchung zahlreiche soziale Welten (im Strauss'schen Sinne vgl. 2.1.3) quert, die bedeutungsvoll erscheinen. Es geht bei diesem Vorgehen darum, einen relevanten Interaktionszusammenhang von Akteuren zu identifizieren im Sinne einer sozialen Welt mit einem zentralen Anliegen, statt von der vorgängigen Bedeutung einer räumlichen Fixierung auszugehen (vgl. Nadai/Maeder 2005: 10). Der Untersuchungsgegenstand ist insofern ein Feld ohne klare Grenzen, ein »fuzzy field« (ebd.), welches sich über verschiedene Orte erstreckt. Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Studie ist das Wissenschaftsfeld der Nanowissenschaften. Ich frage danach, wie Akteure strukturelle Zusammenhänge durch Interaktionen erzeugen, wie sie translokal miteinander in Verbindung stehen und ihr Handeln koordinieren. Der Fokus der Analyse liegt folglich auf der Mesoebene. Dies erfordert insbesondere, dass in Erweiterung des Laborstudienansatzes und in Anlehnung an die multi-sited Ethnographie Daten an mehreren Orten des fuzzy field Nanowissenschaften Daten erhoben werden und auf diese Weise der Schwerpunkt darauf gelegt wird, die Konstruktion des Wissenschaftsfeldes nachzuzeichnen. In gewisser Weise ist das Konzept der multi-sited Ethnographie in der Handeinstheorie von Anselm Strauss bereits angelegt, die davon ausgeht, dass das zu untersuchende Phänomen in mehreren Arenen von verschiedenen Akteuren konstruiert und dessen Fortgang (als Trajektorie) ausgehandelt werden kann (vgl. 2.1.5). Durch die Beobachtung des Handlungsgeschehens in mehreren Arenen des »Multi-Ebenen und Multi-Akteur-Geschehens« (Bender 2007) und Gespräche mit den assoziierten Akteuren wird es möglich, das Feld induktiv, d.h. aus sich heraus zu erschließen und zu begrenzen. Die Untersuchung der zahlreichen Lokalitäten, der Praktiken, Technologien und Wissensordnungen sowie deren wechselseitige Assoziation und Vemetzung ermöglicht es, »inside stories« (Lynch 1994) über die berufliche Sonderwelt der Nanowissenschaften zu entwickeln und Konstitutionsprozesse zu identifizieren, die lokal und translokal die strukturellen Gegebenheiten des Wissenschaftsfeldes prägen und die Strukturierung auf der Mesoebene sichtbar werden lassen.

3.2.3 Fokussierung der Mesoebene, Kalibrierung des methodischen Instrumentariums Um das Potenzial qualitativer Methoden ausschöpfen zu können, müssen sie passgenau auf das zu untersuchende Phänomen abgestimmt werden - Hirsehauer (2008) spricht von Gegenstandsadäquatheit. Sie sind als disziplinäres Know-how zu verstehen, »das dazu geeignet ist, nachhaltige wissenschaftliche Überraschun-

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gen zu erzeugen, also >normale< Erwartungen an die Eigenschaften soziologischer Gegenstände zu enttäuschen« (Amann/Hirschauer 2000: 164, Hervorhebung weggelassen). Entsprechend der Ausrichtung der vorliegenden Untersuchung als multi-sited-Beobachtungsstudie hatten zum einen Experteninterviews im methodischen Instrumentarium einen hohen Stellenwert; zum anderen hatten verteilte kurzzeitige Beobachtungen Vorrang vor langfristigen Feldaufenthalten an einem einzelnen Ort. Dieses Vorgehen bot vielfältige Gelegenheiten direkter sinnhafter und körperlicher Erfahrungen und vermittelte einen facettenreichen Einblick in die Interaktions-, Koordinations- und Organisationszusammenhänge des Feldes. So konnten zentrale Arenen des Wissenschaftsfeldes bestimmt, die dortige Forschungsarbeit nachgezeichnet und das Verhältnis von Interaktionen und Struktur auf der Mesoebene - sowohl lokal als auch arenenübergreifend charakterisiert werden. 19

Experteninterviews Das Experteninterview ist eine qualitative Befragungsmethode, mit der das besondere Wissen erschlossen werden soll, das Menschen über soziale Sachverhalte besitzen (vgl. Gläser/Laudel2006: 10). 20 Die Relevanz des Experteninterviews für die Sozialforschung ergibt sich aus der Tatsache, dass »Menschen auf unterschiedliche Weise an unterschiedlichen sozialen Wissensvorräten partizipieren und dass es [... ] besondere, für bestimmte Rollen >exklusive< Wissensbestände gibt« (Pfadenhauer 2005: 116). Diese exklusiven Wissensbestände gilt es bei den Akteuren der Nanowissenschaften zu erheben. Als Experten zählen bei die19 Im Sinne der Gegenstandsadäquatheit, die Hirsehauer (2008) für das einzusetzende methodische Instrumentarium fordert, ist zu überlegen, inwiefern für die Analyse eines großen und komplexen Wissenschaftsfeldes situations- und interaktionsspezifisehe (qualitative und ethnographische) Methoden zusätzlich mit strukturaufklärenden (quantitativen) Verfahren gewinnbringend verknüpft werden könnten. Netzwerkanalysen oder Auswertungen von Datenbanken mögen zu Beginn eines Forschungsprojektes der Exploration des Feldes dienen oder während der Forschungsarbeit ergänzende Informationen über meso- und makroskopische Zusammenhänge liefern. In der (formalen) Netzwerkanalyse sind mit der »qualitativen Netzwerkanalyse« (vgl. Hollstein/Straus 2006) bereits solche Bemühungen zu verzeichnen (vgl. ähnlich Cambrosio u.a. 2004 zur Kombination von qualitativen Interviews und computergestützter »heterogener Netzwerkanalyse«). Weiterhin könnte die narrative Entwicklung egozentrierter Netzwerkkarten Aufschluss über Kontakt- und Kooperationsnetzwerke unter Forschern sowie über die organisatorische Beschaffenheit eines Feldes geben. 20 Zu Experteninterviews vgl. auch Hopf 1978, 2005; Meuser/Nagel 1991, 2008; Thomas 1993; Bogner u.a. 2005; Littig 2008.

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sem Verfahren Funktionseliten (Vorstände, Professoren, etc.), darüber hinaus aber auch all jene Akteure, die in einem bestimmten sozialen Kontext agieren und über spezifisches Kontextwissen verfügen. Jeder, der unmittelbar beteiligt ist, »hat aufgrund seiner individuellen Position und seiner persönlichen Beobachtungen eine besondere Perspektive auf den jeweiligen Sachverhalt« (Gläser/Laudel2006: 9). Der Expertenbegriff ist ein relationaler Begriff (vgl. Bogner/Menz 2005). Akteure sind niemals Experten per se, sondern in Bezug auf spezifische soziale Welten. Die Auswahl des Experten korreliert daher mit der Fragestellung und dem zu untersuchenden Feld. 21 Beim Experteninterview ist der soziale Zusammenhang, aus dem eine Person stammt sowie deren Wissen über diesen Zusammenhang Gegenstand der Analyse und nicht die befragte Person selbst, wie es z.B. bei biographischen und narrativen Interviews der Fall ist (vgl. dazu Schütze 1983; Fischer-Rosenthai/Rosenthai 1997). »Die Experten sind ein Medium« (Gläser/Laudel 2006: 9), durch das Informationen gewonnen und Sachverhalte und Prozesse rekonstruiert werden. Abhängig von der erkenntnisleitenden Funktion der Befragung unterscheiden Bogner und Menz (2005) explorative, systematisierende und theoriegenerierende Experteninterviews. Mit der ersten Form ist die »thematische Sondierung« (Bogner/Menz 2005: 37) des Untersuchungsfeldes beabsichtigt, um u.a. das Problembewusstseindes Forschers zu schärfen und Hypothesen zu generieren. Das systematisierende Experteninterview legt im Gegensatz dazu den Fokus auf eine möglichst lückenlose Wissensgewinnung zu einem bestimmten Themenausschnitt und gleicht einer »reinen Wissensabfrage« (a.a.O.: 38). Das theoriegenerierende Experteninterview - die von Bogner und Menz bevorzugte Variante intendiert die »kommunikative Erschließung und analytische Rekonstruktion« (ebd.) geteilter Handlungsorientierungen und Entscheidungsmuster, durch die soziale Zusammenhänge konstituiert und reproduziert werden. Ziel der von mir durchgeführten Experteninterviews ist es, Wissen über die Forschungsarbeit der Akteure, die Organisation von Forschungseinrichtungen sowie die Entwicklungsprozesse des Wissenschaftsfeldes zu generieren. Im Sinne theoriegenerierender Experteninterviews habe ich nichtstandardisierte, leitfadengestützte Befragungen mit Akteuren verschiedener Forschungseinrichtungen und unterschiedlicher Karrierestufen durchgeführt, um vielfältige Perspektiven aufnanowissenschaftliche Forschung zu differenzieren. 22 21 Vgl. dazu auch die Unterscheidung des voluntaristischen, konstruktivistischen und wissenssoziologischen Expertenbegriffs in Bogner/Menz 2005 und die Differenz zwischen Experten und Spezialisten in Pfadenhauer 2005a. 22 Vgl. Anhang A für eine Liste der geführten Interviews.

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Zu den Interviewten zählen Doktoranden und Postdocs technischer Hochschulen und Universitäten, Geschäftsführer kleiner Unternehmen sowie Leiter nanowissenschaftlicher Institute und Netzwerke. Zur Rekonstruktion der Trajektorie des Wissenschaftsfeldes wurden narrative und biographische Fragen in die Interviewleitfaden aufgenommen, um Erzählungen zur Entwicklungsgeschichte des Feldes zu generieren. Die Leitfaden wurden im Zuge der Interviews als flexibel handhabbare Erhebungsgrundlage genutzt, um variabel auf den Interviewverlauf reagieren zu können, und nicht als schrittweise abzuarbeitende Fragenkataloge behandelt. So wird eine möglichst authentische Gesprächssituation hergestellt, was für qualitative Interviews von zentraler Bedeutung ist, und zugleich Raum für unerwartete Auskünfte offen gelassen. Alle Interviews wurden aufgezeichnet, transkribiert und in dieser verschriftlichten Form in den Forschungsprozess integriert. Teilnehmende Beobachtung Anders als in Interviews steht bei dem Verfahren der teilnehmenden Beobachtung nicht ein >Produkt< in Form von Wissensbeständen im Vordergrund, sondern ein >Prozesspenetrate the spaces< and the stream of practices« (Knorr Cetina 1995a: 151). Mit dem Verfahren der teilnehmenden Beobachtung ist die kopräsente Beobachtung von »real-time mechanisms at work« (a.a.O.: 148) beabsichtigt. Kopräsenz bezieht sich analytisch auf die örtlichen und zeitlichen Aspekte der Beobachtung. Der Zeitaspekt verweist auf die Begleitung der Sinnbildungsprozesse der Akteure. Der Ortsaspekt macht auf die lokalen Kontextbedingungen (vorhandene Technologie, Raumaufteilung, Anwesenheit anderer Akteure usw.) aufmerksam, die sich auf die Interaktionen der Akteure auswirken. Der Kontext wird im Zusammenwirken mehrerer Akteure gemeinsam produziert und bildet 23 Zur teilnehmenden Beobachtung allgemein vgl. Friebertshäuser 1997 und Lüders 2005. Zum praktischen Vorgehen vgl. etwa Spradley 1980, zum Schreibprozess Reichertz 1992 und Hirsehauer 2001 sowie zur »dichten Beschreibung« das entsprechende Kapitel in Geertz 1983. Zur Problematik des Feldzugangs und des »going native« vgl. Gold 1958, Schatzmann/Strauss 1973, Lindner 1981 und Amann/Hirschauer 1997.

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den Rahmen, auf den sich die individuellen und subjektiven Sinndeutungen beziehen (vgl. Scholz 2005). Es macht einen Unterschied, ob ich Wissenschaftler in einem Labor oder auf einer Tagung beobachte. In einem Labor werden für den Ethnographen instrumentelle Forschungstätigkeiten im Vordergrund stehen und formalisierte Arbeitsschritte vollzogen. Eine Tagung hingegen bietet Gelegenheit, vom formalen Forschungsalltag abzuweichen und informell arbeitsnahe Themen zu besprechen. In diesem Sinn verweist Amann (1997) auf fünf Repräsentationsverfahren, in denen sich das in Laboren generierte wissenschaftliche Wissen niederschlägt (vgl. Amann 1997: 304f.): Wissenschaftliche Publikationen, situiertes Lesen selbsterzeugter Dokumente, Repräsentationsarbeit gegenüber Besuchern des Labors, öffentliche Performance auf Konferenzen und weltliche Darstellungspraktiken für Laien. Diese»Repräsentationsformate erzeugen [ ... ] verschiedene, miteinander in der Chronologie des Geschehens verwobene Öffentlichkeiten« (a.a.O.: 325), und obwohl die soziale Praxis der Akteure betrachtet wird, »nehmen wir Wissensordnungen des Untersuchungsfeldes in den Blick« (a.a.O.: 326) und nicht die Akteure. Der Verweis auf die Kontextabhängigkeit von Interaktionen und die Verschiedenartigkeit von Repräsentationsverfahren verdeutlicht erneut die Vielzahl der für die Konstruktion eines Wissenschaftsfeldes relevanten Orte und die damit verbundene Notwendigkeit einer multi-sited-Beobachtungsstudie. Ziel der teilnehmenden Beobachtung im vorliegenden Projekt ist es, die Forschungsarbeit der Akteure in Form von Aushandlungen, instrumentelle Praxis, Rhetorik etc. (vgl. 2.4) und deren Interaktionen im Kontext spezifischer organisationaler Milieus nachzuzeichnen und mit den in den Interviews gewonnenen Daten zu Handlungen und Entwicklungsprozessen zu ergänzen und kontrastieren. Drei Typen von Milieus erwiesen sich hier als zentral: Hochschullabore und -institute, Technologiezentren und öffentliche Konferenzen. Bei den in der Regel eintägigen Feldaufenthalten wurden zum einen die Interaktionen, der Typ der Interaktionspartner (Ausbildungsstatus, berufliche Position usw.) sowie die materiellen Kontextbedingungen in die Beobachtung einbezogen. Zum anderen interessierten auch die bei Forschungsarbeit, Aushandlungen und (Re-)Präsentationen anwesenden Teilnehmer und deren Praktiken. Dabei verkörpern die Akteure, wie bereits bei der Methode des Experteninterviews, Informationsträger bzw. Medien, durch die der Ethnograph auf die interaktiv hergestellten lokalen Ordnungen und die Konstruktion des Wissenschaftsfeldes schließen kann. Während der teilnehmenden Beobachtungen wurden Feldnotizen angefertigt, die nach den Feldaufenthalten als ausformulierte Beobachtungsprotokolle der Analyse zur Verfügung standen (vgl. Anhang B).

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Kalibrierung der Instrumente zur Analyse der Mesoebene Das konkrete Vorgehen des sozialwissenschaftliehen Forschers und die Abgrenzung des fuzzy field Nanowissenschaften sind von der Beschaffenheit und den Eigenheiten des Feldes abhängig. Insofern ist eine an der Grounded Theory und der multi-sited Ethnographie angelehnte Vorgehensweise »eine opportunistische und feldspezifische Erkenntnisstrategie« (Amann/Hirschauer 1997: 20), bei der sich die Begrenzungen der relevanten Einheiten als »Resultate des Forschungsprozesses« (ebd.) ergeben. Die im kontinuierlichen Zusammenspiel von Erhebung, Analyse und Theoriebildung prozessierten Daten werden hierzu untereinander in Beziehung gesetzt (trianguliert). In Experteninterviews wird inhaltsanalytisch spezifisches Wissen über das Wissenschaftsfeld und seine Komponenten (soziale Welten, Arenen, Trajektorien) gewonnen. Dieses Wissen bezieht sich vorrangig auf Entstehung, Entwicklung und Funktion bestehender Projekte, Netzwerke, Institute und Organisationen, hat globalen Charakter und geht über die einzelnen Interviewsituationen hinaus. Experteninterviews werden demzufolge genutzt, um rekonstruktiv Daten über strukturelle Komponenten (Hochschulen, Forschungszentren, Netzwerke, Unternehmen etc.) und Langzeitdynamikendes Wissenschaftsfeldes zu generieren. Aus diesen Daten lassen sich auch (weitere) relevante Interviewpartner sowie Orte für kurzzeitige Beobachtungen bestimmen. Durch teilnehmende Beobachtung werden die lokalen Praktiken und Wissensordnungen einzelner Arenen sowie die dortigen Interaktionszusammenhänge (instrumentelle Forschungsarbeit, diskursive Aushandlungen usw.) vergegenwärtigt. Diese Rekonstruktionen geben darüber hinaus Aufschluss über Verbindungen zu anderen Arenen sowie deren wechselseitige translokale Konstitution. Ergänzt wird die Triangulation der Daten aus Beobachtungsprotokollen und Interviewtranskripten durch >indigene< Texte des Feldes in Form von Jahresberichten, Selbstdarstellungen u. ä. zur Illustration und Verifizierung der ermittelten Zusammenhänge und Ergebnisse. Schritt für Schritt zeichnen sich die Konturen der Nanowissenschaften ab, ohne dass vorher in- oder exkludierende Festlegungen nötig waren. Die an den unterschiedlichen Orten des Feldes erhobenen Daten bilden einen umfassenden heterogenen Datensatz, der mit der Software »ATLAS.ti« kodiert wurde. Die Komplementarität des Materials aus Expertenwissen einerseits und beobachteter Praxis andererseits ermöglichte eine Verdichtung des empirischen Materials und die Entwicklung von Kategorien bezüglich der Konstruktion des Wissenschaftsfeldes. Die vielfaltigen lokalen Explikationen in den Arenen werden einander vergleichend gegenübergestellt und hinsichtlich ihrer wechselseitigen Abhängigkeit und Komplementarität untersucht. Auf diese Weise können Strukturbildungsprozesse identifiziert und anhand folgender Fragen untersucht

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werden. Wie vermögen Akteure verschiedener sozialer Welten ein gemeinsames nanowissenschaftliches Institut an einer Hochschule einzurichten und zu etablieren? Inwiefern wirken sich Aushandlungen (etwa Technologieentwicklung) in einer Arena auf deren Struktur oder gar auf die Struktur einer anderen Arena aus? Auf welche Weise ermöglichen oder beschränken globale Deutungen, wie bspw. das potentielle Risiko von Nanomaterialien, lokale Interaktionen? Wiederkehrende und stabile Interaktionsmuster sowie unter den Akteuren geteilte Interpretationsschemata, die auf die Entstehung und Etablierung institutioneller Strukturen auf der Mesoebene verweisen, stehen so im Zentrum der Analyse. In einer Untersuchung, die zahlreiche Arenen eines Wissenschaftsfeldes berücksichtigt, stellt sich eine Sättigung der Daten nicht allein in Abhängigkeit von der übergeordneten Fragestellung ein, sondern ist durch die Entwicklung von (Teil-)Theorien in den einzelnen Arenen bedingt (vgl. Grounded Theory in 3 .2.1 ). Die sozialwissenschaftliche Analyse gestaltet sich demgemäß ihrerseits als ein Bricolage-Prozess (vgl. Kapitel 2.2), in dem die verschiedenartigen lokalfragmentarischen Ergebnisse in einen Zusammenhang gesetzt werden und in dem sich sukzessive herauskristallisiert, wie das Wissenschaftsfeld Nanowissenschaften als umfassendes Phänomen beschaffen ist und konstruiert wird.

3.3

SCHWEIZER NANOWISSENSCHAFTEN EINE ORTSBEGEHUNG

Das Wissenschaftsfeld Nanowissenschaften integriert Spezialgebiete, Netzwerke und Organisationen verschiedener Forschungsrichtungen (vgl. 3.1 ). Nanowissenschaftliche Forschungsaktivitäten beschränken sich jedoch nicht auf wissenschaftliche Akteure und Institutionen, sondern manifestieren sich darüber hinaus in Wechselbeziehungen zwischen Wissenschaftlern, Unternehmern und Politikern. Die Konstruktion eines Wissenschaftsfeldes lässt sich überall dort untersuchen, wo Forscher dieses Feldes untereinander oder mit Akteuren anderer Gesellschaftsbereiche interagieren. Die vorliegende Untersuchung ist dieser Vorstellung entsprechend als multi-sited-Beobachtungsstudie konzipiert (vgl. 3.2). Zunächst gilt es, Orte des Wissenschaftsfeldes zu bestimmen, die die verschiedenen Facetten des fuzzy field Nanowissenschaften sichtbar machen. Drei Organisationale Milieus nanowissenschaftlicher Forschung wurden als Beobachtungs- und Analyseeinheiten ausgewählt: Hochschullabore (3.3.1), Technologiezentren (3.3.2) und Konferenzen (3.3.3). Jedes Milieu weist spezifische Charakteristika auf. Hochschullabore sind eng mit ihrem universitären Umfeld verbunden (lnstitutsstruktur, Werkstätten, Lehrangebot, usw.). Technologiezentren tre-

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ten in ihrem organisatorischen Forschungskontext als relativ autonome Strukturen hervor. Konferenzen konstituieren sich für einen begrenzten Zeitraum an außerwissenschaftlichen Orten. Dieses Kapitel vermittelt anhand einer Ortsbegehung einen ersten Eindruck der drei Lokalitäten, die im empirisch-analytischen Teil der Arbeit eingehender betrachtet werden (Kapitel4 bis 6). 24 3.3.1 Hochschullaboredas Beispiel Departement Physik der Universität Basel Die Begegnung mit dem Feld beginnt an der Universität Basel mit dem Besuch zweierzentraler Orte der Entstehung und Entwicklung der Nanowissenschaften in Basel: dem »Swiss Nanoscience Institute« (SNI) des Departements Physik und den zugehörigen Hochschullaboren, in denen Rastersondenmikroskopieforschung betrieben wird (vgl. Kapitel 4). Die Universität Basel, im Jahr 1460 gegründet, ist die älteste Universität der Schweiz. Entsprechend ist sie organisatorisch nach traditionellen Disziplinen untergliedert. 25 Die Philosophisch-Naturwissenschaftliche Fakultät beherbergt u.a. die Departements der Physik, der Chemie und der Biologie, an denen mehrere spezialisierte Institute und Forschergruppen jeweils Labore zur alleinigen Nutzung zur Verfügung haben. Neben den Rastersondenmikroskopielaboren des Swiss Nanoscience Institute besitzt die Hochschule auch nanowissenschaftliche Labore, die sich Spezialgebieten der Biologie und Chemie zuordnen lassen. Im Entstehungsprozess der Nanowissenschaften in Basel tritt jedoch die physikalische Forschung besonders deutlich hervor, weshalb sich die folgenden Ausführungen auf das Departement Physik konzentrieren. Die Anfänge der Physik an der Universität Basel reichen bis in das späte 17. Jahrhundert zurück. Seither ist das Departement mehrmals innerhalb der Stadt umgezogen. Nachdem die Physiker seit 1874 im »Bemoullianum« - benannt nach Daniel Bemoulli, dem ersten Professor für Physik an der Universität Basel - forschten und lehrten, waren die Kapazitäten des Gebäudes Anfang des 19. Jahrhunderts ausgeschöpft. 1926 eröffnete das in der Klingelbergstrasse neu errichtete Gebäude der Physikalischen und Physikalisch-chemischen Anstalt. Dort ist das Departement Physik bis heute angesiedelt. Das Gebäude des Departe24 Der Umfang der drei Abschnitte (Ortsbegehungen) dieses Kapitels richtet sich danach, wie detailliert in den Kapiteln 4, 5 und 6 erneut auf die Arenen des Wissenschaftsfeldes (und zugehörige Akteure, Praxen, Technologien etc.) eingegangen wird. 25 Vgl. zur Geschichte der Universität Basel http://www.unigeschichte.unibas.ch und speziell zum Departement Physik http://www.physik.unibas.ch/dept/pdf/Physik_Geschichte.pdf (letzter Zugriff 26.07.20 II ).

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ments Biologie liegt (seit den 1970er Jahren) nur wenige Gehminuten entfernt in derselben Straße und komplettiert die Trias der traditionellen Naturwissenschaften. Die Labore der Rastersondenmikroskopieforschung und ebenso das Swiss Nanoscience Institute wurden seit den 1990er Jahre schrittweise in den Räumen des Departements Physik eingerichtet. Heute gelten Nanowissenschaften als das zentrale Forschungsgebiet des Departements.

Das »Swiss Nanoscience Institute« (SN!) Das Physikgebäude reiht sich unauffällig in das Straßenbild ein. Kaum etwas deutet darauf hin, dass die weiß verputzte Fassade hinter der dichten Baumreihe zu einem Hochschulgebäude gehört. Erst an der schweren, vergitterten Holztür bestätigt ein Schild, dass sich hier die »Physikalische Anstalt« befindet. Der durch zwei dicke Säulen begrenzte und dadurch eindrucksvoll wirkende Eingangshereich verleiht dem Bau Universitätscharakter. Nach dem Betreten des Physikgebäudes steht der Besucher in einem kleinen Vorraum, dessen Wände rechts und links mit schwarzen Brettern und zahlreichen Zetteln und Bekanntmachungen verkleidet sind. Auf einem seitlichen Absatz und teilweise auf dem Boden liegen Briefe und Päckchen. Es gibt keinen Pförtner, der den Zugang kontrolliert oder den Weg zu den Räumlichkeiten des nanowissenschaftlichen Instituts und zu den Laboren weisen könnte. Vom Vorraum führt eine breite Treppe hinauf zu den oberen Stockwerken. An den weißen Wänden hängen Poster zur Rastersondenmikroskopie, die einen Einblick in die Forschungsaktivitäten des nanowissenschaftlichen Instituts geben und der Außendarstellung gegenüber Besuchern des Departements Physik dienen. Auf den vier Etagen zweigen rechts und links der Treppe lange schmale Gänge ab, in denen sich die Büros der nanowissenschaftlichen Forschungsgruppen der Rastersondenmikroskopie, der molekularen Elektronik, der Quantentheorie etc. sowie die Werkstätten des Departements befinden. Es ist leise in den Fluren, und nur selten kommt es zur Begegnung mit Forschern oder Angestellten. Auch hier in den Bürogängen hängen Poster zu Forschungsprojekten und Ankündigungen nanowissenschaftlicher Konferenzen. Außerdem stehen an den Seiten Drucker und BüromateriaL Mit seinen hellen Räumlichkeiten, den engen Gängen und dem gesprenkelten Steinfußboden bestätigt das Gebäude nicht den am Eingang nahe gelegten Eindruck einer traditionellen (physikalischen) Forschungsanstalt Stattdessen ist das Physikgebäude durch einen modernen Stil geprägt. Die Raumaufteilung am Departement entspricht einer funktionalen Trennung anhand von Arbeitstätigkeiten und Aufgabenbereichen. Wissenschaftler

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verrichten in den Büros- dem ersten Ort- Schreibarbeiten, treffen organisatorische Festlegungen und ftihren strategische Diskussionen. Ein zweiter Ort am Departement, der scheinbar der Präsentation des nanowissenschaftlichen Instituts dient, ist über einen Nebeneingang des Physikgebäudes zugänglich. Dort weist ein großes Schild über den Glastüren auf das Swiss Nanoscience Institute hin. Der holzvertäfelte Raum im Erdgeschoss ist groß und spärlich beleuchtet. An der linken Seite führt eine Treppe zum großen Vorlesungssaal der Physik. Gegenüber dem Eingang hängen Portraits von Physikern, u.a. von Bernoulli. Rechter Hand befindet sich eine Tür zum Treppenhaus und stehen Vitrinen, über denen Poster angebracht sind. An anderen Stellen im Raum sind große Molekülmodelle platziert. Das Ensemble hat musealen Charakter und steht in starkem Kontrast zu den Büroetagen. Dieser mit Artefakten gefüllte Raum mag als >Showroom< bei Führungen durch das Institut oder als Ort für Feierlichkeiten des SNI dienen. In den Vitrinen an der rechten Seite des Raums ist das 1981 von Gerd Binnig und Heinrich Rohrer entwickelte erste Rastertunnelmikroskop (eine Variante des Rastersondenmikroskops) ausgestellt. Auf dem Poster darüber findet sich eine Beschreibung, die darauf hinweist, dass diese »Erfindung« die »ersten Schritte in der Nanowelt« ermöglicht hätte. Darüber hinaus sind in den Schaukästen Modelle aufgebaut, die den zur Mikroskopie nötigen Tunnelstrom und den Vorgang des »Rasterns« veranschaulichen (nähere Erläuterungen zur Funktionsweise von Rastersondenmikroskopen folgen unten). Rastersondenmikroskope sind eine wesentliche Technologie der Nanowissenschaften und am Swiss Nanoscience lnstitute zentraler Forschungsgegenstand. Die entsprechende Forschung findet an einem dritten Ort statt - in den Rastersondenmikroskopielaboren im Keller des Gebäudes. Rastersondenmikroskopielabore Rastersondenmikroskope messen im Nanometerbereich. Allerkleinste Erschütterungen der technischen Anlagen, die Menschen nicht einmal wahrnehmen, verfälschen die Messergebnisse. Aus diesem Grund sind die nanowissenschaftlichen Labore im Keller des Universitätsgebäudes untergebracht, wo die Erschütterungen am niedrigsten sind. Zur zusätzlichen Sicherung sind die Mikroskope auf Federungssystemen montiert. Der Zugang zu den Laboren ist, anders als zum Gebäude, beschränkt. Ein Schild am Kellereingang weist darauf hin, dass nur befugte Personen Zutritt haben. Die Laborräume sind im dunklen, verwinkelten Kellertrakt nicht ganz einfach zu finden. An den Seiten der schmucklosen Gänge stehen Regale und Schränke, an den Wänden hängen Poster von Forschungsarbeiten des SNI und

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entlang der niedrigen Decke verlaufen diverse Röhren und Kabel. Die schweren Eisentüren der Labore sind mit »Nanolab« und »Nanolino« beschriftet. 26 Außen an der Tür stellen Fotos die Gruppenmitglieder vor und geben Auskunft über die verschiedenen Bestandteile des im Labor stehenden Rastersondenmikroskops. Spätestens hier, an der Grenze zum Laborraum findet eine >Zugangskontrolle< durch die anwesenden Forscher statt. Das Übertreten der Grenze ist nicht nur mit einem Wechsel der Räumlichkeiten verbunden, sondern gleichsam ein symbolischer Übergang zu einem Bereich instrumenteller Forschungsarbeit an Mikroskopen. Beim Eintritt in das Nanolab zieht das große, mitten im Raum stehende Rastertunnelmikroskop mit seinem futuristischen Aussehen (silberne Materialien, Ventile und Schläuche sowie kleine Luken, um ins Innere des Mikroskops zu schauen) sofort die Aufmerksamkeit auf sich. 27 Es präsentiert sich als zentrales Forschungsinstrument. 28 In Relation zur Gesamtkonstruktion ist die eigentliche Messvorrichtung winzig und nimmt nur einen Bruchteil des Platzes ein. In den kleinen Laboren stehen neben dem Mikroskop zusätzliche technische Anlagen und Computer zur Steuerung der Mikroskope, Tische mit Werkzeug und Bauund Konstruktionsmaterialien sowie einzelne Schränke und Regale. Auch persönliche Gegenstände der Forscher, wie Handys, Tassen, Kleidung etc. haben ihren Platz. Aufgrund der Maschinengeräusche ist es relativ laut im Labor, die Räume sind eher dunkel und vermitteln den Eindruck eines >geordneten Chaos< mit einer Vielzahl vermeintlich lange ungenutzter Artefakte. 29 Die jeweiligen Labore sind einzelnen Forschungsgruppen zugeordnet. Diese haben eine Größe von typischerweise fünf bis fünfzehn Personen und schließen Forscher aller Qualifikationsstufen (Doktorierende, Postdocs, Professoren) ein. Für die Messungen am Rastersondenmikroskop sind jeweils ein bis zwei Wissenschaftler zuständig. Das Wissen über die Funktionsweise und Handhabung der Instrumente wird innerhalb der spezialisierten Gruppen weitergegeben. Im Laufe der langen Nutzungszeit erhalten die Labore eine persönliche bzw. grup26 Nach Aussage der Nanowissenschaftler bezeichnet »Nanolino« den kleinen Bruder des »Nanolab«. 27 Vgl. http://nanolab.unibas.ch/pics/equipment/nanolab.jpg, letzter Zugriff 17.04.20 II. 28 In anderen Nanolaboren des Departements stehen weitere Varianten des Rastersondenmikroskops, bspw. Rasterkraftmikroskope oder Magnetkraftmikroskope. 29 Die nanowissenschaftlichen Labore der Chemiker und Biologen haben im Gegensatz hierzu fast klinischen Charakter. Dies ist auf das Forschungs- und Erkenntnisinteresse (Instrumentation oder Charakterisierung), die damit zusammenhängenden Proben und deren Herstellung (Metalle, Oxide oder Proteine) sowie die Verfahrensweisen desjeweiligen Spezialgebietes zurückzuführen.

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penspezifische Färbung, worauf bereits die Fotos der Gruppenmitglieder an der Labortür verweisen. Forschergruppen und Labore sind zudem stark mit den dort generierten Mikroskopiebildern assoziiert. Wird eines dieser Bilder in einer Fachzeitschrift publiziert oder gar auf der Titelseite des Journals abgedruckt, ist dies für die Nanowissenschaftler ein besonderes Ereignis. Diese Bilder hängen als >Trophäen< an den Laborwänden und sind symbolische Mittel zur Hervorhebung herausragender Forschungsarbeit in Broschüren und Selbstdarstellungen des Labors oder Instituts. Da es sich, wie gezeigt, bei den Rastersondenmikroskopen um zentrale Instrumente der Nanowissenschaften handelt, sollen diese nun näher vorgestellt werden. Rastersondenmikroskopie als zentrales Forschungsgebiet Rastersondenmikroskope funktionieren anders als Licht- und Elektronenmikroskope. Bei der Licht- und Elektronenmikroskopie wird von einer Probe durch Beleuchten bzw. >Durchleuchten< mit einem Elektronenstrahl und unter Nutzung von Spiegelsystemen, Linsen, Kondensatoren etc. ein vergrößertes Abbild erstellt. Bei der Rastersondenmikroskopie hingegen wird das Bild durch Abtasten (»Scannen« oder »Rastern«) der Probenoberfläche und unter Verwendung von Grafikprogrammen generiert. Der Vorzug der Elektronen- und Rastersondenmikroskopie gegenüber der Lichtmikroskopie besteht in der viel höheren Auflösung. Lichtmikroskope vergrößern bis zu einem Bereich von maximal 0,2 Mikrometern, die Elektronen- und Rastersondenmikroskope hingegen erreichen Auflösungstiefen von 0,1 Nanometer. Nanowissenschaftler heben als besonders wichtigen Unterschied zwischen den Mikroskoptypen hervor, dass nur mit Rastersondenmikroskopen Atome abgebildet werden können (kritisch zu der Frage, ob Atome tatsächlich sichtbar sind bspw. Nesper 2001). Die Rastersondenmikroskopie ermöglicht die Abbildung von Atomen und dadurch die topografische Charakterisierung von Oberflächen im Nanometermaßstab 30 sowie der Erforschung von Einzelatomen. 31 Die Mikroskope können selbst auch Forschungsge-

30 Zur Bestimmung von Eigenschaften in den Nanowissenschaften zählt auch die Strukturaufklärung mittels Röntgenstrahlanlagen (vgl. ausführlich 5.3.1). Dabei wird die chemische Zusammensetzung - auch im Inneren - der Proben bestimmt. Ähnlich der Elektronenmikroskopie wird die zu untersuchende Probe bestrahlt und, in Abhängigkeit vom jeweiligen Verfahren (bspw. X-ray absorption spectroscopy oder scanning transmission X-ray microscopy) die Veränderungen der Intensität der Strahlung mittels Detektoren gemessen und am Computer ausgewertet. 31 Neben dieser primären Nutzungsfonn ist es mit Rastersondenmikroskopen zudem möglich, die Lage einzelner Atome auf der Oberfläche zu modifizieren.

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genstand sein: Sie werden konstruiert, modifiziert und weiterentwickelt. 32 Die reine Analysearbeit tritt dabei in den Hintergrund und dient hauptsächlich als Grundlage und Testfall der Instrumentation. 33 Rastersondenmikroskope existieren in verschiedenen Varianten. Das erste Mikroskop in der Familie der Rastersondenmikroskope ist das Rastertunnelmikroskop (RTM), das Gerd Binnig und Heinrich Rohrer im Jahr 1981 im IBM Forschungslabor in der Schweiz entwickelt haben (vgl. zur Funktionsweise eines RTM bspw. Binnig/Rohrer 1985, 1993). Ein Rastertunnelmikroskop besteht im Wesentlichen aus einer am unteren Ende extrem feinen (Mess-)Spitze. Die Nanowissenschaftler fertigen diese bis auf einzelne Atome genauen Spitzen selbst an oder kaufen sie bei Geräteherstellem. An der oberen, stärkeren Seite wird die Spitze an einer Piezoeinheit angebracht, die wiederum - verbunden mit einer Steuerelektronik - an einen Computer angeschlossen wird. Der Motor der Piezoeinheit ermöglicht sehr kleine, schrittweise Bewegungen, mittels derer die Spitze an die zu untersuchende Probe herangeführt wird. Die vorbereitete Probe ist auf einer separaten Halterung befestigt und mit der Messspitze über einen Stromkreis verbunden. Abbildung 1: Schemen eines RTM (A) und eines RKM (B) B

F=f(d)~

••••• 55' .55' .c& ....

Quelle: Hegner/Güntherodt 200 I

Wird die Messspitze sehr nah an eine leitende Oberfläche der Probe herangeführt, ohne diese jedoch zu berühren, fließt ein sogenannter Tunnelstrom. In Abbildung 1A sind schematisch die Spitze als Dreieck und die atomare Oberfläche als kleine darunter liegende Kugeln dargestellt; dazwischen fließt der Tunnelstrom »l«. Die genaue Annäherung der Spitze hin zur Probenoberfläche ist äußerst wichtig und erfordert absolutes Feingefühl. Die Spitze darf weder zu nah noch zu weit entfernt sein. Das würde im ersten Fall zu einem Abbrechen der Spitze und im zweiten Fall zu einem Ausfall des Stromflusses führen. Zwar ver32 Kommerzielle Rastersondenmikroskope sind seit etwa zehn Jahren erhältlich. 33 In vielen Fällen sind auch die Computerprogramme, mit denen die erfassten Daten ausgewertet und Bilder erzeugt werden, von Physikern oder anderen Wissenschaftlern eigenhändig geschrieben und implementiert worden.

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einfachen Piezomotoren das Verfahren, jedoch ist viel Erfahrung seitens der Forscher für eine optimale Handhabung unverzichtbar. Wird die Spitze mittels Steuerelektronik in gleicher Höhe über die entsprechende Probe bewegt, verändert sich der Tunnelstrom in Abhängigkeit von der Entfernung zwischen Messspitze und Probenoberfläche. Diese Veränderungen werden gemessen und mittels eines Computers in ein digitales Gesamtbild umgesetzt. Die Auflösung des Bildes hängt dabei vor allem von der Qualität der Messspitze ab. 34 Eine zweite Variante des Rastersondenmikroskops ist das Rasterkraftmikroskop (vgl. zu Aufbau und Funktionsweise bspw. Binnig u.a. 1986). Wie das Rastertunnelmikroskop besitzt auch das Rasterkraftmikroskop (RKM) Piezomotoren und andere Steuerelemente sowie eine sehr feine, atomar zulaufende Spitze, die bei diesem Gerät an einer Blattfeder - dem sogenannten Cantilever - befestigt ist. Analog der Funktionsweise des Rastertunnelmikroskops wird die Spitze über die Oberfläche der zu untersuchenden Probe geführt. Die Messung erfolgt jedoch nicht anhand eines fließenden Stroms, sondern über die Aufzeichnung der Verbiegung des Cantilevers in Abhängigkeit von den an der Oberfläche wirkenden Kräften. Abbildung lB veranschaulicht, wie mit der an der Blattfeder befestigten Spitze die Kraft »F« an der Probenoberfläche gemessen wird. Die Schwingungen des Cantilevers werden mittels eines vom Cantilever reflektierten Laserstrahls gemessen und in ein digitales Bild übersetzt. Rasterkraftmikroskope haben gegenüber Rastertunnelmikroskopen den Vorteil, dass mit ihnen auch nicht-leitende Proben untersucht werden können. Die vorstehende Beschreibung der Funktionsweise von Rastersondenmikroskopen ist selbstverständlich stark vereinfacht. Erstens sind die Forschungspraktiken weit differenzierter und der Anwendungsbereich der Instrumente vielfältiger. Zweitens müssen nach Aussage der Nanowissenschaftler bei dieser Art der Mikroskopie viele freie Parameter bezüglich des Messvorgangs berücksichtigt werden, wodurch die Einstellungen der regulierenden Anlagen äußerst kompliziert werden. Und drittens gehen mit der Bildinterpretation Schwierigkeiten und Uneindeutigkeiten einher, so dass ein ausgeprägtes Vorwissen über Material, wirkende Kräfte und andere Kontextfaktoren unentbehrlich ist. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Rastersondenmikroskopie eine der zentralen Technologien der Nanowissenschaften ist. Sie ist primäres Forschungsgebiet in den Hochschullaboren naturwissenschaftlicher Spezialgebiete der Physik sowie der Biologie und Chemie. An der Universität Basel gibt es eine Vielzahl dieser nanowissenschaftlichen Labore, in denen kleine Gruppen 34 Alternativ zum Bewegen der Spitze über die Probe in gleicher Höhe ist es möglich, den Tunnelstrom konstant zu halten und die Bewegung der Spitze aufzuzeichnen und in ein Bild umzuwandeln.

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räumlich getrennt, mit eigenen Apparaturen sowie bezüglich eigener Forschungsthemen arbeiten. Im Unterschied dazu sind in der nanowissenschaftlichen Forschung an Technischen Hochschulen und staatlichen Forschungszentren andere Maschinen und Instrumente von zentraler Bedeutung, wie im folgenden Abschnitt zum organisationalen Milieu der Technologiezentren zu sehen sein wird. 3.3.2 Technologiezentren das Beispiel Reinraumanlage der EPF Lausanne

Nanowissenschaftler nutzen neben Rastersondenmikroskopen noch weitere Instrumente für die Forschungsarbeit Manche dieser Technologien sind komplex, teuer und werden in Kombination untereinander eingesetzt. Deren Anschaffung ist für einzelne Forschungsgruppen aufgrund des Platzbedarfs der technischen Anlagen und der hohen Kosten kaum möglich. In diesen Fällen haben staatliche Forschungszentren und Hochschulen die Initiative ergriffen, Technologien zu zentralisieren und Wissenschaftlern verschiedener Spezialgebiete über entsprechende Regelungen zugänglich zu machen. 35 Solche großräumigen Technologiezentren (vgl. Kapitel 5 »Technologische Plattformen«) reichen von Rastersondenmikroskopiezentren über Reinraumanlagen bis hin zu Synchrotronstrahlungsquellen, die zum Betrieb von Röntgenmikroskopen erforderlich sind (vgl. Fußnote 30, S. 110). Einen Einblick in das Organisationale Milieu von Technologiezentren vermittelt exemplarisch die Reinraumanlage »Center for MicroNanoTechnology« (CMI) der im Jahr 1853 als Privatschule gegründeten Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (franz.: Ecole Polytechnique Federale de Lausanne (EPFL)). 36 Nachdem die EPFL zunächst lange Zeit als technische Fakultät der Universität Lausanne geführt wurde, erfolgte im Jahr 1968 die Trennung der beiden Hochschulen und zwischen 1978 und 2001- auch aufgrundder zunehmenden Größe- der Umzug der EPFL auf einen neuen Campus in Ecublens-Dorigny etwas außerhalb der Stadt. Entsprechend der technikwissenschaftlichen Ausrichtung der Hochschule sind Lehre und Forschung nicht nur nach traditionellen Disziplinen, sondern bspw. auch über die Departements »Engineering«, »Manage35 Einige der notwendigen technologischen Instrumente und Anlagen werden von kleinen Forschungsgruppen und Instituten der Hochschulen auch selbst gekauft und exklusiv genutzt. Dabei handelt es sich i.d.R. jedoch nur um ein oder zwei Geräte für eine Nutzungsweise, die im Technologiezentrum nicht möglich oder nicht erlaubt ist. 36 Vgl. http://information.epfl.ch (letzter Zugriff 07.10.2011) znr Geschichte und Entwicklung der EFPL.

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ment of Technology« oder »Life Sciences« organisiert. Das Center for MicroNanoTechnology wurde 1999 am Departement Engineering eingerichtet. Das »Center for MicroNanoTechnology« (CMI) Das Gebäude der Mikrotechnologie, in dem sich das Center for MicroNanoTechnology (CMI) befindet, erstreckt sich als langes, weißes Bauwerk mit großen Fenstern an einem breiten Weg des weitläufigen EPFL-Campus. An der Vorderseite des rechteckigen Gebäudes verläuft im Erdgeschoss ein äußerer Korridor. Die Gebäudewand ist dort durchgehend verglast und gibt den Blick auf den innen liegenden Flur und Büros. Bauart und Ausstattung des Gebäudes symbolisieren Modernität und Transparenz der dort stattfindenden Forschung. Etwa in der Mitte des Gebäudes gelangt der Besucher durch eine Metalltür in einen kleinen Vorraum. Rechts und links führen lange Flure zu den Büros des wissenschaftlich-technischen Teams des CMI, dem die Leitung des Zentrums obliegt. Auf einem kleinen Monitor wird ein Film über die Forschungsarbeit im Reinraum des CMI abgespielt: das Prozessieren von so genannten Wafern (kreisrunden Scheiben aus bspw. Silizium), um mikro- und nanoskalige Objekte (etwa Computerchips) herzustellen. Dabei werden auf ein sog. Substrat nacheinander gezielt Schichten aufgetragen und bearbeitet. Das Ergebnis der Prozesskette ist ein nach vorgegebenen Mustern mehrfach beschichteter Wafer. In den oberen Stockwerken des Gebäudes befinden sich kleine Labore und Büros einzelner Forschungsgruppen (bspw. »Mikrosysteme« oder »Nanophotonik und Metrologie«). Die Reinraumanlage mit einer Größe von etwa 900qm 2 befindet sich - wie die Labore der Basler Rastersondenmikroskopieforschung im Keller des Hochschulgebäudes, was auch in diesem Fall die Minimierung von Erschütterungen zum Ziel hat. Der leere Flur des ersten Untergeschosses ist wenig beleuchtet. Der gesamte Kellertrakt wirkt kalt und steril. Linker Hand führen drei Türen zum Reinraum, die nur mit einer Sicherheitskarte geöffnet werden können. Der hintere Durchgang ist laut Beschriftung für das Personal reserviert. Die mittlere Tür erlaubt den Nutzern den Zugang zum CMI. Sie markiert die Grenze zwischen Hochschulgebäude und Reinraum und symbolisiert damit den Übergang zum Bereich instrumenteller Forschungsarbeit, der durch den Wechsel von weißem zu gelbem Licht betont wird. Die Reinraumanlage Anders als bei den Universitätslaboren gelten für den Reinraum sehr strikte Zugangsbedingungen. Die Nutzer müssen Kurse über Verhaltens- und Sicherheitsmaßnahmen absolvieren, da in der Einrichtung giftige Chemikalien und andere gesundheitsgefährdende Stoffe verwendet werden. Durch das Fenster der Ein-

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gangstür lässt sich hinter einer Schiebetür eine >Schleuse< erkennen. Reinräume zeichnen sich durch ihre partikelfreie, d.h. extrem saubere Luft aus. Nur unter diesen Umständen können das Beschichten, Ätzen und andere Arbeitsschritte an den Wafern fachgerecht vollzogen werden, ohne die kleinskaligen Objekte zu zerstören. 37 Je höher die Anzahl der Partikel in der Luft, desto eher treten Defekte auf. So können bspw. verschmutzte Arbeitsmaterialien Abbildungsfehler am prozessierten Wafer hervorrufen oder Partikel auf den Lackschichten zu unterschiedlichen Schichtdicken führen. Die Reduktion der Partikel in der Luft wird durch spezielle Technologien (Pumpen, Filter, usw.) und spezifische Vorkehrungen erreicht. Vor dem Betreten des Reinraums verstauen die Wissenschaftler ihre Taschen, Jacken etc. in Schließfächern und ziehen in der Schleuse Schutzanzug und -schuhe über. Es ist zudem verboten, Gegenstände von außerhalb mit in die Einrichtung zu bringen. Der Reinraum ist in verschiedene kleinere Räume unterteilt, in denen mehrere Forscher zeitgleich Arbeitsschritte an den einzelnen Maschinen ausführen. Aufgrund der Maschinengeräusche ist es ziemlich laut. Das CMI ist instrumenteil umfangreich ausgestattet, da für jeden Prozessschritt eine andere Maschine erforderlich ist. Das Personal des Reinraums weist die Nutzer in den Umgang mit den Maschinen und Instrumenten sowie deren Reinigung ein. Abgesehen von den Gebrauchsmaterialien (Chemikalien, Becher, Lappen etc.) stehen an manchen Maschinen Handschuhe sowie zusätzliche Schutzbrillen und Kittel zur Verfügung. Vereinzelt und nur an wenigen Stellen liegt auch Werkzeug. Es gibt außerdem Plätze mit Mikroskopen und Tische mit Computern. Im Flur des Reinraums liegen Notizblöcke, Forschungstagebücher und kleine Kisten für die Wafer, beschriftet mit dem Namen eines Wissenschaftlers oder der Bezeichnung eines Projektvorhabens. Diese kleinen Kisten sind die Aufbewahrungsboxen der Forscher und die einzigen Anzeichen individueller Forschungstätigkeit in der Reinraumanlage. Die Nutzer des CMI sind Wissenschaftler verschiedener Spezialgebiete und Institutionen, vor allem Doktorierende und Postdocs ingenieurwissenschaftlicher Forschungsgebiete, wie Maschinenbau und Verfahrenstechnik, Mikroelektronik oder Materialwissenschaften. Typischerweise arbeiten die Nachwuchswissenschaftler mehrere Wochen lang täglich im Reinraum. Anschließend analysieren sie in ihren Herkunftslaboren die gefertigten Wafer und planen neue Prozessschritte. Aufgrund der geteilten Arbeitsumgebung und der Kopräsenz von Forschern und Mitarbeitern des CMI bietet der Reinraum Möglichkeiten der Kon37 Reinräume sind nur eine Form von technologischen Forschungszentren. In anderen Einrichtungen ist eine partikelfreie Umgebung nicht notwendig oder wird auf andere Art und Weise realisiert.

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taktaufnahmeund Interaktionsoptionen. So nutzen die Wissenschaftler Wartezeiten an den Maschinen zur fachlichen Diskussionen über Prozessschritte oder die Funktionsweise der technologischen Anlagen. Im Folgenden wird näher erläutert, welche Technologien den Nutzern in einem Reinraum (und in anderen Technologiezentren) zur Verfügung stehen. Instrumentenvielfalt in Technologiezentren Technologien zur Herstellung von Nanostrukturen werden entweder dem »top down«- oder dem »bottom up«-V erfahren zugeordnet. 38 Bei top down-Verfahren wird die gewünschte Nanostruktur ausgehend von einer vorhandenen größeren Struktur gefertigt (Miniaturisierung). Dazu werden Atome aus bestehenden Atom- und Molekülverbänden entfernt. Bei den bottom up-Verfahren hingegen werden die Strukturen nicht durch die Manipulation von Atomen und Strukturen verformend bearbeitet, sondern die Forscher nutzen die Selbstorganisationsfähigkeit der Atome und Moleküle (Aufbau). Diese ordnen sich, gemäß ihren chemischen und physikalischen Eigenschaften, eigenständig an und bilden Nanostrukturen aus. Eine nahe liegende und verbreitete Variante der top down- Verfahren besteht in der Herstellung von Nanopartikeln durch Zermahlen und Mischen von Ursprungsmaterialien. Eine weitere Technik, die vor allem in der Nanoelektronik zum Einsatz kommt, ist die Nanolithografie. Hierfür sind die speziellen Bedingungen eines Reinraums erforderlich. Bei der Nanolithografie werden Nanostrukturen durch Prägen, Belichten oder Beschichten größerer atomarer und molekularer Zusammenhänge gefertigt. Die verschiedenen Verfahren lassen sich entsprechend in Nanoprägelithografie (nanoimprint lithography), Elektronenstrahllithografie (e-beam lithography), Röntgeninterferenzlithografie (X-ray interference lithography) usw. unterteilen. Als Beispiel für eine durchzuführende Prozesskette dient im Folgenden die Fotolithografie. Um einen Wafer zu fertigen, trägt der Forscher zuerst die Schicht, die strukturiert werden soll, sowie einen Fotolack auf ein Substrat auf. Mittels einer lichtunempfindlichen Maske deckt er die zu erhaltenden Strukturen ab. Nun erfolgt die Belichtung: An den Stellen, an denen das Licht auf den Fotolack trifft, wird dieser beschädigt und abgetragen. Die verbleibenden Stellen des Fotolacks bilden einen Schutz für die Schicht beim anschließenden Ätzvorgang. Am Ende des Prozesses entfernt der Forscher den Fotolack und erhält als Ergebnis die strukturierte Schicht. Ein Beispiel flir bottom up-Verfahren ist die sog. Gasphasenabscheidung (vapour deposition), bei der eine physikalische (PVD) von einer chemischen Vari38 Vgl. zum Überblick beider Verfahren die populärwissenschaftlichen, jedoch nicht minder aufschlussreichen, Publikationen Stix 200 I; Schulenburg 2003; Boeing 2004.

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ante (CVD) unterschieden wird. Auch hierfür ist eine partikelfreie Arbeitsumgebung notwendig. Forscher können bei der PVD durch thermisches Verdampfenauch Aufdampfen oder Bedampfen (eng!. evaporation)- ein in fester Form vorliegendes Material in einen gasförmigen Zustand überführen. Die Dampfteilchen steigen auf, kondensieren entsprechend der Selbstorganisation an einem Substrat und bilden die gewünschte Schicht. Bei der CVD dagegen reagiert das Material einer Oberfläche mit einem zugeleiteten gasförmigen Material und bildet die gewünschte Schicht. Auf diese Weise werden bspw. Nanoröhrchen und andere Nanopartikel hergestellt. 39 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in Technologiezentren mehrere Forscher verschiedener ingenieurwissenschaftlicher Spezialgebiete kopräsent an komplexen Anlagen und Maschinen arbeiten. Die Zentren werden von qualifiziertem Personal geleitet, zu dessen Aufgaben insbesondere die Betreuung des wissenschaftlichen Nachwuchses und in manchen Fällen Technologieentwicklung zählen. Anders als es in den nanowissenschaftlichen Hochschullaboren der Fall ist, werden die geteilten Technologien von den Nutzern nicht konstruiert oder modifiziert und der Ort nach Durchführung der notwendigen Prozessschritte so verlassen, wie er vorgefunden wurde. 3.3.3 Nanowissenschaftliche Konferenzen das Beispiel »NanoConvention« im »TRAFO« in Baden

Die Schweizer Nanowissenschaften zeichnen sich durch zahlreiche Konferenzen aus, zu denen Nanowissenschaftler Forscher anderer Wissenschaftsfelder und Personen, die mit den Nanowissenschaften in Kontakt stehen, über Newsletter, persönliche Anschreiben oder Flyer einladen (vgl. Kapitel 6 »Nanowissenschaftliche Events«). Diese eigens dafür eingerichteten Orte des Wissenschaftsfeldes sind temporäre Settings in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit (Hotels, Museen, Verlage usw.) und keine wissenschaftsinternen Lokalitäten wie Hochschullabore und Technologiezentren. Auf nanowissenschaftlichen Konferenzen präsentiert sich das Wissenschaftsfeld gegenüber einem fachfremden Publikum aus Wissenschaft, Wirtschaft und anderen Gesellschaftsbereichen. Nanowissenschaftler, typischerweise Professoren oder Forscher der Leitungsebene, halten Vorträge über das Wissenschaftsfeld im Allgemeinen, thematisieren Potentiale und Visionen nanowissenschaftlicher Forschung und stellen Strukturen und Arbeitsweisen na39 Eine Kombination beider Verfahren ist die »stencillithography«, bei der zunächst eine vorab fabrizierte Schablone mit der gewünschten Struktur auf ein Substrat aufgebracht, anschließend das gewünschte Material, aus dem die Struktur bestehen soll, durch Gasphasenabscheidung aufgetragen und die Schablone am Ende entfernt wird.

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nowissenschaftlicher Forschungseinrichtungen vor. Die Pausen bieten den Teilnehmern darüber hinaus Gelegenheit miteinander in Kontakt zu treten. Eine dieser regelmäßig stattfindenden, ein- bis zweitägigen Veranstaltungen ist die »Swiss NanoConvention«, organisiert und durchgeführt von der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Versuchsanstalt (Empa). 40 Die Organisatoren der NanoConvention haben es sich dabei lt. Veranstaltungsankündigung zur Aufgabe gemacht, eine Plattform zu bieten, »um Menschen zusammenzubringen, Ideen zu diskutieren und auszutauschen« sowie »reichlich Gelegenheit für vertieftes und ungezwungenes Networking« zu ermöglichen. Die NanoConvention 2011 findet im Kultur- und Kongresszentrum »TRAFO« in Baden statt, wenige Gehminuten vom Bahnhof entfernt. 41 Die umgebauten Industriehallen des TRAFO dienten früher zur Herstellung von Transformatoren und Spannungsumwandlern. 42 Begründet wird die Wahl des Veranstaltungsortes damit, dass Baden auf der Hauptverkehrsachse Zürich-Bern liege und eine »optimale Verkehrsallbindung an das Wirtschaftsfünfeck Bern-Basel-Winterthur-Luzern-Zürich« (vgl. Internetpräsenz Swiss NanoConvention43 ) biete.

»Nebenbühneeingraviert< wurden. 6 Der Textblock misst 100 mal 100 Mikrometer und hätte somit auf einem Haarquerschnitt Platz. Die Widmung lautet: »Hans-Joachim Güntherodt, Sie haben fest und unentwegt, in der Physik viel angeregt, in Wissenschaft Nano gepflegt, und viel für uns dadurch bewegt! The world goes NANO, Danke, Departement Physik, Universität Basel, 2009«. Indem die Widmung während der Übergabe des Geschenks an die Wand projiziert wird, nimmt das gesamte Auditorium teil an der Reise in die >Nanoweltgeschrieben ."

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TECHNOLOGISCHE PLATTFORMEN DER NANOWISSENSCHAFTEN

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Der Ursprung an derartigen Einrichtungen lässt bereits die technikwissenschaftliche Prägung der Nanowissenschaften durch technologische Plattformen erahnen. Die in separaten Gebäuden oder Gebäudeteilen untergebrachten Einrichtungen unterscheiden sich in erster Linie darin, ob in der Plattform die Mitarbeiter Dienstleistungen erbringen (Service Lab), wie im »Common Laboratory« und dem »Swiss Scanning Probe Microscopy User Lab«, oder die Nutzer selber in der Einrichtung arbeiten (Nutzer Lab), wie im Fall der drei anderen Plattformen. 5 Die neuen technologischen Arrangements in den Plattformen zeichnen sich durch Vielfalt und Komplexität der Instrumente sowie hohe Kosten und Aufwand in Erwerb und Unterhalt der Technologien aus. Die Geräteausstattung reicht von Rastersondenmikroskopen (»Swiss Scanning Probe Microscopy User Lab«) über Apparaturen wie Elektronenstrahllithografiesysteme oder Nasschemiebänke in Reinraumanlagen (»Common Laboratory«, »Center of MicroNanotechnology«, »Frontiers In Research: Space & Time«) bis hin zu einer Synchrotronstrahlungsquelle (»Swiss Light Source«) und wird fortlaufend durch Neuerwerb oder eigenständige Konstruktionen erweitert und verbessert. Das typischerweise fest angestellte Personal technologischer Plattformen setzt sich aus der wissenschaftlichen Leitung und Technikern, denen vor allem die Instandhaltung der Anlagen und die Bereitstellung der notwendigen Zusatzstoffe obliegen, zusammen. Entsprechend der strategischen Ausrichtung der Plattformen werden die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses, die Durchführung von Forschungsprojekten oder Technologieentwicklung von den Verantwortlichen als besondere Zielsetzungen hervorgehoben. Die Verantwortlichen flir die Geräte sind nicht (mehr) die hauptsächlichen Anwender. Die Nutzer sind von Aufgaben der Reparatur, Wartung usw. entlastet und genießen Erwartungssicherheit hinsichtlich des Betriebs der Plattformen. Gleichzeitig stehen ihnen die Technologien nur noch eingeschränkt und entsprechend formaler Nutzungsbedingungen zur Verfügung. Die Wissenschaftler, die Dienstleistungen der Plattformen in Anspruch nehmen bzw. gemeinsam an den Geräten und Anlagen arbeiten, sind überwiegend Nachwuchswissenschaftler aus verschiedenen ingenieur- und technikwissenschaftlichen Forschungsgebieten, wie Mikroelektronik, Strukturbiologie, Elektrotechnik, Material- und Nanowissenschaften und Maschinenbau. 6 5

Auch der Umgang der einzelnen Plattformen mit akademischen und industriellen Nutzern ist verschieden, so dass je spezifische Nutzermodelle identifiziert werden können (vgl. Merz/Biniok 201 0).

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Auch Forscher der Uhrenindustrie, der Pharmazie, aus dem Sektor Microelectromechanical und Nanoelectromechanical Systems (MEMS/NEMS) sowie der Halbleiterund Optischen Industrie haben Zugang zur den wissenschaftlichen Einrichtungen.

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Anders als in Hochschullaboren verteilen sich die Interaktionszusammenhänge in technologischen Plattformen servicebasiert auf wissenschaftliches und technisches Personal und fachlich wie institutionell heterogene Nutzergruppen. Um die neu entstehenden Formen von Forschungsarbeit in Plattformen analysieren zu können, wird diese Strukturform im Folgenden konzeptionell näher bestimmt.

5.2

PASSIVE INFRASTRUKTUR VS. HANDLUNGSLEITENDE SOZIOTECHNISCHE ÄRENA

Ziel dieses Abschnitts ist es, einen adäquaten konzeptuellen Zugang zu den untersuchten technologischen Plattformen zu entwickeln. Ausgehend von Publikationen der 1990er Jahre, in denen Plattformen als passive Infrastrukturen verstanden werden, gewinnen neuere Untersuchungen der Science and Technology Studies (STS) an Relevanz, die die sozialen Komponenten von Plattformen und deren strukturierende Wirkung hervorheben. Die STS haben sich dennoch bislang wenig mit der Strukturform »technologische Plattform« auseinandergesetzt, und eine konsensuelle Definition existiert nicht. Im Anschluss an die Untersuchungen der STS und die theoretische Verortung dieser Arbeit werden technologische Plattformen als soziotechnische Arenen verstanden, in denen Akteure verschiedener sozialer Welten aufeinandertreffen, interagieren und das Wissenschaftsfeld der Nanowissenschaften konstruieren. 7 5.2.1 Plattformen als passive Infrastruktur

In ersten Studien zu Plattformen in den 1990er Jahren werden diese als passive Infrastruktur (vgl. dazu kritisch Star/Ruhleder 1997) konzipiert. 8 Es handelt sich bei diesen Strukturen um Grundlagen zur Erfüllung bestimmter Funktionen, bspw. den Betrieb eines Computers oder die Organisation eines Unternehmens. Plattformen sind äußerst anpassungsfähig und werden in Reaktion auf die sich verändernden Kontextbedingungen modifiziert. Die notwendige Flexibilität wird 7

Ich verzichte bei der Konzeptualisierung auf die Unterscheidung von Technik und Technologie (vgl. dazu Rammert 2000), und ebenso verstehe ich die verschiedenen Bezeichnungen »technology platform« und »technological platform« als gleichbedeutend.

8

Die linguistische Annäherung an den Begriff der Plattform von Keating und Cambrosio berührt ähnliche Bedeutungen und Erscheinungsformen (vgl. Keating/Cambrosio 2003: 26ff.).

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TECHNOLOGISCHE PLATTFORMEN DER NANOWISSENSCHAFTEN

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durch die Bildung von Komponenten und Modulen erreicht, die den neuen Erfordernissen entsprechend angeordnet werden. 9 Im Bereich der Informatik bezeichnen Plattformen die technologische Grundlage zum Betrieb von Computern und Computersystemen. Die Plattform ist eine Basistechnologie, auf der andere Technologien und Prozesse aufbauen, und die den Betrieb und die Funktionalität eines Systems bestimmt. Madnick (1991) zeigt für den Fall von lnformationstechnologien in Organisationen, wie mittels einer sog. »information technology platform« verschiedene Hardwareund Softwarekomponenten entsprechend organisationaler Veränderungen situativ kombiniert und effektiv auf Dauer gestellt werden können. Ähnlich diskutiert Ciborra (1996) im Bereich der Organisationsforschung die Bedeutung und Vorteile der »platform organization«. Plattformen sind in diesem Fall fragmentierte Meta-Organisationen, die bei Bedarf (re-)konfiguriert werden und es ermöglichen, Ressourcen und Strukturen in Organisationen neu zu ordnen und zusammenzustellen. Aus Sicht der Ökonomie und des Unternehmensmanagements sind technologische Plattformen eine Grundlage zur Partizipation an zukünftigen Märkten (K.im/Kogut 1996). Plattformen sind in dieser Perspektive weniger auf spezifische Märkte und organisationale Felder ausgerichtet. Vielmehr ermöglichen sie als kombinierbare Ensembles von Technologien eine situative Festlegung neuer Entwicklungswege. Auf diese Weise sichern Unternehmen in unruhiger und unübersichtlicher Umwelt ihre Handlungsfähigkeit Aus einer Policy-Perspektive bezeichnet der Begriff der technologischen Plattform in neuerer Zeit forschungsstrategische Zusammenschlüsse, wie bspw. die »Europäische Technologieplattform für Nanomedizin oder Nanoelektronik«.10 Diese virtuelle Struktur kennzeichnet eine Allianz von wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Akteuren, die der Zielsetzung folgt, Anwendungen der Nanotechnologie ft.ir den Bereich der Medizin zu erforschen und umzusetzen. Consoli und Patrucco (2008) konstatieren analog aus innovationstheoretischer Perspektive, dass Plattformen die Koordination und Kooperation zwischen heterogenen Akteuren gewährleisten. Durch »Ko-Operation« wird fragmentiertes, verteiltes und unvollständiges Wissen miteinander verbunden und kollektives Lernen ermöglicht. Mit der Verwendung des Begriffs der Innovationsplattform verweisen die Autoren auf eine strategisch-virtuelle Architektur, die technologische Plattformen als untergeordnete Elemente enthalten kann.

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Die Kombination der Teile und die vorherige Planung beruhen auf der zu hinterfragenden Prämisse, Planbarkeit und Gestaltbarkeit von Systemen seien möglich.

10 Vgl. zu den Europäischen Technologieplattformen http://cordis.europa.eu/technologyplatforms (letzter Zugriff23.11.2010).

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I WISSENSCHAFT ALS BRICOLAGE

Plattformen reichen in den hier thematisierten Konzeptionen von tatsächlichen Technologien bis hin zu virtuellen Strukturen. Sie erscheinen als passive Elemente in ihrem jeweiligen Anwendungskontext Demgegenüber werden in den Science and Technology Studies Konzepte technologischer Plattformen entworfen, die über die Auffassung einer passiven Infrastruktur hinausgehen und insbesondere die sozialen Komponenten und die strukturierende Wirkung von Plattformen betonen.

5.2.2 Technologische Plattformen in den Science and Technology Studies Die Science and Technology Studies diskutieren technologische Plattformen einerseits als basalen Technologiebestand, der weitere technologische Entwicklungen ermöglicht (vgl. Lenoir/Giannella 2011). Ein Tintenstrahldrucker bspw. bildet eine solche Kemtechnologie, auf deren Basis in verschiedenen Serien Erweiterungen (etwa Farbdruck) und inkrementelle Verbesserungen (z.B. die Düse des Druckkopfes betreffend) erarbeitet werden. Andererseits werden technologische Plattformen als Konfigurationen konzipiert, die über technologische Komponenten hinausgehen und Akteure, Wissen usw. einschließen. Keating und Cambrosio (2003) bspw. definieren die von ihnen untersuchten »biomedizinischen Plattformen« wie folgt: »[Biomedical platforms are] specific combinations of techniques, instruments, reagents, skills, constituent entities (morphologies, cell-surface markers, genes), spaces of representations, diagnostics, prognostics, and therapeutic indications, and related etiologic accounts. More specifically and more abstract, our study enables us to define biomedical platforms as material and discursive arrangements.« (Keating/Cambrosio 2003: 4)

Plattformen bilden in den Augen der Autoren die Basis für die Organisation und Koordination von Handlungen. Keating und Cambrosio heben zudem hervor, dass ihre Konzeption von Plattformen die Dichotomie zwischen Wissenschaft und Technologie überwindet, ohne deren Differenz zu negieren. Genau diese Charakteristik zeichnet den besonderen Ertrag des Ansatzes aus: Technologische Plattformen verweisen auf das ortsungebundene, unauflösbare Zusammenspiel von Technologien und Akteuren und nicht lediglich auf eine technische oder informationstechnologisch-virtuelle Grundlage. 11 II In gewisser Weise scheinen biomedizinische Plattformen ein neues Paradigma- sei es im wissenschaftlichen (Kuhn 1967) oder technologischen (Dosi 1982) Sinn - darzustellen, nach dem Wissenschaft und Forschung betrieben wird.

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TECHNOLOGISCHE PLATTFORMEN DER NANOWISSENSCHAFTEN

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Im Kontinuum zwischen den beiden Konzeptionen einer technologischen Grundkomponente und einer transinstitutionellen Konfiguration heterogener Elemente ist die Auffassung technologischer Plattformen als ortsgebundene, soziotechnische Konfigurationen verortet Peerbaye und Mangematin (2005) bspw. untersuchen flir die Lebenswissenschaften in Frankreich die gemeinsame Nutzung (im Original »sharing«) von Großforschungseinrichtungen. Derartige Forschungszentren, bspw. Synchrotronstrahlungsquellen oder Reinräume, deuten die Autoren folgendermaßen: »Technological platforms can be broadly defined as research and/or production facilities required to explore and exploit new knowledge. These facilities are complex assemblages of instruments and expertise.« (Peerbaye/Mangematin 2005: 28)

Peerbaye und Mangematin gehen in ihrer Studie zum einen auf die technologischen Komponenten der Plattformen ein und weisen zum anderen auf deren grenzüberschreitenden Charakter im geografischen, disziplinären oder organisationalen Sinn hin. Technologische Plattformen, so die Autoren, sind aus diesem Grund wichtige Elemente in Prozessen der Wissensproduktion und des Wissenstransfers. Robinson u.a. (2007) stellen eine ähnliche Konzeption technologischer Plattformen vor. Sie begreifen diese als Forschungseinrichtungen, in denen Wissenschaftler Technologien nutzen und dabei von Personal betreut werden. Die Autoren sehen in den von ihnen untersuchten Plattformen zugleich Opportunitätsstrukturen für zukünftiges Handeln. »[A technological platform is] a set ofinstruments which enables scientific and technological production. [But] a technology platform is not just a collection of equipment. It enables and constrains further action.« (Robinson u.a. 2007: 872)

Plattformen vermögen institutionelle Strukturbildungsprozesse in Form von technologischen Agglomerationen anzustoßen und zu beeinflussen. Dies könne am Beispiel der Nanotechnologie als einem im Entstehen begriffenem Technologiefeld besonders gut beobachtet werden, da dessen Entfaltung mit hohen Investitionen in technologische Instrumente und Infrastruktur sowie mit der Umgestaltung existierender organisationaler Arrangements verbunden sei. Ein Spezifikum dieser organisationalen Arrangements ist die räumliche Nähe wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Forschungseinrichtungen und die Zusammenführung der separaten Aktivitäten in Kooperationsprojekten. 12 12 Die enge Verbindung von Wissenschaft und Wirtschaft über Kooperationsprojekte an technologischen Plattformen zeigt auch Hubert (2009).

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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Plattformkonzept von Keating und Cambrosio (2003) konzeptuell weit ausgearbeitet ist und auf die Bedeutung soziotechnischer Prägungs- und Wechselwirkungsverhältnisse verweist. Allerdings bezieht es sich wenig auflokale Forschungszusammenhänge. Die Studien von Robinson u.a. (2007) und Peerbaye und Mangematin (2005) sind bezüglich der Vorstellung einer lokalen Konstitution von Interaktionen anschlussfahig. Sie legen den analytischen Fokus jedoch auf die Beziehungen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft und benennen damit einhergehend Wissensproduktion, Unterstützung von Wissenschafts- und Wirtschaftskooperationen oder Produktentwicklung als die primären Funktionen von Plattformen. Durch die im Folgenden vorgeschlagene Erweiterung der Perspektive von Wissenschafts-Wirtschafts-Beziehungen auf die umfassenden lokalen soziotechnischen Forschungszusammenhänge in technologischen Plattformen wird der Blick frei für den spezifischen Beitrag, den die technologischen Plattformen zur Entwicklung der Nanowissenschaften leisten.

5.2.3 Technologische Plattformen: handlungsleitende soziotechnische Arenen Technologische Plattformen werden in dieser Arbeit als ortsgebundene soziotechnische Arenen verstanden, in denen Akteure verschiedener sozialer Welten interagieren (vgl. Kapitel2.1). Eine derartige Konzeption fokussiert die Technologien, Praktiken und Wissensbestände in ihrer alltäglichen Nutzung und entspricht der Beobachtung und Analyse von Forschungsarbeit auf der Mikroebene (vgl. bspw. Benninghoff/Sormani 2008). Wissenschaftler wenden in Plattformen die für ihre Forschung benötigten Technologien nicht lediglich an, sondern ihr Handeln wird durch das Plattformpersonal organisiert und angeleitet und durch die Kopräsenz der fachlich und institutionell heterogenen Nutzergruppen bedingt. Diese Interaktionsprozesse sind darüber hinaus durch die verfügbaren Geräte und Anlagen sowie die strategische Ausrichtung der Plattform geprägt. Vor diesem Hintergrund erfolgt eine Abgrenzung technologischer Plattformen gegenüber passiven Infrastrukturen, da erstere nicht nur durch Akteure genutzte Konfigurationen sind, sondern gleichsam >aktiv< deren Handlungen und Interaktionen beeinflussen (vgl. Pickering 1993; Hackett u.a. 2004). Die Konzeption von technologischen Plattformen als ortsgebundene soziotechnische Arenen schließt erstens an Begriffe wie »soziotechnische Konstellation« (vgl. Rammert/Schulz-Schaeffer 2002; Rammert 2007) und »soziotechnisches Ensemble« (vgl. Schubert 2006) an, die den Dualismus von Sozialität und

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TECHNOLOGISCHE PLATTFORMEN DER NANOWISSENSCHAFTEN

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Technik zugunsten eines Wechselwirkungsverhältnisses auflösen und hybride Technik-Gesellschaft-Konstellationen sowie die Verteilung des Handeins auf verschiedene Instanzen untersuchen. 13 Auch in dieser Arbeit wird von der Verwobenheit von Akteuren, Geräten und Instrumenten in sozialen Situationen und im sozialen Handeln ausgegangen. Jedoch werden die Forschungsarbeit und der kreative Umgang der Akteure mit Technologie betont. Es interessiert weniger der kollektive Vollzug einer bestimmten Aufgabe durch Mensch und Technik, als vielmehr die Wirkung der soziotechnischen Anordnung im Zuge der Forschungsaktivitäten. Das Konzept verweist zweitens auf die lokale räumliche Ordnung, die die Interaktionen der Akteure beeinflusst. Auf die Relevanz von Raum für die Strukturierung von Face-ta-Face-Interaktionen hat insbesondere Gieryn (2000) hingewiesen und sich für eine »place-sensitive sociology« (Gieryn 2000: 464) ausgesprochen.14 Bereits Allen (1995) hat in einer Studie gezeigt, dass ein Gebäudedesign, welches körperliche Kopräsenz fördert und zufällige Interaktionen maximiert, die Innovationsrate in Forschungsorganisationen erhöhen kann. 15 Bei der Untersuchung technologischer Plattformen stellt sich im Anschluss an Allens Studie u.a. Frage, ob die Raumaufteilung in den Plattformen die Interaktionen zwischen heterogenen Akteuren fördert oder behindert und inwiefern dieser Sachverhalt Auswirkungen auf die Forschungsarbeit der Akteure hat.

5.3

TECHNOLOGIEENTWICKLUNG UND TECHNISCHE AUSBILDUNG

Durch das breit angelegte Konzept technologischer Plattformen werden in der vorliegenden Untersuchung die lokalen Akteurskonstellationen und Interaktionszusammenhänge fokussiert, die Forschungsarbeit in den soziotechnischen Arenen nachgezeichnet und strukturierende Prägungsprozesse des Wissenschaftsfel13 Dabei wird jedoch eine strenge Symmetrisierung von Mensch und Technik, wie bei der Aktor-Netzwerk-Theorie vermieden (vgl. Belliger u.a. 2006 für eine »ANTho1ogy« mit Texten von Latour, Callon und Law). 14 Allerdings darf dabei nicht vernachlässigt werden, dass Gebäude gleichzeitig durch die Akteure - möglicherweise auch entgegen den ursprünglichen Designüberlegungen -genutzt werden (vgl. Gieryn 2002). 15 Wie das konkrete Gebäudedesign in den Nanowissenschaften aussehen kann, wird in Soueid (2008) diskutiert. In seinem konzeptuellen Entwurf werden sowohl techno1ogisehe Aspekte, als auch der »human factor«, d.h. der Stimulus von interdisziplinärer und informeller Kommunikation berücksichtigt.

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des eruiert. In Abhängigkeit von den Interaktionszusammenhängen lassen sich verschiedene Dimensionen unterscheiden, entlang derer die Nanowissenschaften geprägt werden. Im Folgenden werden die Dimensionen »Technologieentwicklung« und »technische Ausbildung« akademischer Nutzer diskutiert. 16 Die beiden zentralen technologischen Plattformen »Swiss Light Source« und »Center of MicroN anotechnology«, die aufgrund grösstmöglicher Varianz die unterschiedlichen Prägungsdimensionen am besten wiedergeben, dienen der Illustration. Die Differenzen zwischen den soziotechnischen Arenen »Hochschullabor« und »technologische Plattform« (vgl. Kapitel 3.3) führen dabei zu der These, dass komplementär zur Prägung der Nanowissenschaften in Hochschullaboren als ein grundlagennahes, naturwissenschaftliches Wissenschaftsfeld mit einer starken Instrumentationskomponente (vgl. Kapitel 4) das Wissenschaftsfeld in technologischen Plattformen als eine Ingenieur- und Technikwissenschaften mit hohem Anwendungsbezug konstruiert wird. 5.3.1 Instrumentationsarena »Swiss Light Source«

Technologische Plattformen die sich an einen internationalen Nutzerkreis richten, stehen in Konkurrenz mit Plattformen, die über eine gleiche bzw. ähnliche Technologiebasis verfügen. Ein Beispiel ist die Synchrotronstrahlungsquelle »Swiss Light Source« (SLS). Das 2001 am Forschungszentrum für Natur- und Ingenieurwissenschaften »Paul Scherrer Institut« (PSI) in Viiligen in Betrieb genommene Nutzer Lab ist eine von zahlreichen Lichtquellen weltweit. 17 Innerhalb des PSI ist die Forschungsarbeit der Swiss Light Source im Bereich »Synchrotronstrahlung und Nanotechnologie« verortet Die Verteilung der Aktivitäten auf die vier Labore »Macromolecules and Bioimaging«, »Condensed Matter«, »Energy and Environment« und »Micro- and Nanotechnology« illustriert die fachlich hybride Ausrichtung der Schweizer Plattformen. 18 16 Die vorliegende Untersuchung der Konstruktion des Wissenschaftsfeldes Nanowissenschaften durch technologische Plattformen fokussiert plattforminterne Prozesse. Möglich wäre zudem eine komplementäre Perspektive, die den Blick auf die Schnittstellen der Plattformen mit externen Akteuren richtet und bspw. Industriebeteiligung oder Öffentlichkeitsarbeit fokussiert. 17 Andere Synchrotronquellen sind bspw. BESSY in Deutschland oder ESRF in Frankreich. Vgl. auch die Webseite der »vereinigten« Lichtquellen unter http://www.lightsources.org/cms (letzter Zugriff 21.11.201 0). 18 In den letzten Jahren fanden immer wieder organisatorische Umstrukturierungen am PSI statt. Bis 2009 waren zunächst die beiden Laboratorien LSY I (Umwelt- und Lebenswissenschaften) und LSY II (Materialwissenschaft und Festkörperphysik) für die

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TECHNOLOGISCHE PLATTFORMEN DER NANOWISSENSCHAFTEN

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Aufgrund der Nachfrage der Nutzer und mit Blick auf das zukünftige Bestehen im weltweiten Wettbewerb entwickelt das Plattformpersonal der SLS die benötigten und verbessert die verfügbaren Technologien kontinuierlich. Zur Technologieentwicklung gehört auch die Konstruktion nanowissenschaftlicher Instrumente. Im Anschluss an die Beschreibung der Synchrotronstrahlungsquelle zeige ich anhand des Kooperationsprojekts »NanoXAS« inwiefern sich an technologisehen Plattformen Instrumentationsarenen konstituieren, und die dortigen Interaktionen das Wissenschaftsfeld Nanowissenschaften prägen. »Swiss Light Source

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