Die soziale Funktion der Wissenschaft [Reprint 2022 ed.] 9783112645864

195 99 175MB

German Pages 524 Year 2022

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Die soziale Funktion der Wissenschaft [Reprint 2022 ed.]
 9783112645864

Table of contents :
Inhalt
Vorwort des Herausgebers
Zur deutschen Ausgabe
JOHN DESMOND BERNAL Fünfundzwanzig Jahre später [1964]
Die soziale Funktion der Wissenschaft
Vorwort
ERSTER TEIL Was die Wissenschaft leistet
ERSTES KAPITEL Zur Einführung
ZWEITES KAPITEL Geschichtliches
DRITTES KAPITEL Die derzeitige Organisation der naturwissenschaftlichen und medizinischen Forschung in Großbritannien
VIERTES KAPITEL Naturwissenschaft und Medizin im Bildungswesen
FÜNFTES KAPITEL Die Effektivität der wissenschaftlichen Forschung
SECHSTES KAPITEL Die Anwendung der Wissenschaft
SIEBENTES KAPITEL Wissenschaft und Krieg
ACHTES KAPITEL Internationale Aspekte der Wissenschaft
ZWEITER TEIL Was die Wissenschaft leisten könnte
NEUNTES KAPITEL Die Ausbildung des Wissenschaftlers
ZEHNTES KAPITEL Die Reorganisation der Forschung
ELFTES KAPITEL Die wissenschaftliche Kommunikation
ZWÖLFTES KAPITEL Die Finanzierung der Wissenschaft
DREIZEHNTES KAPITEL Die Strategie des wissenschaftlichen Fortschritts
VIERZEHNTES KAPITEL Wissenschaft im Dienste des Menschen
FÜNFZEHNTES KAPITEL Wissenschaft und gesellschaftliche Umgestaltung
SECHZEHNTES KAPITEL Die soziale Funktion der Wissenschaft
Anhang
NACHTRAG Auf dem Wege zu einer Wissenschaft von der Wissenschaft
Namenverzeichnis

Citation preview

J. D. Bernal

Die soziale Funktion der Wissenschaft

John Desmond Bernal

Die soziale Funktion der Wissenschaft Herausgegeben von Helmut Steiner

Akademie-Verlag Berlin 1986

Originaltitel : J. D. Bemal, F.R.S., The Social Function of Science George Routledge & Sons Ltd., London 1939 Ins Deutsche übertragen von Karl König Wissenschaftliche Bearbeitung: Ludwig Boll/Dieter Graf

ISBN 3-05-000039-2 ISBN 3-7609-0950-7

Erschienen im Akademie-Verlag Berlin, DDR-1086 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1986 Lizenznummer: 202 • 100/198/86 Printed in the German Demokratie Republic Gesamtherstellung: VEB Druckerei „Thomas Müntzer", 5820 Bad Langensalza Einbandgestaltung: Klaus Herrmann LSV 0155 Bestellnummer: 7527846(6181) 03800

Inhalt

Vorwort des Herausgebers: John Desmond Bemal (1901—1971) Zur deutschen Ausgabe

XIII XLIII

John Desmond Bernal, Fünfundzwanzig Jahre später [1964]

1

Die soziale Funktion der Wissenschaft Vorwort

20 Erster Teil

Was die Wissenschaft leistet

23 Erstes Kapitel

Zur Einführung

25

Die Herausforderung an die Wissenschaft Die Wirkung historischer Ereignisse 25 — Sollte die Wissenschaft eingeschränkt werden? 26 — Die Abkehr von der Vernunft 26 Die Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft Wissenschaft als reines Denken 28 — Wissenschaft als Macht 30 — Desillusionierung 31 — Flucht 32 — Die gesellschaftliche Bedeutung der Wissenschaft 33 — Der Wissenschaftler als Gehaltsempfänger 33 — Wissenschaft für den Profit 34 — Wissenschaft als Institution 34 — Kann die Wissenschaft überleben? 35

25

27

Zweites Kapitel Geschichtliches

36

Wissenschaft, Bildung und Handwerk Die Wissenschaft der Primitiven 36 — Landwirtschaft und Zivilisation 37 — Stadt und Handwerker 37 — Die folgenschwere Trennung von Priester und Handwerker 38 — Die Astronomie 38 — Die Medizin 39 — Die Griechen und die Wissenschaft 39 — Die Wissenschaft unter den Philosophen 39 — Die hellenistische Erneuerung 40 — Der Islam 40 — Das Mittelalter 41

36

Die Geburt der modernen Naturwissenschaft: Naturwissenschaft und Handwerk Die Kombination von Erfindungsgabe und Gelehrsamkeit 42 — Der technische Fortschritt 42 — Wissenschaft, die auf der Handwerkskunst beruht 43 — Italien und die ersten wissenschaftlichen Gesellschaften 43 — Holland, England und die Royal Society 43 — Entdeckungen und Schiffahrt 45 — Die ersten Wissenschaftler im eigentlichen Sinne 46 — Die Ära Newtons 46

41

Wissenschaft und Manufaktur Die Dampfmaschine 47 — Wissenschaft und Revolution. Die Lunar Society 48 — Das große Zeitalter der Naturwissenschaft in Frankreich 49 — Die Revolution in der Gastheorie und die chemische Industrie 50 — Das neunzehnte Jahrhundert: Naturwissenschaft wird zur Notwendigkeit 50 — Deutschland tritt auf den Plan 51 — Naturwissenschaft als Institution. Die Vorstellung von der reinen Wissenschaft 51

46

Naturwissenschaft "und imperialistische Expansion Der Weltkrieg 53 — Die Eingliederung der Wissenschaftler 53 — Vom Staat getragene Naturwissenschaft 54 — Die Nachkriegsperiode und die Weltwirtschaftskrise 54

52

Wissenschaft und Sozialismus

55

Drittes Kapitel Die derzeitige Organisation der naturwissenschaftlichen und medizinischen Forschung in Großbritannien Die Forschung an Universitäten, die staatliche und die industrielle Forschung 56

56

Die Forschung an den Universitäten Die wissenschaftlichen Mitarbeiter 58 — Die Art der Forschung 59 — Die Forschung in technischen Fächern 60 — Die Forschung in Physik und Chemie 60 — Die Forschung in der Medizin 60 — Ein unausgewogenes Forschungsprogramm 61

57

Die wissenschaftlichen Gesellschaften Die Royal Society 62 — Die British Association 64

61

Die staatliche naturwissenschaftliche Forschung Das Department of Scientific and Industrial Research: das National Physical Laboratory 65 — Brennstoff-Forschung 66 — Ernährungsforschung 66 — Forstwesen und Bauwesen 66 — Die Research Associations 67 — Research Grants [Forschungsstipendien] 69

64

Die medizinische Forschung

70

Der Medical Research Council 70 — Medizinische Forschung auf privater Basis 73 Die landwirtschaftliche Forschung

74

Wissenschaft in der Industrie Der Aufwand 79 — Der Charakter der Arbeit 80

79

Die Finanzierung der Forschung Stiftungen 81 — Staatliche Stipendien 81 — Die Verwaltung 83 — Kontrolle durch das Finanzamt 84 — Folgen dieser Art von Forschungsfinanzierung 84 — Die Art der Ausgaben für die Forschung 85

81

Der finanzielle Rahmen der Naturwissenschaft

86

Viertes Kapitel Naturwissenschaft und Medizin im Bildungswesen

90

Der naturwissenschaftliche Unterricht in der Vergangenheit 90 Die Naturwissenschaft in der Schule 92 Die Naturwissenschaft an den Universitäten 94 Die Vorlesungen 95 — Die Spezialisierung 97 — Der Lehrplan 97 — Prüfungen 98 — Die medizinische Ausbildung 99 — Die technischen Fächer 100 Die Ausbildung von Forschern 101 Finanzielle Schwierigkeiten 101 — Möglichkeiten zum Forschen 102 — Wie man weiterkommt 103 — Forschen als Beruf 104 Die Populärwissenschaft 105 Der gegenwärtige Einfluß der Wissenschaft 106 — Wissenschaft in der Isolierung 107 — Aberglaube in der Naturwissenschaft 108 — Die vor-wissenschaftliche Einstellung 109 — Das Bedürfnis nach Wissenschaft und seine Unterdrückung 109 Fünftes Kapitel Die Effektivität der wissenschaftlichen Forschung 111 Drei Motivationen für wissenschaftliche Arbeit psychologische, rationale und gesellschaftliche 111 Das Ideal der reinen Wissenschaft Wissenschaft als Flucht 113 — Wissenschaft und Zynismus 115

112

Die Ineffektivität der Naturwissenschaft aus technischen Gründen 117 Schlechte Organisation 117 — Falscher Einsatz der Qualifikation im Laboratorium 118 — Falsche Sparsamkeit 119 — Die Gehälter der in der Wissenschaft Tätigen 119 Naturwissenschaftliche Institute 121 Die Laboratorien an den Universitäten 122 — Wie Stiftungen wirken 123 — Staatliche Forschungseinrichtungen 124

VI

Forschung in der Industrie Die Geheimhaltung 125 — Mangel an Freiheit 126 — Niedriges Niveau 127

125

Wissenschaftliche Geräte Serienproduktion 130 — Hohe Preise 130

129

Mangelnde Koordinierung der Forschung 131 Informelle Methoden der Koordinierung 133 — Mangelnde Integration verschiedener Disziplinen 133 — Die alten Männer 134 — Sollte Wissenschaft organisiert sein? 135 Wissenschaftliche Veröffentlichungen 136 Veröffentlichungen für das „wissenschaftliche Massengrab" 136 — Die Publikationskosten 137 — Persönliche Kommunikation und Reisen 138 Die Auswirkungen ineffektiver Organisation Wissenschaft in Gefahr 139

138

Sechstes Kapitel Die Anwendung der Wissenschaft 141 Die Wechselwirkung von Wissenschaft und Technik 141 — Das Eindringen der Wissenschaft in die Industrie 143 — Die Verzögerung bei der Anwendung der Wissenschaft 145 Die Gewinnträchtigkeit der Wissenschaft 147 Schwierigkeiten in der Finanzierung der Forschung 147 — Voraussetzungen für praktische Erfolge 149 — Das Problem des Maßstabes 149 — Teure Erfindungen und entmutigte Erfinder 150 — Konstruktive und therapeutische Anwendungen 151 Die industrielle Konkurrenz und die Forschung

152

Monopol und Forschung Fehlender Anreiz 154 — Das Veralten 155

153

Drosselung der Forschung Patente 161

'58

Industrielle Forschung in Kooperation Konkurrenz zwischen einzelnen Industriezweigen 165

163

Ökonomischer Nationalismus und Forschung Geheimhaltung 167 — Internationale Monopole 169

166

Die Verzerrung der industriellen Forschung

169

Naturwissenschaft und Allgemeinwohl Technologisch bedingte "Arbeitslosigkeit 172 — Ist Überfluß unmöglich? 174

171

Siebentes Kapitel Wissenschaft und Krieg

177

Wissenschaft und Krieg in der Geschichte 177 Das Schießpulver 178 — Die Artillerie und die Renaissance 179 — Krieg und Industrielle Revolution 182 — Das neunzehnte Jahrhundert 183 — Die Wissenschaft im Weltkrieg 184 — Der Krieg führt zu staatlich organisierter Wissenschaft 185 Militärische Forschung heute Was ist militärische Forschung? 186 — Die Mechanisierung des Krieges 187

186

Wissenschaft und Rüstung 188 Die Schwerindustrie 188 — Der Flugzeugbau 188 — Die chemische Industrie 189 — Sprengstoffe und Giftgase 190 Die Nahrungsmittel Versorgung

191

Die Orientierung der Forschung auf Kriegszwecke 194 Militärische Forschung 194 —. Der Wissenschaftler im Kriege 196 — Vorbereitung auf den totalen Krieg 197 — Schutz vor Luftangriffen 197 — Der Schutz der Zivilbevölkerung 198 Die Haltung der Wissenschaftler zum Krieg Wissenschaftler organisieren sich für den Frieden 200

VII

200

Achtes Kapitel Internationale Aspekte der Wissenschaft

202

Wissenschaft und Kultur in der Vergangenheit Internationale Wissenschaft heute 202

202

Das Problem der Sprache Die wissenschaftliche Welt und ihre territoriale Aufteilung Nationale Merkmale in der Wissenschaft 206

203 204

Die Wissenschaft in den älteren Industrieländern 206 Die englische Wissenschaft 207 — Die Wissenschaft in Deutschland vor den Nazis 208 — Die Wissenschaft in Frankreich 210 — Die Wissenschaft in Holland, Belgien, der Schweiz und den skandinavischen Ländern 212 — Die Wissenschaft in Österreich und in der Tschechoslowakei 213 — Die Wissenschaft in Polen, Ungarn und den Balkanländern 213 — Die Wissenschaft in Spanien und Lateinamerika 213 Die Wissenschaft in den Vereinigten Staaten

214

Die Wissenschaft des Ostens 217 Die Wissenschaft in Indien 217 — Die Wissenschaft in Japan 218 — Die Wissenschaft in China 219 — Die Wissenschaft in den islamischen Ländern 220 Wissenschaft und Faschismus 220 Die Wissenschaft im faschistischen Italien 221 — Die Naziwissenschaft 221 — Die Judenverfolgung 224 — Die Vergewaltigung der Wissenschaft 227 — Alle Wissenschaft für den Krieg 228 — Die Verzerrung der Wissenschaft 230 — Wissenschaft in Gefahr 232 Wissenschaft und Sozialismus 232 Die Wissenschaft in der Sowjetunion 233 — Die Wissenschaft vor der Revolution 235 — Die Auseinandersetzungen der Anfangszeit 236 — Die Maßstäbe der Sowjetwissenschaft 236 — Geplante Wissenschaft 237 — Die Organisation 239 — Wie das System funktioniert 240 — Wissenschaft in Bildung und Kultur des Volkes 241 — Der Charakter der Sowjetwissenschaft 242 — Der dialektische Materialismus und die Naturwissenschaft 244 Zweiter Teil Was die Wissenschaft leisten könnte

247 Neuntes Kapitel

Die Ausbildung des Wissenschaftlers

249

Die Reorganisation der Wissenschaft 249 Die Notwendigkeit der Erweiterung 249 — Organisation und Sicherung der Freiheit 250 — Gewinnung von Nachwuchs 250 — Auswahl des Nachwuchses 251 — Ein breiter Zustrom in die wissenschaftliche Forschung 252 - Eine Lenkungsbehörde für Anwärter 252 Änderungen in der naturwissenschaftlichen Ausbildung

253

Naturwissenschaft an den Schulen Ein flexibler Lehrplan 254 — Naturwissenschaft für alle 255

253

Naturwissenschaft an den Universitäten 256 Forschen als Methode der Ausbildung 256 — Naturwissenschaft und allgemeine Kultur 257 — Berufsbezogene Ausbildung? 258 — Spezialisierung 258 — Universitäten für Fortgeschrittene 258 — Forschung und Lehre 259 Überarbeitung der Lehrpläne 259 Physik 260 — Chemie 261 — Astronomie und Geologie 262 — Biologie 262 — Medizin 264 — Gesellschaftswissenschaften 265 Zehntes Kapitel Die Reorganisation der Forschung 267 Grundprinzipien Wissenschaft als Beruf 267

267

Spezialisierung Lenkung der Spezialisierung 269

268

VIII

Die Organisation des Laboratoriums bzw. Instituts 270 Das Laboratorium als Grundeinheit 270 — Das Laboratorium (Institut) als Kollektiv 271 — D a s Institut als Ausbildungszentrum 272 — Demokratie in Laboratorium und Institut 272 — Der Direktor 273 — Der Verwaltungsdirektor 274 — Der Repräsentant 275 — Beschaffung von Geld 275 — Der Bibliothekar 276 — Der Kustos 277 — Mechaniker und Lagerhalter 277 — Der Institutsrat 278 — Forschungsprogramme 278 — Gefahren der Organisation 279 — Sicherung des Wachstums 280 — Initiative in der Forschung 280 — Organisation und Freiheit 281 Die allgemeine Organisation der Wissenschaft 282 Horizontale und vertikale Gliederung der Forschung 282 — Die Stellung der Universitäten 282 — Die Komplexität der Wissenschaft 283 — Schemata der Wechselbeziehungen 283 Die Akademien Die Funktionen 284 — Garantien für die Handlungsfähigkeit 285 — W a h l m o d u s 286

284

Die technisch-wissenschaftlichen Institute 287 K o m m u n i k a t i o n zwischen Wissenschaft und Industrie in beiden Richtungen 287 — Die technischwissenschaftlichen Institute und Neuentwicklungen der Produktion 288 — Die Mitarbeiter 288 — Die Sektoren Physik und Chemie 289 — Der biologische Sektor 289 — Gesellschaftswissenschaftliche Institute und Planung 289 Industrielaboratorien und landwirtschaftliche Versuchsstationen 290 Industrielle Pilotanlagen 290 — Landwirtschaftliche Versuchsstationen 290 — Der C h a r a k t e r der angewandten Forschung 291 — Die Beherrschung des Veraltens 291 Die Anwendung der Wissenschaft unter dem Kapitalismus Sozialismus und die Bedingungen des wissenschaftlichen Fortschritts 292

292

Elftes Kapitel Die wissenschaftliche Kommunikation

294

Die Funktion wissenschaftlicher Veröffentlichungen 294 Kategorien von Publikationseinheiten 295 — Das Problem der Verteilung 296 — Ein Verteilungsdienst zur Ablösung der Periodika 296 — Photomechanische Reproduktion 297 — Wie das System funktionieren würde 297 — Kurzreferate [Abstracts] 298 — Berichte [Reports] 299 — M i ß b r a u c h verhindern 300 — Die unmittelbaren Möglichkeiten 301 Das internationale Problem Dezentralisierung 302 — Eine zusätzliche Wissenschaftssprache? 303

302

Die Bedeutung persönlicher K o n t a k t e Reisemöglichkeiten 304

303

Populärwissenschaft 305 Wissenschaft und Presse 305 — Naturwissenschaft durch R u n d f u n k und Film 305 — Bücher über Wissenschaft 306 — Weltenzyklopädie 306 — Beteiligung des Volkes an der Wissenschaft 307 Zwölftes Kapitel Die Finanzierung der Wissenschaft

310

Wissenschaft und ökonomische Systeme Die Anforderungen der Wissenschaft an die Finanzierung : Flexibilität und Sicherheit 310

310

Wissenschaft in einer Planwirtschaft 311 Bestimmung des Budjets 311 — Verteilung auf einzelne Disziplinen 311 — Die Finanzierung der Laboratorien (Institute) 312 — Ausbau der Wissenschaft 312 — Fähigkeiten nutzen 313 — D e r Status des Wissenschaftlers 313 — Keine außerwissenschaftliche Begrenzung der Mittel 314 — Optimierung der Ausgaben 315 Die Finanzierung der Wissenschaft in einer kapitalistischen Wirtschaft 316 Ein besseres Verständnis zwischen Wissenschaft und Industrie ist notwendig 316 — Ein zentraler F o n d s 317 — Offizielle Einwände 318 — Privates M ä z e n a t e n t u m 319 — K ö n n t e sich die N a t u r wissenschaft selbst finanzieren? 319 — Ökonomischer Nationalismus und geplante Wissenschaft 320 Die Freiheit der Wissenschaft Ohnmacht 321 — Wissenschaft braucht Organisation 322 — Wissenschaftler und Öffentlichkeit 322

IX

320

Dreizehntes Kapitel Die Strategie des wissenschaftlichen Fortschritts

324

Ist Wissenschaft planbar? 324 Flexibilität 324 — Wege des wissenschaftlichen Fortschritts 325 — Tote Punkte 325 — Die Verbreiterung der Front 326 — Sicherung der erzielten Fortschritte 326 — Die Bedeutung von Theorien 327 — Ständiges Überarbeiten 327 — Ausgewogenheit zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung 328 Die erste Stufe: Ein Überblick über die Wissenschaft 328 Die Welt der Natur und die Welt des Menschen 329 — Die Notwendigkeit einer effektiven Gesellschaftswissenschaft 329 Perspektiven der Wissenschaft Aufgaben, die vor uns stehen 330

330

Physik Struktur der Materie 332 — Geophysik 332

331

Chemie 333 Metalle 333 — Chemische Reaktionen 334 — Umgestaltung der Chemie 334 — Kolloide und Proteine 334 Biologie 335 Biochemie 335 — Biophysik 336 — Embryologie 336 — Zellkern und Genetik 337 — Ökologie 337 — Verhaltensforschung 338 — Tiergemeinschaften 338 Gesellschaftswissenschaften und Psychologie

338

Die Zukunft der Wissenschaft Wechselwirkungen 340

340 Vierzehntes Kapitel

Wissenschaft im Dienste des Menschen

342

Bedürfnisse des Menschen Primäre Bedürfnisse: physiologische und gesellschaftliche 342

342

Nahrung 343 Neue Landwirtschaft 344 — Bakterielle und chemische Nahrungsmittelerzeugung 345 — Verteilung 345 - Kochen 346 Kleidung Ersatz für Textilien 346

346

Wohnen 347 Neue Baumaterialien 347 — Klimatisierung 348 — Komfort im Haishalt 348 — Die Stadt der Zukunft 349 — Stand und Land 349 — Planung 349 Gesundheit 350 Beherrschung von Krankheiten 350 — Alterkrankheiten und Tod 351 — Steuerung des Bevölkerungszuwachses 351 — Großer Bevölkerungszuwachs unter guten sozialen Bedingungen 352 Arbeit • 353 Der Arbeiter und nicht der Profit sollte an erster Stelle stehen 353 — Maschinen sollten Mühsal beseitigen und nicht erzeugen 354 — Arbeit als Vergnügen 354 Freude und Erholung Die Umgestaltung der Welt 355

354

Produktion Integration der Industriezweige in einer wissenschaftlich organisierten Gesellschaft 357

356

Bergbau Ablösung der Arbeit unter Tage 360 — Der Verhüttungsprozeß: Die neuen Metalle 360

357

Energieerzeugung 361 Kapitaleinsparung 361 — Neuartige Generatoren 362 — Speichern von Energie 362 — Anwendung von Energie 363 — Hydrodynamik : Raketenflug 363 Technik Rationelle Mechanismen 364 — „Denkende" Maschinen 365 — Bautechnik 365 X

364

Chemische Industrie 366 Planung von Substanzen nach Bedarf 366 — Nahrungsmittel 367 — Medikamente 367 — Kosmetika 368 — Abfälle 368 — Neuartige Werkstoffe 369 — Neuartige Verfahren 370 Verkehr Flugreisen 371 — Reisekomfort 371 — Gütertransport 372 — Weitere Möglichkeiten 372

370

Handel Nahrungsmittel 373 — Andere Gebrauchsgüter 373

372

Übermittlung von Nachrichten Die Abschaffung stumpfsinniger Arbeit 374 — Automatisierung 375

373

Verwaltung und Lenkung

375

Allgemeine Auswirkungen der Wissenschaft 376 Die Hauptaufgaben der Menschheit 376 — Volle Entfaltung der Wissenschaft oder Ohnmacht 377 — Die Ablehnung von Utopien 377 — Eine neue Zivilisation: Freiheit und Kampf 378 — Vertrauen in den Menschen 379 Wissenschaft und Gesellschaft

379

Fünfzehntes Kapitel Wissenschaft und gesellschaftliche Umgestaltung

381

Gesellschaftliche Bedingungen und Wissenschaft

381

Wie die Wissenschaft die Gesellschaft verändert Einfluß auf Produktionsmethoden 382 — Man wird sich der Misere bewußt 382

381

Der Wissenschaftler von heute 382 Wirtschaftliche Abhängigkeit 383 — Die Tendenz zum Konformismus 383 — Der Hang zur Wissenschaft 385 — Wissenschaft und Religion 385 — Verengung des Horizontes 386 — Die Herrschaft der Alten in der Wissenschaft 386 Der Wissenschaftler als Staatsbürger 387 Die Wirkung der Ereignisse 387 — Die Weltwirtschaftskrise 388 — Der Fünfjahrplan 388 — Marxismus und Geschichte der Wissenschaft 388 — Das Aufkommen des Faschismus 389 — Die Reaktion der Wissenschaftler 389 — Kriegsvorbereitungen 392 Gesellschaftliches Bewußtsein Der Wissenschaftler als Regierender? 393

393

Die Organisation der Wissenschaftler Die Anerkennung gesellschaftlicher Verantwortung 394 — Vereinigungen von Wissenschaftlern 395

394

Wissenschaft und Politik 398 Neutralität ist unmöglich 399 — Die öffentliche Meinung über die Wissenschaft 400 — Wissenschaft und Demokratie 400 — Die Volksfront 401 — Wie der Wissenschaftler helfen kann 401

Die soziale Funktion der Wissenschaft

Sechzehntes Kapitel

403

Die grundlegenden Umwälzungen in der Geschichte 403 Gesellschaft und Zivilisation 403 — Die wissenschaftliche Revolution : Die Rolle des Kapitalismus 404 — Die gesellschaftlichen Implikationen der Wissenschaft 404 — Die Aufgaben der Wissenschaft in der Übergangsperiode 405 — Vermeidbare Übel 405 — Entdeckung und Befriedigung von Bedürfnissen 405 Wissenschaft und Kultur

406

Die Umgestaltung der Wissenschaft 407 Das Problem des Ursprungs neuartiger Dinge 407 — Der dialektische Materialismus 408 — Die Erweiterung des Begriffs „rational" 408 — Der Trend der Zukunft 409 — Wissenschaft als Kommunismus 410

XI

Anhang

411

I.

413

Angaben über Universitäten und wissenschaftliche Gesellschaften (A) Anzahl und Verteilung der Stellen in Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften, Medizin und Technik 413 (B) Anzahl der hauptberuflichen Hochschullehrer und ihr durchschnittliches E i n k o m m e n 414 (C) Anzahl und Verteilung der Studenten der höheren Semester auf Naturwissenschaften, Medizin, Technik und Landwirtschaft 414 (D) Einnahmen der Universitäten 1934/35 416 (E) Anzahl der Naturwissenschaftler, die den bedeutendsten wissenschaftlichen Gesellschaften angehören 418

II.

Von staatlichen Stellen betriebene bzw. unterstützte Forschungen

419

(A) Staatliche Ausgaben für die naturwissenschaftliche Forschung 1937 419 (B) D.S.I.R. Überblick über die Aufwendungen während des am 31. März 1937 abgelaufenen Rechnungsjahres 419 (C) Einnahmen der Research Associations 1936/37 420 (D) Gesamtzuwendungen an die Research Associations vom Staat und von der Industrie 421 III.

Die Forschung in der Industrie

422

(A) Anzahl der großen und kleinen Industriebetriebe Großbritanniens 422 (B) Anzahl der wissenschaftlichen Arbeiten aus Akademien, staatlichen Einrichtungen sowie Industrieunternehmen, die in verschiedenen wissenschaftlichen Zeitschriften erschienen sind 422 (C) Ausgaben von Industriebetrieben für die industrielle Forschung 423 IV.

Ausgaben f ü r die militärische Forschung

424

V.

Bericht des Parliamentary Science Committee

426

(A) Einige ökonomische Ergebnisse von Forschungen, die im Rahmen des D.S.I.R. durchgeführt wurden 426 (B) Vorschläge für den Ausbau der wissenschaftlichen Forschung in der Industrie 427 (C) Die Empfehlungen, die als A n h a n g zum Bericht des Komitees dem Lord President des Rates am 29. April 1937 unterbreitet wurden 434 VI.

Die Organisation der Wissenschaft in Frankreich

435

VII

M. R u h e m a n n . Einige Bemerkungen zur Wissenschaft in der UdSSR

437

VIII. W. Davis, Projekt für wissenschaftliche Publikation und D o k u m e n t a t i o n

443

IX.

Rassemblement universel pour la paix Brüssel 1936

450

X.

Wissenschaftlervereinigungen

452

(A) Die Politik der British Association of Scientific Workers 452 (B) Vorläufiges P r o g r a m m der American Association of Scientific Workers 454

Nachtrag J o h n D. Bernal/Alan L. Mackay, Auf dem Wege zu einer Wissenschaft von der Wissenschaft

459

I. II. III. IV. V.

459 460 462 463 466

Z u r Definition der Wissenschaft von der Wissenschaft Das Verlangen nach einer Wissenschaft von der Wissenschaft Vorbedingungen für eine Wissenschaft von der Wissenschaft . Der C h a r a k t e r einer Wissenschaft von der Wissenschaft Zusammenfassung

N a men Verzeichnis

469

XII

Vorwort des Herausgebers

John Desmond Bernal (1901—1971)

Jedes Buch hat seine Geschichte. Doch nur bei wenigen sind seine gesellschaftlichen und intellektuellen Wurzeln von allgemeinem Interesse. John D. Bernais 1939 in Großbritannien erschienenes, wiederholt aufgelegtes, in mehrere Sprachen übersetztes und hier erstmals in deutscher Sprache vorliegendes Buch The Social Function of Science gehört zu diesen. Sein Entstehen verbindet sich mit der notwendigen Beantwortung herangereifter wissenschaftspolitischer Fragen, es erfüllt die Funktion eines theoretischen Geburtsdokuments für die Wissenschaft von der Wissenschaft und markiert einen Höhepunkt in der wissenschaftlichen Tätigkeit, weltanschaulichen Entwicklung und öffentlichen Wirksamkeit seines Autors. Wer war John Desmond Bernal, wie verlief sein Leben, was befähigte ihn zu diesem bahnbrechenden Werk?

J. D. Bernal — ein Enzyklopädist im 20. Jahrhundert Als Funktionär der Weltfriedensbewegung, als deren Präsident, als Mitbegründer der Weltföderation der Wissenschaftler, als Autor des in mehreren Auflagen erschienenen Buches Die Wissenschaft in der Geschichte sowie verschiedener wissenschaftspolitischer Aufsätze ist er einer breiten Öffentlichkeit bei uns in der DDR wie auch in anderen Ländern bekannt. Schon weniger bekannt ist, daß er, 1901 in einer irischen Bauernfamilie geboren, schon als Kind mit den sozialen, politischen und religiösen Gegensätzen Irlands konfrontiert wurde, in Cambridge Mathematik, Mineralogie und schließlich Physik studierte, seit 1923 mit der Kommunistischen Partei verbunden war und mit 36 Jahren für seine Leistungen auf dem Gebiet der Kristallographie von der British Royal Society zu ihrem Mitglied (F.R.S.) gewählt wurde. Im zweiten Weltkrieg wirkte er in den britischen Streitkräften als Wissenschaftler für den Sieg über den Hitlerfaschismus, und 1953 gehörte er zu den ersten, die mit dem Internationalen Lenin-Friedenspreis geehrt wurden. Mehrere nationale Akademien der Wissenschaften, unter ihnen die der UdSSR und auch der DDR, beriefen ihn zu ihrem auswärtigen Mitglied. Die Moskauer LomonossowUniversität und die Berliner Humboldt-Universität verliehen ihm die Ehrendoktorwürde, die Internationale Union für Kristallographie wählte ihn zu ihrem Präsidenten. Er war bis zu seinem Tode Präsident der Marx Memorial Library in London, und noch zu seinen Lebzeiten begründete das Birkbeck-College in London, seine jahrzehntelange Wirkungsstätte, die Tradition einer jährlich stattfindenden Bernal-Lecture. Inzwischen erschienen in Großbritannien von seiner Schülerin, der Nobelpreisträgerin D. Hodgkin, und seinem Mitarbeiter, M. Goldsmith, die ersten monographischen Bernal-Biographien. XV

L. Pauling, zweifacher Nobelpreisträger und über Jahrzehnte Bernal eng verbunden, erinnert sich: „Ich begegnete Bernal zum ersten Mal im Frühjahr 1930 in seinem Laboratorium in Cambridge. Damals wirkte er auf mich als der begabteste Wissenschaftler, den ich je kennengelernt hatte, und diesen Eindruck, der sich bei meinen vielen späteren Diskussionen noch verstärkte, habe ich noch heute." 1 Und sein Lehrer, Sir W. H. Bragg, der für seine Leistungen auf dem Gebiet der Kristallographie den Nobelpreis erhielt, berichtet 1948 über seinen einstigen Schüler: „Keiner hat als Forscher und Pionier mehr geleistet als er. Immer wieder, wenn wir einen Zweig der Strukturanalyse überblicken, die jetzt in stürmischer Entwicklung begriffen ist, müssen wir dankbar anerkennen, daß das erste entscheidende Experiment von ihm ausgegangen ist." 2 Solcherart Zeugnisse liegen mehr vor. Lord Mountbatten von Burma, Admiral der Königlichen Flotte und Militärischer Vorgesetzter Bernais im zweiten Weltkrieg, würdigt sein Engagement, seinen Ideenreichtum und seine Uneigennützigkeit.3 A. I. Oparin, der Anfang der 20er Jahre eine neue Etappe in der Erforschung der Entstehung des Lebens auf der Erde einleitete und inzwischen weltweite Anerkennung erfahren hat, würdigt seinen wissenschaftlichen Beitrag auf diesem Gebiet und initiierte die russische Ausgabe von Bernais The Origin of Life.* Der sowjetische Schriftsteller I. G. Ehrenburg ist begeistert von seinen Unterhaltungen mit Bernal, sei es über alte englische Poesie oder über französische Malerei,5 und D. Hodgkin, seine mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnete Schülerin, würdigt seinen Beitrag für eine „Welt ohne Krieg" 6 . Nur wenige Wissenschaftler unseres Jahrhunderts erfahren eine solche Würdigung aus so verschiedenartigem, doch gleichermaßen berufenem Munde. Als Physiker und Biowissenschaftler, als Wissenschaftswissenschaftler und Historiker, als leitender Funktionär fortschrittlicher Wissenschaftlervereinigungen und in der vordersten Reihe der Friedensbewegung errang J. D. Bernal in jedem der genannten Tätigkeitsbereiche Weltgeltung und hohe persönliche Wertschätzung. Sein Buch Die soziale Funktion der Wissenschaft nimmt dabei einen zentralen Platz ein. Seit seinem Erscheinen 1939 wird es bis auf den heutigen Tag von Marxisten und Nichtmarxisten lebhaft diskutiert. Es faßt seine bis dahin gesammelten wissenschaftlichen und politischen Erfahrungen zusammen, gibt eine fundierte marxistische Analyse der Situation und Entwicklung der Wissenschaft und steckt deren weitere Perspektiven einschließlich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung ab. Dieses Buch war für Bernal die erste zusammengefaßte Darstellung seiner sich angeeigneten wissenschaftlichen Weltanschauung als Marxist und wurde zum Credo für sein gesamtes weiteres Leben. Es vereinigt universelles Wissen, politisches Programm und persönliches Engagement zu einem praktisch wie theoretisch bedeutsamen Anliegen. Die breite Resonanz, die es sofort nach seinem Erscheinen erfuhr, die Welle der Zustimmung, aber auch die Ablehnungen, bestätigen dies.

1 2 3

4 5 6

L. Pauling, Bernais Beitrag zur Strukturchemie, in: Wissenschaftliche Welt, 2/1972, S. 15. Zitiert in: ebenda, S. 17. Vgl. Admiral of the Fleet, The Earl Mountbatten of Burma, K. G., O. M., D. S. O., F. R. S., Memories of Desmond Bernal, Manuskript, S. 4. Vgl. A. I. Oparin, Bernal und der Ursprung des Lebens, in: Wissenschaftliche Well, 1/1972, S. 16/17. 60-letie Dzona Bernala, in: Vestnik akademii nauk, 6/1961, S. 87. D. Hodgkin, The J. D. Bernal Peace Library, London, Prospekt. — Die bisher beste wissenschaftliche Biographie stammt aus der Feder von Dorothy M. C. Hodgkin, John Desmond Bernal 1901 — 1971, in: Biographical Memoirs of Fellows of the Royal Society, Bd. 26, Dezember 1980, S. 17—84.

XVI

Bernais gesellschaftspolitisches Wirken, sein besonderes Engagement für eine dem menschlichen Fortschritt verpflichtete Wissenschaft und vor allem die durch die marxistische Weltanschauung ihm möglich gewordenen neuen Einsichten und Erkenntnisse befähigten ihn zu dieser fundierten Darstellung der Funktionen der Wissenschaft. Es sind also zugleich die intime Kenntnis der Wissenschaft selbst, ihrer Arbeitsweisen, der Denkund Verhaltensstile von Wissenschaftlern sowie die eigenen Forschungen auf verschiedenen wissenschaftlichen Fachgebieten, die seinen Aussagen die notwendige Begründung und Autorität verleihen. Der sowjetische Biophysiker M . V. Volkenstejn schreibt über Bernal: „Er kann mit voller Kompetenz über die Unterschiede im Wohnungsbau Belgiens und Griechenlands oder über die abstrakte Malerei sprechen. Physik und Chemie, Biologie und Kristallographie sind ihm in gleicher Weise vertraut. Und worüber er auch sprach, womit er sich auch beschäftigte — immer bringt er Neues vor, eine originelle Sicht, neue wissenschaftliche Ideen. Ihn interessierte alles: es gibt kein Gebiet der Wissenschaft, Kunst und Politik, auf dem er sein Talent als Denker und Forscher nicht unter Beweis stellen könnte." 7 K. Dornberger-Schiff schildert, wie sie als deutsche Emigrantin während der Herrschaft des Nationalsozialismus in London bei Bernal als wissenschaftliche Mitarbeiterin Aufnahme fand,8 und L. Pauling hebt hervor: „ O f t konnte er eine klärende Einsicht vermitteln, die auf seinem umfassenden Wissen und seiner außerordentlichen Fähigkeit beruhte, Zusammenhänge zwischen anscheinend weit voneinander entfernten wissenschaftlichen Disziplinen zu erkennen." 9 Die ausgeprägte Fähigkeit, in Zusammenhängen und in der Entwicklung zu denken, war nicht allein Ergebnis seines natürlichen intellektuellen Vermögens, sie war zugleich das Resultat der erarbeiteten einheitlichen Weltanschauung über die Prozesse in der Natur und Gesellschaft. Bernal ist ein Beispiel für die Nutzung der einheitlichen Weltanschauung des dialektischen und historischen Materialismus als Methodologie für seine gesamte Forschungstätigkeit, gleichgültig, welchem Gegenstand der unbelebten und lebenden Materie oder des gesellschaftlichen Lebens er diese Forschungen gerade widmete. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für seine Universalität war auch seine Fähigkeit zur Kooperation und zur Kommunikation. Er, der uneigennützig Anregungen gab, der geradezu sprühte vor Ideen und Vorschlägen, war gleichzeitig in der Lage, sich in die Gedankenwelt anderer hineinzuversetzen und jederzeit ein für alle Beteiligten konstruktives Gespräch zu führen. Er fand Bereitschaft zur Zusammenarbeit, Anerkennung, selbst Zuneigung bei seinen Mitarbeitern und Kollegen auf den verschiedensten Fachgebieten, in der Wissenschaft wie in der praktisch-politischen Tätigkeit. Das ermöglichte es ihm auch, in einem solchen Maße durch seine Persönlichkeit zu wirken, daß nicht allein seine Freunde, sondern auch seine Gegner, sich der von ihm ausgehenden Faszination nicht zu entziehen vermochten. Die Universalität der Kenntnisse, eine hohe Vorstellungskraft, dialektisches Denken in Zusammenhängen sowie die breite Kooperation und Kommunikation kennzeichnen seinen persönlichen Arbeitsstil. Sein individueller Denkstil wurde durch die Röntgenstrukturanalyse, das Entwicklungsdenken und sein gesellschaftliches Verantwortungsbewußtsein entscheidend geprägt.

1

M . V. Volkenstejn, Perekresli nauki, Moskau 1972, S. 230.

8

Vgl. K . Dornberger-Schiff, Wissenschaftler und Friedenskämpfer,

9

S. 443. L. Pauling, Bernais Beitrag zur Strukturchemie,

a. a. O., S. 15.

XVII

in: Wissenschaft und Fortschritt,

10/1972,

Der Naturwissenschaftler J. D. Bernal In seinem Beitrag Wie ich Wissenschaftler wurde für eine von Boris Polewoi vorbereitete Anthologie erinnert er sich, wie er als Kind erstmalig auf die sogenannten x-Strahlen aufmerksam wurde, als ein Knochenbruch bei seiner jüngeren Schwester damit photographiert wurde. 10 Damit war das Samenkorn für sein lebenslanges Interesse an den Röntgenstrahlen gelegt. Doch entscheidend war schließlich eine während seines Studiums in Cambridge verfaßte Arbeit über die Ableitung von 230 kristallographischen Raum-Gruppen. Ein Preis seines Colleges, die Berücksichtigung der Ergebnisse in den „Internationalen Tabellen für Kristallographie" und vor allem die Aufmerksamkeit, die sie bei W. L. Bragg, dem Begründer der Kristallographie, fand, waren nicht nur Ausdruck gewonnener Anerkennung, sondern beeinflußten sein weiteres wissenschaftliches Leben entscheidend. W. L. Bragg verhalf dem jungen Bernal zu einer Anstellung als Assistent in der von ihm geleiteten Royal Institution. Von nun an widmete er sich dem Einsatz der Röntgenstrukturanalyse als Methode, um die verschiedensten anorganischen, organischen und biologischen Substanzen zu untersuchen. 11 Schon seine erste experimentelle Arbeit zur Kristallstruktur des Graphits ergab mit einer von ihm selbst gefertigten Apparatur für Drehkristallaufnahmen grundlegend neue Erkenntnisse. Im Gegensatz zu Annahmen von Bragg zeigte er, daß die Schichten der Kohlenstoffatome eben sind. Dabei entwickelte Bernal eine Methode zur graphischen Auswertung von Drehkristallaufnahmen aufgrund der von P. P. Ewald eingeführten Vorstellung des reziproken Gitters, das als „Bernal-Netz" in die Fachliteratur eingegangen ist. 12 In Cambridge setzte er dann von 1927-1937 seine Strukturanalysen von verschiedenen anorganischen und später auch organischen Stoffen fort. So wurde die Struktur von Metallen und Legierungen, von Silikaten, von verschiedenen organischen Verbindungen aufgeklärt, Röntgendaten auch von komplizierten Verbindungen gesammelt — aus denen er z. B. für das Vitamin wesentliche Schlüsse zog — und wurden in den folgenden Jahren auch Eiweiße und Viren zum Forschungsobjekt seiner Strukturanalysen gemacht. In den Proceedings of the Royal Society, in der Nature, in den Proceedings of the Physical Society, im Journal of the Chemical Society, aber auch in ausländischen Periodika, wie der Zeitschrift für Kristallographie, in Uspechi fiziceskich nauk und in Uspechi chimii veröffentlichte er seit 1926 seine theoretischen Konzeptionen, experimentellen Forschungsergebnisse, zusammenfassenden Darstellungen und Diskussionen mit Fachkollegen über eine weit gefächerte Thematik der Röntgenstrukturanalyse. Das schloß die detaillierten Be10 11

12

Vgl. J. D. Bernal, How I Became A Scientist, Manuskript, S. 1. W. H. und W. L. Bragg, Vater und Sohn, griffen die 1912 von M. v. Laue, W. Friedrich und P. Knipping durchgeführte Beugung der Röntgenstrahlen in Kristallen sofort auf, veröffentlichten bereits 1913 Kristallstrukturbestimmungen von ZnS und NaCl und begründeten mit ihrer Wissenschaftlichen Schule in den folgenden Jahren die Röntgenstrukturanalyse in Großbritannien. Sie bildeten den Anziehungspunkt für junge, begabte Studenten und Mitarbeiter, von denen — auch als künftige Mitarbeiter, Kollegen und Freunde Bernais — W. T. Astbury, K. Lonsdale, I. Fankuchen, M. Perutz genannt seien. Bragg verstand es, als Lehrer die Initiative der bei ihm beginnenden jungen Mitarbeiter in höchstem Grade anzuregen. Das drückt sich u. a. auch darin aus, daß jeder neu beginnende junge Wissenschaftler einige elementare Instrumente erhielt, aber alles weitere, einschließlich der komplizierten Apparatur, selbst lernen mußte, zu konstruieren. Diese Grundschule des experimentellen Physikers mußte auch Bernal durchlaufen. Vgl. J. D. Bernal, The Structure of Graphite, in: Proceedings of the Royal Society, A, 1924, S. 749—773; F. Halla/H. Mark, Leitfaden für die röntgenographische Untersuchung von Kristallen, Leipzig 1937, S. 106ff.; L. Pauling, Bernais Beitrag zur Strukturchemie, a. a. O., S. 15.

XVIII

Schreibungen neu hergestellter unikaler Geräte zur Durchführung der experimentellen Forschungen in sich ein, wie er dies am Beispiel des Röntgen-Photogoniometers demonstrierte. 13 Bereits aus dieser Zeit liegen erste gemeinsame Veröffentlichungen mit sowjetischen Wissenschaftlern vor. 14 Angesichts der zu dieser Zeit noch vorherrschenden Ignoranz des offiziellen Englands gegenüber dem Sowjetstaat ist dies nicht nur biographisch, sondern auch insofern politisch von Interesse, als er damit einen Beitrag zur allmählichen wissenschaftlichen Anerkennung der UdSSR in Großbritannien leistete. Besonders hervorhebenswert ist die Parallelität seiner Forschungen auf fundamentalen theoretischen und angewandten Gebieten. Seine Untersuchungen von metallischen Verbindungen wie z. B. Spezialstählen, die mit Hilfe der Röntgenstrukturanalyse mögliche genauere Bestimmung ihrer chemischen Zusammensetzung, waren von praktischer Bedeutung für die Werkstoffwissenschaft. 15 Auch in den späteren Jahren seines Schaffens kam er vor allem in Verbindung mit der Strukturbestimmung von Silikaten immer wieder auf Forschungen zur Werkstoffproblematik zurück. 16 Schließlich verdienen aus dieser Zeit seine theoretischen und experimentellen Arbeiten zur Theorie des Wassers besonders hervorgehoben zu werden, die er nach dem zweiten Weltkrieg als Theorie des flüssigen Aggregatzustandes weiterführte. 17 In den 30er Jahren verallgemeinerte er seine bisherigen Erkenntnisse und Erfahrungen in einem Aufsatz über die Bedeutung der Röntgenkristallographie für die Entwicklung der modernen Wissenschaft. Danach kann sie dreierlei Arten von Angaben über die Struktur der Stoffe zür Verfügung stellen: Erstens gestattet die Röntgenanalyse, die Lage der Elektronen in den einzelnen Atomen festzustellen. Hier wirkt sie mit der reinen Physik zusammen und bietet die Möglichkeit, die verschiedenen Teilchen der Materie vollständiger zu beschreiben. Zweitens kann mit Hilfe der Röntgenanalyse die Anordnung der verschiedenen Arten von Atomen in den Kristallen festgestellt werden, wodurch wichtige Fragen der Atomstruktur in Festkörpern aufgeklärt werden und damit ein Beitrag zur Chemie geleistet werden konnte. Drittens können schließlich damit besonders kleine Kristalle festgestellt werden. Gegenüber den bisherigen Methoden der Kristallographie hat das Diffraktionsbild der Kristalle den Vorzug, daß es die Möglichkeit eröffnet, die Natur beliebiger und künstlicher Produkte 13

14

15

16

17

Vgl. J. D . Bernal, A Universal X-Ray Photogoniometer, in: Journal of Scientific Instruments, 9/1927; 8 - 9 / 1 9 2 8 ; 10/1929; 11/1929. Vgl. J. D . Bernal/E. Djatlova/I. Kasarnowsky/S. Reichstein/A. G. Ward, The Structure of Strontium and Barium Peroxides Sr02 and Ba02, in: Zeitschrift für Kristallographie, 1935, S. 344—354; J. D. Bernal/I. Tamm, Zero Point Energy and Physical Properties of H20 and D20, in: Nature, 1935, S. 229. Vgl. J. D. Bernal, The Complex Structure of the Copper-Tin in Intermetallic Compounds, in: Nature, Bd. 122, 1928, S. 54; J. D. Bernal, Ergebnisse der modernen Metallforschung, in: Ergebnisse der Technischen Röntgenkunde, Bd. 2, 1931, S. 2 0 0 - 2 3 9 . Vgl. J. D. Bernal, The Structures of Cementhydration Compounds, in: Proceedings 3rd International Symposium on the Chemistry of Cement, London 1954, S. 216—260. Vgl. J. D. Bernal/R. H. Fowler, A Theory of Water and Ionic Solution with Particular Reference to Hydrogen and Hydroxyl Ions, in: Journal Chemical Physics, 8/1933, S. 515—548; J. D . Bernal/ H. Megaw, The Function of Hydrogen in Intermolecular Forces, in: Proceedings of the Royal Society, A, 1935, S. 384—420; J. D . Bernal, Physics of Water and Ice, in: Nature, 1958, S. 380—382; J. D. Bernal, The Structure of Liquids, in: Proceedings of the Royal Institution, 1959, S. 355—393; J. D. Bernal, A Geometrical Approach to the Structure of Liquids, in: Nature, 1959, S. 141 —147.

XIX

zu erforschen. Das verbindet die Röntgenstrukturanalyse auf der einen Seite mit der Biologie und auf der anderen Seite mit der Technologie.18 Obwohl der Naturwissenschaft heute modernere Methoden und Instrumentarien zur Verfügung stehen, wurde diese zusammenfassende Verallgemeinerung wiedergegeben, um den Bernalschen Übergang von experimentellen Methoden zur Methodologie naturwissenschaftlicher Forschung zu veranschaulichen. Weit über die Röntgenkristallographie hinausgehend wurde als methodologisches Prinzip die Strukturanalyse bestimmend für sein gesamtes Herangehen. Und da sich die Röntgenstrukturanalyse zu seiner Zeit am besten dazu eignete, nutzte er sie vielfaltig und entwickelte sie seinen Erfordernissen entsprechend weiter. Auch aus späteren Jahren von ihm vorliegende Verallgemeinerungen demonstrieren den von ihm stets verwirklichten Zusammenhang von Forschungsgegenstand, eingesetzter Methode, der zugrunde liegenden Methodologie und schließlich der theoretischen Verallgemeinerung.19 Insofern war der verallgemeinernde Aufsatz aus dem Jahre 1950 mehr als eine Erweiterung oder Ergänzung des von 1932 an inzwischen neu ausgewählten Untersuchungsprojekten. Die seitdem an neuen komplizierten organischen Verbindungen wie Faserstoffpolymeren und vor allem biologischen Substanzen — wie Penicillin, Eiweiße und pflanzlichen Viren — durchgeführten Forschungen stellen neue Anforderungen an die einzuführenden Methoden und Instrumentarien. Sie verlangen dementsprechend auch die Erweiterung und Vertiefung der methodologischen Grundlagen für ihre Anwendbarkeit auf die Spezifik komplizierter organischer Verbindungen und vor allem biologischer Substanzen und ermöglichten ihm auf diese Weise neue theoretische Einsichten. Mehrere seiner Arbeiten sind zum festen Bestandteil der kristallographischen Fachliteratur geworden. 20 J. D. Bernal gehört zu der Phalanx von Physikern, die — wie E. Schrödinger, N. Bohr, M. Delbrück, W. Friedrich — in diesem Jahrhundert einen großen Beitrag zur Begründung der modernen Biowissenschaften leisteten. Dieses Interesse für die lebende Materie ist bei ihm zweifachen Ursprungs. Einmal war es die Konsequenz seines mit der Röntgenstrukturanalyse eingeschlagenen Weges, immer neue und kompliziertere Stoffe auszuwählen und zu erforschen. Das führte ihn bald über anorganische und organische Stoffe bereits in den 30er Jahren zu biologischen Substanzen. Zum anderen drängte es ihn von früher Jugend an, den Ursprung des Lebens zu ergründen. Diese die Menschheit von Anfang an interessierende Frage, die sich bis in das 20. Jahrhunder als rätselhaft, sagenumwittert, Mythen und Religionen begründend darstellt, begriff er als eine naturwissenschaftliche Herausforderung für sein eigenes materialistisches Weltbild. Sein 1947 dieser Thematik gewidmeter Vortrag über die physikalischen Grundlagen des Lebens, der zwei Jahre später veröffentlich wurde, 21 leitete die ihn bis zu seinem Tode beschäftigende unmittelbare Forschung hierzu ein. Er war aber bereits das Ergebnis jahrzehntelanger Beschäftigung mit diesem Gegenstand. Der Beginn seiner experimentellen Arbeiten zu biologischen Substanzen liegt in den Anfangen der 30er Jahre. 1931 veröffentlichte er mit W. T. Astbury, mit dem ihn eine 18

19

20 21

Vgl. Ds. D . Bernal, Znacenie rentgenokristallografii v razvitii sovremennoj nauki, in: Uspechi chimii, Bd. 1, 2 - 3 / 1 9 3 2 , S. 274. Vgl. J. D. Bernal, The Past and Future of X-Ray Crystallography, in: Journal of the Chemical Society, 1946, S. 643—646; Ds. D. Bernal, Znacenie structurnogo analiza kristallov v sovremennoj nauke, in: Uspechi chimii, Bd. 19, 4/1950, S. 4 0 1 - 4 1 8 . Vgl. F. Halla/H. Mark, Leitfaden . . ., a. a. O., S. 9 1 - 9 6 , 100, 106, 262, 300, 324, 326. Vgl. J. D. Bernal, The Physical Basis of Life, in: The Proceedings of the Physical Society, Bd. 62.9, 1949, S. 5 3 7 - 5 5 8 .

XX

lebenslange Freundschaft verband, eine Untersuchung über die Röntgenstrukturanalyse der Grünalgen. 22 Etwa 1934 setzten ihre gemeinsamen Forschungen zu den Proteinen ein. J. Law, der als Soziologe die Herausbildung der Protein-Kristallographie analysierte, stellte fest, daß die Proteinforschung in Großbritannien Ende der 20er Jahre aufgenommen wurde. Astbury und Bernal „waren gemeinsam mit einigen ihrer Schüler die einzigen britischen Kristallographen, die in den 30er Jahren wichtige Arbeiten über die Proteine leisteten, ein Monopol, das sie in hohem Maße bis in die 50er Jahre innehatten" 23 . 1934 veröffentliche Bernal mit seiner Schülerin D. Crowfoot, der späteren Nobelpreisträgerin D. Hodgkin, Untersuchungsergebnisse über kristallines Pepsin. 24 J. Law wertet diese wie folgt: „Bis zu der Arbeit von Bernal 1934 waren keine guten Röntgenbeugungsaufnahmen von einem Ein-Kristall erzielt worden. Es war einer von Bernais größten Triumphen, daß er in der Lage war, zu zeigen, daß, wenn er ein Diffraktionsbild von geeignet feuchten Kristallen aufnahm, die Photographie die Existenz von Details bis hinunter zum atomaren Niveau offenbarte." 25 Auch D. C. Philipps, der Mitte der 50er Jahre mit seinen Proteinforschungen begann, räumt dieser Arbeit rückblickend eine besondere Bedeutung ein: „Dank Bernais glücklicher Inspiration, die Kristalle während des Experiments in Kontakt mit ihrer Mutterlauge zu halten, zeigten die Photographien eindeutig, daß in den Kristallen eine sehr regelmäßig atomare Anordnung vorliegt, die prinzipiell bestimmt werden kann. Ungeachtet früher Anregungen von Bernal dauerte es bis 1954, daß M. Perutz sicher aufzeigte, wie solche Strukturen aufgeklärt werden können, und weitere sechs Jahre verstrichen, bis J. Kendrew und seine Kollegen in der Lage waren, im Detail zu zeigen, wie die Atome im Myoglobin angeordnet sind." 26 Besondere Bedeutung gewannen auch die Arbeiten zur Aufklärung der Struktur der Tabakmosaikviren (TMV). Sie wiesen in eine entscheidende Richtung zur Erforschung der Struktur der DNS, die schließlich F. H. C. Crick gemeinsam mit J. D. Watson 1955 gelang und wofür beide mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden. Watson schreibt dazu in seiner legeren und etwas jovialen Art: „Der TMV war zudem bereits von J. D. Bernal und I. Fankuchen röntgenographisch untersucht worden. Das war an sich schon grauenhaft, denn Bernais gewaltiges Gehirn war sprichwörtlich und ich konnte nicht hoffen, je auch nur annähernd so viel von kristallographischer Theorie zu kapieren wie er. Große Abschnitte des klassischen Aufsatzes, den Bernal und Fankuchen kurz nach Kriegsbeginn im Journal of General Physiology' veröffentlicht hatten, blieben mir unverständlich. Merkwürdig, ihn gerade da erscheinen zu lassen, aber Bernal war von den Kriegsanstrengungen in Anspruch genommen, und Fankuchen, der gerade in die Staaten zurückgekehrt war, beschloß, ihre Ergebnisse in einer Zeitschrift unterzubringen, die von allen an Viren interessierten Lesern gelesen wurde. Nach dem Krieg verlor Fankuchen das Interesse an Viren. Bernal betrieb zwar noch hier und da ein bißchen Protein-Kristallogra-

22

23

24 25 26

Vgl. W. T. Astbury/T. C. Marwick/J. D. Bernal, X-Ray Analysis of the Wall Proceedings of the Royal Society, B, Bd. 109, 1931, S. 443—450. J. Law, The Development of Specialities in Science: the Case of X-Ray Protein Studies, 1973, S. 281. Vgl. J. D. Bernal/D. Crowfoot, X-Ray Photographs of Crystalline Pepsin, in: J. Law, The Development of Specialities in Science, a. a. O., S. 283. D. C. Philipps, The Development of Crystallographic Enzymology, in: British Biochemistry, Past and Present, London 1970, S. 11.

XXI

of Valonia Ventricosa, I, in: Crystallography,

in: Science

Nature, 1934, S. 794. T. W. Goodwin (Hrsg.),

phie, kümmerte sich aber mehr um die Verbesserung der Beziehungen zu den kommunistischen Staaten." 27 Der Biologiehistoriker R. Olby hat in seinem Buch über die Vorgeschichte der Entdeckung der Doppelhelix den Beitrag der von der strukturellen Schule zur Biologie gekommenen Physiker — und dabei auch besonders Bernais — sehr hoch bewertet. 28 Er hat ihm in dem von F. Crick mit einem Vorwort eingeleiteten Buch längere Ausführungen gewidmet, unter anderem einen speziellen Abschnitt über die Bernal-Schule auf diesem Gebiet. Olby ist auch anhand von Bernal-Briefen an Fankuchen nach dessen Rückkehr nach Amerika, der Frage nachgegangen, weshalb der vorgezeichnete Weg von ihnen nicht weiter verfolgt wurde. Bei Bemal ist das nicht allein dem Umstand zuzuschreiben, daß er, wie so oft nach einer vollzogenen perspektivischen Initiativarbeit auf einem neuen Gebiet, mithalf, den wissenschaftlichen Boden zu bereiten. Bernal brach bei Kriegsbeginn eine wissenschaftliche Vortragsreise durch die USA ab und kehrte nach Großbritannien zurück, um sich als Wissenschaftler voll der Verteidigung seiner Heimat zur Verfügung zu stellen. Er drängte Fankuchen, die gemeinsame Arbeit fortzusetzen, unterbreitete ihm auch konkrete Vorschläge für die Weiterführung, doch gingen dessen Interessen in eine andere Richtung. 29 Es ist hier nicht der Platz, die detaillierten Darstellungen Olbys wiederzugeben, es kann nur die fachwissenschaftliche Einordnung des bleibenden Beitrages Bernais für die noch junge Molekularbiologie hervorgehoben werden. Olby, aber auch andere Autoren — wie jüngst A. Leisewitz — zählen ihn sogar zu deren Vätern. 30 Für seinen Beitrag zur Erforschung der molekularen Grundlagen der Biologie wurde er 1945 von der Royal Society mit einer ihrer höchsten Auszeichnungen, der Royal Medal, geehrt. Bernal setzte nach dem Sieg über den Hitlerfaschismus seine Forschungen über die Struktur der Eiweiße und der Silikate fort und führte kristallographische Forschungen über den Portland-Zement sowie andere Werkstoffe für das Bauwesen und später auch von Flüssigkeiten durch. Doch widmete er sich in den folgenden Jahren zunehmend einer Thematik, die wiederum in die vorderste Front wissenschaftlicher Forschung führte, gründliche Kenntnisse auf vielen Wissensgebieten und besonders ausgeprägtes synthetisches Denken erforderte sowie voller weltanschaulicher Brisanz war: die Entstehung des Lebens auf der Erde. Das Thema beschäftigte ihn seit seiner Jugend. Sein frühes Interesse erhielt durch die materialistisch fundierten Arbeiten von A. I. Oparin (1924) und J. B. Haidane (1929) über die chemische Evolution des Lebens Inhalt und Richtung. „Mir schien, daß ich mich gerade mit dieser Frage beschäftigen sollte, und mich zog dabei das rein Theoretische ihrer Erforschung an. Doch war die Atmosphäre zu jener Zeit — und ist es sicher auch noch in der heutigen — in Cambridge so, daß ihr jeglicher Geist theoretischen Spekulierens fremd war. Das wurde als unseriöse Beschäftigung angesehen. Rutherford sagte nicht nur einmal: ,Möge keiner aus meinem Laboratorium versuchen, über das Universum nachzu-

27

28

29 30

J. D . Watson, Die Doppel-Helix. Ein persönlicher Bericht über die Entdeckung der DNS-Struktur, Hamburg 1969, S. 144. Vgl. R. Olby, The Path to the Double Helix. Foreword by F. Crick, London 1974, Kap. 16: Physicists and Chemists in Biology: The Structural School. Vgl. ebenda, S. 261/262. Vgl. ebenda. S. 249ff.; C. P. Snow, J. D. Bernal. A Personal Portrait, in: M. Goldsmith/A. Mackay (Hrsg.), The Science of Science, London 1964, S. 24; A . Mackay, J. D. Bernal (1901—1971), in: Voprosy istorii estestvoznanija i techniki, 2/1973, S. 27; A. Leisewitz, Von der Darwinschen Evolutionstheorie zur Molekularbiologie. Wissenschaftshistorische und -soziologische Studien zu einer materialistischen Geschichte der Biologie, Köln 1982, S. 356.

XXII

denken.' Ebenso entschieden schnitt er auch alle Diskussionen über die Anwendung der Kernenergie ab, was alles aus der ihm eigenen Vorsicht und dem traditionellen Geist des Empirismus zu erklären ist." 31 Die Hemmnisse waren demnach entscheidend weltanschaulicher Natur. Das war aber zugleich die Problematik, die Bernal besonders anzog, was auch Oparin an Hand der ersten veröffentlichten Arbeiten Bernais hervorhebt: „Tief interessiert an philosophischen Problemen der Naturwissenschaften, konnte Bernal nicht am Rätsel der Entstehung des Lebens, einem der wichtigsten weltanschaulichen Probleme der Gegenwart, vorbeigehen." 32 Bernal berichtet, daß diese Arbeiten noch keine besonders positive bzw. aufmerksame Aufnahme fanden. „Viele meiner alten Freunde — Biologen und Biochemiker — verhielten sich ablehnend gegenüber meiner Arbeit." 33 Ungeachtet dessen setzte er seine Forschungen hierzu fort, beteiligt sich an dem ersten Internationalen Symposium über die Entstehung des Lebens auf der Erde 1957 in Moskau, hielt auf dem V. Internationalen Kongreß für Biochemie 1961 einen Vortrag über Kosmische Aspekte der Entstehung des Lebens, referierte 1963 auf einer Konferenz in Florida über den Ursprung präbiologischer Systeme34 und veröffentlichte als letztes Buch seines Lebens 1967 das eingangs von Oparin gewürdigte The Origin of Life. Es ist in gewisser Hinsicht eine Konsequenz, aber auch ein Vermächtnis seines naturwissenschaftlichen Schaffens insgesamt. Bis weit in unser Jahrhundert hinein herrschte in den Naturwissenschaften ein mechanistisches Herangehen bei der Entwicklung von Hypothesen und Theorien über das Wesen des Lebens vor. Danach war die Entstehung des Lebens auf der Erde auf einen außerordentlich seltenen, nicht wiederholbaren „glücklichen Zufall" zurückzuführen und deshalb der wissenschaftlichen Analyse nicht zugänglich. Es war mehr ein Gebiet des Glaubens als des exakten Wissens. Noch 1932 hob F. Hopkins als Präsident der Royal Society die völlige Unwissenheit der Wissenschaftler über dieses „unwahrscheinliche Ereignis in der Geschichte des Universums" 35 hervor. Im Gegensatz dazu haben Oparin und Haidane unabhängig voneinander auf der Grundlage eines dialektisch-materialistischen Verständnisses des Lebens ein Konzept entwickelt, das die Entwicklung des Lebens auf der Erde als ein gesetzmäßiges Ereignis, als einen notwendigen und nicht wegzudenkenden Teil der Gesamtentwicklung des Universums ansieht und damit auch einer wissenschaftlichen Erforschung zugänglich macht. Das war auch die Maxime für Bernais Herangehen. Die für die Aufklärung dieser komplizierten Problematik notwendigen kosmologischen, astronomischen, geochemischen und geologischen Forschungen der Physik, der physikalischen, organischen und Kolloidchemie, die elektronenmikroskopischen Analysen der Zellstruktur, vergleichende biochemische Untersuchungen über den Stoffwechsel heute existierender und paläontologischer Organismen ver31

32 33

34

35

Ds. D. Bemal, Vozniknovenie zizni, pod red. i s predisloviem akad. A. I. Oparina, Moskau 1969 (Übers, aus dem Engl.), S. 14. W. I. Oparin, Predislovie k russkomu izdaniju, in: ebenda, S. 6. Ds. D. Bernal, Vozniknovenie zizni, a. a. O., S. 16. — Diese Reaktion bezog sich auf den 1949 von ihm in den Proceedings of the Physical Society veröffentlichten Aufsatz The Physical Basis of Life (in: Bd. 62.9, S. 5 3 7 - 5 5 8 ) . Vgl. J. D. Bernal, The Problem of Stages in Biopoesis, in: Mezdunarodnaja konferencija po probleme proizchozdenija zizni, Moskau 1957; J. D. Bernal, The Sale of Structural Units in Biopoesis, in: ebenda; J. D. Bernal, The Origin of the Life on this Earth, in: Marxism Today, 1/1957, S. 50—56; J. D. Bernal, Cosmic Aspects of the Origin of Life, in: Proceedings of the Fifth International Congress of Biochemistry, 1963; J. D. Bernal, Molecular Matrices for Living Systems, in: Proceedings of the Symposium ,The Origin of Prebiological Systems and their Molecular Matrices1', Florida 1963. A. I. Oparin, Predislovie, in: Ds. D. Bernal, Vozniknovenie zizni, a. a. O., S. 6.

XXIII

langen ein umfassendes Konzept Detailkenntnisse und alle Einzelergebnisse zusammenfassenden synthetischen Denkens. All dies brachte Bemal als Voraussetzungen mit. Sein Buch ist ein bleibendes Zeugnis für die Integration der zu diesem Zeitpunkt ihm bekannten Einzelergebnisse auf der Grundlage seiner Konzeption einer evolutionären Biochemie mit einer ausgesprochenen Orientierung auf Fragestellungen für die weiterführende Forschungsarbeit. Bernal beschreibt sein Herangehen folgendermaßen: „In dem Maße, wie das Problem des Ursprungs des Lebens heute mehr Fragen aufwirft, als es Antworten gibt, ist es sicher sinnvoll, eine neue Art des wissenschaftlichen Buches zu schaffen oder besser eine alte Tradition wieder zum Leben zu erwecken — ich meine Bücher, die aus Fragen bestehen. Diese Tendenz fand ihren Ausdruck in der vorliegenden Arbeit. Ich begann sie wie üblich mit einer historischen Einleitung, dabei unterstreichend, daß das Problem als solches in einer Zeit, wo alles Leben als gewisse natürliche Erscheinung der Evolution von Lebensprozessen betrachtet wurde, nicht entstand; in späteren Zeiten, als die Frage schon gestellt worden war, konnte darauf nicht geantwortet werden, da die dazu notwendigen Wissenschaften, — besonders die Molekularbiologie — noch nicht begründet waren. Danach gehe ich zu einer ausführlichen Beschreibung der wahrscheinlichen Abfolge der Ereignisse über, die zum Entstehen des Lebens auf der Erde oder anderen geeigneten Planeten fuhren konnte." 36 Oparin hebt den anregenden, schöpferischen Charakter gerade dieses Herangehens besonders hervor. „Obwohl in Bernais Buch relativ viele subjektive Aussagen enthalten sind, kann man das eher als einen Vorzug, denn als einen Nachteil seines Werkes ansehen. Die scharf formulierten Widersprüche sind keineswegs eine Bremse bei der Lösung eines wissenschaftlichen Problems, sondern im Gegenteil dienen sie als Triebkraft bei dieser Arbeit. Sie stimulieren die Durchführung zusätzlicher Betrachtungen und neuer Experimente, die letztendlich die strittigen Fragen klären können. Ich werte das Buch Bernais als einen wichtigen und wertvollen Beitrag in der kollektiven Arbeit der Wissenschaftler zur Lösung des Problems des Ursprungs des Lebens. Zweifellos hilft es unserem weiteren Aufstieg zu den Höhen der Biologie der Zukunft." 3 7 Auch Nobelpreisträger J. Kendrew hebt die einzigartige Eignung und den schöpferischen Charakter des Vorgehens Bernais hervor: „In jeder Hinsicht ist Desmond Bernal der ideale Autor eines Buches über den Ursprung des Lebens. Er ist ein Wissenschaftler von hohem Rang in einer Reihe unterschiedlicher Gebiete, und wie viele gute Wissenschaftler ist er voller Neugier. Weiter, und hier ist er nicht so typisch, liebt er die Spekulation, eine Art von Forschungen, die die meisten Wissenschaftler fürchten, da sie sie nicht für sehr respektabel halten. . . . Viele Wissenschaftler, die der Spekulation nachgehen, fühlen sich schuldig, Bernal jedoch sind schuldhafte Gefühle fremd. Darüberhinaus ist er sogar bereit, zuzulassen, daß die Spekulation ihn von Zeit zu Zeit auf den falschen Weg führt." 3 8 Bernal gab eine sehr allgemeine Bestimmung des Lebens: „Leben ist eine teilweise kontinuierliche, fortschreitende, vielgestaltige und unter bestimmten Bedingungen wechselwirkende Selbstverwirklichung der Möglichkeiten, die durch die Lage der Elektronen in den Atomen gegeben sind." 39 Von bestimmten Eigenschaften des Lebens wie Stoffwechsel, Wachstum, Vermehrung, Vererbung, Mutation, Evolution, Bewegung, Reizbarkeit u. a. wird dabei völlig abstrahiert. Allein die „physikalische Herkunft" des Autors vermag dies wohl nicht ausreichend zu er36 37 38 39

Ds. D. Bernal, Vozniknovenie zizni, a. a. O., S. 20/21. A. I. Oparin, Predislovie, in: ebenda, S. 8—11. J. Kendrew, Haidane, Bernal and the Origin of Life, in: The Lis tener vom 1. August 1968. Ds. D. Bernal, Vozniknovenie zizni, a. a. O., S. 20, 213/214.

XXIV

klären. Vielmehr ist es das zentrale weltanschauliche Anliegen des gesetzmäßigen Übergangs von der unbelebten zur belebten Materie, ihr innerer Zusammenhang und die biochemische Evolution in der Geschichte des Universums, was ihn bewegt. Das kommt auch in folgender Begebenheit zum Ausdruck: „Im Jahre 1946 hatte ich in Princeton ein interessantes Gespräch mit Einstein zu dieser Frage. Diesem Gespräch entnahm ich die Schlußfolgerung, daß dem Leben noch ein Element eigen ist. Obwohl es sich logisch von den Elementen der Physik unterscheidet, ist es in keinem Fall mystisch, es ist das Element der Geschichte. Alle Erscheinungen, die durch die Biologie erforscht werden, bilden eine ununterbrochene Kette von Ereignissen, und jedes nachfolgende Glied läßt sich nicht erklären, wenn man nicht die vorhergehenden berücksichtigt. Die Einheit des Lebens geht aus seiner gesamten Geschichte hervor, und es stellt folglich die Widerspiegelung seines Ursprungs dar." 40 Diesem Entwicklungsdenken für die Erklärung der zahlreichen Übergänge von der unbelebten zur belebten Materie über die chemische und präbiologische zur biologischen Evolution galt seine Aufmerksamkeit und hat in der biologischen Fachliteratur als bleibendes Verdienst Bernais Anerkennung gefunden. 41

J. D. Bernal als Gesellschaftswissenschaftler Bernais Vielseitigkeit beschränkte sich nicht auf die verschiedenen Bereiche der Naturwissenschaften. Mit vollem Recht kann man sagen, daß er sich nicht nur auch gesellschaftswissenschaftlich betätigte. Er war ein marxistischer Gesellschaftswissenschaftler. Diese gesellschaftswissenschaftliche Aktivität war doppelten Ursprungs. Sie resultierte einmal aus seinem politischen Entwicklungsweg und den praktischen Erfordernissen der gesellschaftlichen Entwicklung, denen er sich lebenslang verpflichtet fühlte. Zum anderen war es aber auch eine Konsequenz seines wissenschaftlichen Interessenspektrums und Vorgehens. Es ließ ihn beim Übergang von der Erforschung der anorganischen zur organischen und schließlich lebenden Materie nicht haltmachen, sondern auch das soziale Leben und die gesellschaftlichen Prozesse in seine wissenschaftlichen Untersuchungen einbeziehen. Im Vorwort zu einer Sammlung früher gesellschaftswissenschaftlicher Aufsätze weist Bernal selbst darauf hin, daß dieses Vordringen von Gesetzen der Natur zu Gesellschaftsgesetzen für ihn ein Erkenntnisweg war. 42 Parallel mit seiner zunehmend politischen Aktivität und seinen Forschungen als Kristallograph begann er bereits in den 20er Jahren mit der Veröffentlichung gesellschaftswissenschaftlicher und politisch-publizistischer Aufsätze. 1929 erschien seine Broschüre The World, the Flesh and the Devil, in der sich seine damaligen weltanschaulich bestimmten Ideen zur Lösung der die Menschheit und den einzelnen Menschen bewegenden Probleme widerspiegeln. Auch der 1949 erschienene Essay-Band The Freedom of Necessity enthält Aufsätze aus den 30er und frühen 40er Jahren, wie Engels und die Wissenschaft, Dialektik der Natur, Jahrhundert des Marxismus u. ä. 40 41

42

Ebenda, S. 15. Vgl. Istorija biologii s nacala veka do nasich dnej, Moskau 1975, S. 428/429, 433/434; M. Rutten, Proischozdenie zizni (estestvennymputem), Moskau 1973 (Übers, aus dem Engl.), S. 67, 76/77, 91, 99, 103, 126/127, 136, 175, 299; R. S. Karpinskaja, Philosophie und Molekularbiologie, Berlin 1974 (Übers, aus dem Russ.), S. 15, 18, 32, 90/91,93,95, 159, 162, 169;U. Körner, Probleme der Biogenese, Jena 1978, S. 56, 110, 126/127, 172. Vgl. J. D. Bernal, The Freedom of Necessity, London 1949, S. VII ff.

XXV

Beide Bände spiegeln die geistig-weltanschauliche Entwicklung Bernais zu einem die marxistische Theorie bereichernden Gesellschaftswissenschaftler wider. Er wurde zum Marxisten und Leninisten über die praktische politische Tätigkeit, durch das Studium der Werke von Marx, Engels und Lenin, über das Erlebnis der Sowjetunion als die verwirklichte gesellschaftliche Alternative sowie durch das selbständige Suchen und Finden von Antworten für drängende gesellschaftliche Probleme. Der vorliegende Band Die soziale Funktion der Wissenschaft aus dem Jahre 1939 war Bernais erste zusammenfassende schöpferische Darstellung seiner marxistischen Position, die inzwischen ihren bleibenden Platz in der Geschichte der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften gefunden hat. Dieses Buch bildet zugleich die Grundlage für seine späteren gesellschaftswissenschaftlichen Arbeiten, die sich alle um die Problematik von Wissenschaft, Menschheitsfortschritt und Friedenssicherung unter besonderer Beachtung der sich daraus ergebenden praktischen Konsequenzen gruppieren. Die Wissenschaft im Kampf um Frieden und Sozialismus, eine 1949 gemeinsam mit M. Cornforth verfaßte Schrift, läßt Bernal auf dem Hintergrund der Nachkriegssituation und des von den Westmächten entfachten „Kalten Krieges" gegen die Welt des Sozialismus die Auswirkungen auf die Wissenschaft, die Folgen für den einzelnen Wissenschaftler und dessen Verpflichtung analysieren. Er kommt auf diese Thematik in den folgenden Jahren immer wieder zurück und bringt sie in seinem Buch Welt ohne Krieg 1958 in eine neue zusammenfassende Darstellung. Es sind keine frommen Friedenswünsche oder bloße Appelle, sondern nüchterne Analyse, eindeutige politische Beurteilung und konkretes Programm. Es vereinigt weltwirtschaftliche Analyse mit den Perspektiven einer internationalen Friedensordnung, untersucht die jeweiligen politischen Kräftekonstellationen und zeigt immer wieder die Möglichkeiten und die Verantwortung der Wissenschaft für dieses Ziel einer Welt ohne Krieg. Lange bevor die Energieproblematik zu einem internationalen Alltagsthema wurde, behandelt er das Energieproblem unter politisch-strategischen, wirtschaftlichen und wissenscchaftlich-technischen Aspekten. 43 Gleiches gilt für die weltweite Lösung des Ernährungsproblems und die Überwindung der ökonomischen Rückständigkeit der ehemals noch kolonialen Länder Asiens und Afrikas. Und immer wieder verbinden sich politische und ökonomische Aussagen mit seinen Kenntnissen der Naturwissenschaften über die gegenwärtigen und künftigen Möglichkeiten der Geologie, Physik, Chemie, Bio- und Landwirtschaftswissenschaften zur Lösung dieser gesellschaftlichen Probleme. 44 In gleicher Weise verfolgte Berilal die wissenschaftshistorischen Probleme, die in vorliegendem Buch behandelt werden, in zahlreichen Arbeiten wieder. Marx und die Wissenschaft (1952), Science and Industry in the Nineteenth Century (1953) und die nach seinem Tode erschienene Geschichte der Physik bis 1900, The Extension of Man (1972), verdeutlichen zugleich die Breite und Solidität, auf denen sein historisches Hauptwerk, Die Wissenschaft in der Geschichte (1954), basiert. Die Mitarbeit an der von seinem Fachkollegen P. P. Ewald herausgegebenen Geschichte der Kristallographie, die Darstellung des Beitrags L. Paulings für die Entwicklung der Molekularbiologie, die Gedenkartikel für W. T. Astbury, R. Franklin, P. Langevin,

43

44

J. D. Bemal/M. Cornforth, Die Wissenschaft

s.u.

im Kampf

r

Vgl. J. D. Bernal, Welt ohne Krieg, Berlin 1960.

XXVI

um Frieden und Sozialismus,

Berlin 1950,

S. I. Vavilov und andere sind darüberhinaus persönliche Zeugnisse wissenschaftlicher Zeitgeschichte. 45 Sie veranschaulichen, wie Bernal die ideengeschichtliche und biographische Methode beherrschte. Die Wissenschaft in der Geschichte ist in ihrem Herangehen vom Anliegen des vorliegenden Buches der sozialen Funktion der Wissenschaft bestimmt und rückt die Wirkungen der Wissenschaft auf die Gesellschaft in den Mittelpunkt. Marx und Engels in ihren wissenschaftshistorischen Arbeiten folgend, erwies sich diese soziologische Methode als außerordentlich fruchtbar und anregend für eine umfassende Wissenschaftsgeschichte. Das inzwischen mehrfach aufgelegte und übersetzte Werk Bernais ist seit etwa dreißig Jahren die international verbreitetste und anerkannteste zusammengefaßte Wissenschaftsgeschichte eines einzelnen Autors. Bernal nahm aber auch unmittelbaren Einfluß auf die wissenschafts- und bildungspolitische Diskussion. Auch hierbei, läßt sich von dem vorliegenden Buch ein kontinuierliches Bestreben zur Beantwortung neuer, herangereifter und vor allem für die Durchsetzung drängender Probleme weiterverfolgen. Bernais fortgesetzte Bemühungen um eine Überwindung der sozialen Diskriminierung in der britischen Volksbildung, um den Inhalt und die Aufgaben des Bildungswesens in den Entwicklungsländern sowie Forschungen für die den gesamten Erdball umfassende, neu zu gestaltende Welt seien erwähnt. 46

Der Politiker J. D. Bernal Bereits die bisherigen Ausführungen machen sichtbar: Bernal war zugleich und stets Politiker. Politisch verantwortungsbewußter und wirksamer Wissenschaftler wäre nicht treffend genug, er war unmittelbar Politiker. Er initiierte Aktionen und beteiligte sich an Aktivitäten: in Cambridge und London, in Großbritannien insgesamt und in der internationalen Arena. Bei der Organisation der Association of Scientific Workers und der Anti-War-Group, als politischer Publizist in kommunistischen und anderen progressiven Presseorganen und als Spezialist der alliierten Truppen im zweiten Weltkrieg, bei der Gründung und Führung der Weltföderation der Wissenschaftler und der Weltfriedensbewegung — stets war er „spiritus rector" und rastlos Beteiligter in der täglichen Kleinarbeit.

45

46

Vgl. J. D. Bemal, British and Commonwealth School of Crystallography, in: P. P. Ewald (Hrsg.), 50 Years of JY-Ray Diffraction, Utrecht 1962, S. 374—404; J. D. Bernal, The Pattern of Linus Pauling's Work in Relation to Molecular Biology, in: A. Rich/N. Davidson (Hrsg.), Structural Chemistry and Molecular Biology, San Francisco—London 1968, S. 370—379; J. D. Bernal, W. T. Astbury (1898—1961), in: Royal Biographical Memoirs, 1963, S. 1—35; J. D. Bernal, I. Fankuchen, in: Nature, 1964, S. 916/917; J. D. Bernal, R. E. Franklin, in: Nature, 1958, S. 154; J. D. Bernal, Vorwort zu: F. Joliot-Curie, Wissenschaft und Verantwortung, Berlin 1962, S. 7—9; J. D. Bernal, P. Langavin, For Mem. R. S. (1872—1946), in: Nature, 1947, S. 798/799; J. D. Bernal, Academician S. I. Vavilov, in: Nature, 1951, S. 679. Vgl. J. D. Bernal u. a., The Public Schools in Great Britain, in : Nature, 1942, S. 351 ; J. D. Bernal, Science for a Developing World, London 1963; J. D. Bernal, Beginn der wissenschaftlichen Forschung in den Entwicklungsländern, in: Wissenschaftliche Welt, 1/1965, S. 27—31; J. D. Bernal, Wissenschaft und Technik in der Welt der Zukunft, in: Internationales Symposium über Hochschulbildung, Moskau 1962, S. 53—75.

XXVII

Er hat persönlichen Anteil daran, daß sich die Association of Scientific Workers zunehmend von einer berufsständischen zu einer gewerkschaftlichen Charakter annehmenden Organisation entwickelte. 47 Es zeugt von der patriotischen Haltung des Kommunisten und Friedenskämpfers Bernal, wie er mit den etwa 80 Mitgliedern seiner Cambridger Anti-War-Group die Wirksamkeit der getroffenen M a ß n a h m e n zum Schutz der britischen Zivilbevölkerung und einer eventuellen Gas-Kriegsführung technisch-experimentell untersuchte und dazu 1937 ein aufsehenerregendes Buch vorlegte. 48 Von da an datiert seine Berufung als wissenschaftlicher Experte des britischen Ministeriums für zivile Sicherheit, für die er sich sofort mit Kriegsbeginn zur Organisation technisch-wissenschaftlicher Arbeiten für den Luftschutz der Zivilbevölkerung und die Abwehr von Luftangriffen der faschistischen Luftwaffe voll zur Verfügung stellte. Er legte d a f ü r fast alle seine Funktionen nieder und brach einmal mehr in seinem Leben vielversprechende wissenschaftliche Experimente ab, dieses Mal die weitere Strukturaufklärung der Viren. In diese Zeit fallt such das Erscheinen des vorliegenden Buches, und es läßt sich ermessen, welch ungeheurer Anstrengung es bedurfte, um — von zahlreichen anderen Aktivitäten abgesehen — drei so bedeutsame Aufgaben, wie die Untersuchungen des Tabakmosaikvirus, die Arbeit am Buch Die soziale Funktion der Wissenschaft und die Organisation des zivilen Luftschutzes zur gleichen Zeit durchzuführen. Welche Bedeutung Großbritanniens herrschende Kreise der vorgelegten Analyse und einem darauffolgenden Anhören Bernais vor einer Regierungskommission beimaßen, geht aus der Bemerkung Sir J. Andersons, eines leitenden Geheimdienstmitarbeiters hervor, daß er Bernal als Berater haben wolle, und wenn er „so rot wie die Flammen der Hölle wäre". 4 9 Bernal war zu dieser Zeit vorwiegend mit physikalischen Problemen von Bombenexplosionen und den notwendigen Vorsichtsmaßregeln beauftragt, 5 0 berechnete den zu erwartenden Flugzeug- und Bombeneinsatz des faschistischen Deutschlands für verschiedene Ziele und fand beispielsweise den von ihm vorhergesagten Angriff auf Coventry mit 500 Flugzeugen durch die nachfolgende tatsächliche Zerstörung mit 450 Bombern erschreckend genau bestätigt. 51 Nach dem Großangriff auf London 1941 wurde er direkt der Royal Air Force zugeordnet und schließlich 1942 zur Vorbereitung des Landungsmanövers in der französischen N o r mandie beordert. Theoretische Studien zur geologischen Erkundung und über die französische Nordseeküste, die Ausarbeitung und Verteidigung eines Projekts für die Anlage eines künstlichen Hafens, die Begleitung Churchills zur Konferenz in Quebec, die Teilnahme an weiteren vorbereitenden Konferenzen in Washington und Ottawa, Aufträge zu verschiedenen Kriegsschauplätzen und Stätten des Britischen Empire in Tripolis, Accra, im Fernen Osten, Ceylon und Burma und schließlich eine geheime Expedition an die Normandie-Küste und

47

48 49

50

51

Welt, 1/1972, S. 13/14; Vgl. E. H. S. Burhop, Ein Beispiel für alle Wissenschaftler, in: Wissenschaftliche H. Rose/St. Rose, Science and Society, Harmondsworth 1971, S. 52—57; R. Rilling, Die „Social Relations of Science Movement" — gewerkschaftliche Organisierung und politische Linksorientierung in der britischen Wissenschaft 1917—1945, in: BdWi-Forum, 43/44 (Nov. 1980), S. 49—61. Vgl. J. D. Bernal, The Protection of the Public from Aerial Attack, London 1937. Professor J. D. Bernal. An outstanding physicist, in: The Times vom 16. Sept. 1971; vgl. auch: C. P. Snow, J. D. Bernal. A Personal Portrait, a. a. O., S. 27. Vgl. J. D . Bernal, The Physics of Air Raids. Royal Institution Afternoon Lecture, in: Nature, 1941, S. 360/361; Ds. D. Bernal, Fizika vozdusnich naljotov, in: Uspechy fiziceskich nauk, 1944, S. 169. Vgl. D . Hodgkin, John DesmondBernal 1901 — 1971, a. a. O., S. 54; vgl. auch: J. G. Crowther/R. Whiddington, Science at War, London 1947, S. 99.

XXVIII

die anschließende wissenschaftlich-technische Überprüfung der Vorbereitung für die Landung zählten zu seinen Aufgaben. 52 Lord Mountbatten, sein militärischer Vorgesetzter, beschreibt, wie es Bernal verstand, mit seiner ihm eigenen Anschaulichkeit und Darstellungskraft den britischen Premierminister und die Chefs der Stäbe für seine Projekte zu begeistern. 53 Daß er dabei in keiner Phase Illusionen über die nach wie vor kapitalistische Klassenziele verfolgende britische Großbourgeoisie in diesem antifaschistischen Krieg hegte, geht u. a. aus einem Aufsatz aus dieser Zeit hervor: „Die herrschende Klasse unseres Landes begann den Krieg nicht deshalb, um die Demokratie zu retten; ihre Vertreter wissen nicht, was Demokratie ist, und wenn sie es wüßten, dann würde sie ihnen nicht gefallen. Sie begannen den Krieg, um ihre Stellung, ihren Geldbeutel und ihre eigene Haut zu retten." 5 4 Ebenso eindeutig klagte er 1942 die Verzögerung der zweiten Front an: „Unsere gesamte Strategie und ebenso die Taktik tragen in diesem Krieg den Stempel der Schwerfälligkeit und des Zögerns. Im Verlaufe von 18 Monaten vermochten wir es nicht, dem einzigen Verbündeten, der Widerstand leisten kann und den Nazis tatsächlichen Widerstand leistet, Hilfe zu erweisen." 55 Auch unmittelbar nach dem Krieg war sein Rat bei zahlreichen Regierungsaufträgen noch gefragt: als Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirates beim Arbeitsministerium, beim Aufbau der UNESCO, für offizielle Reisen in die USA, nach Schweden, Dänemark und Indien. Er selbst sprach einmal über diese Zeit als „eine Periode hohen Ansehens" 56 . Mit Beginn des kalten Krieges gegen die sozialistischen Länder wurde der als Patriot seines Landes anerkannte kommunistische Kämpfer gegen den Faschismus aus seinen staatlichen Funktionen entfernt, und selbst in der Öffentlichkeit wurden Mißtrauen und Verdächtigungen gegen ihn geschürt. Der zeitweilige Ausschluß aus allen Funktionen der von ihm entscheidend mitgeschaffenen und geprägten Association of Scientific Workers war eine unrühmliche Folge. 57 Ungeachtet dessen ging er mit dem ihm eigenen Elan an die Wiederaufnahme röntgenographischer Forschungen am Birkbeck-College, führte seine wissenschaftswissenschaftlichen Arbeiten weiter und widmete sich voller Leidenschaft mit ihm Gleichgesinnten der Bildung und Förderung der Welföderation der Wissenschaftler, deren Vizepräsident er über viele Jahre war, und besonders der Weltfriedensbewegung. 58 Als Mitinitiator des Internationalen Kongresses der Intellektuellen für den Frieden in Wroclaw (1948), der ersten Weltfriedenskongresse in Paris und Prag im Jahre 1949, der folgenden Weltkongresse der Friedenskämpfer in Warschau (1950), Wien (1952), Helsinki (1955), Stockholm (1958), Moskau (1962) und Helsinki (1965), des historischen ersten Stockholmer Appells zur Ächtung aller atomaren Waffen (1950) bis zu seiner Tätigkeit an der Spitze des Weltfriedensrates manifestieren den Inhalt seines gesamten Lebens. Die seit dem Gründungsmanifest vom 25. April 1949 organisierte Weltfriedensbewegung ist für alle 52 53

54 55 56 57 58

Vgl. ebenda. Vgl. Admiral of the Fleet The Earl Mountbatten of Burma, K. G., D. S. O., F. R. S., Memories of Desmond Bernal, Manuskript, S. 4; vgl. auch: J. D. Bernal, Scientific Preparations for Normandie Landing in 1944, in: French Association for the Advancement of Science, Caen, Aug. 1955. Report of 74th Congress, Juli 1956. J. D. Bernal, The Freedom of Necessity, a. a. O., S. 66. Ebenda, S. 67. D. Hodgkin, John Desmond Bernal 1901-1971, a. a. O., S. 54. Vgl. ebenda; E. H. S. Burhop, Ein Beispiel für alle Wissenschaftler, a. a. O. Vgl. W. A. Wooster, Bernal und die WFW, in: Wissenschaftliche Welt, 1/1972, S. 11/12; E. H. S. Burhop, Scientists and Public Äffairs, in: M. Goldsmith/A. Mackay (Hrsg.), The Science of Science, a. a. O., S. 3 0 - 4 1 .

XXIX

Zeiten mit den Namen F. Joliot-Curies und J. D. Bernais verbunden,' viele der Dokumente tragen ihre Unterschrift, noch weitaus mehr erhielten durch sie entscheidend Richtung und Inhalt. 59

Ein Buch in den Kämpfen seiner Zeit Bernal hat in dem vorliegenden Buch die Zwiespältigkeit der kapitalistischen Vergesellschaftung der Wissenschaft am Beispiel Großbritanniens eindrucksvoll dargestellt, unzweideutig analysiert und für die Lösung der behandelten Probleme Wege gewiesen. Spätestens seit dem ersten Weltkrieg wurde die mit dem Übergang zum Imperialismus eingeleitete neue Stufe in der Vergesellschaftung der Wissenschaft offensichtlich. Staatsmonopolistische Eingriffe in die Wissenschaftsentwicklung häuften sich in allen imperialistischen Hauptländern, vollzogen sich außerordentlich widersprüchlich, erfaßten aber zunehmend die Lenkung der Wissenschaft für den Krieg, deren Finanzierung und Konzentration. Staatliche Ämter, neue wissenschaftliche Institutionen und wachsende Industrieforschung entwickelten sich auf der Grundlage von Monopol und Konkurrenz, Planung und Anarchie. Bernais wissenschaftspolitische Konsequenzen waren zweifacher Art: einmal ging es ihm darum, — die herrschenden kapitalistischen Bedingungen voraussetzend — die Wissenschaft effektiver und zum Wohle der gesamten Gesellschaft einzusetzen, zum anderen hat er nie ein Hehl daraus gemacht, daß dies letztendlich mit dem gesamten humanistischen Anliegen nur im Sozialismus möglich ist. Und da Sozialismus und Sowjetunion für ihn Synonyme waren, zieht sich das Beispiel des real existierenden Sozialismus in der UdSSR als gesellschaftliche Alternative durch das gesamte Buch. Parallel mit diesem objektiven Prozeß kapitalistischer Vergesellschaftung der Wissenschaft begann der widersprüchliche Prozeß des politischen Zusammenschlusses der immer größer werdenden Zahl wissenschaftlicher Mitarbeiter. 1917 formierte sich in Großbritannien die National Union of Scientific Workers mit etwa 500 Mitgliedern (1918), deren Mitglieder in den 20er Jahren begannen, sich auch zu wissenschaftspolitischen Fragen zu äußern. Neben damals bekannten Naturwissenschaftlern zählte der Schriftsteller H. G. Wells zu ihren Repräsentanten, doch bis 1927 konnten nur 10 Prozent der etwa 10 000 Wissenschaftler durch sie erfaßt werden. Der Versuch von 21 prominenten Wissenschaftlern, unter ihnen Sir W. Bragg und J. Huxley, die soziale Basis der Organisation um den Preis zu erweitern, daß sie sich künftig wieder mehr als reine Berufsvertretung der Wissenschaftler verstehen und außerhalb der staatlichen Bestimmungsmerkmale einer Gewerkschaft bleiben sollte, scheiterte. Diese Umorientierung und die äußere Umbenennung in Association of Scientific Workers vermochte zwar zunächst einige hundert neue Mitglieder anzuziehen, führte aber auf Grund der Abstinenz vor den drängenden politischen und ideologischen Fragen innerhalb weniger Jahre zu Auflösungserscheinungen. 1935 zählte sie insgesamt noch etwa 700 Mitglieder. Die durch die Weltwirtschaftskrise und den deutschen Faschismus weiter zugespitzten politischen, sozialen und ideologischen Fragen der Wissenschaft führten zu einer erneuten Politisierung der Organisation und zu einem weit verbreiteten Suchen nach Antworten. Eine Gruppe von Wissenschaftlern, die als „wis59

Vgl. J. D. Bemal, Abrüstung und Atomwaffen. Weltfriedenstreffen, Helsinki, 22.-29. Juni 1955, S. 20—22; J. D. Bernal, Perspektiven des Weltfriedens, Berlin 1961; J. Blume, J. D. Bernal, in: Bulletin des Weltfriedensrates, 12/1965, S. 7, 12; J. D. Bernal, der Mann der Wissenschaft und des Friedens, in: Friedenskurier, Helsinki 1971, S. 8; Weltfriedensbewegung — Dokumente und Erklärungen, hg. vom Deutschen Friedensrat, 2 Bd., Berlin 1961, 1962; vgl. auch: I. Ehrenburg, Menschen, Jahre, Leben. Memoiren, Bd. 3, Berlin 1978, S. 354, 358, 382, 403, 410, 4 3 8 - 4 4 0 , 473.

XXX

senschaftliche Humanisten", aber auch als „Radikale" charakterisiert wurden (J. D. Bernal, J. B. S. Haidane, L. Hogben, J. Huxley, N. Krebs, C. P. Snow, S. Zuckerman u. a.), fanden sich vor allem in der Cambridger Anti-War-Group und im Londoner Tots- and QuotsClub zusammen, organisierten politische Aktivitäten, fertigten Studien an, waren publizistisch tätig, und verfaßten Schriften zu den sie bewegenden Problemen des Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft. 60 In diese Zeit verschärfter politischer Auseinandersetzungen und des Ringens um eine politische und intellektuelle Selbstverständigung fällt der 1931 in London durchgeführte Zweite Internationale Kongreß zur Geschichte der Wissenschaft. Das Auftreten der sowjetischen Delegation 61 und insbesondere der Vortrag des JoffeSchülers B. G. Hessen über Die sozialen und ökonomischen Wurzeln von Newtons Principia62 hinterließen eine bleibende Wirkung. Alle Beteiligten fühlten sich herausgefordert, sich mit dieser historisch-materialistischen Analyse und Erklärung von Newtons Physik im Kontext der ökonomischen und politischen Gesamtentwicklung seiner Zeit auseinanderzusetzen. Wurde es für die sozial engagierten und intellektuell suchenden Humanisten zu dem soziologischen „Aha-Erlebnis" und schlug es sich nachweislich in all ihren nachfolgenden Arbeiten nieder, so wurde es für die Vertreter „reiner Theoriengeschichte" und idealistischen Wissenschaftsverständnisses zum Anlaß polemischer Kritik. Vor allem der junge R. K. Merton war es, der das Thema Hessens aufgriff, seine Grundaussage des Zusammenhangs von Gesellschaft, Wissenschaft und Technologie übernahm und es bürgerlich umfunktionierte. Völlig zutreffend stellt daher H. Rose fest: „Viele von Mertons frühen Arbeiten, vor allem seine,Science, Technology and Society in 17th Century England' werden am besten als ein fortlaufender Dialog mit dem Marxisten Boris Hessen und seiner ,externalistischen Sehweise' des Wachstums der Wissenschaft gelesen . . . Bei seinem Versuch, den Einfluß des Puritanismus auf die Entwicklung der Wissenschaft im 17. Jahrhundert zu erklären, steht Merton zu Hessen wie Max Webers protestantische Ethik im Vergleich zu K. Marx' Theorie der kapitalistischen Entwicklung." 63 Und obwohl der Aufsatz Hessens trotz mancher kurzschlüssiger Ableitungen inzwischen zu den klassischen Arbeiten der Wissenschaftswissenschaft zählt und es „zum guten Ton gehört", ihn zu zitieren, scheiden sich bis auf den heutigen Tag die Geister, wenn es um die konsequente Beantwortung der sozialen Determination wissenschaftlicher Erfindungen und Entdeckungen geht. Auf diesem gesellschaftspolitischen, politisch-organisatorischen und intellektuell-ideologischen Hintergrund schrieb Bernal sein Buch Die soziale Funktion der Wissenschaft. Es ordnet sich ein in die größere Zahl von Veröffentlichungen britischer Wissenschaftler zu diesem Gegenstand, 64 doch es hob sich bereits bei seinem ersten Erscheinen deutlich von 60

61

62

63

64

Vgl. H. Rose/St. Rose, Science and Society, a. a. O., S. 52—54; R. Rilling, Die „Social Relations of Science Movement", a. a. O.; vgl. auch das sehr informative Buch von G. Werskey, The Visible College, London 1978. Vgl. Science at the Cross Roads. Papers presented to the International Congress of the History of Science and Technology. Heldin London from June 29th to July 3rd., 1931 by the Delegates of the U.S.SR-, London 1971 (1. Auflage 1931). Vgl. B. G. Hessen, The Social and Economic Roots of Newtons "Principia", in: ebenda, S. 149—212; die Arbeit ist in der UdSSR auch als selbständiger Titel erschienen: Social'no-ekonomiceskie korni mechaniki Njutona, Moskau 1933. H. Rose, Gelenkte Wissenschaft in der gelenkten Gesellschaft, in: N. Stehr/R. König (Hrsg.), Wissenschaftssoziologie. Studien und Materialien, Opladen 1975, S. 434. Vgl. P. M. S. Blackett, The Frustration of Science, London 1935; J. Needham, Order and Life, New Häven 1935; L. Hogben, Science for the Citizen, London 1938; J. B. S. Haidane, The Marxist Philosophy and the Sciences, London 1938; H. Levy, Modern Science, Hamilton 1939; J. G. Crowther, The Social Relations of Science, Cresset 1941.

XXXI

ihnen ab und wurde zum bleibenden Zeugnis der politischen und geistigen Stimmung jener Zeit. Wiederholte Auflagen bis in unsere Zeit veranschaulichen seine fortwährende Aktualität. Hatte Hessen an einem wissenschaftshistorischen Beispiel die völlig neue Einsichten erlaubende Fruchtbarkeit marxistischer Methodologie demonstriert, so war es Bernal, der sie nun auf den Gesamtprozeß der Wissenschaftsentwicklung und vor allem zur Erklärung des Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft im vierten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts anwandte. Kein streng theoretisches Anliegen veranlaßte ihn zunächst zu diesem Buch, obwohl er auch dessen Notwendigkeit erkannte. Es diente vorrangig der Beantwortung unmittelbar praktischer Fragen. In der prinzipiellen Art und Weise, wie er dies vermochte, wurde es aber zum ersten grundlegenden zusammenhängenden Werk der sich herausbildenden Wissenschaft von der Wissenschaft. Zunächst — und für viele Jahre — genaugenommen bis auf den heutigen Tag — entzündete sich an ihm die politische Diskussion. L. Hogben, selbst politisch engagierter Naturwissenschaftler und Autor des Buches Science for the Citizen, rezensierte es unmittelbar nach seinem Erscheinen unter der Rubrik „Kontroverses Buch des Monats". Hogben weist darauf hin, daß Bernais Buch fünfzehn Jahre früher mit den Prädikaten „überhöht", „Propaganda", „parteiisch", „tendenziös" abgetan worden wäre. Aber „heute findet er Gehör bei der jüngsten Generation, und die älteren Repräsentanten der Wissenschaft halten ihn für seriös". 65 Hogben macht die Tragweite der Auseinandersetzungen um das Buch deutlich, indem er auf die zugrunde liegende gesellschaftliche Problemsituation und die von Bernal gezogene Quintessenz eingeht. Er weist darauf hin, daß sich der Wissenschaftler vor die Tatsache gestellt sieht, „daß der beispiellose Fortschritt der letzten dreißig Jahre unvorstellbare Möglichkeiten für Freizeit, Komfort und Gesundheit für alle geschaffen hat. Doch sieht sich der Wissenschaftler heute mit der Gefahr einer anti-wissenschaftlichen Reaktion konfrontiert. Der Kapitalismus ist nicht in der Lage, den fortlaufenden Nutzen der wissenschaftlichen Kenntnisse für das menschliche Wohl oder eine ununterbrochene Begeisterung für sein weiteres Fortschreiten zu garantieren. Der Wissenschaftler hat deshalb die Wahl, die Wissenschaft oder den Kapitalismus auszurangieren; und eines der Ziele von Prof. Bernais gelehrtem und stimulierendem Buch ist es, ihnen die Tragweite dieser Wahl spürbar bewußt zu machen." 66 Hogben stellt heraus, daß die von Bernal befürwortete und begründete Wahl eindeutig für die Wissenschaft und den Sozialismus ausfallt und entgegen manchen antiwissenschaftlichen Stimmungen selbst von ihm die Einheit von Sozialismus und Wissenschaft gezeigt wird. „Der abschließende Abschnitt eines mit Statistiken vollgepackten Buches erreicht eine bewegende Beredsamkeit, die seine Persönlichkeit auf mich in einem neuen und ungeheuer attraktiven Licht offenbart: Wissenschaft als Kommunismus. — Wir haben in der Praxis der Wissenschaft schon den Prototyp für das allseits menschlich gemeinsame Handeln. Die Aufgabe, die die Wissenschaftler übernehmen, das Verständnis und die Kontrolle der Natur und des Menschen selbst — ist lediglich der bewußte Ausdruck der Aufgabe einer menschlichen Gesellschaft." 67 Die von Hogben zusammengefaßte gesellschaftspolitische und weltanschauliche Aussage Bernais war es, die seine Gegner auf den Plan rief. Das erfolgte auf verschiedene Weise. R. K. Merton kam es zu, ebenso wie Hessen auch Bernal akademisch zu entschärfen und den theoretischen Gehalt und Erkenntnisfortschritt ohne den revolutionären Geist in das 65 66 67

L. Hogben, Scientific Workers as Citizen, in: Controversy, 29, Febr. 1939, S. 339. Ebenda, S. 340. Ebenda.

XXXII

bürgerliche Denken zu integrieren. Seine 1942 erstmals formulierten vier Normen wissenschaftlicher Tätigkeit enthalten — offensichtlich an Bemal anknüpfend — auch die des Kommunismus. „Kommunismus im nichttechnischen und ausgedehnten Sinn des allgemeinen Eigentums an Gütern ist das zweite wesentliche Element des wissenschaftlichen Ethos. Die materiellen Ergebnisse der Wissenschaft sind ein Produkt sozialer Zusammenarbeit und werden der Gemeinschaft zugeschrieben. Sie bilden ein gemeinschaftliches Erbe, auf das der Anspruch der einzelnen Produzenten erheblich eingeschränkt ist." 68 Wieder entleert Merton den marxistischen Begriff und die Bernalsche Verbindung von Wissenschaft und Kommunismus ihres sozialökonomischen Inhalts und nützt sie gesellschaftsneutral für die Begründung seiner funktionalistischen Wissenschaftssoziologie. Weitaus militanter verlief demgegenüber die gesellschafts- und wissenschaftspolitische Reaktion auf das Buch Bernais. 1940 schlössen sich die Gegner aller progressiven Bewegungen der Wissenschaftler Großbritanniens zur Society for Freedom in Science zusammen. Die Analogie zu dem in der BRD gegründeten Bund Freiheit der Wissenschaft ist augenscheinlich. Zu ihren Wortführern wurden der Physiko-Chemiker M. Polanyi und sein Propagandist J. R. Baker. 69 Als Gegenstand ihrer Attacken wählten sie die politischen, wissenschaftlichen und organisatorischen Implikationen und Konsequenzen der von Bernal begründeten und geforderten Planung der Wissenschaft. In Zeitschriften und Zeitungen entfachten sie in den folgenden Jahren ein wahres Feuerwerk von publizistischen Angriffen. „Bernais Buch wurde als Attacke auf die verschanzten Positionen der akademischen Liberalen angesehen. Eine Gegenerklärung zum Bernalismus (Conterblast to Bernalism)" 70 wurde von J. R. Baker in der Zeitschrift New Statesman veröffentlicht und auf verschiedenartige Weise wiederholt. Da wurde simplifiziert, beleidigt, verzerrt, verdächtigt und entstellt, nur, um — über den als solchen komplizierten und strittigen Gegenstand „Planung der Wissenschaft" — die theoretische und gesellschaftspolitische Analyse und Perspektive des Buches als Ganzes zu treffen. Auf eines der zahlreichen Pamphlete Bakers in Electronic Engineering erwidert Bernal in einem Artikel über Die wahre Absicht einer geplanten Wissenschaft71: „Dr. J. R. Baker zeichnet ein erschreckendes Bild von dem, was er ,geplante Wissenschaft' nennt. Es scheint, daß er und die Gesellschaft für Freiheit in der Wissenschaft ihr Bestes tun, um andere Wissenschaftler vor Schreckgespenstern bange zu machen, die sie selbst heraufbeschworen haben. Das würde nicht allzuviel ausmachen, wenn wir es mit einer wissenschaftlich gebildeten Bevölkerung zu tun hätten, aber hier besteht die Gefahr, daß all jene Leute, die aus Ignoranz oder anderen Gründen die Wissenschaft nicht leiden können, die These der Freiheit in der Wissenschaft benutzen, um die Entwicklung der Wissenschaft während des Krieges und später zu verhindern. Die Vorstellung von der Wissenschaft, die von einer Menge armer Wissenschaftler getragen wird, die alle von einem Leiter zu bestimmten Auf68

69

70

71

R. K. Merton, Wissenschaft und demokratische Sozialstruktur, in: P. Weingart (Hrsg.), Wissenschaftssoziologie, Frankfurt/M. 1972, S. 51. — Ähnlich verhält es sich mit dem von Merton aufgegriffenen Verhältnis von Wissenschaft und Demokratie. Vgl. H. Rose/St. Rose, Science and Society, a. a. O., S. 56; vgl. J. R. Baker, Counterblast to Bernalism, in: New Statesman, 440/1939, S. 174; Professor Bernal Replies, in: New Statesman, 441/1939, S. 210; J. R. Baker, The Scientific Life, London 1942; J. R. Baker, Science and the Planned State, London 1945; M. Polanyi, The Logic of Liberty, Chicago 1951. — Eine kritische Einschätzung der Gesellschaft für die Freiheit in der Wissenschaft gibt J. G. Crowther in: Science in Modern Society, New York 1968, S. 12—15. W. M. Gucken, On Freedom and Flanning in Science: The Society for Freedom in Science, 1940—1946, in: Minerva, 1978, S. 42—72. Vgl. J. D. Bernal, The True Meaning of Planned Science, in: Electronic Engineering, Nov. 1942. — Er erwidert damit einen Artikel J. R. Bakers, The Scientist and the Community, in der gleichen Zeitschrift, Sept. 1942.

XXXIII

gaben mit streng angewandtem Charakter angewiesen werden, und denen angeordnet wird, Entdeckungen entsprechend einem Zeitplan zu machen, war aus dem einfachen Grunde niemals Ziel einer Planung der Wissenschaft, weil das unmöglich ist." 72 Bemal entwickelt im folgenden die historisch verschiedenen Stadien wissenschaftlicher Planung, charakterisiert F. Bacon als Vater einer geplanten Wissenschaft, zeigt, wie sie in der Astronomie und Meteorologie schon lange notwendig ist und praktiziert wird, beschreibt die neuen Bedingungen für die Planung der Wissenschaften in unserer Zeit. „Die reale Freiheit der Wissenschaft muß die Bereitstellung von Mitteln einschließen, um die Forschung durchzuführen, und dies erfordert in der modernen Welt eine Planung." 73 Er wandte sich in diesem Zusammenhang auch gegen den Vorwurf, er wolle nur noch die angewandte Forschung und ignoriere die Grundlagenforschung. 74 Bernal hat bei allem Eintreten für eine an den sozialen Bedürfnissen der Gesellschaft orientierten Wissenschaft niemals die strategische Bedeutung der Grundlagenforschung unterschätzt. Seine eigenen kristallographischen Arbeiten verkörpern überzeugend die von ihm selbst praktizierte Einheit von Grundlagen- und angewandter Forschung. Entgegen der Meinung seiner politischen Kritiker hat er sich selbst mit Leidenschaft für einen unabdingbar notwendigen Anteil von Grundlagenforschung eingesetzt. Sie ist , jenes Studium der verschiedenen Seiten der Natur und der schöpferischen menschlichen Tätigkeit, durch das die einem Ding oder einer Erscheinung zugrunde liegende Struktur ohne Rücksicht auf besondere Aspekte herausgefunden werden soll. Die Grundlagenforschung ist der Quell, dem eine völlig neue Auffassung von den bisherigen technischen Verfahren sowie völlig neue Verfahren entspringen werden. . . . Um einen anderen, mehr biologischen Vergleich zu gebrauchen : Die Grundlagenforschung ist für die Vegetationspunkte des sozialen Organismus verantwortlich. Der Vegetationspunkt einer Pflanze ist die kleine Gruppe empfindlicher, sich lebhaft teilender Zellen, von denen die Entfaltung neuer Blätter, Zweige und Blüten ausgeht. Werden die Vegetationspunkte zerstört, so wird der Organismus nicht vernichtet, aber er kann nur noch mit den lebenden Teilen weiterbestehen, die er bereits besaß, und kann weder wachsen noch reproduzieren. Man braucht diesen Vergleich nicht bis zu Ende führen, um verständlich zu machen, wie notwendig es ist, den wichtigen Charakter der Selbsterneuerung der Wissenschaft als eine soziale Gegebenheit zu bewahren." 75 Obwohl die Auseinandersetzungen über die Planung der Wissenschaft die gesamte Kriegszeit über anhielten, setzte unmittelbar nach dem Ende des zweiten Weltkrieges und besonders 1948 in Verbindung mit dem „Kalten Krieg" eine neue Welle von politischen Verdächtigungen gegenüber den Befürwortern einer Planung der Wissenschaft ein. Bereits 1942 hatte Bernal auf das unter anderem vorgebrachte Argument, die Wissenschaftsplanung sei bestenfalls für Kriegszeiten geeignet, geantwortet: „Dr. Baker hat die Notwendigkeit der Planung der Wissenschaft in Kriegszeiten anerkannt, aber diejenigen, die die Planung in Friedenszeiten angreifen, während sie sie für den Krieg akzeptieren, befinden sich genau in der gleichen Position wie Geschäftsleute und Politiker, die in dem Moment, da der Waffenstillstand unterzeichnet ist, wünschen, zum uneingeschränkten Kommerzialismus zurückzukehren, der die Chance auf einen realen Frieden nach dem letzten Krieg zunichte machte . . . Diejenigen, die gegenwärtig Papageienschreie für die Freiheit der

72 73 74 75

Ebenda, S. 242. Ebenda. Vgl. ebenda. J. D. Bernal, Welt ohne Krieg, a. a. O., S. 146.

XXXIV

Wissenschaft und die Anti-Planung erheben, leisten der Wissenschaft wie auch der Zivilisation einen geringen Dienst." 7 6 Auch in den folgenden Jahren beteiligte sich Bemal neben seinen anderen wissenschaftlichen und politischen Aktivitäten immer wieder selbst an dieser öffentlich geführten Polemik. In mehreren Aufsätzen entwickelt er das von ihm verfolgte Anliegen. In einer Sollte die Wissenschaft geplant werden? überschriebenen Polemik veröffentlichte er seinen Beitrag Die Hauptgründe für die kollektive Forschung, worauf Polanyi unter dem Motto Die Hauptgründe für den Individualismus reagierte. 77 Während Polanyi dabei nur ein simplizifiertes Bild der in der UdSSR praktizierten Planung der Wissenschaft vorbrachte, nach dem die Akademie der Wissenschaften als Institution den detaillierten Plan für jeden Wissenschaftler im Lande festlege und ansonsten im demagogischen Stile heutiger Menschenrechts-Apostel des Westens das politische und menschliche Schicksal der sowjetischen Wissenschaftler beklagt, argumentiert Bemal. Stets ist er bemüht, zu überzeugen und mit den Mitteln der Vernunft in der ihn umgebenden kapitalistischen und antikommunistischen Umwelt neue Anhänger zu gewinnen. Auf Grund der eigenen praktischen Erfahrungen entwickelt er fünf Prinzipien für eine wissenschaftsspezifische Organisation und Planung der Forschung. Es sind dies: die Notwendigkeit einer Forschungsstrategie, die Erfordernisse des Teamworks, die Flexibilität bei der Realisierung der Aufgaben, die Freiheit der Kommunikation und der Respekt vor der Individualität des Forschers. Allein in ihrer Aufzählung veranschaulichen die von ihm entwickelten Prinzipien, wie er Planung und Freiheit des einzelnen Forschers, Kollektivität und Individualität in der Forschung in die ihnen zukommende dialektische Beziehung setzt. In gleicher Weise setzt er sich mit dem Vorwurf der Verletzung der Demokratie und des Totalitarismus bei einer Planung der Wissenschaft auseinander und entwickelte die inneren und äußeren Bedingungen für eine demokratisch gelenkte Wissenschaft. „Die Demokratie der Wissenschaft kann nur dann effektiv sein, wenn diejenigen, die daran teilhaben, einen tiefen Sinn für die soziale Verantwortung und ein Wissen um die Tradition, die sie ihrer technischen Kompetenz hinzufügen, haben. Da sind solche zu blind, die jeder Organisation der Wissenschaft prinzipiell widersprechen . . . Sie tun dies im Namen der ,Freiheit der Wissenschaft' und ihrer inneren Reinheit. Sie können nicht oder wollen nicht sich die Organisation als etwas anderes als die der Armee oder des Zivildienstes, einer Organisation der Unterordnung und Routine, vorstellen. Dann, nachdem man mit diesem Schreckgespenst paradiert hat, beschuldigen sie diejenigen, die die Wissenschaft zu reorganisieren wünschen, ohne Rücksicht auf deren Aussagen und ihre Erfahrungen . . . mit ihren bevorzugten Schlagworten (catchwords) wie ,Diktatoren' und ,Totalitäre'. Indem sie sich auf diese Weise ihrer entledigt haben, bringen sie ihre Vorstellung über die reine Wissenschaft, die um ihrer selbst willen betrieben wird, vor, als wenn dies im Gegensatz zu einer für soziale Zwecke betriebenen Wissenschaft stünde." 7 8 Dem stellt Bemal seine Position gegenüber: „Die effektiven Garantien für die Freiheit der Wissenschaft sind ihre innere Demokratie und ihre aktive Verbindung mit den Volkskräften außerhalb der Wissenschaft. Ihre Verteidiger sind diejenigen aktiven Wissenschaftler, die gesehen haben, was eine demokratische Organisation für die Wissenschaft tun kann, 76 77

78

J. D. Bemal, The True Meaning of Planned Science, a. a. O., S. 243. Vgl. Ought Science to be Planned?, in: The Listener vom 6. Sept. 1948; J. D. Bernal, The Case for Collective Research, S. 411/412; M. Polanyi, The Case for Individualism, S. 412/413. J. D. Bernal, The Case for Collective Research, S. 411. — Baker kennzeichnet die unterschiedlichen WissenschaftsaufTassungen, die „eine liberal und idealistisch, die andere totalitär und materialistisch" (in: The Listener vom 14. Okt. 1948).

XXXV

sie werden nicht ruhen, bis sie vollständig für das menschliche Wohl genutzt wird . . . Sie haben verstanden, daß der Status des Wissenschaftlers sich nicht erhöhen wird und es auch nicht verdient, ohne daß die Wissenschaft effektiv zum menschlichen Wohl organisiert ist und umgekehrt, daß die Organisation der Wissenschaft Bedingungen für die Wissenschaftler einschließt, die sichern, daß sie ihre Arbeit frei und effektiv und mit gebührender sozialer Anerkennung ausüben können." 79 J. Kuczynski hat sich mit den Auffassungen Polanyis über eine „Gelehrtenrepublik" und mit Sir E. Ashbys Ansichten über die akademische Freiheit ausführlich anhand neuerer Veröffentlichungen auseinandergesetzt.80 Die dabei zugrunde gelegten Äußerungen aus den 60er Jahren zeigen, daß Bernais Buch seinerzeit wohl den Stein des Anstoßes bildete, daß es aber bei der Bernal-Polanyi-Debatte von Anfang an um die Personifikation einer tiefgreifenden weltanschaulichen und politischen Auseinandersetzung ging, die bis auf den heutigen Tag währt. Bei einer Rundtisch-Diskussion des Forschungskomitees Wissenschaftssoziologie der ISA 1977 in Budapest über „Planung der Wissenschaft: Bernal versus Polanyi" wiederholte J. Ben-David aus Israel vollinhaltlich die Argumentation Polanyis81 und auch bei den Auseinandersetzungen um das wissenschaftliche Konzept einer „Finalisierung der Wissenschaft" in der BRD wird theoriegeschichtlich auf Bernal zurückgegriffen. In einem derartigen Aufsatz heißt es: „Die Beiträge der sowjetischen Delegation auf dem Londoner Kongreß für Wissenschaftsgeschichte beeinflußten eine Gruppe linksorientierter britischer Naturwissenschaftler. Der wichtigste von ihnen, Bernal, wurde zum enthusiastischen Fürsprecher der Wissenschaftsplanung; . . . laut Bernal war inhaltliche Wissenschaftsplanung eine notwendige Voraussetzung dafür, daß die Wissenschaft ihre soziale Funktion erfülle. Der Titel eines seiner wichtigsten forschungspolitischen Bücher ist denn auch The Social Function of Science. Mit der linken Studentenbewegung der späten sechziger Jahre erlebte der politische Utopismus eine zwar kurze, aber intensive Hochkonjunktur, und mit ihm gewann Bernal erneut Aktualität." 82 Bernal selbst ist in den Jahren seit Erscheinen des Buches immer wieder auf diesen Gegenstand der Planung der Wissenschaft zurückgekommen. 83 Er setzte sich praktisch für ihn ebenso ein, wie er sich theoretisch dafür interessierte. Es war eines der Themen, das er in bzw. mit seinem Buch verfolgte und wofür er die Ausarbeitung einer Wissenschaft von der Wissenschaft forderte. Er begründete die Notwendigkeit einer neuen Wissenschaftsdisziplin aus gesellschaftlichen Bedürfnissen, zeigte aber auch ihre aus der Theorienentwicklung sich ergebende Folgerichtigkeit und entwarf auf der Grundlage der Einheit von praktischen und theoretischen Erfordernissen das Gebäude für dieses neue Wissenschaftsgebiet. Seine mit diesem Buch verfolgte persönliche Zielstellung läßt sich am zutreffendsten einer Meinungsäußerung entnehmen, die er 1938 zur vorgeschlagenen Bildung einer Gesellschaft Social Relations of Science während der Fertigstellung des vorliegenden Buches an die Zeitschrift Nature richtete: „Die Wissenschaft ist so gewaltig gewachsen, daß sie sich ihrer selbst bewußt werden muß. Wir müssen eine Wissenschaft von der Wissenschaft schaffen. Das heißt: Wir müssen unsere eigene Tätigkeit und die soziale Umwelt, mit der sie in Wechsel79 80

81

82

83

Ebenda, S. 412. Vgl. J. Kuczynski, Die vertauschte Eule der Minerva. Der Wissenschaftler in der kapitalistischen Gesellschaft, Berlin 1974. Vgl. J. Ben-David, The Central Planning of Science. Paper, presented at the Conference of the Research Committee Sociology of Science, Sept. 1977 in Budapest. G. Andersson/G. Radnitzky, Finalisierung der Wissenschaft im doppelten Sinne, in: Neue Züricher Zeitung vom 20./21. August 1978, S. 21. Vgl. J. D. Bernal, Die Planung der Wissenschaft, in: Wissenschaftliche Welt, 1/1959, S. 2—8.

XXXVI

Wirkung steht, zu einem neuen Forschungsgegenstand machen. Keine der existierenden wissenschaftlichen Richtungen könnte eine solche Aufgabe übernehmen, ihre Forschungsgegenstände sind schon zu sehr begrenzt. Andererseits können Soziologen, Ökonomen und Historiker trotz ihrer Einsicht in allgemeine Zusammenhänge nicht von sich aus die sozialen Implikationen wissenschaftlicher und technischer Entdeckungen oder die sozialen Bedingungen und ökonomischen Bedingungen, die für ihre Hervorbringung notwendig sind, wirklich verstehen. Nur eine breite wissenschaftliche Disziplin, in der sich beide Seiten treffen und ihre Kenntnisse zusammenbringen können, kann diesen Zusammenhang aufhellen und neue Einsichten vermitteln. An allererster Stelle brauchen wir Fakten. Wir müssen die Geschichte der Beziehung der Wissenschaft zur Gesellschaft kennen, eine Seite der Geschichte, die bisher kaum bearbeitet wurde. Noch dringender aber brauchen wir Informationen über den gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Forschung und Lehre in unserem eigenen Land und im Ausland. Wieviele Wissenschaftler gibt es? Wie werden sie finanziert? Was tun sie? Wie wird ihre Arbeit koordiniert und gelenkt? Wie ist sie mit der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und der Beseitigung menschlichen Elends verbunden? Bevor wir nicht über halbwegs brauchbare Antworten auf diese Fragen verfügen, haben wir weder eine Grundlage für das Verständnis der Gegenwart noch können wir die Zukunft planen." 84 Indem er sich dem Sammeln von Fakten zu diesen Fragen zuwendet und sie auf der Grundlage marxistischer Methodologie — Hessens Beispiel folgend — auswertete und darstellte, vermochte er, eine neue Qualität in den Bemühungen um eine Wissenschaft von der Wissensphaft zu erreichen.

Bernal — Pionier der Wissenschaft von der Wissenschaft Jedes neue Wissenschaftsgebiet hat mehrere Ursprünge und viele Väter. Das ergibt sich objektiv aus der Wissenschaftsentwicklung und es ist daher müßig, sich an einem diesbezüglichen Prioritätsstreit zu beteiligen. Auch die Wissenschaft von der Wissenschaft gründet sich auf verschiedenartige theoretische Ausgangspunkte. Sie lassen sich im wesentlichen in drei Gruppen zusammenfassen: Erstens gibt es seit der Antike theoretische Auseinandersetzungen mit der wissenschaftlichen Entwicklung und Tätigkeit im Zusammenhang mit ihrer Ausübung. Die verschiedenen Arbeiten von Aristoteles, F. Bacon, G. Galilei, R. Descartes, G. W. Leibniz, aber auch J. van't Hoff und M. Born, L. de Broglie und N. N. Semenov seien als Beispiele genannt. Sie sind das unmittelbare Ergebnis wissenschaftlicher und wissenschaftsleitender Tätigkeit auf verschiedenen Fachgebieten, bei der die eigene Arbeit zum unmittelbaren oder mittelbaren Ausgangspunkt oder direkt zum Gegenstand wissenschaftlicher Analysen gemacht wird. Vorträge, Denkschriften, Empfehlungen, Gutachten, autobiographische Darstellungen u. ä. zur Wissenschaftsentwicklung, zum schöpferischen Arbeitsprozeß sowie zur Wissenschaftlerpersönlichkeit sind die entsprechenden Ergebnisformen. Zweitens wird die wissenschaftliche Entwicklung und Tätigkeit schon seit Jahrzehnten und zum Teil schon sogar Jahrhunderten innerhalb bereits bestehender Wissenschaftsdisziplinen sowohl theoretisch als auch empirisch erforscht. Die Anfange der Philosophen der Wissenschaft reichen bis zu Aristoteles' Metaphysik, die Wissenschaftsgeschichte entwickelte sich in verschiedenen Formen parallel zur Wissenschaft, während sich die " 4 J. D. Bemal, in: Nature, 1938, S. 736.

XXXVII

Soziologie, Ökonomie und Psychologie der Wissenschaft erst im vorigen und vor allem in unserem Jahrhundert herausbildeten. Unabhängig davon, ob die zu entwickelnde Wissenschaft von der Wissenschaft als föderative Zusammenfassung dieser verschiedenen einzelwissenschaftlichen Bemühungen oder als eine neu sich herausbildende komplexe Einzelwissenschaft verstanden wird, kommt diesen Forschungen. innerhalb der verschiedenen existierenden Einzeldisziplinen für die Herausbildung und weitere Entwicklung der Wissenschaft von der Wissenschaft eine entscheidende Bedeutung zu. Schließlich wurde die Entwicklung einer selbständigen Wissenschaft von der Wissenschaft bereits von J. St. Mill, W. Ostwald und anderen namhaften Wissenschaftlern gefordert, doch erst seit der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts gibt es in verschiedenen Ländern nahezu unabhängig voneinander Bemühungen, die zu einem Prozeß der Herausbildung einer solchen selbständigen Wissenschaft führten. In den bürgerlichen Sozialwissenschaften zeichneten sich derartige Synthesen zwischen jeweils zwei Wissenschaftsdisziplinen ab: die Sozialökonomie (M. Weber) und die Wissenssoziologie (M. Scheler, K. Mannheim) seien als Beispiele genannt. Das eigentliche theoretische Fundament für eine solche komplexe Erforschung wurde jedoch bereits von Marx und Engels durch ihre Analyse der Wissenschaft als Bestandteil des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters gegeben. Die Wissenschaft im Wechselverhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, von Basis und Überbau, bei der Herausbildung und in den verschiedenen Etappen der kapitalistischen Entwicklung — wurde von ihnen herausgearbeitet und analysiert. Damit wurden die entscheidenden theoretischen und methodologischen Ausgangspunkte für eine alle Seiten erfassende gesellschaftswissenschaftliche Erforschung der Wissenschaft gelegt. Die von Lenin initiierten ersten gesamtstaatlichen Pläne für die Entwicklung der Wissenschaft in der UdSSR begründeten völlig neue Bedürfnisse für die Entwicklung einer derartigen Wissenschaftsdisziplin.85 L. S. Berg befaßte sich mit dem gesellschaftlichen Nutzen der Wissenschaft, V. I. Vernadskij mit den Aufgaben und der Organisation der wissenschaftlichen Arbeit an der Akademie der Wissenschaften, I. Boricevskij mit der Arbeitsteilung in der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts, B. P. Vejnberg mit dem kollektiven Charakter der wissenschaftlichen Tätigkeit, F. N. Petrov und V. V. KujbiSev mit Problemen der staatlichen Leitung und Organisation der Wissenschaft.86 Der Ökonom S. G. Strumilin. veröffentlichte 1924 empirische Untersuchungsergebnisse zur Begabung und Qualifikation von Moskauer Wissenschaftlern und legte 1932 eine Methodik zur Einschätzung wissenschaftlicher Arbeit vor. 87 Die Zeitschriften Naucnyj rabotnik, Sorem (Socialistiöeskaja rekonstrukcija i nauka) und Naucnoe slovo beinhalteten nicht nur vielfaltige Aspekte der wissenschaftlichen Entwicklung und Tätigkeit vor allem in der UdSSR, sondern waren zugleich institutionalisierte

85

86

87

Vgl. G. Kröber/B. Lange (Hrsg.), Sowjetmacht und Wissenschaft. Dokumente zur Rolle Lenins bei der Entwicklung der Akademie der Wissenschaften, Berlin 1975. Vgl. L. S. Berg, Nauka, ee soderianie, smysl i klassifikacija, Petrograd 1921; V. E. Vernadskij, O zadaiach i organizacii prikladnoj nauinoj raboty Akademii nauk SSSR, Leningrad 1928; I. Boriöevskij, Drevnjaja i sovremennaja filosofija nauki v ego predernych ponjatijach, Moskau 1925; B. P. Vejnberg, Opyt metodiki naucnoj i podgotovki k nej, Moskau 1928; F. N. Petrov, Ob organizacii naudno-issledovateFskoj raboty v SSSR, in: Nauka i iskusstvo, 1/1926; V. V. KujbiSev, Nauke — socialistiieskij plan, Moskau 1931. Vgl. S. G. Strumilin, Kvalifikacija i odarennost\ in: Voprosy truda, 1924; S. G. Strumilin, Kmetodologii uieta nauinogo truda, Leningrad 1932.

XXXVIII

Formen der theoretischen Diskussion um die Wissenschaft, die nicht mehr nur an die bisherigen Wissenschaftsdisziplinen gebunden war. Aus dieser politischen wissenschaftlichen Atmosphäre der sozialistischen Gesellschaft sind auch die Beiträge der sowjetischen Delegation zu dem Londoner Kongreß für Wissenschaftsgeschichte hervorgegangen.88 Die politische Ignoranz und die Sprachbarriere ließen dieses geistige Leben in der UdSSR in den kapitalistischen Ländern weithin unbekannt bleiben. Umso sensationeller erschien ihren Vertretern das Auftreten der sowjetischen Wissenschaftlern 1931 in London. Den ersten anerkannten Versuch, den zu dieser Zeit erreichten Entwicklungsstand einer Wissenschaft von der Wissenschaft in einem theoretischen System zusammenzufassen, legten M. Ossowska und St. Ossowski vor. 89 Der theoriegeschichtliche Hintergrund ihrer Arbeit sind die entsprechenden polnischen Beiträge zu diesem Gegenstand (T. Kotarbinski u. a.), aber auch die Verallgemeinerung der bisherigen internationalen Diskussion. Sie nehmen die Wissenschaft als Ganzes zum Gegenstand ihrer theoretischen Überlegungen und zeigen zunächst zwei Möglichkeiten ihrer inneren Gliederung in Betracht. Nach ihrer ersten Variante würde sich die Wissenschaft von der Wissenschaft in drei Problemkomplexe gliedern,: die Persönlichkeit des schöpferischen Wissenschaftlers, die Tätigkeit zur Gestaltung und Entwicklung der Wissenschaft sowie das fertige Produkt der Wissenschaft. Ihre zweite Variante sah eine Gliederung auf der Grundlage der drei Fragen vor: Was ist Wissenschaft? Wie entsteht Wissenschaft? Was bewirkt Wissenschaft? Wenn sie schließlich einer dritten Variante den Vorzug geben und dabei auf die vom Ausgangspunkt bereits überwundene Struktur nach den verschiedenen einzelwissenschaftlichen Forschungen (Philosophie, Psychologie, Soziologie sowie praktische organisatorische und historische Probleme der Wissenschaft) zurückgriffen, so spiegelt das den zu dieser Zeit erreichten Stand der theoretischen Herausbildung der Wissenschaft von der Wissenschaft wider. Einerseits erforderten die gesamtgesellschaftlichen und innerwissenschaftlichen Bedürfnisse ein derartig neues Wissensgebiet, das von der Wissenschaft als sozialem System ausgeht, andererseits bedurfte eine so verstandene Wissenschaft von der Wissenschaft noch einer präziseren Herausarbeitung ihres Untersuchungsgegenstandes, ihrer Problemstellungen, ihrer theoretischen Grundlegung und ihres methodischen Apparates. In dieser Problemsituation befand sich in den 30er Jahren die Wissenschaft von der Wissenschaft als sich entwickelndes selbständiges Wissenschaftsgebiet. Sie kurz zu skizzieren, war notwendig, um den von Bernal mit seinem vorliegenden Buch erzielten theoretischen und methodologischen Durchbruch auf diesem Gebiet sichtbar zu machen. Seine Bestimmung der Wissenschaft 90 nimmt die einzelwissenschaftlichen Beiträge zum Ausgangspunkt, führt sie aber bereits in einem gemeinsamen Anliegen zusammen und glie-

88

89

90

Vgl. T. J. Rajnov, Ware-Like Fluctuations of Creative Physics in the Eighteenth Century, in: Isis, 1929, Nr. 12. Vgl. M. Ossowska/St. Ossowski, The Science of Science, in: Organon, Bd. 1, 1/1936; vgl. auch: T. Kotarbinski, The Elements of the Theory of Knowledge, of Formal Logic and of the Methodology of Sciences, Lwow 1927. „Wissenschaft als Beruf kann unter drei Zielen gesehen werden, die sich aber gegenseitig nicht ausschließen: aus Leidenschaft und zur Befriedigung der dem Wissenschaftler eigenen Neugier zur Entdeckung und zum einheitlichen Verständnis der natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt sowie schließlich zur Anwendung dieses Verständnisses zum Wohle des Menschen. Wir können dies als die psychologischen, rationalen und sozialen Ziele der Wissenschaft nennen." (S. 111 dieses Buches.)

XXXIX

dert schließlich sein Buch ähnlich den Vorstellungen der Ossowskis in zwei Teile: Was die Wissenschaft leistet, was die Wissenschaft leisten konnte. Auf Grund der inzwischen mehr als vierzigjährigen Geschichte seit dem ersten Erscheinen des Buches lassen sich seine Vorzüge gegenüber den vorhergehenden wissenschaftswissenschaftlichen Bemühungen in drei Punkten zusammenfassen: Erstens analysierte er die Wissenschaft historisch-materialistisch als soziales System im Rahmen der Gesamtgesellschaft. Die Wissenschaft als Bestandteil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, ihre sozialökonomische Determination, die dialektische Einheit von Entwicklungs- und Funktionsgesetzen, die Beziehungen von Ökonomie, Wissenschaft und Politik bilden die theoretischen und methodologischen Prinzipien seiner gesamten Darstellung. Zweitens entwickelt Bemal seine theoretischen Positionen anhand einer konkreten Untersuchung der Geschichte und vor allem der damals gegenwärtigen Wissenschaftswirklichkeit. Die persönlichen Erfahrungen als Forscher, die intime Kenntnis des britischen Wissenschaftsbetriebes, seine wissenschaftshistorischen Studien, statistische Analysen, die sozial alternative Wissenschaftsentwicklung in der UdSSR — fanden ihre Berücksichtigung und Verarbeitung in einem empirisch begründeten theoretischen Werk. Und drittens vermochte es, bei aller in sich geschlossenen Darstellung als Katalysator für verschiedenartige weiterführende Arbeiten zu wirken. Das bezieht sich sowohl auf Bernais eigenes Schaffen als auch auf das vieler Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen, denen er Orientierung und Anregung gab. Auf die daran anknüpfenden wissenschaftshistorischen Arbeiten wurde schon hingewiesen und auf die um die Planung der Wissenschaft ausgelösten Auseinandersetzungen eingegangen. Die bald nach Erscheinen des Buches einsetzende bürgerliche Entschärfung — wie sie am Beispiel Mertons gezeigt wurde — ist eine Reaktion auf die Wirkung dieses Werkes marxistischer Gesellschaftswissenschaft. In der marxistischen, aber auch bürgerlichen wissenschaftswissenschaftlichen, wissenschaftssozjologischen und wissenschaftspolitischen Literatur hat Bernais Buch Die soziale Funktion der Wissenschaft seinen bleibenden Platz gefunden. 91 Das gilt auch für verschiedene spezielle theoretische und praktische Bereiche der mit der Wissenschaft verbundenen Tätigkeiten. Der österreichische Naturforscher und Philosoph W. Hollitscher hebt beispielsweise hervor: „Die Prognostik ist nun eine junge Wissenschaft. Begründet wurde sie im Grunde genommen 400 Jahre nach Francis Bacon von Verulam, der die ersten Ansätze dazu geliefert hat, von dem englischen Kristallographen und Marxisten J. D. Bernal in seinem epochalen Werk: The socialfunction of science. Es . . . liegt leider in deutscher Sprache noch immer nicht vor; ohne science of science, d. h. ohne Wissenschaftswissenschaft, ohne die Anwendung der Wissenschaft auf sich selbst kann die Gesetzmäßigkeit, können die sozialen Folgen des Wissenschaftstreibens nicht erfaßt, nicht vorhergesehen werden." 9 2 Bernal forderte nicht nur, sondern er half an Ort und Stelle mit Rat und Tat bei der Entwicklung von Wissenschaft und Forschung in den ehemals kolonialen und halb91

92

Für die umfangreiche marxistische Literatur seien genannt: G. M. Dobrov, Wissenschaftswissenschaft, Berlin 1970; M. M. Karpov, Sociologija nauki, Rostov 1968; G. N. Wolkow, Soziologie der Wissenschaft, Berlin 1970; Sociologiceskie issledovanija nauki, Moskau 1974; Wissenschaft im Sozialismus, Berlin 1973; Wissenschaft. Stellung, Funktion und Organisation in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, Berlin 1975; N. Jachiel, Soziologie und Wissenschaft, Köln 1978 (Übers, aus dem Bulg.). — Für die bürgerliche Literatur: B. Barber, Science and the Social Order, Glencoe (III.) 1972; P. Barnes, Sociology of Science, Harmondsworth 1972; P. Weingart (Hrsg.), Wissenschaftssoziologie, a. a. O.; R. K. Merton, The Sociology of Science. Theoretical and Empirical Investigations, Chicago 1973; St. S. Blume, Toward a Political Sociology of Science, New York—London 1974; D. J. de S. Price, The Science of Science, in: M. Goldsmith/A. Mackay (Hrsg.), The Science of Science, a. a. O., S. 203—206. W. Hollitscher, Für und wider die Menschlichkeit, Wien 1977, S. 39.

XL

kolonialen jungen Nationalstaaten, 93 nahm Studenten aus diesen Ländern bei sich auf und übte Beratungsfunktionen bei den Regierungen verschiedener dieser Länder aus. Auf ihn geht der Begriff „wissenschaftlich-technische Revolution" zurück, 94 er gab entscheidende Impulse für die Anwendung statistischer Methoden bei der Analyse der Wissenschaftsentwicklung,95 er entwickelte Vorschläge für die Umgestaltung des wissenschaftlichen Publikationswesens und förderte die Entwicklung der wissenschaftlichen Information, 96 er war maßgeblich an der Bildung der britischen Vereinigung der Wissenschaftspublizisten beteiligt, er nahm an der weiteren Herausbildung der Wissenschaft von der Wissenschaft als selbständige Disziplin regen Anteil und beteiligte sich daran mit zahlreichen Beiträgen. 97 Der 25 Jahre nach dem ersten Erscheinen dieses Buches, von Bernais Mitarbeitern M. Goldsmith und A. Mackay herausgegebene Sammelband The Science of Science vereinigte einen prominenten Kreis marxistischer und nichtmarxistischer Wissenschaftler. 98 Sie wählten verschiedene Themen des Buches und aus Bernais Schaffen zum speziellen Gegenstand ihrer Analyse, würdigten den historischen Beitrag, aber diskutierten vor allem die damit verbundenen aktuellen Probleme. Der langjährige Präsident der WFW, Leninpreisträger und Mitglied mehrerer Akademien der Wissenschaften, E. H. S. Burhop, die beiden Nobelpreisträger P. M. S. Blacket und C. F. Powell, der sowjetische Lenin- und Nobelpreisträger P. L. Kapica, seine alten Freunde J. Needham, J. B. S. Haidane, N. U. Pirie und C. P. Snow, der bereits 1934 den Roman The Search über Bernal veröffentlichte, D. J. de Solla Price und einige weitere Autoren beteiligten sich mit Beiträgen, auf die in der weiteren wissenschaftlichen Diskussion immer wieder zurückgekommen wird. Bernal selbst geht in dem in unsere Ausgabe aufgenommenen Aufsatz 25 Jahre später auf die inzwischen vollzogenen politischen und wissenschaftlichen Entwicklungen ein und stellt einige ihn zu diesem Zeitpunkt besonders erregende Probleme in den Mittelpunkt. Will man schließlich wissenschafts wissenschaftliche Fragestellungen auf die Persönlichkeit und das Schaffen Bernais selbst anwenden, so wurde seine wissenschaftliche Produktivität und Universalität, die in ihm persönliche verkörperte Einheit von Natur- und Gesellschafts93

94

95 96

97

98

Vgl. J. D. Bernal, Science for a Developing World, London 1963; J. D. Bernal, Wissenschaftliche Forschung in Entwicklungsländern, in: Wissenschaftliche Welt, 3/1966, S. 2—8. — Vgl. auch: V. V. Krishna, J. D. Bernal on Science, in: Science and Culture, New Delhi, Bd. 46, 8/1980, S. 279—289. Vgl. W. Hollitscher, Für und wider die Menschlichkeit, a. a. O., S. 41; M. Goldsmith/A. Mackay (Hrsg.), The Science of Science, a. a. O., Introduction, S. 12/13. Vgl. V. V. Nalimov/Z. M. Mulcenko, Naukometrija, Moskau 1969. Vgl. J. D. Bernal, Information Service as an Essential in the Progress of Science, in: Proceedings of A.S.L.I.B. Conference, Sept. 1945; J. D. Bernal, Contributions to Royal Society "Conference on Scientific Information, 1948, a) Provisional Scheme for Central Distribution of Scientific Publications, S. 253—258, b) Preliminary Analysis of Pilot Questionnaire in the Use of Scientific Literature, S. 589—637; J. D. Bernal, The Transmissions of Scientific Information: A User's Analysis, in: Proceedings of the International Conference on Scientific Information, Washington 1958; J. D. Bernal, Primary Publications in the Natural Sciences, Paper read to 25th Conference on International Federation of Documentation, Sept. 1959; J. D. Bernal, Towards a System of Communication for Science. Paper read to Institute of Information Scientists, Okt. 1960; J. D. Bernal, Summary Papers and Summary Journals. Paper given to Chemical Society Annual Meeting-, W. L. Schulz/C. K. Schulz, John Desmond Bernal — Evangelist of Science, in: Journal of the American Society for Information Science, Bd. 21, W2, 1970, S. 142—144. J. D. Bernal, The Missing Factor in Science, in: Nature, 1947, S. 612/613; J. D. Bernal, Jowards a Science of Science. Exclusive Interview with M. Goldsmith, in: Science Journal, March 1965, S. 2—6; J. D. Bernal, Naputi k nauka o nauke, in: Voprosy filosofii, 7/1966, S. 154—160; J. D. Bernal, Rezension zu E. W. Hall, Modern Science and Human Values, (London 1956), in: Nature, 1957, S. 104/105; J. D. Bernal, Vier Bücher über Fragen der Wissenschaft, in: Wissenschaftliche Welt, 1/1968, S. 35—42. Vgl. M. Goldsmith/A. Mackay (Hrsg.), The Science of Science, a. a. O.

XLI

Wissenschaften, von Wissenschaft und Politik ausführlich vorgestellt. Sein wissenschaftlicher Beitrag zur Soziologie und Psychologie der Intelligenz verdient ebenso eine ausführliche Würdigung wie seine Leistung als Begründer zweier wissenschaftlicher Schulen, auf naturwie gesellschaftswissenschaftlichem G e b i e t . " Seine Uneigennützigkeit wurde im Urteil von Zeitgenossen hervorgehoben. P. Picasso malte und P. Robeson sang in seinen Wohnräumen. Wissenschaftler, Politiker, Militärs und Schauspielerinnen waren seine Gäste. Die freundliche Anrede „Des" seiner britischen und „John" seiner sowjetischen Freunde, die respektvolle Bezeichnung „Sage" (der Weise) in seinem Bekanntenkreise und die Kennzeichnung „Evangelist der Wissenschaft" durch amerikanische Anhänger — veranschaulichen die hohe persönliche Wertschätzung, ja Verehrung, die man ihm entgegenbrachte. Der Leser dieses Buches kann sich selbst von der historischen Bewährung seiner grundlegenden Einschätzungen und Voraussagen überzeugen. Daß bestimmte Voraussagen nicht eintrafen, da die Geschichte einen anderen Verlauf nahm, und das Engagement des Revolutionärs ihn manche Schwierigkeit bei der Durchsetzung des wissenschaftlichen, politischen und sozialen Fortschritts unterschätzen ließ, schmälert diese Einschätzung in keiner Weise. Sie wird dem breit gefächerten Interessenspektrum, der Konkretheit der Kenntnisse, der jederzeit Position beziehenden Darstellung, dem Vorausdenken und dem dafür Kämpfen durch den Autor gerecht. Vor allem war es inmitten der in Großbritannien und den kapitalistischen Ländern zu dieser Zeit herrschenden anti-wissenschaftlichen Grundstimmung 1 0 0 ein durch und durch optimistisches Buch, ein Plädoyer für die Wissenschaft und den sozialen Fortschritt. Nicht zuletzt darauf ist seine historische Wirkung und sein aktueller Einfluß zurückzuführen. Es ist ein bleibendes Zeugnis für Bernais Lebenswerk. Seine wissenschaftlich und politisch verdienstvolle Schülerin, D. Hodgkin, faßte in einem Nekrolog sein gesellschaftliches Anliegen in die Worte: „Bernal war im wörtlichen Sinne ein Philosoph des 18. Jahrhunderts, einer, der über die Gesellschaft nachdachte, um deren Vervollkommnung zu fördern. Es war in der Tat ein wesentlicher Teil von Bernais Credo, daß ein Wissenschaftler in diesem Sinne auch Philosoph sein sollte. Hierbei wurde seine natürliche Neigung zur Systematisierung durch eine marxistische Sicht . . . der Beziehungen der Menschen zu Natur und Gesellschaft verstärkt." 1 0 1 Die im Akademie-Verlag Berlin erscheinende erste deutsche Ausgabe des Buches The Social Function of Science ist kein bibliophiler Gedächtnisband. Sie sollte uns vielmehr ganz im Sinne von Brechts Die Teppichweber von Kujan-Bulak anregen, seinen Autor zu ehren, indem wir uns mit seiner Hilfe noch besser wissenschaftlich und politisch nützen. Bernais handschriftliche Widmung in das 1944 seiner deutschen Emigranten-Mitarbeiterin, K. Dornberger, übergebene Exemplar: „For the new Germany" — soll uns dabei Verpflichtung sein. Helmut

99 100

101

Steiner

Vgl. H. Steiner, Wissenschaftliches Schöpfertum und Schulen in der Wissenschaft, Berlin 1977, S. 110—130. Die Aktualität von Bernais Kampf gegen den Antiintellektualismus und die Anti-Science-Strömungen des Imperialismus ist offensichtlich. Sir Eric Ashby widmete seine Bernal Lecture 1971 diesem Thema. — Vgl. Sir E. Ashby, Science and Antiscience, in: P. Haimos, The Sociology of Science. The Sociology Review Monograph 18, Keele 1972, S. 209—226. D. Hodgkin, Professor J. D. Bernal. An outstanding physicist, a. a. O.

XLII

Zur deutschen Ausgabe:

Sehr viele nahmen auf verschiedene Weise an dieser Edition lebhaften Anteil. Mein besonderer Dank gilt einigen der engsten Vertrauten J. D. Bernais. Seine Witwe, Eileen Bernal, und seine Mitarbeiter Michael Aprahamian, Maurice Goldsmith, Alan Mackay und Anita Riemel ließen mir vielfältige Informationen und Kopien zukommen, die nur zum Teil im Vorwort ausgewertet werden konnten. Der Friedensrat der D D R und die Hauptbibliothek der Akademie der Wissenschaften der D D R halfen aktiv beim Auffinden von Quellen. Wertvolle Hinweise gaben Katharina Boll-Dornberger (t) und Jürgen Kuczynski aus ihrer persönlichen Kenntnis Bernais. Karl König, Dieter Graf und Ludwig Boll (f) haben sich mit großem persönlichem Engagement um eine adäquate deutsche Ausgabe und die Vervollständigung bibliographischer Quellenangaben bemüht. Das englische „Science" bezeichnet traditionell Naturwissenschaften, wird aber zugleich als Gattungsbegriff für Wissenschaft insgesamt verwandt. Für die vorliegende Ausgabe wurde deshalb überall dort, wo im besonderen Naturwissenschaften gemeint waren bzw. die konkreten persönlichen Erfahrungen Bernais als Naturwissenschaftler zugrunde gelegt wurden, in diesem Sinne übersetzt. Nicht in jedem Fall war dies eindeutig auszumachen. Wir hoffen, eine insgesamt akzeptable Lösung gefunden zu haben, wollen den Leser aber auf die Problematik aufmerksam machen. Zur Erläuterung von Sachverhalten sowie zur Verdeutlichung bestimmter historischer Zusammenhänge und zur Vorstellung weniger bekannter Einzelpersonen hat Ludwig Boll durch eckige Klammern [ ] gesondert gekennzeichnete ergänzende Angaben und Übersetzungen im Text sowie redaktionelle Anmerkungen — gekennzeichnet durch:* — beigefügt. Das Namenverzeichnis wurde von Helmut Körner zusammengestellt. Allen genannten und ungenannten Beteiligten an der deutschen Erstveröffentlichung von J. D. Bernais The Social Function of Science sei herzlich gedankt. Helmut

XLIII

Steiner

JOHN DESMOND BERNAL Fünfundzwanzig Jahre später* [1964]

Nun, da fünfundzwanzig Jahre vergangen sind, seit ich das Buch The Social Function of Science geschrieben habe, ist es von Interesse, im Rückblick festzustellen, inwieweit sich die Grundthese des Buches bestätigt hat, in welchem Maße Lehren daraus gezogen wurden und was davon für die Gegenwart oder für die Zukunft noch von Bedeutung ist. Heute neige ich zu dem Schluß, daß das Buch seinen ursprünglichen Zweck weitgehend erfüllt hat: den Menschen die neue Funktion bewußt zu machen, welche die Wissenschaft in bezug auf die Gestaltung der menschlichen Lebensbedingungen und — wie sich inzwischen tragisch herausgestellt hat — für die Existenz der Menschheit selbst damals erlangt hatte und in wachsendem Maße in der Zukunft erlangen wird. Die Ereignisse, die bald nach Veröffentlichung des Buches eintraten, dürften jeden überzeugt haben. Heute geht es uns nicht mehr, wie mir damals, darum, nur das Wachstum und den Nutzen der Wissenschaft in der modernen Zivilisation herauszustellen. Sie hat sich durchgesetzt, zum Bösen oder zum Guten; daher ist es umso wichtiger, diese Zusammenhänge zu verstehen. In The Social Function of Science habe ich gerade dies versucht. Ich habe aber nicht vorhersehen können, wie schnell die Tendenzen, die ich beobachtet hatte, Früchte zeitigen und bis zu welchem Grade meine damaligen Voraussagen in Erfüllung gehen und sogar übertroffen werden sollten. In The Social Function of Science war die wissenschaftlich-technische Revolution unserer Zeit bloße Vision; heute wird sie von jedermann als Tatsache anerkannt. Insofern ist die Aussage des Buches überholt oder zum Gemeinplatz geworden. Doch die Aufgabe, sie zu begreifen, wurde gerade in Angriff genommen, und es wird sich herausstellen, daß dies eine sehr schwierige Aufgabe ist; denn die Verhältnisse und die Prozesse, die wir untersuchen, wandeln sich schnell, viel schneller, als wir sie erforschen können. Als ich kürzlich mein später erschienenes Buch Science in History überarbeitete, mußte ich erkennen, daß nach fünf Jahren die Grundzüge der modernen Naturwissenschaft, wie ich sie 1957 umrissen hatte, kaum wiederzuerkennen waren. Die Abschnitte über die physikalischen und die biologischen Wissenschaften mußten praktisch neu geschrieben werden. Die wissenschaftliche Revolution selbst ist in eine neue Phase eingetreten — sie ist sich ihrer selbst bewußt geworden. Das wird heute nicht nur von Wissenschaftlern und gebildeten Laien anerkannt, sondern auch in der Welt der Privatwirtschaft und der öffentlichen Finanzen: Die Forschung selbst ist zu einer Goldgrube geworden. Eine These, die ich in The Social Function of Science nachdrücklich betont hatte, die ungeheure Gewinnträchtigkeit naturwissenschaftlicher Forschung, ist heute überall anerkannt; im Zeitalter des kommerziellen und internationalen Wettbewerbs bedeutet Anerkennung durch einzelne * Erstveröffentlichung: J. D. Bemal, After 25 Years, in: M. Goldsmith/A. Mackay (Hrsg.), The Science of Science. Society in the Technological Age, London 1964, S. 209—228.

1 Bemal

1

aber Anerkennung durch alle, wenn auch mit gewissen Verzögerungen. Wenn ein Sechstel der hervorragenden Wissenschaftler Großbritanniens nach den USA abwandert, dann sieht sich selbst die Regierung zu dem Eingeständnis gezwungen, daß sie sich nicht in gebührendem Maße um sie gekümmert hat. Heute ist die „Revolution der Forschung", um hier den Titel der ebenso faszinierenden wie alarmierenden Studie von L. S. Silk auszuborgen, 1 nicht eine Tatsache schlechthin, sondern eine allgemein anerkannte Tatsache unserer Zeit. Von der Wirtschaft eines modernen Staates werden nicht länger mehr bloße Schwankungen im Gleichgewicht erwartet, sondern echtes Wachstum. Die Wachstumsrate des Bruttosozialproduktes gilt heute als Meßgröße dafür, wie gesund eine Volkswirtschaft ist, oder sogar für die Chance des Verbleibens im Kreise der führenden Industrieländer. Ob eine gerade noch annehmbare Wachstumsrate des Sozialprodukts von etwa vier Prozent erzielt wird, hängt in erster Linie von dem Umfang der früheren Forschung ab, die zu dem betreffenden Zeitpunkt in der Praxis angewandt werden kann; aber ebenso hängt die künftige Zuwachsrate vom Umfang der Forschung ab, die zur Zeit durchgeführt wird. Hinzu kommt, daß sich der zeitliche Abstand zwischen der Forschung und der Anwendung ihrer Ergebnisse beträchtlich verkürzt hat. Neue Ideen können — besonders auf den in rascher Entwicklung befindlichen Gebieten, wie etwa der Steuerungs- und Regelungstechnik — schon ein oder zwei Jahre nach ihrer Entdeckung verwertet werden. Nachdem dies erkannt worden war, entstand, zunächst auf militärwissenschaftlichem Gebiet, ein Forschungswettlauf, der immer noch anhält und bereits auf den zivilen Bereich übergegriffen hat, und zwar nicht nur auf die Elektroindustrie und die chemische Industrie, sondern auch auf Biologie, Medizin und Landwirtschaft. In der Zeit, seit The Social Function of Science geschrieben wurde, hat sich der Ernteertrag je Beschäfigten in der Landwirtschaft verdreifacht, und dementsprechend ging die Anzahl der direkt in der Landwirtschaft Tätigen zurück: Zur Zeit sind es in den USA nur noch zweieinhalb Prozent der Bevölkerung und in Großbritannien fünf. Zum gleichen Zeitpunkt sind in den ärmeren Regionen der Welt noch über siebzig Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig. Dieser Unterschied macht eine reale praktische Leistung der wissenschaftlichen Revolution deutlich. Zugleich zeigt dieser Erfolg, daß es der Revolution der Forschung nicht gelungen ist, auch jene zwei Drittel der Welt zu erfassen, die eben dabei sind, sich von den alten Kolonialmächten zu befreien. Die Kluft zwischen den Volkswirtschaften der fortgeschrittenen Industrieländer und denen der Entwicklungsländer wird rapide breiter. Dieses Zurückbleiben kann nur zu einem geringen Teil der Bevölkerungszunahme in den Entwicklungsländern zugeschrieben werden. Denn selbst wenn man den heutigen durchschnittlichen jährlichen Bevölkerungszuwachs von etwa zwei Prozent zugrunde legt, bleibt er derart weit unter dem Zuwachs des wissenschaftlichen Potentials, der mit gut zwanzig Prozent pro Jahr zu veranschlagen ist, daß von einem automatischen und eigenständigen „Aufholen" seitens der Entwicklungsländer keine Rede sein kann. Ob sich diese Kluft schließt oder nicht, keinesfalls dürfen wir jedoch die Gefahr einer totalen Zerstörung aus dem Auge verlieren, welche ein Aspekt der wissenschaftlichen Revolution über die ganze Menschheit gebracht hat, die Gefahr, die sich in der Atombombe und jetzt in der Wasserstoffbombe manifestiert. Die Ausrichtung auf den Krieg hat in den letzten zwanzig Jahren die gigantischen Anstrengungen der Wissenschaft beherrscht. Sie hat sich fraglos auch auf die neue wissenschaftliche Revolution ausgewirkt, die sie zunächst

1

L. S. Silk, The Research Revolution, New York 1960.

2

stimulierte, dann aber durch ihren Bedarf an Arbeitskräften und technischer Ausrüstung bremste. Seit dem Erscheinen von The Social Function of Science haben sich gewaltige Veränderungen vollzogen, insbesondere in den letzten paar Jahren. Das Buch wurde am Vorabend des zweiten Weltkrieges geschrieben, der riesige Zerstörungen, aber auch die Befreiungsbewegungen, insbesondere in Asien und Afrika, mit sich brachte. Weit folgenreicher aber als die konstruktiven Aspekte war die Entdeckung der Kernspaltung, die in der Atombombe und in der Bedrohung für alles Leben, die sie mit sich brachte, gipfelte. 2 In der Beherrschung des Atoms war etwas von der wahren Macht der Wissenschaft zum Ausdruck gekommen, aber ebenso offenkundig war geworden, daß die Mächte, die damals die Menschheit politisch und finanziell beherrschten, unfähig waren, die Möglichkeiten der Wissenschaft zu nutzen. Sie waren tatsächlich nicht einmal imstande, sie zu begreifen, und die zwanzig Jahre, die wir bisher im Atomzeitalter überlebt haben, bringen uns dies erst jetzt voll zum Bewußtsein. Wenn wir die Gefahren der unmittelbaren Gegenwart überleben, so haben wir alle Aussicht, eine Welt zu verwirklichen, die so völlig anders sein wird als alles Bisherige, daß der Übergang bemerkenswerter sein wird als jeder Wandel, der sich in der Geschichte der Menschheit vollzogen hat. Wir haben die Möglichkeit eines Zeitalters in Überfluß und Muße, aber auch die Realität einer gespaltenen Welt mit größerer Armut, Dummheit und Brutalität, als man jemals zuvor kannte. Zwischen jener künftigen Welt und der Welt von heute müssen wir jedoch eine Übergangsperiode durchschreiten, die voller Gefahren sein wird. Die technischen Möglichkeiten und mehr noch die der umfassenden Planung und Organisation, die sich durch den zweckmäßigen Einsatz von Computern ergeben, lassen sich nicht in das zersplitterte Gesellschaftssystem des Privateigentums an Produktionsmitteln und der Ausbeutung einfügen. Das praktische Problem besteht darin, wie dieser Übergang bei einem Minimum an Spannung und Zerstörung zu bewerkstelligen ist. Ich glaube zuversichtlich, daß sich das endgültige Schema sozusagen von selbst durchsetzen wird, sobald seine Logik voll erkannt ist; dennoch unterschätze ich keinesfalls die Gefahr, daß zumindest gewisse Bereiche der neuen wissenschaftlichen Methode, besonders in der Massenkommunikation und der Erziehung, darauf verwendet werden, diesen Wandel zu verzögern oder ihn in falsche Bahnen zu lenken. Ich schrieb The Social Function of Science unmittelbar vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges. Während dieses Krieges wurden die in diesem Buche dargelegten Vorstellungen, die damals größtenteils theoretischer Natur waren, in der Praxis voll überprüft. Im Dienste des Krieges war es möglich, viele der Vorschläge, die ich in meinem Buch zur Organisation der Wissenschaft und ihrer Anwendung gemacht hatte, in die Tat umzusetzen. Einige davon faßte ich später in meinem Aufsatz über The Lessons of the War for Scientists zusammen: „Bei Experimenten und der Anzahl der Mitarbeiter völlig freie Hand zu haben, ist eine Erfahrung, welche die Wissenschaftler, denen sie einmal zuteil wurde, niemals wieder vergessen werden. Sie wird besonders wichtig in den nächsten Jahren, wo wir unter einem Mangel an Kadern zu leiden haben werden, welche die stark gewachsenen Aufgaben lösen müßten, die vor der Wissenschaft stehen, und wo es wichtiger sein wird als je zuvor, daß wir 2

Daß ich davon abgesehen hatte, auf die Entdeckung der Kernspaltung [1938] hinzuweisen, sei es auf die konstruktiven, sei es auf die destruktiven Aspekte, mag erstaunlich erscheinen, geschah aber bewußt. Ich war natürlich über die Kernspaltung informiert; doch hatten mich meine Freunde im CavendishLaboratory warnend darauf aufmerksam gemacht, jeder Hinweis auf praktische Anwendungen würde namhafte Physiker davon abhalten, mein Buch ernst zu nehmen.

3

unsere wenigen fähigen Wissenschaftler voll einsetzen. Das erstmalig von Professor Blackett formulierte Prinzip, der Wissenschaft soviel Geld zukommen zu lassen, wie kompetente Wissenschaftler nutzbringend ausgeben können, und nicht nur so viel, daß sie gerade damit auskommen, sollte unserer Wissenschaft in der Nachkriegsperiode zugrunde gelegt werden. Fast ebenso wichtig als Lehre aus der Kriegszeit ist die Bedeutung der umfassenderen Integration, die in der wissenschaftlichen Arbeit erreicht wurde, zum Teil durch eine rationelle Organisation und zum Teil durch das Funktionieren eines effektiven aktuellen Informationsdienstes." Die Organisation der Wissenschaft in Kriegszeiten „übernahm zum einen, was früher Aufgabe der wissenschaftlichen Gesellschaften* war, nämlich die sorgfältige Diskussion und den Austausch wissenschaftlicher Meinungen; sie hatte aber noch eine weitaus positivere Funktion, indem sie festlegte, welche Probleme vorrangig in Angriff genommen werden sollten. Auf diese Weise konnte die wissenschaftliche Arbeit auf eine große Zahl der damaligen Laboratorien in staatlichen Einrichtungen, in der Industrie und an Universitäten verteilt werden, ohne an innerem Zusammenhalt oder einheitlicher Zielstellung einzubüßen. Außerdem wurden diese Ziele von Wissenschaftlern selbst vorgegeben, zumindest in der zweiten Hälfte des Krieges, so daß sie hinreichend vernünftig waren und die maßgebenden Wissenschaftler sie sich großenteils zu eigen machen konnten. Daraus entstanden allgemeine Konzeptionen der Wissenschaftsorganisation von bleibendem Wert."** Eine der wichtigsten Errungenschaften der Wissenschaft im Kriege war die Schaffung der Operationsforschung. Damals schrieb ich: „Die Operationsforschung führte nicht nur zu einem besseren Verständnis der militärischen Operationen im einzelnen, sondern auch zu einer völligen Integration ihrer verschiedenen Arten. Im weiteren Verlauf des Krieges wurden kombinierte Aktionen, sei es zu Lande und zur See, zu Lande und in der Luft oder aller drei zusammen eher zur Regel als zur Ausnahme, und die Brücke zwischen den erheblich voneinander abweichenden Methoden der drei Waffengattungen bildete oftmals die Operationsforschung. Auf diese Weise ergaben sich verschiedene allgemeine Prinzipien, die sich viel breiter anwenden ließen als nur auf rein militärische Unternehmen."*** „Was die Operationsforschung bereits damals im Keim enthielt, ist heute in der Wirtschaft der Friedenszeit spürbar. Im Grunde mündet es in der Feststellung, jegliche menschliche Tätigkeit und jeder Bereich dieser Tätigkeit sei legitimer Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen, könne also im Lichte dieser Untersuchungen auch Modifizierungen unterliegen. Wird dies erst einmal in der Praxis akzeptiert, was bedeutet, daß Forschungskräfte für die Durchführung dieser Untersuchungen eingesetzt werden, so steht dem Menschen der Weg zu einem höheren Niveau der Beherrschung seiner Umwelt offen, zu einem Niveau, auf dem ökonomische und gesellschaftliche Prozesse wissenschaftlich durchdrungen werden. In der Produktion geschieht dies bereits. Wir sind Zeugen eines Geschehens, das tatsächlich eine neue industrielle Revolution ist, in der die auf statistischen und anderen wissenschaftlichen Verfahren beruhende Steuerung und Regelung sowie die rationelle Projektierung und Planung die Rolle spielen, welche derjenigen der Antriebsmaschinen und einfachen Mechanismen in der ersten industriellen Revolution entspricht. Industrielle Prozesse werden heute als Kreisläufe von Leistungen aufgefaßt, in denen die Bedürfnisse der Konsumenten die Produktion bestimmen, während diese Bedürfnisse ihrerseits durch die Ergebnisse eben dieser

* Vgl. die Anmerkung 1 zum dritten Kapitel. ** J. D. Bernal, The Freedom of Necessity, London 1949, S. 290. *** Ebenda, S. 297.

4

Produktion modifiziert werden; dies führt bei ständig abnehmendem gesellschaftlichem Aufwand zu einem ständig zunehmenden Grad der Befriedigung dieser Bedürfnisse."* Der Grundtenor meiner damaligen grundlegenden Schlußfolgerungen stimmt heute noch. „Der ausgeglichenste und flexibelste Plan der wissenschaftlichen Forschung wird jedoch nicht genügen: Er muß Teil eines technischen, biologischen und gesellschaftlichen Fortschritts sein, der mit allen Ressourcen der Gemeinschaft vorangetrieben wird. Daß eine solche Aufgabe gemeistert werden kann, hat die Erfahrung des Krieges gezeigt. Der Krieg hat aber auch gezeigt, daß dies nicht nur möglich, sondern für das Überleben als fortgeschrittene Gemeinschaft absolut unerläßlich ist. Eine von der Wissenschaft durchdrungene Volkswirtschaft, die mit Hilfe wissenschaftlicher Forschung und Entwicklung beständig voranschreitet, ist die Grundforderung der neuen Epoche, in die wir jetzt eintreten. Sie zieht nach sich, daß ein weitaus größerer Teil der Leistungen und der Ressourcen der Gesellschaft für die Wissenschaft bereitgestellt wird, als man sich jemals vorgestellt hatte . . . Denjenigen, die sich über den Nutzen Gedanken gemacht hatten, den die Wissenschaft der Gesellschaft zu bringen vermag, war auch längst vor dem Kriege klar, daß die Ausgaben der Gesellschaft für die Wissenschaft viel zu gering waren. Damals lagen in Großbritannien die Gesamtausgaben für die Wissenschaft in der Größenordnung von etwa einem Zehntelprozent des Nationaleinkommens. Sie hatten erkannt, und sie versuchten deutlich zu machen, wie eine Vergrößerung dieses Anteils den Wohlstand weit schneller mehren könnte. In der Nachkriegssituation jedoch, da es gilt, Zerstörung und Desorganisation zu überwinden, da unser Land erheblich geschwächt ist und sich in einer gefahrlichen Lage befindet, ist das, was damals wünschenswert war, absolut notwendig geworden, und der erstrebenswerte Anteil für die Wissenschaft muß sehr viel höher sein . . . Auf lange Sicht müssen wir uns auf einen ziemlich raschen Wandel einstellen, bei dem wissenschaftliche Berufe, und zwar nicht notwendig nur in Forschung und Entwicklung, sondern auch in der wissenschaftlichen Produktion und in der Organisation der Wissenschaft, einen progressiv ansteigenden Anteil der Bevölkerung aufnehmen werden. Wir werden wohl dahin kommen, nicht wie bisher ein Zehntelprozent, sondern ein Prozent, zwei Prozent und möglicherweise schließlich, wenn auch in sehr ferner Zukunft, etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung in solche Aktivitäten einzubeziehen. Das ist eine logische Konsequenz der wachsenden Bedeutung menschlicher Intelligenz und menschlichen Bewußtseins im gesellschaftlichen Leben. Lange bevor dieses Stadium erreicht sein wird, wird jedoch vermutlich die Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Betätigung weitgehend verschwunden sein. Bereits heute benötigen wir für das richtige Funktionieren unserer Gesellschaft ein gewisses Maß an Kenntnissen wissenschaftlicher Fakten und — mehr noch — wissenschaftlicher Methoden seitens jedes einzelnen Bürgers. Die Regierung kann keine Entscheidung treffen, und die Menschen können die getroffenen Entscheidungen nicht in die Tat umsetzen, wenn sie das, was sie tun, nicht besser verstehen als bisher."** The Social Function of Science war zum großen Teil eine theoretische Arbeit, wenigstens was das Gebiet außerhalb der akademischen Sphäre betraf; auf akademischem Gebiet hatte ich ja beträchtliche Erfahrungen. Einige der eben zitierten Schlußfolgerungen sind die allgemeinen Lehren der Kriegszeit; sie enthalten aber auch persönliche Erfahrungen, die ich sammelte, als ich aus der akademischen Welt in die Welt der industriellen und der militärischen Praxis überwechselte. Zum Teil bestärkten mich diese Erfahrungen in meinen früheren Ansichten, zum Teil zeigten sie mir, wo ich mich geirrt hatte. Insbesondere wurde mir klar, daß allgemeine Aussagen über die Einheit von Theorie und Praxis als eigenständiges

* Ebenda, S. 299. ** Ebenda, S. 308/309.

5

Thema untersucht werden müssen, als Teil einer Strategie der Operationsforschung; diese Einheit können wir erst dann zu verwirklichen hoffen, wenn wir uns ernsthaft darum bemühen und wenn sich genügend Menschen damit befassen. Diese Ideen wurden in den westlichen Ländern nicht im erforderlichen Maße aufgegriffen, wohl aber in den sozialistischen. Dennoch hat der nahezu explosive Fortschritt wissenschaftlicher Entdeckungen, der unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg einsetzte, in allen Industrieländern zu einem raschen und sich ständig beschleunigenden technischen und ökonomischen Fortschritt geführt. Nur dank ihrer organisierten Wissenschaft konnten die sozialistischen Länder, die zunächst über geringere Ressourcen verfügten, von denen zudem während des Krieges noch ein großer Teil zerstört worden war (insbesondere das riesige menschliche Potential der Millionen, die umkamen), sich erholen und später, in der Nachkriegsperiode, im industriellen Fortschritt mit den reichsten kapitalistischen Ländern Schritt halten. In dieser Nachkriegsperiode wurden drei Gebiete des Fortschritts erschlossen, von denen jedes noch weit größere Leistungen verheißt. Das erste war die Verfügbarkeit schier unbegrenzter Energiemengen, die sich nicht allein mit der Kernspaltung ankündigte, sondern auch mit der Erkenntnis, daß die Vorräte der Welt an herkömmlichen Brennstoffen, besonders an Öl, um viele Größenordnungen reicher waren, als man ursprünglich vermutet hatte. Gleichzeitig hat die Entwicklung neuer Verfahren zur Gewinnung von Elektroenergie aus Wärme, die teilweise Nebenprodukte des Kernkraftwerksbaues sind, wie der magnetohydrodynamischen Stromerzeugung, den Wirkungsgrad von Wärmekraftmaschinen gegenüber den bisher üblichen 30 Prozent auf 60 Prozent erhöht, so daß pro Brennstoffeinheit die doppelte Energiemenge verfügbar wird. Damit war offenkundig geworden, daß der Fortschritt der Welt nicht an Energiemangel scheitern würde, mit anderen Worten, daß genügend .Energie zur Verfügung stehen würde, und mit ihr auch all die Stoff» und Verfahren, die dank des universell austauschbaren Charakters der Energie, der in der Möglichkeit der Umwandlung in Elektroenergie zum Ausdruck kommt, gewonnen bzw. entwickelt werden können. Energie kann als Antriebskraft in der Produktion genutzt werden, sie läßt sich aber auch einsetzen, um Metall aus Erzen zu gewinnen, um Kunststoffe wie Fasern und Plaste zu synthetisieren, und schließlich, um den Grundbedarf der Landwirtschaft an Düngemitteln und an Wasser, insbesondere durch Entsalzen von Meerwasser, zu befriedigen. Energie läßt sich also indirekt in Nahrungsmittel umwandeln, und dieser Prozeß wird bald nicht mehr indirekt sein und zu einer direkten chemischen Synthese werden. Die zweite und in ihrer Auswirkung vielleicht bedeutsamere Neuerung ist die rein logischmathematische, die mit der Entwicklung des Computers aufkam. Sie bietet ein Beispiel für das Mißverhältnis zwischen dem eigentlichen wissenschaftlichen Charakter einer Erfindung und ihrer Verwendbarkeit. Die dem Computer zugrunde liegenden mathematischen Begriffe sind keinesfalls komplexer als die der bereits im siebzehnten Jahrhundert von Pascal entworfenen und im neunzehnten Jahrhundert von Babbage gebauten Rechenmaschinen. Was diese Idee zu neuem Leben erweckte, waren die Mittel zu ihrer Realisierung: Ihre wesentlichen Bestandteile waren nun nicht mehr, wie bei den früheren Maschinen, Zahnstangen und -räder aus Holz oder auch aus Metall, sondern elektrische Stromkreise, die sehr schnell geschaltet werden konnten, zunächst mit Hilfe von Elektronenröhren und Magnetschaltkreisen, schließlich mit Hilfe von Halbleitern. Das Ergebnis war nicht die Erfindung irgendeines einzelnen — es bedurfte keines genialen Einfalls, sondern lediglich der Anwendung bekannter Methoden auf bekannte Probleme. Sobald es aber vorlag, sollte es enorme Auswirkungen nach sich ziehen, die man gerade erst zu erkennen beginnt. 6

Besonders augenfällig sind sie in der Industrie, wo eine bedeutende industrielle Revolution ausgelöst wurde, indem der Maschine nicht nur Kraft, sondern auch zweckentsprechendes Reagieren abverlangt wird. Damit kann und wird einem der schlimmsten Übel der ersten industriellen Revolution, dem Mißbrauch des Menschen als verlängerten Arms der Maschine, sehr schnell ein Ende gesetzt werden. Dies wird zu enormen gesellschaftlichen Konsequenzen führen. Die Handarbeit wird aufhören, Grundlage der Industrie zu sein, und auch Büroarbeit wird bald überflüssig werden. Das Wesen der Arbeit wird sich von Grund auf ändern: Sie wird aufhören, eine individuelle und körperlich unangenehme und langweilige Pflicht zu sein, mit der die Leute Geld verdienen oder zu der sie die Not zwingt, und zur freiwilligen und bewußten Übernahme einer bestimmten und Freude bereitenden Aufgabe in einer organisierten Gesellschaft werden. Nicht nur die Produktion ist von dieser Entwicklung betroffen, sondern auch die gesamte Verwaltung in Staat und Wirtschaft. Der Büroangestellte, der an seinem Schreibtisch sitzt und lange Zahlenreihen addiert, wird jetzt überall vom Computer abgelöst. Ganze Städte und Länder werden in Zukunft so verwaltet werden. Bereits heute können viele Dinge besser von einem Computer als von einem Menschen erledigt werden, und mit der weiteren Entwicklung der Computer werden es immer mehr, bis es schließlich das Normale sein wird, daß die meisten Aufgaben einem Computer übertragen werden und nur solche dem Menschen vorbehalten bleiben, die dann noch nicht von einem Computer bewältigt werden können. Ein weiterer — und letztlich bedeutsamer — Einsatz des Computers ist der in der Wissenschaft selbst, wo er Operationen ausführen kann, die zwar im Prinzip denkbar sind, aber praktisch nicht realisierbar waren, so daß automatische wissenschaftliche Analysen und Synthesen möglich werden. Ein Computer kann sogar bisher unzugängliche Probleme angreifen und auch der reinen Mathematik zu Fortschritten verhelfen.* Das ist ein Ausbrechen aus unseren Denkgewohnheiten, das schließlich zu einer neuen Symbiose von Mensch und Maschine führen wird. Früher hatte der Mensch die Maschine benutzt, heute bilden Mensch und Maschine eine Einheit. Sie können, ja, sie müssen in Zukunft miteinander denken. Der dritte, ebenfalls außerordentlich wichtige Aspekt des sich zur Zeit vollziehenden Wandels ist das tiefere Eindringen in das Verständnis biologischer Prozesse. Die großen Entdeckungen, die um die Mitte unseres Jahrhunderts in der Biochemie gemacht wurden, und ihre Umwandlung in die Ultramikrobiochemie des Zellinnern [Molekularbiologie], die in der Aufdeckung des genetischen Mechanismus und der Entschlüsselung des genetischen Kodes gipfelten, sind nicht nur große Triumphe des menschlichen Geistes, sondern bieten zum ersten Mal die Möglichkeit, biologischen Prozesse bewußt zu steuern. Wir fangen eben damit an, Vorgänge zu beherrschen, die uns am unmittelbarsten berühren, wie die Heilung von Krankheiten. Davon ausgehend, müssen wir zu dem allgemeinen Ziele der „Verlängerung des Lebens und der Verbesserung des Zustandes des Menschen" voranschreiten. Die ersten vier der Baconschen Magnalia — Verlängerung des Lebens, — Wiederherstellung der Jugend bis zu einem gewissen Grade, — Hinauszögern des Alterns, — Heilung von Krankheiten, die als unheilbar gelten, sind nun auf dem Wege zu ihrer Verwirklichung. Alle diese großen Leistungen in der Energiegewinnung, in der Industrie, in der Medizin * Diese Vorhersage wurde durch die Lösung des Vierfarbenproblems der Topologie mit Hilfe von Computern (1976, W. Haken und K. Appel) glänzend bestätigt. Vgl. H. Pieper, Computerlösung des Vierfarbenproblems, in: Wissenschaft und Fortschritt, 3/1978, S. 104—108.

7

und in der Landwirtschaft sind nur ein Teil dessen, was wir heute immer bewußter als die wichtigsten Veränderungen unserer Zeit begreifen, als eine Revolution der Forschung selbst. Wir sind jetzt beim zweiten Stadium angelangt, dem der Entwicklung der wissenschaftlichen Methode. Dazu noch einmal Bacon: „Vor allem aber, wenn es einem Menschen gelingen würde, nicht irgendeine bestimmte Erfindung zu machen, wie nützlich sie auch immer sei, sondern ein Licht in der Natur zu entzünden — ein Licht, das bei seinem Aufflammen alle Grenzgebiete, die den Kreis unserer gegenwärtigen Kenntnis umschließen, erfaßt und erhellt, sich dann weiter und weiter verbreitet und damit alles, was jetzt ganz verborgen und ein Weltgeheimnis ist, enthüllt und ans Tageslicht bringt —, dieser Mann (so glaube ich) würde der Wohltäter des Menschengeschlechts sein — der Verkünder der Herrschaft des Menschen über das Universum, der Vorkämpfer der Freiheit, der Bezwinger und Überwinder der Not."* Bacon spricht hier von der wissenschaftlichen Methode als solcher. In jüngster Zeit sind sich nun nicht nur die Wissenschaftler, die das schon seit vielen Jahren wissen, sondern Völker und Regierungen der Existenz einer Methode bewußt geworden, die an sich schon die Gewähr dafür bietet, daß immer mehr dieser großen Leistungen und Umwälzungen geschaffen werden. Das ist der tiefere Sinn der Revolution der Forschung. Sie hat bereits begonnen und schreitet immer rascher voran. Das ist aber nur die eine Seite. Forschung kann auf höchst unsystematische und unergiebige Weise betrieben und angewandt werden. In The Social Function of Science hatte ich die Effektivität der Forschung auf etwa zwei Prozent geschätzt: Das sollte besagen, daß von dem, was sich mit den verfügbaren Ressourcen und Kadern hätte entdecken und leisten lassen, nur ganze zwei Prozent tatsächlich realisiert wurden. Um auch nur eine ganz bescheidene Steigerung der Effektivität zu erzielen, brauchen wir offensichtlich etwas anderes, aber etwas radikal Neues. Wir brauchen eine Strategie der Forschung, die auf einer Wissenschaft von der Wissenschaft beruhen muß. Diese kann aber nicht formuliert werden, indem man, wie das früher geschah, einfach a priori festlegt, wie die wissenschaftliche Methode auszusehen habe, sondern indem man sie aus dem, was sie leistet, und aus der Art und Weise, wie sie wirkt, herauspräpariert. Diese Wirkungsweisen betreffen aber jetzt Menschen und Maschinen gleichermaßen. Die Wissenschaft von der Wissenschaft bzw. die Tatsache, daß die Wissenschaft sich ihrer selbst bewußt wurde, wie ich an anderer Stelle gesagt habe, ist der wahrhaft sensationelle Fortschritt der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts. Diese Wissenschaft von der Wissenschaft muß sehr umfassend sein: Sie muß sowohl die gesellschaftlichen und ökonomischen als auch die materiellen und technischen Bedingungen für den wissenschaftlichen Fortschritt und für den richtigen Einsatz seines Instrumentariums zum Inhalt haben. Nach diesen sehr allgemeinen Bemerkungen möchte ich etwas zu einzelnen Themen sagen, die in den Beiträgen dieses Bandes** zur Sprache kommen, sowie auch zu einigen Punkten, die zwar dort nicht behandelt werden, aber zu den Grundgedanken von The Social Function of Science gehören. Dabei möchte ich lediglich auf diejenigen näher eingehen, die in diesen fünfundzwanzig Jahren an Bedeutung gewonnen haben, und besonders auf solche, zu denen ich in dieser Zeit persönliche Erfahrungen sammeln konnte. Ich werde mich jetzt nicht auf spezielle Wissensgebiete beziehen, sondern vielmehr auf die neuen Methoden, dank derer die Wissenschaft heute voranschreitet. Das betrifft insbesondere die wissenschaftliche Kommunikation, im weiteren Sinne des Wortes die Stel* Zit. nach: J. D. Bemal, Die Wissenschaft in der Geschichte, Berlin 1967, 3. bearb. Aufl., S. 276. ** The Science of Science, hg. von M. Goldsmith/A. Mackay, London 1964.

8

lung der Wissenschaft innerhalb der Kultur sowie die damit zusammenhängenden Gebiete der Organisation und der Finanzierung der Wissenschaft. Wie De Solla Price darlegt, 3 hat das stürmische Wachstum der Wissenschaft, das den Fortschritt auf allen anderen Gebieten menschlichen Strebens weit hinter sich läßt, bereits seine eigenen Probleme hervorgebracht, von denen einige vorauszusehen waren, als The Social Function of Science geschrieben wurde. Das erste ist rein technischer Art: das der Kommunikation unter Wissenschaftlern, zu dem Coblans einen sehr instruktiven Beitrag geliefert hat.* In den ersten Jahren nach dem Kriege, als der Zusammenbruch jeglicher Kommunikation eine hervorragende Gelegenheit zu ihrer Reorganisation geboten hätte, hatte ich versucht, sie auf nationaler und internationaler Ebene wieder in Gang zu bringen, aber mit auffallendem Mißerfolg. Erst jetzt, da das Chaos in der wissenschaftlichen Kommunikation sogar ihren eigenen Fortschritt bedroht und Ergebnisse der Forschung darin bestehen, daß dieselben Dinge mehrmals entdeckt werden, weil nicht bekannt ist, was schon geleistet wurde, wird dieses Problem ernst genommen. Glücklicherweise machen es die neuen Hilfsmittel der Kommunikation und die Computer zum ersten Male möglich, mit großen Mengen an Informationen rationell umzugehen. Die wissenschaftliche Kommunikation dürfte ein ideales Anwendungsgebiet der Kommunikationstechnik sein; dies würde aber einen grundlegenden Wandel in den Traditionen bedeuten. Was ich in The Social Function of Science vorgeschlagen hatte, nämlich die wissenschaftlichen Zeitschriften abzulösen, war auf hartnäckigen Widerstand gestoßen und in der Times sogar als „hinterhältiger und arroganter Vorschlag" abgetan worden, nachdem ich 1947 auf der Konferenz der Royal Society zur wissenschaftlichen Information darüber vorgetragen hatte. Worin ich mich geirrt hatte, das war nicht die Richtung, in der die Verbesserung erfolgen sollte; ich hatte nur geglaubt, sie sei leicht durchzuführen, weil ich die Vorurteile, die ihr entgegenstanden, unterschätzt hatte. Die wissenschaftliche Zeitschrift ist durch das rasche Wachstum der Wissenschaft tatsächlich zum Tode verurteilt. In Zukunft müssen die Einheiten der wissenschaftlichen Information gesammelt, klassifiziert und sortiert werden, größtenteils elektronisch, bevor sie sinnvoll denjenigen angeboten werden können, die sie nutzen wollen. Das gilt vor allem für Informationen innerhalb der Wissenschaft. Daneben gibt es das weite Feld der Informationen, die aus der Wissenschaft in die Industrie und in die Öffentlichkeit fließen sollen. Es ist eine ganz offertsichtliche Tatsache, die in der Zwischenzeit eher an Gewicht gewonnen als verloren hat, daß im Vergleich zu den Ausgaben für die eigentliche Forschung nur eine verhältnismäßig kleine Summe für wissenschaftliche Information und Kommunikation bereitgestellt wird. Die Bereitstellung größerer Mittel braucht nicht unbedingt dazu zu führen, daß sich die Verbreitung wissenschaftlicher Informationen verbessert, aber ohne mehr Geld verbessert sie sich bestimmt nicht. Das Problem, das nach der Vermittlung von Information den zweiten Platz einnimmt, ist die Ausbildung derjenigen, die diese Information aufnehmen und deren Aufgabe es ist, Wissen und den Gebrauch von Wissen an die Welt von morgen weiterzugeben. Auch hier erscheint die scharfe Kritik an den Systemen der wissenschaftlichen Ausbildung, so sehr sie damals auch auf Ablehnung stieß, jetzt fast als Gemeinplatz, angesichts der neuen, dringenden Forderungen nach wissenschaftlichen und technischen Kadern, die nicht nur in den Industrieländern, sondern auch in den Entwicklungsländern erhoben werden.

3

Am deutlichsten in seinem jüngsten Buch : D. J. de Solla Price, Little Science, Big Science, New York 1963. * Vgl. H. Coblans, The Communication of Information, in: The Science of Science, a. a. O., S. 93—101.

9

Daß dies ein Problem ist, wird heute nicht mehr geleugnet. In Großbritannien ist es sogar zu einem Hauptthema des Wahlkampfes geworden, und es hat im Erziehungswesen zu einer grundlegenden Verschiebung der Schwerpunkte geführt: weg vom Ideal der Renaissance, der Heranbildung einer gebildeten Elite, und hin zu dem Ziel, Verwaltungsfachleute und nach Möglichkeit auch Regierungsbeamte auszubilden, welche die Bedürfnisse der Wissenschaft in einer sich industrialisierenden Gesellschaft zu begreifen und richtig einzuschätzen imstande sind. Von einer Lösung des Problems sind wir aber noch weit entfernt. Oberflächlich gesehen, könnte es tatsächlich als unlösbar erscheinen. Die Dauer der Ausbildung kann nur in sehr begrenztem Umfang vergrößert werden, indem man sie verdoppelt, beispielsweise von drei auf sechs Jahre. Da sich aber die Menge der wissenschaftlichen Ergebnisse alle sieben Jahre verdoppelt, müssen offenbar völlig neue Methoden der Ausbildung entwickelt werden, damit das schon vorhandene Wissen genutzt werden kann und darüber hinaus gesichert ist, daß das neue Wissen ständig schneller erworben und eingegliedert wird. Hier können jedoch die neuen Methoden unseres Computer-Zeitalters helfen. Schon werden Lehrmaschinen entwickelt, die sich dem Lerntempo des einzelnen Studenten anpassen können; auch läßt sich das Fernsehen in breitem Maße zur Ergänzung der praktischen Unterweisung heranziehen. Doch auch hier wird nichts Effektives geleistet werden können, wenn nicht viel größere Anstrengungen unternommen werden, um nach Methoden zu forschen, wie Wissenschaft vermittelt werden kann. In einigen der älteren Industrieländer beginnt sich allmählich die Erkenntnis durchzusetzen, daß nicht nur eine kleine Gruppe einer Berufsschicht eine solche Ausbildung braucht, sondern daß diese Ausbildung die gesamte Bevölkerung erfassen muß. Die modernen automatischen Maschinensysteme erfordern hochgebildete Kader, die ihren Lauf überwachen und aus dem, was sie leisten, die besten Methoden zu ihrer Verbesserung erarbeiten. Jedenfalls steht fest, daß der Bedarf an Kadern in Forschung und Entwicklung in Industrie, Landwirtschaft und Medizin gewaltig anwachsen und sich der Anzahl der Menschen nähern und sie in einigen Fällen sogar übersteigen wird, die in der Produktion und im Verkehrswesen arbeiten. Die Entwicklung der Automatisierung wird also den Bedarf an Wissenschaft keinesfalls vermindern, sondern ihn tatsächlich um ein vielfaches steigern. Die Probleme von Wissenschaft und Ausbildung sind nicht länger mehr, wie dies großenteils der Fall war, als The Social Function of Science geschrieben wurde, auf die fortgeschrittenen Industrieländer beschränkt. Ein weit schwierigeres Problem, zu dessen Bewältigung aber weniger Mittel zur Verfügung stehen, ist das der Entwicklungsländer; diese brauchen die Wissenschaft für ihre grundsätzlich neue Aufgabe: das Land zum Wohl der eigenen Bevölkerung zu entwickeln und nicht, wie in der Vergangenheit, um die Ausbeutung zugunsten ausländischer Interessen effektiver zu machen. Einige dieser Probleme werden in dem Artikel von Prof. Blackett behandelt,* aber im wesentlichen im Hinblick auf das Ziel, das Produktions- und Konsumtionsniveau dieser Länder auf das der Industrieländer zu heben. Das Problem der Wissenschaftler in den Entwicklungsländern ist aber in Wirklichkeit ein Problem für sich. Oftmals wird es so behandelt, als ginge es dabei um Hilfeleistungen; tatsächlich kann kurzfristig vieles bei der Vermittlung von Wissen in diesen Ländern offenbar nur mit direkter oder indirekter Hilfe von außen geleistet werden. Diese Lösung hat aber ihre Schwierigkeiten und verkehrt sich in vieler Hinsicht in ihr Gegenteil. Die

* Vgl. P. M. S. Blackett, F. R. S. [Mitglied der Royal Society], Nobelpreisträger, The Scientist and developed Countries, in: ebenda, S. 42—55.

10

Under-

ausländischen Lehrkräfte bleiben vielfach in diesen Ländern und werden nicht durch einheimische ersetzt. Das liegt zum Teil daran, daß ihre besten Schüler, die in die fortgeschrittenen Länder gehen, um dort ihr Studium abzuschließen, lieber dort bleiben, als in ihre Heimat zurückzukehren, wo sie das, was sie gelernt haben, unter weit schwierigeren und weniger lohnenden Bedingungen anwenden müßten. Das ist eine Seite des brain drain [Abwerbung von Kadern], der nahezu alle Länder schwer trifft, abgesehen natürlich von den Zielländern, und das sind gewöhnlich die Vereinigten Staaten. Es besteht eine natürliche Tendenz, in den Entwicklungsländern diejenige Art von Wissenschaft zu lehren, die man aus den Industrieländern kennt, so daß für Wissenschaftler, die auf diese Weise ausgebildet wurden, in ihren Heimatländern oft eine echte Gefahr der Arbeitslosigkeit besteht. Versuche, dem entgegenzuwirken, können jedoch zu Fehlern in entgegengesetzer Richtung führen, daß nämlich Leute in Ländern, deren Wirtschaft großenteils auf Rohstofflieferungen basiert, in einer vereinfachten Art von Wissenschaft ausgebildet werden, die auf die Probleme zugeschnitten sein soll, mit denen sie es bei der Entwicklung ihrer Länder zu tun haben. Eine solche Einstellung, und sei sie noch so gut gemeint, muß unvermeidlich als Bevormundung aufgefaßt werden und wird dementsprechend übel vermerkt. Der harte Weg, sich auf sich selbst zu verlassen und ohne ausländische Lehrkräfte und Ratgeber den Aufbau zu vollziehen, vermeidet beide Gefahren; er wurde mit großem Erfolg in China praktiziert. Ein sehr wichtiges Kriterium für die verschiedenen Methoden des Herangehens an die wissenschaftliche Ausbildung ist das Problem der Sprache. In den Frühstadien des Kolonialismus und Halbkolonialismus waren die Sprachen, in denen Wissenschaft vermittelt wurde, die Sprache der einzelnen Kolonialmächte. In einer Kolonie war dies eine einzige Sprache, in einer Halbkolonie wie China, um das sich mehrere Kolonialmächte rauften, waren es verschiedene, in keinem Falle war es jedoch die Landessprache. Nach der Befreiung hielt diese Praxis vielfach an, mit dem Ergebnis, daß die wissenschaftlich gebildete Jugend innerhalb ihres Volkes entwurzelt wird und sich dadurch um so leichter im Ausland anpaßt. Andererseits bringt zwar die Verwendung einer Landessprache, wo dies möglich ist — und die Schwierigkeiten sind besonders groß, wenn es sich dabei um mehrere Sprachen handelt —, eine ungeheure Übersetzungsarbeit und eine zusätzliche Ausbildung von Lehrkräften mit sich, bietet aber eine bessere Grundlage für eine Wissenschaft, die auf die Bedürfnisse des Volkes zugeschnitten ist. Allerdings wird dadurch der Sprachwirrwarr in der internationalen Wissenschaft noch größer. Es dürfte von Interesse sein, nach zwanzig Jahren die Fortschritte zu vergleichen, die in Indien bzw. in China erreicht wurden, die sich unterschiedlicher Methoden zur Lösung dieses Problems bedienen. Die Vorstellung einer vereinfachten Art von Wissenschaft für Entwicklungsländer hat eine weitere ungünstige Konsequenz. Sie nährt unvermeidlich den Glauben, die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit sei eher eine einseitige als eine zweiseitige Angelegenheit: Die Entwicklungsländer haben aber der Wissenschaft ebensoviel zu geben, wie sie von ihr nehmen. Sie trübt sogar unsere Hoffnung, mit dem gewaltigen Anwachsen von Wissenschaft und intellektuellen Fähigkeiten einer Zeit entgegenzugehen, in der neun Zehntel und nicht wie heute nur etwa ein Viertel der Welt in der Lage sein werden, zum Fortschritt der Wissenschaft beizutragen. Die Aufgabe, die Welt so umzugestalten, daß die Bedeutung der wissenschaftlichen Revolution erkannt wird, ist überall kompliziert und zudem ein Problem, das im Augenblick mit der Zeit immer schwieriger wird. Das aber kann nur eine vorübergehende Phase sein. Dieses Gesamtproblem mit seinen ökonomischen, wissenschaftlichen und politischen Komponenten muß als geplante Operation angesehen werden, wobei jeweils bestimmte Phasen der Entwicklung durch eine Art internationaler Koordinierung aufeinander abzu11

stimmen sind. O b eine solche Koordinierung in einer Welt möglich ist, die durch die Spaltung in kapitalistische u n d sozialistische Wirtschaftssysteme beherrscht wird, ist das große Problem unserer Zeit. Hält m a n es, wie es in China geschieht, nicht f ü r möglich, so m u ß m a n damit rechnen, d a ß zwei völlig verschiedene Arten von Wissenschaft nebeneinander emporwachsen, von denen die eine allmählich die O b e r h a n d gewinnen u n d die andere verkümmern wird. G l a u b t m a n aber an die Möglichkeit der Koexistenz oder gar der Kooperation, so darf m a n erwarten, d a ß m a n Schritt für Schritt von der recht begrenzten internationalen Zusammenarbeit in der Wissenschaft, wie wir sie heute haben, zu einer wesentlich engeren gelangt. Dies wird um so leichter sein, wenn sich die Niveaus der Produktion u n d des technischen Fortschritts angleichen u n d die politischen u n d ökonomischen Blöcke einander näher k o m m e n . N u r die Zeit k a n n diese Schwierigkeit aus d e m Wege räumen, aber die Wissenschaftler der Welt von heute sollten von der besten Analyse, zu der sie gegenwärtig imstande sind, ausgehen u n d mit allen ihren K r ä f t e n auf eine möglichst breite internationale Organisation der Wissenschaft hinwirken. Vieles wurde bereits getan, wenn auch auf etwas peripheren Gebieten, wie etwa der Meteorologie und der Kosmosforschung sowie bei der Erforschung der Erde, etwa bei der internationalen Antarktisforschung. Einige dieser Fragen werden in dem Artikel von Alexander King behandelt.* Eine Organisation wie die U N E S C O bewegt sich in dieser Richtung, wenn auch sehr langsam, auf G r u n d einer bestimmten negativen Politik seitens derjenigen Staaten, welche die H a u p t m a s s e der finanziellen Mittel aufbringen. Die internationalen wissenschaftlichen Vereinigungen, die sich zum International Council of Scientific Unions [ICSU, Internationaler R a t Wissenschaftlicher Vereinigungen] zusammengeschlossen haben, können sehr viel dazu beitragen, Methoden u n d Kenntnisse auf den verschiedenen Gebieten von Wissenschaft u n d Technik zu verbreiten. Seit ich The Social Function of Science geschrieben habe, haben die Vereinigungen der I C S U an Stärke u n d Einfluß gewonnen. Ich k o n n t e in der 1946 gegründeten Internationalen Union für Kristallographie, meinem eigenen Fachgebiet, gründliche Erfahrungen sammeln. D a h e r weiß ich aus eigener Erfahrung, d a ß es möglich ist, zwischen Menschen des gleichen Fachgebietes ständige K o n t a k t e herzustellen, über alle Schranken der Nationalität, der Rasse u n d der politischen Überzeugungen hinweg, welche auf diesem Gebiet zu systematischen und zugleich interessanten Fortschritten führen u n d wobei die beiderseitigen Vorteile dieser engen Zusammenarbeit in jeder Hinsicht spürbar werden. Die Idee einer weltweit organisierten Wissenschaft ist, wie mich diese Erfahrungen gelehrt haben, innerhalb weniger Jahre voll realisierbar; sie ist tatsächlich dringend notwendig, wenn wir nicht stattdessen ein völliges und lähmendes Chaos verewigen wollen. In The Social Function of Science hatte ich einige Kapitel der Finanzierung der Wissenschaft gewidmet, einmal, wie sie in der damaligen Zeit war, zum anderen, wie ich sie mir in einer idealen Gesellschaftsstruktur vorstellte. Angesichts der relativ kleinen Zahl von Wissenschaftlern, die es damals gab, war die Diskussion weitgehend eine akademische Ü b u n g , wohingegen heute die Wissenschaft mit ihren in die Dutzende von Millionen Dollar gehenden Ausgaben die Arena des „großen Geldes" betreten hat. Wie ich damals ausführte, hat m a n festgestellt, d a ß es kein wirkliches Verfahren gibt, u m die Beiträge zu bemessen, die f ü r die Wissenschaft sinnvoll ausgegeben werden können,' bzw. u m ihren Nutzen abzurechnen. Allzu schmerzlich war deutlich, d a ß dieses Problem in den dreißiger Jahren im Prinzip recht einfach gelöst worden w a r : Die Gelder, die f ü r die Wissenschaft ausgegeben wurden, reichten insgesamt u n d in keinem einzigen Institut auch nur im ent* Vgl. A. K.ing, Science International, in: ebenda, S. 114—126. 12

ferntesten aus, um einen damals erkennbaren nutzbringenden Gebrauch der Wissenschaft zu finanzieren, ganz zu schweigen von irgendeinem weiteren Nutzen, den der wissenschaftliche Fortschritt für die Gesellschaft, beispielsweise in der Medizin, hätte bringen können. The Social Function of Science war geprägt von dem Bild der Ohnmacht der Wissenschaft, die in der Hauptsache aus den finanziellen Beschränkungen herrührte, unter denen sie arbeitete. Einen großen Teil meines Buches mußte ich der Argumentation gegen diese Beschränkungen widmeh. Heute ist die Situation anders: Es ist eher das große und nicht das geringe Ausmaß der Ausgaben, das zur Debatte steht. Während der Zeit des Krieges und in den ersten zehn Nachkriegsjahren unterlag ein Großteil der Ausgaben für die Wissenschaft, da sie überwiegend militärischen Zwecken diente, den recht unkomplizierten Prinzipien aller militärischen Finanzierung: Sämtliche beantragten Summen wurden bewilligt und, falls Nachfragen erfolgten, wurde dem Fragesteller bedeutet, aus Gründen der Sicherheit könnten keine weiteren Auskünfte erteilt werden. Wie und wem das Geld überantwortet wurde, war Staatsgeheimnis. Von den Parlamenten wurde erwartet, daß sie ohne zu fragen die Militärbudgets verabschiedeten und die neuen Steuern bewilligten. Wissenschaft für militärische Zwecke wurden als sakrosankt angesehen. Diese Situation besteht nun nicht mehr. Die unmittelbare Gefahr scheint geringer geworden zu sein, obwohl der Rüstungshaushalt in Wirklichkeit ständig anwächst. Heute gibt es jedoch bereits einige wagemutige Abgeordnete, sogar in den Vereinigten Staaten, die zu fragen beginnen, was mit all dem Geld geschieht. Es besteht eine eindeutige Tendenz, die Ausgaben für die Wissenschaft zu beschneiden oder mindestens zu verhindern, daß sie ins Unermeßliche wachsen. Die Frage, die bisher nicht beantwortet wurde, lautet: Wie hoch müssen die Ausgaben für die Wissenschaft zweckmäßigerweise sein, damit sie vom Standpunkt der Ökonomie aus den größten Nutzen bringen? Verfügen wir auch nur über die Prinzipien, um das einzuschätzen? Zunächst sei daraufhingewiesen, daß es keinerlei System zur Erfassung der Ausgaben für die Wissenschaft gibt. Man muß schon die offiziellen Veröffentlichungen mit größtem Fleiß durcharbeiten, wenn man herausbekommen will, welcher Anteil in die wissenschaftliche Forschung, in die wissenschaftliche Entwicklung und in die eigentliche Rüstungsproduktion geht. So enthält beispielsweise The Social Function of Science meinen Versuch einer Analyse der relativ spärlichen militärischen Ausgaben vor Beginn des zweiten Weltkrieges. Tatsächlich nehmen die Ausgaben für die Wissenschaft in sämtlichen herkömmlichen ökonomischen Systemen eine Sonderstellung ein. Sie sind im strengsten Sinne des Wortes nicht produktiv. Es ist unmöglich, die für einen Wissenschaftler oder ein Laboratorium ausgegebene Summe mit der jährlichen Produktivität dieses Laboratoriums oder auch der Fabrik, mit der es zusammenarbeitet, zu vergleichen. Die Wissenschaft muß, wie ich an anderer Stelle gesagt habe, [mathematisch gesprochen] als die zweite Ableitung der Produktion angesehen werden. Die Produktion selbst ist die Größe, auf welche die Ausgaben für die Wissenschaft bezogen werden müssen. Die Erweiterung oder Verbesserung der Produktion mit den normalen technischen Verfahren ist die erste Ableitung dieser Beziehung. Sie repräsentiert die Geschwindigkeit, mit der sich der Produktionsprozeß ändert. Die zweite Ableitung, d. h. die Geschwindigkeit, mit der die Änderungsgeschwindigkeit wächst, ist das, was die wissenschaftliche Forschung zuwege bringt. Das läßt sich aber leider nicht im einzelnen vorhersagen. Was für die weitere Entwicklung auszuwählen ist und ob sich dabei direkt oder indirekt ein Nutzen ergibt, kann erst gesagt werden, wenn die Untersuchung abgeschlossen ist. Das war in der Vergangenheit einer der Hauptgründe dafür, daß Industrielle allen Ausgaben für die Wissenschaft eher skeptisch gegenüberstanden. Es gab einen weiteren G r u n d : Man hatte keine Gewähr 13

dafür, daß irgendein Nutzen, der dem Geld entspringen würde, das man für Wissenschaft ausgegeben hatte, auch dem Unternehmen zugute kommen werde, das die Forschung finanzierte. Dieses Argument galt natürlich nicht für die sozialistischen Länder. Dennoch gab es auch hier eine gewisse Zurückhaltung, sich auf nichtkalkulierbare Risiken einzulassen. Mit Ausnahme von speziellen Bereichen, wie dem Weltraumflug, der offenkundig mit der Raketentechnik zusammenhängt, hat die Sowjetunion davon abgesehen, größere Mittel in den Aufbau neuer Produktionszweige zu investieren. Das meiste Geld floß in erprobte Bereiche wie Hochöfen, Dampflokomotiven, Großbauten, Walzwerke und Turbinen. Dies ändert sich jetzt jedoch schnell; sowohl in den USA als auch in der UdSSR strömt viel in Automatisierung und elektronische Datenverarbeitung. Nur dort, wo es bei relativ geringem Kapitalaufwand zu einem raschen Rückfluß kommt, wie etwa bei Transistor- und Fernsehgeräten, war man bereit, in großem Umfange in die Wissenschaft zu investieren. Noch heute kann man feststellen, daß die weitaus meisten der in der Industrie beschäftigten Wissenschaftler in Betrieben der Elektrotechnik und der Feinchemie tätig sind; Pharmaka und Transistorgeräte schlagen sich ja gleich schnell um. Auch wenn sich für wissenschaftliche Einzelunternehmungen der Gewinn von Aufwendungen nicht ermitteln läßt, so ist doch die Rentabilität der Wissenschaft insgesamt unbestritten, und das gilt ganz besonders für Ausgaben in der Grundlagenforschung. Erkenntnisse über das Verhalten und die Eigenschaften von Stoffen wirken sich, sobald sie gewonnen worden sind, auf die gesamte Industrie aus und nicht nur auf einen Industriezweig oder einen Teil davon. In den letzten Jahren hat die Entwicklung neuer Werkstoffe, die für neuartige Motoren wie Düsentriebwerke gebraucht wurden, die ersten Früchte getragen. Ohne tiefe Kenntnisse der Festkörperphysik, eines praktisch neuen Wissenszweiges, hätten aber diese Werkstoffe nicht geschaffen werden können. Ein weiteres Beispiel: Die Quantenphysik hat zu einigen der aufsehenerregendsten Erfindungen unserer Zeit geführt, dem Transistor, der die Computer voranbrachte, sowie dem Maser und dem Laser, welche die Optik und die Nachrichtenübermittlung im Weltraum umgestalten sollten. Selbst die Raumfahrt ist ein Produkt der technischen Kybernetik, und sie verdankt der Grundlagenforschung mehr als der Schubkraft neuer Treibstoffe und der Aerodynamik der Raketenkonstruktion. Alles dies weist auf die Wichtigkeit der Grundlagenforschung hin. Wie läßt sich diese Bedeutung quantitativ erfassen? Gegenwärtig entfallen auf die Grundlagenforschung etwa fünf bis zehn Prozent der Gesamtausgaben für die Wissenschaft. Warum gerade so viel? Warum nicht ein Prozent oder zwanzig Prozent? Eine der wichtigsten Aufgaben der angewandten Wissenschaft von der Wissenschaft besteht darin, gewisse Schätzwerte für diese Größen zu erhalten, um davon ausgehend eine Strategie der wissenschaftlichen Forschung zu begründen. Dazu sind offensichtlich Überlegungen zweierlei Art erforderlich: Als erstes muß die wirkliche Ökonomik der Wissenschaft der Vergangenheit gründlich erforscht und analysiert werden, um daraus die Grunddaten zu gewinnen, auf denen die Wissenschaftspolitik der Zukunft aufgebaut werden kann; als zweites ist eine Art von Ökonomik zu erwägen, die in ihre Überlegungen sowohl den Charakter der Aufwendungen einbezieht, die in einer immer rascher voranschreitenden Gesellschaft gemacht werden, als auch das Moment der Wahrscheinlichkeit für eine spezielle Ausgabe zu wissenschaftlichen Zwecken. Ich muß zugeben, daß dies zur Zeit mehr zum Bereich der Kunst als zu dem der Wissenschaft gehört; man muß bereit sein, zuweilen nichtkalkulierbare Risiken einzugehen. Bei der Berechnung der Risiken müssen wir aber soweit wie möglich vordringen, d. h., mit Hilfe von Computern verschiedene Varianten von Prinzipien zur Finanzierung der wissenschaftlichen Forschung durchspielen und dann in großen Zügen entscheiden, wie wir weiter vorgehen. Außerdem sind in jedes System zahlreiche Rückkopplungen einzubauen. Dies war stets ein Element 14

echter militärischer Strategie, das sich in dem Aphorismus zusammenfassen läßt: Mindere die Verluste und du erhöhst den Erfolg. Heute habe ich den Eindruck, daß wir den Nutzen der Grundlagenforschung gröblichst unterschätzen. Der rascheste und sicherste Ertrag fließt stets aus einem tieferen Verständnis der Natur. Vieles der sogenannten angewandten Wissenschaften ist angewandte veraltete Wissenschaft, wobei die Methoden der Anwendung noch mehr veraltet sind als die Wissenschaft, die sie anwendet. So ist zum Beispiel das Bauwesen zugegebenermaßen eines der rückständigsten Gebiete unserer modernen Technik. Weil wir weder über die Festigkeit der verwendeten Baumaterialien noch über ihre Reaktionen auf Belastungen genügend wissen — die wir bisher nicht berechnen konnten —, verbrauchen wir etwa das Zehnfache dessen an Material für jeden umbauten Raum, was dafür objektiv erforderlich wäre. Das wird als Sicherheitsfaktor bezeichnet; in Wirklichkeit ist es ein Unwissenheitsfaktor. Größeres Wissen würde hier riesigen Gewinn bringen; trotzdem sind die Ausgaben für die Grundlagenforschung auf diesem Gebiet minimal. Dafür gibt es natürlich eine Reihe von Gründen; die Last der technischen Ausbildung, die Überzeugung, das Althergebrachte habe sich bewährt, schließlich die Regel, daß die Profite der Bauindustrie davon abhängen, wieviel Material verbaut wird und wie lange die Errichtung eines Bauwerkes dauert; dies alles steht dem Fortschritt im Wege. Wir verwenden noch immer die gleichen Ziegelsteine, mit denen sich bereits unsere babylonischen Vorfahren zufrieden gegeben haben, wobei jeder einzelne sorgfältig mit der Hand verlegt wird. Das Bauwesen muß mechanisiert werden, bevor es automatisiert und auf den Stand der modernen Industrie gebracht werden kann. Die technischen Fortschritte, die ich kommen sehe, werden unweigerlich grundlegende ökonomische Veränderungen mit sich bringen. Das Zeitalter der Wissenschaft und des Computers wird zwangsläufig ein sozialistisches Zeitalter sein. Naturgemäß war die ganze Auffassung, die in The Social Function of Science zum Ausdruck kam, zutiefst humanistisch und auf Nutzanwendung orientiert. Sie wurde oft angegriffen, und gleich nach dem ersten Erscheinen wurde das Buch einfach als „baconianisch" abgetan; es sei eine Neuauflage von Bacons Vorstellung, „alle Dinge, die möglich sind, bewirken zu können". Nun, ich weiß so gut wie jeder andere die Wonnen der Wissenschaft zu schätzen, jene Haltung, die der Bergsteiger h at — den Mount Everest besteigen zu müssen, weil er vor ihm liegt —, und vieles von dem, was ich in der Wissenschaft gemacht habe, dürfte kein anderes Motiv gehabt haben. Aber selbst diejenigen, die wie Synge* fest davon überzeugt sind, Wissenschaft sei „eine Sache der eigenen Erbauung", können sich, wie sein Artikel zeigt, zu der Annahme durchdringen, es sei möglich, „Wissenschaft als Sache der Erbauung" mit „Wissenschaft zum Wohle des Menschen" zu vereinen. Synge hat untersucht, wie die Pflanzen Eiweiße aufbauen und wie die Wiederkäuer diese Eiweißstoffe verdauen und mit Hilfe ihrer Darmflora weitere Eiweißstoffe bilden. Selbst wenn er dies nur getan hätte, weil es ihm Spaß gemacht hat, hat er damit tatsächlich einen bedeutenden Beitrag zur Gewinnung von Eiweißstoffen für die Ernährung geleistet, die in den tropischen Ländern so dringend benötigt werden. Ich für meinen Teil hege keinen Zweifel daran, daß Wissenschaft zugleich der eigenen Erbauung und dem Wohle der Menschheit dienen kann. Materielle und geistige Wohltaten sollten zusammen vollbracht werden. Vermutlich der größte Wandel, der sich in den letzten fünfundzwanzig Jahren in der Haltung des Wissenschaftlers vollzogen hat, zeigt sich in dem größeren Selbstbewußtsein der Wissenschaft und in ihrer Stellung in der Gesellschaft sowie darin, daß sie sich ihrer Funktion in der Gesellschaft weitaus stärker bewußt geworden ist. Einige Aspekte der Ge* R. L. Synge, F.R.S., Nobelpreisträger, Science for the Good of Your Soul, in: ebenda, S. 170—178.

15

schichte dieses Prozesses werden in dem Beitrag von Burhop behandelt.* Sie entspringen im wesentlichen zwei Wurzeln: Zunächst wurde sich der Wissenschaftler imm< r stärker seiner Stellung als arbeitender Mensch in der Gesellschaft, seiner Rechte und seiner Verantwortung bewußt. Das kam darin zum Ausdruck, daß sich die Wissenschaftler nicht mehr nur in Organisationen auf fachlicher Ebene, wie den internationalen Wissenschaftlichen Unionen, zusammenschlössen, sondern auch auf einer gewerkschaftlichen Basis. Das war die Einstellung, die zur Gründung der Weltföderation der Wissenschaftlichen Arbeiter unter ihren ersten beiden Präsidenten Frédéric Joliot-Curie und Cecil F. Powell führte. Die zweite Wurzel ist stärker politischer als ökonomischer Natur. Besonders seit dem zweiten Weltkrieg gingen von Wissenschaftlern zahlreiche neuartige Initiativen aus, die weniger auf Überlegungen über die Stellung des Wissenschaftlers in der Produktion beruhen als auf Gedanken über seine Verantwortung bei der Verwendung der Wissenschaft zu militärischen Zwecken, insbesondere für das Grauen der Atom- und Wasserstoffbomben. Dies hat das Bewußtsein der Wissenschaftler geschärft, was beispielsweise seinen Niederschlag in der Pugwash-Bewegung gefunden hat, die auf den Einstein-Russell-Brief vom Juli 1955 zurückgeht, sowie in parallelen Bewegungen, wie der von Linus Pauling ins Leben gerufenen Society for the Social Responsibility of Scientists [Gesellschaft für die soziale Verantwortung der Wissenschaftler]. Zwar ist zur Zeit die Anzahl der Mitglieder dieser Gruppen beschränkt, doch werden ihre Ansichten zweifellos von sehr vielen geteilt, und nur Angst oder Vorsicht hält die meisten Wissenschaftler davon ab, sie auszusprechen. Wichtig ist dabei nicht so sehr die Haltung des einzelnen Wissenschaftlers als vielmehr das gemeinsame Bemühen, zumindest solche politischen Vorstellungen zu erarbeiten, die dazu führen können, daß die Wissenschaft der Erhaltung und nicht der Zerstörung der Menschheit dient. Je größer der Anteil wissenschaftlicher Bemühungen ist, die auf militärische Zwecke gerichtet werden, desto größer wird der Widerstand sein, den dies im Denken der Wissenschaftler erzeugt. Es ist nicht leicht, Klarheit darüber zu erreichen, wie die Wissenschaft in der Gesellschaft richtig einzusetzen ist, noch schwieriger aber ist es, darüber Einigkeit zu erzielen, selbst unter Wissenschaftlern, worin dieser richtige Einsatz besteht. Als Staatsbürger ist der Wissenschaftler nicht in erster Linie Wissenschaftler, sondern erst in zweiter. Im Verlaufe von Diskussionen in der einen oder anderen Bewegung wird er sich dessen bewußt, daß er sich eine einheitliche Weltanschauung bewahren muß, daß er sich nicht von den Widersprüchen zwischen seiner Wissenschaft und seiner Pflicht hin und her reißen lassen darf. Er sieht eine Welt, in der die Anwendung von Wissenschaft zum beherrschenden Faktor geworden ist. Die Menschheit kann sich nicht vorwärts entwickeln — ja heute nicht einmal existieren — ohne die Wissenschaft. Das vermittelt ihr jedoch kein Gefühl der Stärke, im Gegenteil, es betont nur, daß sie sich ihrer gegenwärtigen Schwäche und Ohnmacht bewußt ist. Die Mächte der Ignoranz und der Habgier verzerren die Wissenschaft und drängen sie auf den Weg des Krieges und der Zerstörung. Während der gesamten Geschichte der Wissenschaft mußte sich der einzelne Wissenschaftler damit abfinden, nur geduldet zu sein: Er mußte, ob er wollte oder nicht, für ignorante Gönner arbeiten, die nicht einmal begriffen, was er zu tun versuchte, und die, hätten sie es begriffen, nur wenig Lust verspürt hätten, seine Vorhaben weiterhin zu unterstützen. Jetzt, da die Wissenschaftler an Anzahl und an Bedeutung zunehmen, ist diese Haltung nicht länger notwendig und bald auch nicht mehr möglich. Die Wissenschaftler erkennen auch ihre Schwächen, ihren Mangel an Kontakten, nicht so sehr zu den Zentren der Macht als zu der Masse der Bevölkerung, die der wahre Nutznießer der Wissenschaft sein kann. Wird dieser Kontakt erneuert und verbessert, so dürfen wir auf eine Welt hoffen, in der die Wissenschaft * Vgl. E. H. S. Burhop, Scientists and Public Affairs, in: ebenda, S. 30—41. 16

nicht länger eine Bedrohung der Menschheit ist und in der sie zum Garanten einer besseren Zukunft wird. Ich möchte diesen Gedankengang mit zwei der letzten Passagen aus The Social Function of Science beschließen: „In der Wissenschaft haben es die Menschen gelernt, sich bewußt einem gemeinsamen Ziel unterzuordnen, ohne das Individuelle ihrer Leistungen aufzugeben. Jeder einzelne weiß, daß seine Arbeit von der seiner Vorgänger und der seiner Kollegen abhängt und daß sie nur durch das Werk seiner Nachfolger Früchte tragen kann. In der Wissenschaft arbeiten die Menschen nicht deshalb zusammen, weil eine übergeordnete Autorität sie dazu zwingt oder weil sie irgendeinem erkorenen Führer blindlings folgen, sondern weil sie erkannt haben, daß nur im Rahmen dieser freiwilligen Zusammenarbeit jeder einzelne sein Ziel erreichen kann. Nicht Anweisungen, sondern Ratschläge bestimmen ihr Tun. Jeder einzelne weiß, daß nur durch Rat, der ehrlich und uneigennützig erteilt wird, sein Werk von Erfolg gekrönt sein kann; denn nur ein solcher Rat bringt so genau wie möglich die unerbitterliche Logik der materiellen Welt, der harten Tatsachen, zum Ausdruck. Tatsachen gehorchen nicht unseren Wünschen, und Freiheit erwächst aus der Einsicht in diese Notwendigkeit und nicht etwa daraus, daß man so tut, als könnte man sie ignorieren. Das sind Dinge, die wir in der wissenschaftlichen Arbeit unter Schmerzen und nur zum Teil begriffen haben. Nur in den weiter gefaßten Aufgaben der Menschheit wird sich ihr voller Nutzen erschließen."*

* S. 410 dieses Buches. 2

Bemal

J7

JOHN DESMOND BERNAL

Die soziale Funktion der Wissenschaft

Vorwort

Die Ereignisse der letzten Jahre haben zu einem kritischen Überdenken der Funktion der Wissenschaft in der Gesellschaft geführt. Man hatte in dem Glauben gelebt, die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung würden eine ständig voranschreitende Verbesserung der Lebensbedingungen mit sich bringen. Der [erste] Weltkrieg und danach die Weltwirtschaftskrise haben jedoch gezeigt, daß Wissenschaft ebenso leicht für sinnlose und destruktive Zwecke eingesetzt werden kann, und es wurden Stimmen laut, die forderten, jegliche wissenschaftliche Forschung einzustellen, da dies das einzige Mittel sei, eine halbwegs annehmbare Zivilisation aufrechtzuerhalten. Angesichts dieser Kritik fühlten sich Wissenschaftler gezwungen, im Grunde zum ersten Male, den Zusammenhang zwischen ihrer Arbeit und den gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen in ihrer Umwelt zu überdenken. Das vorliegende Buch ist ein Versuch, diesen Zusammenhang zu analysieren und zu erforschen, in welchem Maße Wissenschaftler, einzeln oder kollektiv, für diesen Stand der Dinge verantwortlich sind, sowie Schritte vorzuschlagen, die dazu führen könnten, daß die Wissenschaft fruchtbringend und nicht zu Zwecken der Zerstörung verwendet wird. Zunächst einmal muß die Funktion der Wissenschaft in der Gesellschaft untersucht werden, und zwar nicht für sich allein genommen, sondern als etwas, das sich im Zuge des Wachstums der Wissenschaft unmerklich entwickelt hat. Die Wissenschaft ist nicht länger mehr eine Beschäftigung wißbegieriger Herren von Rang und Namen oder von genialen Geistern, die von reichen Gönnern gefördert werden; sie ist zu einer Industrie geworden, die von großen industriellen Monopolen und vom Staat getragen wird. Das hat ihren Charakter unmerklich von einer individuellen auf eine kollektive Basis verschoben und die Bedeutung der technischen Ausrüstung und der Organisation vergrößert. Da diese Entwicklungen aber unkoordiniert verliefen und dem Zufall überlassen waren, ist das heute vorliegende Ergebnis ein Gebilde von erschreckender Ineffektivität; dies gilt sowohl für die innere Organisation als auch für die Mittel zur Anwendung auf Probleme der Produktion und des Allgemeinwohls. Soll die Wissenschaft aber der Gesellschaft voll zum Nutzen gereichen, so muß sie erst einmal in ihrem eigenen Hause Ordnung schaffen. Das ist eine ungewöhnlich schwierige Aufgabe, da jede Organisation der Wissenschaft jene Ursprünglichkeit und Spontaneität zu gefährden droht, die für ihren Fortschritt wesentlich sind. Die Wissenschaft kann niemals wie ein Teil des Staatsapparats verwaltet werden; doch lassen neueste Entwicklungen sowohl innerhalb als auch außerhalb Großbritanniens, insbesondere in der Sowjetunion, Möglichkeiten erkennen, in der Organisation der Wissenschaft Freiheit und Effektivität miteinander zu vereinen. Die Anwendung der Wissenschaft wirft weitere Probleme auf. In der Vergangenheit war hier die Tendenz vorherrschend, die Wissenschaft fast ausschließlich zu Verbesserungen in der materiellen Produktion, in erster Linie durch Kostensenkung, und zur Entwicklung 20

der Militärtechnik einzusetzen. Das führte nicht nur zu Arbeitslosigkeit durch technische Freisetzung, sondern zu einer fast völligen Vernachlässigung derjenigen Anwendungen, die für das Wohl des Menschen von unmittelbarerer Bedeutung sind, vor allem in bezug auf Gesundheit und in den Dingen des häuslichen Lebens. Das Ergebnis waren äußerst starke Disproportionen in der Entwicklung verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, da man die biologischen Wissenschaften und weit mehr noch die Gesellschaftswissenschaften verkümmern ließ; die Zuwendungen flössen in die schneller Gewinn abwerfenden physikalischen und chemischen Wissenschaften. Jede Erörterung der Anwendung der Wissenschaft bezieht notwendigerweise Fragen der Ökonomie ein, und so werden wir zu der Untersuchung veranlaßt, wie weit die zur Zeit existierenden oder vorgeschlagenen unterschiedlichen ökonomischen Systeme die Gelegenheit bieten können, die Wissenschaft möglichst umfassend zum Wohle des Menschen anzuwenden. Die Ökonomie kann aber nicht von der Politik getrennt werden. Das Aufkommen des Faschismus, die Kette der Kriege, die heute in der Welt toben, und die weltweiten Vorbereitungen auf einen allgemeineren und schrecklicheren Krieg berühren die Wissenschaftler nicht nur als Staatsbürger, sondern auch im Zusammenhang mit ihrer Arbeit. Zum ersten Male seit der Renaissance scheint die Wissenschaft selbst in Gefahr zu sein. Der Wissenschaftler hat begonnen, seine gesellschaftliche Verantwortung zu erkennen. Soll jedoch die Wissenschaft der Funktion gerecht werden, die ihre Tradition ihr auferlegt, und zugleich den Gefahren entgehen, die sie bedrohen, so ist ein tieferes Verständnis der verwickelten Beziehungen erforderlich, die zwischen der Wissenschaft und dem Leben unserer Zeit bestehen, und zwar sowohl auf seiten der Wissenschaftler als auch auf seiten der Öffentlichkeit. Nun ist schon die bloße Analyse der modernen Wissenschaft zu einer Aufgabe geworden, welche die Möglichkeiten eines einzelnen weit übersteigt; bisher gibt es nicht einmal ein Sammelwerk, das einen solchen Überblick vermitteln könnte. Noch viel schwieriger ist es, die komplexen Beziehungen zu analysieren, die sich im Laufe der Jahrhunderte zwischen der Wissenschaft, der Industrie, dem Staat und der allgemeinen Kultur herausgebildet haben. Ein solches Vorhaben würde nicht nur ein Verständnis der gesamten Naturwissenschaft erfordern, sondern auch die Beherrschung der Arbeitsmethoden und das Wissen des Ökonomen, des Historikers und des Soziologen. Diese allgemeinen Feststellungen sollen den Charakter dieses Buches zum Teil entschuldigen. Ich bin mir bewußt, und heute viel stärker als in den Tagen, da ich mit der Abfassung begann, daß weder meine Fähigkeiten noch mein Wissen ausreichen — von der Zeit, die erforderlich gewesen wäre, nicht zu reden. Als aktiver Naturwissenschaftler, der tief in seinem Spezialgebiet steckt und daneben vielen anderen Pflichten und Tätigkeiten nachkommen muß, konnte ich weder das für dieses Thema benötigte Literaturstudium abschließen, noch konnte ich mich jemals mehr als ein paar Tage hintereinander intensiv ausschließlich damit befassen. Für jeden allgemeinen Überblick sind Genauigkeit in den statistischen Angaben und im Detail ein wesentliches Erfordernis. Eine solche Genauigkeit ist aber entweder völlig unerreichbar, da bestimmte Unterlagen nur spärlich verfügbar sind, oder nur mit ungeheurem Aufwand zu erzielen, da andere in verwirrender Fülle vorliegen. Von keinem Lande, abgesehen vielleicht von der Sowjetunion, weiß man zum Beispiel, wie viele Wissenschaftler es dort gibt und welche Summen für sie ausgegeben werden und von wem. Was sie tun, ließe sich wohl ermitteln, da die Ergebnisse in den etwa dreißigtausend wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht werden, aber nirgends läßt sich herausfinden, wie und warum sie es tun. Bei der Beschreibung und der Kritik der Art und Weise, wie wissenschaftliche Arbeit betrieben wird, muß ich mich in erster Linie auf meine persönlichen Erfahrungen verlassen. 21

Daraus können Nachteile zweierlei Art erwachsen: Erstens brauchen die Erfahrungen nicht repräsentativ zu sein, und zweitens können die Schlußfolgerungen subjektiv gefärbt sein. Was das erste betrifft, so haben mich zahlreiche Gespräche, die ich mit Wissenschaftlern aller Kategorien und unterschiedlichster Disziplinen führte, davon überzeugt, daß vieles von dem, was ich an Erfahrungen gesammelt habe, fast allenthalben in der Wissenschaft angetroffen werden kann. Was die Schlußfolgerungen betrifft, so muß ich unumwunden zugeben, daß ich voreingenommen bin. Seit jeher empören mich die Ineffektivität und die Fruchtlosigkeit wissenschaftlicher Anstrengungen und ihre Hinlenkung auf unlautere Ziele; gerade dies waren die Gründe, die mich bewogen, den Beziehungen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft nachzugehen und dieses Buch in Angriff zu nehmen. Wenn Voreingenommenheit im einzelnen auch zu harten Urteilen führen mag, so kann doch nicht geleugnet werden, daß ein weitverbreitetes Unbehagen unter Wissenschaftlern an sich schon ein Beweis dafür ist, daß mit der Wissenschaft nicht alles zum besten bestellt sein kann. Leider kann in keinem zur Veröffentlichung bestimmten Buch offen und präzise ausgesprochen werden, wie Wissenschaft betrieben wird. Mögliche Verleumdungsklagen, Staatsraison und weit mehr noch die ungeschriebenen Verhaltensnormen der Wissenschaftler verbieten es, konkrete Beispiele zu nennen, seien sie nun positiv oder negativ. Anwürfe müssen daher allgemein gehalten sein, so daß sie in eben diesem Maße nicht konkret sein können, also wenig überzeugend sind. Stimmt jedoch der allgemeine Tenor, so werden Wissenschaftler eigene Beispiele beibringen können, während Nichtwissenschaftier die Auswirkungen der Wissenschaft anhand ihrer eigenen Erfahrungen beurteilen und so einzuschätzen vermögen, inwieweit die Grundthese dieses Buches eine Erklärung für den Stand der Dinge liefert. Für diejenigen, die sie erkannt haben, ist die Tatsache, daß die Wissenschaft zur Ohnmacht verurteilt ist, sehr bitter. Sie manifestiert sich in Siechtum, in erzwungener Unwissenheit, in Elend, in Plackerei, die nicht gewürdigt wird; für die meisten Menschen bedeutet sie vorzeitigen Tod, für die übrigen ein Leben in Angst, Unsicherheit und Sinnlosigkeit. Hier könnte die Wissenschaft Abhilfe schaffen — aber nur eine Wissenschaft, die mit denjenigen gesellschaftlichen Kräften zusammenzugehen bereit ist, die ihre Aufgaben verstehen und die gleichen Ziele anstreben. Angesichts dieser traurigen, aber keineswegs hoffnungslosen Wirklichkeit erscheint der traditionelle fromme Glaube an eine reine weitabgewandte Wissenschaft im besten Falle als Flucht in ein Phantasiegebilde, im schlimmsten Fall als schamlose Heuchelei. Dies ist aber das Bild von der Wissenschaft, wie wir es uns zu machen gelernt haben, während dasjenige, das hier gezeichnet werden soll, vielen fremd und einigen sogar als Blasphemie erscheinen mag. Dies Buch wird jedoch seinen Zweck erfüllt haben, wenn es ihm zu zeigen gelingt, daß hier ein Problem vorliegt und daß sowohl das Wohl der Wissenschaft als auch das Wohl der Gesellschaft im Grunde von der Beziehung zwischen beiden abhängt. Bei der Abfassung dieses Buches wurde ich von mehr Menschen unterstützt, als ich hier namentlich aufzählen kann. Sehr viel schulde ich der Kritik und den Anregungen meiner Freunde und Kollegen, insbesondere H. D. Dickinson, I. Fankuchen, Julian Huxley, Joseph Needham, John Pilley und S. Zuckerman. Für einen großen Teil, besonders des statistischen Materials, bin ich Frau Brenda Ryerson, M. V. H. Wilkins sowie Dr. Ruhemann zu Dank verpflichtet, der auch den Anhang VII über die Wissenschaft in der UdSSR beigesteuert hat. Schließlich gilt mein ganz besonderer Dank Fräulein P. S. Miller für die Durchsicht des Manuskripts. Birkbeck College, September 1938.

22

ERSTER TEIL

Was die Wissenschaft leistet

ERSTES KAPITEL

Zur Einfuhrung

Die Herausforderung an die Wissenschaft Worin besteht die Funktion der Wissenschaft in der Gesellschaft? Vor hundert, ja noch vor fünfzig Jahren wäre diese Frage sogar dem Wissenschaftler selbst und erst recht dem Verwaltungsbeamten oder gar dem Durchschnittsbürger seltsam, wenn nicht sinnlos erschienen. Wenn der Wissenschaft überhaupt eine Funktion zugeschrieben wurde, worüber sich übrigens nur wenige Menschen Gedanken machten, so wurde sie im Bereich des Allgemeinwohls gesehen. Die Wissenschaft war edelste Blüte menschlichen Geistes und meistversprechende Quelle materieller Wohltaten zugleich. Während man geteilter Meinung sein konnte, ob sie eine ebenso gute Allgemeinbildung vermittelte, wie es das Studium der Klassiker der Antike tat, konnte kein Zweifel daran bestehen, daß ihre Umsetzung in die Praxis die wichtigste Grundlage des Fortschritts war. Inzwischen hat sich das Bild erheblich gewandelt. Die Wirren unserer Zeit scheinen eine Folge eben dieses Fortschritts zu sein. Die neuen Produktionsmethoden, welche die Naturwissenschaft hervorgebracht hat, führen zu Arbeitslosigkeit und Überangebot, ohne daß sie dazu eingesetzt werden, Armut und Elend, die auf der Welt so weit verbreitet sind wie eh und je, zu überwinden. Gleichzeitig haben die Waffen, die uns die praktische Anwendung der Naturwissenschaft geliefert hat, den Krieg zu einer unmittelbareren und schrecklicheren Gefahr gemacht und die Sicherheit des Individuums, eine der wesentlichen Errungenschaften der Zivilisation, fast völlig aufgehoben. Natürlich kann man diese Übel und Mißstände nicht ausschließlich der Wissenschaft zur Last legen: Es kann aber nicht geleugnet werden, daß sie nicht vorhanden wären, zumindest nicht in ihrer gegenwärtigen Form, wenn es keine Wissenschaft gäbe, und eben aus diesem Grunde wurde und wird der Wert der Wissenschaft für die Zivilisation angezweifelt. Solange die Ergebnisse, zumindest für die herrschenden Schichten, eitel Segen zu sein schienen, wurde die gesellschaftliche Funktion der Wissenschaft als so selbstverständlich angesehen, daß man es nicht für notwendig hielt, sie zu überdenken. Jetzt, da die Wissenschaft nicht nur konstruktiv, sondern auch destruktiv wirkt, muß man sich Gedanken über ihre gesellschaftliche Funktion machen, um so mehr, als sogar ihre Daseinsberechtigung angezweifelt wird. Manche Wissenschaftler und mit ihnen zahlreiche fortschrittlich gesinnte Menschen mögen zwar meinen, diese Fragestellung sei falsch und nur der Mißbrauch der Wissenschaft habe die Welt in ihre gegenwärtige Lage gebracht; doch kann diese Art der Rechtfertigung nicht länger als ohne weiteres einleuchtend angesehen werden. Die Wissenschaft muß sich einer Untersuchung stellen, ehe sie diese Anschuldigungen von sich abschütteln kann. Die Wirkung historischer Ereignisse. Die Ereignisse der letzten zwanzig Jahre haben nicht nur bei den meisten Menschen eine andere Haltung zur Wissenschaft erzeugt; sie haben auch die Einstellung der Wissenschaftler selbst von Grund auf verändert und sind sogar in das Gefüge des wissenschaftlichen Denkens eingeflossen. In einem merkwürdigen zeitlichen 25

Zusammentreffen gingen mit den aufwühlenden Ereignissen des Weltkrieges [1914—1918], der Russischen Revolution, der Weltwirtschaftskrise, dem Aufkommen des Faschismus und der Vorbereitung auf neue und weit schrecklichere Kriege innerhalb der Wissenschaften wesentlich tiefergreifende Veränderungen der Theorie und der Anschauungen einher, als in den letzten drei Jahrhunderten eingetreten waren. Selbst die Grundlagen der Mathematik wurden durch die Kontroversen um Axiomatik und Logik erschüttert. Das von Newton und Maxwell geprägte Weltbild der Physik wurde zugunsten von Relativitätstheorie und Quantenmechanik umgestürzt; beides sind übrigens noch halbverstandene und paradoxe Theorien. Die Biologie wurde durch die Entwicklung von Biochemie und Genetik revolutioniert. Alle diese Entwicklungen, die sich innerhalb eines Wissenschaftlerlebens abspielten, haben die Wissenschaftler gezwungen, die Grundlagen ihrer Überzeugungen weitaus gründlicher zu überdenken, als das in vorangegangenen Jahrhunderten geschehen war. Auch von den Auswirkungen äußerer Faktoren blieben sie nicht verschont. Der Krieg bedeutete für die Wissenschaftler aller Länder, daß sie ihr Wissen für direkte militärische Zwecke einsetzen mußten. Die Weltwirtschaftskrise betraf sie unmittelbar, da sie den wissenschaftlichen Fortschritt in vielen Ländern blockierte und ihn in anderen bedrohte. Schließlich zeigte der Faschismus, daß sogar das Zentrum der modernen Wissenschaft [Deutschland vor 1933] von einem Aberglauben und einer Barbarei befallen werden konnte, die mit dem Ausgang des Mittelalters für überwunden gehalten worden waren. Sollte die Wissenschaft eingeschränkt werden? Das Ergebnis aller dieser Erschütterungen war, eigentlich ganz natürlich, ein Zustand großer Verwirrung, sowohl bei den Wissenschaftlern selbst als auch in bezug auf die Wertschätzung der Wissenschaft. Es erhoben sich Stimmen, sogar in der British Association*, wo man es gewiß nicht erwartet hätte, die einer Einschränkung der Naturwissenschaft, wenigstens aber der Anwendung ihrer Entdeckungen, das Wort redeten. So sagte der Bischof von Ripon in seiner Ansprache vor der British Association im Jahre 1927: „. . . auf die Gefahr hin, von einigen meiner Hörer gelyncht zu werden, möchte ich sogar die Behauptung wagen, daß der Umfang menschlichen Glücks außerhalb der Kreise der Naturwissenschaftler nicht unbedingt vermindert würde, wenn alle physikalischen und chemischen Institute zehn Jahre lang geschlossen blieben und die ausdauernde und erfindungsreiche Arbeitsenergie ihrer Mitarbeiter darauf verwendet würde, die verloren gegangene Kunst wieder zu entdecken, wie man sich verträgt, und die Formel zu finden, nach der man sich im Maßstab menschlichen Lebens nach der Decke streckt. . Z'1 Die Abkehr von der Vernunft. Es waren jedoch nicht nur die materiellen Ergebnisse der Wissenschaft, die abgelehnt wurden; der Wert des wissenschaftlichen Denkens selbst wurde in Frage gestellt. Im Ergebnis der gegen Ende des 19. Jahrhunderts heraufziehenden Schwierigkeiten des Gesellschaftssystems begann sich ein Antiintellektualismus zu entwikkeln, der in den philosophischen Lehren von Sorel und Bergson seinen Ausdruck fand. Instinkt und Intuition wurden für wichtiger angesehen als Vernunft. Bis zu einem gewissen Grade waren es die Philosophen und die philosophierenden Naturwissenschaftler selbst, die der Rechtfertigung der faschistischen Ideologie der brutalen Gewalt unter einer mystisch inspirierten Führung den Weg bereiteten. Woolf beschreibt dies mit den Worten: 1

The Times vom 5. September 1927, S. 15. * British Association for the Advancement of Science, 1831 von Babbage nach dem Vorbild der 1822 von Lorenz Oken in Deutschland gegründeten Naturforscherversammlung ins Leben gerufen. Vgl. J. D. Bemal, Die Wissenschaft in der Geschichte, a. a. O., S. 353.

26

„Wir durchleben eine dieser Perioden von Auseinandersetzungen und Kulturverfall, und die wohlbekannten Symptome intellektueller Quacksalberei, die in das philosophische Denken eindringt, sind allerorts zu beobachten. Es sind immer die gleichen Symptome, auch wenn sie sich bei oberflächlicher Betrachtung unterschiedlich ausnehmen mögen. Vernunft wird als altmodisch abgetan, und wer nach dem Beweis einer Behauptung fragt, ehe er bereit ist, sie zu akzeptieren, wird schulmeisterlich in die letzte Bank versetzt und beauflagt, fünfhundertmal den Satz zu schreiben ,Ich darf nicht nach einem Beweis fragen'. Die Meietos bezichtigen Sokrates und Anaxagoras des gotteslästerlichen Atheismus. Der römische Intellektuelle verwirft seinen Lukrez und die griechische Philosophie, um sich die Wahrheit über das Universum von levantinischen Magiern offenbaren zu lassen. Bücher und zuweilen auch ihre Verfasser werden verbrannt, weil sie nach Beweisen fragen oder die Richtigkeit irgendjemandes Intuition über die Natur des Universums anzweifeln. Die Mysterien des Dionysos, das Abrakadabra der Isis und des Osiris, die Anbetung der Sonne oder eines heiligen Stieres, die Weisheit, die man erlangen kann, indem man seinen Nabel beschaut oder sich vor dem Frühstück erbricht, die Offenbarungen, die man sich aus Tischbeinen oder aus dem Ektoplasma holt, sind einige der sich in solchen Zeiten als wirksam erweisenden Methoden, die Natur Gottes und des Universums oder des Absoluten zu erfassen. Ist erst einmal die Kraft des menschlichen Glaubens zum Maßstab jeglicher Wahrheit geworden, so wird der gewöhnliche Sterbliche, der noch immer seine Vernunft gebrauchen will und schwach genug ist zuzugeben, nicht zu wissen, was ihm nach dem Tode widerfahren wird oder warum Milliarden Sterne im Weltraum aufleuchten oder ob sein Spaniel eine unsterbliche Seele besitzt oder warum es Übel in der Welt gibt oder was der Allmächtige tat, bevor er die Welt erschuf, und was er tun wird, wenn das Universum untergegangen ist, so wird dieses blöde Geschöpf kaum Zutritt zu der Gesellschaft der intelligenten Leute und ehrbaren Philosophen finden."2 Dieser Mystizismus und diese Preisgabe jeglichen rationalen Denkens sind jedoch nicht nur Zeichen von Unbehagen unter der Bevölkerung und den Politikern. Sie durchdringen vielmehr die Struktur der Wissenschaft selbst. Der aktive Wissenschaftler mag sie so standhaft wie eh und je verwerfen; trotzdem sind bestimmte Theorien in der Wissenschaft, insbesondere solche spekulativen und mystischen, die d a j All oder die Natur des Lebens betreffen und die im achtzehnten und im neunzehnten Jahrhundert als irrelevant verlacht worden waren, drauf und dran, wieder wissenschaftliche Anerkennung zu erringen.

Die Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft Wir können uns nicht länger der Tatsache verschließen, daß die Wissenschaft sowohl die gesellschaftlichen Veränderungen unserer Zeit beeinflußt als auch von ihnen beeinflußt wird. Soll aber diese Erkenntnis irgendwie wirksam gemacht werden, so muß die Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft sehr viel genauer analysiert werden, als dies bisher getan wurde. Ehe wir mit dieser Analyse, dem Hauptanliegen des vorliegenden Buches, beginnen, ist es zweckmäßig, die verschiedenen Grundhaltungen zu untersuchen, mit denen man heutzutage dem Problem, was Wissenschaft ist oder sein sollte, gegenübertritt. In dieser Hinsicht gibt es zwei deutlich voneinander verschiedene Standpunkte, die man als das idealistische und das realistische Bild der Wissenschaft bezeichnen könnte. 2

S. Woolf, Quack, Quack, London 1935, S. 166; siehe auch: L. Hogben, The Retreat from Northampton (Mass.) 1937.

27

Reason,

Im ersten befaßt sich die Wissenschaft anscheinend nur mit der Entdeckung und der kontemplativen Betrachtung der Wahrheit. Ihre Funktion, soweit sie von derjenigen mythischer Kosmologien verschieden ist, besteht darin, ein Weltbild aufzubauen, das den Erfahrungstatsachen entspricht. Ist die Wissenschaft darüber hinaus auch von praktischem Nutzen, um so besser, solange ihr wahres Ziel dabei nicht aus dem Auge verloren wird. Im zweiten Bild dominiert die Nützlichkeit; die Wahrheit ist ein Mittel zu nützlichem Handeln und kann nur durch solches Handeln überprüft werden. Wissenschaft als reines Denken. Diese beiden Standpunkte sind Extreme. Jeder läßt zahlreiche Spielarten zu, und es gibt auch vieles Gemeinsame zwischen ihnen. Diejenigen, die auf dem erstgenannten Standpunkt stehen, würden nicht zugeben, daß die Wissenschaft eine praktische Funktion in der Gesellschaft hat, oder höchstens einräumen, diese gesellschaftliche Funktion sei eine relativ unbedeutende und untergeordnete. Die meisten von ihnen würden von der Wissenschaft sagen, sie sei ein Zweck in sich selbst, ein Streben nach reinem Wissen um seiner selbst willen. Diese Einstellung hat in der Geschichte der Wissenschaft eine große, alles in allem keineswegs glückliche Rolle gespielt. Sie war im klassischen Altertum vorherrschend und wurde sehr treffend von Piaton formuliert: „Dagegen müssen wir untersuchen, ob ihr wichtigerer und weiter reichender Teil etwas zu unserem Zwecke beiträgt, uns die Anschauung der Idee des Guten zu erleichtern. Er trägt aber alles dazu bei, behaupten wir, was die Seele zwingt, sich dem Orte zuzuwenden, wo das Glückseligste von allem Seiendem sich befindet, das sie unbedingt schauen muß." 3 In ihrer modernen Form wird diese Einstellung zur Wissenschaft nicht als die einzige, wohl aber als hauptsächlichste Erklärung ihres Wesens angeboten. Die Wissenschaft gilt als eines der Mittel, die dem Menschen eine Antwort auf seine tiefsten Fragen nach dem Ursprung des Universums oder des Lebens sowie nach dem Tod und dem Weiterleben der Seele geben können. Die Verwendung der Wissenschaft zu diesem Zweck ist paradox. Zur Grundlage von Behauptungen über das Universum werden nicht etwa die Ergebnisse der Wissenschaft gemacht, sondern das, was sie „nicht wissen kann". Die Wissenschaft kann nicht sagen, wie das Universum geschaffen wurde; daher soll es von einem intelligenten Schöpfer geschaffen worden sein. Die Wissenschaft kann Leben nicht künstlich herstellen; also sei der Ursprung des Lebens ein Wunder. Die Unbestimmtheitsrelation der Quantenmechanik dient sogar als Argument für die Willensfreiheit des Menschen. Auf diese Weise wird die moderne Naturwissenschaft zu einem Bundesgenossen der alten Religionen, weitgehend sogar zum Religionsersatz. Mit Hilfe der Werke von Jeans, Eddington, Whitehead und J. S. Haidane baut man, mit dem Beistand des Bischofs von Birmingham und des Dean Inge, eine neue mystische naturwissenschaftlich verbrämte Religion auf, die auf der Idee einer andauernden Schöpfung absoluter Werte innerhalb eines evolutionären Prozesses beruht, der im Menschen gipfelt. Zweifellos ist diese Verwendung der Naturwissenschaft zur Apologetik eine ihrer gesellschaftlichen Funktionen in der gegenwärtigen Gesellschaft. Sie vermag jedoch Sinn und Zweck der Naturwissenschaft als solcher nicht zu erklären, da 3

Plat. rep. 526 [Piaton, Der Staat, übertr. von R. Rufener, Zürich 1950, S. 372]. — Interessanterweise folgt die zitierte Stelle unmittelbar auf eine Passage, in der die militärische Seite, d. h. der für Piaton vornehmste und nützlichste Aspekt aller Wissenschaft, erwähnt wird, „.Soweit sie sich auf das Kriegswesen bezieht', sagte er, ,ist es klar, daß sie sich eignet. U m das Lager abzustecken, um feste Plätze einzunehmen, um das Heer zusammenzuziehen oder zu entfalten, und was es sonst noch für Truppenbewegungen in der Schlacht selbst auf dem Marsch geben mag: da macht es ja gewiß etwas aus, ob man von der Geometrie etwas versteht oder nicht.' Nun denn, sagte ich, dafür genügt doch wohl ein bescheidenes Stück Geometrie und Rechenkunst." (Ebenda.)

28

sich ebenso zufriedenstellende und ebenso unbeweisbare Lösungen kosmischer Probleme mit Hilfe einfacher Intuition beibringen lassen. In Wirklichkeit ist die Verwendung der Naturwissenschaft in der Religion modernistischer Prägung das stillschweigende Eingeständnis, daß sie für die Kultur im allgemeinen von Bedeutung ist. Keinerlei religiöse Auffassung könnte sich in gebildeten Kreisen behaupten, würde sie sich nicht zumindest einer wissenschaftlichen Terminologie bedienen und stünde sie nicht mit den positiven Ergebnissen der zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Theorie in Einklang. In der harmlosesten Variante der idealistischen Auffassung wird die Wissenschaft einfach als integraler Bestandteil der geistigen Kultur angesehen, und gewisse Kenntnisse der zeitgenössischen Naturwissenschaft sind in den Salons ein ebensolches Erfordernis wie Kenntnisse der zeitgenössischen Literatur. Tatsächlich sind wir, jedenfalls in England, natürlich davon sehr weit entfernt; die Pädagogen versuchen aber oft, das Wesen der Naturwissenschaft ausschließlich auf dieser Basis zu erklären und sie auf diese Weise in eine humanistische Allgemeinbildung einzugliedern. So plädiert der große Wissenschaftshistoriker Sarton mit folgenden Worten für die Humanisierung der Naturwissenschaft: „Der einzige Weg, die naturwissenschaftliche Arbeit humanistisch zu gestalten, besteht darin, ihr etwas von dem historischen Denken zu vermitteln, dem Gefühl der Ehrfurcht vor der Vergangenheit, der Ehrfurcht vor jedem Zeugnis guten Willens aus allen Zeiten. Wie abstrakt die Naturwissenschaft auch immer werden mag, sie ist ihrem Ursprung und ihrer Entwicklung nach im Wesen humanistisch. Jedes naturwissenschaftliche Ergebnis ist eine Frucht der Menschheit, ein Beweis ihrer moralischen Kraft. Die schier unvorstellbare Größe des Universums, die dem Menschen durch eigenes Bemühen offenbar wurde, macht ihn keinesfalls, es sei denn rein physisch, zum Zwerg; sie verleiht vielmehr seinem Leben und Denken einen tieferen Sinn. Jedes Mal, wenn wir die Welt etwas besser verstehen, können wir auch unser Verhältnis zu ihr klarer einschätzen. Es gibt keine Naturwissenschaften, die den Geisteswissenschaften, den Humanoria, entgegenstünden; jeder Zweig der Natur- oder der Geisteswissenschaften ist gerade insoweit naturbezogen oder humanistisch, wie wir ihn dazu machen. Man zeige das zutiefst menschliche Anliegen der Naturwissenschaft, und ihr Studium wird zum besten Vermittler des Humanismus werden, den man sich ausdenken könnte; man schließe diese Komponente aus und lehre Naturwissenschaft nur um der Wissensvermittlung und der Berufsausbildung willen, und ihr Studium, wie wertvoll es vom rein technischen Standpunkt aus auch sein möge, wird jeden Bildungswert verlieren. Ohne Geschichte kann naturwissenschaftliches Wissen zur Gefahr für die Kultur werden, im Verein mit Geschichte und der nötigen Ehrfurcht wird es zum Nährboden höchster Kultur." 4 Diese Auffassungen von der Funktion der Naturwissenschaft haben mit den Auffassungen der klassischen Philosophen gemein, daß Naturwissenschaft als rein intellektuelle Beschäftigung angesehen wird, die sich zwar mit dem objektiven Universum befaßt — mehr als mit den noch abstrakteren Begriffen von Mathematik, Logik und Ethik —, aber eben noch rein kontemplativ. Trotz der Tatsache, daß diese Ansichten von vielen Naturwissenschaftlern geteilt werden, sind sie ihrem Wesen nach widerspruchsvoll. Bestünde die Funktion der Naturwissenschaft tatsächlich in der kontemplativen Betrachtung des Universums um ihrer selbst willen, so hätte es eine Naturwissenschaft, wie wir sie heute kennen, niemals gegeben. Schon ein Blick in eine Geschichte der Naturwissenschaft zeigt nämlich, daß sowohl die Triebkräfte, die zu naturwissenschaftlichen Entdeckungen führten, als auch die Mittel, mit deren Hilfe sie gemacht wurden, materielle Bedürfnisse bzw. materielle Geräte waren. Die Tatsache, daß sich diese Auffassungen überhaupt so lange behaupten konnten, ist nur dadurch erklärbar, daß sowohl die Naturwissenschaftler als auch die Wissenschaftshistori4

G. Sarton, History of Science and the New Humanism, New York 1931, S. 68.

29

ker das gewaltige Gebiet der praktischen Tätigkeiten des Menschen außer acht gelassen haben, obwohl diese mit der Naturwissenschaft mindestens ebenso viel gemein haben wie die Abstraktionen, mit denen sich die großen Philosophen und Mathematiker befaßten. Wissenschaft als Macht. Die entgegengesetzte Auffassung, daß nämlich die Wissenschaft das Mittel sei, durch Erkenntnis der Natur zu ihrer Beherrschung zu gelangen, war auch in den klassischen Zeiten vorhanden, wenn sie auch nicht anerkannt wurde. Bei Roger Bacori und den Männern der Renaissance wird sie ausdrücklich als Erwartung formuliert, in ihrer modernen Form aber erstmalig von Francis Bacon deutlich ausgesprochen: „Wenn auch die Wege zur Macht und zur menschlichen Wissenschaft aufs engste miteinander verbunden und fast gleich sind, ist es doch infolge der eingewurzelten schädlichen Gewohnheit, sich im Abstrakten aufzuhalten, entschieden sicherer, die Wissenschaften von denjenigen Grundlagen her zu beginnen und in Gang zu setzen, welche zum Bereich des tätigen Teils gehören; dieser selbst bezeichnet und bestimmt wohl dann den betrachtenden Teil." 5 Das blieb dann für mindestens zwei Jahrhunderte die vorherrschende Ansicht von der Wissenschaft. „Was aber war das Ziel, das sich Bacon setzte? Es war, um seinen eigenen gehaltvollen Ausdruck zu gebrauchen:,Frucht'. Es war die Erhöhung der menschlichen Genüsse und die Milderung der menschlichen Leiden. Es war ,die Erleichterung des Zustandes des Menschen*. . . . Es war: ,genus humanum novis operibus et potestatibus continuo dotare' [dem Menschengeschlecht beständig neue Erfindungen, Werkzeuge und Methoden zu geben]. Das war der Gegenstand aller seiner Spekulationen in jedem Zweige der Wissenschaft, in Naturforschung, Gesetzgebung, in Politik, in Moral. Zwei Worte bilden den Schlüssel der baconianischen Lehre: Nützlichkeit und Fortschritt. Die alte Philosophie verschmähte es, nützlich zu sein, und gab sich damit zufrieden, stationär zu bleiben. Sie befaßte sich eingehend mit Theorien der sittlichen Vervollkommnung, die so sublim waren, daß sie niemals mehr als Theorien sein konnten; mit Versuchen, unauflösbare Rätsel zu lösen; mit Ermahnungen zur Erreichung unerreichbarer Geistesstufen. Sie konnte nicht zu dem demütigen Amte herabsteigen, dem Wohlsein menschlicher Wesen zu dienen. Alle Schulen verachteten dieses Amt als erniedrigend; einige tadelten es als unsittlich." 6 Dies schrieb Macaulay schon im ersten Jahre des viktorianischen Zeitalters. Für ihn, wie für die meisten vorwärtsschauenden Menschen seiner Zeit, bestand die Funktion der Wissenschaft darin, ein universeller Wohltäter der Menschheit zu sein: „Man frage einen Nachfolger Bacons, was die neue Philosophie, wie sie zur Zeit Karls II. genannt wurde, für die Menschheit geleistet habe, und er ist bereit zu antworten: Sie hat das Leben verlängert, sie hat Schmerzen gelindert, sie hat Krankheiten ausgerottet, sie hat die Fruchtbarkeit des Bodens vermehrt, sie hat dem Seefahrer neue Sicherungsmittel gegeben, sie hat dem Krieger neue Waffen geliefert, sie hat über große Flüsse und Buchten Brücken von bisher unbekannter Gestalt gespannt, sie hat den Wetterstrahl unschädlich gemacht, sie hat die Nacht zum Glänze des Tages aufgehellt, sie hat die Tragweite der menschlichen Sehkraft ausgedehnt, sie hat die Kräfte der menschlichen Muskeln vervielfacht, sie hat die Bewegung beschleunigt, sie hat die Entfernung aufgehoben, sie hat den Verkehr, den Briefwechsel, alle freundschaftlichen Dienste, alle Erledigung von Geschäften erleichtert; sie hat die Menschen in den Stand versetzt, in die Tiefen des Meeres hinabzusteigen, sich in die Luft zu schwingen, sicher in die gefahrlichsten Schluchten der Erde zu dringen, über das Land in Wagen zu fahren, 5 6

F. Bacon, [Das neue Organon (Novum Organon), Berlin 1962, S. 141]. Lord T. Macaulay, [Essays (Lord Bacon), Wien—Leipzig—München 1924, S. 76/77 (nach der Übersetzung von Friedrich Bülau)].

30

die ohne Pferde dahinrollen, und über den Ozean in Schiffen, die in der Stunde zehn Knoten gegen den Wind machen. Das ist nur ein Teil ihrer Früchte und ihrer ersten Früchte. Denn es ist eine Philosophie, die niemals ruht, die nie ans Ziel kommt, die niemals vollkommen wird. Ihr Gesetz ist Fortschritt. Ein Punkt, der gestern noch unsichtbar war, ist heute ihr Ruheplatz und wird morgen ihr Ausgangspunkt sein." 7 Desillusionierung. Ein moderner Macaulay würde sicherlich eine andere, weniger optimistische Ansicht über die Früchte der Wissenschaft äußern. Er könnte zwar auf Errungenschaften und Leistungen verweisen, welche die Vorstellungskraft des neunzehnten Jahrhunderts weit übersteigen, auf wirklich große Erfolge im Kampf gegen Krankheiten, auf die Möglichkeit, die Menschheit ein für allemal vor der Gefahr von Hunger und Seuchen zu bewahren; trotzdem müßte er zugeben, daß die materielle Wissenschaft der Neuzeit das Problem des universellen Wohlstandes und Glücks ebenso wenig gelöst hat wie die Moralwissenschaft der Alten das Problem der universellen Tugend. Krieg, Finanzchaos, absichtliche Vernichtung von. Gütern, derer Millionen dringend bedürfen, weitverbreitete Unterernährung und Furcht vor weiteren Kriegen, die schrecklicher wären als alle bisherigen in der Geschichte, das sind die Bilder, die heute von den Früchten der Wissenschaft zu zeichnen sind. Es verwundert deshalb nicht, daß sich Wissenschaftler selbst immer mehr von der Vorstellung abwenden, die Entwicklung der Wissenschaft führe von sich aus automatisch zu einer besseren Welt. So sagte Sir Alfred Ewing in seiner Ansprache, die er als Präsident der British Association im Jahre 1932 verlas: „In der Einstellung des Gelehrten unserer Tage zu dem sogenannten automatischen Fortschritt nehmen wir einen Sinneswandel wahr. Bewunderung wird durch Kritik gedämpft, Selbstgefälligkeit weicht dem Zweifel, und Zweifel wird zum Erschrecken. Ein Gefühl der Ratlosigkeit und Enttäuschung greift um sich, wie bei einem Menschen, der nach einer langen Wegstrecke feststellt, daß er die falsche Richtung eingeschlagen hat. Ein Zurück gibt es nicht; wie soll er weitergehen? Wo wird er sich wiederfinden, wenn er diesem oder jenem Pfade folgt? Man möge mir als betagtem Vertreter der angewandten Mechanik verzeihen, wenn ich teilweise meiner Ernüchterung Ausdruck verleihe, mit der ich jetzt, abseits stehend, das Feuerwerk der Entdeckungen und Erfindungen beobachte, das mir einstmals ungetrübtes Entzücken bereitete. Man kann nicht umhin, zu fragen: Wohin führt dieses gewaltige Treiben? Wo wird es schließlich enden? Welchen Einfluß wird es wohl auf die Zukunft des Menschengeschlechtes nehmen? Diese dramatische Entwicklung ist eine Angelegenheit unserer Tage. Vor einem Jahrhundert hatte sie kaum Gestalt angenommen und noch nichts von der Wucht besessen, die uns heute mit Angst erfüllt. Die Industrielle Revolution war, wie jedermann weiß, britischen Ursprungs. Eine Zeitlang war unsere Insel die Werkstatt der Welt. Bald aber breiteten sich unvermeidlich die veränderten Lebensgewohnheiten aus, und heute ist jedes Land, China nicht ausgenommen, mehr oder weniger industrialisiert. Das Füllhorn des Ingenieurs wurde über die ganze Erde ausgeschüttet, überall eine Menge vorher nicht gekannter, nicht einmal erträumter Möglichkeiten und Kräfte ausstreuend. Zweifellos gereichen viele dieser Gaben dem Menschen zum Segen, machen sein Leben erfüllter, reicher, gesünder, bequemer, interessanter und glücklicher, soweit materielle Dinge überhaupt Glück gewähren können. Aber wir nehmen auch deutlich wahr, daß die Gaben des Ingenieurs übel mißbraucht wurden und auch weiterhin mißbraucht werden können. In einigen dieser Gaben steckt eine potentielle Gefahr, und sie sind schon heute eine Belastung. Der Mensch war auf eine so großzügige Freigiebigkeit moralisch nicht vorbereitet. Auf Grund der langsamen Entwicklung der Moral ist er noch immer nicht für die ungeheure Verantwortung gerüstet, die sie 7

Ebenda [S. 110/111], 31

ihm auferlegt. Die Herrschaft über die Natur wurde in seine Hand gegeben, bevor er die Herrschaft über sich selbst erlangt hatte. Ich brauche auf die sich daraus ergebenden Gefahren nicht einzugehen, die sich unserer Aufmerksamkeit nun gebieterisch aufdrängen. Wir beginnen zu begreifen, daß in den Angelegenheiten der Völker wie denen der Individuen um des guten Einvernehmens willen ein Teil der Freiheit geopfert werden muß. Überkommene Haltungen, etwa in bezug auf nationale Souveränität, müssen aufgegeben werden, wenn der Welt der Frieden bewahrt und die Zivilisation erhalten bleiben sollen. Die Geologie lehrt uns, daß sich in der Geschichte der Evolution die Spuren untergegangener Arten verfolgen lassen, die deshalb zugrunde gingen, weil ihre individuellen Angriffs- und Verteidigungsorgane zu vielfältig und zu wirksam ausgebildet waren. Das sollte man in Genf [beim Völkerbund] beherzigen. Die Mechanisierung des Lebens besitzt aber noch einen weiteren, vielleicht nicht so allgemein bekannten Aspekt, zu dem ich abschließend einige Bemerkungen wagen möchte. Die mechanisierte Produktion tritt immer mehr an die Stelle menschlicher Anstrengungen, und zwar nicht nur in der Industrie, sondern in all unseren Tätigkeiten, selbst einer so einfachen wie der Bestellung des Bodens. So muß der Mensch erkennen, daß er einerseits zwar um eine Fülle von Schätzen und Möglichkeiten bereichert wird, von denen er kaum zu träumen wagte, andererseits aber in hohem Maße eines unschätzbaren Segens beraubt wird, der Notwendigkeit nämlich, sich richtig auszuarbeiten. Wir erfinden die Maschinerie der Massenproduktion, und um das einzelne Produkt zu verbilligen, entwickeln wir den Ausstoß in einem gigantischen Ausmaß. Fast automatisch liefert die Maschine einen Strom von Erzeugnissen, an deren Herstellung der einzelne Arbeiter nur wenig Anteil hat. Er kennt die Freude des Handwerkers nicht mehr, jene alte Befriedigung durch ein Stück Arbeit, das gewissenhaft, mit Sorgfalt und Geschick, fertiggestellt wurde. Vielfach fällt er der Arbeitslosigkeit anheim, einer Arbeitslosigkeit, die erdrückender ist als alle Schinderei. Und die Welt sieht sich einem Überangebot von Waren gegenüber, die in solchen großen Mengen erzeugt werden, daß sie nicht mehr abgesetzt werden können, obwohl jeder Staat bemüht ist, sich durch Schutzzölle wenigstens den Binnenmarkt zu sichern . . . Wir müssen zugeben, daß sich selbst in dem friedlichen Tun derjenigen, die in gutem Glauben und bester Absicht sich damit befassen, die Hilfsquellen der Natur zu Nutz und Frommen des Menschen zu erschließen, eine düstere Seite auftut. Wo wollen wir Mittel dagegen suchen? Ich weiß es nicht. Einige mögen ein fernes Utopia vor Augen haben, wo es eine vollkommene Ausgewogenheit zwischen der Arbeit und ihren Früchten gibt, eine gerechte Verteilung von Beschäftigung und Einkommen und all den Gütern, die von den Maschinen produziert werden. Aber selbst dann bleibt das Problem: Wie wird der Mensch seine Freizeit verbringen, die er gewinnt, indem er nahezu seine ganze Mühsal einem nimmermüden mechanischen Sklaven aufbürdet? Darf er auf einen geistigen Wandel hoffen, der ihn befähigt, sie zum Guten zu nutzen? Gebe Gott, daß er sich darum bemüht und es schafft. Denn nur wer sucht, wird finden. Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Mensch gerade dadurch zu Entartung und Untergang bestimmt sein soll, daß er diejenige seiner Fähigkeiten entfaltet, die ihn Gott am ähnlichsten macht, die schöpferische Erfindungsgabe." 3 Flucht. Einige wenden sich von der Wissenschaft ab, da sie es für hoffnungslos halten, etwas zu unternehmen, solange sich die Natur des Menschen nicht zum Guten geändert habe. Andere stürzen sich mit um so größerem Eifer in ihre wissenschaftliche Arbeit und lehnen es ab, über die gesellschaftlichen Folgen auch nur nachzudenken, da sie von vornherein 8

A. Ewing, An Engineers Outlook,

in: Nature, Bd. 130, 1932, S. 349/350.

32

wissen, daß diese vermutlich schädlich sein werden. Nur wenige Glückliche können, wie G. H. Hardy in seiner berühmten Bemerkung über die reine Mathematik, sagen: „Dieser Gegenstand hat keinen praktischen Nutzen, d. h., er kann nicht verwendet werden, um der Zerstörung menschlichen Lebens direkt Vorschub zu leisten oder um die bestehenden Unterschiede in der Verteilung der Reichtümer zu versteifen."* Viele huldigen der subjektiven und etwas zynischen Ansicht, Wissenschaft zu treiben sei ebensosehr ein Spiel wie Bridge oder das Lösen von Kreuzworträtseln, nur viel aufregender und vergnüglicher für diejenigen, die daran Gefallen finden. In gewissem Sinne dürfte an dieser Ansicht etwas Wahres sein. Jedem erfolgreichen Wissenschaftler muß das, was er tut, Vergnügen und innere Befriedigung bereiten, und diese Befriedigung unterscheidet sich im Grunde nicht von derjenigen, die der Künstler oder der Sportler empfindet. Rutherford pflegte die Wissenschaft in Physik und Briefmarkensammeln einzuteilen. Wollte man diese Analogie zu Ende denken, so würde sie eher auf „Knobeln" und Briefmarkensammeln hinauslaufen. Die gesellschaftliche Bedeutung der Wissenschaft. Diese subjektiven Ansichten vermögen uns allerdings nichts darüber zu sagen, worin die gesellschaftliche Funktion der Wissenschaft insgesamt besteht. Wir können nicht erwarten, dies zu erfahren, wenn wir nur das in Betracht ziehen, was die Wissenschaftler über ihre Arbeit denken oder wie sie diese eingeschätzt haben möchten. Sie mögen Gefallen daran finden, sie mögen sie als edle Berufung oder als amüsanten Zeitvertreib ansehen; dies alles kann aber weder das ungeheure Wachstum der Wissenschaft in der heutigen Welt erklären noch den Grund dafür, daß sie die Hauptbeschäftigung vieler der fähigsten und intelligentesten Menschen unserer Zeit geworden ist. Die Wissenschaft hat offenbar eine gesellschaftliche Bedeutung erlangt, die weit über das hinausgeht, was irgendeiner Wertschätzung intellektueller Betätigung als solcher je entspringen könnte. Sie wird jedoch sicherlich nicht unmittelbar zum Wohle des Menschen genutzt. Wir müssen herausfinden, zu welchem Zweck sie tatsächlich genutzt wird, und das ist weniger eine philosophische als eine soziale und ökonomische Untersuchung. Der Wissenschaftler als Gehaltsempfänger. Damit Wissenschaft in ihrem heutigen Umfang überhaupt existieren kann, müssen diejenigen, die ihre Aktivitäten finanzieren, sie für sehr nützlich halten. Der Wissenschaftler muß leben, und seine Arbeit ist nur in den seltensten Fällen unmittelbar produktiv. Die Zeit ist längst vorbei, da der Wissenschaftler zu den Begüterten gehörte, so daß er sich nicht um seinen Broterwerb zu kümmern brauchte oder seinen Lebensunterhalt aus irgendeiner Nebenbeschäftigung bestritt. Die wissenschaftliche Forschung ist nicht länger, wie sie ein Universitätsprofessor der vorigen Generation aus Cambridge charakterisierte, „eine angemessene Beschäftigung für die Mußestunden eines Engländers des gebildeten Standes". Eine statistische Untersuchung, die vor einigen Jahren in den Vereinigten Staaten durchgeführt wurde, hat gezeigt, daß von den 200 bedeutendsten Wissenschaftlern des Landes nur zwei von eigenen Mitteln lebten, alle anderen hingegen bezahlte wissenschaftliche Posten innehatten. Der Wissenschaftler unserer Tage ist fast genauso ein Gehaltsempfänger wie der Verwaltungsbeamte oder der Angestellte eines Unternehmens. Selbst wenn er an einer Universität tätig ist, wird er, wenn auch nicht in jedem Detail, so doch in der allgemeinen Forschungsrichtung, von den gleichen Interessen gelenkt, die auch die Produktionsprozesse insgesamt lenken. Wissenschaft-

* Zit. nach: J. D. Bemal, Die Wissenschaft in der Geschichte, a. a. O., S. 7. 3 Bemal

23

liehe Forschung und Lehre sind in Wirklichkeit kleine, aber entscheidend wichtige A b teilungen der industriellen Produktion. 9 Gerade in ihren Dienstleistungen für die Industrie müssen wir die gegenwärtige gesellschaftliche Funktion der Wissenschaft suchen. Wissenschaft für den Profit. Die Entwicklungsgeschichte der Industrie, einschließlich der staatlichen Rüstungsindustrie und des ältesten Produktionszweiges, der Landwirtschaft, zeigt, daß das eigentliche Ziel, die industriellen Prozesse in Richtung auf größere Effektivität, also auf höhere Rentabilität hin zu verändern, heute fast völlig durch die Anwendung der Wissenschaft erreicht wird. Die drei grundlegenden technischen Veränderungen, die sich aus der Anwendung der Wissenschaft ergeben, sind die zunehmende Automatisierung der Produktion, die bessere Ausnutzung von Rohstoffen durch Vermeidung von Abfällen und die Einsparung von Kapital durch rascheren Umschlag. Die Wirkung des letztgenannten Faktors allerdings wird vermutlich durch die wachsenden Investitionen für Automatisierungs-Ausrüstungen mehr als aufgehoben. Im allgemeinen führt dies zu einer Verringerung der laufenden Produktionskosten bei gleicher Produktion, oder häufiger zu einer höheren Produktion bei gleichbleibenden laufenden Kosten. Daher ist die Wissenschaft ein zusätzliches Mittel zur Minderung der Kosten, neben Verbesserung der Arbeitsorganisation, Antreiberei und Lohnsenkung. Wie weit die Wissenschaft tatsächlich eingesetzt wird, hängt davon ab, welchen Vorteil sie im Vergleich zu diesen anderen Methoden bietet. Diese Vorteile sind durchaus vorhanden, aber begrenzt, und infolge des Konservativismus der Produzenten werden sie keinesfalls voll genutzt. Daher hätte die Wissenschaft, wie sehr sie auch in ihrer Entwicklung behindert worden sein mag, niemals ihre gegenwärtige Bedeutung erlangt, wäre nicht ihr Beitrag zur Erhöhung des Profits gewesen. Würden die direkten und die indirekten Subventionen seitens der Industrie und des Staates eingestellt, so würde die Wissenschaft alsbald auf ein mindestens so niedriges Niveau wie im Mittelalter herabsinken. Diese praktische Überlegung führt die Wunschvorstellung idealistischer Philosophen wie Bertrand Russell ad absurdum, man könne die Naturwissenschaft weiter entwickeln, ohne gleichzeitig auch die Industrie zu entwickeln. G a n z abgesehen von dem gewaltigen Beitrag, den die Industrie durch Geräte und Problemstellungen zur Entwicklung der Naturwissenschaft geleistet hat, es gibt keine andere Quelle, aus der die Wissenschaft in angemessener Weise finanziert werden könnte. Dieser Zusammenhang bleibt auch für eine sozialistische Wirtschaft bestehen; denn hier, wo der Mißbrauch der Wissenschaft für den Profit wegfallt, rückt die Notwendigkeit, die Produktion höchstmöglich zum Wohle des Menschen zu entfalten, an die erste Stelle. Die Wissenschaft muß dann enger als je zuvor mit Industrie, Landwirtschaft und Gesundheitswesen verknüpft werden.

Wissenschaft als Institution. Dieser Zusammenhang zwischen Industrie und Wissenschaft hat im Laufe des letzten Jahrhunderts die Wissenschaft unmerklich zu einer Institution werden lassen, die mit der Kirche oder der Justiz vergleichbar und sogar noch wichtiger ist. Wie diese hängt auch sie von der bestehenden Gesellschaftsordnung ab, ihre Mitarbeiter entstammen im wesentlichen derselben Bevölkerungsschicht; und sie ist mit den Ideen der herrschenden Klasse durchsetzt. Trotzdem verfügt sie in erheblichem M a ß e über eine spezifische Organisation, ein Eigenleben und eigene Anschauungen. Viel zu leicht wird allgemein geglaubt, das Fortbestehen der Wissenschaft als Institution sei selbstverständlich. D a die

9

Eine Ausnahmestellung könnte die Medizin für sich in Anspruch nehmen. Doch kann in diesem Zusammenhang die breite Entwicklung des modernen Gesundheitswesens als ein notwendiger Faktor für das Überleben einer zahlenmäßig großen, in überquellenden Städten konzentrierten Industriebevölkerung angesehen werden.

34

Wissenschaft in ihrer Verflechtung mit der Industrie bisher so gigantische Fortschritte gemacht hat, wird angenommen, dieser Fortschritt würde automatisch anhalten. An und für sich gibt es jedoch für die Kontinuität des Fortschritts in der Wissenschaft keine größere Sicherheit als für die Kontinuität des Fortschritts in der Industrie. Die Ereignisse der letzten paar Jahre haben uns gelehrt, wie unzuverlässig Voraussagen über die künftige ökonomische Entwicklung auf Grund einer oberflächlichen Prüfung der Tendenzen der jüngsten Vergangenheit waren. Dazu bedarf es einer sehr viel tiefergehenden und weiter zurückreichenden Analyse. Kann die Wissenschaft überleben? Wir haben im Verlaufe der Geschichte Institutionen emporwachsen, stagnieren und absterben sehen. Woher wissen wir, ob das gleiche nicht auch der Wissenschaft widerfahren wird? Tatsächlich war die größte wissenschaftliche Aktivität, die es vor unserer Epoche gab, die Wissenschaft des hellenistischen Zeitalters. Sie war ebenfalls zu einer Institution geworden, aber schon dahingeschwunden, lange bevor die Gesellschaft, die sie hervorgebracht hatte, untergegangen war. Woher wissen wir, ob es der modernen Wissenschaft nicht ebenso ergehen wird oder vielleicht gar schon ergeht? Zur Beantwortung dieser Frage genügt es nicht, die derzeitige Situation der Wissenschaft zu analysieren. Eine volle Antwort auf diese Frage setzt die Kenntnis der gesamten Geschichte der Wissenschaft voraus. Leider ist aber die Geschichte der Wissenschaft als einer Institution mit all ihren Beziehungen zu gesellschaftlichen und ökonomischen Ereignissen noch nicht geschrieben, ja noch nicht einmal in Angriff genommen worden. Die vorliegenden Werke zur Geschichte der Wissenschaft sind kaum mehr als ehrfurchtsvolle Beschreibungen großer Männer der Wissenschaft und ihrer Werke; sie bieten bestenfalls Anregungen für junge Leute, sind aber nicht geeignet, ein Verständnis der Entstehung und der Entwicklung der Wissenschaft als Institution zu vermitteln. Ein Versuch, eine solche Geschichte zu schreiben, muß aber gemacht werden, wollen wir die Bedeutung der Wissenschaft als einer Institution, wie sie sich uns heute darstellt, samt ihren komplexen Beziehungen zu den anderen Institutionen und dem gesellschaftlichen Geschehen insgesamt verstehen. Der Schlüssel zur Zukunft der Wissenschaft liegt in ihrer Vergangenheit, und erst wenn wir diese, wie kursorisch auch immer, untersucht haben, können wir damit anfangen zu bestimmen, worin die gesellschaftliche Funktion der Wissenschaft besteht und wie sie sich entwickeln kann.*

* Das folgende zweite Kapitel ist eine kurze Skizze einer derartigen Analyse. Eine ausführliche Darstellung gibt der Autor in seinem etwa zwanzig Jahre später erschienenen Werk Die Wissenschaft in der Geschichte. Dort werden Leben und Werk vieler der im zweiten Kapitel nur genannten Persönlichkeiten ausführlicher beschrieben.

35

ZWEITES KAPITEL

Geschichtliches

Wissenschaft, Bildung und Handwerk Die Wissenschaft, wie wir sie heute kennen, entstand erst relativ spät. Erst im sechzehnten Jahrhundert nahm sie klar umrissene Formen an; ihre Wurzeln reichen jedoch bis zu den allerersten Anfangen der Zivilisation, j a noch weiter, bis zum Ursprung der menschlichen Gesellschaft zurück. Die moderne Wissenschaft entstammt zwei Quellen. Z u m einen geht sie aus den systematisierten Spekulationen des Medizinmannes, Priesters und Philosophen hervor, zum anderen aus der praktischen Tätigkeit und der traditionellen Berufserfahrung des Handwerkers. Bis heute wurde jedoch dem erstgenannten Aspekt der Wissenschaft weit mehr Aufmerksamkeit geschenkt als dem zweiten, mit dem Ergebnis, daß ihre Entwicklung ein größeres Wunder zu sein scheint, als es der Wirklichkeit entspricht. Einen Schlüssel für das Verständnis der Geschichte der Wissenschaft liefert die Wechselwirkung zwischen der theoretischen und der praktischen Tätigkeit des Menschen. Die Wissenschaft der Primitiven. Es gab eine Zeit, daran kann kein Zweifel bestehen, in der diese beiden Aspekte der Wissenschaft in der Person ein und desselben Menschen vereint waren, als jeder Mensch teils Handwerker, teils Medizinmann war. Der magische und der technische Aspekt des Lebens der Primitiven hatten das gleiche Ziel: Sie wollten ihre Umwelt beherrschen, gleich wie sie auch immer sie sich vorstellten, Nahrung beschaffen sowie Schmerz und T o d vermeiden. Mindestens ein Drittel der Techniken, die wir heute benutzen, müssen dem Menschen der Altsteinzeit bekannt gewesen sein: Jagen, Fallenstellen, Kochen, Gerben und Verarbeiten von Fellen, Bearbeiten von Stein, Holz und Knochen, Malen und Zeichnen. Dies alles bedeutete einen gewaltigen Fortschritt gegenüber dem Tierstadium; es wurde erst möglich durch die Herausbildung von Gemeinschaft und Sprache. Das erste Herangehen des Menschen an die Natur konnte jedoch kaum wissenschaftlich sein. Seine ersten Kontakte mit der Natur wurden notwendigerweise durch solche Bereiche vermittelt, die ihn am unmittelbarsten berührten, also durch seine Mitmenschen sowie durch die Tiere und Pflanzen, die er zu Nahrungs- oder anderen Zwecken benötigte. N u n sind dies, wie wir heute wissen, die bei weitem kompliziertesten Bereiche der Natur, die auch wir größtenteils noch immer nicht durch rein wissenschaftliche Methoden zu beherrschen vermögen. Es ist also nicht verwunderlich, sondern geradezu zwangsläufig, daß der primitive Mensch ihnen auf ganz andere A r t beizukommen trachtete. Was die Praxis betraf, so konnte er sich mit anderen Menschen, mit Tieren und Pflanzen durch eine allmähliche Modifizierung seiner eigenen tierischen Verhaltensmechanismen auseinandersetzen, die durch die produktive Zusammenarbeit in der Gemeinschaft möglich wurde. Die Theorie dagegen war ein rein gesellschaftliches Erzeugnis, das mit der Sprache entstand. Daher war es unvermeidlich, daß die Außenwelt zunächst in Kategorien des Sozialverhaltens interpretiert wurde; das heißt, daß Tiere und Pflanzen und selbst unbelebte Gegenstände als Wesen aufgefaßt wurden, die wie aus der A r t geschlagene Stammesangehörige zu behandeln waren. Logisches und

36

wissenschaftliches Denken auf dieser Stufe ist nicht nur unvorstellbar, es wäre nutzlos gewesen. Landwirtschaft und Zivilisation. Die erste große Revolution der menschlichen Gesellschaft wurde durch die Herausbildung der Landwirtschaft ausgelöst, die in einem begrenzten Gebiet des Nahen Ostens entstand und sich dann in einem langsamen Prozeß, der bis heute noch nicht zum Abschluß gekommen ist, über die ganze Welt ausbreitete. Die Landwirtschaft hatte eine Anzahl neuer Techniken mit sich gebracht: die Domestikation von Tieren, das Spinnen und Weben, die Töpferei und bald danach auch die Verwendung von Metall. Wichtiger für die Entwicklung der Wissenschaft waren aber die gesellschaftlichen Institutionen, die durch die Landwirtschaft erstmals ermöglicht worden waren, nämlich Handel und Städte. Eine- Methode der Erzeugung von Nahrungsmitteln, die einen Überschuß hervorbringen konnte und oft auch wirklich hervorbrachte, der, ohne zu verderben, aufbewahrt und von einem Ort zum anderen mitgeführt werden konnte, versetzte immer mehr Menschen in die Lage, zu leben, ohne sich unmittelbar mit dieser Produktion befassen zu müssen. Dadurch wurde es auch möglich, in entfernter gelegenen Orten nach anderen Dingen als Lebensmitteln zu suchen und sie in die Anbauzentren zu schaffen, zunächst magische Stoffe wie Malachit und Bernstein, später auch Metalle und Baumaterial. Auf diese Weise entwickelte sich aus dem in primitiveren Zeiten üblichen Austausch zu rituellen Zwecken unmerklich der Handel. Nun erfordert aber der Handel, und zwar schon auf der Stufe des einfachen Tauschhandels, gewisse Standards, so daß M a ß und Zahl zum ersten Male eine vorrangige praktische Bedeutung erlangten. Mit Maß und Zahl war die Möglichkeit gegeben, geistige Betätigungen direkt für praktische Zwecke zu nutzen. Das war die Geburtsstunde einer keineswegs von der Realität getrennten Theorie. Maß und Zahl erforderten mehr Möglichkeiten zum „Speichern", als sie das menschliche Gedächtnis bieten konnte, und führten auf diese Weise zur Kunst des Schreibens, die sich bald von ihrer ursprünglichen Verwendung in der Buchführung auf alle Arten von Berichten ausbreitete und damit der Gesellschaft einen Zusammenhalt über Zeiträume hinweg vermittelte, den sie niemals verlor. Es dauerte gar nicht so lange, bis sich alle modernen Attribute des Handels, wie Kredit, Wechsel, Darlehen, Zinsen, herausgebildet hatten und zusammen mit ihnen die entsprechende Mathematik. Bereits im Jahre 4000 v. u. Z. mußten der Handelsmann und sein Gehilfe über ein einigermaßen vollständiges Wissen in Arithmetik und Algebra verfügen. 1 Stadt und Handwerker. Schneller noch führte der Handel zu jenem Zusammenwachsen von Dörfern, aus dem bald die Stadt hervorging, die ihren Unterhalt aus dem Überschuß der zahlreichen Dörfer bezog, welche sie als Gegenleistung mit Werkzeugen und Luxusgegenständen belieferte. In den Städten konnte sich das Handwerk entwickeln, insbesondere das neue Handwerk der Metallbearbeitung, gefördert durch die anhaltende dringende Nachfrage nach Waffen; denn jetzt, da die Landwirtschaft die Anhäufung eines Überschusses ermöglichte, waren Kriegsführung und Eroberung zu einem einträglichen Gewerbe geworden. Auf die Kunstfertigkeit der städtischen Handwerker dieser frühen Zeiten, etwa zwischen 6000 und 4000 v. u. Z., geht der größte Teil jener Dinge des täglichen Lebens zurück, die wir noch heute benutzen: feste Wohnungen aus Holz, Ziegel oder Stein mit Zimmern und Feuerstätten, Bädern und Abflüssen, ferner Fahrzeuge mit Rädern, 1

Für eine tiefgründige Untersuchung dieses Aspekts und anderer Seiten der frühen Geschichte der Naturwissenschaft vgl. G. Childe, Man Makes Himself, London 1936 [Der Mensch schafft sich selbst, Dresden 1959], sowie Childes Artikel in: Modem Quarterly, Bd. 1, 2/1938.

37

Schiffe sowie die einfachsten Maschinen, die schiefe Ebene, der Flaschenzug, die Töpferscheibe und die Schraube. Dies alles setzte ein beträchtliches Verständnis der Mechanik und der Physik und, soweit es die Kunst der Metallbearbeitung betraf, auch der Chemie voraus. Ob dieses Wissen explizit oder zunächst nur implizit vorhanden war, können wir nicht sagen. Wir haben keine anderen Zeugnisse als die produzierten Gegenstände selbst. Daß aber mehr Wissenschaft, als uns heute bekannt ist, in ihre Entwicklung eingeflossen ist, wird dadurch nahegelegt, daß diese Kunstfertigkeiten von etwa 4000 v. u. Z. bis etwa 1500 u. Z. relativ stagnierten. Während dieses ganzen Zeitraumes überdauerte die traditionelle Technik, abgesehen von der Anzahl und der äußeren Form ihrer Produkte, größtenteils unverändert sämtliche Wechselfalle der Zivilisation. Die folgenschwere Trennung von Priester und Handwerker. Es kann natürlich sein, daß die wichtigsten Probleme des Lebens von diesen Begründern der Zivilisation so gut gelöst worden waren, daß nur wenig Anlaß zu Veränderungen bestand. Auch mögen ständige Kriege und Unsicherheit die Entwicklung gehemmt haben; ein weiterer Grund könnte jedoch darin liegen, daß mit dem Aufkommen der Städte sich zum ersten Male eine Trennung zwischen dem Handwerker, dem Mann der Tat, und dem Priester, dem Mann des Wortes, vollzog. Die Entwicklung der Schrift war jahrhundertelang fast ausschließlich Monopol des Priesters. Sein Leben war leichter und höher geachtet als das des Handwerkers, so daß das Priestertum die aktivsten intellektuellen Geister anzuziehen pflegte. Theologie und Metaphysik sind ein ebenso unterhaltsamer Zeitvertreib wie die Wissenschaft, so man ausreichend versorgt ist, um sich nicht um die irdischen Dinge kümmern zu müssen. Nachdem sich die Trennung zwischen dem Theoretiker und dem Praktiker endgültig durchgesetzt hatte, wurden sowohl der materielle Fortschritt als auch die Entwicklung der Wissenschaft schwierig, ungewiß und für Rückschläge anfällig. Die Astronomie. Glücklicherweise verblieben zwei Gebiete, in denen Theorie und Praxis einander begegneten: Astronomie und Medizin. Die Daseinsberechtigung der Astronomie ergab sich daraus, daß sie für die Hauptbeschäftigung, die Landwirtschaft, gebraucht wurde, weil sie den Kalender aufstellte. Außerdem wurde sie von Kauf- und Seeleuten gebraucht, die ihren Kurs nach den Sternen steuerten. Die Astronomie konnte aber weder den Bauern noch den Kaufleuten allein überlassen werden. Nicht nur, daß sie zu schwierig war; sie hatte es zudem mit Dingen hoch oben zu tun, mit den Gefilden der Götter, welche die Geschicke der Menschen beherrschten. Daher mußte es Sache der Priester bleiben, den Willen der Götter zu deuten und vorherzusagen. Die Astronomie und die gesamte Naturwissenschaft verdanken der Astrologie viel; denn sie gab den Anstoß zu einer exakten und systematischen Beobachtung. Die Astronomie war das einzige Gebiet, auf dem man mit Elementarmathematik wirklich Dinge berechnen konnte, die sich in der Außenwelt abspielten. Die Wissenschaften, die hinter den Tätigkeiten der Handwerker steckten, waren noch zu kompliziert, als daß sie intellektuell durchleuchtet werden konnten; dagegen schienen die Bewegungen der Himmelskörper mit derart vollkommener geometrischer Regelmäßigkeit abzulaufen, daß sie in ein System gebracht werden konnten. Das erforderte Beobachtung und Berechnung, aber auch — und das ist für unsere Zwecke von besonderem Belang —, daß an verschiedenen Orten Astronomen vorhanden waren und daß Arbeiten über lange, ein Menschenleben weit überdauernde Zeiträume ausgeführt wurden, kurz, einen Stand der Dinge, der Weltreiche und stabile Regierungen zur Voraussetzung hatte. Die Wissenschaft als Institution wurde in den Observatorien der Tempel geboren. Die Bewegungen der Fixsterne waren regelmäßig, die der Planeten und des Mondes hingegen so kompliziert, daß sie die Astronomen zu immer größeren Anstrengungen bei ihrer Beschreibung veranlaßten; in deren Verlauf wurden die Grundzüge der Geometrie ausgearbeitet. 38

Die Medizin. Die Medizin befand sich in einer weniger glücklichen Lage. D a s Bedürfnis, irgendwie mit Krankheiten fertig zu werden, war weit dringender als das nach Astronomie, aber der Erfolg zwangsläufig unvergleichbar geringer. Bis zur Mitte des vorigen J a h r h u n d e r t s konnte der Arzt tatsächlich keinerlei Kenntnis von den grundlegenden physiologischen u n d chemischen Tatsachen haben, die seine Behandlungsmethoden bestimmten. Gewiß k o n n t e m a n einige nützliche chirurgische Eingriffe machen u n d in der Krankenpflege seinen gesunden Menschenverstand walten lassen, und gelegentlich mögen auch einige wenige der benutzten Arzneien eine gewisse Linderung verschafft haben 2 . Trotz aller seiner Bildung blieb aber der Arzt ein Medizinmann, dessen H a u p t f u n k t i o n darin bestand, d e m Patienten H o f f n u n g einzuflößen und seinen Angehörigen die Verantwortung abzunehmen. Die Arzte gehörten, da sie wohlhabende u n d einflußreiche Menschen behandelten, von vornherein zu den privilegierten u n d gebildeten Schichten. D a h e r versuchten sie natürlich auch, ihre Praktiken mit irgendwelchen Theorien zu begründen. Diese Theorien waren, wenn wir von den wenigen vernünftigen Kompendien wie dem Corpus hippocraticum* absehen, in pathetische Worte gekleideter Mißbrauch von Geist, schlimmer noch als Theologie oder Philosophie. Immerhin bilden sie einen Versuch, wissenschaftlich an die Probleme heranzugehen, und zu einem großen Teil verdanken wir gerade den Ärzten die Praxis der biologischen Experimente und die Institution der wissenschaftlichen Ausbildung. Die Griechen und die Wissenschaft. Mit dem Aufschwung der griechischen Kultur, so schien es eine Zeitlang, hätte eine Wissenschaft, wie wir sie heute kennen, entstehen können. Bei den Griechen der Frühzeit, speziell der ionischen Periode, die ursprünglich Seeräuber waren und zu Händlern wurden, gab es eine eigenartige Mischung aus Interesse an der Praxis u n d kindlichem Wissensdurst f ü r die Theorie, welche uns bei der Herausbildung unseres Wissens vom Universum ein großes Stück vorwärts gebracht hat. Die Griechen selbst stellten natürlich keine direkten Untersuchungen über das Universum a n ; was sie taten, war, sich mit sauberen und unsauberen Methoden sämtliche Techniken der alten Welt anzueignen. Sie hatten dabei den riesigen Vorteil, ihnen unvoreingenommen entgegenzutreten; daher k o n n ten sie von A n f a n g an das Nützliche u n d Vernünftige vom bloß Traditionellen u n d Magischen scheiden. Neueste Untersuchungen haben uns gezeigt, wie wenig von den wissenschaftlichen Leistungen der frühen Griechen tatsächlich von ihnen selbst s t a m m t u n d wieviel sie direkt aus babylonischen und ägyptischen Quellen ü b e r n o m m e n haben. Die astronomischen Ergebnisse der Griechen k o n n t e n zum Beispiel nur auf der G r u n d l a g e systematischer Beobachtungen zustande k o m m e n , die sich über hunderte von Jahren erstreckt hatten, während derer die Griechen noch ungebildete Barbaren gewesen waren. Die Wissenschaft unter den Philosophen. Die folgenschwere T r e n n u n g zwischen dem Theoretiker u n d dem Praktiker machte sich jedoch sehr bald b e m e r k b a r ; schon im f ü n f t e n J a h r h u n d e r t vor unserer Zeitrechnung war in Griechenland diese T r e n n u n g vollkommener, als sie im alten Orient gewesen war. Fremde Vorstellungen wurden auch weiterhin übernommen, und es gab auch bis zu einem gewissen G r a d e technischen Fortschritt, n u n aber nicht mehr unter dem P a t r o n a t der Mächtigen u n d Einflußreichen. N a c h H a n d e l u n d Krieg

2

Darauf weist auch L. Hogben in: Science for the Citizen, London 1938, S. 777/778 [Mensch und Wissenschaft, Bd. 2, Zürich 1948, S. 355], hin. * Corpus hippocraticum, eine von alexandrinischen Ärzten um 300 v. u. Z. zusammengestellte Sammlung medizinischer Schriften, die zum Teil von dem griechischen Arzt Hippocrates, 460— 377 v. u. Z., stammen. (In deutscher Übersetzung: Hippocrates, Sämtliche Werke, Bd. 1—3, München 1895 — 1900; neuere Ausg.: Stuttgart—Leipzig 1934.)

39

war die Politik zum Hauptanliegen der griechischen Städte geworden, und für die Politik wurde die Beherrschung des Wortes wichtiger als die Beherrschung der Dinge. In ihrer Blütezeit war die griechische Geisteshaltung kontemplativ. Man wollte die Welt nur verstehen, um ihre ewigen Wahrheiten zu bewundern. Schon der Gedanke, den Verstand zu Veränderungen zu gebrauchen, war Sokrates und Piaton zuwider; davon hatten sie in den verheerenden äußeren Rivalitäten der verschiedenen Stadtstaaten und den inneren Klassenkämpfen zuviel gesehen. Bei Piaton heißt es: „Daß es dabei (bei der Wissenschaft) um die Erkenntnis des immer Seienden geht und nicht dessen was irgendwann entsteht und dann wieder vergeht?" 3 Die hellenistische Erneuerung. Eine gewisse Abkehr von diesem Standpunkt zeichnete sich mit der Entstehung des Reiches Alexanders des Großen und der hellenistischen Diadochenstaaten ab. Aristoteles, der Lehrer Alexanders, vereinte in seiner allgemeinen Philosophie praktische und metaphysische Elemente, auch wenn sein Einfluß in späteren Zeiten sich nur auf letztere beschränkte. Die hellenistischen Herrscher begünstigten eine mehr auf das Praktische ausgerichete Wissenschaft, und tatsächlich war dies eine große Periode griechischer Mechanik und Mathematik, obgleich die zu lösenden Probleme recht begrenzter Natur waren und sich praktisch auf Baukunst und Kriegstechnik beschränkten. Belagerungen und Seekriege stellten an den technischen Scharfsinn große Anforderungen. Nach der Astronomie ist die Mechanik das Gebiet, das sich relativ leicht mathematisch formulieren läßt, und das Werk des Archimedes, der selbst ein großer Konstrukteur von Kriegsgerät war, zeigt, daß die Griechen jedenfalls die Grundzüge der Statik gründlich beherrschten. Weit wichtiger aus unserer Sicht ist jedoch die Tatsache, daß in Alexandria die Wissenschaft erstmalig organisiert wurde, und zwar vom Staat. Das Museion von Alexandria war Bibliothek, Universität und Forschungsstätte in einem; Wissenschaftler wurden Staatsbeamte und waren nicht länger gezwungen, umherzuziehen, um Möglichkeiten für ihren Lebensunterhalt zu suchen. Die Arbeit des Museion selbst entartete jedoch bald in Pedanterie und Mystizismus. Seine Existenz hing von den Diensten ab, die es den Herrschenden erweisen konnte, und deren Bedürfnisse konnten nur allzu leicht befriedigt werden: Es stand ja immer eine Vielzahl von Sklaven zur Verfügung, wenn Aufgaben zu lösen waren, die Kraftaufwand erforderten. Außerdem währte diese Periode ökonomischer Expansion nicht lange; die Staaten waren bald in die Defensive gedrängt, und das Interesse für fremde Länder, das eines der erfolgversprechendsten Merkmale der hellenistischen Wissenschaft gewesen war, erlosch. Nur die Literatur, die Philosophie und ein beträchtlicher Teil der Astronomie überdauerten. Der Islam. Wenn auch das Museion entartete und schließlich unterging, so blieb immerhin die Vorstellung von einer solchen Einrichtung lebendig. In der darauf folgenden Epoche der Wissenschaftsgeschichte, der Herrschaft des Islam — wenn wir von der unproduktiven des Römischen Reiches einmal absehen —, wurden mehrere solcher Einrichtungen gegründet und gelangten zu zeitweiliger Blüte. Zu Beginn der islamischen Wissenschaft trat dieselbe Kombination von Interesse für die Praxis und Wißbegierde für die Theorie, aus welcher die griechische Wissenschaft entstanden war, wieder zutage. Der Islam als Religion war viel stärker materiell orientiert als die griechische Philosophie. Der ehrbare Kaufmann — und nicht der Bauer, der Krieger, der Priester oder der Philosoph — war der meistgeachtete Muselman. Von den Arabern wurde die Literatur der Griechen, Perser und Inder zwar mehr nach den theoretischen Gesichtspunkten des Wissens ausgeschlachtet, sie widmeten aber auch 3

Plat. rep. 527 [Piaton, Der Staat, a. a. O., S. 373],

40

der Tätigkeit in einem Gewerbe, insbesondere der des Arzneikundigen und des Metallurgen, große Aufmerksamkeit. Die Alchemie erwies sich für die Chemie als ein ebenso mächtiges Stimulans, wie es die Astrologie für die babylonische Astronomie gewesen war. Zum Unterschied von Astronomie und Mathematik ist die Chemie ein Gebiet, das nur mit Hilfe einer langsam gewachsenen Tradition von Experimenten erfaßt werden kann, die selbst nur wenig Systematisierung im Rahmen allgemeiner Theorien erfordern. Tatsächlich haben die frühen chemischen Theorien den Vorstellungen, die implizit hinter den Operationen der alten Metallurgen steckten, nichts von Bedeutung hinzugefügt. Der praktische Chemiker wußte, was er zu tun hatte, wenn er ein bestimmtes Ergebnis haben wollte; er konnte aber die Gesetzmäßigkeiten, die seinem Verfahren zugrunde lagen, nicht kennen. Das Mittelalter. Die Erkenntnisse der islamischen und der griechischen Wissenschaft sickerten nur tropfenweise in das noch barbarische mittelalterliche Westeuropa ein. Während einer langen Zeitspanne hatten sie hier keine Funktion zu erfüllen. Zunächst bestand ein größeres Bedürfnis nach den philosophischen Werken Griechenlands, wie sie in arabischen Übersetzungen überliefert wurden, als nach den mehr materiellen Errungenschaften einer Naturwissenschaft. Die Produkte der Handwerker und Gewerbetreibenden des Ostens — Seide, Stahl, Edelsteine, Gewürze und Arzneimittel — wurden jahrhundertelang importiert, ehe Versuche unternommen wurden, ihre Herstellung nachzuahmen oder ihre Quellen zu erkunden. Nur hier und da finden wir unter den Scholastikern, wie bei Albertus Magnus oder Roger Bacon, eine Ahnung von der Bedeutung der Naturwissenschaft und ihres Wertes für den Menschen. Der mittelalterlichen Gesellschaft war es gelungen, aus der Barbarei heraus ein relativ stabiles Gesellschaftssystem aufzubauen, das aber auf einer primitiven Wirtschaft basierte und daher für den Fortschritt der Wissenschaft weder einen Rahmen erforderte noch lieferte. Nicht etwa, daß keine Erfindungen gemacht worden wären, man gab ihnen aber keine Gelegenheit, zur Wirkung zu kommen. Im dreizehnten Jahrhundert wurden in Italien Spinnmaschinen erfunden, ähnlich der Hargreaveschen Jenny, und sogar tatsächlich benutzt; sie wurden jedoch von den Zünften alsbald unterdrückt, da sie die Basis des Lebensunterhalts ihrer Mitglieder zu zerstören drohten. Gerade dank ihres Erfolges bei der Schaffung statischer Bedingungen machte die mittelalterliche Gesellschaft diese Bedingungen instabil. Ordnung und Sicherheit ermunterten den Handel, dieser seinerseits führte zu einer Anhäufung von Reichtum, der aber mit der Wirtschaft eines Feudalstaates unvereinbar war. Der Bruch entstand zuerst in Italien, und gerade hier schlug auch die Geburtsstunde der Naturwissenschaft in ihrer modernen Form. Die ökonomische und die intellektuelle Seite der Renaissance wirkten sehr intensiv aufeinander ein. Die schnelle Entwicklung von Handel und Manufaktur, noch immer längs traditioneller Linien, ging mit der Wiederentdeckung der griechischen Quellen der Philosophie und daneben auch der Naturwissenschaft einher.

Die Geburt der modernen Naturwissenschaft: Naturwissenschaft und Handwerk Die verhängnisvolle Kluft zwischen Theorie und Praxis, obwohl noch immer breit, wurde an einigen Stellen überbrückt. Der arrivierte Handwerker wurde dank seiner Fähigkeiten anerkannt und sogar in die Gesellschaft der Begüterten aufgenommen. Einige der Gebildeten und sogar einige Mitglieder des Adels ließen sich herab, sich für die Kunstfertigkeiten der 41

Mechanik zu interessieren. In den italienischen Städten der Renaissance verkehrten Maler, Dichter, Philosophen, fahrende Schüler aus Griechenland in den Palästen der Bankiers und der königlichen Kaufleute. Im Jahre 1438 wurde die erste Akademie der modernen Zeit von Cosimo di Medici in Florenz gegründet. Zwar war es eine Akademie im Sinne Piatons, aber sie brach definitiv mit den Beschränkungen der Scholastik, und sie war der Prototyp aller späteren wissenschaftlichen Akademien. Auch hier waren wieder die Bedingungen, die am Anfang der griechischen und der islamischen Wissenschaft herrschten, erfüllt, es gab aber einen wesentlichen Unterschied. Westeuropa war ein relativ armes und wenig bevölkertes Gebiet, seine Herrscher strebten nach Reichtümern, hatten aber wenig natürliche Hilfsquellen zu ihrer Verfügung, um sie zu erlangen. Gewinnung von Edelmetallen durch Bergbau, ferner Krieg und Außenhandel, der sich nur wenig von Seeräuberei unterschied, das waren die einfachsten Mittel, die zur Verfügung standen; doch fehlten der mittelalterlichen Christenheit ganz wesentlich die Hilfsmittel der alten Reiche, nämlich die menschlichen Arbeitskräfte. Die Kombination von Erfindungsgabe und Gelehrsamkeit. In diesem Zusammenhang war Erfindungsgabe gefragt. Zunächst war sie der natürliche Einfallsreichtum des Handwerkers oder des Mühlenbauers. Das kleine Bergbau-Unternehmen wollte Erz fördern oder Wasser hochpumpen, ohne neue Partner hereinzunehmen oder angeworbenen Bergleuten existenzgefährdende Löhne zahlen zu müssen; es war gezwungen, Maschinen zu erfinden, welche diese Arbeit verrichteten. Später jedoch, als Feudalherren oder Handelsherren die Eigentümer von Gruben, Gießereien und Schiffen geworden waren, wandten sie sich natürlich an Gebildete, an Künstler und Mathematikprofessoren um Hilfe, oder vielmehr waren es diese, die ihre Chancen wahrnahmen und ihnen ihre Dienste anboten. Leonardo da Vincis Brief an den Herzog von Mailand, den wir später (S. 179/180) in extenso zitieren, sei als klassisches Beispiel angeführt. Darin bietet er an, einen ganzen Katalog neuer Kriegsmaschinen zu bauen, Entwässerungs- und andere Anlagen einzurichten, und beiläufig fügt er hinzu: „Ich kann Statuen in Marmor, Bronze und Ton errichten, und malen kann ich ebenso gut wie jeder andere." In diesem konkreten Fall verdankt er vermutlich die ihm erwiesene Gunst seinem persönlichen Charme und seinen Liedern. Dies zeigt an sich schon, wie eng die Berufe des Höflings, des Gelehrten, des Militärs und des Ingenieurs miteinander verknüpft waren, eine Bedingung, die weder im Mittelalter noch auch im klassischen Altertum erfüllt war. Der technische Fortschritt. Die Entwicklung der Technik vollzog sich notwendigerweise langsam; nicht so sehr deshalb, weil es keine Leute gegeben hätte, die fähig gewesen wären, sie zu verbessern, sondern deshalb, weil ihnen wenig Mittel zur Verfügung standen, diese Verbesserungen an ihre Nachfolger weiterzugeben. Der Zwang zur Geheimhaltung, das Unvermögen, persönliche Kunstfertigkeit zu übermitteln, die Mißgunst der weniger erfolgreichen Rivalen, die durch den Einfluß der Zünfte außerordentlich verstärkt wurde, dies alles reduzierfe den Fortschritt auf ein Minimum. Noch stärker bremsend wirkte vermutlich die Tatsache, daß nicht in ausreichendem Maße Kapital aufgetrieben werden konnte, um neue Verfahren einzuführen. Dort aber, wo philosophisch und mathematisch Gebildete, die zudem einen umfassenden Überblick über, die Geschichte hatten und von den bedeutendsten Gönnern ihrer Zeit gefördert wurden, dem Handwerk Aufmerksamkeit schenkten, mußten sich völlig neue Möglichkeiten ergeben. Von den Mühseligkeiten des Handwerkers war der akademisch gebildete Wissenschaftler von Anfang an frei, und in seiner Position als Ratgeber von Fürsten oder reichen Leuten konnte er diese daran interessieren, Vorhaben auch gegen den Widerstand der Zünfte durchzusetzen. 42

Wissenschaft, die auf der Handwerkskunst beruht. Trotzdem hatte der Einzug der Philosophie in das praktische Leben in seinen ersten Phasen weniger Auswirkungen auf die Produktionsverfahren als das systematische Studium dieser Verfahren auf die Entwicklung der modernen Wissenschaft. Die Interessen der Gebildeten waren nicht nur auf die Natur, sondern auch auf die Tätigkeit des Menschen gerichtet, und dies nicht in der kontemplativen Art der Griechen, sondern in der erkennbaren Absicht, diese Tätigkeit zum Nutzen der Menschheit oder wenigstens zum Nutzen ihrer Auftraggeber zu verbessern. Ein typisches Beispiel dieser Haltung ist das Lebenswerk des Humanisten Georg Agricola, eines Freundes von Melanchthon und Erasmus; er brachte sein Leben damit zu, die Tätigkeiten der Bergarbeiter zu studieren, wurde selbst Bergwerksbesitzer und schrieb ein bedeutendes Werk über den Bergbau, De re metallica, das in Ausgewogenheit und thematischer Breite das beste technische Handbuch ist, das je vorher oder nachher geschrieben wurde.* Mit der Beschreibung der jahrhundertealten Verfahren des Bergbau- und Schmelzgewerbes schuf er die Grundlagen einer wissenschaftlichen Geologie und Chemie, wenngleich sich nicht feststellen läßt, ob sein Interesse für die Industrie damals zu irgendeiner Änderung ihrer Verfahren geführt hat. Die Früchte der wissenschaftlichen Untersuchungen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts zeigten sich in der Technik, von der entscheidenden Ausnahme der Schiffahrt abgesehen, erst in der Epoche der Industriellen Revolution. 4 Italien und die ersten wissenschaftlichen Gesellschaften.** Zunächst arbeiteten die Wissenschaftler der Renaissance isoliert voneinander oder in kleinen Gruppen, die sich in einer Universitätsstadt oder am Hofe eines Fürsten trafen. Sie standen im Briefwechsel miteinander, und da es nur wenige waren, konnte jeder von ihnen ziemlich rasch über jede neue Entdeckung oder Theorie informiert werden. Zwar war die Vorstellung von einer Zusammenarbeit als Mittel für einen weit effektiveren und schnelleren Fortschritt von Anfang an vorhanden, sie war aber nicht leicht zu verwirklichen. Noch hatte Italien die Führung. Die großen Entdecker des fünfzehnten, sechzehnten und des frühen siebzehnten Jahrhunderts waren — mit Ausnahme Keplers — sämtlich Italiener oder in Italien ausgebildet. Die italienischen Universitäten, insbesondere die von Padua und Bologna, blieben eine Zeitlang die einzigen in Europa, die nicht völlig scholastisch und antiwissenschaftlich ausgerichtet waren. Die erste wissenschaftliche Akademie, die Academia dei Lincei, wurde im Jahre 1601 in Rom gegründet; doch hatte Italien innerhalb von dreißig Jahren, nachdem es seine geistige und politische Unabhängigkeit an Spanien und seine kommerzielle Überlegenheit an die nordeuropäischen Völker verloren hatte, die Leitung der wissenschaftlichen Aktivitäten definitiv abgegeben. Holland, England und die Royal Society. Anders war die Lage in den nordeuropäischen Ländern. Sie standen am Beginn und nicht am Ende einer Periode des Aufblühens. Das Zeitalter der großen Fürsten neigte sich seinem Ende zu, das der Kaufleute und Fabrikanten zog herauf. Holland und danach England begannen sich mit dem neuen Wissen zu befassen, das schon so viel für Schiffahrt und Kriegswesen leisten konnte, 5 und von dem man 4

Die Ballistik k ö n n t e den A n s p r u c h erheben, diese Ehre mit der Schiffahrt zu teilen; obgleich alle f ü h r e n d e n Naturwissenschaftler, einschließlich Galilei und N e w t o n , viel Zeit auf ballistische U n t e r suchungen verwendeten, bleibt aber zweifelhaft, o b ihr ganzer Einfallsreichtum d e m K a n o n i e r in der Praxis irgendwie von N u t z e n war. 5 Stevinus of Bruges [Simon Stevin], Sekretär Wilhelms des Schweigers, w a r z. B. der erste wissenschaftlich gebildete Staatsminister; er leistete d u r c h seine technischen u n d ö k o n o m i s c h e n M a ß n a h m e n einen entscheidenden Beitrag zur Sicherung der U n a b h ä n g i g k e i t der Vereinigten Provinzen [aus denen d a s Königreich der Niederlande hervorging], * Eine neue, textkritische deutschsprachige A u s g a b e erschien in Berlin 1973. ** Vgl. * A n m e r k u n g z u m dritten Kapitel, S. 56.

43

hoffte, es könnte dem Gewerbe von ebensolchem Nutzen sein. Die Entwicklung der neuen Wissenschaften konnte nicht den Mäzenen oder den Universitäten überlassen bleiben; sie sollte das Werk der Herren Wissenschaftler selbst sein, die sich zu gegenseitiger Unterstützung und Hilfe zusammentaten. So entstand 1645 in England zuerst das Invisible College, das nach der Restauration (1660) in die Royal Society überging.* In ähnlicher Weise wurden die privaten Zusammenkünfte im Salon von Etienne Pascal im Paris von 1631 im Jahre 1666 als Académie Royale des Sciences anerkannt. Vorläufer dieser Unternehmen war Francis Bacon gewesen, und von Anfang an trugen sie sich mit den höchst praktischen Intentionen seines Neu-Atlantis.** In dem von Christopher Wren ausgearbeiteten Entwurf des Statuts der Royal Society heißt es: „Der Weg zu einem glücklichen Gemeinwesen wird nach unserer Auffassung durch nichts stärker erleichtert als durch Förderung nützlicher Künste und Wissenschaften, welche, nach sorgfältiger Prüfung, sich als die Basis bürgerlicher Gemeinschaften und freier Staaten herausstellen und welche durch Orpheusschen Zauber Menschenmassen in Städten vereinen und sie in Gemeinschaften verbinden ; daß in dieser Weise, indem man mehrere Künste und Methoden des Fleißes sozusagen auf Lager legt, die ganze Gemeinschaft durch den Austausch spezieller Fähigkeiten einzelner unterstützt wird, und daß daher die verschiedenen Kümmernisse und Fallstricke dieses vergänglichen Lebens durch ebenso vielfältige Hilfsmittel, die gleich zur Hand sind, überwunden oder gemildert werden können ; und daß Wohlstand und Reichtum im richtigen Verhältnis zu jedermanns Fleiß, das heißt nach jedermanns Verdienst, verteilt werden. Und es besteht kein Zweifel daran, daß dieselbe Politik, die eine Stadt gründet, sie auch ernährt und vergrößert, da diese erwähnten Verlockungen nach einem Wunsch des Zusammenlebens nicht nur bewirken, daß ein Land bevölkert wird, sondern dessen Bevölkerung mächtiger und wohlhabender machen als eine stärker bevölkerte, aber weniger gebildete Nation; es ist also dasselbe, mehr Arbeitskräfte zu besitzen oder mit Hilfe der Künste und Wissenschaften die Arbeit zu erleichtern und sie in den Machtbereich der wenigen zu bringen. Daher hat uns unsere Vernunft nahegelegt, und unsere eigene Erfahrung bei unseren Reisen nach ausländischen Königtümern und Staaten hat es uns vielfach bestätigt, daß wir den Fortschritt der experimentellen Naturphilosophie wirksam betreiben, insbesondere diejenigen Seiten, welche die Ausbreitung des Handels betreffen, indem wir nützliche Erfindungen machen, die unseren Untertanen Erleichterung, Profit und Gesundheit bringen ; dies würde am besten erreicht durch eine Gesellschaft von erfinderischen und gelehrten Personen, die für diese Art Wissen gut geeignet und vorbereitet sind, deren Hauptanliegen diese Untersuchungen sind, und welche als ordentliche Gesellschaft zu diesem Zweck konstituiert und mit allen gehörigen Privilegien und Immunitäten ausgestattet werden sollte." 6 Die Präambel der Charta selbst drückt diese Gedanken kürzer und einfacher aus: „Und da wir darüber informiert sind, daß zahlreiche Persönlichkeiten hervorragender Bildung, Erfindungsgabe und Ehre in Übereinstimmung mit ihren Neigungen und ihrer Beschäftigung in dieser Richtung schon seit einiger Zeit sich wöchentlich einmal zu treffen pflegen, um gehörig über die verborgenen Ursachen von Dingen zu beraten, in der Absicht, das Sichere in der Philosophie zu untermauern und das Ungewisse zu korrigieren, und sich bei ihrer Arbeit in der Untersuchung der Natur als echte Wohltäter der Menschheit erweisen 6

Präambel für eine Charta zur Gründung der Royal Society; erster Versuch und vorläufiger Entwurf von Ch. Wren. * Vgl. J. D. Bemal, Die Wissenschaft in der Geschichte, a. a. O., S. 284. ** F. Bacon, Neu-Atlantis, 2. Aufl., Berlin 1984.

44

werden, und daß sie schon beträchtlichen Fortschritt bei verschiedenen nützlichen und bemerkenswerten Entdeckungen, Erfindungen und Experimenten zur Verbesserung von Mathematik, Mechanik, Astronomie, Navigation, Physik und Chemie erzielten, haben wir beschlossen, dieser illustren Gesellschaft, einem so wohltätigen und lobenswerten Unternehmen, unsere königliche Gunst, Schirmherrschaft und alle gebührende Ermutigung zu gewähren."7 Entdeckungen und Schiffahrt. Trotzdem kam die Royal Society, soweit es um unmittelbar praktische Resultate ging, näher an Swifts Laputa* als an Bacons Atlantis heran. Es wurden bewundernswerte Studien über Industrien gemacht, doch konnten nur wenige Verbesserungen vorgeschlagen werden. Die große Leistung der Wissenschaft des siebzehnten Jahrhunderts bestand darin, daß sie den Weg zu den grundlegenden Erkenntnissen der Physik und Chemie ebnete. Nur in der Astronomie konnte ihre Arbeit zu einem endgültigen Abschluß gebracht werden, in der großartigen Synthese, die Newton aus Galileis und Keplers Werk schuf. Besonders für das siebzehnte Jahrhundert war die Astronomie von enormer ökonomischer Bedeutung. Weltschiffahrt, Welthandel, Gründung von Kolonien, dies alles begann gerade, und hier bedeuteten die Tafeln der Astronomie, das Pendel und die Unruhe in den Uhren der Physiker die Rettung von Schiffen nebst Ladung und ermöglichten die Eroberung ferner Länder. Die erste subventionierte wissenschaftliche Einrichtung in England war das Royal Observatory [Königliche Observatorium] in Greenwich. 8

7

Vgl. auch Anmerkung 4 zum zehnten Kapitel, S. 285/286. Die von König Karl gewährte Unterstützung war nicht sehr erheblich. In seiner History of the Royal Society (London 1848) macht Weld folgende Bemerkungen über die Gründung des Observatoriums: „Der König gewährte fünfhundert Pfund in Geld, Ziegelsteine vom Tilbury Fort, wo es ein Vorratslager gab, etwas Holz, Eisen und Blei von einem verfallenen Pförtnerhäuschen des Towers; er ermutigte uns ferner mit einem Versprechen, nachzuliefern, was noch gebraucht würde. Der Grundstein wurde am 10. August 1675 gelegt, und die Arbeit ging so gut voran, daß zu Weihnachten das Dach errichtet und das Gebäude gedeckt war. Mr. Baily berichtet, daß dieses Observatorium früher ein Turm war, den Humphrey, Herzog von Gloucester, erbaut hatte und der im Jahre 1526 von Heinrich VIII. repariert oder neu aufgebaut worden war, daß er zuweilen Wohnsitz der jüngeren Mitglieder der Königlichen Familie, manchmal auch die Residenz einer favorisierten Maitresse, gelegentlich Gefängnis war und zeitweise auch Verteidigungszwecken diente. Mary von York, die fünfte Tochter Edwards IV., starb 1482 im Turm von Greenwich Park. Heinrich VIII. besuchte dort eine junge Dame, die er liebte. Zur Zeit der Königin Elisabeth nannte man das Gebäude Mirefleur. Im Jahre 1642, als man es Greenwich Castle nannte, wurde es für eine so wichtige Festung gehalten, daß sofortige Maßnahmen zur Sicherung angeordnet wurden. Nach der ersten Restauration ließ Karl II. im Jahre 1675 den alten Turm abreißen und gründete an dieser Stelle das jetzige Royal Observatory [Königliche Observatorium]!" (S. 254.) „Vergegenwärtigt man sich die Gleichgültigkeit des Königs gegenüber der Royal Society, so findet man nichts Außergewöhnliches daran, daß das so eilig erbaute Observatorium fast fünfzehn Jahre lang von der Regierung nicht mit einem einzigen Instrument ausgestattet wurde. Sir Jonas Moore belieferte Flamsteed mit einem Sextanten, zwei Uhren, einem Fernrohr und einigen Büchern; alle anderen Instrumente, von den erwähnten und den bei der Royal Society entliehenen abgesehen, wurden auf Flamsteeds Kosten angefertigt. Zwar sagt Mr. Baily, hatte man ihm ein Haus gegeben, in dem er wohnen konnte, und auf Widerruf ein Gehalt von 100 Pfund jährlich festgesetzt, aber gleichzeitig hatte der König angeordnet, daß er neben seiner sonstigen schweren Arbeit monatlich zwei Knaben aus dem Christ Church Hospital zu unterweisen hatte, was ihm viel Ärger bereitete und ihn von seiner eigentlichen Arbeit abhielt." (S. 255/256.) * Der irische Satiriker Jonathan Swift, 1667—1745, verspottet in Gullivers Reisen die Gelehrten auf der „fliegenden Insel Laputa".

8

45

Die ersten Wissenschaftler im eigentlichen Sinne. Das siebzehnte Jahrhundert kennzeichnet den Übergang vom Amateur zum Berufswissenschaftler. Die Mitglieder der Royal Society waren zum größten Teil Landadlige und Angehörige der Londoner feinen Gesellschaft, obgleich es unter ihnen auch Leute aus dem hohen Adel gab und sogar der König selbst dazu gehörte. Für die meisten von ihnen bedeuteten die Zusammenkünfte der Royal Society eine Art Unterhaltung, aus der sich auch nützliche Ideen ergeben konnten. Außer ihnen gab es jedoch die Beamten der Royal Society, Hooke 9 und seine Assistenten, sowie den Sekretär, Oldenburg, die — jedenfalls zum Teil — ihren Lebensunterhalt von ihrer wissenschaftlichen Arbeit bestreiten mußten und für welche diese wissenschaftliche Arbeit die Hauptbeschäftigung ausmachte. Mindestens ebensosehr waren Newton und der pietistische Edelmann Boyle Wissenschaftler im modernen Sinne. Die Ära Newtons. Das Ergebnis der wissenschaftlichen Arbeit des siebzehnten Jahrhunderts war ein Erfolg, aber ein Erfolg einer unerwarteten Art. Die Naturwissenschaft hatte nicht, wie Bacon gehofft hatte, zu einer unmittelbaren Befriedigung von Bedürfnissen der Menschen geführt, sondern sie hatte sich, größtenteils durch das Werk Newtons, als außerordentlich wirksames Mittel für quantitative Berechnungen auf den Gebieten Mechanik und Physik etabliert. Die Methode Newtons, alles auf materielle Teilchen zurückzuführen, auf welche Kräfte einwirken, schien zu ihrer Zeit ebenso große Hoffnung für den Fortschritt der Naturwissenschaft zu bieten, wie es die induktive Methode Bacons oder die logische Geometrie von Descartes getan hatten, und sie hatte überdies den riesigen Vorteil, daß sie zumindest in Astronomie und Mechanik tatsächlich funktionierte. Man begann die Newtonsche Methode ganz allgemein völlig zu Unrecht auf das gesamte Gebiet der Naturerkenntnis und sogar auf Theologie und Ethik anzuwenden. Die Vorstellung, daß es den Menschen ausschließlich durch Vernunft und Berechnung gelingen könne, ihre sämtlichen Probleme zu lösen, war eines der leitenden Prinzipien der Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts, und sie griff weit über die Grenzen des naturwissenschaftlichen Denkens hinaus. Die Naturwissenschaft war zum ersten Mal ein wichtiger Faktor des kulturellen Lebens geworden, und sie übte sogar auf politische Ereignisse ihren Einfluß aus. Das achtzehnte Jahrhundert wurde das Zeitalter der Vernunft, und der fromme und konservative Newton sollte ein Vorläufer der Französischen Revolution werden. Die direkten Auswirkungen auf die Wissenschaft waren jedoch katastrophal. Newton hatte so viel geleistet, daß es für kleine Geister nicht der Mühe wert schien, überhaupt etwas zu tun.

Wissenschaft und Manufaktur Das große Aufflammen der Wissenschaft im siebzehnten Jahrhundert war nicht von Dauer. Es hing zu sehr von dem besonders günstigen Zusammenwirken sozialer, politischer und ökonomischer Faktoren und dem Genie zu weniger Menschen ab. Von 1690 bis 1750 gab es eine ziemliche Pause in der Geschichte der Wissenschaft, Zeit genug, das große Werk

9

Hooke, der als der bedeutendste Experimentator des siebzehnten Jahrhunderts anzusehen ist, war als Kustos verpflichtet, der Royal Society jede Woche zwei neue Experimente vorzuführen. Daneben war er jedoch Baurat der Stadt London, und das war nach dem großen Brand durchaus keine Sinecure; außerdem war er ein bedeutender Architekt, der das Bethlehem Hospital erbaute und am Bau der St. Pauls Kathedrale fast stärker beteiligt war als Wren.

46

des siebzehnten Jahrhunderts zu verdauen, aber auch genug, es großenteils zu vergessen. 10 Als sich die Wissenschaft wieder erholte, geschah dies in einer völlig veränderten Umgebung. Die Adligen und die Kaufleute des siebzehnten Jahrhunderts waren nämlich zu erfolgreich gewesen. Der normale Verlauf der Entwicklung von Kapital und das Anwachsen des Handels hatte ihnen alles gegeben, was sie erstrebten. Die Wissenschaft war ein Spielzeug, dessen sie bald müde wurden. Eine neue Klasse bildete sich jedoch heraus, die der kleinen Fabrikanten, welche Vorteil aus den durch die Handelskriege gewonnenen neuen Märkten sowie aus den durch sie geschaffenen neuen Bedürfnissen zogen, um sie mit neuen Waren zu beliefern und neue Verfahren zu ihrer Herstellung durchzusetzen. Die Wissenschaft des achtzehnten Jahrhunderts fiel von Anfang an mit der Industriellen Revolution zusammen. Jetzt ging es nicht mehr darum, daß die Naturwissenschaft nur die althergebrachten Methoden der Industrie untersuchte, die Methoden selbst änderten sich, und die Naturwissenschaft hatte zu diesen Änderungen ihren Teil beizutragen. Zunächst war dieser Anteil nicht der vorherrschende; denn es war das System des Kapitalismus, das durch Überwindung des Widerstandes der Zünfte und durch Bereitstellung des nötigen Geldes einerseits und besitzloser Arbeitskräfte andererseits zum ersten Male diese Entwicklung ermöglicht. Die Entfaltung der stets latent vorhandenen menschlichen Erfindungsgabe wurde ursprünglich durch die Wissenschaft weder gelenkt noch inspiriert. Die Entwicklung der Industriellen Revolution in ihrer Anfangsphase — der Einführung automatischer Textilmaschinen — war zum großen Teil das Werk ungebildeter Handwerker; ein bedeutender Beitrag jedoch, die Dampfmaschine, die das entscheidende Problem der Antriebskraft löste, kam, wenigstens teilweise, von der Wissenschaft.

Die Dampfmaschine. Die Dampfmaschine ist vielfaltigen Ursprungs, man könnte sagen, daß ihre materiellen Eltern Geschütz und Pumpe sind. Nachdem man begriffen hatte, daß im Schießpulver Energie steckt, stand man fortwährend vor der Frage, ob man andere Anwendungen als für den Krieg finden könne, und als sich Schießpulver als ungeeignet erwies, war man natürlich bestrebt, die weniger heftig reagierenden Mittel Feuer und Dampf einzusetzen. Der Bedarf an Antriebskraft war jedoch anfangs äußerst begrenzt. Für die meisten Zwecke reichten Wind- und Wassermühlen aus, und die Industrie hatte sich naturgemäß in der Nähe derartiger Energiequellen angesiedelt, so wie sie es heute noch bei Rohstoffquellen tut. Im Fall der Bergwerke hatte man diese Wahl nicht. Die Grube mußte sich dort befinden, wo das Erz lag, und da in vielen Fällen keine natürliche Kraftquelle zur Verfügung stand, mußte man entweder Tier- oder Menschenkraft verwenden oder das Unternehmen gänzlich einstellen. Der Gedanke, Wasser mit Hilfe von Feuer zu heben, lag dabei nahe; aber die primitiven Versuche, ihn zu realisieren, wie der des Marquess of Worcester, waren erfolglos, weil Materialien, die dem Druck des Dampfes hätten standhalten können, damals nicht hergestellt werden konnten. Hier sprang die Naturwissenschaft ein. Torriceiiis Entdeckung des Vakuums legte eine Antriebskraft nahe, die, wenn auch 10

Dieser Niedergang, der dem Naturwissenschaftler völlig verständlich ist, ging nämlich, wie G. N. Clark in seinem Werk Science and Social Weifare in the Age of Newton, Oxford 1937, ausgeführt, mit einer bedeutenden Wende im ökonomischen Geschehen einher, mit der die Periode hoher Preise, die auf die Erschließung Amerikas gefolgt war, zu Ende ging und eine Periode stabiler Preise begann, die bis zur Napoleonischen Zeit währte. Obwohl Prof. Clark sehr darauf bedacht ist, sich von einer ökonomischen Auffassung der Geschichte der Wissenschaft zu distanzieren, ist dieses zeitliche Zusammentreffen höchst auffallend, besonders deshalb, weil die Wissenschaft sich nicht nur dann wieder erholte, als die Änderung der ökonomischen Situation eintrat, sondern genau dort, wo diese Änderung am tiefgreifendsten war.

47

schwerfallig, wenigstens brauchbar war, und nach einigen ziemlich ungeschickten Versuchen durch Wissenschaftler wie Papin konstruierten der Militäringenieur Savery im Jahre 1695 und der Bergwerksbesitzer und Schmiedemeister Newcomen aus Dartmouth im Jahre 1712 die ersten verwendbaren Dampfmaschinen, die ökonomisch vertretbar Wasser aus Gruben hochpumpen konnten. Mit einer verfügbaren Antriebsmaschine, die überall aufgebaut werden konnte, war die Industrie aller Ortsbeschränkungen enthoben, obwohl es fast noch eines Jahrhunderts und der von Watt eingeführten grundlegenden Verbesserungen bedurfte, bis dies in der Praxis ökonomisch vertretbar realisiert werden konnte. Wissenschaft und Revolution. Die Lunar Society. Die Auswirkungen dieser und anderer nützlichen Anwendungen der Naturwissenschaft wie etwa Franklins Blitzableiter von 1752 zeigte den Männern der Praxis nicht nur, daß sie in der Wissenschaft eine starke Kraft besaßen, die gewinnbringend genutzt werden konnte, sondern auch, daß man, um sie anzuwenden, tief in die Geheimnisse der Natur eindringen mußte. Gegen Ende des Jahrhunderts begann ein lebhaftes Interesse an der Naturwissenschaft in diesen Fabrikantenkreisen, und gerade hier fanden die meisten der neuen Entwicklungen der Naturwissenschaft statt. Es war in Leeds, Manchester, Birmingham, Glasgow und Philadelphia, wo die Naturwissenschaft der Industriellen Revolution Wurzel faßte, und nicht in Oxford, Cambridge oder London. Die sie praktizierten, waren nun nicht länger mehr kleine Landedelleute und Kirchenmänner, sondern Geistliche der Dissenters und Quäker, und ihre Gönner waren nicht länger Aristokraten und Bankiers, sondern Fabrikanten. Das tatsächliche Zentrum des naturwissenschaftlichen Denkens in England zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts war nicht die Royal Society, sondern die Lunar Society, die sich in Birmingham unter der Schirmherrschaft von Boulton, Wilkinson und Wedgwood traf und der Watt, Priestley und Erasmus Darwin angehörten. 11 Nun war aber die Naturwissenschaft nicht nur für die Fabrikbesitzer notwendig; es wurde zunehmend wünschenswert, daß zumindest auch die leitenden Angestellten Kenntnisse naturwissenschaftlicher Prinzipien besaßen. Die Naturwissenschaft mußte in das System der Ausbildung aufgenommen werden, jedenfalls in den Industriebezirken. Es war sinnlos, hier etwas von den Universitäten zu erwarten, die im achtzehnten Jahrhundert tief in Langeweile, Ignoranz und Bigotterie versunken waren, schlimmer als jemals in ihrer Geschichte. Die Lücke wurde geschlossen durch die Errichtung von mechanics institutions [Werkstätten] und Bibliotheken in den Zentren der neuen Industriebezirke. Die erste stand, charakteristisch genug, in Amerika, wo Franklin im Jahre 1755 die Philadelphia Academy gründete. Ähnliche Einrichtungen wurden in Manchester, Birmingham und Glasgow aufgezogen, und schließlich gründete Graf Rumford, eine Art Franklin zweiter Garnitur, die Royal Institution in London, welche die berühmteste werden sollte.* Crowther schreibt dazu: „Im Jahre 1796 machte er einen ,Vorschlag, in London durch private Sammlungen eine Einrichtung zu schaffen, um die Armen zu speisen, ihnen nutzbringende Beschäftigung zu geben und auch anderen zu einem billigen Preise Essen zu liefern, wenn sie einer solchen Unterstützung bedürften. Diese Einrichtung sollte mit einem Institut verbunden sein, dessen Aufgabe es werden sollte, neue Erfindungen und Verbesserungen einzufügen und dem allgemeinen Gebrauch zu erschließen, besonders solche, die sich auf die Anwendung von Wärme und die Ersparnis von Brennmaterial sowie ver-

11

Vgl. S. Smiles, Life of Watt, Lives of the Engineers, London 1904; sowie auch: H. W. Dickinson, Matthew Boulton, Cambridge 1937 [H. W. Dickinson, James Watt, Cambridge 1936; siehe auch: J. D. Bemal, Die Wissenschaft in der Geschichte, a. a. O., S. 336/337], * Vgl. J. D. Bemal, Die Wissenschaft in der Geschichte, a. a. O., S. 345.

48

schiedene andere mechanische Vorrichtungen beziehen, durch die häusliche Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit gesteigert werden könnten.' Rumford erklärte seinen Freunden, daß er von der Notwendigkeit tief erfüllt sei, dieses Unternehmen, das den Armen und Bedürftigen helfen sollte, ,mit viel Geschmack' einzurichten. ,Die Gesellschaft zur Besserung der Lage der Armen' war auf seine erste Anregung hin gegründet worden. Seine zweite Anregung, ein Versuchsunternehmen ins Leben zu rufen, war von der ersten getrennt, da sie ,zu auffallig, zu interessant und zu wichtig war, um einer anderen vorhandenen Einrichtung als Anhängsel angegliedert zu werden'. Infolgedessen mußte es ,allein stehen, auf seiner eigenen selbständigen Basis'. Im Jahre 1799 wurde das Unternehmen gegründet, und private Sammlungen wurden . . . für ein öffentliches Institut zur Verbreitung von Kenntnissen und zur Erleichterung der allgemeinen und schnellen Einführung neuer und nützlicher mechanischer Erfindungen und Verbesserungen' veranstaltet. Diese Einrichtung sollte auch ,zur Belehrung' dienen; regelmäßige Kurse, mit philosophischen Vorlesungen und Experimenten, sollten abgehalten werden. Die Anwendung neuer wissenschaftlicher Entdeckungen, ,die zur Verbesserung der Kunstfertigkeit und der Industrie dienten, sollten gefördert werden, um die Bestrebungen nach Erhöhung des Lebensstandards und der Bequemlichkeit im Leben zu erleichtern und zu verbreiten'. Sir Joseph Banks, der Präsident der Königlichen Gesellschaft [Royal Society] war der Vorsitzende der eingesetzten Verwalter und Rumford der Sekretär. Ein Haus in der Albemarle Street wurde gekauft und die Räume in Laboratorien, Hörsäle und Büros umgewandelt. Außerdem wurde eine Wohnung für Rumford eingerichtet. Ein guter Koch wurde zur Verbesserung der ohnehin nicht schlechten Küchenrezepte eingestellt — ein Gebiet, das nicht das unwichtigste für das Königliche Institut [Royal Institution] war. ,Wie alle anderen Einrichtungen, die von sozialen Idealisten ins Leben gerufen wurden, fand ihre Idee schnelle Verbreitung, nicht gerade, um das Ziel des Gründers zu erreichen, aber derartige Einrichtungen waren ihrer Art nach für Klassen, deren soziale Macht im Wachsen war, von Interesse. Wie sich die Studentenschaft in den öffentlichen Lateinschulen [Public Schools] des 15. Jahrhunderts allmählich statt aus Waisen aus Fürstensöhnen zusammensetzte und sich die Gemeinschaftsbewegung der Rochdale-Pioniere aus einer öffentlichen Einrichtung in ein Dividenden gebendes Geschäft verwandelte, so wurde das Königliche Institut aus einem Laboratorium, das sich um die Lösung der Probleme der Armen bemühte, zu einer Einrichtung zur Erforschung wissenschaftlicher Fragen, die nach der geltenden Ansicht des Tages für wichtig gehalten wurden. Die Lösung wissenschaftlicher Probleme kommt schließlich den Armen zugute, aber erst nachdem die Industriellen, die sich die Wissenschaft zunutze machen, Gewinn daraus erzielt haben." 1 2 Das große Zeitalter der Naturwissenschaft in Frankreich. In Frankreich war das achtzehnte Jahrhundert eine Epoche des Übergangs von einer monarchischen und feudalen Herrschaftsform zu einer Republik der Mittelklasse nach englischem Muster. Politik und Philosophie standen an erster Stelle, doch auch die Naturwissenschaft war stark gefragt, insbesondere im letzten Teil des Jahrhunderts, als die Manufaktur sich ebenfalls entwickelte. Von Anfang an hatte sie jedoch einen mehr staatlichen und insbesondere einen stärker militärischen Charakter als in England. Tatsächlich waren die französischen Artillerieschulen die ersten offiziellen Institutionen, an denen man eine naturwissenschaftliche Ausbildung erwerben konnte. Die großen französischen Mathematiker und Physiker gegen Ende dieser Periode 12

4

J. G. Crowther, British Scientists of the Nineteenth Century, London 1935, S. 35/36 [Große englische Forscher. Aus dem Leben und Schaffen englischer Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts, Berlin 1948 (Übers, aus d. Engl.), S. 45/46], Bemal

49

wie Lagrange, Laplace, Monge usw. wurden an diesen Schulen ausgebildet, ihr hervorragendster Schüler aber war Napoleon, der erste Staatsmann, der den Wert der Naturwissenschaft würdigte. Lavoisier war gleichzeitig Mitglied der Finanzoligarchie als Generalpächter der Steuern und wissenschaftlicher Leiter des Staatlichen Arsenals, in dessen Laboratorium die meisten seiner bedeutenden Experimente ausgeführt wurden. Der Haß des Volkes von Paris gegen die Steuerbehörde war die tiefste Ursache für den Prozeß gegen ihn und für seine Hinrichtung. Die Revolution entwickelte sich, nach einer Unterbrechung auf Grund der allgemeinen Wirren, im Rahmen der Strömungen des achtzehnten Jahrhunderts. Mit der Gründung der Ecole Polytechnique und des Bureau de Poids et Mesures [Amt für Maß und Gewicht] schuf sie die erste Institution der Naturwissenschaft auf voll staatlich finanzierter Grundlage. Die Revolution in der Gastheorie und die chemische Industrie. Das siebzehnte Jahrhundert hatte für alle praktischen Zwecke die wissenschaftliche Basis der Mechanik gelegt; die Früchte waren im achtzehnten Jahrhundert in der Dampfmaschine und später in der Lokomotive zu erkennen. Der große Triumph des achtzehnten Jahrhunderts war die Umwandlung der Chemie aus einer traditionellen Technik in eine Wissenschaft, welche Berechnungen ebenso zugänglich war wie die Mechanik. Dies wurde schließlich durch Lavoisier und Dalton erreicht, die in die traditionelle Chemie physikalische Vorstellungen einführten, welche zumeist aus den Eigenschaften von Gasen herrührten. Die Früchte dieser „Revolution in der Gastheorie" waren im neunzehnten Jahrhundert in der Entwicklung der chemischen Großindustrie zu sehen, in der Produktion von Soda, Bleichmitteln und Leuchtgas. 13 Das neunzehnte Jahrhundert: Naturwissenschaft wird zur Notwendigkeit. Nachdem einmal die Industrielle Revolution auf dem Vormarsch war, war die Stellung der Naturwissenschaft als integraler Teil der Kultur gesichert. In vielerlei Hinsicht war die Naturwissenschaft notwendig, sowohl beim Messen und Standardisieren in der Industrie als auch bei der Einführung ökonomischer Maßnahmen und neuer Verfahren. Die Tatsache, daß die Naturwissenschaft von der Industrie gebraucht wurde, bedeutete jedoch nicht, daß eine industrielle Basis für die Naturwissenschaft automatisch entstanden wäre. Tatsächlich war es während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts, trotz dauernder Nachfrage nach mehr Wissenschaft, schwierig, der naturwissenschaftlichen Forschung und Lehre eine angemessene finanzielle Basis zu sichern. Dies lag in dem anarchischen Charakter des Zeitalters kapitalistischer Expansion begründet. Es gab ein Mißtrauen der offiziellen Instanzen jeder Art, besonders der staatlichen, und es gab kein Mittel, Gelder in großem Umfang 13

Professor Clark schien überrascht zu sein, daß sich diese Änderung nicht schon im siebzehnten Jahrhundert vollzog, und führte sie als ein Beispiel dafür an, das beweise, daß ökonomische Faktoren den tatsächlichen Verlauf der Wissenschaft nicht bestimmen, obwohl er zugibt, daß sie die Intensität beeinflussen können, mit der naturwissenschaftliche Untersuchungen vorangetrieben werden. Nach meiner Meinung ist dies aber ein guter Beweis der gegenteiligen Auffassung. Das Bedürfnis nach Entdeckungen in der Chemie konnte erst entstehen, nachdem alle Verfahren, welche chemische Methoden benutzten, Brauen, Gerben, Färben, Bleichen, aufgehört hatten, Arbeiten im Heim oder in kleinen Betrieben zu sein, und so große Maßstäbe angenommen hatten, daß es sich lohnte, sie im Hinblick auf Verbesserung rationell zu durchdenken (vgl. S. 144). Diese Änderung trat erst im achtzehnten Jahrhundert ein, so daß vorher kein ökonomischer Anreiz für diese Art Wissenschaft vorhanden war. Innerhalb der Wissenschaft benötigte die Chemie zur Lösung dieser technischen Probleme die vorherige Analyse der mechanischen und physikalischen Kräfte, insbesondere die Untersuchung der Eigenschaften der Gase, die ihrerseits aus der Entwicklung der Dampfmaschine hervorgegangen war. Daher war sowohl direkt als auch indirekt die große Revolution in der Chemie das Produkt ökonomischer Kräfte. Man vergleiche dazu auch: L. Hogben, Science for the Citizen [Mensch und Wissenschaft], a. a. O., Kap. VII und VIII.

50

zu bekommen, wenn der Zweck nicht unmittelbar Gewinn versprach. In den ersten J a h r e n des 19. J a h r h u n d e r t s wurde der überwiegende Teil der naturwissenschaftlichen Arbeit noch immer an solchen Stellen wie der Royal Institution oder in den privaten L a b o r a t o r i e n wohlhabender Leute ausgeführt. Die Royal Institution wurde zur Zeit Davys u n d F a r a d a y s fast zu dem nationalen physikalischen und chemischen Institut. Trotz ihrer Dienste, die sie der Industrie leistete, war sie niemals leicht zu Finanzieren. Im J a h r e 1833, zwei J a h r e nach den epochemachenden Entdeckungen der elektromagnetischen I n d u k t i o n , h a t t e F a r a d a y die größten Schwierigkeiten, ein paar hundert P f u n d zu erhalten, damit die Institution weiter arbeiten konnte. 1 4 Deutschland tritt auf den Plan. Inzwischen machte die Entwicklung der Naturwissenschaft auf dem Kontinent rasche Fortschritte. D a s frühe neunzehnte J a h r h u n d e r t kennzeichnete den Gipfel der französischen Errungenschaften in der Naturwissenschaft; von F r a n k r e i c h aus breitete sich die Bewegung schnell nach Deutschland aus, das jetzt zum ersten Male seit dem sechzehnten J a h r h u n d e r t eine unabhängige Rolle in der europäischen K u l t u r spielte. Die R e f o r m der deutschen Universitäten und die Bereitwilligkeit, mit der die Deutschen die neuen Naturwissenschaften, insbesondere die Chemie, von den Franzosen übernahmen, führte zu einem so raschen Wachstum, d a ß es u m die Mitte des J a h r h u n d e r t s klar geworden war, d a ß jedenfalls dem U m f a n g nach die Naturwissenschaft in Deutschland die F ü h r u n g ü b e r n o m m e n hatte, u n d die deutsche Industrie schien besser in der Lage, die Hilfsquellen der Naturwissenschaft für sich n u t z b a r zu machen als die englische. Z u m Teil als Reaktion darauf u n d besonders d a n k des direkten Einflusses des deutschen Prinzgemahls*, begann sich um die Mitte des J a h r h u n d e r t s in England die N a t u r wissenschaft offizieller A u f m e r k s a m k e i t zu erfreuen. Ein Science a n d Art D e p a r t m e n t [Ministerium f ü r Wissenschaften] wurde gebildet, u n d es wurden seitens königlicher Kommissionen entschlossene Versuche u n t e r n o m m e n , die Naturwissenschaft in die alten Universitäten hineinzutragen und sie zu einem integralen Bestandteil der neuen Hochschulen zu machen, die in Provinzstädten und in L o n d o n eingerichtet wurden. D e r überwiegende Teil dieser neuen wissenschaftlichen Tätigkeit befaßte sich natürlich mit jenen Zweigen der Naturwissenschaft, die unmittelbaren Nutzen abwarfen, Physik u n d C h e m i e ; die biologischen Wissenschaften m u ß t e n viel länger auf ihre A n e r k e n n u n g warten. Charles D a r w i n mußte während des größten Teils seines Lebens seinen Unterhalt aus eigenen Mitteln bestreiten und arbeitete zurückgezogen; T h o m a s H e n r y Huxley verdiente seinen Lebensunterhalt durch geologische E r k u n d u n g . 1 5 Naturwissenschaft als Institution. Die Vorstellung von der reinen Wissenschaft. I m m e r h i n bildete sich im neunzehnten J a h r h u n d e r t die Naturwissenschaft definitiv als Institution heraus. Die Royal Society wurde wiederbelebt u n d ü b e r n a h m , allerdings auf einer relativ 14

Vgl. J. G. Crowther, British Scientists, a. a. O. [Große englische Forscher, a. a. O., S. 89, 96], — Über ähnliche Verhältnisse in Frankreich vgl. S. 2l0ff. 15 Bei einer ausführlichen Darstellung müßten diese Bemerkungen viel genauer belegt werden. Es gab um die Mitte des Jahrhunderts beachtliche Fortschritte auf vielen anderen Gebieten. In der Medizin wurden Antiséptica und Anaesthetika entdeckt, obwohl diese wie auch die Theorie der Krankheitskeime größtenteils Ergebnis chemischer Forschung waren. In der Landwirtschaft ist auf das Werk von Liebig und Bunsen zu verweisen; beide waren jedoch Chemiker. Die Geologie als Wisssenschaft wurde damals in der Hauptsache in direktem Zusammenhang mit der Untersuchung von Bergwerken sowie bei der Prospektierung von Kanal- und Eisenbahnbauten betrieben. Es ist übrigens ein merkwürdiger Kommentar zu Huxleys Beruf, daß der große Paläontologe Owen als Professor am Royal College of Surgeons [Ausbildungsstätte für Chirurgen] arbeitete. * Albert von Sachsen-Koburg, seit 1840 Ehemann von Königin Viktoria (1819—1901).

4*

51

schmaleren Basis, wieder die Funktion, die sie im siebzehnten Jahrhundert gehabt hatte. 16 Die British Association, die im Jahre 1831 gegründet worden war, in der Hauptsache, um die Royal Society abzulösen, wurde allmählich zum offiziellen Sprachrohr der Naturwissenschaft. Zahlreiche fachwissenschaftliche Gesellschaften — chemische, geologische usw. — entstanden spontan, jeweils mit entsprechenden Einrichtungen für Veröffentlichungen. Eine wissenschaftliche Welt bildete sich heraus, die aus Professoren, Angestellten der industriellen Laboratorien und Amateuren bestand; im Gegensatz zur wissenschaftlichen Welt des siebzehnten Jahrhunderts beanspruchte sie als ihr Gebiet nur den Bereich der Tatsachen und nicht den Bereich der Aktion. Die großen Kontroversen des neunzehnten Jahrhunderts, wie die der Evolutionstheorie, wurden auf dem Felde der Ideen ausgefochten. Die Wissenschaftler beanspruchten keinen Anteil an der Leitung des Staates oder der Industrie. Sie befaßten sich lediglich mit reiner Wissenschaft. Das war eine für beide Seiten zufriedenstellende Regelung. Die Industriellen machten von der Arbeit der Naturwissenschaftler Gebrauch, zahlten ihnen im allgemeinen sogar dafür — wenn auch nicht viel —, die Naturwissenschaftler hatten die Genugtuung, zu wissen, daß sie in einer Zeit unbegrenzten Fortschritts lebten, zu dem ihre Tätigkeit in einer Weise, die man nicht näher zu untersuchen brauchte, den größten Beitrag leistete. Zu der Zeit, als die Verknüpfung mit der Entwicklung des Maschinenzeitalters hätte offenkundig sein müssen, entstand die Vorstellung von der reinen Wissenschaft: die Vorstellung, die Verantwortung des Naturwissenschaftlers beschränke sich darauf, daß er seine Arbeit leiste und die Ergebnisse einem idealen ökonomischen System überlasse — ideal deshalb, weil es natürlich und für das freie Spiel ökonomischer Kräfte offen war. Das ist die Haltung, die auch heute noch den Vorstellungen vieler Naturwissenschaftler und Laien von der Wissenschaft zugrunde liegt, so wenig sie auch dem Zustand unserer heutigen Welt entspricht.

Naturwissenschaft und imperialistische Expansion Etwa um 1885 kam eine neue Strömung auf, und es wurde augenscheinlich, daß die Entwicklung der Industrie zu unerwarteten und beunruhigenden Ergebnissen führte. Schon hatte Großbritannien das industrielle Monopol verloren, und jetzt verlor es schnell seine Vorherrschaft als industrielles Land. Deutschland und Amerika waren mächtige Rivalen. Die Macht des Britischen Weltreiches wurde eingeschaltet, um die britische Industrie zu retten, indem sie ihr neue Gebiete für den Export beschaffte, jetzt weniger für Konsum-, als für Produktionsgüter, Eisenbahnen und Ausrüstungen. Ein Nebenresultat war die Weiterentwicklung der Naturwissenschaft. Um die neuen Probleme, die sich aus der expansiven imperialistischen Entwicklung ergaben, angehen zu können, wurden das Imperial College und das Imperial Institute gegründet und die naturwissenschaftliche Ausbildung und die Forschung allgemein überprüft. In Deutschland war jedoch die Industrialisierung sehr viel intensiver; die Naturwissenschaft wurde in ganz anderem Umfang genutzt. Die Technischen Hochschulen lieferten Tausende gut ausgebildeter Chemiker und Physiker, die von den Laboratorien der Industrie aufgesogen wurden, und innerhalb weniger Jahre wurde 16

Der Verfall der Royal Society im späten achtzehnten Jahrhundert und frühen neunzehnten Jahrhundert war sehr deutlich. Babbage, einer der originellsten Köpfe in England (er schrieb im Jahre 1832 On the Decline of Science in England), kämpfte leidenschaftlich dagegen, daß Mitglieder der Royal Society ausschließlich auf Grund ihres Reichtums und ihrer gesellschaftlichen Stellung gewählt wurden. Vgl. L. Hogben, Science for the Citizen, a. a. O., S. 616, 713 [Mensch und Wissenschaft, Bd.2, a. a. O., S. 99, 224],

52

die Chemie der Färb- und Sprengstoffe, deren Grundlagen großenteils in Frankreich und Großbritannien geschaffen worden waren, von einer neuen deutschen Industrie geschluckt, die dafür praktisch das Monopol auf dem Weltmarkt innehatte. Der Weltkrieg. Zu einem Wendepunkt in der Geschichte der Naturwissenschaft kam es mit dem [ersten] Weltkrieg. Er unterschied sich dadurch von früheren Kriegen, daß er ganze Völker und nicht nur ausgehobene Armeen erfaßte. Landwirtschaft und Industrie wurden zu direktem Kriegsdienst gepreßt, und der Naturwissenschaft.erging es ebenso. Natürlich war seit den ältesten Zeiten die Wissenschaft zu Kriegszwecken begehrter als zu Friedenszwecken, nicht'etwa deshalb, weil die Wissenschaftler besonders kriegerischer Natur gewesen wären, sondern weil die Anforderungen des Krieges dringender sind. Fürsten und Regierungen sind eher breit, Forschungen zu Kriegszwecken zu unterstützen als irgendwelche anderen, weil die Wissenschaft neuartige Erfindungen hervorbringen kann, die gerade dadurch, daß sie neu sind, von entscheidender militärischer Bedeutung sein können (vgl. dazu aber S. 184-186). Die Eingliederung der Wissenschaftler. Die Beteiligung der Wissenschaftler im Weltkrieg ging jedoch weit über das bisherige Maß hinaus. Es handelte sich nicht um die Anwendung wohlbekannter wissenschaftlicher Prinzipien durch eine kleine Zahl von Technikern und Erfindern, sondern um die totale Mobilisierung der Naturwissenschaftler in jedem Land, zu dem einzigen Zweck, die Zerstörungskraft moderner Waffen zu vergrößern, solange der Krieg dauerte, und Methoden zum Schutz gegen derartige Fortschritte auf der Gegenseite zu entwickeln (vgl. dazu S. 194). Hier hatten die Deutschen anfangs einen Vorteil: Sie besaßen mehr Naturwissenschaftler, und diese standen in engerem Kontakt mit der Industrie als die Naturwissenschaftler in den Ländern der Alliierten. Dies war ein unmittelbarer Vorteil, der entscheidend gewesen wäre, hätte Deutschland nicht unter dem schwerwiegenden Mangel an Rohstoffen wie Metallen, Kautschuk und Öl gelitten. Die alliierten Mächte mußten die wissenschaftliche und die industrielle Organisation während des Krieges improvisieren. Im Jahre 1917 nahm diese in Großbritannien im Department of Scientific and Industrial Research [D.S.I.R. — Amt für naturwissenschaftliche und industrielle Forschung] und in den Vereinigten Staaten im Jahre 1916 im National Research Council [Nationaler Forschungsrat] ihre endgültige Gestalt an. Im Bericht des Amtes für das Jahr 1932 heißt es: „Das Schema wurde von unseren Amtsvorgängern um die Mitte des größten Krieges der Geschichte ausgearbeitet. Vom Ausbruch der Feindseligkeiten an war klar, daß die Anwendung der Naturwissenschaft eine wichtige Rolle in dem Konflikt spielen würde; daher wurden Naturwissenschaftler zu Dienstleistungen eingezogen, mit nicht unbeträchtlichem Effekt. Die Umstände des Krieges bekräftigten die Argumente derjenigen, die eine engere Verbindung der britischen Industrie mit der Naturwissenschaft gefordert hatten; denn sie zeigten mit einer Deutlichkeit wie nie zuvor die schwerwiegenden Folgen, die es haben kann, wenn naturwissenschaftlichen Entdeckungen, die sich zur Anwendung im industriellen Bereich eignen, nicht nachgegangen wird. Beispielsweise hatte sich bald gezeigt, daß Großbritannien in bezug auf Lieferungen für kriegswichtige Operationen in gefahrlichem Maße von ausländischen Quellen abhängig war. Unser damaliger größter Feind hatte sich durch Anwendung der Naturwissenschaft eine Verfügungsgewalt über gewisse Industrieprodukte gesichert, die nach Art und Ausmaß eine Bedrohung unserer nationalen Wohlfahrt darstellte. Man wurde sich nun allgemein der Tatsache bewußt, daß es für den Erfolg sowohl in Kriegs- als auch in Friedenszeiten wünschenswert sei, die Ressourcen der Naturwissenschaft voll und ganz zu nutzen. Die Gefahren des Krieges lieferten Regeln für den Frieden, und es wurde erkannt, daß zum Ende des Konflikts in der industrialisierten 53

Welt eine Situation entstehen würde, welche verstärkte Bemühungen erfordern würde, wenn die industrielle Vorherrschaft Großbritanniens aufrechterhalten werden und die in Großbritannien produzierten Güter ihren Platz auf den Weltmärkten behaupten sollten. Die damalige Regierung sah diese Situation voraus und bildete das Department of Scientific and Industrial Research ', das Parlament bewilligte — als Teil der finanziellen Mittel, die zu seiner Verfügung stehen sollten — ein Kapital von einer Million Pfund zur Förderung industrieller Forschung. Der effektivste Weg zur Erreichung dieses Ziels war Gegenstand sorgfältiger Überlegung unserer Vorgänger, in Konsultationen mit führenden Männern der Industrie, und so kam es zur Ausarbeitung des Planes der Research Associations (gemeinsamer Forschungsvereinigungen) [von Staat und Wirtschaft]" (vgl. auch S. 185). Vom Staat getragene Naturwissenschaft. Dieser Auszug illustriert, in welcher Weise der Weltkrieg zwangsläufig zu einer neuartigen und bewußten Würdigung der Funktion der Naturwissenschaft in einem modernen Industriestaat geführt hat. Damals erkannte man, daß die Naturwissenschaft nicht ganz ohne Organisation bleiben konnte und daß sie nicht von überkommenen Stiftungen oder sporadischen wohltätigen Zuwendungen abhängen durfte. Man sah ein, daß auch schon die Existenz eines modernen Industriestaates im Krieg und im Frieden — vom rein technischen Standpunkt aus sind ja die damit zusammenhängenden Probleme grundsätzlich nicht verschieden — von den Aktivitäten einer organisierten Naturwissenschaft abhängt. Die Erschließung natürlicher Rohstoffquellen und die Mittel zu ihrer effektivsten Nutzung hängen von der Naturwissenschaft und nur von der Naturwissenschaft ab. Diese Vorstellung war jedoch, wie das obige Zitat zeigt, keineswegs klar. Es gab Kräfte innerhalb der überkommenen Institutionen sowie Gewohnheiten, die sich gegen jede solche Auffassung von Naturwissenschaft zur Wehr setzten. In praktisch allen Ländern vollzog sich die Reorganisation der Naturwissenschaft verworren und halbherzig. Die Regierungen und die Industrie wünschten sie, waren aber nicht bereit, die Kosten zu übernehmen, während sich die Wissenschaftler instinktiv an die relative Unabhängigkeit der Vorkriegszeit klammerten. Obwohl während des Krieges fast alle ohne Widerrede die Dienstverpflichtungen hingenommen hatten, konnte es im Frieden in Zweifel gezogen werden, ob es wünschenswert sei, daß sich die Naturwissenschaft voll und ganz in den Dienst von Regierungen und Monopolunternehmen stellte. Das Ergebnis in fast allen Staaten war ein Kompromiß, und zwar ein Kompromiß höchst unbefriedigender Art. Die Naturwissenschaft war weder organisiert noch unabhängig. Sie wurde von einer Vielzahl von Behörden beherrscht, die eine noch größere Vielzahl von finanziellen Fonds verwalteten (vgl. drittes Kapitel). Die Nachkriegsperiode und die Weltwirtschaftskrise. Diese widersprüchlichen Verhältnisse konnten die ungeheure Produktivität naturwissenschaftlicher Forschung nicht aufhalten. Nachdem sie von den unmittelbar technischen Aufgaben befreit war, entwickelte die Naturwissenschaft nach dem Kriege schlagartig eine Aktivität, wie sie in ihrer Geschichte kaum jemals erreicht worden war — und dies gerade in Deutschland —, als ob sie nachweisen wollte, daß die Vorherrschaft, die durch Gewalt nicht zu gewinnen gewesen war, in dem friedlichen Bereich des Gebietes erreicht werden könnte. Diese ruhige Periode überdauerte jedoch die Krise des Jahres 1929 und ihre politischen Nachwehen nicht. Die Naturwissenschaft wurde aus wirtschaftlichen Gründen fast überall eingeschränkt und die anscheinend unangreifbare Position Deutschlands durch den Fanatismus der Nazis zerstört. Seit 1933 begann dort und überall anderswo, die wachsende Aufrüstung die ganze Struktur der Naturwissenschaft weiter zu beschneiden und zu verzerren. Die natürliche Ineffektivität der Naturwissenschaftler wurde durch die Entwicklung 54

einer Bürokratie eher größer als kleiner; die Naturwissenschaft war weder frei, um sich gemäß ihren inneren Tendenzen entwickeln zu können, noch wurde sie sinnvoll im Dienste der Industrie gelenkt. In ihrer neuen Phase mußten die Ausgaben für die Naturwissenschaft bei weitem größer sein als vorher, und zwar deshalb, weil die Kosten der entsprechenden Geräte sehr viel höher waren und weil weit mehr Menschen aller Qualifikationsstufen in organisierter Zusammenarbeit beschäftigt werden mußten. Die zur Verfügung stehenden Mittel waren jedoch nirgends, die Vereinigten Staaten vielleicht ausgenommen, diesem Wachstum angemessen. Die Naturwissenschaft konnte sich weder in der alten Weise weiterentwickeln, noch wurde sie in die Lage versetzt, sich auf den neuen Wegen zu entfalten.

Wissenschaft und Sozialismus Unterdessen vollzogen sich in der Sowjetunion gänzlich andere Entwicklungen. Zwar war die Bedeutung der Wissenschaft im alten Rußland mit der Entwicklung des Kapitalismus unmerklich gewachsen, doch war diese Bedeutung offiziell nicht anerkannt worden. Nach der Revolution von 1917 begann jedoch eine großartige Entwicklung. In der marxistischen Theorie hat die Naturwissenschaft stets einen hervorragenden Platz eingenommen. Das Ideal Bacons — der Einsatz der Wissenschaft zum Wohle der Menschheit — war tatsächlich ein leitendes Prinzip der konstruktiven Seite des Marxismus. Die Wissenschaft, so lautete es, solle direkt zu diesem Zweck genutzt und nicht länger zugunsten von Profitsteigerungen mißbraucht werden. Trotz der außerordentlich dürftigen naturwissenschaftlichen Voraussetzungen des zaristischen Rußlands, der Zerstörungen im Weltkrieg und in Bürgerkriegen, trotz der ungeheuren Leiden und Entbehrungen der Aufbauperiode nahm die Bedeutung der Wissenschaft in der UdSSR immens zu. Der eigentliche Start für eine umfassende Organisation der Wissenschaft als integraler Teil eines allgemeinen Feldzuges zur Verbesserung der Lebensbedingungen erfolgte im ersten Fünfjahrplan von 1927. Von damals an hat die Naturwissenschaft in der Sowjetunion sowohl in bezug auf die finanziellen Mittel als auch auf die Anzahl der Wissenschaftler, einen ständigen und stets schneller wachsenden Fortschritt aufzuweisen, der von der Depression, die den Fortschritt der Wissenschaft in den kapitalistischen Ländern so sehr aufgehalten hat, völlig unberührt blieb. Es kann bei einer Institution wie der der Wissenschaft, die zu ihrer vollen Entfaltung Jahre und sogar Generationen gemeinsamer Anstrengung erfordert, nicht erwartet werden, daß sich sofort überwältigende Erfolge einstellen. Es wird bestimmt noch einige Zeit dauern, bis die Wissenschaft der Sowjetunion in Exaktheit und kritischem Vermögen Deutschland oder Großbritannien übertreffen kann. Was sie bisher geleistet hat, genügt jedoch schon, um zu zeigen, daß in dieser neuen Art der Organisation der Wissenschaft im Dienste der Menschheit Möglichkeiten für beide liegen, die insgesamt über diejenigen hinausgehen^ welche das gegenwärtige unhaltbare und chaotische System von Wissenschaft und Industrie im Westen bieten kann (vgl. S. 232—245).

55

DRITTES KAPITEL

Die derzeitige Organisation der naturwissenschaftlichen und medizinischen Forschung in Großbritannien

Die Forschung an Universitäten, die staatliche und die industrielle Forschung. Wir gehen jetzt dazu über, die gegenwärtige Situation in der naturwissenschaftlichen Forschung konkreter zu untersuchen. In Großbritannien wird, wie in fast allen übrigen Ländern außerhalb der Sowjetunion, naturwissenschaftliche Forschung in drei verschiedenen Sphären betrieben: an den Universitäten, in staatlichen Institutionen u n d in der Industrie. Den unabhängigen Wissenschaftler, der in früheren Zeiten und selbst noch im neunzehnten Jahrhundert überwog, gibt es praktisch nicht mehr. Die Arbeit wird, wenn überhaupt, von den wissenschaftlichen Gesellschaften* koordiniert, die auch großenteils f ü r die wissenschaftliche Publikationstätigkeit verantwortlich sind. D a n e b e n spielen solche Körperschaften wie der Medical Research Council** und ähnliche Körperschaften, die Forschungen finanzieren können, eine geringere Rolle. Die Forschung an den Universitäten hat sich allmählich aus den Untersuchungen ententwickelt, die Angehörige des Lehrkörpers aus eigenem Antrieb durchführten. Dabei handelt es sich in erster Linie um Grundlagenforschung, obwohl in jüngster Zeit an einigen Universitäten in beschränktem U m f a n g auch angewandte naturwissenschaftliche Forschung betrieben wird. Die vom Staat betriebene Forschung dient zwei Zielen: erstens dem Verteidigungsbereich, also dem Heer, der Marine und der Luftwaffe, u n d zweitens den allgemeinen Interessen von Industrie, Landwirtschaft und Medizin. Bei beiden Bereichen handelt es sich zwangsläufig großenteils um Forschung angewandten Charakters. Die F o r schung in der Industrie ist fast ausschließlich von dieser Art, da die Arbeit der Industrielaboratorien f ü r Grundlagenforschung in England weniger entwickelt ist als in Amerika oder Deutschland. Diese drei Bereiche sind jedoch nicht unabhängig voneinander. Die Universitäten werden in immer stärkerem Maße, besonders was die Naturwissenschaft betrifft, von Zuschüssen staatlicher Stellen sowie von Zuwendungen von Industriellen abhängig. Ein großer Teil der an Universitäten tätigen Forscher auf naturwissenschaftlichem Gebiet wird in Wirklichkeit vom Staat oder von der Industrie bezahlt. Z u m anderen wird die Leitung der naturwissenschaftlichen Arbeit in der Industrie u n d in staatlichen Stellen von Leuten ausgeübt, die Dozenten, insbesondere Professoren, an Universitäten sind, sowie von Gremien aus solchen Personen mit beratender Funktion. Die staatliche und die industrielle Forschung

* Scientific societies sind zum einen „Wissenschaftliche Gesellschaften" im üblichen Sinne, etwa Chemische Gesellschaft, Physikalische Gesellschaft usw., also Vereinigungen von Wissenschaftlern eines bestimmten Fachgebietes, zum anderen „Gelehrtengesellschaften" wie etwa die Royal Society, welche den Akademien alten Stils (ohne eigene Institute) gleichzusetzen sind. An dieser Stelle wird der Terminus in der letztgenannten Bedeutung benutzt. ** Medical Research Council: Rat für medizinische Forschung, vgl. S. 70—73.

56

sind ebenfalls sehr eng miteinander verflochten; das ganze System der Research Associations* ist ein Versuch, der Industrie die Vorteile zukommen zu lassen, welche die vom Staat finanzierten Möglichkeiten der zentralen Forschung bieten, und sie an den Kosten von Forschungsvorhaben, die vermutlich sowohl für den Staat als für die Industrie von Nutzen sind, zu beteiligen. Ein besonders wichtiger Sektor der staatlichen Forschung, nämlich der für militärische Zwecke, ist untrennbar mit der Forschung der Rüstungsindustrie verbunden, die ihrerseits nur ein Teil der Schwerindustrie ist, d. h., der Stahlindustrie, des Maschinenbaus, der Sprengstoff- und Schwerchemie. Die Gelehrtengesellschaften, namentlich die Royal Society, sind in allen drei Bereichen vertreten. Ihre Mitarbeiter kommen großenteils aus den Universitäten, sie verwalten die großen staatlichen Forschungsfonds, werden dadurch teilweise zu staatlichen Behörden und unterhalten enge Beziehungen zu der in der Industrie betriebenen Forschung. Dies könnte den Eindruck erwecken, wir in Großbritannien würden über ein gut ineinandergreifend organisiertes System der Forschung verfügen. Tatsächlich sind jedoch alle diese Verbindungen durch die Kraft der Umstände rein zufallig aus persönlichen Beziehungen erwachsen. Würde man diese entstandene Struktur in einem Diagramm darstellen, so könnte man zwar unschwer den außerordentlich hohen Grad von Verschachtelung und Querverbindungen ablesen, aber keinerlei Plan erkennen. 1 Die wirksamste Lenkung der Naturwissenschaft, sofern es überhaupt so etwas gibt, liegt nicht in der Struktur dieser Gremien begründet, sondern beruht darauf, daß eine Handvoll führender Naturwissenschaftler des Landes miteinander persönlich bekannt ist und praktisch jeden anderen kennt, der in der Welt der Wissenschaft sowie in den einschlägigen Kreisen von Staat und Wirtschaft etwas zu sagen hat. Pläne für naturwissenschaftliche Entwicklungen werden unter der Hand und natürlich vertraulich diskutiert. Man tritt an wohlhabende Leute heran und überzeugt sie im privaten Gespräch davon, daß sie eine Stiftung einrichten, und irgendeiner, der den Premierminister kennt, äußert ihm gegenüber, für diesen oder jenen Forschungszweig müsse etwas getan werden, und auf diese typisch englische Art wird die naturwissenschaftliche Forschung in Gang gehalten.

Die Forschung an den Universitäten Die Universitäten nehmen den wichtigsten Platz in der Grundlagenforschung ein. Tatsächlich kann man sagen, daß gut und gern vier Fünftel der Grundlagenforschung in Großbritannien an Universitätsinstituten betrieben werden. Dahin kam es jedoch erst im Zuge einer allmählichen Entwicklung, insbesondere was die materielle Seite betrifft. Erst in diesem Jahrhundert haben sich die Universitäten große und gut ausgestattete Laboratorien zugelegt, die nicht in erster Linie Lehrzwecken dienen. Die Haltung der Universitäten zur Forschung ändert sich zur Zeit sehr schnell. Vor dem [ersten] Weltkrieg wurde der größte Teil der Forschungsarbeit an Universitäten von Professoren, Dozenten und anderen Lehrkräften in ihrer Freizeit geleistet, obgleich man allmählich begriff, daß für eine Universität die Forschung ebenso wichtig wie die Lehre ist — wenn nicht sogar wichtiger.

1 Vgl. die Ansprache von Sir W. Bragg, Anmerkung 4, S. 63/64. * Research Associations sind Institutionen, die teils vom Staat, teil von Industrieunternehmen Gelder zur Finanzierung erhalten, die für den betreffenden Industriezweig wichtig sind.

57

Die wissenschaftlichen Mitarbeiter. Seit dem Kriege wurde die Forschung dadurch vervielfacht, daß zwei Gruppen von Mitarbeitern hinzukamen: postgraduate students und festangestellte senior research workers* Der Kampf um Stellungen in der wissenschaftlichen Welt verlangt verstärkt den Erwerb von akademischen Graden. Zum Teil unter dem Einfluß Deutschlands und Amerikas haben die englischen Universitäten den akademischen Grad des Ph. D. eingeführt, der eine selbständige Forschungsarbeit erfordert.** Da heute im wissenschaftlichen Bereich dieser akademische Grad für jede wichtige Funktion verlangt wird, können die Universitäten sicher sein, daß sie ausreichend viele junge Wissenschaftler finden, die zwei bis vier Jahre dort bleiben. Ihre tatsächliche Anzahl läßt sich schwer abschätzen. Das University Grants Committee führt 1791 full-time und 936 part-time advanced students in Naturwissenschaft, Technik, Medizin und Landwirtschaft auf (Anhang I (C) zeigt,*** wie sie sich auf die einzelnen Fachgebiete verteilen), vermutlich ist aber weniger als die Hälfte in der eigentlichen Forschung tätig; 1500 dürfte eine vernünftig geschätzte obere Grenze für die Anzahl der junior je search workers**** sein. Einige von ihnen bezahlen dieses erweiterte Studium aus eigener Tasche; die meisten leben teilweise oder auch ganz von Zuwendungen, die sie von der Universität oder dem College oder dem D.S.I.R. oder auch von anderen staatlichen oder örtlichen Behörden als Stipendien erhalten. Daneben gibt es an den Universitäten noch eine kleine, wenn auch ständig zunehmende Anzahl in der Forschung tätiger senior research workers, etwa 100, die aber in den meisten Fällen nicht von den Universitäten bezahlt werden. Tatsächlich gibt es in Großbritannien nur etwa 20 Stellen dieser Art. Die meisten der jüngeren Leute sind auf verschiedene Arten von nichtstaatlichen oder staatlichen Forschungsstipendien angewiesen. (Vgl. S. 102.) Die Stellung des in der Forschung tätigen Wissenschaftlers an den Universitäten ist noch immer anomal. Sein Status ist nicht klar umrissen, er wird teils als Student, teils als Lehrkraft verbucht. Daher sind Wissenschaftler, die ständig oder hauptsächlich in der Forschung tätig sind, noch selten. In der Regel arbeitet ein Absolvent zwischen zwei und sechs Jahren an der Universität in der Forschung und geht dann in die Lehre, die Verwaltung oder in die Industrie. Die Auswirkungen dieser anomalen Lage auf die in der Forschung Tätigen selbst und auf ihre Arbeit werden in einem späteren Kapitel diskutiert. Die Forschung an den Universitäten ist nach dem traditionellen Department system organisiert. Der professor leitet ein department und berät die dort tätigen Forschungskräfte; das heißt, im allgemeinen schlägt er ihnen vor, welche Probleme sie bearbeiten sollen, er unterstützt sie und diskutiert mit ihnen den Fortgang der Arbeit. Im allgemeinen ist dies bei den senior research workers zwar weitgehend formal, doch arbeitet in vielen Fällen der Professor an Problemen der einzelnen Forscher aktiv mit. Er veranlaßt jemanden, an einem Problem zu arbeiten, an dem er selbst interessiert ist, beteiligt sich mehr oder weniger an der täglichen Arbeit und veröffentlicht gemeinsam mit dem betreffenden Forscher. Dieses System kann natürlich für junge Mitarbeiter sehr vorteilhaft sein, kann aber auch schwer mißbraucht werden.

* Postgraduate student ist ein junger Wissenschaftler nach dem ersten Abschlußexamen an einer Universität. der sich zur Erlangung höherer akademischer Grade weiter in Ausbildung befindet, entspricht etwa dem Aspiranten. Senior research worker: erfahrener Wissenschaftler. ** Ph. D., Philosophy Doctor, entspricht etwa einem Dr. phil. oder Dr. rer. nat. *** University Grants Committee: Kommission zur Finanzierung und Verleihung von Zuschüssen an Universitäten und Studenten, Full-time advanced student: Student, der sich nach seinem Examen ganztägig auf weitere Examina vorbereitet. Part-time advanced student: Student, der seine weitere Ausbildung neben der beruflichen Tätigkeit, z. B. in der Lehre, betreibt. **** Junior research worker : in der Forschung tätiger Absolvent.

58

Die tatsächliche Lenkung der naturwissenschaftlichen Forschung an den Universitäten liegt somit ganz in den Händen der Professoren [Institutsdirektoren], Die Leitungen der Fakultäten (faculty boards)* oder ähnliche Gremien und die allgemeinen Leitungsgremien der Universität können nur indirekt eingreifen, indem sie die Gelder auf die verschiedenen Institute verteilen. Sie sind nicht hinreichend qualifiziert, um die Forschung tatsächlich zu lenken oder sie mit ähnlichen Forschungsvorhaben in anderen Institutionen zu koordidinieren. Das bedeutet, daß naturwissenschaftliche Grundlagenforschung an einer großen Anzahl (etwa 400) voneinander unabhängiger Laboratorien betrieben wird. Natürlich sind diese von höchst unterschiedlicher Bedeutung. Nur wenige sind den naturwissenschaftlichen Instituten auf dem Kontinent vergleichbar, die zwischen zwanzig und vierzig wissenschaftliche Mitarbeiter beschäftigen. Die meisten britischen Laboratorien sind Ein- oder Zweimannbetriebe. Die Bedeutung jedes Laboratoriums hängt von einer Reihe von Faktoren ab. Große Institute** findet man dort, wo Bedarf an einer umfassenden Lehrtätigkeit auf hohem wissenschaftlichem Niveau besteht oder industrielle oder halbindustrielle Aufgaben zu lösen sind. Es gibt sie auch dort, wo der Professor über anerkannte wissenschaftliche Qualitäten verfügt oder die weit schwierigere Kunst beherrscht, Gelder für die Forschung aufzutreiben. Abgesehen von einem begrenzten Bereich gibt es, was die Situation der naturwissenschaftlichen Forschung betrifft, einen erheblichen Unterschied zwischen den größeren und den kleineren Universitäten. An diesen findet man, wie zu erwarten, die meisten kleinen Laboratorien und auch völlig isolierte Forscher, und gerade dort sind die Anforderungen der Lehre so stark, daß sie die Zeit zum Forschen erheblich beschneiden. Nur gelegentlich findet man dank einer besonderen Geldquelle auch an einer kleinen Universität ein hochspezialisiertes Institut von einiger Bedeutung; doch konzentriert sich der Kern der wichtigen Forschung zum größten Teil auf relativ wenige Institute an den großen Universitäten. Das verstärkt die schon bestehenden Unterschiede zwischen einzelnen Universitäten, da die meisten hervorragenden Wissenschaftler von jenen Zentren angezogen werden, an denen sie ihre Fähigkeiten einsetzen können, so daß das Niveau der schwächeren Institutionen weiter sinkt. Jener ständige Austausch von Lehrkräften und Forschern zwischen Universitäten von annähernd gleichem Niveau, der zu den besten Traditionen der deutschen Universitäten gehörte, fehlt in Großbritannien fast völlig. Stattdessen besteht die Tendenz, sich um Stellen an den größeren Universitäten zu bewerben und sie, wenn man sie bekommen hat, auch zu behalten. Es gibt keine offizielle Einrichtung, die die Arbeit der verschiedenen Universitätsinstitute koordiniert. Die Universität selbst, mit ihrer Vielfalt naturwissenschaftlicher Institute, kann höchstens verwaltungsmäßig koordiniert werden, während Laboratorien auf demselben Gebiet an verschiedenen Orten nur auf rein freiwilliger Basis zusammenarbeiten können, da es keine höhere Verwaltungsinstanz gibt, die ihre Arbeit lenken könnte. Was es an Koordinierung gibt, hängt von den wissenschaftlichen Gesellschaften ab. Die Art der Forschung. Es soll hier nicht versucht werden, die Forschungsthemen aufzuzählen, die an den Universitäten bearbeitet werden. Leider existiert überhaupt keine derartige Zusammenstellung; einiges läßt sich aus populären Werken wie Julian Huxleys Scientific Research and Social Needs*** erkennen, und für eine einzige Universität geben die * Faculty board: etwa Fakultät(srat). ** Das englische Wort laboratory kann sowohl „Laboratorium" als auch „Institut" bedeuten, je nach Größe und Struktur der Einrichtung. *** London 1934.

59

Cambridge University Studies eine genaue Übersicht. Natürlich hat niemand die Aufgabe, den Fortschritt der Naturwissenschaft an den Universitäten oder im ganzen Lande zu beschreiben, doch könnte das Vorhaben der Beachtung seitens eines tüchtigen Verlegers durchaus wert sein. Die Bedingungen, welche den Umfang und die Art der Arbeit an den Universitäten bestimmen, sind weitgehend historischer und ökonomischer Natur. Historischer Natur insofern, als die während eines bestimmten Jahres durchgeführte Arbeit im allgemeinen die Fortsetzung der Arbeit früherer Jahre ist und neue Professoren in der Regel das mehr oder weniger explizit vorliegende Programm der Arbeit ihrer Vorgänger übernehmen. Abgesehen von den wissenschaftlichen Schulen, deren Bedeutung in der ganzen wissenschaftlichen Welt anerkannt wird, wie etwa die Arbeit des Cavendish Laboratory über die Struktur des Atomkerns, findet jede Forschungsrichtung ihre Grenzen mit den Möglichkeiten, für sie Geld zu erhalten. Diese hängen weitgehend davon ab, welche Bedeutung das betreffende Institut vom Standpunkt der Lehre hat, und diese wird bestimmt von der Anzahl der Studenten an diesem Institut, und das bedeutet wieder, daß tatsächlich letzten Endes die Anzahl der Stellen entscheidend ist, welche für die Absolventen eines bestimmten Fachs zur Verfügung stehen. Die weitaus meisten Studenten der Naturwissenschaft an den Universitäten haben sich für eine Laufbahn in vier Berufszweigen zu entscheiden — Ingenieurwesen, Industrie, Gesundheitswesen und Schule; die allermeisten werden Lehrer, nur eine kleine Minderheit geht in die naturwissenschaftliche Forschung. Die Forschung in technischen Fächern. Die technischen Institute nehmen an den meisten Universitäten eine Sonderstellung ein, da sie im allgemeinen engere Verbindungen zur Industrie als zu den übrigen Universitätsbereichen haben. Trotzdem wird bei der Ausbildung von Ingenieuren für die Praxis das Studium an der Universität im Vergleich mit der Betriebserfahrung oft als relativ nutzlos angesehen. Tatsache ist, daß die meisten technischen Institute gleichsam zwischen zwei Stühlen sitzen. Einerseits wird ein tiefergehendes Studium der Grundlagen der Technik für die im Grunde technische Ausbildung als unzweckmäßig angesehen, andererseits sind die Institute nur selten mit hinreichend modernen Maschinen ausgerüstet, so daß sie den Studenten keinerlei echte Erfahrung mit industriellen Bedingungen vermitteln können. Die Forschung in Physik und Chemie. Die chemische Industrie nimmt den weitaus größten Teil der in die Industrie gehenden Naturwissenschaftler auf, und sie benötigt Leute mit chemischen und physikalischen Kenntnissen. Daher sind diese Institute an jeder Universität im allgemeinen die größten und wichtigsten; sie sind aber auch am meisten der Tradition verhaftet. Die Notwendigkeit, Lehrer auszubilden, verstärkt die Sterilität der Vorlesungen. Aus dem Teufelskreis der Ausbildung an Universität und Schule in bezug auf Physik und Chemie, scheint es kein Ausbrechen zu geben. Die Universitäten müssen Leute ausbilden, die die Gegenstände zu unterrichten haben, die in der Schule gefordert werden, damit die Aufnahmeprüfungen an den Universitäten bestanden werden. Gerade diese enge Bindung an den traditionellen Unterrichtsbetrieb und an die Bedürfnisse der Industriechemiker, deren Arbeit großenteils bloße Routine ist, hemmt die chemische Forschung an den Universitäten und erschwert die Integrierung der neuen Prinzipien der Chemie, die in den letzten Jahren aus der Physik übernommen wurden. Die Forschung in der Medizin. Das, was die Medizinstudenten brauchen, beherrscht die biologischen Institute vieler Universitäten. Größe und Bedeutung der botanischen, zoologischen, physiologischen und biochemischen Institute hängen weitgehend vom Umfang dessen ab, was von dem Medizinstudenten auf diesen Stoffgebieten verlangt wird. Auch hier wird die 60

Tradition noch durch die Anforderungen eines starren Prüfungssystems verstärkt. Für die Forschung kommen in erheblichem Umfang Stipendien auch vom Medical Research Council. In den letzten Jahren beginnen sich auch die Bedürfnisse der Landwirtschaft als Anforderungen an die Biologie bemerkbar zu machen; doch wird durch das Durcheinander in der landwirtschaftlichen Forschung in Großbritannien und die dort angebotenen niedrigen Gehälter verhindert, daß sie in irgendeiner Weise effektiv wird. Ein unausgewogenes Forschungsprogramm. Im Ergebnis dieser Anforderungen von außen zeigt sich die wissenschaftliche Forschung als ein unausgewogenes Gebilde, bei dem die physikalischen Wissenschaften bei weitem überwiegen; dies entspricht in keiner Weise ihrer relativen Bedeutung, weder gegenwärtig noch in Zukunft, noch ist es von der Sache her begründet. Außerdem sind die biologischen Wissenschaften entschieden unterentwickelt, ganz zu schweigen von den Themenkreisen an der Grenze der exakten Wissenschaften wie etwa der Psychologie oder der Soziologie. Eine gewisse Vorstellung von diesen Diskrepanzen vermitteln die Tabellen in Anhang I(A), in denen die Anzahl der Stellen für diese verschiedenen Disziplinen an den Universitäten aufgeführt wird. Dieses unausgewogene Forschungsprogramm hat schwerwiegende Folgen, da die Universitäten in Großbritannien praktisch noch immer die alleinigen Voraussetzungen für die naturwissenschaftliche Grundlagenforschung bieten. Es gibt natürlich einige unabhängige Forschungsinstitute wife die Royal Institution, döch ist ihre Zahl so klein, daß sie an dem allgemeinen Bild nichts ändern. Die Tendenz wird immer stärker, daß andere Einrichtungen — wie etwa der Staat, die Royal Society und die Rockefeller-Stiftung-Forschungsvorhaben — im Rahmen der Universitäten finanzieren, statt daß sie Institute mit einer gewissen Unabhängigkeit gründen. Daher bestimmt die allgemeine Richtung der naturwissenschaftlichen Forschung an den Universitäten tatsächlich ihre Position in Großbritannien. Wenn also Tradition und ökonomische Faktoren die Forschung an den Universitäten beeinträchtigen oder in falsche Bahnen lenken, so haben alle anderen Bereiche der naturwissenschaftlichen Forschung darunter zu leiden.

Die wissenschaftlichen Gesellschaften Obwohl der größte Teil der wissenschaftlichen Grundlagenforschung tatsächlich an den Universitäten durchgeführt wird, hängt ihre Koordinierung völlig von Vereinigungen mit freiwilliger Mitgliedschaft — den wissenschaftlichen Gesellschaften — ab, die von den Wissenschaftlern selbst geführt und weitgehend auch von ihnen finanziert werden. In praktisch jeder Einzeldisziplin gibt es eine eigene Gesellschaft, der, mit Ausnahme der finanziell am schlechtesten gestellten, fast alle in der Forschung Tätigen angehören. Die wichtigste Funktion dieser Gesellschaften ist die Veröffentlichung wissenschaftlicher Arbeiten, sie veranstalten aber auch zwanglose Diskussionen und nehmen so rein beratend Einfluß auf die allgemeine Entwicklung ihres Fachgebiets. 2 Jedes Mitglied hat eine, wenn auch gewöhnlich 2

In d e m offiziellen Year-Book of the Scientific and Leamed Societies of Great Britain and Ireland werden 60 naturwissenschaftliche u n d 15 medizinische Gesellschaften des L a n d e s a u f g e f ü h r t , d a n e b e n zahlreiche lokale wissenschaftliche Gesellschaften. A u s m a ß u n d G r e n z e n der Aktivitäten solcher Gesellschaften lassen sich im Fall der jüngsten, höchst ehrgeizigen B e m ü h u n g u m Organisation, d e m Chemical Council, ersehen; d a r ü b e r schreibt Prof. Philip in What Science Stands For: „ I m Verlauf der letzten beiden J a h r e w u r d e ein bemerkenswerter Schritt zur K o n s o l i d i e r u n g der C h e m i s c h e n Wissenschaft u n d des Berufs des C h e m i k e r s getan, u n d zwar d u r c h die G r ü n d u n g des Chemical Council als D a c h o r g a n i s a t i o n

61

äußerst unvollkommene, Vorstellung von dem, was auf seinem Gebiet in den verschiedenen Laboratorien des Landes geschieht, und kann die Richtung seiner eigenen Arbeit diesem Wissen anpassen. Es gibt jedoch auf jedem Gebiet nur sehr wenige Anstrengungen, darüber hinauszugehen und bestimmte Pläne oder Programme für die Arbeit vorzuschlagen, zu der jedes Laboratorium seinen spezifischen Beitrag leisten würde. Diese Art der Zusammenarbeit ist tatsächlich nur dort anzutreffen, wo sie vom Charakter der Arbeit selbst erzwungen wird, wie etwa in Astronomie, Geophysik und Meteorologie. Die Royal Society. Neben den einzelnen wissenschaftlichen Gesellschaften gibt es zwei allgemeine Körperschaften zur Förderung der Naturwissenschaft — die Royal Society und die British Association, die in Großbritannien einer Art Parlament der Naturwissenschaftler am nächsten kommen. Die Royal Society hat, ebenso wie die meisten Institutionen in Großbritannien, im Laufe ihrer Geschichte ihre Funktion unmerklich geändert, aber ihre ursprüngliche Form beibehalten. Die Funktionen, die sie heute ausübt, sind sehr viel weniger umfassend, als ihre Gründer ihr zugedacht hatten.3 Dies großenteils deshalb, weil viele ihrer ursprünglichen Funktionen von den einzelnen wissenschaftlichen Gesellschaften übernommen wurden, während ihre Aufgaben in Lehre und Forschung von den Universitäten und von staatlichen Behörden wahrgenommen werden. Die ihr verbliebenen Funktionen sind in erster Linie die eines repräsentativen Gremiums, das die zeremoniellen Aspekte der wissenschaftlichen Gemeinde betreut, einer Stelle, die für die Verteilung relativ bedeutender der drei schon erwähnten eingetragenen Organisationen (der Chemischen Gesellschaft, dem Institute of Chemistry und der Society of Chemical Industry) sowie der Association of British Chemical Manufacturers (Vereinigung der britischen Chemie-Unternehmer), welche bedeutende Industrie- und Handelsunternehmen vertritt. Der Chemical Council, der zunächst für eine Zeit von sieben Jahren gebildet wurde, setzt sich das Ziel, eine gemeinsame Grundlage für Vorhaben zu sichern, die bisher Anliegen verschiedener Organisationen waren, und dabei die Unterstützung der Industrie zu gewinnen. Die Veröffentlichung neuer Erkenntnisse, sei es in Gestalt von Originalmitteilungen oder in Gestalt von Zusammenfassungen schon erschienener Arbeiten, ist in einer Wissenschaft, die so schnell wächst wie die Chemie, von erstrangiger Bedeutung. Für jeden Chemiker, auf welchem Spezialgebiet er auch arbeitet, ist Bekanntschaft mit neuen Ansichten, neuen Entdeckungen, neuen Anwendungen, ganz wesentlich; die Veröffentlichung neuer Erkenntnisse in angemessener Form ist tatsächlich eine Angelegenheit aller Fachkollegen. Die erfolgreiche Realisierung dieses Vorhabens ist auch für die Industrie lebenswichtig, deren störungsfreies Funktionieren und deren Weiterentwicklung von der Anwendung chemischen Wissens und der Förderung der chemischen Forschung abhängen.

3

Wenn der neugegründete Chemical Council die Chemiker und die chemische Industrie zur Unterstützung der Publikationstätigkeit und zu anderen Aufgaben ähnlicher Breitenwirkung, wie etwa der Schaffung einer Zentralbibliothek, vereinen kann, wird er einen bedeutenden Fortschritt erreicht haben. Seine Gründung ist ein gewichtiger erster Schritt in Richtung auf die Herausbildung einer einheitlichen Auffassung vom Beruf des Chemikers, wie sie der Nachweis adäquater einheitlicher Qualifikationsmerkmale und die Erarbeitung eines vollständigen Verzeichnisses aller ausgebildeten Chemiker darstellen." (Ebenda, S. 58/59.) Bischof Sprat, der erste Historiograph der Royal Society, führt die mannigfachen technischen Angelegenheiten auf, mit denen sie sich beschäftigt: „Zunächst setzen sie Mitglieder daran, Verträge usw. von Staaten zu prüfen; sie beauftragen andere, mit Seeleuten, Reisenden, Handwerkern und Kaufleuten zu sprechen; dann stellen sie eine Liste von Fragen über beobachtbare Dinge zusammen. Ferner beginnen die Mitglieder eine Korrespondenz mit Ostindien, China, St. Helena, Teneriffa, der Berberei, Marokko." (Th. Sprat, History of the Royal Society 1667, London 1937, S. 155.) „Dabei haben unsere bedeutenden und reichsten Kaufleute und Bürger mit ihrer Anwesenheit viel geholfen; sie haben ihre Arbeitskräfte zur Verfügung gestellt und die Korrespondenz unterstützt; sie haben ausländische Vertreter herangezogen, um Erhebungen durchzuführen; sie haben sich in allen Ländern um Beobachtungen und Unterstützungen gekümmert." (Ebenda, S. 129.) „Sie haben vorgeschlagen, ein Verzeichnis aller Handwerksberufe und Manufakturen zusammenzustellen, . . . wobei sie alle physikalischen Rezepte, Geheimnisse, Instrumente, Werkzeuge und Maschinen, Handgriffe oder Tricks erfassen wollen . . . Sie haben empfohlen, die Herstellung von Gobelins und von

62

Forschungsmittel verantwortlich ist, einer verlegerischen Einrichtung4 und einer halboffiziellen Körperschaft, die die Regierung bei Angelegenheiten berät, die mit Naturwissenschaft zu tun haben. Seit kurzem gibt es jedoch Anzeichen dafür, daß sie die Absicht hat, ihren Wirkungsbereich in zwei Richtungen zu erweitern: einmal — innerwissenschaftlich — dahingehend, daß die Arbeit an den „Nahtstellen" unterschiedliche Fachdisziplinen durch periodische Diskussionen koordiniert werden soll, ohne daß jedoch so weit gegangen wird, Programme oder allgemeine Direktiven zu erwägen; zum anderen besteht die Tendenz, sich mit den gesellschaftlichen Auswirkungen naturwissenschaftlicher Forschung zu beschäftigen. Wenn es tatsächlich zu einer stärkeren organischen Integration der Naturwissenschaft kommen sollte, so wäre naturgemäß die Royal Society formal diejenige Körperschaft, die sie am besten realisieren könnte; es darf aber bezweifelt werden, daß sie die erforderliche Initiative und Flexibilität aufbringen würde (vgl. S. 395).

4

Seide zu fördern, ebenso wie das Schmelzen von Bleierz mit Steinkohle . . ., Versuche zu machen mit englischen Tonmineralen, um festzustellen, ob sie sich eignen oder nicht, um das Töpferhandwerk zu verbessern. Sie haben Ton- und Lehmproben verglichen, um bessere Ziegelsteine und Dachziegel herzustellen. Sie begannen, die Kartoffel zu propagieren und unternahmen Experimente mit Tabaköl . . ." (Ebenda, S. 256). - (Vgl. auch S. 285 und S. 390.) In seiner Presidential Address vor der Royal Society im Jahre 1936 sprach Sir William Bragg sowohl darüber als auch über die Stellung der Society im Gesamtrahmen der naturwissenschaftlichen Forschung in Großbritannien: „Die von der Society verwalteten Kapitalien betragen zur Zeit, einschließlich des Warrenschen Vermächtnisses, mehr als eine Million Pfund Sterling. . . . Insgesamt gibt die Society 31000 Pfund jährlich für Forschung aus. Die Verteilung fordert von den Mitgliedern einen beträchtlichen Aufwand an Zeit und Energie, und es ist mir eine angenehme Pflicht, ihre bereitwilligen und qualifizierten Dienste, die sie in zahlreichen Komitees leisten, dankend anzuerkennen. Der Gebrauch, der von diesen Geldern gemacht werden kann, ist in erheblichem Umfang durch die Satzungen der betreffenden Stiftungen beschränkt. Trotzdem besteht reichlich Gelegenheit zu einer allgemeinen Finanzierungspolitik nach Ermessen der Society. Es ist natürlich und auch richtig, daß dabei die Grundlagenforschung besonders gefördert wird, sofern es der Wille des betreffenden Stifters erlaubt, und tatsächlich begünstigen die Satzungen, in denen die Stifter ihn zum Ausdruck gebracht haben, diese Art von Forschungen. Es ist festzustellen, daß viele andere Gremien Fonds besitzen, die für ähnliche Zwecke eingesetzt werden. In einer von der Royal Commission for the Exhibition of 1851 [Königliche Kommission für die Ausstellung von 1851] veröffentlichten Aufstellung wird die Kommission selbst als eines der ältesten und die Leverhulme-Stiftung als eines der jüngsten aufgeführt. Die Liste enthält solche wohlbekannten Namen wie Carnegie-Stiftung, Halley Stuart Stiftung, Beit Memorial Fellowship Stiftung und andere. Auch City Companies [Städtische Gesellschaften] werden dort genannt. Die Aktivitäten vieler Gremien, die eigentlich spezielle Anwendungen im Auge haben, führen ebenfalls zu einer Verbesserung der Naturerkenntnis. Jeder Zweig der Streitkräfte unterhält seine eigenen Forschungslaboratorien; das tun auch der Medical Research Council, das Department of Scientific and Industrial Research, der Agricultural Research Council, die Post und so weiter. Noch intensiver mit den direkten Anwendungen naturwissenschaftlicher Erkenntnisse befassen sich die Laboratorien der Industrieunternehmen des Landes. Davon besitzen viele einen anerkannt guten Ruf. Im großen und ganzen spielt das Industrielaboratorium jedoch vielfach noch lange nicht die Rolle in der Industrie, die es spielen sollte; doch sind in den letzten Jahren zweifellos Fortschritte zu verzeichnen. Diese kurze Aufzählung einiger der Instanzen, die zur Verbesserung der Naturerkenntnisse beitragen, möchte als Hinweis darauf dienen, daß insgesamt die in dieser Richtung geleistete Arbeit sehr umfangreich ist. Sie mag weit hinter dem zurückbleiben, was man sich erhoffen könnte, doch bildet sie einen Komplex, der eine gewisse innere Logik zu erlangen beginnt, etwas, das als ein Ganzes aufgefaßt und in bezug auf seine Natur und seine Auswirkungen untersucht werden kann. Dieser Komplex beginnt, zu sich selbst zu finden, wie Kiplings Schiff. Eine unmittelbare und offensichtliche Auswirkung ist das Anwachsen der Menge der veröffentlichten Ergebnisse. Der Umfang der von wissenschaftlichen Gesellschaften veröffentlichten Literatur hat sich verdoppelt und verdreifacht, und ihre Schatzmeister stehen in vielen Fällen vor dem schweren Problem, wie sie die sich daraus ergebenden höheren Ausgaben bestreiten können. Auch zahlreiche Veröffentlichungen der Industrie enthalten Berichte über spezielle Untersuchungen. Man hat allen Grund, mit dem Anwachsen der Naturerkenntnis, das sich aus der Förderung der Forschung ergab, zufrieden zu sein.

63

Die British Association. Die British Association hat eine ganz andere Funktion. Sie bildet das einzige kooperative Bindeglied zwischen der Wissenschaft insgesamt und der Öffentlichkeit. Lange Jahre hindurch waren die Berichte über ihre Zusammenkünfte die einzige Darstellung der Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung, die die Öffentlichkeit über die Tagespresse erreichte. Diese Berichte haben daher den Charakter von Verlautbarungen eines Konzils der Naturwissenschaft ex cathedra angenommen. Als hervorstechendsten Zug enthielten sie stets die Formulierung der Ansichten der Wissenschaftler über alle „höheren" Angelegenheiten, Philosophie, Leben, Religion, Sexualität und Moral. Der eigenartige Eindruck, den der heutige Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis im allgemeinen macht, rührt großenteils aus diesen vielfach verzerrten Berichten her. In den letzten Jahren hat sich jedoch die Association mehr und mehr mit den ökonomischen, sozialen und sogar den politischen Aspekten der Wissenschaft befaßt. Bis zu einem gewissen Grade gerieten die Wissenschaftler auf die Anklagebank, und gerade auf den Zusammenkünften der Association verteidigen sie sich. In den Presidential Addresses [den Rechenschaftsberichten der Präsidenten] — und sogar in einigen der weniger spezialisierten Sitzungen — wurde, oft sogar kritisch, von der Bedeutung der Wissenschaft für die Gesellschaft gesprochen. Ganz offenbar gibt es in der Association beträchtliche Möglichkeiten, ein waches und wirksames Bewußtsein von der Bedeutung der Wissenschaft im Leben der Gesellschaft zu entwickeln, und zwar sowohl unter den Wissenschaftlern selbst als auch in der Öffentlichkeit.

Die staatliche naturwissenschaftliche Forschung In der Förderung der naturwissenschaftlichen Forschung spielt der Staat unmittelbar nach den Universitäten die wichtigste Rolle. Das Interesse des Staates an der Naturwissenschaft betrifft vier Gebiete: Militär, Industrie, Landwirtschaft, Gesundheitswesen. Die ersten beiden Aktivitäten sind eng miteinander verknüpft; aber auch im Gesundheitswesen und In gewisser Hinsicht wenigstens ist auch die Anwendung des erreichten Wissens zufriedenstellend, wenn auch die Einschätzungen darüber je nach dem Standort des Beobachters sehr weit auseinandergehen mögen. Es gibt offensichtliche Verbesserungen im Gesundheitszustand und dem allgemeinen Wohlbefinden des Volkes, in der Industrie und dem Handel des Landes sowie in seiner Verteidigungskraft, und das sind Dinge von erstrangiger Bedeutung. Obgleich sie bloße Mittel zum Zweck sind, sollte man sie und die entsprechende Anwendung des Wissens an erster Stelle im Auge haben. Zu solchen Anwendungen kann jede Art von Forschungsvorhaben beitragen; denn selbst diejenigen, die der Ansicht sind, Wissenschaft müsse betrieben werden, ohne daß man an ihre Nützlichkeit denkt, müssen zugeben, daß es schon eine sehr reine Wissenschaft sein muß, die mit Anwendungen erst, wie eine Gerade mit einer Parallelen, im Unendlichen in Berührung kommt. Im allgemeinen darf erwartet werden, daß die Begegnung so bald stattfindet, daß ihre Auswirkung für die Gegenwart von Bedeutung ist, also berücksichtigt werden muß. Das einzelne Mitglied der Society mag mit seinen Gedanken und seinen Experimenten innerhalb eines isolierten Bereichs bleiben und so den Beitrag leisten, der von ihm als Mitglied der Royal Society erwartet wird. Aber die Society als Ganzes muß den breiteren Blick haben und ständig die Beziehungen zwischen dem Fortschreiten der Naturwissenschaft und den Menschen, die davon berührt werden, im Auge behalten. Sie stellt sich dieser Verantwortung, indem sie es unternimmt, die großen Summen zu verwalten, die ihr anvertraut sind. In den ersten Jahren der Society erkannten ihre Mitglieder die Pflichten in dieser Hinsicht an, wie die Berichte über ihre Transaktionen zeigen. Viele ihrer Gründer bekleideten wichtige Ämter im Staat, und ihre Wissenschaft berührte unmittelbar die Bedürfnisse der Nation. Während der drei Jahrhunderte ihres Bestehens haben dieselben Ideale die Aktivitäten der Society beflügelt. Zu bestimmten Zeiten waren sie weniger effektiv als zu anderen, aber ihr allgemeiner Zweck wurde niemals verschleiert. Die gesamte Arbeit der Society ist somit ein wichtiger Teil eines allgemeinen Bemühens, Wissen in der Erwartung des sich daraus ergebenden Nutzens zu mehren."

64

in der Landwirtschaft steht die Forschung in einem zwar indirekten, aber keineswegs unbedeutenden Zusammenhang mit den Kriegszielen. Art und Bedeutung der staatlichen Forschung zu Rüstungszwecken werden im siebenten Kapitel ausführlich behandelt werden; an dieser Stelle genügt es zu bemerken, daß sowohl die Land- als auch die See- und Luftstreitkräfte eigene Forschungseinrichtungen unterhalten. Ihre Forschungen sind natürlich in der Hauptsache technischer, physikalischer und chemischer Natur; die Ausgaben dieser Einrichtungen beliefen sich, selbst vor der gegenwärtigen Aufrüstung, zusammen auf fast drei Millionen Pfund; das ist mindestens ein Drittel der Gesamtsumme, die für naturwissenschaftliche Forschung ausgegeben wird. Es wäre jedoch unfair, diese Zahl ohne weitere Erklärung zu übernehmen, obwohl es schwierig ist, sie einer adäquaten Analyse zu unterziehen (vgl. Anhang IV). Wir dürfen annehmen, daß ein Großteil des Geldes, das unter „Forschungszwecke" in den Streitkräften verbucht wird, nicht für wissenschaftliche Arbeit im engeren Sinne, d. h. für Arbeit in Laboratorien, ausgegeben wird, sondern für Erprobung von Waffen und Kriegsgerät, Panzern, Schiffsprototypen, Flugzeugen usw. Das Department of Scientific and Industrial Research: das National Physical Laboratory. Die industrielle Forschung des Staates unter der Leitung des D.S.I.R. läßt sich leichter überschauen. Sie wird in zwei Bereichen betrieben: in den eigentlichen staatlichen Laboratorien und im Rahmen der Industrial Research Associations [Industrie-Forschungs-Assoziationen]. Von den staatlichen Laboratorien ist das National Physical Laboratory [Nationales Physikalisches Laboratorium] bei weitem das wichtigste, es vereint in sich die Funktionen eines Zentralen Amtes für Standardisierung jeder Art von Einheiten, die in Handel und Industrie benutzt werden, und eines Forschungslaboratoriums für Technische Physik. Es umfaßt insbesondere eine für große Maßstäbe angelegte hydrodynamische und aerodynamische Ausrüstung, wie Schlepprinnen und Windkanäle, die für den Bau von Schiffen bzw. Flugzeugen wichtig sind. Ferner enthält es die vollständigste Ausrüstung zur Prüfung von Werkstoffen unter industriellen Nutzungsbedingungen. Die Ergebnisse der Arbeit des National Physical Laboratory werden in seinen Jahresberichten vollständig aufgeführt. Es entsteht der Eindruck, daß die routinemäßigen Überprüfungen einen zu beherrschenden Platz einnehmen und sozusagen seine übrige Arbeit steril machen. Die Prüfung von Werkstoffen oder Verfahren durch ein staatliches Laboratorium hat natürlich das Ziel, Fehler zu finden, und die positive Arbeit des Laboratoriums scheint auf Bemühungen gerichtet zu sein, die in der Praxis auftretenden Fehler zu korrigieren. Diese Arbeit ist naturgemäß sehr wichtig; sie muß offenbar in jedem System angewandter naturwissenschaftlicher Forschung geleistet werden. Dennoch kann vernünftigerweise darauf gedrungen werden, daß die Arbeit einer Einrichtung wie des National Physical Laboratory nicht auf solche Erwägungen beschränkt wird, sondern sich mindestens ebenso stark mit der Entdeckung neuer Möglichkeiten wie mit der Behebung alter Fehler befaßt. Wie gut dies geschehen könnte, zeigen diejenigen Abteilungen des Laboratoriums, die am engsten mit der Forschung der Streitkräfte in Berührung kommen, nämlich die Abteilungen für Aerodynamik und für Funktechnik, wo neue Verfahren und Weiterentwicklungen die Überlegungen bestimmen. Die Aufgabe des National Chemical Laboratory ist noch enger bestimmt; im Grunde ist es ein analytisches Laboratorium zur Unterstützung des Board of Trade* bei der Standardisierung von Waren nach chemischen Gesichtspunkten. Der Staat nimmt jedoch nur geringen Einfluß auf die Leitung der chemischen Forschung.

* Board of Trade : etwa Amt für Warenprüfung. 5

Bemal

65

Brennstoff-Forschung. Neben den genannten Institutionen sind 'die wichtigsten staatlichen Einrichtungen das Fuel Research Board [Amt für Brennstofforschung] und das Food Investigaron Board [Amt für Ernährungsforschung]. Die Aufgabe des Fuel Research Board, für das fast ebensoviel Geld ausgegeben wurde wie für das National Physical Laboratory (vgl. Anhang II(A)), besteht darin, die Nutzung von Kohle und insbesondere die Gewinnung von Benzin aus Kohle zu untersuchen und Großbritannien von Öllieferungen aus dem Ausland unabhängig zu machen. Daher braucht seine Bedeutung im Rahmen einer nationalen Verteidigungspolitik nicht hervorgehoben zu werden. Es dürfte jedoch interessant sein festzuhalten, im Zusammenhang mit dem Problem der Beziehung zwischen staatlicher Forschung und Industrie, daß die Methode der Kohleverflüssigung, die großenteils vom Fuel Research Board entwickelt wurde, tatsächlich nicht von einem verstaatlichten Unternehmen realisiert, sondern der Imperial Chemical Industries (I.C.I.)* zur Nutzung übertragen und dabei im Grunde.noch erheblich vom Staat subventioniert wurde; das nach diesem Verfahren gewonnene Benzin wurde nämlich von einer Steuer befreit, die vier Fünftel des Verkaufspreises ausmachte. Ernährungsforschung. Das Food Investigation Board ist eine der staatlichen Forschungseinrichtungen, die am schnellsten wachsen. Es hat sich fast ausschließlich mit Methoden zur Konservierung von Lebensmitteln beschäftigt. Ursprünglich sollten diese Untersuchungen einheimischen Lebensmittelproduzenten zugute kommen; tatsächlich aber stellte sich heraus, daß die Forschung zu solchen effektiven Methoden der Nahrungsmittelkonservierung führte, daß in viel größerem Umfang Transporte von Lebensmitteln aus weit entfernten Ländern möglich wurden. Dies verschaffte Waren aus den Ländern des Empire und aus anderen Ländern eine Vorzugsstellung, die nur zum Teil durch Einfuhrzölle aufgehoben wird. Was an dieser Art Forschung sehr auffallt, ist die Tatsache, daß die Naturwissenschaft äußerst effektiv ist, wenn sie auf einfache Verfahren zur Aufbewahrung und Behandlung von Lebensmitteln angewandt wird, die aus einem vorwissenschaftlichen Zeitalter stammen. Sie zeigt, daß in adäquatem Umfang angewandte biologische Techniken zu den erstaunlichsten Ergebnissen führen und zusammen mit modernen Methoden der Landwirtschaft das Problem der Versorgung der Welt mit Lebensmitteln — wenigstens technisch — lösen könnten. Was uns noch fehlt, sind die sozialen und ökonomischen Faktoren, die zur Realisierung dieser Möglichkeiten erforderlich sind. Forstwesen und Bauwesen. Zwei weitere Einrichtungen, die Beachtung verdienen, sind das Forest Products Institute und das Building Research Institute [das forstwirtschaftliche und das bauwirtschaftliche Forschungsinstitut]; beide berechtigen zu hohen Erwartungen, werden aber durch bürokratische Beschränkungen und den anarchischen Charakter der Wirtschaftszweige, denen sie dienen sollen, behindert. Wie schwierig die Lage der Forschung auf dem Gebiet des Nutzholzes ist, wird aus einem Bericht dieser Institution deutlich: „Die Untersuchungsarbeit im Laboratorium ist nur das mittlere Glied einer dreigliedrigen Kette, die den Wald in den überseeischen Ländern des Empire mit dem Verbraucher von Nutzholz im Vereinigten Königreich verbindet. Die drei Glieder sind: (a) Informationen über Angebot und Preise, (b) Informationen über die Eigenschaften des Holzes; (c) Marktbearbeitung. Wir sehen es als unsere Pflicht an, diese Gelegenheit zu ergreifen, um unsere Ansichten zu wiederholen, nämlich, daß mit dem Verschwinden des Empire Marketing Board [Behörde für das gesamte Absatzsystem im Empire], dessen Arbeitsbereich alle drei Glieder umfaßte, keine Lücke entstehen darf, damit für das erste und das dritte Glied * Die I.C.I. (Imperial Chemical Industries) ist ein britischer Chemiekonzern.

66

dieser Kette nicht weniger adäquat gesorgt wird als für das zweite. Die Arbeit in Princes Risborough über die Hölzer des Empire fortzusetzen ohne echte Informationen über das Angebot, hieße ein Haus ohne Fundamente zu bauen. Dies zu tun ohne eine ordentliche Marktorganisation, hieße, ohne Türen und Fenster zu bauen." 5 Seit damals hat die Gründung des Colonial Forest Resources Developing Department [Amtes zur Entwicklung der Forstressourcen in den Kolonien] einiges dazu beigetragen, diese Anomalien zu beseitigen; doch bleibt noch viel zu tun. Die Building Research Station ist insofern einzigartig, als sie sich zum Teil sowohl mit dem Konsumenten als mit dem Produzenten befaßt. Sie hat sich in den letzten Jahren mit Überlegungen über die beste Beschaffenheit von Wohnhäusern in bezug auf Äußeres, Wärmedämmung und Wohnqualität beschäftigt. Die Research Associations. Die Research Associütions des D.S.I.R. wurden gegen Ende des Weltkrieges ins Leben gerufen, zu dem ganz bestimmten Zweck, den britischen Industriellen den Wert angewandter Forschung zu demonstrieren und zu verhindern, daß sich der Zustand von 1914 wieder einstellt, als die vor sich hindämmernde britische Industrie von der mehr wissenschaftlich durchdrungenen Industrie der Deutschen glatt überfahren wurde. Eine Million Pfund Sterling wurde vom Staat gezeichnet und auf der sogenannten „Pfund-um-Pfundbasis" bereitgestellt, d. h., zu jedem von einem Industriekonzern gezeichneten Pfund Sterling wurde ein Pfund Sterling vom Staat gewährt. Man hatte geglaubt, zu dem Zeitpunkt, zu dem diese Million Pfund ausgegeben sei, würde die Industrie den Wert der Forschung begriffen haben, und dann würde keine weitere Unterstützung dieser Art mehr notwendig sein. Wie sich herausstellte, wurden diese Ziele nur zum Teil erreicht. Etwa zwanzig Research Associations wurden ins Leben gerufen, hauptsächlich zwischen 1918 und 1920, die ungefähr die Hälfte der produzierenden Industrie des Landes erfaßten. Die anderen Industrien, meist alte und traditionelle, glaubten, sie könnten auch ohne Naturwissenschaft gut weitermachen; jedenfalls sei, wenn überhaupt etwas nicht in Ordnung wäre, ein Schutzzoll eine bessere Hilfe und würde sie außerdem nichts kosten. Nach den ersten fünf Jahren wurde ein System abnehmender Staatszuschüsse eingerichtet; es bewährte sich nicht, und daraufhin wurde ein neues System mit bestimmten Fristen eingeführt. Von Experten wurde für jeden Industriezweig eine Stichzahl festgesetzt; erst wenn eine dieser Zahl entsprechende Summe von der Industrie selbst aufgebracht worden war, garantierte der Staat sein „Pfund- um-Pfund" bis zu einem Limit, der das Doppelte der Stichzahl betrug. Wenn davon voller Gebrauch gemacht wurde, trug also der Staat ein Drittel der GesamtAusgaben für industrielle Forschung. Dieser Fonds von einer Million Pfund Sterling war im Jahre 1932, der Zeit des Tiefpunktes der Depression, ganz und gar aufgebraucht. Wenn nicht die ganze industrielle Forschung aufgegeben werden sollte, was mit der Kautschukforschung zeitweilig der Fall war, blieb nichts anderes übrig, als die staatlichen Subventionen fortzusetzen. Die Situation verbessert sich, sie ist aber zugegebenermaßen noch lange nicht befriedigend. In dem am 31. März 1936 ablaufenden Rechnungsjahr wurden 346479 £ für die Research Associations ausgegeben, davon 108951 £ aus staatlichen Mitteln. Die hauptsächlichen Schwierigkeiten sind finanzieller Art, aus Gründen, die später diskutiert werden. Die Beiträge der Industrie für die Associations sind klein und unregelmäßig, schwanken naturgemäß stark mit dem Auf und Ab der Konjunktur; die des Staates haben leider die Tendenz, demselben Rhythmus zu folgen. So ergibt sich ein sehr ungewisser Zufluß, der eine langfristige Planung der Forschung verhindert und zu einer Konzentration auf unmittelbare, oft relativ triviale Probleme zwingt. Die Situation wird in einem der 5

Aus: Report of the Advisory Council of D.S.I.R.

[Bericht des Beirates des D.S.I.R.], 1932/1933.

67

Berichte (1933) treffend geschildert: „Inadäquate Mittel behindern auch weiterhin die Research Associations in jeder Hinsicht. Es warten Probleme auf ihre Lösung, die keineswegs hochwissenschaftlich sind, vorausgesetzt, die Mittel zu ihrer angemessenen Bearbeitung durch kompetente Wissenschaftler sind vorhanden. Da aber die Mittel fehlen, um hinreichend viele Mitarbeiter einzustellen und sie mit den erforderlichen Geräten auszustatten, bleiben die Probleme ungelöst. Es ist unmöglich, vernünftig zu planen, wenn die finanziellen Bedingungen unsicher sind, wenn die kurzfristige Voraussicht über die langfristige die Oberhand gewinnt, mit dem Ergebnis, daß Forschungen von lebenswichtiger Bedeutung, die aber nicht unmittelbar produktiv sind, immer mehr von ad-hoc-Untersuchungen verdrängt werden. Kurz gesagt, Research Associations können die Forschungen, die im Interesse des. industriellen Fortschritts gefordert werden, weder effektiv durchführen, noch können sie Pläne für wichtige Abschnitte ihrer Arbeitsprogramme machen, wenn sie ihren wissenschaftlichen Mitarbeitern keine Aussicht auf vernünftige finanzielle Sicherheit bieten können, und darauf können sie nur hoffen, wenn man ihnen finanzielle Unterstützung garantiert, die sie in die Lage versetzt, ihre Aktivitäten über eine Periode von Jahren zu entwickeln. . . . Allein eine wissenschaftliche Geisteshaltung und eine ständige aufmerksame Prüfung der Produktionspraxis im Lichte des verfügbaren technischen Wissens werden der Industrie den vollen Vorteil neuer Fortschritte sichern." 6 Seit damals hat sich natürlich die Lage erheblich verbessert, und die Eingänge bei den Research Associations, sowohl aus staatlichen als auch aus industriellen Quellen, sind schnell gestiegen (vgl. Anhang II(C)). Das hat zu einer beschaulichen Haltung und zu der Annahme geführt, mit der Anwendung der Naturwissenschaft in der britischen Industrie sei alles zum besten bestellt. Jetzt besteht Gelegenheit, die Forschung so auszustatten, daß die Arbeit vor den Auswirkungen der nächsten Krise bewahrt und weitergeführt werden kann (vgl. S. 317 und Anhang V). Da aber die Behörden entweder glauben, es käme nie zu einer nächsten Krise, oder aber, das System würde sie nicht überleben, sind die Aussichten, daß etwas geschieht, sehr schwach. Die Arbeit der Research Associations ist von mehr unmittelbar technischem Charakter als die des National Physical Laboratory oder der ihm angeschlossenen Institute. Die behandelten Probleme sind meistens solche, die sich aus Schwierigkeiten ergeben, die bei industriellen Prozessen auftreten, wie etwa die Ermüdung von Metallen unter gewissen Beanspruchungen oder das Mattwerden von Schokolade bei längerem Lagern. 7 Ziemlich oft jedoch führt die Bearbeitung solcher scheinbar kleinen Probleme zu ganz erheblichen Einsparungen in der Industrie. So ergaben sich aus einer Untersuchung der Qualität des Kokses, der zum Schmelzen von Eisen verwendet wird, eine Brennstoffeinsparung von 800000 £ jährlich, und aus einer Untersuchung des Schimmels von Gefrierfleisch eine Einsparung von 300000 £ jährlich (vgl. Anhang V). Diese Beispiele sollen zeigen, daß selbst dann, wenn in äußerst beschränktem Umfang gearbeitet wird und im Grunde nur Probleme der Beseitigung von Schäden in Angriff genommen werden, die Anwendung der Naturwissenschaft in der Industrie zu ökonomischen Ergebnissen führen kann, im Vergleich zu denen die Kosten der Forschung vernachlässigt werden können. Anhang II (C) führt die zur Zeit existierenden Research Associations auf. Sie lassen sich grob in sechs Gruppen zusammenfassen, deren relative Bedeutung nach der Summe der 6 7

Ebenda. Für weitere Einzelheiten sei der Leser auf die jährlichen Berichte des D.S.I.R. verwiesen; sie erscheinen im H. M. Stationary Office [„Seiner Majestät Amt für Veröffentlichungen", der Stelle für regierungsoffizielle Veröffentlichungen],

68

Gelder beurteilt werden kann, die ihnen zur Verfügung stehen. Die wesentlichen Entwicklungen werden für die Schwerindustrie, die Elektroindustrie und die Textilindustrie ausgewiesen. Zu denen, die nicht erwähnt werden, gehören Maschinenbau im engeren Sinne, Schiffbau, Zementindustrie, Ziegeleien, die Glasindustrie, die Brauereien und die Tabakindustrie. Viele der Industrien, die keine Research Associations haben, sind alte und traditionelle Industriezweige, die in vielen Fällen aus zahlreichen kleinen Firmen bestehen, die die Notwendigkeit wissenschaftlicher Forschung nicht einsehen, keinen Bedarf an wissenschaftlicher Forschung verspüren oder ihr tatsächlich Mißtrauen entgegenbringen, weil sie fürchten, Geschäftsgeheimnisse preisgeben zu müssen. Die chemische Industrie gehört einer ganz anderen Kategorie an, obwohl sie ebenfalls nicht durch eine Research Association vertreten ist. Hier handelt es sich um große Monopole mit breitgefächerten internationalen Verbindungen, die es vorziehen, eigene Forschungen zu betreiben, und kein Verlangen haben, staatliche Stellen daran zu beteiligen. 8 Research Grants [Forschungsstipendien]. Neben den Associations finanziert das D.S.LR. eine Reihe von Stipendien für junior und senior research students, zumeist an Universitäten. Hier hat es zugegebenermaßen eine Aufgabe übernommen, die das Ministery of Education [Ministerium für Ausbildung] zu erfüllen versäumte. Die Anzahl der Stipendiaten ist klein — etwa achtzig jährlich von den zweitausend honours graduates* in den Naturwissenschaft. Jedoch ist die Nachfrage nach für die Forschung ausgebildeten Absolventen so gering, daß nur ein Drittel von ihnen in der industriellen Forschung weiterarbeitet. Dieser Teil der Aktivitäten des D.S.LR. stellt eine beträchtliche Unterstützung der Grundlagenforschung dar; denn so klein die Anzahl der Absolventen ist, sie bilden eine Ergänzung der Forschung an den Universitäten. Das ganze System ist jedoch anomal, da nicht versucht wird, die Arbeit zu koordinieren oder sie mit industriellen Problemen zu verknüpfen. Die Stipendien selbst sind so gering, daß man kaum davon leben kann (vgl. S. 103), und es ist höchst zweifelhaft, ob sie den Zweck erfüllen, zu dem sie geschaffen wurden. Wie man sieht, gibt es in Großbritannien dank dem D.S.LR. ein Netz, das — wenn auch unvollständig — die meisten industriellen Verfahren erfaßt. Sicherlich steht die staatliche Forschung den Tagesproblemen näher als die Forschung an den Universitäten. Es kann sogar sein, daß dieses System im gegenwärtigen Wirtschaftssystem das beste ist, das vom Staat angeboten werden kann, um Naturwissenschaft in die Industrie zu tragen. Eines seiner Hauptprinzipien besteht darin, behutsam an die Industriellen heranzutreten, ihnen taktvoll die Vorteile der Forschung zu erklären und dabei alle Garantien dafür zu bieten, daß der Staat nicht mit ihnen zu konkurrieren beabsichtigt. In dieser Weise hat die Forschung im Laufe von etwa zwanzig Jahren die fortgeschrittenere Hälfte der britischen Industrie durchdrungen. Eine weniger rücksichtsvolle Politik wäre vielleicht fehlgeschlagen, doch wäre es optimistisch zu behaupten, die erreichten Ergebnisse würden auch nur in etwa den Anforderungen genügen, die man, selbst unter kapitalistischen Verhältnissen, an ein staatliches System zur Förderung der Anwendung der Naturwissenschaft stellen kann.

8

Vgl. dazu das Protokoll der Ausführungen, welche die I.C.I. vor der Royal Commission on Private Manufacture of Armaments [Königlichen Kommission zur privaten Rüstungsproduktion] gemacht hat. * Honours graduates: Absolventen mit gutem Abschlußexamen.

69

Die medizinische Forschung Der Medical Research Council. Nicht nur an der Forschung für die Streitkräfte und über das D.S.I.R. sowie an den Research Associations ist der Staat direkt beteiligt; er befaßt sich unmittelbar auch mit medizinischer und landwirtschaftlicher Forschung. Der Medical Research Council wurde im Jahre 1920 gegründet, um die Tätigkeit der mehr oder weniger getrennt voneinander existierenden Einrichtungen zur Unterstützung der medizinischen Forschung zu koordinieren. Verwaltungsmäßig unterscheidet sich der Council erheblich vom D.S.I.R., da er mehr eine beratende Körperschaft als ein Exekutivorgan ist und die ihm zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel viel kleiner sind — sie machen gegenwärtig (1938) 'nur 195000 Pfund Sterling jährlich aus. Dem Council unterstehen direkt seine Institute, von denen das National Institute for Medical Research in Hampstead [London] das bedeutendste ist; die laufenden Kosten dieser Institute betragen etwa 58500 £. Vom Rest der Mittel wird das meiste zur Unterstützung einzelner Forscher im ganzen Land ausgegeben. Dabei läßt eine sich vernünftigere Koordinierung erkennen, als sie das ähnliche System des D.S.I.R. zeigt. Eine Reihe wichtiger Probleme wird für die Forschung ausgewählt, und in einigen Fällen werden diese von zusammenarbeitenden Gruppen von Forschern in Angriff genommen. Das Problem der Synthese von Vitamin D beispielsweise wurde von einer solchen Gruppe von acht Mitarbeitern am National Institute zufriedenstellend gelöst. Ein großer Teil der Arbeit verläuft jedoch, wie aus den Berichten ersichtlich ist, völlig unkoordiniert und besteht aus der Finanzierung von Forschungsvorhaben, die in den Augen prominenter Persönlichkeiten Ergebnisse von medizinischer Bedeutung zu versprechen scheinen. Dabei wird viele gute Arbeit geleistet — beispielsweise wurde das Institut für Biochemie in Cambridge großenteils von dieser Seite finanziert —, doch sie stellt nur einen Bruchteil dessen dar, was ein vernünftiges System leisten könnte. Überdies fehlt der Politik des Medical Research Council jede echte Kontinuität. Sie ist ständig dem Konflikt zwischen zwei verschiedenen Auffassungen von medizinischer Forschung ausgesetzt, der klinischen und der naturwissenschaftlichen. Die erste Auffassung besteht darin, daß Ergebnisse von unmittelbarer medizinischer Bedeutung angestrebt werden und daß die Forscher in der Regel promovierte Mediziner sein sollten. Die Gefahr einer zu ausschließlich medizinischen Sicht ohne hinreichend breiten naturwissenschaftlichen Hintergrund wurde im Jahre 1934 von Sir F. Gowland Hopkins in seiner Presidential Address vor der Royal Society eindrucksvoll dargelegt. 9

9

Sir Frederick Gowland Hopkins führte in seiner Presidential Address auf der Jahrestagung der Royal Society im November 1934 aus (Proceedings of the Royal Society, Bd. 148, S. 24/25): „In der Geschichte jeder Wissenschaft, die sich mit lebenden Organismen beschäftigt, ist eine natürliche Aufeinanderfolge zu erkennen. Zunächst kommt die rein deskriptive Phase mit den morphologischen Untersuchungen, die schließlich zu Bemühungen zu einer Klassifizierung führen. Dann folgen die Untersuchung der Funktion und das Bestreben, Korrelationen zwischen Funktion und Struktur zu finden. Danach finden die Natur der Stoffe, welche Struktur und Form stützen, Aufmerksamkeit, und erst später unternimmt man Anstrengungen, dem dynamischen und molekularen Geschehen nachzuspüren, das allen Äußerungen aktiver Funktionen zugrunde liegt. Die moderne Biophysik und Biochemie befassen sich mit der letztgenannten Aufgabe, deren Lösung, obwohl erst seit kurzem in Angriff genommen, heute Fortschritte macht, wobei dieser Fortschritt immer schneller vor sich geht. Ich bin davon überzeugt, daß wir uns schließlich von diesem unsichtbaren Geschehen und seinem Ablauf im lebenden Gewebe ein adäquates Bild vor unserem geistigen Auge werden machen können. Wir werden dann in der Lage sein, diese vorstellungsmäßig erfaßten Phänomene gedanklich tiefer zu durchdringen. Krankheiten werden dann von einem neuen Standpunkt aus gesehen werden. Ich glaube tatsächlich, daß selbst heute schon diejenigen, die in den Begriffen der Molekularereignisse denken, Visionen von einem Fortschritt haben, welche denjenigen versagt sind, deren Denken allein vom Sichtbaren geleitet wird.

70

Der naturwissenschaftliche Aspekt der Arbeit des Councils leidet hauptsächlich, selbst wo er am höchsten entwickelt ist, darunter, daß er unzureichend mit finanziellen Mitteln ausgestattet ist und daß es ihm an einer umfassenden Leitung gebricht. 10 Dem Council steht nicht genug Geld zur Verfügung, um ihm zu ermöglichen, mehr als eine relativ kleine Zahl von Forschern auf physiologischem und biochemischem Gebiet an den Universitäten zu finanzieren. Daher kommt es zu der Tendenz, daß die Arbeit in subjektivistischen und unkoordinierten Bahnen verläuft, wovon schon im Zusammenhang mit der Forschung an den Universitäten die Rede war. Außerdem wird die allen vom Staat unterstützten Wissenschaftlern gemeinsame Unsicherheit des Arbeitsplatzes in diesem Fall noch dadurch Zu dem Fortschritt eines solchen Wissens können Untersuchungen am gesunden Körper nur sehr wenig beitragen, wenn überhaupt etwas. Sie werden natürlich gemerkt haben, daß ich bisher vom Fortschritt und nicht von der Anwendung des Wissens gesprochen habe. Hier will ich eine Pause machen, um Sie zu bitten, mich nicht als jemand anzusehen, der nur Obstruktion treibt; ich möchte nicht, daß Hindernisse vor Aktivitäten auf einem Gebiet aufgetürmt werden, das von der Natur der Sache her immer von großer Bedeutung sein wird. Ich persönlich würde gern einen Lehrstuhl für experimentelle Medizin an jeder Universität sehen, die imstande ist, für einen solchen Lehrstuhl eine adäquate Klinik zu unterhalten. Mehr noch — wenn klinische Wissenschaft gefördert werden soll, ohne daß die Wissenschaft im Laboratorium vernachlässigt wird, so wünsche ich die Förderung so großzügig wie möglich. Ich dränge nur darauf, daß bei jeder Planung einer zukünftigen Finanzierung der medizinischen Forschung angemessen berücksichtigt wird, wie relativ weit das Feld ist, auf dem neue Erkenntnisse gesucht werden sollten. Ich glaube jedoch die Anfange einer entschiedenen Strömung in Großbritannien und in der Tat auch anderswo zu spüren, zwar das Laboratorium nicht zu ignorieren, aber doch bei der Verteilung der für die medizinische Forschung zur Verfügung gestellten Mittel die Klinik in einem Maße zu bedenken, das die Zukunft der Grundlagenforschung in den biologischen Wissenschaften gefährden könnte. Der Tenor meiner Bemerkungen entspringt meiner Überzeugung, daß eine solche Politik auf die Dauer gesehen den Fortschritt steril machen würde. Ich fühle mich veranlaßt, hier ein Zitat anzuführen, auf das mich Knud Faber hingewiesen hat. Es entstammt den Schriften des großen französischen Arztes Charcot. Charcot lehrte, daß klinische Beobachtung immer die höchste Instanz zur Rechtfertigung der Klinik selbst sei, aber er sagt dazu, ,daß sie ohne wissenschaftliche Erneuerung schnell zu einer veralteten Routine, zum Stereotyp' Würde. Charcot war sich darüber im klaren, sagt Faber, daß die Grundlagenforschung die Quelle ist, aus der die klinische Beobachtung und die klinische Analyse immer ihre Impulse für Fortschritte schöpfen müssen." 10

Eine etwas andere Ansicht von der Arbeit des Medical Research Council vermittelt der Report on the British Health Service [Bericht über die britischen Gesundheitseinrichtungen], den P.E.P.* zusammengestellt hat, S. 312: „Die klinische Forschung war früher eng mit einer spezialisierten Praxis verbunden. In der Chirurgie, die ebenso sehr eine Kunst wie, eine Wissenschaft ist, ist das unvermeidlich. In einigen Disziplinen jedoch kann es von Vorteil sein, die Funktion des medizinischen Forschers von der des praktizierenden Arztes zu trennen. Ärztliche Praxis und medizinische Forschung wurden zum Teil dadurch zusammengeschirrt, daß die Einkünfte des Forschers minimal waren. Neuerdings werden jedoch Maßnahmen getroffen, um den ganz in der Forschung Tätigen Gehälter zu garantieren, die es ihnen ermöglichen, auf die Einnahmen aus privater Praxis zu verzichten. Der Medical Research Council hat mit einigem Erfolg versucht, die Anzahl der vollen Stellen in Forschung und Lehre zu vergrößern und damit die Abwanderung jüngerer Forscher in die private Praxis aufzuhalten. Besondere klinische Forschungszentren wurden vom Council an führenden Krankenhäusern Londons geschaffen (darauf wird in Kapitel V eingegangen). Diese Politik wird auch von den Nuffield Trustees [vgl. Anmerkung 13] in Oxford verfolgt. Trotzdem gibt es, außer der Liebe zum Fach, wenig, was einen hervorragenden Studenten veranlassen könnte, sich nach seiner Promotion der medizinischen Forschung zu widmen. Es gibt auch in einigen Disziplinen noch zu wenig Vorsorge, um zukünftige Forscher zu gewinnen und auszubilden, obwohl eine beträchtliche Anzahl von Stipendien und research grants [regelmäßigen Zuschüssen f ü r Forscher] gewährt wird. Die Ergebnisse der medizinischen Forschung werden den Studenten an medizinischen Ausbildungsstätten, anderen Interessenten durch Fachzeitschriften vermittelt; doch ist es im allgemeinen dem praktischen Arzt kaum möglich, über alle neuesten Forschungsergebnisse informiert zu sein. Die Einrichtung von Weiterbildungslehrgängen und die Bereitstellung von Geldern für Kassenärzte, die an Kursen teilnehmen wollen, durch das britische Gesundheitsministerium und das schottische Gesund-

71

vergrößert, daß es für sie schwierig ist, irgendeine andere Stelle zu bekommen. 11 Das erhöht den schon bestehenden Druck auf medizinische Forscher, sich zu praktizierenden Ärzten weiterzubilden, eine Politik von sehr zweifelhaftem Wert, da sich die Befähigung für die Forschung von der für die medizinische Praxis erheblich unterscheidet und der Erwerb eines medizinischen Grades in jedem Fall den Verlust von zwei bis vier Jahren an Zeit für die Forschung bedeutet.

heitsamt werden die Verbreitung des Wissens über Forschungsergebnisse erleichtern. Wie in Kapitel III dargelegt wurde, werden die Ergebnisse der Forscher auf dem Gebiet der gesundheitlichen Bedingungen in der Industrie nicht in die Praxis überführt, ja von den Unternehmern nicht einmal zur Kenntnis genommen, zum Teil deshalb, weil das Industrial Health Research Board [Amt zur Erforschung der gesundheitlichen Bedingungen in der Industrie] daran gehindert wird, seine Feststellungen zu popularisieren, weil es sonst in einem Maße in Kontroversen einbezogen würde, das seine neutrale und unparteiische Position beeinträchtigen könnte. Trotz mancher Schwächen ist die medizinische Forschung vermutlich insgesamt umfassender, besser geplant und organisiert, personell besser ausgestattet und finanziell großzügiger unterstützt als jeder andere entscheidende Zweig der Forschung in Großbritannien, von der Forschung im Zusammenhang mit Verteidigungszwecken abgesehen. Sie hat die großen Vorteile einer lebendigen Tradition mit herausragenden Persönlichkeiten und Schulenbildung sowie in vielen Zweigen Mitarbeiter von hohem Rang. Sie ist besonders stark in der Grundlagenforschung in Physiologie und Pathologie, doch ist, obwohl ihr Spektrum sehr breit ist, weit mehr Arbeit an ökonomischen, sozialen, psychologischen und anderen Problemen notwendig, welche häufig die Ursache von Arbeitsuntauglichkeit sind. Die zusätzliche Forschung, die am dringendsten erforderlich ist, ist nicht rein medizinischer Art, sondern gemischten und angewandten Charakters, gehört also großenteils zum Aufgabengebiet des britischen Gesundheitsministeriums und des schottischen Gesundheitsamtes. Diese Behörden haben in letzter Zeit ausgezeichnete Arbeit dieser Art geleistet, beispielsweise, als sie die Ursachen der Müttersterblichkeit in England und Wales im Zusammenhang mit sozialen Bedingungen untersuchten oder als sie dem Auftreten von Krankheiten bei Versicherten in Schottland nachgingen. Arbeiten dieser Art, welche die Kluft zwischen dem Laboratorium und dem täglichen Leben überbrücken, könnten noch auf weite Gebiete ausgedehnt werden. Eine gleichermaßen ernste Schwäche der medizinischen Forschung ist die Tatsache, daß es keine Art von Öffentlichkeitsarbeit gibt, die dem Publikum, einschließlich solcher speziellen Gruppen wie Fabrikbesitzern und Fabrikarbeitern, das Wesen der vielen wertvollen Entdeckungen nahebringt, die darauf warten, entsprechend genutzt zu werden. Forschung, die breite menschliche Probleme berührt, deren Ergebnisse aber in wenig gelesenen technischen Berichten begraben werden, brauchte eigentlich überhaupt nicht betrieben zu werden. Der Medical Research Council warf diese Frage in seinem Bericht für 1934—35 auf, doch gibt es bisher noch keinerlei Vorkehrungen, um die Öffentlichkeit in verständlicher Weise über medizinische Entdeckungen zu informieren, die sie unmittelbar betreffen und die großenteils mit Hilfe öffentlicher Gelder erzielt wurden. Selbst wenn man berücksichtigt, daß gewisse Informationen nur die Mediziner angehen, und daß über die zweckmäßigste Stelle, welche informiert, verschiedene Meinungen bestehen können, ist völlig klar, daß irgend jemand der breiten Öffentlichkeit eine Menge über Gesundheitsprobleme berichten müßte, über die sie gegenwärtig von niemandem informiert wird!" * P.E.P.: Society for Political and Economic Planning, die eine eigene Zeitschrift Planning herausgibt. 11 Professor Mottram kommentiert die Finanzpolitik des Council folgendermaßen: „Die Art, wie die Politiker das Bedürfnis nach Forschung einschätzen, wird durch die Tatsache sichtbar, daß in der Finanzkrise des Jahres 1931 in Großbritannien nicht nur die Gehälter der ständigen Mitarbeiter des Medical Research Council um 10 Prozent gekürzt wurden — was vielleicht unvermeidlich und vertretbar war —, sondern auch die Aufwendungen für die Forschung im selten Verhältnis, was vielen wertvollen Vorhaben ein Ende setzte. U m den armseligen Betrag von 19000 Pfund Sterling jährlich einzusparen, mußten Arbeiten, die ungezählte Leben hätten retten können, an Auszehrung eingehen. Geld ist nun einmal das Herzblut der Forschung. Es wird hauptsächlich gebraucht, um die Forschung zu finanzieren, es ist aber auch notwendig, um den Forscher zu bezahlen. Solche Menschen können Großbritannien und die USA im Überfluß zur Verfügung stellen — tatsächlich besteht die große Gefahr der Arbeitslosigkeit in ihren Reihen, was bedeuten würde, daß die Früchte von Jahren der Ausbildung ungeerntet vergammeln dürfen. Der Fortschritt der medizinischen Forschung wird heute in Großbritannien durch die Knauserei des Finanzministeriums aufgehalten." (R. H. Mottram, in: The Frustration of Science, London 1935, S. 81/82.)

72

Eine wertvolle Unterstützung des Medical Research Council ist das Industrial Health Research Board. Diese Behörde führt Untersuchungen vieler Aspekte von individuellen Krankheiten und von Arbeitsbedingungen in Fabriken, Werkstätten und Bergwerken durch. Berücksichtigt man, daß nach Unterernährung die Arbeitsbedingungen die Hauptursache von Krankheit und Tod sind, 12 so erkennt man, daß diese Behörde von ungeheurer Bedeutung sein kann. Wie die Dinge liegen, sind ihre Möglichkeiten durch zwei Umstände äußerst eingeschränkt. Erstens ist sie — um überhaupt in der Lage zu sein, Arbeitsbedingungen zu untersuchen — verpflichtet, eine rein beratende Körperschaft zu bleiben und weder exekutiv noch propagandistisch wirksam zu werden (vgl. Anmerkung 10). Sie ist weder befugt, nach eigenem Ermessen Arbeitsbedingungen zu überprüfen, noch damit zusammenhängende Auflagen zu erteilen; sie darf ihre Erkenntnisse nicht einmal veröffentlichen. Zweitens ist sie, obwohl sie sich nicht mehr Industrial Fatigue Board* nennt, noch nicht ganz von dem Verdacht frei, ihre Dienste würden mindestens ebenso sehr von den Unternehmern in Anspruch genommen, um die materiellen Bedingungen so zu ändern, daß das Arbeitstempo erhöht werden kann, wie zum Schutz der Gesundheit und des Wohlbefindens der Arbeiter; das verhindert eine echte aktive Beteiligung der Gewerkschaften an ihrer Arbeit. Medizinische Forschung auf privater Basis. Es erscheint zweckmäßig, an dieser Stelle auch andere Aspekte der medizinischen Forschung in Großbritannien zu betrachten. Universitäten, städtische und andere Krankenhäuser und verschiedene privat finanzierte Forschungsinstitute leisten sämtlich Beiträge zur medizinischen Forschung. Vieles davon wird in sehr kleinem Maßstab in Privatkliniken und medizinischen Ausbildungsstätten getan. Überdies ist die Art dieser Arbeit viel stärker klinisch orientiert als die vom Medical Research Council betriebene. Es ist schwer, den Gesamtbetrag zu schätzen, der dafür ausgegeben wird; er dürfte aber die Summe von 200000 Pfund Sterling jährlich nicht übersteigen. 13 Berücksichtigt man, daß die jährlichen Kosten für Behandlung und Pflege der Kranken auf 200 Millionen £ jährlich geschätzt werden 14 und davon Ärzte und medizinisches Personal mindestens 60 Millionen £ erhalten dürften, 1 5 so scheint eine Gesamtausgabe von 400000 £ für medizinische Forschung lächerlich gering. Die wesentliche Schwierigkeit besteht jedoch darin, daß zwar der Wert der medizinischen Behandlung eines Patienten letzen Endes fast ganz von der medizinischen Forschung abhängt, die Arzthonorare aber davon unabhängig 12

13

J. Kuczynski hat in New Fashions of Wage Theory [Neue Moden der Lohntheorie], London 1937, die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf Sterberaten statistisch untersucht und eindeutig festgestellt, daß das leichte Absinken der Sterberate darauf zurückzuführen ist, daß einige Krankheiten nicht mehr auftauchen, die durch Arbeitsbedingungen verursacht werden; dies ist in einem solchen Umfang der Fall, daß die durch schlechte Ernährung als Folge der Arbeitslosigkeit hervorgerufene allgemeine Schwächung mehr als ausgeglichen wird. Seit ich dies schrieb, hat sich die Situation dadurch erheblich verbessert, daß Lord Nuffield der medizinischen Forschung an der Universität Oxford eine große Schenkung machte. Es ist noch zu früh, um die Auswirkung dieser Stiftung einzuschätzen, aber es scheint, als ob sie nicht voll realisiert würde, zum Teil deshalb, weil die Umgebung von Oxford nicht genug klinisches Material liefert, zum Teil auf Grund des begrenzten Wertes der klinischen Forschung selbst; man vergleiche dazu die Ausführungen von Sir F. Gowland Hopkins in Anmerkung 9.

14

P.E.P., Report ort the British Health Service [Bericht über die britischen Gesundheitseinrichtungen], London 1937, S. 25. 15 Es gibt etwa 34000 aktiv praktizierende Ärzte. Das geschätzte durchschnittliche Brutto-Einkommen eines Kassenarztes ist 1700 Pfund Sterling, doch verdienen Spezialisten, von denen es mindestens 1000 gibt, weit mehr. Quelle: Ebenda. * Industrial Fatigue Board: Staatliche Stelle zur Untersuchung von Ermüdungserscheinungen bei Industriearbeitern. 73

sind; tatsächlich erscheint das ganze System der medizinischen Praxis um des privaten Profites willen um so absurder, je höher der Stand und je breiter die Anwendung der medizinischen Forschung sind. Relevanter als diese Erwägung ist die Tatsache, daß sich keine hinreichend organisierte Körperschaft mit der Entwicklung der medizinischen Forschung befaßt, während der völlig individualistische Charakter der medizinischen Praxis und der hoffnungslos unzureichende Stand der Finanzierung des Systems der nichtöffentlichen Krankenhäuser es praktisch unmöglich machen, die Ärzte davon zu überzeugen, daß sie eigentlich einen Beitrag zur Durchführung und Finanzierung der medizinischen Forschung zu leisten hätten — wie ein solches System auch aussehen möge. 16 Der Staat steht dem Problem offenbar äußerst gleichgültig gegenüber. Er gibt tatsächlich mehr Geld aus für die Giftgasforschung der Abteilung für chemische Kriegführung im Verteidigungsministerium (204000 Pfund Sterling) als für den Medical Research Council. Es braucht wohl nicht besonders betont zu werden, daß die medizinische Forschungsarbeit außerhalb der Aktivitäten des Council sowohl innerhalb ihres Bereichs als auch in bezug auf die Arbeit des Council praktisch völlig unkoordiniert verläuft und daß die Situation der Forscher entsprechend unsicher ist. Die Tatsache, daß die medizinische Forschung in der Vergangenheit, als die Bedingungen auch nicht besser waren, imstande war, hervorragende und sogar revolutionäre Ergebnisse in der Medizin zu erzielen, sollte nicht als Entschuldigung für die heutige Apathie und Selbstzufriedenheit angeführt werden. Die früheren Erfolge der medizinischen Forschung ergaben sich aus der Entdeckung der Keimtheorie,* die es ermöglichte, akute Krankheiten auf der Grundlage eines verhältnismäßig oberflächlichen Wissens um die Mechanismen von Infektionen und ihrer Überwindung unter Kontrolle zu bekommen. Die Probleme der chronischen Krankheiten, die unter unseren heutigen Bedingungen die meisten Todesfalle verursachen — abgesehen von denen, die Folge der Unterernährung sind — sind noch großenteils ungelöst und erfordern zu ihrer Lösung ein viel tiefer gehendes Verständnis der Physiologie. Das kann in absehbarer Zeit nur dann erreicht werden, wenn weit größere Anstrengungen zur Weiterentwicklung der medizinischen Forschung gemacht werden. Vergegenwärtigt man sich, daß auf Grund unzureichender medizinischer Forschung jährlich Tausende von Menschen vorzeitig sterben und Millionen unter Krankheiten leiden, dann ist der Zustand der medizinischen Forschung in Großbritannien nicht nur eine Schande, sondern ein Verbrechen.

Die landwirtschaftliche Forschung Die Lage der landwirtschaftlichen Forschung ist noch verworrener als die der medizinischen. Finanzielle Mittel für landwirtschaftliche Forschung stammen von mehreren Ministerien, von lokalen Behörden sowie von mehreren Gesellschaften und von Unternehmen. Ein Versuch zu einer Koordinierung wurde mit der Gründung des Agricultural Research Council** gemacht. Diese Körperschaft wurde nicht gebildet, um die Geldquellen der landwirtschaftlichen Forschung zu übernehmen und nach einheitlichen Prinzipien zu verwalten, so wie dies das D.S.I.R. auf seinem Gebiet tut, sondern nur, um zu koordinieren und Überschneidungen bei den zu leistenden Ausgaben zu verhindern. Landwirtschaftliche For16

Vgl. A. J. Cronins entlarvenden Roman über die Ärzte, The Citadel, London 1937 [Die Berlin 1969], * Vgl. J. D. Bemal, Die Wissenschaft in der Geschichte, a. a. O., S. 423—425. ** Agricultural Research Council: Rat für landwirtschaftliche Forschung. 74

Zitadelle,

schung wird in zahlreichen über das ganze Land verstreuten Einrichtungen betrieben, von denen jede ihre Mittel aus vielen verschiedenen Quellen bezieht; unter diesen Umständen sind die Schwierigkeiten, zu einem einigermaßen vernünftigen System der landwirtschaftlichen Forschung zu gelangen, praktisch unüberwindlich. Die Situation wird in einem Bericht der Society for Political and Economic Planning [Gesellschaft für politische und ökonomische Planung] zu diesem Thema in bewundernswerter Weise zusammengefaßt geschildert: „Die Art und Weise, in der in Großbritannien Geld für landwirtschaftliche Forschung ausgegeben wird, ist so sonderbar und kompliziert, daß es die Grenzen des zur Verfügung stehenden Platzes weit überschreiten würde, wollte man sie in extenso beschreiben. Kurz zusammengefaßt: England und Wales sind in Provinzen eingeteilt, die von siebzehn landwirtschaftlichen Colleges und Forschungsinstituten versorgt werden, deren Einnahmen zu neunzig Prozent aus einem staatlichen block grant* von 159000 £ stammen. Die Forschungsinstitute sind autonom, ihre Arbeit wird von Direktoren geleitet, denen Geldmittel zur Verfügung stehen, deren Höhe von Institut zu Institut differiert. Die Höhe der Beträge, welche diese Einrichtungen aus öffentlichen Mitteln erhalten, ohne die sie nicht existieren könnten, hängt von Entscheidungen ab, die in Zusammenarbeit von fünf Stellen der Zentralregierung — dem Ministerium für Landwirtschaft, der Landwirtschaftsbehörde Schottlands, der Kommission für Entwicklung, dem Agricultura! Research Council und dem Finanzministerium — einerseits, örtlichen Instanzen und den Leitern der Forschungsinstitute und Forschungslaboratorien andererseits getroffen werden. Obgleich das Schema in großen Zügen genau beschrieben werden kann, gibt es im einzelnen in den Beziehungen zwischen den verschiedenen Grafschafts-Behörden erhebliche Unterschiede, die einen Eindruck von der beträchtlichen Kompliziertheit vermitteln. Abgesehen von dem Problem der unzureichenden Mittel, beziehen sich verschiedene kritische Einwände auf die bestehenden Bedingungen für landwirtschaftliche Forschungen. Vom Standpunkt der Landwirte aus wird behauptet, ein großer Teil der zur Zeit betriebenen Forschung habe nur geringen oder gar keinen praktischen Wert, da sie ohne adäquate Berücksichtigung der tatsächlichen Bedingungen in der Landwirtschaft durchgeführt werde oder weil sie sich nur mit Einzelaspekten befasse und auf andere nicht eingehe, die aber behandelt werden müßten, ehe Maßnahmen getroffen werden könnten, oder weil ihre Ergebnisse in einer Form dargelegt würden, die der Durchschnittslandwirt nicht verstehen könne, oder gar in einer Veröffentlichung, von der er nie gehört habe. Ferner wird bemerkt, das derzeitige Organisationsschema arbeite so schwerfallig, daß es für einen normalen Landwirt schwierig sei, auf seine Fragen eine rasche Antwort zu erhalten, es sei denn, sie seien so einfach, daß sie an Ort und Stelle von dem Berater, der offenbar über die neueste spezialisierte Forschung auf sehr vielen Gebieten nicht auf dem laufenden sein könne, aus dem Stegreif beantwortet werden können. Weiterhin wird darauf hingewiesen, daß sich dank der komplizierten Aufteilung der Verantwortlichkeit die etwas sonderbare Gepflogenheit herausgebildet habe, die Interessen der verschiedenen beteiligten Instanzen zu schonen, mit dem Ergebnis, daß Erkundigungen gern mit ausnehmender Vorsicht und in einem Geist des Bürokratismus behandelt würden, wenn nicht die beteiligten Leute zufällig persönlich miteinander bekannt seien. Außerdem wird behauptet, die Verteilung der Mittel etwa zur Bekämpfung von Tierkrankheiten und für Geflügelforschung, die sehr kurz gehalten werden, einerseits, und der Obstforschung, die gut versorgt wird, andererseits, stehe in keinem Verhältnis zu der nationalen Bedeutung der mit diesen Zweigen verbundenen Industrien oder der Dringlichkeit ihres Bedarfs nach * Block grant: Vorhaben.

nicht an ein bestimmtes Rechnungsjahr gebundene Mittel zur Finanzierung bestimmter

75

Unterstützung in der Forschung. Die Verteilung von Mitteln zwischen, sagen wir, Grundlagenforschung einerseits und ad-hoc-Untersuchungen andererseits oder zwischen ökonomischer und pathologischer Forschung wird aus denselben Gründen kritisiert, und es wird vorgeschlagen; die der gegenwärtigen Verteilung zugrunde liegenden Erwägungen wenigstens öffentlich bekannt zu geben und der Kritik zugänglich zu machen, statt sich auf eine Vielfalt von Abstimmungen zu berufen, die so verworren ist, daß höchstens ein gewiefter Buchhalter die Lage klären könne. Es wird darüber geklagt, es sei keine Stelle bekannt, an die man Vorschläge oder Vorstellungen über neue Forschungsrichtungen, die des Verfolgens wert wären, in der Gewißheit herantragen könne, daß sie wohlwollend und schnell geprüft und daß Maßnahmen getroffen würden, sobald ein Vorschlag als wertvoll eingeschätzt werde. Dieser und anderer Kritik seitens der Landwirte kann einiges entgegengehalten, und weitere Einwände können erhoben werden. Der Forscher seinerseits könnte beispielsweise behaupten, es würden trotz vieler Schwierigkeiten und weitverbreiteter Obstruktion sehr wesentliche Beiträge geleistet. Er könnte darauf hinweisen, daß nur sehr wenige Leute in einem Beruf der landwirtschaftlichen Forschung erwarten können, mehr als 800 £ jährlich zu verdienen, wenn sie überhaupt an die 800 £ herankommen, während der Staat vielen seiner medizinischen und juristischen Berater Gehälter von 1000 £ und mehr zahlt. Da aber die Gehälter so niedrig und die Tätigkeiten ein und desselben Mitarbeiters in Erziehung und Ausbildung, Beratung, Forschung und Verwaltung allgemein so verzahnt sind, kann man sich vorstellen, daß unterbezahlte und überbeanspruchte Kader nicht mehr leisten können, als sie schon tun. Außerdem kann gesagt werden, daß effektive Forschung auf bewußter und intelligenter Kooperation beruht, die nicht immer mit Landwirten zustandekommt, welche nicht erwarten können, daß ihre Bedürfnisse stets erkannt werden, ohne daß sie sich mehr anstrengen, um darüber nachzudenken, worin diese Bedürfnisse bestehen und wie sie sie vorbringen müssen. Schließlich kann der Leiter einer Forschungseinrichtung geltend machen, er müsse einen großen Teil seiner Zeit damit vergeuden, Anträge auf höchst bescheidene finanzielle Zuwendungen bei einer Reihe von amtlichen und nichtamtlichen Finanzierungsinstanzen, die sämtlich nur geringe Mittel vergeben können, zu stellen und ihnen nachzulaufen. Die Verwaltung ihrerseits kann erwidern, das System, wie schwerfallig es auf dem Papier auch erscheinen möge, habe doch innerhalb des verfügbaren finanziellen und personellen Rahmens bemerkenswert gute Ergebnisse hervorgebracht: die Koordinierung werde tatsächlich sorgfaltig und ständig durch persönliche Kontakte gewährleistet; zwar könnten gelegentlich Schwierigkeiten auftreten, doch sei bisher noch kein System der Organisation erdacht worden, das zwei Menschen zur Zusammenarbeit veranlassen könnte, wenn sie diese nicht wünschen. Wir brauchen diese Überlegungen nicht weiter auszuspinnen, um zu zeigen, daß erstens das bestehende System nicht so reibungslos und effektiv funktioniert, wie es funktionieren könnte, und zweitens, daß jeder Versuch, die Schuld daran irgendwelchen seiner Glieder anzulasten, zum Scheitern verurteilt ist." 17 Hieraus ist ersichtlich, daß der gegenwärtige Zustand der landwirtschaftlichen Forschung weder für den Staat noch für die Landwirte noch für die Forscher zufriedenstellend ist. Allerdings überrascht es nicht allzu sehr, daß es so gekommen ist. Die englische Land17

Report on Agricultural Research in Great Britain. A Survey of its Scope, Administrative Structure and Finance, and of the Methods its Results known to Farmers, with Proposais for Future Development (Political and Economic Planning) [Bericht über die landwirtschaftliche Forschung in Großbritannien. Ein Überblick über ihren Umfang, ihre Verwaltungsstruktur und Finanzierung und über die Methoden, ihre Ergebnisse den Landwirten mitzuteilen, mit Vorschlägen für ihre zukünftige Entwicklung (Politische und ökonomische Planung)], in: Planning, 57/1938, S. 3—5.

76

Wirtschaft verharrt zum größten Teil auf einem Stand der Entwicklung, der im achtzehnten Jahrhundert eine Pioniertat in der Produktion von Nahrungsmitteln um des Profits willen darstellte, im zwanzigsten Jahrhundert jedoch ein reiner Anachronismus ist. Die Hauptschwierigkeit der landwirtschaftlichen Forschung besteht nicht darin, sie zu betreiben, sondern darin, ihre Ergebnisse in vernünftiger Weise in die Praxis zu überführen. Die Haupttendenz der gegenwärtigen Landwirtschaft geht darin, die Erträge mit dem Ziel einzuschränken, die Preise hochzuhalten. Das ist aber mit jeder Art von landwirtschaftlicher Forschung absolut unvereinbar. Dazu führt Sir Daniel Hall in The Frustration of Science aus: „ O b als Folge dieser Einmischungen des Staates in die Landwirtschaft oder aufgrund anderer Ursachen allgemeinerer Art, die mit dem Ungleichgewicht der Welt zusammenhängen, jedenfalls scheint der Markt mit all jenen landwirtschaftlichen Produkten überladen zu sein, die nicht nur an Ort und Stelle verkauft werden. Die Großhandelspreise liegen entschieden unter den allgemeinen Gestehungskosten, und dieses niedrige Niveau wird weltweit der Überproduktion zugeschrieben. Doch dürfte der Begriff der Überproduktion von Nahrungsmitteln gänzlich abwegig sein. Der hervorstechendste Zug in der Nachfrage des Konsumenten nach Lebensmitteln ist ihre Flexibilität, was die Qualität betrifft, selbst wenn wir annehmen, die gesamte Bevölkerung sei in bezug auf die Quantität zufriedengestellt, was jedoch noch lange nicht der Fall ist. Je niedriger das Familieneinkommen ist, desto mehr stehen Getreideprodukte — Weizen, Roggen, Mais, Reis — auf dem Speisezettel, weil diese die billigste Quelle der Energie darstellen, welche der Körper benötigt. In dem Maße, wie das Einkommen der Familie oder der Gemeinschaft steigt, wird Getreide immer mehr durch tierische Produkte — Fleisch, Milch, Eier usw. — sowie durch Gemüse und Obst ersetzt. Fleisch und andere tierische Produkte ihrerseits beruhen auf Getreide und anderen Früchten des Bodens. Daher kann ein Überfluß an Weizen in Speck und Eier umgewandelt werden; vom energetischen Standpunkt aus ist diese Umwandlung eine Vergeudung, da im Weizen fünf- bis zehnmal soviel Nährstoffe enthalten sind wie in dem Fleisch, in das er umgewandelt wird. In ähnlicher Weise besitzen Obst und Gemüse im Verhältnis zu dem, was sie kosten, d. h. zu der Menge an Arbeit, die zu ihrer Produktion aufgebracht werden muß, wenig Energie für die Aufrechterhaltung des Lebens (wieder im Vergleich zu der Arbeit, die zur Produktion von Getreide erforderlich ist). Somit wird bei gegebener Bevölkerungszahl der Gesamtanspruch an den Landwirt — das Gesamtprodukt, das vom Boden hervorgebracht werden muß — mit der Kaufkraft und dem Lebensstandard der Allgemeinheit größer werden. Die ärmeren Schichten verbrauchen außer Getreide wenig, und Getreide verlangt von einem Stück Land und der Arbeit des Landwirts am wenigsten; um den reichhaltigeren Tisch einer bessergestellten Familie zu decken, sind mehr Land, mehr Arbeit, höhere Qualifikation erforderlich. Von diesem Standpunkt aus ist es sinnlos, von einer Überproduktion von Lebensmitteln zu sprechen. Überproduktion ist jedoch vorhanden, wenn die tatsächliche Nachfrage und die jeweils gültigen Preise die Maßstäbe setzen; daher wird die Wissenschaft gebeten, ihre Bemühungen zur Steigerung der Produktion einzustellen. Das einzige Mittel zur Meisterung der Lage, das allgemein eingesetzt wird, ist die Verringerung des Aufkommens. Internationale Übereinkommen werden getroffen, um die Produktion von Weizen, Zucker und Kautschuk einzuschränken. Brasilien hat Kaffee verbrannt, die Vereinigten Staaten haben Baumwolle und Tabak untergepflügt und Ferkel geschlachtet, und der Freistaat Irland ordnet die Abschlachtung von Kälbern an. Die Forscher auf dem Gebiet der Landwirtschaftswissenschaft, eine relativ kleine Gruppe, die während der letzten fünfzig Jahre in einzelnen Ländern allmählich herangewachsen ist und eine gewisse Herrschaft über die Natur erlangt hat, stellen fest, daß sie in der Welt nicht mehr gebraucht werden. Vielleicht nicht ganz, denn wenn das Streben nach nationaler Autarkie zur Weltpolitik werden sollte, würde die 77

Aufgabe, beispielsweise in Essex Reis anzubauen, große Ansprüche an die Wissenschaft stellen. Es gibt aber einen besseren Weg, wenn der Nutzen am realen Wohlstand der Bevölkerung gemessen wird, d. h. am Anteil der Weltressourcen, der dem Individuum zur Verfügung steht, und der besteht darin, die Wissenschaft auch auf die Verteilung der Produktivität der Welt und auf die Art und Weise, in der ihre Völker regiert werden, anzuwenden. Vor einem Jahrhundert hat die Fabrik keinesfalls sofort den Handwebstuhl verdrängt, und im Fall der Landwirtschaft hat der einzeln Arbeitende den zusätzlichen Vorteil im Wettstreit, daß er wenigstens die Nahrung für seine Familie produziert. Über das Endergebnis kann jedoch kein Zweifel bestehen; Organisation, die Kapital, Energie und Wissenschaft — mit anderen Worten, die Maschine — zur Verfügung hat, wird sich durchsetzen, vorausgesetzt, es herrscht freier Wettbewerb. Staatliche Organisation der Landwirtschaft in irgendeiner Form ist unvermeidlich geworden; viele landwirtschaftliche Zweige in Großbritannien würden untergehen, wenn sie nicht .gepäppelt' würden. Bleibt die Frage, welche Form die Organisation annehmen soll: Wir haben ein einziges Beispiel in dem russischen Plan. Er ist sozusagen ein Ingenieur-Entwurf, um eine maximale Effektivität der Produktion des Bodens zu erreichen; er wurde voraussetzungslos in bezug auf Boden, Arbeitskräfte und Kapital aufgestellt, ohne Rücksicht auf irgendwelche hemmenden Faktoren außer solchen, die durch Bodenbeschaffenheit und Klima hereinkommen. Es ist die Methode der industriellen Ausnutzung, wie wir sie in einigen der großen Farmen der Vereinigten Staaten und einigen tropischen Ländern angewandt sehen, potenziert durch die alles beherrschende staatliche Organisation, auf Tausenden bis Millionen von Hektar. Ihr Ziel ist es, Nahrung und andere Bodenprodukte, die für die Nation notwendig sind, mit einem Minimum an Arbeitskräften zu sichern; dies wird ermöglicht durch den Einsatz von Wissenschaft und von Maschinen. Dadurch wird der größere Teil der bisher in der Landwirtschaft Beschäftigten für andere Zweige der Produktion frei und kann zur Erhöhung des realen Wohlstandes der Gemeinschaft beitragen. Zur Realisierung dieses Planes sind ein Ausmaß von Geschick in der Leitung und ein System der staatlichen Organisation erforderlich, das erst während des Weltkrieges ins Auge gefaßt wurde. Es setzt eine gesellschaftliche Umwälzung voraus, zu deren Durchführung kein anderes Land bereit ist." 18 Gegenwärtig werden jährlich 40 Millionen Pfund für unmittelbare Subventionen an die Landwirtschaft und noch einmal so viel an indirekten Subventionen aus Einfuhrzöllen usw. ausgegeben. Zur selben Zeit wurde ein kompliziertes System der Marktforschung ins Leben gerufen, hauptsächlich um zu verhüten, daß der Landwirt mehr als eine festgelegte Menge an Lebensmitteln produziert: mit dem Ergebnis, daß, wie Sir John Boyd Orr betont, die Hälfte der Bevölkerung nicht die Nahrungsmittel für eine gesunde Ernährung bekommt. Würden auch nur zwei Prozent der Summe, mit der die Landwirtschaft subventioniert wird, in die landwirtschaftliche Forschung gesteckt und die staatliche Autorität benutzt werden, um zu sichern, daß die Forschungsergebnisse sofort in unmittelbare Maßnahmen einfließen, wie das sogar in so relativ unterentwickelten Ländern wie Ägypten geschieht, dann müßte es möglich sein, die Produktion so hinreichend zu steigern, um die Bevölkerung neben den notwendigen Importen von Weizen und Fleisch reichlich mit Lebensmitteln zu versorgen und gleichzeitig die Produktionskosten so zu senken, daß die Landwirtschaft auch ohne Subventionen Gewinn abwerfen würde. Das komplizierte Geflecht aus Konservativismus, Vorurteil und ökonomischen Interessen, das dies verhindert, ist vermutlich für weit mehr Tod und Elend durch nackte Unterernährung verantwortlich, als zu Lasten der Tatsache geht, daß es kein öffentliches Gesundheitswesen gibt.

18

D. Hall, in:

The Frustration

of Science,

a. a. O., S. 26—39. 78

Wissenschaft in der Industrie Es ist nicht leicht, den Umfang der wissenschaftlichen Arbeit abzuschätzen, die in den Laboratorien von Industriebetrieben geleistet wird. Über diese Arbeit gibt es keine veröffentlichte Übersicht, und von der Natur der Sache her ist es sehr schwer, irgendwelche Informationen darüber zu sammeln. Ein gewisses Bild kann man sich jedoch machen, wenn man sich die Zahl der in der Industrie beschäftigten Wissenschaftler vornimmt und die Veröffentlichungen von Wissenschaftlern aus der Industrie in wissenschaftlichen Zeitschriften heranzieht. Dabei steht man zunächst vor der Schwierigkeit, zwischen Wissenschaftlern und Technikern in der Industrie zu unterscheiden. Viele Diplomingenieure im Maschinenbau und noch mehr solche der Elektro- und Chemieindustrie müssen teilweise Wissenschaftler sein, doch kann ihre Arbeit insgesamt nicht als wissenschaftliche Forschung klassifiziert werden, da sie meistens darin besteht, schon bekannte wissenschaftliche Ergebnisse in die Praxis und die Ökonomie umzusetzen. Auf der anderen Seite sind viele ausgebildete Wissenschaftler, die in der Industrie tätig sind, gerade mit ebensolchen Aufgaben beschäftigt, so daß die Anzahl der veröffentlichten Arbeiten vermutlich deutlicher auf die wissenschaftliche Bedeutung der Industrieforschung weist als die Anzahl der beschäftigten Wissenschaftler. Schon eine Analyse von Stichproben zeigt folgendes: Während die Anzahl der in der Industrie beschäftigten Wissenschaftler etwa 70 Prozent aller Wissenschaftler mit Hochschulabschluß beträgt, 19 macht die Zahl der von ihnen in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlichten Arbeiten nur zwei Prozent und selbst die in technischen Zeitschriften nur 36 Prozent der Gesamtzahl der Veröffentlichungen aus (vgl. Anhang III(B)). Dazu m u ß allerdings die wissenschaftliche Information hinzugenommen werden, die in Patenten steckt, welche zum größten Teil von Industrieunternehmen erworben werden (vgl. S. 161 — 163). Die weitaus meisten dieser Patente beziehen sich jedoch auf technische Verbesserungen, und der Beitrag der Patentliteratur zum wissenschaftlichen Fortschritt ist, abgesehen von beschränkten Gebieten, unerheblich. Man müßte aber auch den Umfang der unter Geheimhaltung betriebenen wissenschaftlichen Forschung berücksichtigen. Es ist naturgemäß völlig unmöglich, ihre Bedeutung einzuschätzen; doch dürfte sie erheblich sein, wie sich schon aus den Einwänden ergibt, die von Unternehmen gegen kollektive Forschung und gegen genauere staatliche Untersuchungen erhoben werden. Der Aufwand. Die für die industrielle Forschung ausgegebenen Summen sind, verglichen mit den Ausgaben für die staatliche Forschung, vermutlich sehr hoch. Natürlich sind genaue Zahlen kaum verfügbar, doch dürfte die Gesamtsumme etwa zwei Millionen Pfund Sterling betragen (vgl. Anhang II und Anhang III). Diese Zahl trügt jedoch, weil sie auch Beträge für Anlagen auf halbindustrieller Basis umfaßt, die nicht auf Gewinn ausgerichtet sind; diese Summe ist viel größer als die, welche für echte wissenschaftliche Forschung ausgegeben wird. Die naturwissenschaftliche Forschung in der Industrie verteilt sich sehr ungleichmäßig auf Industriezweige und auf Firmen innerhalb desselben Industriezweiges. Natürlich leisten die neueren Industriezweige, deren Existenz von der naturwissenschaftlichen Forschung insgesamt abhängt, einen viel größeren Beitrag, während die älteren, traditionellen, in vielen Fällen kaum irgendwelche naturwissenschaftliche Forschung betreiben (vgl. Anhang II (B) und Anhang V). In den meisten Fällen sind nur die größeren Unternehmen eines Industriezweiges in der Lage, Forschung zu betreiben; daher kann man sagen, daß vermutlich der

19

Hier sind natürlich die Lehrer naturwissenschaftlicher Fächer an Schulen, die zweifellos die Mehrheit der Universitätsabsolventen ausmachen, nicht mitgerechnet.

79

größere Teil der naturwissenschaftlichen Forschung der Industrie in den Laboratorien ganz weniger Unternehmen ausgeführt wird. Viele Firmen mögen einen oder zwei Chemiker für Routine-Aufgaben beschäftigen; echte Forschung erfordert jedoch mindestens fünf Mitarbeiter, und nur die etwa 350 Unternehmen mit mehr als tausend Arbeitern und kleinere spezialisierte Unternehmen in solchen Branchen wie Radio und Feinchemikalien können sich das leisten. Man darf sicherlich annehmen, daß die Anzahl der Forschungslaboratorien zwischen 300 und 600 liegt. Von diesen sind die weitaus meisten kleine Laboratorien, die sich in der Regel mit Routineprüfungen und -entwicklungen beschäftigen. Ernstzunehmende Beiträge zur industriellen Forschung kommen daher vermutlich aus weniger als einem Dutzend großer Unternehmen, die sehr große Laboratorien mit 100 bis 300 Mitarbeitern haben. Der Charakter der Arbeit. Auch der Charakter der Arbeit, die in Industrielaboratorien verrichtet wird, läßt sich sehr schwer beurteilen. Die etwa ein Dutzend Laboratorien der führenden Elektro- und Chemieunternehmen sind natürlich groß genug, so daß sie mit staatlichen Laboratorien verglichen werden können, und auch die Arbeitsbedingungen dort dürften sich nicht wesentlich unterscheiden. Wissenschaftler hoher Qualifikation werden als Direktoren eingestellt, und es wird relativ viel Grundlagenforschung betrieben. Doch besteht kein Zweifel, daß in dieser Beziehung Großbritannien sowohl hinter den Ländern des Kontinents als auch hinter den USA zurückbleibt. Es gibt eine Tradition in der britischen Industrie, die der Naturwissenschaft und demgemäß auch dem Spielraum und der Freiheit, die ihr gewährt werden müssen, feindlich gegenübersteht. In den letzten zehn Jahren sind nur wenige Ergebnisse von grundlegender Bedeutung aus britischen Industrielaboratorien gekommen, sehr viele dagegen aus deutschen und amerikanischen. Die großen neuen Trusts, die seit dem Weltkrieg in England in der Elektro- und der Chemieindustrie entstanden sind, haben Patent-Nutzungs-Abkommen mit den entsprechenden ausländischen Firmen, und es besteht unleugbar eine Tendenz, produktionsreife naturwissenschaftliche Ergebnisse eher zu importieren, als sie in britischen Laboratorien zu entwickeln. Es braucht nicht gesagt zu werden, wo auf Grund von Einfuhrzöllen ausländische Unternehmen Fabriken in Großbritannien errichtet haben, bei denen praktisch die ganze Forschungsarbeit im Ausland geleistet wird. Trotz seines Eifers, die Produkte und Profite der britischen Industrie zu schützen, scheint der Staat der Sicherstellung ihrer wissenschaftlichen Initiative keine Beachtung zu schenken. Wie im Jahre 1914 dürfte nur eine unmittelbare Kriegsgefahr den Mächtigen diese Tatsache bewußt machen, und es ist in hohem Maße wahrscheinlich, daß bei Ausbruch eines neuen Krieges Großbritannien nicht über eine angemessene Zahl von Naturwissenschaftlern und Technikern verfügen würde. Abgesehen von der Koordinierung der industriellen Forschung, die der Bildung von Trusts und Vereinbarungen zwischen Unternehmen zu danken ist, gibt es praktisch keine Koordinierung. Das führt an sich direkt zur Ineffektivität, da es keine Garantie gegen Doppelentwicklung gibt; tatsächlich gibt es vermutlich beim größten Teil der industriellen Forschung mehr als Doppelentwicklungen. Wo dank staatlicher Bemühungen Vereinigungen von Unternehmen gebildet wurden, wie im Eisen- und Stahlgewerbe, gibt es gemeinschaftliche Forschungen, in diesem Fall unter halbstaatlicher Leitung, durch die Research Associations. Es gibt auch informelle Beziehungen zwischen Industrieforschern und den Research Associations; auf Grund der Geheimhaltungsvorschriften wird dabei aber die Arbeit der Associations mindestens ebensosehr behindert, wie die der Wissenschaftler unterstützt. Ein großer Teil der Zeit aller Associations ist mit Arbeit für Industrieunternehmen ausgefüllt. Somit können wir sagen, daß alles in allem nicht nur die vom Staat und von privaten Unternehmen für industrielle Forschung in Großbritannien ausgegebenen Beträge 80

lächerlich gering sind, sondern daß auch der größere Teil dessen, was ausgegeben wird, praktisch vergeudet wird, weil es an innerer Effektivität und an Koordinierung mangelt.

Die Finanzierung der Forschung Angesichts dessen, was schon gesagt wurde, dürfte es nicht überraschen, daß die Finanzierung der naturwissenschaftlichen Forschung in Großbritannien höchst komplizierter Natur ist. Überdies entsprechen die Quellen, aus denen das Geld für die Wissenschaft fließt, nicht genau den von uns aufgeführten Einzelbereichen, in denen naturwissenschaftliche Forschung betrieben wird. Die Forschung an den Universitäten, die Forschung in der Industrie, die unabhängig betriebene Forschung, ja sogar die staatliche Forschung beziehen ihre Mittel bis zu einem gewissen Grade sämtlich aus derselben Gruppe von Quellen. Die wichtigsten sind die Erträge aus alten Stiftungen, laufende Stiftungen, Zuwendungen vom Staat und von örtlichen Instanzen sowie von der Industrie. Die Wissenschaft an den Universitäten wird aus allen vier Quellen gespeist. Die Forschung in der Industrie profitiert, wie schon erwähnt, vom Staat bzw. der Staat von der Industrie, je nachdem wie der Wert der Forschung eingeschätzt wird. Es ist äußerst schwierig, die tatsächlichen Summen zu schätzen, die aus diesen Quellen geschöpft werden; einige veröffentlichte Zahlen sind in den Anhängen II (B), II (C) und III (C) wiedergegeben. Stiftungen. Für die meisten praktischen Zwecke kann die Bedeutung der älteren Stiftungen nicht ins Gewicht fallen, da nur die alten Universitäten wesentlich von ihnen profitieren (vgl. Anhang I (D)). Hier ist zwar die Höhe der Einkünfte tatsächlich erheblich; sie betragen fast eine Million Pfund Sterling jährlich, doch wird das meiste zur Aufrechterhaltung der Universitätseinrichtungen und zur Sicherung der Lehrtätigkeit verwandt. Für die naturwissenschaftliche Forschung bleibt höchstens der zehnte Teil der Gesamtsumme verfügbar. Die Einnahmen der Universitäten aus Gebühren brauchen nicht berücksichtigt zu werden; sie reichen an sich ja nicht einmal aus, um die Kosten für den Unterrichtsbetrieb zu decken, so daß sie zur Finanzierung der Forschung nichts beitragen können. Laufende Zuwendungen erfolgen in beträchtlichem Umfang, doch sind die Eingänge äußerst unregelmäßig. Die hauptsächlichen Nutznießer sind die Universitäten und, in geringerem Maße, unabhängige Forschungsinstitute sowie Krankenhäuser. Auch hier sind Zahlen schwer zu erhalten; einige sind in den Anhängen aufgeführt. Wie im Fall der älteren Stiftungen ist natürlich nicht ersichtlich, wieviel davon als für die eigentliche Forschung bestimmt angesehen werden kann. Viele Zuwendungen an Universitäten gelten der Gründung von Lehrstühlen, wo die Aufgaben der Lehre oft überwiegen, oder sind für die Errichtung von Gebäuden bestimmt, in denen sowohl gelehrt als geforscht wird. Zuwendungen kommen meist in Gestalt größerer Summen in unregelmäßigen zeitlichen Abständen, doch besteht allgemein die Tendenz, daß sie den Schwankungen der Konjunktur folgen. Für die älteren Universitäten ist diese Unregelmäßigkeit nicht so gefahrlich, da sie durch die alten Stiftungen gesichert sind. In anderen Fällen können laufende Zuwendungen eine zusätzliche Ursache von Instabilität und Fehlentwicklungen sein. Staatliche Stipendien. Über den Beitrag des Staates zur naturwissenschaftlichen Forschung haben wir schon gesprochen. Verglichen mit den Summen, die zur Finanzierung des laufenden Betriebs der staatlichen Laboratorien ausgegeben werden, ist der Beitrag, den der 6

Bernal

81

Staat in Form von Stipendien für Studenten und Forscher leistet, relativ unbedeutend: jährlich 90000 £ für die medizinische, 26000 £ für die industrielle und 7000 £ für die landwirtschaftliche Forschung, alles in allem 123000 £. So klein diese Summen auch sind, im Haushalt der Universitäten können sie nicht vernachlässigt werden, da sie einen wichtigen Bestandteil der Mittel bilden, welche Absolventen, die in der Forschung tätig sind, zwischen ihrem Abschlußexamen und dem Zeitpunkt, da sie eine Anstellung als Mitarbeiter in der Forschung erhalten — sofern sie dieses Glück haben —, zur Verfügung gestellt werden können. Die Verteilung — wenn auch nicht die Verfügung über die Höhe — dieser staatlichen Mittel liegt großenteils in den Händen von Komitees, in denen die Universitäten vertreten sind. Örtliche Behörden leisten einen beträchtlichen Beitrag zur Finanzierung des Lehrbetriebes an den Universitäten, aber nur einen sehr kleinen für die Forschung, von der landwirtschaftlichen abgesehen. Das ist, wie die Dinge gegenwärtig liegen, vielleicht sogar günstig, da das Eingreifen lokaler Politik in Forschungseinrichtungen, die nicht durch Kontrollen, wie sie in der staatlichen Forschung wirken, abgesichert sind, zu bedauerlichen Erscheinungen führen kann. 2 0 Der Beitrag der Industrie zur Finanzierung der Naturwissenschaft beschränkt sich zum größten Teil auf die Unterstützung ihrer eigenen Laboratorien. Gelegentlich jedoch tragen auch Industrieunternehmen, neben Einzelpersönlichkeiten, zu den Fonds der Universitäten bei. 21 Häufiger aber unterstützt die Industrie spezielle Forschungsvorhaben, die in Universitätslaboratorien durchgeführt werden, und zwar zum Teil von Angehörigen des Lehrkörpers der Universität, zum Teil durch ausschließlich von der Industrie bezahlte Forscher. Dieses System fand niemals große Verbreitung, denn es ist in vieler Hinsicht für beide Parteien unvorteilhaft. Der Hauptnachteil ist vom Standpunkt der Universität, daß es die Forscher zu sehr in den Dienst der Firmen einbezieht, und vom Standpunkt der Unternehmen, daß es für sie noch schwieriger zu erkennen ist als bei eigenen Forschungen, was dabei für sie finanziell herausspringt. Die Geheimhaltung ist eine weitere Schwierigkeit. An den Universitäten ist man im allgemeinen der Meinung, die dort für Unternehmen geleistete Arbeit werde mit einem Grad der Geheimhaltung ausgeführt, welcher akademischen Zielen nicht angemessen sei; demgegenüber halten es die Unternehmen für gefahrlich, den für sie arbeitenden Wissenschaftlern in einer solchen Atmosphäre der freien Diskussion, wie man sie an einer Universität erwartet, zu vertrauen. Deshalb überrascht es nicht, daß das größte Unternehmen der chemischen Industrie seine Unterstützung für Forschungen, die an Universitäten durchgeführt werden, allmählich zurückzieht und seine Arbeit aufstellen konzentriert, wo sie schärfer kontrolliert werden kann. 2 2 20

21

22

Vgl. den Fall des M r . H a y in: Report of the Conference on Academic Freedom, hg. von Heffer, O x f o r d 1935. So wurden die neuen chemischen L a b o r a t o r i e n in C a m b r i d g e im J a h r e 1920 von der Anglo-Persian Oil Co. ausgestattet. Die folgenden Reden, die im Senat der Universität C a m b r i d g e gehalten w u r d e n , werfen einiges Licht auf die Beziehungen zwischen d e n Universitäten u n d der industriellen Forschung. D e r A n l a ß war eine anscheinend h a r m l o s e Regelung, die den Zweck hatte, geheimzuhaltende F o r s c h u n g s v o r h a b e n der I n d u strie von der Universitätsleitung, statt, wie bisher üblich, von den Institutsdirektoren beaufsichtigen zu lassen. „ P r o f . Sir W . J. P o p e sagte, die F o r m u l i e r u n g e n der neuen Regelung I spiegelten das althergebrachte akademische M i ß t r a u e n gegenüber H a n d e l und Industrie wider; sie implizierten, die V e r b i n d u n g mit solcher A r t von Aktivität m ü ß t e von der Leitung der Universität in jeder Einzelheit genau unter die L u p e g e n o m m e n werden, weil die G e f a h r bestehe, d a ß etwas Schändliches dabei h e r a u s k o m m e , beispielsweise, d a ß ein junger Forscher gezwungen werde, seine Ergebnisse geheimzuhalten, u m irgendwelchen schmutzigen geschäftlichen Zwecken dienstbar zu sein. Es sei zu b e d a u e r n , d a ß solche F o r m u l i e r u n g e n benützt w ü r d e n , insbesondere vor allem angesichts der Tatsache, d a ß H a n d e l u n d Industrie sowohl d u r c h U n t e r n e h m e n als auch durch Persönlichkeiten im Laufe der letzten zwanzig J a h r e

82

Die Verwaltung. An den Universitäten liegt die Disposition über die für wissenschaftliche Forschung zur Verfügung stehenden Mittel zumeist in den Händen derselben Gremien, die auch für die tätsächliche Leitung der Forschung verantwortlich sind. Anderswo, d. h. bei der staatlichen und der industriellen Forschung, liegt sie bei Verwaltungsbeamten, die von Wissenschaft nichts zu verstehen brauchen. Die aus Wissenschaftlern bestehenden Gremien sind in einer Atmosphäre groß geworden, in der Geld immer knapp war; sie neigen daher aus Angst, in eine Lage zu kommen, wo sie kein Geld mehr locker machen der Universität riesige Geldspenden gemacht und in der Art und Weise, in der sie dies taten, ein großes Maß an Weitherzigkeit und Voraussicht gezeigt hätten. Er vertraue darauf, daß der Rat diese Regelung zurückziehe, die verletzend sei und berechtigte Verärgerung hervorrufen könnte. Bisher sei es üblich gewesen, daß der Leiter eines Laboratoriums die Zusammenarbeit mit Industriellen wie Handelsfirmen und Research Associations gesucht habe: die Zusammenarbeit habe im allgemeinen bedeutet, daß ein von dem industriellen Unternehmen bezahlter Forscher an einem bestimmten Problem gearbeitet und daß die Firma dem Laboratorium eine Gebühr gezahlt habe, die von dem Institutsdirektor so festgesetzt worden sei, daß sie die Kosten gedeckt habe. In fast allen Fällen sei die durchgeführte Forschungsarbeit rein akademischer Natur gewesen, und einer Veröffentlichung seien keinerlei Beschränkungen auferlegt worden: Das Ziel des Konzerns, der die Kosten übernommen habe, habe ausschließlich darin bestanden, die Universität bei der Ausbildung von Leuten in der Handhabung von Forschungsmethoden zu unterstützen, die anschließend eventuell in der Industrie eine Anstellung hätten finden können. Gelegentlich sei auch ein Angestellter eines großen Unternehmens an die Universität gekommen, um an einem industriellen Problem zu arbeiten, und dann habe es kein Problem mit dem Schicksal der gewonnenen Information gegeben, nachdem er wieder an seine Arbeitsstelle zurückgegangen sei. Die Universität sollte sich aber geehrt fühlen, wenn ein Vertreter der technischen Wissenschaft es für vorteilhaft halte, einige seiner Probleme in ihren Laboratorien zu bearbeiten. Er möchte betonen, daß die auf diese verschiedenen Arten praktizierte Zusammenarbeit für die Universität von unschätzbarem Wert gewesen sei: Sie habe üblicherweise dem Forscher den Weg in die beteiligte Industrie geöffnet, sie habe eine Atmosphäre der Sympathie zwischen dem Universitätsinstitut und der Industrie geschaffen, die gewährleistet habe, daß Leute, die in Cambridge promoviert hätten, bei der Besetzung freier Stellen in wohlwollende Erwägung gezogen worden seien, und schließlich sei sie der entscheidende Faktor gewesen, der die Industriekonzerne veranlaßt habe, der Universität erhebliche finanzielle Beiträge zukommen zu lassen. Prof. Lowry sagte, er brauche wohl kaum zu betonen, in welch großem Umfang die Universität Unternehmen in Handel und Industrie zu Dank verpflichtet sei. Er nehme an, das Geld, das jüngst die amerikanische Ölindustrie durch Vermittlung einer Stiftung zu Ausbildungszwecken der Universität habe zukommen lassen, habe schon alle Verbindungen zu dem Industriezweig verloren, aus dem es stamme; das sei aber nicht der Fall gewesen, als das chemische Institut die größte Zuwendung in seiner ganzen bisherigen Geschichte erhalten habe. Diese Spende sei von einer Ölgesellschaft gemacht worden, die noch weiter Geschäfte mache, und er sei in keiner Weise sicher, daß sie nicht zum Teil deshalb gemacht worden sei, weil in der Zeit vor dem Kriege in den chemischen Laboratorien von Cambridge gewisse Entdeckungen gemacht worden seien, die sich während des Krieges als wesentlich bei der Versorgung mit Sprengstoffen herausgestellt hatten. Er glaube nicht, daß man sich allgemein darüber im klaren sei, in welch großem Umfang die effektive Arbeit eines Forschungsinstituts, von den reicheren amerikanischen Universitäten vielleicht abgesehen, von den Geldern abhänge, die nicht von den Einrichtungen herrühren, in denen Forschungsarbeiten durchgeführt werden, sondern von verschiedenen Quellen außerhalb, insbesondere von Unternehmen des Handels und der Industrie. Beispielsweise habe einer seiner Freunde, Leiter eines bedeutenden Laboratoriums in London, Mittel bis zu einer Höhe von 5000 £ jährlich zur Verfügung, die zum Teil von Research Associations und zum Teil von Handels- und Industrieunternehmen stammten; und es gäbe auch nicht den geringsten Zweifel, daß er seinen Weltruf als Direktor des Laboratoriums nicht hätte erlangen können, wenn er nicht über diese 5000 £ jährlich verfügen würde, mit denen er die Forschung vorantreiben könne, die ihn interessiere. Was sein eigenes Laboratorium angehe, so glaube er nicht mehr sagen zu müssen, als daß Handelsund Industrieunternehmen jährlich eine Summe geben, die weit über dem liege, was die Universität allen chemischen Instituten insgesamt zur Verfügung stelle." (University Reports, Bd. 64, 1934, S. 991.) — In der weiteren Diskussion brachten andere Mitglieder des Senats ihr Mißfallen darüber zum Ausdruck, daß überhaupt geheimzuhaltende Forschungsvorhaben in Laboratorien der Universität durchgeführt würden; das Ergebnis war ein Kompromiß, der im wesentlichen alles beim alten ließ. 6'

83

können, dazu, bei Ausgaben übervorsichtig zu sein. Wissenschaftliche Institutionen nehmen sehr selten Kredite in Anspruch, da sie praktisch keine Sicherheit bieten können. Sie können relativ wenig Druck ausüben, um mehr Mittel zu erhalten; das Beste, was sie erhoffen können, ist, irgendwie über die Runden zu kommen, einen Verfall zu verhindern und vielleicht sogar ein sehr langsames Wachstum zu erreichen. Die bestehenden Bedingungen werden widerspruchslos hingenommen, weil man fürchtet, Anträge auf Zuwendungen größeren Umfangs würden unterstützungsbereite Geldgeber nur abschrecken und den Eindruck hervorrufen, die Wissenschaftler wären mit dem gegenwärtigen Stand der Dinge unzufrieden. Zusätzliche Mittel aufzutreiben, ist ein sehr delikates Unternehmen; es wird in einer Atmosphäre tiefster Geheimhaltung abgewickelt, meist durch persönliche Beziehungen. Gelegentlich wird an die Öffentlichkeit appelliert, aber nur, wenn der Boden gut vorbereitet wurde und man sich schon die Unterstützung prominenter Stellen inoffiziell gesichert hat. Selbst wenn die Regierung um höhere Mittel ersucht wird, muß alles höchst vorsichtig geschehen, um jeden Verdacht einer Parteipolitik, d. h. jeder Abweichung von allerstrengster konservativer Orthodoxie, zu vermeiden. Kontrolle durch das Finanzamt. Die staatlichen wissenschaftlichen Institute, die der staatlichen Finanzkontrolle unterliegen, leiden unter schweren Beeinträchtigungen. Bei der Finanzierung naturwissenschaftlicher Forschungen wäre es eine rationelle Methode, erhebliche Schwankungen der Ausgaben für Material und Geräte zuzulassen, aber eine relativ konstante oder langsam wachsende Summe für Gehälter vorzusehen. Dies unterscheidet sich aber sehr stark von der üblichen A r t und Weise, in der Verwaltungseinrichtungen ihre Ausgaben bestreiten, deren Bedürfnisse ja ziemlich genau vorher eingeschätzt werden können. Mit Ausnahme der Fälle, in denen das System der block grants oder das der grants-in-aid [Zusatzstipendien] vorherrscht, muß die jährlich zugeführte Summe auch im laufenden Jahr ausgegeben werden. Jeder nichtausgegebene Teilbetrag würde zeigen, daß die Abteilung das Geld in Wirklichkeit gar nicht brauchte, und dazu führen, daß sie im nächsten Jahr mit weniger auskommen muß. Infolgedessen wechseln Jahre, in denen das Geld sinnlos ausgegeben wird, und Jahre, in denen es vorne und hinten nicht reicht, einander ab. Zweifellos würde das System der block grants, dem sich das Finanzwesen widersetzt, die Lage beträchtlich erleichtern, da es dann möglich wäre, Überschüsse oder Fehlbeträge in die folgenden Jahre zu übernehmen. Die Hauptschwierigkeit besteht darin, daß die Verwaltungsbeamten, die nicht verstehen, wozu die Mittel für die Forschung gebraucht werden, über diese Ausgaben nach Gutdünken entscheiden, wobei sie sich teils von früheren Gepflogenheiten, teils von der Persönlichkeit des wissenschaftlichen Direktors beeinflussen lassen. Die Situation in der Industrie weist diese Züge in noch schärfer ausgeprägter F o r m auf. Im Idealfall sollte die Forschung von Ausgaben erschwerenden Beschränkungen, wie sie die Finanzbehörden praktizieren, frei sein; tatsächlich jedoch werden Ausgaben für die Forschung als eine A r t Verzierung angesehen, die man sich leistet, wenn das Unternehmen floriert, aber in schlechten Zeiten unbarmherzig beschneidet. D a es praktisch unmöglich ist, wissenschaftliche Ausrüstungen zu verkaufen, bestehen die einzig möglichen Sparmaßnahmen darin, Mitarbeiter auf die Straße zu setzen oder ihre Gehälter zu kürzen. Folgen dieser Art von Forschungsfinanzierung. Dieses Finanzierungssystem hat zur Folge, daß die Gelder für naturwissenschaftliche Forschung in unveränderter Höhe zu fließen pflegen, wenn sie variabel sein sollten, und breit variieren, wenn sie konstant sein sollten. Die Auswirkungen machen sich am deutlichsten bei den Wissenschaftlern selbst bemerkbar. Unter den heutigen Bedingungen wird jeder, der eine Anstellung sucht, in erster Linie Sicherheit des Arbeitsplatzes fordern; daher besteht die Tendenz, wissenschaftliche A r 84

beit dort aufzunehmen, wo diese Sicherheit gewährleistet ist, etwa an Universitäten und in manchen staatlichen Einrichtungen, und auf Posten zu verzichten, die vielleicht besser bezahlt werden, wo aber Entlassungen gerade in solchen Zeiten am wahrscheinlichsten sind, wenn neue Stellen am schwierigsten zu bekommen sind. 23 Zwar ist der Wissenschaftler in dieser Beziehung nicht schlechter dran, vielleicht sogar besser, als die große Masse der Arbeiter und Angestellten. Die soziale Ungerechtigkeit des Systems betrifft alle; bei den Wissenschaftlern spürt es jedoch nicht nur der einzelne, sondern die Gesellschaft als Ganzes, weil nämlich der Fortschritt der Grundlagenforschung und — stärker noch — der Fortschritt der angewandten Wissenschaft aufgehalten wird. Wissenschaftliche Untersuchungen, bei denen etwas herauskommen soll, sind Arbeiten, die nicht in einem Tag, nicht in einem Monat, nicht einmal in einem Jahr beendet werden können; bei einem einzelnen Wissenschaftler mögen zwischen den ersten Ideen und ihrer Realisierung oft zehn Jahre vergehen. Wenn nicht für einen Zeitraum dieser Größenordnung einigermaßen Sicherheit des Arbeitsplatzes besteht, ist damit zu rechnen, daß viele langfristige Forschungsvorhaben nicht abgeschlossen und weit mehr nicht einmal in Angriff genommen werden. Dies fügt sich in andere Tendenzen, besonders in der industriellen Forschung, ein, die Vorhaben begünstigen, die kurzfristige Ergebnisse liefern. Derartige Forschungen bringen jedoch nur begrenzten Nutzen und sind auf lange Sicht höchst unökonomisch. Man kann sagen, daß im Durchschnitt ein einzelnes Forschungsvorhaben um so mehr Erfolg verspricht, je tiefschürfender die Untersuchung ist. Jedes System einer angemessenen Förderung der Forschung muß daher Vorkehrungen für sichere Arbeitsplätze umfassen. Die Art der Ausgaben für die Forschung. Ehe wir zu einer Vorstellung von der Höhe der Gelder kommen können, die für naturwissenschaftliche Forschung ausgegeben werden, müssen wir den Charakter dieser Ausgaben untersuchen. Die vier augenfälligsten Kategorien sind: Gehälter, Geräte und Material, Kosten für laufenden Betrieb (einschließlich der Gehälter für Assistenten, Laboranten, Mechaniker usw.), Kosten für Gebäude. Für die verschiedenen Disziplinen der naturwissenschaftlichen Forschung variieren die für diese Posten erforderlichen Beträge ganz enorm. In der Mathematik sind in der Hauptsache Gehälter erforderlich, daneben kleine Beträge für Kreide, Schreibwaren usw., obwohl heutzutage fl938] die Einführung von Rechenmaschinen ein mathematisches Institut zu einer ebenso teueren Angelegenheit zu machen droht wie jedes andere. Das andere Extrem wäre etwa eine landwirtschaftliche Versuchsstation, die viel höhere Ausgaben für den laufenden Betrieb, einschließlich des Ankaufs von Vieh, als für Gehälter erfordert. G r o b gesprochen: Je praxisnäher die Untersuchung, desto höher sind im Vergleich zu den Gehältern die übrigen Kosten. Auf den Grenzgebieten der angewandten Naturwissenschaft ist die Lage komplizierter, angesichts der schon erwähnten Schwierigkeiten, zwischen Wissenschaftlern und Technikern sowie zwischen halbindustriellen Anlagen und wissenschaftlichen Ausrüstungen zu unterscheiden. In Zusammenstellungen von Ausgaben für die Wissenschaft sollte daher in jedem Fall das Verhältnis der Gehälter zu den Gesamtausgaben angegeben werden, da dieses ein Maß für die mehr oder weniger praxisnahe Natur der Untersuchung vermittelt und Vergleiche zwischen dem relativen Umfang der wissenschaftlichen Arbeit, die in zwei verschiedenen wissenschaftlichen Aufgabenbereichen steckt, ermöglicht. Im Laufe der Zeit wird die Wissenschaft komplexer, und entsprechend werden die relativen Anteile der Gehälter in allen Fällen kleiner werden. Daher kann sich hinter gleichbleibenden, ja sogar hinter leicht steigenden Zuwendungen für die Wissenschaft ein tatsächlicher Rückgang der wis23

Vgl. die Ansprache von Sir W. Bragg (Anmerkung 4 auf S. 63).

85

senschaftlichen Arbeit verbergen. Ein solcher Rückgang war wirklich während der jüngsten Krise in der ganzen kapitalistischen Welt zu verzeichnen; in vielen Ländern hält er noch immer an. Die wirkliche Schwierigkeit in der ökonomischen Bewertung der Naturwissenschaft besteht jedoch darin, die Trennungslinie zwischen Ausgaben für die Grundlagenforschung und Ausgaben für die angewandte Wissenschaft zu ziehen. Gegenwärtig, wo man beide in einen Topf wirft, glaubt man, die Wissenschaft werde angemessen bedacht, weil relativ hohe Summen ausgegeben werden — relativ, d. h., im Verhältnis zu den früher dafür ausgegebenen Beträgen, nicht zu den Umsätzen der in Frage kommenden Industrien. Da die angewandte Wissenschaft bei weitem mehr verschlingt, geht jedoch der größere Teil dieser Summen in Ausgaben, die genau genommen nicht der Forschung dienen, sondern bestimmte Investitionen sind, deren zukünftige Rendite ziemlich sicher ist. Offenbar ist es notwendig, Geld m e i n e m bestimmten Verhältnis für Grundlagenforschung und für angewandte Wissenschaft auszugeben; wenn diese Summen aber nicht getrennt behandelt werden, ist nicht zu erkennen, ob die wenigen unmittelbar zu begründenden Ansprüche der Grundlagenforschung ausreichend berücksichtigt werden.

Der finanzielle Rahmen der Naturwissenschaft Wie aus unseren bisherigen Ausführungen hervorgeht, sind die Schwierigkeiten, die genaue Summe abzuschätzen, welche jährlich für naturwissenschaftliche Forschung ausgegeben wird, praktisch unüberwindlich. Das ließe sich nur bewerkstelligen, wenn die Methode der Abrechnung von Universitäten, Ministerien und Industrieunternehmen geändert würde, was kaum geschehen dürfte, es sei denn, es würde wesentliche Veranlassung dazu bestehen, etwa, indem Ausgaben für Forschungszwecke von der Einkommenssteuer abgesetzt werden können. Trotzdem müssen wir uns eine — wenn auch grobe — Vorstellung davon machen, innerhalb welcher Grenzen die Ausgaben für die Forschung liegen, wenn wir die Stellung der Forschung in unserer Volkswirtschaft ermitteln wollen. Einen Versuch einer solchen Schätzung für ein ziemlich normales Nachkrisenjahr, das Jahr 1934, geben wir nachstehend wieder. Gegenwärtig (1937) würden die Ausgaben im Verteidigungsbereich viel höher geschätzt (2800000 £), es gäbe eine entsprechende Vergrößerung bei den Ausgaben für die Forschung in der Industrie, aber beide müßten als anomale Ausgaben angesehen werden, die vermutlich nicht so hoch bleiben. Zwei Schätzwerte sind angegeben. Der erste Wert, die Bruttozahl, umfaßt alles, was Forschung genannt werden könnte. Für die Universitäten wird dabei angenommen, die Hälfte der Zeit aller Universitätslehrer in Naturwissenschaft, Medizin, technischen und landwirtschaftlichen Fächern werde für Forschung aufgewandt und zwei Drittel der Institutsausgaben gälten Forschungszwecken. Im staatlichen und im industriellen Bereich wird alles, was Forschung genannt wird, als Forschung aufgefaßt. Der Nettoschätzwert versucht, unter diesen Annahmen die Bruttosummen um Faktoren zu reduzieren, die davon abhängen, was von der Art der Arbeit in den verschiedenen Bereichen bekannt ist. Diese Reduzierungen sind hier keineswegs so drastisch, wie sie vermutlich sein müßten; man könnte damit noch einen großen Teil der Routinemessungen und -prüfungen erfassen, doch dürften die Zahlen, die dabei herauskommen der Summe recht nahe kommen, die für den Fortschritt in Naturwissenschaft und Technik ausgegeben wird. Die Schätzungen sind natürlich von sehr unterschiedlichem Genauigkeitsgrad. Nur die staatlichen Zahlen werden explizit angegeben. Die Zahlen der Universitäten werden nach einem komplizierten Verfahren an Hand der Zahlen geschätzt, 86

die in dem Bericht der University Grants Commission angegeben sind. Die Zahlen aus der Industrie sind naturgemäß am schwersten zu erhalten. Sie wurden auf der Grundlage der Daten geschätzt, die von 35 Unternehmen über die Ausgaben für die Forschung in den Berichten der Industrial Research Laboratories angegeben sind, einer Schätzung dieser Ausgaben von 45 anderen Unternehmen, die auf der Anzahl der Beschäftigten basiert, und auf einer großzügigen Schätzung bei Unternehmen, die es ablehnten, Einzelheiten anzugeben (zu Einzelheiten vgl. Anhang III (C)). Die letztgenannte Zahl ist daher die am wenigsten zuverlässige und kann bis zu 50 Prozent nach oben oder unten von der echten abweichen ; angesichts der groben Art der gesamten Schätzung hat dies aber praktisch nichts zu bedeuten. Die Schätzungen im einzelnen lauten : Brutto Universitäten, Gelehrtengesellschaften und unabhängige Stiftungen Staatliche Mittel Forschung für die Streitkräfte Industrie-Forschung Medizinische Forschung Landwirtschaftliche F o r s c h u n g Industrielle Mittel Beiträge zu den Research Associations U n a b h ä n g i g e Forschung

£

Insgesamt

1500000

Netto

£

800 0 0 0

2000000 600000 150000 200000

80000 300 000 120000 150000

200000 2000000

100000 400000

£ 6650000

£

1950000

Wir sehen also, daß die Gesamtbruttozahl unter sieben Millionen und die Gesamtnettozahl unter zwei Millionen Pfund Sterling liegt. Die Zahlen sind nur dann nützlich, wenn wir uns bewußt sind, was sie bedeuten. Eine mittlere Zahl von vier Millionen Pfund Sterling dürfte für die meisten Zwecke eine großzügige Schätzung dessen darstellen, was in Großbritannien für naturwissenschaftliche Forschung ausgegeben wird. Prof. Julian Huxley, der im Jahre 1934 einen Überblick über die Forschung in Großbritannien gab, war weise und vorsichtig, als er seine Meinung über die absolute Höhe der Summe zum Ausdruck brachte, die für Forschung ausgegeben wird; doch stimmen seine Schätzungen im wesentlichen mit den oben angegebenen überein: „An erster Stelle steht die Forschung, die auf die Bedürfnisse der Industrie ausgerichtet ist, d. h., wenn man das Geld, das vom Staat, von Universitätsinstituten der angewandten Naturwissenschaft und von privaten Unternehmen ausgegeben wird, mit etwa der Hälfte der Gesamtsumme ansetzt. Die Forschung für die Streitkräfte, bloße Weiterentwicklung nicht gerechnet, macht etwa die Hälfte dessen aus, was für die Industrie ausgegeben wird. Forschung in Verbindung mit Landwirtschaft und Nachbargebieten wie Forst- und Fischereiwirtschaft kommt als nächstes mit einem J Fünftel oder einem Sechstel der Gesamtsumme, dann die Forschung im Zusammenhang mit Medizin und Gesundheitswesen, mit etwa einem Achtel oder sogar weniger. Und die Forschung auf allen anderen Gebieten, zusammen mit der ganzen Grundlagenforschung, kommt vermutlich nicht einmal auf ein Zwölftel der Gesamtsumme, obwohl ich zugebe, daß gerade dieser Punkt am schwersten sicher zu erfassen ist. Was nun die absoluten Summen betrifft, so möchte ich nicht gern Zahlen nennen, da die Leute mit groben Schätzungen oft so operieren, als seien es gesicherte Tatsachen. Doch möchte ich sagen, daß die Gesamtsumme, die in Großbritannien für Forschung ausgegeben wird, zwischen 87

vier und sechs Millionen jährlich liegt, übrigens vermutlich näher an der unteren Grenze." 2 4 Zu allen Untersuchungen, welche unsere Zivilisation verändern könnten, leistet die Gesellschaften also einen Gesamtbetrag von höchstens vier Millionen Pfund Sterling jährlich. Das ist die Summe, die sie übrig hat, um zu ermöglichen, daß sich Industrie und Kultur über das bloße automatische Wachstum hinaus weiterentwickeln. Von einer Summe dieser Größenordnung kann man nur durch Vergleiche eine Vorstellung gewinnen. Stellt man sie zunächst dem Nationaleinkommen von vier Milliarden gegenüber, so sind es gerade ein Zehntel von einem Prozent. Das ist sicherlich ein sehr geringer Prozentsatz; man könnte zumindest sagen, daß auch eine Anhebung der Ausgaben für die Wissenschaft auf das Zehnfache sich auf den unmittelbaren Konsum der Gesellschaft nicht merklich auswirken würde; tatsächlich sind es nur drei Prozent der Ausgaben für Tabak, zwei Prozent der Ausgaben für alkoholische Getränke und ein Prozent der Summe, die in Großbritannien verwettet wird. Zwar verteilen sich diese Methoden, Geld auszugeben, obwohl sie an und für sich nicht mehr Vergnügen bereiten müssen als wissenschaftliche Tätigkeit, auf sehr viel mehr Menschen. Trotzdem erscheinen die Ausgaben für die Wissenschaft geradezu lächerlich, wenn man bedenkt, welchen riesigen Gewinn an Wohlstand eine solche geringfügige Ausgabe hervorbringen kann. In hundert Jahren hat sich das Nationaleinkommen auf das Achtfache erhöht. Letzten Endes ist dies der Anwendung relativ elementarer Wissenschaft zu danken, deren Gesamtkosten auf höchstens 100 Millionen Pfund Sterling, vermutlich sehr viel weniger, geschätzt werden können. Was Ausgaben für die Wissenschaft genau einbringen, läßt sich unmöglich abschätzen, doch ist es bestimmt außerordentlich viel. Grundlagenforschung erfordert beträchtliche Zeit, ehe ihre Ergebnisse industriell verwertbar werden, und wenn sie es sind, verteilt sich der Nutzen über zahlreiche Industriezweige, so daß er schwer zu erfassen ist. Doch selbst in der angewandten Wissenschaft, wo die Rentabilität viel geringer ist, sind die Ergebnisse ziemlich überraschend. Anhang V, dessen Zahlen staatlichen Angaben entnommen sind, zeigt die Erträge in Gestalt jährlicher Einsparungen im Verhältnis zu den Gesamtausgaben für Forschung, einschließlich der Forschung an anderen Problemen als denen, bei denen die Einsparungen angegeben sind. Die durchschnittliche Rendite beträgt jährlich 800 Prozent. Wir werden später diskutieren, warum unser gegenwärtiges Produktionssystem nicht in der Lage ist, aus dieser ungeheuren Rentabilität der Naturwissenschaft Vorteile zu ziehen; was auch immer die Gründe dafür sein mögen, die Tatsache bleibt, daß wir die Wissenschaft nur zu einem sehr kleinen Teil ihrer materiellen Möglichkeiten nutzen. In dieser Hinsicht bleibt Großbritannien, ein sehr reiches Land, weit hinter anderen Ländern zurück. Im Jahre 1926 schätzte der spätere Präsident Hoover, daß in den Vereinigten Staaten jährlich 200 Millionen Dollar für wissenschaftliche Forschung ausgegeben würden. Neuere Zahlen sind nicht verfügbar, doch werden vermutlich gegenwärtig 300 Millionen Dollar ausgegeben. Das ist fast zehnmal soviel wie unser Bruttobetrag; im Verhältnis zu dem größeren, auf 50 Milliarden Dollar geschätzten Nationaleinkommen der Vereinigten Staaten sind das 6/10 Prozent, gegen 1/10 Prozent in Großbritannien. In Deutschland sind Zahlen schwer zu erhalten, doch dürfte die Gesamtsumme von derselben Größenordnung sein wie in Großbritannien (vgl. S. 210). In der Sowjetunion, wo die Ausgaben für die Wissenschaft sehr viel effektiver organisiert sind als in Großbritannien, waren es im Jahre 1934 etwa 900 Millionen Rubel, zum offiziellen Kurs 36 Millionen Pfund Sterling, neunmal so viel wie unser Bruttobetrag oder acht Zehntel von einem Prozent des Nationalein24

J. Huxley, Scientific Research and Social Needs, London 1934. S. 255.

88

kommens gegen ein Zehntel Prozent in Großbritannien. Es ist wesentlich, diesen Hauptmangel der britischen Wissenschaft bewußt zu machen, die Tatsache, daß ihre gesamte Entwicklung im Verhältnis zu den nationalen Erfordernissen völlig unzureichend ist. Der Umfang der Ausgaben für die Wissenschaft ist vermutlich geringer als ein Zehntel dessen, was in jedem zivilisierten Land vernünftig und wünschenswert wäre. Das ist ein Mangel einer völlig anderen Größenordnung als die übrigen Mängel des Wirtschaftssystems. Eine kürzlich von The Engineers' Study Group unter dem Titel Food and the Family Budget [Ernährung und Familienbudget] durchgeführte Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, die materiellen Bedürfnisse der Bevölkerung des Landes könnten ohne merkliche Eingriffe in das gegenwärtige groteske System der Verteilung des Reichtums befriedigt werden, wenn das Nationaleinkommen um etwa 25 Prozent, das sind 1000 Millionen Pfund Sterlingjährlich vergrößert würde. 25 Im Vergleich dazu sind die Bedürfnisse der Wissenschaft bescheiden. Eine Summe zwischen 20 und 40 Millionen Pfund jährlich, die zwischen einem halben und einem Prozent des Nationaleinkommens liegt, würde eine angemessene Erweiterung der Wissenschaft und die allgemeine Reorganisation, die ebenfalls notwendig ist, ermöglichen. Es dürfte sich aber herausstellen, daß die Verwendung derartiger Summen für wissenschaftliche Zwecke einige Jahre hindurch an sich schon genügen würde, das Nationaleinkommen um weit mehr als eine Milliarde Pfund jährlich zu erhöhen.

25

Seit der Zeit, in der diese Untersuchung durchgeführt wurde, ist das jährliche Nationaleinkommen von 4 4 0 0 0 0 0 0 0 0 auf 5 7 0 0 0 0 0 0 0 0 Pfund Sterling gestiegen; auf Grund unseres Verteilungssystems haben jedoch die geforderten eine Milliarde Pfund Sterling nicht merklich dazu beigetragen, die Mängel zu beseitigen, über welche Klage geführt wurde.

89

VIERTES KAPITEL

Naturwissenschaft und Medizin im Bildungswesen

Der naturwissenschaftliche Unterricht in der Vergangenheit Die Naturwissenschaft wurde erst relativ spät in die Ausbildung aufgenommen. Daß sie in der Ausbildung im Mittelalter keine Rolle spielte, überrascht nicht; aber auch beim Wiederaufleben des Humanismus in der Renaissance blieb sie fast ebenso sich selbst überlassen. Etwas Mathematik konnte man an den Universitäten lernen; selbst an den Seefahrtsschulen wurde sie gelehrt, etwas Botanik und Chemie an den medizinischen Schulen, und das war auch alles. Die großartigen Entwicklungen des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts vollzogen sich nicht auf Grund der Stellung der Naturwissenschaft in der Ausbildung, im Gegenteil. Bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts waren alle hervorragenden Naturwissenschaftler, soweit es ihr Spezialgebiet betraf, Autodidakten, und trotz der Beispiele eines Boyle und eines Newton konnte die Naturwissenschaft an den älteren Universitäten nicht Wurzeln schlagen. Zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts waren die einzigen Einrichtungen, welche so etwas wie eine naturwissenschaftliche Ausbildung vermittelten, die Akademien der Dissenters* in England, an denen Priestley und Dalton lehrten, und die Artillerieschulen in Frankreich, deren Schüler Napoleon war. Die Industrielle Revolution unterstrich die Bedeutung der Naturwissenschaft, und im neunzehnten Jahrhundert fand sie allmählich Eingang in die Universitäten, noch später auch in die Schulen. Clarke, der erste Professor für Mineralogie in Cambridge, erhielt seinen Lehrstuhl — einen der ersten, der für ein naturwissenschaftliches Fach eingerichtet worden war — auf Grund seiner Vorlesungen über die Juwelen im Brustschild des Hohenpriesters. Dagegen wurde dort Sir James Smith, einem der kompetentesten britischen Botaniker der damaligen Zeit, die Lehrerlaubnis verweigert, weil er weder der Universität noch der anglikanischen Kirche angehörte. Das einzige, das in Dr. Arnolds Schule in Rugby** auf Naturwissenschaft hindeutete, war jener unglückselige Martin, der sein Studierzimmer in ein Naturkundemuseum verwandelt hatte. 1 Dem naturwissenschaftlichen Unterricht * Dissenters sind Protestanten in England, die sich im sechzehnten Jahrhundert dem Kirchenritual und bestimmten Glaubensartikeln widersetzten. Nach einer Zeit der Verfolgung wurden sie ab 1689 allmählich den Angehörigen der anglikanischen Staatskirche gleichgestellt. ** In Rugby gibt es seit 1567 eine Public Schoo!, d. h. eine Internatsschule für die Kinder der obersten Schichten. 1 „Wenn man wüßte, wozu unsere Jungens taugen, so hätte man sich den Martin gegriffen und einen Naturkundler aus ihm gemacht. Er besaß eine Leidenschaft für Vögel, Insekten und anderes Getier, wußte mehr über sie und ihr Verhalten als jeder andere in Rugby, abgesehen von dem Doktor, der alles wußte. Auch machte er gewisse chemische Experimente und hatte sich eine Elektrisiermaschine zusammengebastelt, mit der er zu seinem größten Vergnügen und Stolz den Knaben, die kühn genug waren, sich in sein Studierzimmer zu wagen, leichte Schläge verpaßte. Tatsächlich war ein solches Abenteuer immer aufregend; da konnte es dir passieren, daß sich eine Schlange auf deinen Kopf fallen ließ oder sich liebevoll an deinen Beinen emporringelte oder daß eine Ratte in deiner Hosentasche auftauchte, um zu erkunden, ob es da was zu fressen gab; da kam der Geruch von Tier und Chemie auf dich zu, der stets über der

90

haftete damals ein Hauch von Radikalismus a n ; er stieß, insbesondere nach den Auseinandersetzungen um Darwin, auf erbitterte religiöse Gegnerschaft. Als die Naturwissenschaft akzeptiert worden war, erschien sie entweder als zusätzliches Fach, das an andere Disziplinen angehängt wurde, oder als Alternative für diejenigen, die so wenig begnadet und so materialistisch waren, daß sie sie den klassischen Fächern vorzogen. Selbst das leidenschaftliche Eintreten eines Thomas H. Huxley und seiner Schüler reichte kaum aus, um sie aus dieser Situation herauszuholen, abgesehen vielleicht von Cambridge. Ein Ergebnis der Art und Weise, wie die Naturwissenschaft Eingang in die Lehrpläne fand, besteht darin, daß die Methode, sie zu lehren, nicht aus den Prinzipien heraus entwickelt wurde, nach denen die Naturwissenschaftler früherer Zeiten ihre Wissenschaft erlernt hatten — dadurch nämlich, daß sie bei einem „Meister" in die „Lehre" gegangen waren —, sondern daß diese Methode der didaktischen Praxis folgte, die dem Studium der Humaniora gedient hatte, d. h., sie beruhte im wesentlichen auf Lektionen und Vorlesungen, zu denen notwendigerweise einige Einrichtungen für Praktika im Laboratorium hinzukamen. Die Pioniere der naturwissenschaftlichen Ausbildung hatten sich vorgestellt, ihre Einführung in das Bildungssystem würde das Schematische, das Gekünstelte und die Hinwendung zur Vergangenheit, diese Charakteristika der klassischen Ausbildung, ausräumen; doch wurden sie schwer enttäuscht. So hatten seinerzeit auch die Humanisten geglaubt, das Studium der klassischen Autoren im Original würde mit einem Schlage die dumpfe Pedanterie und den Aberglauben der mittelalterlichen Scholastik ausmerzen. Der routinierte Schulmeister war jedoch beiden Gruppen gewachsen und hat es fast fertig gebracht, das Eindringen in das Wesen chemischer Reaktionen zu einer genau so stumpfsinnigen und dogmatischen Angelegenheit zu machen wie die Lektüre von Vergils Aeneis. Die Bedeutung der Naturwissenschaft für die Erziehung besteht hauptsächlich darin, daß sie dem Kind etwas über die reale Welt, in der es lebt, vermittelt, indem sie es mit den Ergebnissen naturwissenschaftlicher Entdeckungen bekannt macht, und daß sie ihm anhand der wissenschaftlichen Methode beibringt, wie man logisch denkt und induktiv schließt. In Richtung auf das erste Ziel wurde ein gewisser begrenzter Erfolg erreicht, in Richtung auf das zweite praktisch nichts. Von denjenigen privilegierten Personen, die eine Secondary School* oder eine Public School durchlaufen haben, kann erwartet werden, daß sie etwas über die elementare Physik und Chemie von vor hundert Jahren wissen, doch wissen sie vermutlich kaum mehr, als jeder helle Junge aufschnappen kann, der sich für Radio interessiert oder ein anderes naturwissenschaftliches Hobby außerhalb der Schule pflegt. Was das Erlernen der wissenschaftlichen Methode betrifft, so ist das Ganze offensichtlich eine Farce. Tatsächlich zwingen die Bequemlichkeit der Lehrer und die Erfordernisse des Prüfungssystems die Schüler nicht nur, auf das Erlernen einer wissenschaftlichen Methode zu verzichten, sondern sich das genaue Gegenteil anzueignen, nämlich auf Grund der Autorität ihrer Lehrer oder Lehrbücher genau das zu glauben, was ihnen erzählt wird, und es auf Befragen wiederzugeben, ob es ihnen nun unsinnig vorkommt oder nicht. Die Art und Weise, in der gebildete Menschen auf solche Unsinnigkeiten wie Spiritismus oder Astrologie hereinfallen, von den gefahrlicheren der Rassentheorien und der Mythen um Geld nicht zu reden, zeigt, daß fünfzig

Bude hing; da bestand die Chance, daß du bei einem der vielen Experimente mit in die Luft flogst, die Martin stets mit den erstaunlichsten Ergebnissen in Gestalt von Knallerei und Gestank, die je ein Menschenkind wahrnahm, veranstaltete." (Th. Hughes, Tom Brown's Schooldays, 1857 [letzte Ausg. London 1969].) * Secondary Schools sind höhere Schulen, zwischen Grundschule und College.

91

Jahre Unterricht in der Methode der Naturwissenschaft in Großbritannien oder Deutschland keinerlei sichtbare Auswirkung gezeitigt haben. Der einzige Weg, die Methode der Naturwissenschaft zu erlernen, ist der lange und bittere der persönlichen Erfahrung, und bis zu der Zeit, da das Bildungssystem bzw. das Gesellschaftssystem so umgestaltet ist, daß dieser Weg gegangen werden kann, ist das beste, was wir erwarten können, daß wir eine Minderheit der Bevölkerung heranbilden, die imstande ist, sich einige der naturwissenschaftlichen Methoden anzueignen, und eine noch kleinere Minderheit, die diese Methoden zu benutzen und weiter zu entwickeln vermag.

Die Naturwissenschaft in der Schule Auch wenn wir das Bildungssystem in bezug auf die Naturwissenschaft nur in dieser eingeengten Perspektive untersuchen, also im Augenblick von der visionären Erwartung absehen, die Naturwissenschaft könne im Unterricht aller Altersklassen, von frühester Jugend an, eine integrierende und führende Rolle spielen, wie das in der Sowjetunion schon der Fall ist, und uns ausschließlich auf das Problem konzentrieren, wie Naturwissenschaftler auszubilden sind, so zeigt das gegenwärtige System die erstaunlichsten Lücken und Mängel. Von einigen Spezialschulen abgesehen, die nur einen vernachlässigbar kleinen Prozentsatz von Kindern erfassen, wird Schülern unter vierzehn Jahren nur sehr wenig Naturwissenschaft geboten, und gerade in diesem Alter verlassen die weitaus meisten Kinder in Großbritannien die Schule. Zwar wird eine bestimmte Menge an naturkundlichem Stoff, der indirekt der Vermittlung gewisser sexueller Grundkenntnisse dienen soll, in den Elementary Schools [Grundschulen] gelehrt, doch wäre es absurd zu behaupten, dies sei Naturwissenschaft. Das ist nicht die Schuld der Lehrer. Auch mit dem besten Lehrplan der Welt wäre es außerordentlich schwierig, vierzig Kinder gleichzeitig in Naturwissenschaft zu unterrichten. Diese Beschränkung zu Anfang hat schwerwiegende Folgen. Vor allem wird dadurch, daß Naturwissenschaft nicht zu einer Zeit gelehrt wird, da die ursprüngliche Wißbegierde des Kindes noch nicht durch gesellschaftliche Konventionen gedämpft wird, die beste Chance vertan, anhaltendes Interesse zu wecken. Tatsächlich würde sich, wenn die Pädagogen Zeit fanden zu untersuchen, wie Naturwissenschaft gelehrt werden kann, herausstellen, daß man vieles schon den Fähigkeiten sehr junger Schüler anzupassen vermag. Wie Experimente beweisen, können die Grundzüge von Physik, Chemie und Biologie schon sechsjährigen Kindern beigebracht werden, die in einigen Fällen nicht einmal lesen konnten. 2 Ein weiterer Nachteil dieser Beschränkung besteht nun darin, daß auf dieser Stufe der Naturwissenschaft zahlreiche vielversprechende Anwärter verloren gehen. Das ist natürlich nicht nur bei der Naturwissenschaft der Fall. Wie Gray und Moschinsky gezeigt haben, 3 schaffen es nur 26 Prozent der hochbegabten Schüler von Elementary Schools, ihre Ausbildung an Secondary Schools fortzusetzen, obwohl sich viele von denen, den es nicht gelingt, sich zu ausgezeichneten Wissenschaftlern entwickeln würden. Zwar bringen es einige fertig, zu einem späteren Zeitpunkt zur Naturwissenschaft zu stoßen, indem sie Laboranten und technische Assistenten werden; doch bilden diese eine verschwindende Minderheit.

2 3

Vgl. S. Isaacs, Intellectual Growth in Young Children, London 1930. Vgl. Sociological Review, Bd. 27, 1935, S. 113. — Siehe auch den Beitrag von L. Hogben in dem Sammelband Political Arithmetic, London 1938.

92

Die vielen Radiobastler und Leute mit anderen naturwissenschaftlichen Hobbys zeigen, daß es eine sehr große Reserve an naturwissenschaftlichen Talenten gibt. An den Secondary Schools und den Public Schools beginnt die Naturwissenschaft eine Rolle zu spielen, allerdings nur ein sehr beschränkter Aspekt der Naturwissenschaft. Ein Nachteil liegt von Anfang an darin, daß im heutigen Bildungssystem die Secondary Schools und auch die Public Schools gezwungen sind, Schüler zu unterrichten, deren durchschnittliche Intelligenz niedrig ist, so daß sie keine Gelegenheit haben, die wirklich Fähigen zu fördern. Die Auswirkungen zeigen sich in der university stage [Abiturstufe]. Noch immer gibt es ein starkes Vorurteil gegen die Naturwissenschaft insgesamt, das aus der klassischen Tradition der Public Schools herrührt, und oft werden Lehrer der naturwissenschaftlichen Fächer und Schüler, die sich für diese Fächer entscheiden, so behandelt, als ob ihre Interessen sie gesellschaftlich diskriminieren würden. Die Bestimmungen des Prüfungssystems beschränken den Unterricht in den Naturwissenschaften auf Physik und Chemie, und eventuell etwas Biologie für diejenigen, die Medizin studieren wollen, sowie auf eine in Mitleid erregender Weise dargebotene Botanik, von der aus irgendwelchen mythischen Gründen angenommen wird, sie habe eine reinigende Wirkung auf das weibliche Gemüt. Was heute an Physik und Chemie bei Aufnahmeprüfungen an Universitäten oder Abschlußprüfungen an Schulen verlangt wird, ist zu einer der widerwärtigsten Routineangelegenheiten geworden, die man sich vorstellen kann. Zwischen den Schulen und den Universitäten spannt sich ein Teufelskreis ; keine dieser Einrichtungen kann den Lehrplan ändern, da sich die andere dem widersetzt. Die Naturwissenschaft wird so unterrichtet, daß ein Bruchteil derjenigen, denen sie beigebracht wird, an die Universitäten gehen kann, um dort zu lernen, wie sie in ebendemselben Stil an zukünftige Generationen weiterzugeben ist. Zwar widmen sich Lehrer der naturwissenschaftlichen Fächer an den Schulen mit Sorgfalt und ungeheurem Einfallsreichtum ihrer Aufgabe, den Lehrstoff interessant darzubieten, aber jedem Schüler, der dadurch gewonnen wird, dürften zwei oder drei gegenüberstehen, deqen die Naturwissenschaft für immer verleidet wird. Leider ist es so, daß diejenigen Zweige der Naturwissenschaft, die sich am besten für Prüfungszwecke eignen, gerade die quantitativen Teile von Physik und Chemie sind (Anziehungskräfte zwischen Magneten, Gewichtsverhältnis, in dem sich Natriumkarbonat und Schwefelsäure verbinden), und das sind gerade diejenigen, welche dem bequemen und mathematisch uninteressierten Schüler die größten Schwierigkeiten bereiten, aber diejenigen langweilen, die sich für Naturwissenschaft begeistern und die zu denjenigen Bereichen des Gegenstandes vordringen möchten, wo etwas Neues und Interessantes zu entdecken ist. Tatsächlich gibt es in der Schulphysik und -chemie wenig, was nicht schon vor hundert Jahren bekannt war, und vieles, was man schon vor dreihundert Jahren wußte. Natürlich sind sich die Lehrer der naturwissenschaftlichen Fächer dieses Standes der Dinge bewußt; sie haben immer wieder versucht, trotz aller Gleichgültigkeit und allem Obskurantismus, denen sie begegneten, ihr Reich in Ordnung zu bringen. Ein unlängst von der Science Mastefs Association [Vereinigung der Lehrer naturwissenschaftlicher Fächer] herausgegebener Bericht über den Unterricht in den naturwissenschaftlichen Fächern stimmt weitgehend mit der hier geäußerten Kritik überein. 4 Ei enthält einen Lehrplan für vier Jahre, vermutlich den ersten, der auf wissenschaftliche Weise zustande kam. Drei Lehrer hatten die Interessen ihrer Schüler für Dinge des täglichen Lebens, die mit naturwissenschaftlichen Aspekten verknüpft sind, erfaßt. Drei andere hatten grundlegende naturwissenschaftliche Vorstellungen zusammengestellt. Diese beiden Aufstellungen wurden in dem Lehrplan 4

Vgl. The Teaching of General Science, Report by the General Committee in October 1936, London 1937.

93

of the Science Masters''

Association

miteinander verwoben. Dem Programm fehlen jedoch, obwohl es einen deutlichen Fortschritt markiert, Breite und Modernität. Es enthält einen guten Abschnitt über Biologie, aber nichts über Astronomie oder Geologie. Der Physikplan ist für jedes Jahr in zehn Abschnitte gegliedert; die ersten beiden Jahre enthalten je ein Ergebnis, das dritte Jahr nur zwei Ergebnisse, die im neunzehnten Jahrhundert erzielt wurden. Erst im letzten Jahr gibt es einen modernen Ausblick, aber auch hier wird nichts gebracht, was später als 1890 entdeckt wurde. Röntgenstrahlen, Radio und Elektron werden nicht einmal erwähnt. Die Chemie ist noch schlimmer dran; der ganze Plan enthält nichts, was nicht schon im Jahre 1810 bekannt war. Die gesamte organische Chemie, ohne welche die Biologie unverständlich ist, fehlt, und auf moderne Vorstellungen über die Struktur der Materie wird nirgends auch nur hingewiesen. Wenn der Geist, in dem dieser Versuch gemacht wurde, sich behauptet, darf man trotzdem hoffen, daß in Großbritannien ein lebendiges System des naturwissenschaftlichen Unterrichts zustande kommen wird. Weitere Fortschritte in dieser Richtung sind von dem Modern Education Committee [Komitee für moderne Ausbildung] in den Vereinigten Staaten erzielt worden. Sein gut durchdachter Lehrplan enthält eine recht genaue Zusammenfassung der modernen naturwissenschaftlichen Gesichtspunkte und berücksichtigt insbesondere die Beziehungen zwischen Naturwissenschaft und gesellschaftlichem Leben.

Die Naturwissenschaft an den Universitäten Die Rolle, welche die naturwissenschaftliche Lehre an den Universitäten spielt, wurde niemals klar zu Ende durchdacht. Eine Auffassung besteht offenbar darin,- die Naturwissenschaft sei ein anderer Weg zum Erwerb einer guten Allgemeinbildung. Diese Haltung spiegelt sich in dem Ideal einer reinen Wissenschaft wider, das den Studenten so oft vor Augen geführt wird. Praktisch jedoch ist die Naturwissenschaft so spezialisiert und von jedem anderen Aspekt der Kultur getrennt, daß diese Vorstellung der Auffassung von einer technischen Ausbildung völlig untergeordnet wurde. Doch sogar hier herrscht noch große Verwirrung. Naturwissenschaft wird so gelehrt, als ob von denjenigen, denen sie vermittelt wird, zu erwarten wäre, sie würden sie im späteren Leben zu irgendeinem Zweck anwenden. Von je hundert Studenten an britischen Universitäten werden aber vermutlich — exakte Zahlen stehen nicht zur Verfügung — etwa sechzig Lehrer an Schulen, wo sie einfach das, was sie gelernt haben, für andere Generationen zu rekapitulieren haben; dreißig gehen in die Wirtschaft, in die Produktion oder in den Staatsdienst, wo sie zum größten Teil mit Routineaufgaben beschäftigt werden, für die das meiste von dem, was sie gelernt haben, von geringem Nutzen ist. Drei von diesen hundert bleiben als Lehrkräfte an der Universität, und die übrigen gehen in die Forschung. Diese müssen sich in einem schmerzhaften Prozeß von einem großen Teil des unexakten und veralteten Lehrstoffs der Universitäten befreien und den Rest vergessen. Neben die Vielfalt der Funktionen der naturwissenschaftlichen Ausbildung an den Universitäten tritt als weitere Komplikation, besonders in Oxford und Cambridge, das unterschiedliche Niveau der Studenten, denen sie zuteil werden soll. Trotz des Prüfungssystems bedeutet die Tatsache, daß der Zugang zur Universität viel stärker eine Angelegenheit des Geldes als der Begabung ist, 5 daß sogar die Honours Courses [Spezialvorlesungen] in 5

D. V. Glass und J. L. Gray haben in einer speziellen Studie das Verhältnis von Chance und Wohlstand an den englischen und walisischen Universitäten untersucht (abgedruckt in dem Sammelband Political Arithmetic, a. a. O., S. 419—470). Sie führen an, daß 27 Prozent der männlichen Studentenschaft der Universitäten ehemalige Schüler der [schulgeldfreien] Elementary Schools sind; nur 2,2 Prozent jedoch

94

solchen naturwissenschaftlichen Disziplinen wie Physik und Chemie, in denen schon Schulkenntnisse vorausgesetzt werden, auf sehr niedrigem Niveau aufbauen müssen, und in allen anderen Fächern sogar von Null an. Infolgedessen müssen sich die ersten beiden Jahre einer üblichen Universitätsausbildung mit einem Unterricht befassen, dessen Niveau eher den oberen Klassen der Schule angemessen wäre. Die Lage ist tatsächlich so paradox, daß die Anforderungen bei den Prüfungen für ein Stipendium an den älteren Universitäten oft ebenso hoch sind wie bei den Abschlußprüfungen, wenn nicht sogar höher. Das hat jedoch nicht nur negative Aspekte. Es bedeutet, daß ein begabter Student der Naturwissenschaften in den ersten beiden Jahren sein Fachstudium getrost vernachlässigen darf, um dafür seine Allgemeinbildung zu vertiefen und seine Kenntnis der Welt zu verbessern, indem er in Studentenvereinigungen „mitmischt". Die Vorlesungen. In der Art und Weise der Lehre pflegen die Universitäten eine Tradition, die sich nur wenig von der ihrer mittelalterlichen Vorläufer unterscheidet. In früheren Zeiten hatte der Dozent, dessen Aufgabe es war, einen zähen Text des Aristoteles oder des Galenus seinen Hörern zu erläutern, denen es sicherlich schwer gefallen wäre, ihn zu verstehen, oder die höchstwahrscheinlich keine Bücher besaßen, seine 'Berechtigung; auch hatte es bei der Ausbildung zukünftiger Mediziner beträchtlichen Einfallsreichtums seitens des Baders oder Feldschers bedurft, um zu zeigen, wie die wirklichen anatomischen Sachverhalte mit den dogmatischen Behauptungen der klassischen Autoren in Einklang gebracht werden könnten. Dies alles ist vergangen und vorbei; dennoch haben sich die Methoden der Lehre erhalten und von den älteren Universitäten auf die neugegründeten und sogar auf die Technischen Hochschulen übertragen. Die Verpflichtung, während des Semesters täglich den ganzen Vormittag damit zuzubringen, Vorlesungen zu hören, ist ein Anachronismus und nutzlose Zeitverschwendung. Das soll nicht heißen, Vorlesungen seien völlig unnütz; doch könnte ihr positiver Zweck besser auf andere Weise erreicht werden. Eine naturwissenschaftliche Vorlesung befindet sich zwischen zwei Extremen. Sie kann ein geistvoller und verallgemeinernder Kommentar zum Thema sein, mit dem Ziel, Interesse zu wecken und zum Nachdenken anzuregen, indem sie stärker auf die Grenzen als auf den gesicherten Stand des derzeitigen Wissens eingeht und indem sie naturwissenschaftliche Probleme im engen Zusammenhang mit technischen und gesellschaftlichen Problemen darlegt. Vorlesungen dieser Art sind notwendigerweise selten und bei den Studenten meist nicht beliebt, weil sie zur Vorbereitung auf Prüfungen wenig nutzen. Tatsächlich eignen sie sich — von den Vorlesungen, die gelegentlich von hervorragenden Gastprofessoren gehalten werden abgesehen — besser als Vorträge vor wissenschaftlichen Gesellschaften oder als Themen für Seminare, in denen reichlich Gelegenheit zur Diskussion besteht. Das andere Extrem ist die gewissenhaft ausgearbeitete Vorlesung, in der alle Einzelheiten, insbesondere die numerischen Ergebnisse und die zu ihrer Herleitung erforderlichen mathematischen Beweisführungen sorgfaltig und methodisch gebracht werden. Diese Vorlesungen sind gewöhnlich unglaublich langweilig, werden aber sehr geschätzt, weil man wohl weiß, daß kaum einer, der sie hört und gut mitschreibt, bei dem Teil der Prüfungen, der sich

hatten auch eine gebührenfreie höhere Schulbildung. Das bedeutet ein Verhältnis von über 40 zu 1 zugunsten von Schülern, welche aus Schulen kommen, die Schulgeld erheben. Das Board of Education, das von anderen Erhebungen ausgeht, behauptet, 42 Prozent der Neuimmatrikulierten kämen aus Elementary Schools (vgl. The Times vom 5. Juli 1938); doch ist der Unterschied unerheblich, da die echte Chancengleichheit zugunsten der Wohlhabenden viel größer ist, als jede der beiden Zahlen aussagt, und zwar auf Grund der speziellen Vorteile, welche die Public Schools bieten.

95

auf Faktenwissen bezieht, versagen kann. Dennoch ist klar, daß in diesem Fall der Zweck der Vorlesungen besser erfüllt würde, wenn man ein Skript vorlegte, das alle Daten, Formeln und erforderlichen Beweise enthält und so eine nützliche Zusammenfassung der Lehrbücher bildet. Einige Dozenten gehen tatsächlich so weit, daß sie zu ihrer Vorlesung solche Skripten liefern. Zwischen diesen beiden Extremen gibt es natürlich jede Art von Zwischenstufen, und es gibt viele Umstände, unter denen Vorlesungen wirklich eine wertvolle Funktion erfüllen. Besonders auf neuen und sich schnell entwickelnden Gebieten können sie die Stelle von noch nicht geschriebenen Lehrbüchern einnehmen. Neue Erkenntnisse werden an den Universitäten immer noch als etwas Gefahrliches angesehen, und von einer wissenschaftlichen Theorie wird im allgemeinen angenommen, sie benötigte eine Quarantäne von etwa vierzig Jahren, ehe sie für Anfanger hinreichend gesichert sei. So kann man in Cambridge ein ausgezeichnetes Examen ablegen, sogar in Physik und Chemie, ohne jemals, es sei denn zufällig, etwas von der schon im Jahre 1900 aufgestellten Quantentheorie gehört zu haben. Eine weitere Entschuldigung für die Beibehaltung der Vorlesungen ist die Gelegenheit, die sie bieten, um raffinierte Experimente vorzuführen, deren Durchführung für die Studenten zu schwierig ist. Obgleich diese Experimente einen gewissen dramatischen Effekt haben und zusätzliches Interesse für die Naturwissenschaft wecken, sind die Bedingungen, unter denen sie gezeigt werden, für eine wirkliche Anwendung der Experimentiertechnik nur selten geeignet. Vorlesungen werden durch Demonstrationsexperimente und Praktika ergänzt. Letztere bestehen zum größten Teil darin, daß eine bestimmte Anzahl vorgeschriebener Versuche durchgeführt und die Techniken des Mikroskopierens, der qualitativen und der quantitativen chemischen Analyse geübt und physikalische Messungen gemacht werden. Demonstrationsversuche vermitteln sicherlich ein gewisses Minimum an Vertrautheit mit der Handhabung der Techniken der Naturwissenschaft, mehr leisten sie jedoch kaum. Selbst bei Demonstrationsversuchen für Fortgeschrittene wird nicht über die bekannten Methoden hinausgegangen, nicht auf die Anwendung wissenschaftlicher Methoden zur Bewältigung eines Problems hingewiesen, dessen Lösung man noch nicht kennt, oder etwa darauf, wie man sich bei einer völlig unerwarteten Beobachtung zu verhalten hat. Insoweit die Naturwissenschaft manuelles Geschick erfordert, läßt sich dies bestimmt nicht in dieser Weise entwikkeln. Die Methoden, durch welche die großen Naturwissenschaftler früherer Zeiten geformt wurden, waren weit effektiver. Die alte Methode, bei erfahrenen Leuten in die Lehre zu gehen, ihnen zuzuschauen und ihnen behilflich zu sein, zusammen mit jener zwanglosen Art zu lernen, indem man im Laboratorium herumpriemt und auch mal versucht, ein Problem, das man sich selbst gestellt hat, zu lösen, selbst wenn dies nicht besonders effektiv geschieht, macht mit den Dingen vertraut und vermittelt wahrscheinlich viel mehr von der Methode der Naturwissenschaft als eine Reihe noch so gut ausgetüftelter Demonstrationsversuche. Wenn wir uns diese Alternative ansehen, erkennen wir, daß es nicht nur pietätvoller Konservativismus ist, der dazu geführt hat, daß das gegenwärtige System von Vorlesungen und Demonstrationsversuchen in dieser Weise übernommen wurde; jede vernünftigere Alternative würde mehr Geld kosten, weil sie weit mehr Lehrkräfte im Verhältnis zur Anzahl der Studenten erfordern und viel mehr Geräte für jeden Studenten notwendig machen würde. Nun leiden alle Universitäten unter einem chronischen Geldmangel. Das Niveau der Lehre an den Universitäten könnte auf zwei Wegen beträchtlich erhöht werden: Einmal durch Vergrößerung des Lehrkörpers und Einrichtung mehrerer Ausbildungszyklen für Studenten unterschiedlicher Begabung und unterschiedlicher Berufsziele, zum anderen durch höhere Anforderungen bei der Aufnahme, so daß nur Schüler mit hoher Intelligenz 96

das Studium beginnen können. Der erste Weg würde die Ausgaben erhöhen, der zweite die Einnahmen verringern; bis wir begriffen haben, was ineffektive Universitäten die Gesellschaft kosten, müssen wir uns daher mit dem gegenwärtigen Ausbildungssystem abfinden. Die Spezialisierung. Ein anderer Mißstand, der sich unmerklich in der naturwissenschaftlichen Ausbildung an den Universitäten herausgebildet hat, ist die übermäßige Aufsplitterung in Institute. Als die Naturwissenschaft im neunzehnten Jahrhundert erstmals in die Universitäten Eingang fand, geschah dies im Gewand der Naturphilosophie; doch machte diese bald separaten physikalischen, chemischen, zoologischen usw. Instituten Platz, während die altgewohnte Eigenständigkeit der Medizin bestehen blieb und sich sogar deutlicher ausprägte. Größtenteils werden naturwissenschaftliche Themen getrennt gelehrt, ohne Rücksicht auf den inneren Zusammenhang. Daher muß es schon von der Sache her gewisse Überschneidungen geben; doch führt der Mangel an Koordinierung oft dazu, daß das Gemeinsame zweier Themen zweimal und dabei noch widersprüchlich vorgetragen wird. Jedes Gebiet wird so behandelt, als sei es ein mehr oder weniger geschlossenes System von Erkenntnissen, das nicht nur gegenüber der Welt der Praxis, sondern auch gegenüber jedem anderen Spezialgebiet seine Reinheit behaupten müsse. Das schlägt sich in einer ganz beträchtlichen Versteinerung der einzelnen Lehrprogramme nieder; dieser Prozeß wird natürlich durch die Starrheit des Prüfungssystems stark begünstigt. Der Lehrplan. Abgesehen von den seltenen Ausnahmen, daß ein junger energischer Professor es schafft, einen wichtigen Lehrstuhl zu erhalten, ändert sich der Lehrplan jeder Disziplin leider nur dadurch, daß immer mehr Stoff hineingepackt wird. Vom Standpunkt der Lehre aus unterscheiden sich die Naturwissenschaften von den klassischen Fächern leider dadurch, daß ihr Stoff stets wächst, während die zum Studium verfügbare Zeit die gleiche bleibt. Die erste Methode, die üblicherweise angewandt wird, um mit diesem Anwachsen fertig zu werden, besteht darin, erst mit beachtlicher Verspätung neue Erkenntnisse in den Lehrplan aufzunehmen — mit der Begründung, sie widersprächen dem Bisherigen und außerdem könnten sie sich noch ändern. Die Vorstellung, daß gerade die älteren Teile des Stoffes vermutlich viel dringender drastisch geändert werden müßten, scheint in akademische Köpfe nicht leicht Eingang zu finden. Jedenfalls scheint sich die Wahrheit in der naturwissenschaftlichen Ausbildung auf die Vorstellung von der Wahrheit zu Prüfungszwecken zu reduzieren. Wenn schließlich das neue Element des Wissens akzeptiert ist, wird es ans Ende des Lehrplans angehängt, während der Rest des Stoffes irgendwie zusammengequetscht wird, um Platz dafür zu schaffen. Das ganze Verfahren erinnert an die alten Bauerntrachten: Jedes Jahr wird ein neuer Unterrock übergestreift, in der frommen Erwartung, einer der älteren Röcke sei zu verschlissen, um noch zu etwas zu taugen. Im Ergebnis ist jeder Lehrplan ein Mischmasch von Altem und Neuem, voller innerer Widersprüche, welche der Dozent vertuscht und die Studenten nur selten zu entdecken vermögen. Die chemische Ausbildung beispielsweise basiert auf der großen Revolution in der Chemie vom Jahre 1784 und ihrer Fortsetzung in der atomistischen Theorie vom Jahre 1808. Heute besitzen wir durch die Quantentheorie und die Entwicklung der modernen Physik einen viel rationelleren und direkteren Zugang zu chemischen Problemen, aber wir müssen nochmals fünfzig Jahre warten, bevor es ein wagemutiger und weitblickender Chemieprofessor schafft, den ganzen derzeitigen Lehrplan über den Haufen zu werfen und durch einen neuen zu ersetzen, der dann natürlich wieder etwa achtzig Jahre hinterher hinkt. In der Physik ist die Lage nicht viel besser. Die Hauptprüfung an der Londoner Universität beruht zum Beispiel auf einem Lehrplan, dessen Fakten größtenteils schon um 1880 bekannt waren. Nur beiläufig streift er Röntgenstrahlen und Radioaktivität, und die ganze moderne Physik wird völlig außer acht gelassen. 7

Bernal

97

Natürlich haben die Universitätsleitungen nicht direkt die Absicht, an veralteten Lehrplänen festzuhalten; es gibt aber eine sehr natürliche Trägheit, jedoch keine Vorkehrungen für eine periodische Überarbeitung aller Lehrpläne oder für die Wahrung vernünftiger Relationen zwischen den Lehrplänen in verschiedenen Fächern. Hier liegt, wie in vielen anderen Aspekten des. Universitätsbetriebs, die Schuld großenteils beim Prüfungssystem. Aus dem engen Blickwinkel kurzfristigen Interesses bei Dozenten und Studenten gleichermaßen scheint es erforderlich, daß die für die Prüfungen gültigen Lehrpläne jedenfalls für einige Jahre ungeändert bleiben, damit hinreichend viele Standardfragen gesammelt werden können, auf welche die Kandidaten vorbereitet oder getrimmt werden. Eine Änderung des Lehrplans und die Einführung neuer und unerwarteter Fragen würden sowohl den Lehrenden als den Prüfenden belasten und vermutlich die den Prüfungsergebnissen ohnehin schon innewohnende große Zufallskomponente noch verstärken. Dies weist an sich schon auf eine weitere inhärente Schwäche des Prüfungssystems hin, auf die Tendenz nämlich, sich auf Fragen nach Fakten, Gedächtnisstoff oder der mechanischen Wiedergabe gewisser Verfahren zu stützen. Prüfungen. Leider sind die einfachsten Methoden zur Überprüfung des Wissensstandes und diejenigen, welche im Durchschnitt die gerechtesten Ergebnisse liefern, gerade diejenigen, die vom Standpunkt des Erwerbs wissenschaftlicher Fähigkeiten den geringsten Wert besitzen. Würde jeder Kandidat darauf getestet, inwieweit er imstande ist, irgendeine völlig neue Beobachtung zu machen oder irgendwelche kürzlich entdeckten Erscheinungen einzuordnen: mit anderen Worten, würde die Fähigkeit zum Forschen getestet, so hätten wir im Idealfall einen viel sichereren Maßstab zur Beurteilung seiner Fähigkeit, Naturwissenschaft zu begreifen und anzuwenden. Leider wäre es ohne jahrelange Tests dieser Art völlig unmöglich, zwischen angeborener Fähigkeit und teuflischem Zufall zu unterscheiden. Nur ein Dummkopf könnte dadurch entdeckt werden, daß er mit einem offenbar leichten Problem nicht fertig wird, oder ein begabter Wissenschaftler eben dadurch, daß er ein schwieriges Problem zu bewältigen vermag; die größere Zahl der Fälle, bei denen die Schwierigkeiten die Fähigkeiten beider übersteigen, müßte unberücksichtigt bleiben. Tatsächlich wird diese Methode bei der Prüfung zur Erlangung des akademischen Grades eines Doctor of Philosophy angewandt; mindestens wird dies angenommen. Der Grad soll für Forschungen verliehen werden, aber als Nachweis der Fähigkeit dazu bedeutet das Verfahren wenig mehr als eine Farce. Die Dissertation wird von einem oder zwei Spezialisten beurteilt; ihre Beurteilung, ob qualifiziert oder voreingenommen, wird von Gremien unterstützt, denen der Inhalt spanisch vorkommt und welche schläfrige Sommernachmittage hindurch darüber sitzen, wobei sie ständig nach Aufgaben dieser Art und weiteren Gebühren für die Universität Ausschau halten. Das Hauptübel des Prüfungssystems besteht nicht so sehr in den Prüfungen selbst oder darin, daß die Ergebnisse ungerecht sind — weil, wie schon mehrmals gesagt, der wirklich Begabte auch in Prüfungen erfolgreich sein kann —, sondern in der Geisteshaltung, die diese Einrichtung im Gefolge hat. In den Tagen, als die Universitäten in der Hauptsache Stätten waren, an denen die Reichen einige glückliche Jugendjahre vertrödelten, konnten sie völlig zu Recht verächtlich abgetan werden; wo aber, wie jetzt, die ganze Laufbahn eines gebildeten Bürgers von seinem zehnten Lebensjahr an von seinen Leistungen in einer Reihe von Prüfungen abhängt, sind sie zum mächtigsten Faktor einer falschen Erziehung geworden. Für jeden, der keinen finanziellen Rückhalt hat oder kein überragendes Genie ist, wäre es gefahrlich, Prüfungen auf die leichte Schulter zu nehmen. 6 Alle müssen 6

Vgl. dazu Ch. Isherwoods Bericht über seine Prüfungserfahrungen in: Lions and Shadows, 1938.

98

London

ihr W i s s e n d a n a c h b e m e s s e n , w e l c h e n Wert es für P r ü f u n g s z w e c k e hat. D a s f ü h r t d a z u , d a ß m a n sein Interesse b e w u ß t g e r a d e d o r t zügelt, w o d a s W i s s e n n o c h n i c h t g e s i c h e r t ist, a l s o g e r a d e d o r t , w o Interesse e r f o r d e r l i c h wäre. I n f o l g e d e s s e n k a n n m a n a n n e h m e n — w e n n es sich a u c h n o c h n i c h t b e w e i s e n läßt —, d a ß d i e U n i v e r s i t ä t e n z u r Z e i t e i n e n b e s t i m m t e n n e g a t i v e n E i n f l u ß a u f d i e A u s b i l d u n g a u s ü b e n u n d d a ß der S t u d e n t z u B e g i n n

seines

S t u d i u m s breiter interessiert u n d a u f g e s c h l o s s e n e r ist als z u E n d e d e s s e l b e n . G l ü c k l i c h e r w e i s e b l e i b e n d e n S t u d e n t e n der N a t u r w i s s e n s c h a f t d i e s c h l i m m s t e n A s p e k t e d e s S y s t e m s erspart, i n s o f e r n , a l s die v o n i h n e n v e r l a n g t e R e c h t g l ä u b i g k e i t s i c h n u r a u f e i n i g e r m a ß e n gesicherte T a t s a c h e n b e z i e h t u n d nicht, wie in d e n G e i s t e s w i s s e n s c h a f t e n , a u f d i e h e r r s c h e n d e Meinung. Die

medizinische

Ausbildung.

I n n e r h a l b der n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n A u s b i l d u n g a n der

U n i v e r s i t ä t n e h m e n z w e i D i s z i p l i n e n e i n e S o n d e r s t e l l u n g ein, d i e m e d i z i n i s c h e n u n d d i e t e c h n i s c h e n F ä c h e r . A u s h i s t o r i s c h e n u n d g e s e l l s c h a f t l i c h e n G r ü n d e n v o l l z i e h t sich d i e medizinische A u s b i l d u n g n o c h immer außerhalb des H a u p t k o m p l e x e s der übrigen nichtg e i s t e s w i s s e n s c h a f t l i c h e n D i s z i p l i n e n . Im a k a d e m i s c h e n R a h m e n ist sie d i e ältere S c h w e s t e r der n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n A u s b i l d u n g ; viel stärker als d i e s e hält sie a n m i t t e l a l t e r l i c h e n L e h r t r a d i t i o n e n fest. In g e s e l l s c h a f t l i c h e m Z u s a m m e n h a n g g e s e h e n ist d i e m e d i z i n i s c h e A u s b i l d u n g d i e H e r a n b i l d u n g einer w e i t g e h e n d a u f F a m i l i e n t r a d i t i o n b e r u h e n d e n K a s t e v o n p r a k t i s c h t ä t i g e n Ä r z t e n , u n d h i e r a u s erklärt s i c h j e n e S o n d e r s t e l l u n g d e s M e d i z i n studenten gegenüber seinen Kommilitonen. G e g e n die medizinische A u s b i l d u n g lassen sich z w e i A r g u m e n t e ins F e l d f ü h r e n : E i n e s w u r d e v o n P r o f . M o t t r a m in The Frustration Science 7

of

t r e f f e n d f o r m u l i e r t : 7 Sie sei e i n e sehr s c h l e c h t e V o r b e r e i t u n g a u f die m e d i z i n i s c h e

Prof. Mottram, selbst Dozent der Medizin, findet am gegenwärtigen Ausbildungssystem wenig Empfehlenswertes: „Zunächst einmal ist es nicht zuviel behauptet, daß ein Mittelloser oder Armer, der keine wohlhabenden Verwandten hat, die ihn unterstützen, kaum Zugang zu einer medizinischen Laufbahn findet. Sie öffnet sich keinem Talent ohne finanziellen Rückhalt. Fünf bis sechs Jahre Ausbildung sind bis zu einem Arztexamen erforderlich, und selbst danach ist man noch nicht hinreichend qualifiziert, um in die medizinische Praxis zu gehen. Zwar gibt es Stipendien an den Universitäten, besonders an den älteren, die einem tüchtigen Studenten über die Jahre seines Studiums an der Universität hinweghelfen, und die medizinischen Ausbildungsstätten gewähren einem solchen Studenten der Biologie, Anatomie und Physiologie Stipendien während seiner klinischen Ausbildung; doch die Anzahl dieser Stipendien reicht bei weitem nicht aus. Nach abgeschlossener Ausbildung sitzt er dann aber fest; denn entweder muß er eine Praxis kaufen oder sich irgendwo niederlassen, um sich nach und nach eine Praxis aufzubauen — ein Hungerdasein für jemand ohne eigene Mittel. Es gibt verschlungene Pfade, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, während man eine Praxis aufbaut — Zeitungsartikel schreiben, Teilzeitbeschäftigungen im öffentlichen Gesundheitswesen usw. Sie sind aber so unsicher, daß sich nur die Wendigsten und Zielstrebigsten darauf einlassen. Dagegen wird dem Wohlhabenden, auch wenn er nur geringe Fähigkeiten besitzt, der Weg zu einer eigenen Praxis leicht gemacht. Noch besser ist es, wenn auch sein Vater Arzt ist. Er wird durch die erforderlichen Prüfungen geschoben, gezogen und gepaukt und tritt zur gegebenen Zeit in die Fußstapfen des Vaters. Manch einer wird Mediziner, weil sein Vater eine gutgehende Praxis hat und nicht etwa aus innerer Begeisterung für die Heilkunst. Zum anderen kann mit Bestimmtheit gesagt werden, daß der akademische Teil der Ausbildung des Medizinstudenten hoffnungslos ineffektiv ist. Zugegebenermaßen ist zwar die Medizin noch immer eine Kunst und keine Wissenschaft, doch braucht offenbar ein Arzt, um die modernen Entdeckungen der medizinischen Forschung verstehen und anwenden zu können, eine gediegene Ausbildung in naturwissenschaftlichen Methoden. Er muß eine kritische und wissenschaftliche Haltung entwickeln. Diese sollte ihm durch sein Studium der Biologie, Chemie, Physik, Physiologie und Anatomie an der Universität vermittelt werden. Wir dürfen mit ziemlicher Sicherheit behaupten, daß er in 99 von 100 Fällen seine wissenschaftliche Ausbildung abstreift, wenn er in der Klinik anfangt. Tatsächlich wird ihm sogar geraten, die ganze Physiologie, die er gelernt hat, zu vergessen. Vielleicht ist das sogar ein weiser Rat, denn man darf bezweifeln, ob sie irgendeinen Nutzen für ihn hätte. Tatsache ist, daß er bei dem Versuch, Biologie, Chemie, Physik, Physiologie und Anatomie innerhalb von zweieinhalb bis drei

i*

99

Praxis, da sie das Studium der alltäglichen Krankheiten bzw. das der Grundlagen einer gesunden Lebensführung ziemlich vernachlässige. Das zweite besteht darin, daß es ihr im Gegensatz zu der Ausbildung in naturwissenschaftlichen Fächern nicht gelingt, die Medizin als Wissenschaft darzubieten statt als traditionell akademische und irgendwie mystische Kunst. Die ersten Stadien der medizinischen Ausbildung sind jedenfalls eine glatte Farce. Die Physik und die Chemie, weitgehend auch die Biologie — bestimmt aber die Botanik — werden den Medizinstudenten zu Anfang vorgesetzt ohne die geringste Rücksicht auf die Methoden der Naturwissenschaft oder auf den praktischen Nutzen; sie werden daher von den meisten zu Recht als zwar notwendiges, aber langweiliges Einführungsritual angesehen, in dem sie ihre Rolle mit geringstem Aufwand zu erlernen bestrebt sind, das sie für den Rest ihres Lebens aber getrost vergessen können. Mit den anschließenden Kursen in Anatomie und Physiologie steht es noch schlimmer: Ersterer bringt eine ungeheure Belastung des Gedächtnisses beim Einprägen der Namen von Teilen des Körpers mit sich, die weitgehend weder klinisch noch physiologisch von Bedeutung sind und die losgelöst von ihrer Funktion erlernt werden müssen, welche in der Physiologie behandelt wird. Die ' Physiologie selbst ist, in der Hauptsache dank ihres Zusammenhangs mit der Medizin, in einem Zustand totaler Konfusion und steckt voller Widersprüche, so daß sie die wichtigsten Lehren, die ein zukünftiger Arzt daraus ziehen könnte, verbirgt. Bis diese Disziplinen durch eine vernünftig systematisierte morphologische Biochemie mit besonderer Berücksichtigung des menschlichen Körpers ersetzt werden können, sind vermutlich Jahre gemeinsamer Bemühungen erforderlich, und dies wird nur gegen den heftigsten Widerstand der Mediziner erreicht werden können. Über die letzten Etappen der medizinischen Ausbildung braucht hier nichts gesagt zu werden. Sobald der Student in die Klinik übergewechselt ist, hat er in den meisten f ä l l e n die Gefilde der Wissenschaft für immer verlassen. Die technischen Fächer. Die Institute der technischen Fächer können normalerweise nicht beanspruchen — und tatsächlich tun sie es auch nicht —, die Erfahrungen zu vermitteln, die allein die technische Praxis liefert. Daher ist es schade, daß die Jahre, die der Student an diesen Einrichtungen damit verbringt, sich eine ziemlich halbherzige Einführung in die technische Praxis zu erarbeiten, statt dessen nicht zum Studium der Mathematik, Physik und Chemie im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen und ökonomischen Hintergrund genutzt werden, vor dem der Ingenieur später zu arbeiten hat. Man kann nur bedauern, daß gerade diejenigen Menschen, die praktisch zur Schaffung neuer Werte für die Gesellschaft in höchst schöpferischer Weise beitragen, durch diese Ausbildungsmethoden zugleich.

Jahren zu lernen, ohnehin nur eine oberflächliche Kenntnis von diesen Dingen erhalten und von ihrer wirklichen Bedeutung nichts mitbekommen konnte. Höchstens das bloße Gerippe dieser Disziplinen konnte er erfassen, von ihrem lebendigen Geist kein Jota. Nur durch ein tiefgehendes und kritisches Studium eines Gegenstandes kann ein Mensch den Geist wissenschaftlicher Arbeit erfassen. — Ein solches Studium ist nur möglich, wenn der Student von seinem medizinischen Lehrplan abgeht und mindestens ein Jahr lang an Spezialvorlesungen und Kursen für Fortgeschrittene teilnimmt. In Großbritannien, in den Vereinigten Staaten und in Kanada gibt es, soweit der Verfasser weiß, solche Kurse; so etwa Teil II der National Sciences Tripos in Cambridge, die Honours School of Physiology in Oxford, die Special Honours an der Universität London, den P. und B. Course in Toronto und an der Universität Chicago. Die Anzahl der Studenten, welche die nötige Zeit und das nötige Geld aufbringen können; ist aber äußerst klein. — Nach Beendigung seiner Ausbildung an einer Universität dürfte ein Mensch kaum in der Lage sein, eine Originalarbeit .¿¡tuf dem Gebiet zu lesen, das er studiert (oder sollten wir sagen „gelernt"), hat, und sie zu beurteilen. Noch weniger ist er gerüstet, selbständig wissenschaftlich zu arbeiten." (R. H. Mottram, in: The Frustration of Science, a. a. O., S. 86—88.)

100

der Möglichkeit beraubt werden, eine gute Allgemeinbildung zu erwerben. 8 Wie in der Medizin tritt hier erschwerend hinzu, daß der Beruf schnell zur Familientradition wird. Daher ist das Durchschnittsniveau der Studenten technischer Fächer niedriger als an der Universität insgesamt, und sie sind von dem allgemeinen Universitätsleben fast ebenso abgeschnitten wie die Medizinstudenten.

Die Ausbildung von Forschern Die relativ wenigen Absolventen einer Universität, die in die Forschung gehen, haben noch eine ganze Menge zu lernen, ehe sie imstande sind, in der Entwicklung der N a t u r wissenschaft eine positive Rolle zu spielen. Bisher verläuft dieser Teil ihrer Ausbildung nicht systematisch. Von dem angehenden Forscher wird erwartet, daß er die Arbeitsmethoden bei seinen Kollegen und demjenigen, der ihn von Amts wegen anleiten soll, aufschnappt bzw. sie sich durch Lektüre und Praxis aneignet. Dieses System ist an und für sich gar nicht so schlecht. Zwar wäre ein wenig systematische Unterweisung darüber nützlich, wie man eine Sache kritisch einschätzt und wie m a n eine wissenschaftliche Arbeit abfaßt, und sicherlich kommen sich einige schüchterne und unentschlossene angehende Wissenschaftler, die an ein starres und schulmäßiges Ausbildungssystem gewöhnt sind, völlig verloren vor, wenn sie sich plötzlich selbst überlassen werden. D a jedoch das meiste von dem, was ein angehender Forscher zu lernen hat, darin besteht, d a ß er sich von dem bisher Gelernten befreit, indem er lernt, an allem zu zweifeln, was ihm beigebracht wurde, und den Argumenten zu mißtrauen, die ihn von der Wahrheit dessen überzeugen sollten, kann man sich schwer vorstellen, wie ihm diese Haltung von offizieller Seite vermittelt werden könnte. Finanzielle Schwierigkeiten. Die Hauptprobleme eines angehenden Forschers sind aber weniger seine Ausbildung als seine materiellen Mittel. Bis zum Übergang in die Forschung sind die Methoden zur Finanzierung der Ausbildung, obwohl sie höchst unzureichend und dem unbemittelten Studenten gegenüber ungerecht sind, jedenfalls recht einfach und leicht zu durchschauen. Ist der Befähigungsnachweis in den vorgeschriebenen Prüfungen erbracht, so erhält man auf Antrag bei den Ausbildungsinstanzen ein übliches Stipendium, das sich sogar bis ins erste Jahr der Tätigkeit in der Forschung hinein erstrecken kann. Danach steht der Forscher vor einem äußerst komplexen Problem, zu dessen Bewältigung ihn seine Ausbildung in keiner Weise befähigt hat. Eiy Lehrgang über die Schliche beim Gerangel um Ernennungen und Stipendien wäre, wenn er an unseren Universitäten eingerichtet werden könnte, bestimmt einer der populärsten und notwendigsten. Tatsächlich sind die ersten Jahre in der Forschung, die in vieler Hinsicht die fruchtbarsten sind, für die weitaus meisten angehenden Forscher von völliger materieller Unsicherheit überschattet. Wenige Stipendien werden für länger als drei Jahre gewährt, viele nur für ein Jahr, und in allen Fällen gibt es weit weniger Stipendien als Anwärter, so d a ß der Forscher weiß, daß es, statistisch gesehen, f ü r ihn wahrscheinlicher ist, Schullehrer oder Meßknecht in einer Fabrik zu werden, als eine Dozentur an einer Universität zu bekommen oder seine Forschungsarbeit fortsetzen zu können. Auf einer Inspektionsreise waren einige Regierungsbeamte genau so entsetzt, als ein angehender Forscher tatsächlich sagte, er hoffe 8

Daß das möglich ist, beweisen die hervorragenden einschlägigen Vorlesungen am Massachusetts Institute of Technology [USA].

101

seine Laufbahn als Forscher fortzusetzen, wie der Vorstand des Arbeitshauses, als Oliver Twist mehr Essen haben wollte. Möglichkeiten zum Forschen. Es gibt in Großbritannien drei hauptamtliche Professorenstellen in der Forschung, von denen eine zum medizinischen Bereich gehört, ferner 51 Dotationen für erfahrene Wissenschaftler in der naturwissenschaftlichen Forschung, zu einem Durchschnittsbetrag von 425 £ jährlich und einer durchschnittlichen Laufzeit von 2l¡2 Jahren, sowie 37 medizinische Forschungsdotationen von 475 £ jährlich für durchschnittlich 3 1 / 2 Jahre. Das bedeutet, daß im Durchschnitt jährlich ganzen 19 von 1600 postgradualen Studenten der Naturwissenschaft eine Möglichkeit geboten wird, ausschließlich in der Forschung tätig zu sein, und 12 von 750 postgradualen Studenten der Medizin. Die Zahl der Forschungsstipendien für Anfanger, die zumeist schon den oben genannten Studenten zugute kommen, ist natürlich größer, aber schwer genau zu schätzen. Die Royal Commission for the Exhibition of 1851 führt 45 solche Stipendien an, mit je 186 £ jährlich und einer Laufzeit von etwas über 2 Jahren. Außerdem gibt es etwa 120 Stipendien zu je 140 £ jährlich vom D. S. I. R., von denen 80 jedes Jahr vergeben werden, also insgesamt 165, von denen jedes Jahr 100 neu gewährt werden. Diese Zahl ist bestimmt knapp geschätzt, aber selbst wenn wir annehmen, sie sei um 50 Prozent höher, so würde sie nur 4 Prozent der 3700 Absolventen erfassen, die an britischen Universitäten jährlich ihr Examen in Naturwissenschaft und Technik machen. Zweifellos sind diese Möglichkeiten für die Forschung ungenügend und unbefriedigend. Diese Situation wurde jetzt auch regierungsseitig zur Kenntnis genommen, wenn auch bisher noch nichts erfolgte, um sie zu ändern. Sir William Bragg nahm im Jahre 1936 in seiner Presidential Address vor der Royal Society folgendermaßen dazu Stellung: „Die Lage der Leute, insbesondere die der jüngeren, welche durch diese finanziellen Beihilfen ermutigt werden, die produktivsten Jahre ihres Lebens der naturwissenschaftlichen Forschung zu weihen, sollte von denen überdacht werden, die dafür verantwortlich sind, wie sich ihr Leben gestaltet. Einige der besten Köpfe unter den jungen Leuten des Empire werden für ganz bestimmte Aufgaben ausgewählt, die sie zweifellos erfüllen. Sie leisten gute Arbeit, und wenn sie beendet ist, stehen hervorragende und vielseitig einsetzbare Fachleute für weitere Aufgaben zur Verfügung. In zahlreichen Fällen bietet sich eine weitere befriedigende Arbeitsmöglichkeit an. Das ist aber nicht immer so. Man findet Leute, die ihren Lebensunterhalt aus Stipendien bestreiten, die ihnen jeweils von einer Institution zur Finanzierung von Forschungsaufgaben nach der anderen gezahlt werden, bis sie auf Grund ihres Alters oder aus anderen Gründen nicht mehr dafür in Frage kommen. Ein solcher Wissenschaftler kann ausgezeichnete Arbeit geleistet haben, seine Leistungsfähigkeit so groß sein wie eh und je, trotzdem muß er sich nach einer anderen Quelle seines Lebensunterhaltes umsehen. Eine Tätigkeit als Hochschullehrer mag ihm nicht liegen, vielleicht wird sie ihm auch nicht angeboten. Seine Tätigkeit hat ihn in eine Sackgasse geführt. Wie ich höre, besteht die Tendenz, daß Leute, die in der Industrieforschung tätig sind, dort, wo sich die Möglichkeit bietet, reine Verwaltungsposten anstreben, die sie auf die Dauer für sicherer und letzten Endes einträglicher halten. Diese Tendenz weist auf die wahre Ursache der Misere hin. Aus der Sackgasse müßte eine Durchfahrtsstraße werden zu Tätigkeiten, für die sie besser geeignet sind und aus denen sie das beste machen können. Es ist klar, worin diese Tätigkeiten bestehen. Es sind verantwortungsvolle Funktionen, zu denen bisher Spezialisten der Naturwissenschaft nur selten Zugang fanden. Es gibt einen ermutigenden Anfang, doch wird es noch einige Zeit dauern, bis man sich dessen bewußt ist, daß der Mann, der unmittelbar mit der wachsenden Naturerkenntnis zu tun hat, zugleich auch mit den Möglichkeiten ihrer Anwendung in enger Verbindung sein sollte. Er sollte gleichberechtigt im Rat sitzen und nicht im Vor102

zimmer bleiben müssen. Andererseits muß der Naturwissenschaftler mithelfen, die Barrikade abzutragen, welche seinen Weg zur Sackgasse macht. Das erfordert, daß seine Ausbildung ihn zu weit mehr befähigen muß als nur zur Arbeit im Laboratorium." Auch die Bezüge der jungen Naturwissenschaftler in der Forschung sind keineswegs angemessen. Die D.S./../?.-Stipendien, die am begehrtesten sind, sind bloße Unterhaltsbeihilfen. 120 Pfund Sterling im Jahr (nur in Oxford und Cambridge werden 200—250 £ gezahlt). Davon gehen noch alle möglichen Abzüge ab, obwohl großzügig gestattet wird, ein Drittel (in Oxford und Cambridge ein Sechstel) der Einnahmen für Lehrtätigkeit nicht abzuführen (vgl. S. 397, Anmerkung 10). Ist es verwunderlich, daß ein Naturwissenschaftler, der von solchen Einkünften leben muß, keine breiteren Interessen entwickeln kann und zum engstirnigen Spezialisten wird? Wie man weiterkommt. Natürlich gibt es hier, wie auf allen Gebieten, altbewährte Methoden; eine besteht darin, sich den richtigen Chef auszusuchen und sich ihm gefallig zu erweisen. Die besten Wissenschaftler brauchen nicht unbedingt die besten Leiter von Forschungseinrichtungen zu sein; einige sind so von ihrer eigenen Arbeit in Anspruch genommen, daß sie für ihre Mitarbeiter einmal im Jahr etwa eine Stunde übrig haben; andere zeigen ein so reges Interesse an allem, was ihre Mitarbeiter tun, daß sie geneigt sind zu vergessen, daß nicht sie die ganze Arbeit gemacht haben. Es ist für einen jungen Menschen immer schmerzlich, die Erfahrung zu machen, daß weder Alter noch echte Leistung vor der Versuchung bewahren, sich mit fremden Federn zu schmücken. Vielleicht die bequemsten Chefs sind jene liebenswerten Halunken, die mit ihren Mitarbeitern eine Art Symbiose eingehen, sich sorgfaltig gute Mitarbeiter aussuchen, darauf sehen, daß sie ausreichend mit Geräten ausgestattet sind, ihren eigenen Namen auf alle Veröffentlichungen setzen und, wenn man ihnen schließlich auf die Schliche kommt, ihre Schützlinge auf Grund ihrer zahlreichen Beziehungen gut unterzubringen wissen. Unabhängigkeit des Geistes steht in der wissenschaftlichen Welt nicht hoch im Kurs. Ein junger Wissenschaftler, der vor einer Einstellungskommission einem hervorragenden Professor auf die Frage nach seinen Ansichten über wissenschaftliche Zusammenarbeit antwortete, er habe nicht die Absicht, jemandes Lakai zu werden, erhielt die Stelle nicht, und es dauerte Jahre, bis seine unbestrittene Begabung und sein Charakter ihm Anerkennung zu verschaffen begannen, während weit weniger fähige — aber fügsamere — Zeitgenossen schon auf Lehrstühlen saßen. Das sind aber Übel, die allen hierarchischen Systemen anhaften. Eines, das in der Wissenschaft mehr Schaden anrichtet, ist der auf allen Forschern lastende Zwang, Ergebnisse zu erzielen und dafür zu sorgen, daß sie veröffentlicht werden. Der junge Absolvent, der gerade dem Druck des Prüfungssystems entronnen ist, findet, daß er aus dem Regen in die Traufe gekommen ist, insofern als seine Zukunft nunmehr von Zahl und Volumen seiner Veröffentlichungen mindestens ebensosehr wie von ihrer Qualität abhängt. Den jungen Naturwissenschaftlern ohne eigene Mittel, und das sind heute die meisten, ist es nicht vergönnt, einige Jahre damit zuzubringen, Studien zu treiben, ihren Gedanken nachzuhängen und ohne erkennbares Ziel zu experimentieren, so wie es die großen Naturforscher der Vergangenheit tun konnten. Im Ergebnis wird ihr Schöpfertum zu einer Zeit an seiner Entfaltung gehindert, da es am produktivsten sein könnte und noch nicht durch die Bürde administrativer und sozialer Verantwortung belastet ist. Außerdem führt dieser Zwang dazu, daß die wissenschaftliche Literatur mit riesigen Mengen von wertlosen Veröffentlichungen überladen ist, so daß das Herausfinden der wirklich guten Arbeiten unnütz erschwert wird.

103

Forschen als Beruf. Dies alles hängt damit zusammen, daß der Status des Forschers nicht das Normale ist und bisher nicht in die traditionelle Struktur integriert wurde. Forschung wurde früher von Leuten aus Liebhaberei betrieben oder von Lehrkräften in ihrer Freizeit. Die Erkenntnis, daß Forschen ein Beruf sein kann und daß die Eignung für eine wissenschaftliche Lehrtätigkeit keineswegs mit einer Eignung für eine Tätigkeit in der Forschung einherzugehen braucht, ist neu. Wenn Forschung als gesonderter Beruf anerkannt und entsprechend dotiert würde, würde sich die Lage von Grund auf ändern. Es kann passieren, daß sich dabei ständig auch einige wenige taube Blüten in der Forschung breit machen würden, doch wäre sichergestellt, daß die meisten ernsthaft Arbeitenden sich ihren Aufgaben voll und ganz widmen könnten und von dem Zwang befreit wären, um ihre Existenz zu kämpfen, was zur Zeit ihr Schicksal ist. Daß dieses Ziel durchaus erreichbar ist, zeigt sich darin, daß in Frankreich die Tätigkeit in der Forschung als Beruf anerkannt und materiell gesichert wurde (vgl. S. 210—212 und Anhang VI). Die aktiven Naturwissenschaftler von heute sind das Produkt des Auslese- und Ausbildungssystems. Es überrascht nicht, daß sie sich auf Grund der anders gearteten gesellschaftlichen und ökonomischen Umwelt von denen unterscheiden, welche die Grundlagen der modernen Naturwissenschaft geschaffen haben. Damals war der Entschluß, sich mit naturwissenschaftlichen Studien zu befassen, eine persönliche Entscheidung, die nur sehr wenige trafen, und dies, obwohl sie wußten, daß ihre Neigung für diese brotlose Kunst erhebliche Nachteile für sie mit sich bringen würde. 9 Diese Situation beschränkte die Beschäftigung mit Naturwissenschaft auf Wohlhabende und auf solche Leute, die es verstanden, einen Mäzen zu gewinnen. Heutzutage ist Naturwissenschaft ein bestimmter Beruf, in dem man sich auf jeden Fall einen bescheidenen Lebensunterhalt sichern kann und der deshalb zahlreiche Anwärter anzieht. Der Ausleseprozeß, der sich innerhalb der wissenschaftlichen Ausbildung vollzieht, begünstigt einerseits technische Fertigkeit und Fleiß, andererseits allgemeinen gesellschaftlichen Konformismus. Nicht weniger als der Verwaltungsangestellte muß der Wissenschaftler, wenn er Erfolg haben will, mit Leuten von Reichtum und Einfluß zurecht kommen. Ein zu großes' Engagement in gesellschaftlichen oder politischen Angelegenheiten bringt ihm zweierlei Nachteile ein: Es lenkt ihn von der Arbeit ab und macht ihn in den Augen der Allgemeinheit verdächtig. Es gibt eine ungeschriebene Überlieferung, obgleich sie historisch durch nichts gerechtfertigt ist, daß wirklich gute Naturwissenschaftler von gesellschaftlichen Problemen nichts verstehen und sich noch weniger darum kümmern, und daraus wird geschlossen, jeder, der ein solches Interesse offenbart, indem er eine Vorliebe für andere als die etablierten Institutionen und Meinungen bekundet, sei auch in seiner wissenschaftlichen Arbeit voreingenommen und nicht vertrauenswürdig. Wenn sich diese Einstellung, wie es in zunehmendem Maße geschieht, nicht nur auf politische, sondern auf fast alle kulturellen Aktivitäten außerhalb des Fachgebiets bezieht, legt sich die offizielle Naturwissenschaft selber Scheuklappen an. Interesse für schöne Künste oder Literatur wird nicht ausdrücklich verurteilt und mag tatsächlich als harmloses Steckenpferd verziehen werden; untersteht sich aber jemand, selber zu schreiben oder zu malen — es sei denn anerkanntermaßen schlecht —, so gefährdet er sicherlich seinen Ruf als Wissenschaftler. Die Schuld trifft ebenso sehr die Kultur wie die Naturwissenschaft. 9

Für eine Charakterisierung der Stellung des in der Forschung tätigen Wissenschaftlers aus viktorianischer Zeit vergleiche man den Artikel von Sorby in: Essays on the Endowment of Research, London 1876. Seine Schlußfolgerungen sind es wert, zitiert zu werden. Er schreibt: „Forschung im eigentlichen Sinne kann nur dann in zufriedenstellender Weise durchgeführt werden, wenn der Forscher sehr viel Zeit für seine Arbeit hat und von allen Sorgen frei ist, die das Nachdenken behindern."

104

Jede der beiden zeigt eine dümmliche Verachtung für die andere, was keiner von ihnen zur Ehre gereicht. Natürlich hat die Naturwissenschaft, wie jeder andere schöpferische Beruf, manche hervorragende und kraftvolle Persönlichkeiten von echter Kultur und geistiger Unabhängigkeit aufzuweisen, aber sie sind nicht typisch für den Beruf insgesamt. Viel eher sind eine ängstliche Unterwürfigkeit und eine Tendenz zur Anpassung allgemeine Charakteristika. Die Naturwissenschal üer reagieren auf mangelnde Wertschätzung durch ihre Umwelt in der Weise, daß sie in ihrem täglichen Leben so wenig wie möglich auffallen wollen und ihre ganze intellektuelle Aktivität auf die enge Sphäre ihres naturwissenschaftlichen Spezialgebiets richten. Das Werk der Naturwissenschaftler hat die moderne Welt revolutioniert, aber nicht, weil sie Revolutionäre waren, sondern obwohl sie es nicht waren. •

Die Populärwissenschaft Wie effektiv ein System naturwissenschaftlicher Ausbildung ist, zeigt sich an dem Platz, den die Naturwissenschaft im täglichen Leben einnimmt. Dabei handelt es sich nicht um den materiellen Beitrag, den die Naturwissenschaft in Gestalt von Erfindungen leistet; denn diese stellen sich denjenigen, die Gebrauch davon machen, nicht als Beiträge der Naturwissenschaft dar, sondern als Dinge, die etwas ersetzen oder ausbauen, was schon vor jeder Wissenschaft vorhanden war. In diesem Sinne ist das Kino ein leichter zugängliches Theater, und das Telephon bedeutet nur, daß man sich mit seinen Freunden unterhalten kann. In fast allen Fällen erfordert die Benutzung eines auf Naturwissenschaft beruhenden Gerätes wenig oder überhaupt keine naturwissenschaftlichen Kenntnisse und keine Vertrautheit mit den Methoden der Naturwissenschaft. Kinder, die nur eine ganz vage Vorstellung davon haben, wo die Sender stehen, und die von elektromagnetischen Wellen gar nichts wissen, haben keinerlei Schwierigkeit, genau das Programm hereinzukriegen, das sie hören wollen. Immerhin führt die Tatsache, daß um uns herum Apparate und Einrichtungen vorhanden sind, welche naturwissenschaftliche Prinzipien verkörpern, dazu, daß wir uns der Naturwissenschaft in ganz anderer Weise bewußt sind, als die Menschen in früheren Zeiten. Es gibt außerhalb der naturwissenschaftlichen Berufe Tausende, die sich bis zu einem gewissen Grade für Naturwissenschaft interessieren. Das reicht von der praktischen Beherrschung irgendeines begrenzten Gebietes der Naturwissenschaft, die beispielsweise ein Amateurfunker braucht, bis zum bloß passiven allgemeinen Interesse für die Wunder der Natur. Für solche Leute ist eine Fülle populärwissenschaftlicher Literatur entstanden, einzelne Artikel, Zeitschriften und Bücher, die dem Umfang nach kaum weniger beeindruckend ist als die eigentliche wissenschaftliche Literatur. Nun ist jedoch die Populärwissenschaft fast ebenso weit von der aktiven Naturwissenschaft entfernt wie die Unterhaltungsmusik von der klassischen Musik. Ergebnisse der Naturwissenschaften werden zwar — mehr oder weniger genau wiedergegeben oder auch sensationell aufgemacht — weit verbreitet, aber nur in Bruchstücken und ohne daß die Methode oder der Geist der Naturwissenschaft vermittelt werden. Die Presse in Großbritannien hat Naturwissenschaft nie ernst genommen; bis auf eine oder zwei bemerkenswerte Ausnahmen hat keine Zeitung so etwas wie einen Redakteur für Naturwissenschaft. Nachrichten aus der Naturwissenschaft sind fragmentarisch und schwanken in der Regel zwischen den Extremen des Sensationellen und des Obskuren. Gerald Heard schätzt die Situation so ein: „Naturwissenschaftliche Nachrichten werden jedoch in der Presse kaum gebracht, und wenn es geschieht, werden solche Dinge als völlig unzusammenhängende Fragmente abgedruckt. Die Massenblätter drucken Berichte über eine Entdeckung einfach deshalb ab, weil sie ihnen 105

sensationell vorkommt — weil sie unsere bisherigen Auffassungen über den Haufen zu werfen scheint. Die seriösen Zeitungen verfahren im Grunde auch nicht besser; denn wenn sie Nachrichten aus der Naturwissenschaft bringen wollen, besorgen sie sich einen Fachmann, der ein paar Zeilen liefert, und der nimmt nicht nur als selbstverständlich an, daß er für Leute schreibt, die genau so viel wissen wie er, sondern auch, daß weder unterrichtete noch gar uninformierte Leute erkennen oder schon wissen, in welcher Beziehung dieses Teilchen zu den übrigen des großen Puzzlespiels steht, als das uns die Naturwissenschaft als Ganzes entgegentritt. Es ist schwer, sich für solche Nachrichten ernsthaft zu interessieren oder mehr als schnell vorübergehende Neugier dafür zu empfinden. Noch schwerer ist es, sich solche Bruchstücke zu merken, sie zu sortieren, kritisch einzuschätzen und einzuordnen, solange man nicht erkennen kann, wo sie dem stets wachsenden Mosaik des Wissens etwas hinzufügen." 1 0 Die populärwissenschaftlichen Zeitschriften sind besser, enthalten aber noch immer großenteils Staunen erregende Geschichten, praktische Hinweise und nur gelegentlich einen korrekten und ernst zu nehmenden Artikel. Es gibt keine einzige Veröffentlichung, die es sich zur Aufgabe macht, den Fortschritt der Naturwissenschaft allgemeinverständlich vor dem Hintergrund der ökonomischen und politischen Entwicklungen unserer Zeit zu beschreiben. 11 Bei weitem das schlechteste sind populärwissenschaftliche Bücher. Sie umfassen langweilige und im allgemeinen umfängliche Kompendien des Wissens, die vermutlich um des Gewinnes willen, den sie dem Verleger bringen, veröffentlicht werden, Zusammenstellungen neuester Arbeiten, von naturwissenschaftlichen Dilettanten völlig mißverstanden und schauderhaft entstellt, und schließlich weise Reden der Prominenz des Faches als Bestseller. Darunter gibt es einige Werke, die es fertigbringen, zugleich korrekt und verständlich zu sein, aber sie sind nicht typisch, und im Verhältnis zu der Masse der Literatur sind es weniger als in der viktorianischen Epoche. Der gegenwärtige Einfluß der Wissenschaft. Die Bedeutung der Wissenschaft im öffentlichen Leben sollte daran gemessen werden, wie sie auf die Vorstellungen ihrer Zeit bewußt einwirkt. Obwohl im heutigen Großbritannien im großen und ganzen erhebliches Interesse für die Wissenschaft besteht, gibt es zweifellos keinen angemessenen kritischen Hintergrund in der öffentlichen Meinung für die Wissenschaft. Es gibt nicht dieses Gehen und Nehmen zwischen den wissenschaftlichen und den allgemeinen Vorstellungen, das für frühere Jahrhunderte charakteristisch war, selbst als der Kreis der wissenschaftlich Interessierten nur aus einer zahlenmäßig sehr beschränkten Gesellschaftsschicht bestand. Im Bereich der Wissenschaft gibt es nichts, was dem intensiven sachkundigen Interesse gleichkäme, mit dem Fußballspiele oder Pferderennen verfolgt werden; das läßt sich nicht nur dadurch erklären, daß Begeisterung für die Wissenschaft nichts einbringt oder daß sie so schwer zu verstehen wäre. Krickett oder Billard erfordern oft größere Raffinesse als manche Überlegungen in Biologie oder Physiologie; wären die Menschen wirklich an Wissenschaft interes-

10 11

G. Heard, Science Front, London 1936, Einleitung, S. 9. Der Realist hat das eine Zeitlang versucht; The Scientific Worker hat neben seiner fachlichen eine gewisse populärwissenschaftliche Orientierung. The Modem Quarterly will sich mit beiden Aspekten kritisch befassen. Dies sind jedoch alles Zeitschriften auf höherem Niveau. Was wir brauchen, ist ein gutes illustriertes populärwissenschaftliches Wochenblatt, wenn sich auch die neugegründete Discovery bemüht, diese Lücke zu schließen.

106

siert, so würden sie bald entdecken, welch schöner Sport es wäre, zehn zu eins auf die Theorie von Prof. B. gegen die Theorie von Prof. A zu wetten. 12 Man kommt nicht darum herum: In erheblichem Maße ist die Wissenschaft dem öffentlichen Bewußtsein entfremdet, und die Auswirkungen sind sehr schlimm für beide. Dies ist unter anderem deshalb schlecht für das Volk insgesamt, weil die Menschen, die ja in einer immer stärker von ihnen selbst gestalteten Welt leben, die Mechanismen, die ihr Leben beherrschen, immer weniger verstehen. Im Grunde genommen besteht kein sehr großer Unterschied zwischen einem Wilden, der den Naturphänomenen wie Dürre oder Krankheit völlig unwissend und hilflos gegenübersteht, und dem modernen Menschen, der von Menschen verursachte Katastrophen wie Arbeitslosigkeit durch technische Freisetzung oder Kriegführung mit naturwissenschaftlichen Mitteln befürchten muß. Mit dem Unbekannten und Angst Einflößenden konfrontiert und der Mittel zu ihrem Verständnis beraubt, greift der eine wie der andere zu phantastischen und mystischen Erklärungen. Es ist kein Zufall, daß in unserem Jahrhundert solcher Aberglaube wie Astrologie und Spiritismus wieder auflebt, von dem man geglaubt hatte, er sei seit dem Ende des Mittelalters tot und begraben. An dem weit gefahrlicheren Masseneinfluß, den die demagogischen faschistischen Ideen haben können, läßt sich ermessen, wie hoch der Grad der allgemeinen Unwissenheit ist und wie stark das Bedürfnis, an etwas zu glauben. Wissenschaft in der Isolierung. Es ist aber auch sehr schlimm für die Wissenschaft. Stark vereinfacht könnte man sagen, wenn das ganze Volk, wohlhabende Gönner und Regierungsbeamte eingeschlossen, nicht weiß, was die Naturwissenschaftler treiben, können diese nicht erwarten, daß ihnen jene Unterstützung zuteil wird, auf die sie für ihre Arbeit als Gegenleistung für den voraussichtlichen Nutzen für die Menschheit Anspruch zu haben glauben. Genauer betrachtet, verstärkt die Tatsache, daß der Wissenschaftler in der Öffentlichkeit nicht auf Verständnis, Interesse oder auch Kritik stößt, seine ohnehin vorhandene gefahrliche Tendenz zu geistiger Isolierung. Diese nimmt in der Regel nicht — wie man sich oft vorstellt — die Form an, daß der Wissenschaftler ein Mensch aus einer anderen Welt ist, der es nur dank der Hilfe seiner weiblichen Umgebung schafft, am Leben zu bleiben. Isoliert ist die Wissenschaft, nicht der Wissenschaftler. Soweit es nicht um sein Fachgebiet geht, mag er als ganz normaler Mensch erscheinen, Golf spielen, Anekdoten erzählen, ein treusorgender Gatte und Vater sein; sein Fach aber ist sein Heiligtum, und mit Ausnahme von etwa zwanzig Menschen, die etwas davon verstehen, läßt er keinen daran Anteil nehmen. Unter literarisch Gebildeten gilt es geradezu als Vorzug, nichts von Naturwissenschaft zu verstehen; selbst Naturwissenschaftler sind von dieser Haltung nicht frei, soweit es von der eigenen verschiedene Disziplinen betrifft. Daß man sich über naturwissenschaftliche Probleme gut unterhält, passiert nur selten, sogar in Gesprächsrunden, in denen Naturwissenschaftler in der Überzahl sind. Das war sicherlich anders, als Voltaire und Madame du Chätelet in ihren Salons naturphilosophische Experimente durchführen ließen oder als Shelley mit gleicher Begeisterung über Chemie wie über moralische Vollkommenheit diskutierte. Unter den bedeutenden jüngeren englischen Schriftstellern gibt es nur einen einzigen, in dessen Werken man Verständnis der modernen Naturwissenschaft spürt; allerdings liegen die Ursachen dafür in seiner Familie.*

12

D a ß dieser Mangel an öffentlichem Interesse kein naturgegebener ist, zeigt sich an der ungeheuren Popularität aller Formen von Wissenschaft in der Sowjetunion, wie die Presse, die Klubs und die Parks für Kultur und Erholung beweisen. Vgl. S. 241. * Gemeint ist offenbar Aldous Leonard Huxley, 1894—1963, aus der Gelehrtenfamilie Huxley.

107

Aberglaube in der Naturwissenschaft. Daß es der Naturwissenschaft an kulturellem Hinterland mangelt, verstärkt die mit der Spezialisierung zusammenhängenden Übel, richtet aber gleichzeitig noch größeren Schaden an, indem dadurch nahezu unvermeidlich die gesellschaftlichen Einflüsse, die — ohne daß man sich dessen bewußt wird — in alle naturwissenschaftliche Theorien, von ganz speziellen vielleicht abgesehen, eindringen, nicht die ausgereiften Überlegungen einer kritischen und kulturvollen Gesellschaft sind, sondern zum größten Teil die abergläubischen Vorstellungen und plattesten Vorurteile ihrer Zeit. Die Auswirkungen sind wieder in der Populärwissenschaft erkennbar. Wenn auch die Öffentlichkeit weder die Ausbildung noch das Interesse hat, um das naturwissenschaftliche Geschehen verfolgen zu können, so kann sie trotzdem den Wunsch haben, Ergebnissen zu applaudieren, am liebsten den erstaunlichsten, und sich Meinungen hinreichend berühmter Leute über Gott und die Welt anzuhören. Diese Meinungen sind ihr sogar verständlich, da es in der Regel ihre eigenen sind, die ihnen unter der Schutzmarke „Meinung der Prominenz" wieder serviert werden. Themen wie Relativität oder der Ursprung des Universums, die ihrer Natur nach schwierig sind, werden für besonders geeignet angesehen, nicht etwa zu detaillierten Erklärungen, sondern zu Predigten über die Verlassenheit und Unwissenheit des Menschen oder über die Güte und die Weisheit des Schöpfers. Gleichzeitig finden viel wesentlichere und praktisch bedeutsame moderne Theorien wie etwa die Quantentheorie nur geringe Beachtung. Das führt dazu, daß nicht nur die schon erwähnte Kluft zwischen dem Wissenschaftler und der Öffentlichkeit breiter wird, sondern auch die Kluft zwischen den Wissenschaftlern und der Populärwissenschaft. Die Einstellung des forschenden Naturwissenschaftlers gegenüber solchen Themen wie dem Ursprung des Universums oder dem Ursprung des Lebens oder dem Vitalismus in der Biologie ist ganz anders, als sie in populärwissenschaftlichen Büchern zum Ausdruck kommt. Für den Naturwissenschaftler ist das Bild der verschwindenden Realität der Erscheinungen reiner Unsinn; er weiß, daß er dank der Quantentheorie die Festkörper besser beherrscht und auf Grund der Erkenntnisse der Biochemie und der Genetik biologische Experimente erfolgreicher durchführen kann; er weiß auch, daß er dies den Menschen nicht klar machen kann, weil für diese Ansichten weit weniger Veröffentlichungsmöglichkeiten bestehen als für die entgegengesetzten. Im Ergebnis wird die Öffentlichkeit zu der Meinung verleitet, die Naturwissenschaft werde vom Idealismus beherrscht — und das zu einer Zeit, da der Materialismus sich auf der ganzen Linie durchsetzt; und in ebendieser Zeit neigt der Naturwissenschaftler dazu, sich mit dem Zustand zufriedenzugeben, daß er weiß und die Öffentlichkeit in Unwissenheit und Aberglaube verharrt. Viele Ursachen tragen zu diesem betrüblichen Stand der Dinge bei. Bis zu einem gewissen Grade ist die tatsächliche Trennung von Naturwissenschaft und Kultur paradoxerweise der Einführung einer naturwissenschaftlichen Ausbildung zuzuschreiben. Die Naturwissenschaft hat sozusagen ihren Amateurstatus verloren und damit einen Großteil des öffentlichen Interesses. Niemand braucht selbst über naturwissenschaftliche Dinge nachzudenken; es gibt immer Leute, die davon etwas verstehen. Die schnelle Entwicklung der Naturwissenschaft und die Vielfalt der naturwissenschaftlichen Entdeckungen haben eine die Allgemeinheit verwirrende Wirkung; sie wird unterstützt durch die Spezialisierung der Naturwissenschaftler selbst und jenes Märchen, das zunehmend Glauben findet, daß die Zeit lange vorbei sei, da jeder denkende Mensch mit Erfolg mehr als einen kleinen Bruchteil menschlichen Wissens erfassen, geschweige denn beanspruchen könne, alles zu überblicken. Tatsächlich spiegelt dieser Glaube nur die Tatsache wider, daß die Methoden der Darlegungen und des Austauschs in der Naturwissenschaft mit dem Fortschritt der Entdeckungen nicht Schritt gehalten haben. Ein gut durchdachtes System der wissen108

schaftlichen Veröffentlichung (dessen Schema im elften Kapitel diskutiert wird) müßte es jedem gebildeten Menschen ermöglichen, sich ein allgemeines Bild vom Gesamtgebiet der Naturwissenschaft zu machen, das zugleich so detailliert ist, daß er die Bedeutung von Entwicklungen auf jedem einzelnen Teilgebiet erfassen kann. Im Augenblick stehen dem die Unzulässigkeit der naturwissenschaftlichen Fachsprachen und die Anarchie auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Veröffentlichungen entgegen. Die vor-wissenschaftliche Einstellung. Nicht nur in der breiten Öffentlichkeit wird die Naturwissenschaft nicht richtig gewürdigt; dieser Mangel wirkt sich in den Bereichen Verwaltung und Politik in besonders gefahrlicher Weise aus. Die dort herrschende vor-wissenschaftliche Einstellung macht die meisten positiven Auswirkungen zunichte, die sich aus den technischen Anwendungen der Naturwissenschaft ergeben könnten. An keinen der wichtigen allgemeinen Faktoren, die das Leben der Menschen berühren, wird wissenschaftlich herangegangen; nicht einmal die Daten werden gesammelt, die zu einer wissenschaftlichen Analyse notwendig wären. Die Situation wird in einer Veröffentlichung von P.E.P. (Political and Economic Flanning) bewundernswert klar geschildert. „Im Zuge der Industrialisierung ist eine Zivilisation entstanden, die geradezu nach den riesigen Ressourcen des Wissens schreit, damit sie ohne ständige und schmerzhafte Krisen bestehen kann. Es ist wohl nicht zuviel behauptet, daß wir weder das erforderliche Wissen besitzen, noch gegenwärtig angemessene Anstrengungen unternehmen, um es uns zu verschaffen, obwohl dies keine unüberwindlichen Schwierigkeiten bereiten würde. Unsere ganze Einstellung gegenüber dem Erwerb und dem Gebrauch von Wissen ist noch immer von den Vorurteilen und Vorbehalten eines vor-wissenschaftlichen und vor-technischen Zeitalters geprägt. Es hat wenig Sinn, daß einzelne Gruppen von Leuten dafür kämpfen, wie sie es seit langem tun, daß hier Mieten und Einkommen etwas näher untersucht werden, daß in Psychologie etwas mehr geforscht wird, daß der pädagogischen Forschung, der Forschung im Bildungswesen, im Sozialbereich, im Verkehrswesen, im medizinischen Bereich usw. ein bißchen mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Das Übel besteht nicht darin, daß versäumt wird, gewisse Erleichterungen zu schaffen, es sitzt viel tiefer. Ein Großteil der Bevölkerung, ob gebildet oder nicht, muß endlich erkennen, daß die gleiche Methode, die uns Elektrizität, Radio, Flugzeuge, Kunstdünger, neue Pflanzensorten und Tierrassen beschert hat, in passender Weise angewandt, in ebensolchen Dimensionen die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Neuerungen abwerfen könnte, die wir so bitter nötig haben. Leider kann zwar ein erstklassiges Verfahren oder Produkt von einem Einzelgänger in seiner Dachkammer erfunden und mit Hilfe relativ kleiner privater Kapitalinvestitionen realisiert werden, eine gesellschaftliche Neuerung aber braucht von Natur aus oft Rohmaterial, das mehr oder weniger öffentlich zusammengetragen werden muß. Überdies haben die Industriellen und ihre Manager allmählich erkannt, daß sich kein Produkt oder Verfahren ewig halten kann und daß notwendigerweise Vorsorge für neue Muster und neue Verfahren getroffen werden muß; dagegen gibt es keine entsprechende Einsicht oder Einrichtung, um die Leistungen etwa des Staatsapparats, des Gesundheitswesens, des Verkehrswesens einzuschätzen und zu verbessern, und das gilt auch für andere Probleme gesellschaftlichen oder ökonomischen Charakters." 13 Das Bedürfnis nach Wissenschaft und seine Unterdrückung. Es ist allerdings kein Zufall, daß die Wissenschaft sowohl in der öffentlichen Meinung als auch in der Verwaltung ignoriert wird. Die vorherrschende Einstellung gegenüber der Wissenschaft ist ein integraler 13

Planning, 17/1934. 109

und unentbehrlicher Teil unseres heutigen Gesellschaftssystems. Das Verhältnis zwischen Wissenschaft und gesellschaftlichetn Leben hat zwei Aspekte. Die jeweiligen Bedürfnisse der Gesellschaft beschwören die Wissenschaft, sie zu befriedigen; daher ist, wie diese Bedürfnisse auch beschaffen sein mögen, etwas Wissenschaft immer erforderlich. Diese so entstandene Wissenschaft bringt aber zwangsläufig neue Bedürfnisse hervor und stellt die bisherigen in Frage. Dabei kommt ihr unvermeidbar bei der Veränderung der Gesellschaft eine Rolle zu, und zwar in stärkerem Maße und in anderer Form, als ihr ursprünglich zu spielen bestimmt war. Die naturwissenschaftlichen Strömungen, die von den Herrschenden des siebzehnten Jahrhunderts ins Leben gerufen worden waren, sollten sich im achtzehnten Jahrhundert als machtvollster Kern der Kritik an eben diesen Herrschaftsformen erweisen. Die heutige Situation läßt diesen Widerspruch sogar deutlicher hervortreten. Jedes weitverbreitete Wissen um die Ergebnisse der Wissenschaft, um die Möglichkeiten, die sie der Menschheit eröffnen, oder um ihre Methoden des kritischen Herangehens muß bedeutende gesellschaftliche und politische Auswirkungen nach sich ziehen. Diejenigen. Kräfte in der Gesellschaft, die gegen solche Veränderungen sind, müssen natürlich bestrebt sein, zu verhindern, daß die Wissenschaft ihre ursprünglichen Grenzen überschreitet. Sie soll ein nützlicher Diener, aber nicht Herr sein. Infolgedessen ist die Wissenschaft zugleich einem inneren Antrieb und einem äußeren Druck ausgesetzt. Dieses Paradoxon ist am deutlichsten im heutigen Deutschland zu erkennen, wo der Naturwissenschaftler dringendst gebraucht wird, um die Grundlagen für ein autarkes Wirtschaftssystem und für die Schaffung einer riesigen Militärmaschine zu sichern, und gleichzeitig als potentielle Keimzelle des „Kulturbolschewismus" heftig befehdet wird. Doch sind dieselben Tendenzen auch in Großbritannien klar erkennbar. Zwei Theorien über die Funktion der Wissenschaft stehen sich unversöhnlich gegenüber. Nach der einen existiert der Wissenschaftler noch immer als Geduldeter, der seine Unangreifbarkeit der Tatsache verdankt, daß er seiner Arbeit nachgeht und sich aus allen politischen Angelegenheiten heraushält (vgl. S. 390). Demgegenüber gibt es die Auffassung, die Julien Benda in La Trahison des Clercs [Paris 1927] verficht, wo die Gebildeten angeprangert werden, weil sie als erkorene Hüter der Kultur dem in sie gesetzten Vertrauen nicht gerecht werden, indem sie sich den Kräften des Aberglaubens und der Gewalt unterwerfen. Die Welt von heute stellt den Wissenschaftler vor die bittere » Entscheidung zwischen diesen Auffassungen; wie er sich auch entscheidet, klar ist, daß auf die Dauer die Wohltaten der Naturwissenschaft nur einer Gesellschaft zugute kommen werden, die sie • begreifen kann und bereit ist, auch alle ihre Konsequenzen voll zu akzeptieren.

110

FÜNFTES KAPITEL

Die Effektivität der wissenschaftlichen Forschung

Wenn wir der Wissenschaft überhaupt eine Funktion in der Gesellschaft zuschreiben, können wir auch fragen, ob diese Funktion effektiv oder ineffektiv erfüllt wird, ob die erzielten Ergebnisse die besten sind, die mit den verfügbaren menschlichen und materiellen Ressourcen zu erreichen gewesen wären. Natürlich hängt unser Urteil über den Grad der Ineffektivität der Wissenschaft weitgehend von den Vorstellungen ab, die wir uns von ihrer Funktion machen. Immerhin können wir, ohne dem Ergebnis unserer Untersuchungen, die den Gegenstand dieses Buches bilden, vorzugreifen, von der Effektivität der wissenschaftlichen Forschung in bezug auf die verschiedenen denkbaren Funktionen der Wissenschaft sprechen. Drei Motivationen für wissenschaftliche

Arbeit: psychologische,

rationale und

gesellschaftliche.

Wissenschaft als Beruf kann unter drei Zielen gesehen werden, die sich aber gegenseitig nicht ausschließen: aus Leidenschaft und zur Befriedigung der dem Wissenschaftler eigenen Neugier, zur Entdeckung und zum einheitlichen Verständnis der natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt sowie schließlich zur Anwendung dieses Verständnisses zum Wohle des Menschen. Wir können dies die psychologischen, rationalen und sozialen Ziele der Wissenschaft nennen. Die gesellschaftliche Effektivität der Wissenschaft wird Gegenstand eines späteren Kapitels sein. Hier befassen wir uns mit den beiden anderen Aspekten. Klarerweise läßt sich die Effektivität der Wissenschaft in bezug auf die psychologische Zielstellung nicht quantitativ erfassen. Trotzdem muß die psychologische Befriedigung bei jeder Diskussion der allgemeinen Effektivität der Wissenschaft berücksichtigt werden, da sie bei der Durchführung wissenschaftlicher Forschungen eine bedeutende Rolle spielt. Daß die wissenschaftliche Forschungsarbeit jedem, der sich dafür entschieden hat, tiefe Befriedigung verschafft, kann nicht geleugnet werden. Im allgemeinen entscheiden sich Menschen dafür, Wissenschaftler zu werden, gerade weil sie sich diese Befriedigung erhoffen. Eine solche Befriedigung bietet jedoch nicht nur die Wissenschaft. In fast jedem Beruf gibt es Gelegenheiten, eine disziplinierte Wißbegierde walten zu lassen, die sich ihrem Wesen nach nicht von derjenigen unterscheidet, welche sich in der wissenschaftlichen Forschung zeigt. Daß die Anzahl der in der Wissenschaft Tätigen auf den heutigen Stand angewachsen ist, ist kein Zeichen dafür, daß die Zahl der Menschen mit natürlicher Wißbegierde spontan zugenommen hat, sondern für die Tatsache, daß sich diejenigen, welche die Wissenschaft finanzieren, des Nutzens bewußt geworden sind, den sie ihnen bringen kann. Zu diesem Zweck wird die psychologisch bedingte natürliche Wißbegierde verwendet. _ Die Wissenschaft benutzt die Wißbegierde, sie braucht sie sogar, doch hat die Wißbegierde die Wissenschaft nicht hervorgebracht. Merkwürdigerweise ist es noch gar nicht so lange her, daß Wissenschaftler als Begründung 111

dafür, daß Wissenschaft getrieben wird, die psychologische Befriedigung, die sie mit sich bringt, ins Feld führen. Ursprünglich hieß es, Wissenschaft werde zum Ruhme Gottes oder zum Wohle des Menschen betrieben. Obwohl diese Auffassungen tatsächlich darauf hinausliefen, daß die psychologische Begründung akzeptiert wurde, brachten sie explizit die Wissenschaft in Beziehung zu dem Göttlichen bzw. dem Nützlichen, d. h. zu den jeweiligen allgemeinen Idealen des Menschen in der Gesellschaft. Die Wissenschaftler des siebzehnten Jahrhunderts hatten offensichtliche Gründe, die Nützlichkeit der Wissenschaft zu betonen: Sie waren nämlich die einzigen, welche ihre Nützlichkeit erkannt hatten, und sie brauchten Unterstützung von außen; diese konnten sie aber nur erhalten, wenn sie den materiellen Nutzen darlegten. Sie mußten diesen praktischen Aspekt gegen Verleumder wie Jonathan Swift verteidigen, der die Wissenschaftler seiner Zeit verspottete, weil sie sich mit eitlen und nutzlosen Phantasterien abgäben. Trotzdem gibt es weder Grund zu der Annahme, die Wissenschaftler wären nicht ehrlich vom Nutzen ihrer Arbeit für die Gesellschaft überzeugt gewesen, noch dafür, daß es ihnen je in den Sinn gekommen wäre, die Erfolge der Wissenschaft könnten zu anderen Zwecken verwendet werden.

Das Ideal der reinen Wissenschaft Dieses naive Vertrauen wurde im neunzehnten Jahrhundert erschüttert, als sich herausstellte, daß Wissenschaft zu unlauteren Zwecken eingesetzt werden konnte und tatsächlich auch eingesetzt wurde; an seine Stelle trat jetzt die Idealvorstellung einer reinen Wissenschaft, einer Wissenschaft, bei der man weder an Anwendung noch an Belohnung denkt. Thomas Henry Huxley bringt die Auffassungen der Wissenschaftler der viktorianischen Epoche beredt zum Ausdruck: „Tatsächlich lehrt uns die Geschichte der physikalischen Wissenschaft (und diese Lehre können wir uns nicht sorgfaltig genug zu Herzen nehmen), daß die praktischen Vorteile, die durch diese Tätigkeit zu erlangen sind, auf Menschen, die vom angeborenen Genie des Naturforschers beflügelt werden, niemals genügend anziehend gewirkt haben und auch niemals so wirken können, daß sie ermutigt würden, sich der Mühen zu unterziehen und die Opfer zu bringen, welche dieser Beruf von seinen Jüngern fordert. Was ihre Herzen höher schlagen läßt, ist die Liebe zum Wissen und die Freude am Entdecken der Ursachen von Dingen, die schon von den Dichtern der Alten besungen wurde: das erhabene Entzücken darüber, daß das Reich von Gesetzmäßigkeit und System immer weiter ausgedehnt werden kann, bis hin zu den unerreichbaren Zielen des unendlich Großen und des unendlich Kleinen, zwischen denen unser bißchen Leben dahinrinnt. Im Verlaufe dieser Arbeit wird der Physiker, manchmal mit Absicht, viel häufiger aber unabsichtlich, das eine oder andere erhellen, von dem sich dann herausstellt, daß es von praktischer Bedeutung ist. Groß ist das Frohlocken derer, die daraus Nutzen ziehen; zur Zeit ist die Naturwissenschaft die Diana aller Handwerker. Doch noch während die Jubelschreie widerhallen und das Strandgut der Forschungsflut sich in den Lohn der Arbeiter und den Reichtum der Kapitalisten verwandelt, befindet sich der Kamm der Woge naturwissenschaftlicher Forschung schon sehr weit weg auf ihrer Bahn über den unbegrenzten Ozean des Unbekannten." „Daher muß, ohne daß auch nur für einen einzigen Augenblick der Eindruck entstehen darf, die praktischen Resultate aus der Vergrößerung unseres Wissens um die Natur und ihres wohltuenden Einflusses auf die materielle Zivilisation würden gering geschätzt, meiner Meinung nach zugegeben werden, daß die großen Ideen, von denen ich hier einige angedeutet, und die ethische Haltung, die ich zu skizzieren mich bemüht habe, soweit ich in 112

dieser Kürze dazu in der Lage war, die wirkliche und bleibende Bedeutung der Naturerkenntnis ausmachen. Wenn es diesen Ideen bestimmt ist — und ich bin überzeugt, daß es so ist —, sich im Laufe der Zeit immer mehr durchzusetzen, und wenn, wie ich fest glaube, diese Einstellung alle Bereiche menschlichen Denkens zu durchdringen und mit dem sich verbreitenden und vertiefenden Wissen Schritt zu halten vermag, und wenn, wie ich mir vorstelle, das Menschengeschlecht mit zunehmender Reife entdeckt, daß es nur eine Art der Erkenntnis gibt und nur eine Methode, sie zu erlangen, dann dürfen wir, die wir sozusagen noch Kinder sind, es zu Recht für unsere vornehmste Pflicht halten, uns der Tatsache bewußt zu werden, daß es ratsam ist, unser Wissen von der Natur zu vermehren, um auf diese Weise uns und unseren Nachfahren zu helfen, jenem edlen Ziele nahezukommen, das vor der Menschheit liegt." 1 In gewissem Sinne war das Ideal der reinen Wissenschaft eine Form des Snobismus, ein Zeichen dafür, daß der Wissenschaftler den Granden und den Edelleuten nachäffte. Ein Vertreter der angewandten Naturwissenschaft mußte zwangsläufig etwa wie ein Geschäftsmann erscheinen; er riskierte, seinen Amateurstatus zu verlieren. Indem er darauf bestand, Wissenschaft um ihrer selbst willen zu treiben, schmähte der reine Wissenschaftler jene anrüchige materielle Grundlage, auf der seine Arbeit beruhte. Wissenschaft als Flucht. Mit der allgemeinen Desillusionierung, die nach dem Weltkrieg einsetzte, begann auch die Vorstellung der reinen Wissenschaft zu verblassen. Die sich entwickelnde Psychologie schien zu zeigen, daß das Streben nach mehr Wissen nichts als die Übertragung kindlicher Wißbegierde ins Erwachsenenalter ist. Ein Enkel von Thomas Henry Huxley kann in einem Buch über Wissenschaft eine seiner Figuren sagen lassen: „Nun gewahre ich, daß der wirkliche Reiz des geistigen Lebens — eines Lebens, das der Gelehrsamkeit, der wissenschaftlichen Forschung, der Philosophie, der Ästhetik oder Kritik geweiht ist — darin besteht, daß es unbeschwert ist. Es bedeutet das Ersetzen der Vielfältigkeiten der Wirklichkeit durch einfache intellektuelle Schemata; durch starren, form gebundenen Tod. Es ist unvergleichlich leichter, eine Menge über, sagen wir, Kunstgeschichte zu wissen und tiefe Gedanken über Metaphysik oder Soziologie zu haben, als persönlich und intuitiv eine Menge über seine Mitmenschen zu wissen und zufriedenstellende Beziehungen zu seinen Freunden und Geliebten, zu Frau und Kindern zu unterhalten. Leben ist viel schwieriger als Sanskrit oder Chemie oder Nationalökonomie. Das geistige Leben ist ein Kinderspiel; darum neigen Intellektuelle dazu, Kinder zu werden — dann Schwachsinnige und zuletzt, wie die politische und industrielle Geschichte der letzten paar Jahrhunderte klar erweist, mörderische Wahnsinnige und wilde Tiere. Die unterdrückten Funktionen sterben nicht, sie entarten, sie eitern, sie schlagen in Primitivität zurück. Bis dahin aber ist es viel leichter, ein intellektuelles Kind oder ein Tier oder ein intellektueller Wahnsinniger zu sein als ein harmonischer erwachsener Mensch. Darum, neben anderen Gründen, besteht so große Nachfrage nach höherer Bildung. Der Ansturm auf Bücher und Universitäten gleicht dem Ansturm auf die Kneipen. Die Leute wollen das Bewußtsein, daß man in dieser grotesken Welt der Gegenwart nur unter großen Schwierigkeiten leben kann, ertränken, sie wollen ihr beklagenswertes Versagen als Lebenskünstler vergessen. Manche ertränken ihren Kummer im Alkohol, sehr viele in Büchern und künstlerischem Dilettantismus; manche versuchen in ausschweifendem Leben, Tanzen, Kino, Radio hören, andere wieder in Vorträgen und wissenschaftlichen Steckenpferden Vergessenheit zu finden. Bücher und Vorträge sind bessere Sorgenbrecher als Saufen und ausschweifender Lebenswandel ; sie hinterlassen keine Kopfschmerzen und nichts von dem hoffnungslosen Gefühl 1

8

Th. H. Huxley, Method and Results, London 1893, S. 54, 41. Bernal

113

des post coitum triste. Ich muß gestehen, daß ich bis vor kurzem Gelehrsamkeit und Philosophie und Naturwissenschaft — alle diese Tätigkeiten, die großsprecherisch unter dem Titel des,Suchens nach Wahrheit''zusammengefaßt werden — sehr ernst nahm. Ich sah im Suchen nach Wahrheit die höchste aller menschlichen Aufgaben und in den Suchern die edelsten aller Menschen. Aber seit ungefähr einem Jahr beginne ich zu begreifen, daß dieses berühmte Suchen nach Wahrheit nur ein Amüsement, eine Zerstreuung ist wie irgendeine andere, ein recht verfeinerter und kunstvoller Ersatz für das echte Leben; und daß Wahrheitssucher auf ihre Art genau so einfaltig, infantil und lasterhaft werden wie die Säufer, die reinen Ästheten, die Geschäftsleute und die Vergnügungssüchtigen auf die ihre. Ich gewahre auch, daß das Suchen nach Wahrheit nur eine höfliche Bezeichnung für den Lieblingszeitvertreib der Intellektuellen ist, die lebendige Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit durch einfache und daher falsche Abstraktionen zu ersetzen. Aber die Wahrheit zu suchen ist viel leichter als das Erlernen der Kunst, voll und ungeteilt zu leben (in welcher Kunst selbstverständlich das Suchen nach Wahrheit seinen gebührenden Platz unter den übrigen Unterhaltungen, wie Kegelschieben und Bergsteigen, einnehmen wird). Das erklärt, allerdings ohne es zu rechtfertigen, mein beständiges und übermäßiges Schwelgen in den Lastern instruktiven Lesens und abstrakten Verallgemeinerns. Werde ich je die Willensstärke haben, mir diese indolenten Gewohnheiten des Intellektualismus abzugewöhnen und meine Energien an die ernsthaftere und schwierigere Aufgabe zu wenden, integral zu leben? Und selbst wenn ich versuchte, diese Gewohnheiten abzulegen, fände ich nicht etwa, daß sie auf Erblichkeit beruhen und daß ich von Geburt unfähig bin, voll und harmonisch zu leben?" 2 Hier wird festgestellt, daß die Wissenschaft in der Hauptsache dazu verwendet wird, einige wenige zu bereichern und die vielen anderen zu ruinieren. Infolgedessen findet sie ihre Rechtfertigung letzten Endes darin, daß sie ein recht unterhaltsamer Zeitvertreib ist. Diese Einstellung ist tatsächlich, wenn auch selten zugegeben, unter Wissenschaftlern weit verbreitet, besonders bei solchen, welche die sicheren und einträglicheren Posten bekleiden. Wissenschaft ist eine der Beschäftigungen, die einen mehr als anderes gefangen nimmt und befriedigt, und dementsprechend spricht sie unterschiedliche Charaktere auch in verschiedener Weise an. Für die einen ist sie ein Spiel gegen das Unbekannte, wobei einer gewinnt und keiner verliert, für andere, menschlicher Gesinnte, ein Wettlauf zwischen verschiedenen Forschern, wer als erster der Natur die Siegespalme entreißt. Sie hat alle Eigenschaften, welche Millionen von Menschen für Kreuzworträtsel oder Kriminalromane begeistern, mit dem einzigen Unterschied, daß das Problem nicht von Menschen, sondern von der Natur oder dem Zufall gestellt wird, und daß nicht sicher ist, ob Lösungen erzielt werden können, und daß diese, wenn sie gefunden werden, oftmals weit mehr Fragen aufwerfen als das ursprüngliche Problem. Untersucht man die gegenwärtige Lage der Wissenschaft von diesem Standpunkt aus, so muß man zugeben, daß sie im großen und ganzen recht zufriedenstellend ist. Die Klagen der Wissenschaftler beziehen sich einzig und allein auf materielle Dinge. Wird ein angemessenes Gehalt gezahlt und ist der Arbeitsplatz hinreichend sicher, verpflichtet man den Wissenschaftler nicht, zu eng umrissene Aufgaben zu erfüllen, so ist er schon glücklich. Wie bereits gesagt, sind für die meisten Wissenschaftler nicht einmal diese Bedingungen erfüllt, sie gelten jedoch für eine ziemlich große Zahl, und sie bilden ein völlig erreichbares Ideal. Wäre das Spiel das einzige, was von Bedeutung ist, so wären die von anderen Standpunkten aus wichtigen Unzulänglichkeiten wie der Mangel an Geräten oder an In2

A. Huxley, Point Counter Point, London 1928, S. 442—444 [Kontrapunkt S. 460-462],

114

des Lebens, München 1951,

formation, das Fehlen eines allgemeinen Planes oder einer allgemeinen Orientierung und die Tatsache, daß es nicht gelingt, die Wissenschaft mit anderen Tätigkeiten des Menschen zu koordinieren, sämtlich nebensächlich. Die tatsächlichen materiellen Mängel können als zusätzliche Risiken des Spiels angesehen werden; sie zu überwinden, formt den Wissenschaftler. Die Bedingungen seiner Arbeit machen es ihm besonders bequem, diesen Standpunkt einzunehmen. Die Gefahr dabei, die Wissenschaft als bloßes Spiel aufzufassen, besteht aber darin, daß Spielen als Lebensinhalt oftmals nicht zu dauernder oder voller Zufriedenheit führt. Menschen brauchen das Gefühl, daß das, was sie tun, auch für die Gesellschaft von Bedeutung ist. Selbst ein so hervorragender Meister wie Morphy konnte seinem Erfolg keine Befriedigung abgewinnen, weil er es nicht ertragen konnte, nur als Schachspieler angesehen zu werden. Wissenschaft und Zynismus. Trotzdem sichern eine hinreichend enge Spezialisierung und die Neigung, aus dem, was zur Verfügung steht, das beste zu machen, vielen Wissenschaftlern ein relativ glückliches Leben. Einige, die in ihren Ansichten nicht so beschränkt sind, mögen sich diese Haltung sogar bewußt zulegen: „Wann immer ich mir die Welt anschaue", bemerkte einmal ein Professor, „sehe ich ein solches Elend und Durcheinander, daß ich es vorziehe, mich in meine Arbeit zu vergraben und alles zu vergessen, an dem ich sowieso nichts ändern könnte." Bei anderen führt die Tatsache, daß sie sich den psychologischen Aspekt der Wissenschaft zu eigen machen, dazu, daß sie in zynischer Weise die Wissenschaft als solche für völlig sinnlos halten3, eine Haltung, die in Theorien zum Ausdruck kommt, 3

Die Konflikte und Schwierigkeiten, mit denen Menschen konfrontiert werden, die in der heutigen Wissenschaft Befriedigung suchen, kommen in C. P. Snows R o m a n The Search, London 1934, S. 346—349, gut zum Ausdruck; es handelt sich um die Stelle, wo sich der Held schließlich dafür entscheidet, die Wissenschaft aufzugeben: „Warum hatte ich mich der Wissenschaft verschrieben? Und warum erlosch die Hingabe? Mir fielen Diskussionen ein, die ich vor Jahren mit Hunt und Audrey hatte. Damals, so schien es, waren sie dank ihrer Intuition klüger als ich, obwohl die Logik ganz auf meiner Seite war. Was hatte ich damals Audrey erzählt, aus welchen Gründen Leute Wissenschaft betreiben? Auch heute würde ich großenteils dasselbe sagen, allerdings dem Zufall mehr Raum geben; viele Leute werden Wissenschaftler, weil es sich so ergibt, sie hätten sich genau so gut für etwas anderes entscheiden können. Aber die wirklich zwingenden Gründe bleiben; anscheinend sind es dreierlei. Drei Arten von Gründen sind es, die man vor sich selbst anführt, das heißt, an die man glauben muß, um mit den tieferen Beweggründen in Harmonie zu sein. Man kann Wissenschaft betreiben, weil man glaubt, sie gereiche der Welt praktisch und wirksam zum Nutzen. Für sehr viele Wissenschaftler ist dies der Hauptgrund, dessen sie sich bewußt sind, für mich galt er niemals, und als ich dreißig war, schien er mir blöder als mit zwanzig. Würde ich nämlich wirklich wünschen, der Welt zu nutzen, so müßte ich etwas tun, sei es auch noch so wenig, um zu verhindern, daß die westliche Zivilisation innerhalb von — ich möchte sagen — zwanzig Jahren verfallt. Diese Aufgabe ist dringender als alle Anwendungen der Wissenschaft. Die angewandte Wissenschaft hat nichts getan, um diese Aufgabe zu erleichtern; während die Wissenschaft voranschreitet, wird ihre Welt unter ihren Füßen zusammenbrechen. Mein eigener Beitrag zu jeder dieser Aufgaben könnte nur klein sein. Ließe er sich aber plötzlich unbeschränkt vergrößern und würde ich vor die Wahl gestellt, entweder bei der Bekämpfung des Krebses mitzuwirken oder in England und Frankreich weitere dreißig Jahre die Freiheit liberalen, rationalen, toleranten Denkens zu sichern, so würde ich, ohne auch nur einen einzigen Augenblick zu zögern, das letztere wählen. Man kann Wissenschaft betreiben, weil sie die Wahrheit verkörpert. Dies oder etwas ähnliches war der Grund, den ich früher angegeben hatte. Soweit ich eine bewußte Begründung hatte, würde ich sie auch heute noch geltend machen. Doch war sie nicht gut genug, dachte ich, während ich ein Boot mit rotem Segel beobachtete, das zwischen einer Insel und der Küste verkehrte. Die Wissenschaft war auf ihrem eigenen Gebiet wahr und innerhalb ihrer Grenzen vollkommen. Man gab sich Daten vor — baute sich sozusagen ein eigenes Rätsel — und löste es schließlich, indem man zeigte, wie die Daten zu anderen Daten derselben Art paßten. Wir kennen heute das Verfahren gut genug, um die Qualität der Ergebnisse, das es uns liefern kann, zu ermessen. Wir kennen auch jene Seiten der Erfahrung, an die es uns nie heranführt. Wie lange auch immer Wissenschaft betrieben wird, ihre Grenzen müssen, da sie sich diese selbst setzt, ehe sie beginnen kann, bestehen bleiben. Es ist so, als ob man sich für die ganze

115

welche zu beweisen versuchen, daß exaktes Wissen unmöglich wäre, daß es keinen Determinismus und nicht einmal eine Kausalität gäbe. Letzten Endes reduziert diese Auffassung die Wissenschaft zu einem mehr oder weniger schmückenden, jedenfalls aber völlig nutzlosen Beiwerk einer zivilisierten Gesellschaft; es dürfte aber klar sein, daß kein Gesellschaftssystem existiert, das bereit wäre, Wissenschaftler gerade dafür zu bezahlen, daß sie ihrem Vergnügen nachgehen, unabhängig davon, was diese selber glauben. Die Wissenschaft muß sich ebenso wie jede andere menschliche Tätigkeit für die Gesellschaft bezahlt machen, obgleich sich dieser Nutzen nicht immer in rein materieller Gestalt manifestieren muß. Das Prestige der Wissenschaft und ihr moralischer und politischer Einfluß müssen ebenfalls berücksichtigt werden. Gegend zwischen einer Stadt und der nächsten brennend interessierte: Man wendet sich an die Wissenschaft um Antwort, bekommt aber nur einen Weg zwischen den Städten genannt. Zu glauben, dies sei die Wahrheit, an ,die Wahrheit' überhaupt als einmaliges Ideal zu glauben, scheint mir von hochgradiger geistiger Naivität zu zeugen. Andererseits bedeutet die Auffassung, die Wissenschaft sei auch innerhalb ihrer Grenzen nicht wahrhaftig, daß man den Sinn von Wörtern nicht kennt. Konstantin, das weiß ich, würde diesen beiden Feststellungen zustimmen. Worüber wir verschiedener Meinung wären, ist die Bedeutung, die dieser besonderen, eingeschränkten wissenschaftlichen Wahrheit zukommt. Ich würde sagen, daß jetzt, da ihre Natur erkannt ist, da wir die Art und Weise kennen, in der unser Verstand ihre Grenzen bestimmt, ihre Bedeutung nur in der Anwendung liegt. Ein wissenschaftlicher Sachverhalt gibt uns heute keinen Aufschluß über das Wesen aller Sachverhalte; was er bedeutet, wissen wir, ehe wir ihn ganz erfaßt haben. Wichtig ist nur, daß er uns einen neuen Baustein zu unserer Beherrschung der Außenwelt liefert. Zu der Zeit, da ich mit ihm diskutierte, pflegte Konstantin wissenschaftlichen Sachverhalten eine Bedeutung weit über ihren Nutzen hinaus beizulegen — eine fast mythische Bedeutung, nicht so sehr als Wahrheit denn als Erkenntnis. So etwa, als ob uns, wenn wir nur genug wüßten, eine Offenbarung zuteil würde. Vielleicht bin ich ihm gegenüber ungerecht, doch hat nichts, was er je gesagt hat — und er hat viel gesagt —, meine Auffassung vom inneren Wert wissenschaftlicher Wahrheit wiederhergestellt. Und man kann Wissenschaft betreiben, weil es Spaß macht. Natürlich wird jeder, der von ganzem Herzen an ihren Nutzen oder an ihre Wahrheit glaubt, auch Spaß daran haben. Konstantin beispielsweise empfindet bei der Forschung einfach mehr Lustgefühle als die meisten Menschen bei ihren Vergnügungen, und obwohl er der hingebungsvollste Wissenschaftler ist, den ich kenne, gibt es viele Menschen, denen Freude aus ihrem Glauben erwächst. Ich meine aber, daß man an der Wissenschaft auch Spaß haben kann, ohne allzusehr an ihren Nutzen zu glauben oder ohne sich über den Wert ihrer Wahrheiten allzu viele Gedanken zu machen. Viele Leute lösen gern Rätsel. Wissenschaftliche Rätsel sind sehr gute Rätsel und lohnen sich. Daher befassen sich viele Leute mit Forschung, so wie sie sich mit Jurisprudenz befassen würden — entweder ohne über die Funktionen der Wissenschaft nachzudenken, da sie ihnen gleichgültig sind, oder indem sie sie als gegeben hinnehmen —; sie leben davon, halten ihre Regeln ein und haben ihren hellen Spaß am Prozeß des Lösens von Problemen. Das ist ein völlig legitimes Vergnügen, und unter diesen Leuten kann man einige der produktivsten Wissenschaftler finden. Zweifellos erfahren sie ihre Augenblicke der Ekstase, so wie ich in meiner Jugend, wenn sich mir eine wissenschaftliche Wahrheit enthüllt hatte. Diese Ekstasen hängen nicht davon ab, daß man an wissenschaftliche Wahrheiten glaubt, ebenso wenig wie eine religiöse Ekstase vom Glauben an Gott abhängt. Vielleicht macht es der Glaube wahrscheinlicher, daß sie sich einstellen; ich vermute aber, daß sie ebenso gut dem Ungläubigen zuteil werden. Möglicherweise hatten außer den Heiligen noch viele Menschen religiöse Ekstasen, nennen sie aber anders. Vielleicht ist dieser letzte Grund, der einfache, unkritische,Spaß, der meist verbreitete, dachte ich. Zusammen mit einer oberflächlichen Kenntnis hochtrabender Phrasen über höhere Motive; denn fast jeder, der in die Wissenschaft hineingeraten ist, weil sie ihm Spaß machte, würde sich, wenn man ihn nach dem Warum fragte, noch immer spreizen und erzählen, er wolle die Geheimnisse der Natur enträtseln. Nun, es war Grund genug, mußte ich zugeben. Ich wollte es aber nicht zugeben; denn, was mich betrifft, ich bräuchte immer den Glauben an die Ergebnisse, ehe ich mich lieuen koniuc. An menschlichen Problemen konnte ich um ihrer selbst willen Spaß empfinden, aber nicht an wissenschaftlichen, es sei denn, sie kämen mir wichtig vor, weil sie mehr enthielten als ihre eigene Problematik. ,Da ist für mich nichts drin', dachte ich. ,Das Wunder ist nicht, daß ich jetzt nicht mehr ergeben bin; es besteht darin, daß ich mir so lange Zeit etwas vorgemacht habe.' ,Ich werde die Hingabe niemals wieder aufbringen können', dachte ich."

116

Die Ineffektivität der Naturwissenschaft aus technischen Gründen Nur engste Spezialisierung oder völliger Zynismus gegenüber der Gesellschaft ermöglichen es den Naturwissenschaftlern, die derzeitigen Bedingungen der naturwissenschaftlichen Arbeit zu akzeptieren und dabei so etwas wie Befriedigung zu empfinden. Urteilt man nach unserem zweiten Kriterium — der schnellen Entwicklung naturwissenschaftlichen Wissens im ganzen — so kann die Ineffektivität des Systems nicht vertuscht werden. Der größte Teil der Arbeit des Naturwissenschaftlers wird tatsächlich vergeudet, entweder weil wieder einmal keine Geräte oder keine technischen Assistenten da sind oder weil sie nicht in zweckmäßiger Weise mit anderer Arbeit koordiniert wird; schließlich bleibt eine beträchtliche Chance dafür, daß das Ergebnis in der Flut unlesbarer wissenschaftlicher Literatur völlig untergeht. Schlechte Organisation. Versuchen wir, die Ineffektivität der Naturwissenschaft als Methode der Entdeckung genauer zu analysieren, so finden wir, daß diese Ineffektivität zwei hauptsächlichen Mängeln entspringt. Der erste ist die völlig unzureichende Finanzierung; darauf wurde schon eingegangen. Der zweite besteht in der Unzweckmäßigkeit der Organisation, die geradezu dafür sorgt, daß diese ohnehin kleinen Ressourcen großenteils vergeudet werden. Diese Bemerkung mag dem Naturwissenschaftler fast schön als Verrat erscheinen. Selbst wenn dem so wäre, meint er, sollte man es nicht öffentlich aussprechen; denn das bißchen, das die Naturwissenschaft heute bekommt, gibt man ihr im Vertrauen auf ihre Effektivität. Kommt erst der Verdacht auf, daß Naturwissenschaftler das ihnen anvertraute Geld vergeuden, dann werden sie nicht einmal dieses bißchen erlangen können. Trotzdem hat die stillschweigende Übereinkunft, die innere Ineffektivität der Naturwissenschaft zu vertuschen, auf die Dauer zwangsläufig verheerende Folgen. Wie sorgfältig man solche Dinge auch zu verbergen trachtet, der Verdacht besteht immer und läßt eine Haltung vagen Mißtrauens seitens der potentiellen Geldgeber und der breiten Öffentlichkeit aufkommen, die der Naturwissenschaft mehr schadet als offen ausgesprochene Anwürfe. In ähnlicher Weise führt das ausgeklügelte System moralischer Normen, das die Ärzte zwingt, einander unter allen Umständen beizustehen und niemals zuzugeben, daß schon aus statistischen Gründen unvermeidlich Irrtümer vorkommen und daß auch in ihrem Beruf gleichermaßen unvermeidbar Halunken und Dummköpfe ihr Unwesen treiben können, nur dazu, daß sich das Mißtrauen in die offizielle Medizin vertieft; es spielt daher Scharlatanen und Quacksalbern in die Hände. 4 Wichtiger jedoch ist die Überlegung, daß ohne eine wirklich effektiv funktionierende innere Organisation die Naturwissenschaftler für ihren Beruf niemals die Anerkennung finden können, die er nach ihrer Meinung verdient, geschweige denn die zusätzlichen finanziellen Mittel, welche die Naturwissenschaft so dringend braucht. Nach der Ursache für die gegenwärtige Situation der naturwissenschaftlichen Forschung, braucht man nicht lange zu suchen. Die Tätigkeiten in naturwissenschaftlichen Berufen haben sich im einzelnen spontan entwickelt, die Organisationsformen zur Koordinierung dieser Tätigkeiten waren nicht vorher geplant, sondern haben sich mit der Entwicklung der Naturwissenschaft selbst herausgebildet, und zwar immer langsamer als die Aktivitäten, die sie regeln sollten. Das ist zwar in der Entwicklung menschlicher Institutionen allgemein so, doch treten im Fall der Naturwissenschaft besondere Faktoren erschwerend hinzu. Die persönlichen Neigungen der Naturwissenschaftler sind höchst unterschiedlich, dabei 4

Siehe A. J. Cronins Roman The Citadel [Die

Zitadelle].

117

aber von Interesse für Verwaltungsaufgaben himmelweit entfernt. Seitens der Naturwissenschaftler besteht ein natürlicher Widerwille dagegen, von der Zeit für ihre eigentliche Arbeit einen Teil abzuzweigen, um sich mit Problemen der Organisation zu befassen. Däher überlassen sie das größtenteils einigen wenigen schlecht bezahlten Angestellten oder Gremien älterer Wissenschaftler, die aber mit den aktuellen Strömungen keinen Kontakt mehr haben. Die mangelnde Effektivität der naturwissenschaftlichen Forschung zeigt sich mehr im großen als im einzelnen: Je dichter man bei dem individuellen Wissenschaftler und seiner Arbeit bleibt, desto höher ist der Grad der Effektivität; je weiter das ins Auge gefaßte Feld, desto größer die Ineffektivität. Das tatsächliche Wachstum der Naturwissenschaft verlief so, daß es sich jetzt überschlägt und durch seine frühere und jetzige Produktivität behindert wird. Dies zeigt sich allerdings zum größten Teil mehr in der Beziehung zwischen den verschiedenen Aspekten der Arbeit als in der Arbeit selbst. Falscher Einsatz der Qualifikation im Laboratorium. Selbst im Detail gibt es jedoch eine erhebliche Vergeudung von Mitteln, die weitgehend einer falschen Sparsamkeit entspringt. Eine unzureichende Ausstattung und die Tatsache, daß die Zahl der technischen Assistenten, Laboranten und Labormechaniker viel zu klein ist, machen es notwendig, daß viele Wissenschaftler einen großen Teil ihrer Zeit für technische Arbeiten und Routineangelegenheiten aufwenden, in denen sie eventuell sehr ungeschickt sind und die sie jedenfalls von ihrer eigentlichen Arbeit abhalten. Gegen diese Auffassung kann mit einigem Recht eingewendet werden, dieses Übel habe auch seine guten Seiten; intensive wissenschaftliche Arbeit, die ausschließlich aus ganz wichtigen Beobachtungen und Experimenten bestehe, stelle eine zu große nervliche Belastung dar, und der Zwang, auch andere Tätigkeiten auszuüben, lockere die Arbeit auf, und dies liege im Interesse des Wissenschaftlers. Trotzdem sollte es dem Wissenschaftler überlassen bleiben, darüber zu entscheiden, welche Routinearbeiten er übernimmt. Es besteht keine Veranlassung, ihn an der Erledigung mechanischer Arbeiten zu hindern, doch sollte er unter normalen Umständen nicht dazu gezwungen werden. Diese Situation ist schwer zu beheben, in der Hauptsache deshalb, weil die ökonomische Seite der wissenschaftlichen Arbeit mit der Ökonomie einer auf Profit orientierten Gesellschaft kaum vereinbar ist. Ein Wissenschaftler, der 400 £ jährlich erhält, kann gezwungen sein, drei Viertel seiner Zeit zu vertun, weil er keinen Assistenten hat, der 150 £ pro Jahr verdient. Obwohl diese Regelung höchst ineffektiv ist, stellt sich für die Universität oder die betreffende staatliche Behörde einfach die Frage, ob sie 400 £ oder 550 £ jährlich ausgeben soll, und da keine Methode bekannt ist, den Wert der Arbeit des Wissenschaftlers in der Jahresbilanz zu erfassen, entscheidet sie sich in der Regel für die geringere Ausgabe. Zwischen der Anzahl der wissenschaftlichen und der Anzahl der technischen Kräfte hat sich historisch ein bestimmtes Verhältnis herausgebildet, das im Durchschnitt viel zu ungünstig ist. Dabei wird die zunehmende Mechanisierung der modernen Naturwissenschaft und der damit steigende Bedarf an Laboranten und technischen Assistenten nicht berücksichtigt. In noch stärkerem Maße bezieht sich diese Kritik auf die Anzahl der Labormechaniker, von denen in keinem Institut so viele eingestellt werden, wie nötig wären. Hier liegt ein klarer Fall von echter Geldverschwendung vor. Ein Labormechaniker, der die meisten der benötigten einfacheren oder auch spezielleren Geräte selber anfertigen kann, tut das fast immer billiger, oft zur Hälfte oder zu einem Viertel des Preises, den die Geräte kosten, wenn man sie von der Industrie bezieht. In Wirklichkeit sind die einzigen wissenschaftlichen Geräte, die man vorteilhafter bei der Industrie kauft, diejenigen, die in großen Stückzahlen hergestellt werden, weil sie in der Technik oder anderweitig gebraucht werden, so beispielsweise alles, was mit Radio zu tun hat (vgl. S. 130). 118

Falsche Sparsamkeit. Wo es von finanzieller Bedeutung ist, daß wissenschaftliche Ergebnisse erzielt werden, wie in den qualifizierteren Forschungslaboratorien der Industrie, gibt es im allgemeinen keinen Mangel an qualifizierten technischen Kräften; doch wird die Tatsache, daß solche Laboratorien nur selten Arbeiten von wissenschaftlicher Bedeutung hervorbringen, oft gerade diesem Umstand zugeschrieben und nicht den personellen und organisatorischen Faktoren, welche die Naturwissenschaft in der Industrie tatsächlich so steril machen (vgl. S. 153). Dieses Argument wird häufig mit einem Lobgesang auf die Traditionen der Klebwachs- und Bindfadenphysik* in der experimentellen Arbeit verbunden. Zweifellos lassen der direkte Umgang mit dem Material und die Überwindung von Schwierigkeiten, die unmittelbar physikalischer Natur sind, den Unterschied zwischen einem produktiven und einem unproduktiven Naturwissenschaftler schneller erkennen, als dies möglich wäre, wenn zahlreiche Mechaniker und technische Assistenten vorhanden sind, und tatsächlich sind viele der größten experimentellen naturwissenschaftlichen Entdeckungen der Vergangenheit mit äußerst primitiven Geräten gemacht worden. Daraus sollte man aber nicht schließen, die materiellen Schwierigkeiten der früheren Naturwissenschaftler wären die Ursache ihrer Größe gewesen oder das künstliche Verursachen solcher Schwierigkeiten würde automatisch Größe erzeugen. Mit dem Voranschreiten der Naturwissenschaft wächst ständig die Feinheit der Erscheinungen, die sie beobachtet, und dies erfordert die Benutzung immer raffinierterer Geräte. Außerdem muß mit dem Voranschreiten der Naturwissenschaft die intellektuelle Fähigkeit des durchschnittlichen Naturwissenschaftlers abnehmen, weil ein größerer Teil der Bevölkerung in der Naturwissenschaft tätig ist als früher. Obwohl das Ansehen der Naturwissenschaft begabte Menschen anzieht, die früher andere Berufe ergriffen hätten, wächst die Naturwissenschaft sehr viel schneller, als durch diesen Zustrom ausgeglichen werden kann. Daher ist es unfair, von der Masse der Wissenschaftler zu erwarten, daß sie einer unzureichenden Ausrüstung Ergebnisse abringen, wie das die wenigen Naturwissenschaftler früherer Zeiten konnten. Naturwissenschaftlicher Puritanismus verfehlt letzten Endes seinen Zweck. Die Gehälter der in der Wissenschaft Tätigen. Über die finanzielle Situation des Wissenschaftlers wurde schon einiges gesagt; doch lohnt es sich, in diesem Zusammenhang nochmals darauf einzugehen, weil sie ein Faktor ist, der die Effektivität der Arbeit des einzelnen Wissenschaftlers vermindert. Es ist sehr schwer zu schätzen, ob die Bezahlung der Wissenschaftler im Durchschnitt angemessen ist. Zunächst wissen wir nicht genug darüber, was ihnen gezahlt wird, 5 doch besteht der allgemeine Eindruck, daß zwar die jungen Leute nach Abschluß ihres Studiums in den ersten paar Jahren erheblich unterbezahlt werden, die älteren in der Regel jedoch ein Gehalt zwischen 300 und 600 £ jährlich erhalten, das ihren bescheidenen Ansprüchen genügt. Vermutlich könnte zwar ein Wissenschaftler gleicher Qualifikation in anderen Bereichen mindestens 50 Prozent mehr bekommen, doch 5

Die Association of Scientific Workers hat versucht, dies durch eine Fragebogenaktion zu ermitteln. Die bisherigen Ergebnisse haben gezeigt, daß das Durchschnittsgehalt ziemlich gleichmäßig von 245 Pfund Sterling jährlich für die Zwanzig- bis Vierundzwanzigjährigen bis zu 800 £ jährlich für die Fünfzig- bis Neunundfünfzigjährigen steigt und auf jeder Stufe im industriellen Bereich deutlich höher liegt als im akademischen. * Mit diesem scheinbar abfalligen Ausdruck, der tatsächlich aber eine große Hochachtung zum Ausdruck bringt, belegen seit den zwanziger, dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts Physiker die Experimentierkunst ihrer großen Lehrmeister, die es verstanden hatten, mit primitiven Hilfsmitteln (u. a. Klebwachs, Siegellack und Bindfaden) hervorragende Entdeckungen zu machen. — Vgl. dazu die Ausführungen in: J. D. Bemal, Die Wissenschaft in der Geschichte, a. a. O., S. 483; E. Larsen, The Cavendish Laboratory, London 1962.

119

dürfte er für diesen Verlust durch die angenehme Art seiner Arbeit entschädigt werden. Oft wird gesagt, die Wissenschaft würde, da in der modernen Gesellschaft das Einkommen das einzige Kriterium von Bedeutung ist, erst dann gebührend anerkannt, wenn die Gehälter der Wissenschaftler zwei- oder dreimal so hoch seien, wie sie jetzt sind. Hier werden aber Ursache und Wirkung verwechselt; Gehälter werden nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage bestimmt. Die gegenwärtige Gesellschaft schätzt die Wissenschaft nicht, hat daher auch keinen Grund, Wissenschaftlern höhere Gehälter zu zahlen. Überdies haben die Wissenschaftler bisher kaum deutlich gemacht, daß sie höhere Gehälter haben wollen. Sie haben nicht einmal irgendwelche größeren Anstrengungen unternommen, um sie sich zu ^erschaffen, sei es durch vereinte Aktionen auf gewerkschaftlicher Basis, sei es durch einen Zusammenschluß auf Standesebene, der bei Ärzten und Anwälten so erfolgreich funktioniert, wenn auch die Association of Scientific Workers und die British Association of Chemists und die verschiedenen wissenschaftlichen Institutes* Schritte in dieser Richtung darstellen (vgl. S. 395). Man darf auch bezweifeln, ob erhöhte Zuwendungen an Wissenschaftler der Wissenschaft insgesamt dienlich wären, da dies den Beruf bestimmt für eine Menge egoistischer Leute interessant machen würde, für die er es heute nicht ist. Wir sehen heute schon genug von dem Schaden, den der ökonomische Wettbewerb in der Wissenschaft anrichtet, so daß wir diesen Faktor nicht noch verstärkt sehen möchten. Wie das Durchschnittseinkommen des Wissenschaftlers auch begründet werden mag, die Verteilung der Bezahlung auf die verschiedenen Kategorien von Wissenschaftlern jedenfalls ist schwer zu begründen. Zu groß ist die Spanne zwischen den oberen und den unteren Einkommensklassen, obwohl sie im Vergleich zu den allgemeinen Unterschieden im Einkommen geringfügig ist. Einige wenige Professoren erhalten mehr als 2000 £ im Jahr, und nur wenige Forschungsstellen werden Absolventen mit ausgezeichnetem Examen mit weniger als 100 £ jährlich angeboten. 6 Die Institutionen, die Wissenschaftler zu solchen Gehältern beschäftigen, entschuldigen sich damit, daß sie denjenigen, die sonst überhaupt keine Stelle finden würden, noch eine Wohltat erweisen; sie könnten zu diesen Bedingungen ja genügend Bewerber finden. Das D.S.I.R. sieht bei der Vergabe seiner Forschungsstipendien die Tätigkeit in der Forschung nach dem Examen nicht als Arbeit an, die bezahlt werden muß, sondern als Ausbildung für spätere Arbeit, und zahlt demgemäß nur Stipendien, die in jedem Fall niedrig sind, im Schnitt 130 £, und das nur. wenn der Bewerber nachweisen kann, daß er keine Unterstützung von seinen Eltern und keine Stipendien von Heimatbehörden oder anderen Stellen erhält. Die tatsächliche Spanne zwischen den Gehältern — insbesondere der große Sprung zwischen dem Gehalt eines Lecturers mit 400—500 £ jährlich und dem eines Professors mit 1000 £ — bildet eine starke Verführung einerseits zu internem „Radfahren", andererseits zu Postenjägerei. Eine etwas gleichmäßigere Verteilung der Gehälter würde viel dazu beitragen, der Wissenschaft eine innere Demokratie zu ermöglichen, welche sie besser befähigen würde, ihre Aufgaben zu erfüllen, als es die gegenwärtige oligarchische Organisation zu tun vermag. Ein weiterer Mißstand, der noch spürbarer empfunden wird, ist die Unsicherheit des Arbeitsplatzes im wissenschaftlichen Bereich, besonders in der Industrie und für alle 6

Der University Grants Report 1929—1935 zeigt, daß im letzten Jahr 669 Professoren (das sind 79%) Gehälter zwischen 800 und 1400 Pfund Sterling bezogen; 273 readers (73%) erhielten zwischen 550 und 850 £, 1086 lecturers (77%) bezogen zwischen 375 und 600 £; 702 assistents, lecturers und demonstrators (82 %) empfingen zwischen 225 und 400 £. Dies zeigt das geringe Ausmaß der Überschneidungen. * In diesem Zusammenhang bezeichnet das Wort Institute eine Vereinigung von Wissenschaftlern (vgl. Anmerkung 2 zum dritten Kapitel).

120

Anfanger. Auf die Übel dieses Systems wurde bereits im Abschnitt „Die Ausbildung von Forschern" (S. 101) hingewiesen; außerdem trägt dies sicherlich zu der inneren Ineffektivität der Naturwissenschaft bei, da es die Tendenz verstärkt, kurzfristig Ergebnisse erreichen zu wollen und umfangreiche Arbeiten zu veröffentlichen. Allzu häufig wagt es ein vielversprechender Wissenschaftler nicht, eine Arbeit anzufangen, die, wenn er sie weiter verfolgen könnte, einen bedeutenden Beitrag zum Fortschritt der Wissenschaft leisten würde, weil er nicht sicher ist, daß er nicht nach einem Jahr oder nach zwei Jahren seine Stellung aufgeben muß, ohne etwas Greifbares vorweisen zu können. Hinzu kommt, daß die allgemeine finanzielle Unsicherheit auf dem Gemütszustand insbesondere der jungen und vielversprechenden Forscher lastet und sie daran hindert, die ungestörte innere Ruhe zu finden, die zum systematischen Denken erforderlich ist.

Naturwissenschaftliche Institute . Unter den heutigen Verhältnissen wird der größte Teil der naturwissenschaftlichen Arbeit in Laboratorien oder Instituten durchgeführt, die zwischen vier und vierzig wissenschaftliche Mitarbeiter haben und sich mit einer bestimmten Anzahl mehr oder weniger verwandter Probleme beschäftigen. Bisher haben wir nur die Effektivität des einzelnen Forschers untersucht. Von größerer Bedeutung für den Fortschritt der Naturwissenschaft ist aber vermutlich die Effektivität der Organisation der Laboratorien. Gegenwärtig befindet sich die Organisation der Naturwissenschaft in einer Übergangsphase ihrer Entwicklung; sie geht von der Periode, in der sie eine Summe individueller Anstrengungen verkörperte, in eine Periode über, in der die Wissenschaft durch bewußte Zusammenarbeit mehrerer Wissenschaftief voranschreitet; dabei gehen die Beiträge des einzelnen in dem allgemeinen Ergebnis auf. Das Laboratorium von heute ähnelt mehr einer der ersten Fabriken, wo eine bestimmte Anzahl unabhängiger Arbeiter tätig war, von denen jeder seine eigenen Werkzeuge besaß, und die gemeinsam mit Energie, Material usw. versorgt wurden. In der Organisation der Laboratorien und Institute lassen sich schon heute große Unterschiede erkennen. Bei einigen ist fast völlige Vereinzelung die Regel. Jeder Mitarbeiter hält sein Zimmer verschlossen, und viele arbeiten jahrelang, ohne zu wissen, mit welchen Problemen sich ihre Kollegen befassen. In anderen Instituten gibt es schon eine bestimmte Arbeitsteilung. Ein Mitarbeiter kann beispielsweise für alle spektroskopischen Arbeiten, ein anderer für Mikroanalyse verantwortlich sein usw.; alle diese Tätigkeiten bleiben aber auf einige Spezialisten beschränkt, während die meisten Forscher relativ unabhängig voneinander arbeiten. Gegenwärtig hängt das Ausmaß der internen Zusammenarbeit fast völlig von der Persönlichkeit des Leiters des Laboratoriums ab. Das eine Extrem bildet das autokratische Laboratorium, in dem der Leiter alle Forscher als persönliche Assistenten ansieht, denen er fest umrissene Aufgaben stellt, die sie jeweils zu lösen haben; das andere Extrem ist das anarchische Laboratorium, wo jeder Mitarbeiter völlig sich selbst überlassen ist, sich seine Probleme selber sucht und dem Leiter nur der Form halber Bericht erstattet. Die Gefahr beim ersten liegt darin, daß die Originalität nicht zum Zuge kommt und dem „Assistenten" nicht das Gefühl für Verantwortung vermittelt wird. Gerade in solchen Laboratorien wird die Arbeit der jüngeren Wissenschaftler durch die arrivierten in größtem Umfang ausgenutzt. So mancher wissenschaftliche Ruf beruht fast ganz auf geschickter Zusammenarbeit. Wenn, wie es allzu oft der Fall ist, der Leiter schon etwas älter an Jahren und dabei autokratisch ist, sind die in Angriff genommenen Probleme vielfach solche, die vor dreißig 121

Jahren wichtig waren. Im Ergebnis finden wir, daß auf allen Gebieten diejenigen Laboratorien, welche zu einem wirklichen gedanklichen Fortschritt jenseits allen routinemäßigen Beschreibens und Experimentierens beitragen, nur eine kleine Minderheit bilden. Dagegen weist das anarchische Laboratorium Nachteile ganz anderer Art auf. Ohne jegliche Leitung stehen alle Mitarbeiter — abgesehen von den fähigsten — vor dem Problem, herauszufinden, was sie machen sollen und wie sie es tun sollen. Sie müssen sich zu sehr auf ihre eigenen Möglichkeiten stützen, die angesichts der allgemeinen Kompliziertheit wissenschaftlicher Arbeit sehr enttäuschend sein können. Solche Laboratorien können wissenschaftliche Einsiedler hervorbringen, die argwöhnisch und geheimniskrämerisch ihre selbstgestellten Probleme bearbeiten. Zwischen diesen Extremen gibt es mehr auf Zusammenarbeit gerichtete Formen, bei denen in kürzeren Zeiträumen Leiter und Mitarbeiter gemeinsam — in aller Form oder auch zwangslos — beraten, wie die gemeinsame Arbeit vorankommt und in welcher Weise einzelne Mitarbeiter in die Lösung eines gemeinsamen Problems einbezogen sind. Diese Art kommt offenbar derjenigen Organisationsform am nächsten, welche der internen Ineffektivität am besten entgegenwirkt. Zur Zeit ist allerdings das Forschungsinstitut, das diese Kooperation praktiziert, eher Ausnahme als Regel. Es kann nur existieren, wenn es einen Leiter besitzt, der weit vorausblickt und bereit ist, Autorität zu delegieren. Solche Leute sind in der Welt der Wissenschaft noch viel zu selten. Nur in ganz wenigen Instituten dieser Art gibt es etwas, das einem umfassenden Plan oder einem für mehrere Jahre konzipierten Schema der Arbeit entspricht. Da es — außer in großen Umrissen — unmöglich ist, zu erkennen, was in einem Laboratorium getan wird oder in Zukunft gemacht werden wird, ist es auch unmöglich, diese Arbeit mit der Arbeit in ähnlichen Laboratorien an anderen Orten oder in verschiedenen Laboratorien am selben Ort zu koordinieren. Daher werden viele allgemeine Probleme der Naturwissenschaft, die durch koordinierte Anstrengungen angepackt werden sollten, nur von einzelnen Wissenschaftlern angegangen, so daß die Ergebnisse der Arbeit immer unvollständig sind und unter großen Schwierigkeiten aus zahlreichen verstreuten Quellen zusammengefügt werden müssen. Die Laboratorien an den Universitäten. Das bisher Gesagte gilt im Grunde für alle Laboratorien, doch gibt es spezielle Mängel in den Laboratorien der verschiedenen Institutionen. Der Hauptmangel der Universitätslaboratorien besteht — von einigen herausragenden Ausnahmen abgesehen — darin, daß sie zu klein und schlecht ausgerüstet sind. Gerade in diesen Laboratorien entstand die Klebwachs- und Bindfaden-Theorie der naturwissenschaftlichen Forschung. Immer wieder wird die Arbeit dadurch behindert, daß die Mittel beschränkt sind. Neue Assistenten können nicht eingestellt werden, Jahre können vergehen, bis Geld zur Anschaffung eines Gerätes verfügbar ist. Schließlich ist das Ergebnis so entmutigend, daß sich die Forschung auf ein gemächliches Herumbasteln an Problemen reduziert. Ohne Übertreibung darf wohl gesagt werden, daß sich mindestens die Hälfte aller britischen Universitätslaboratorien in diesem Zustand befindet. Diese Tendenz wird noch dadurch verstärkt, daß sich die Arbeiten auf zahlreiche Laboratorien verteilen. Eine solche Verteilung ist äußerst unökonomisch, es gibt keine Möglichkeit für gemeinsame Versorgung, Geräte müssen unnötigerweise mehrfach angeschafft werden, und es fehlen der Kontakt und die gegenseitigen Anregungen, was nur zum Teil durch die Existenz wissenschaftlicher Gesellschaften ausgeglichen wird. Eine weitere charakteristische Beeinträchtigung der Wissenschaft an den Universitäten ergibt sich dadurch, daß Lehre und Forschung einander in die Quere kommen. Das ist ein von der Sache her sehr schwieriges Problem, das nicht einfach zu lösen sein wird. Ganz gewiß bedeutet es für jeden Universitätslehrer einen Gewinn, wenn er Forschung betreibt, 122

und sei es nur, weil ihm dies in seinen eigenen Augen und in den Augen seiner Schüler den Status eines echten Wissenschaftlers verleiht. Andererseits bedeutet es für jeden Forscher einen Gewinn, wenn er auch in der Lehre tätig ist, da er dabei lernt, seine Ergebnisse darzustellen und die allgemeineren Aspekte der Naturwissenschaft richtig einzuschätzen. Das Problem besteht darin, die richtigen Proportionen zwischen Lehre und Forschung zu finden, die Mitarbeiter dabei zweckmäßig auszuwählen und in jedem Einzelfall die Zeit für beide Tätigkeiten sinnvoll aufzuteilen. Wie die Dinge gegenwärtig liegen, übersteigt an den Universitäten die Anzahl der Dozentenstellen die der Forschungsstellen bei weitem. Das nahezu unvermeidliche Ergebnis ist, daß Dozentenstellen mit Leuten besetzt werden, deren Hauptinteresse der Forschung gilt und welche in die Forschung gingen, wenn es dort genügend Stellen gäbe. Lehrkräfte an Universitäten neigen fast immer dazu, entweder ihre Lehroder ihre Forschungstätigkeit zu vernachlässigen. Manche von ihnen sind überhaupt nicht für die Lehre geeignet, andere glauben, die Anforderungen der Lehrtätigkeit würden sie daran hindern, sich der ständigen intensiven Denkbarkeit zu unterziehen, die zum Forschen nun einmal erforderlich ist. Diese Situation wird in den höheren Funktionen dadurch erschwert, daß zu den Anforderungen in Lehre und Forschung noch Verwaltungsaufgaben kommen. Der Zeitdruck führt notwendigerweise dazu, daß man sich soweit wie möglich in Routine flüchtet; jedes Jahr dieselben ein für allemal ausgearbeiteten Vorlesungen zu halten ist viel weniger belastend, als sie jeweils neu formuliert vorzutragen, und an Veränderungen des Lehrplans oder der Organisation der Laboratorien ist kaum zu denken. Wie Stiftungen wirken. Eine andere Schwierigkeit, mit der die Forschung an den Universitäten ganz besonders konfrontiert ist, ergibt sich aus den Stiftungen, die keineswegs immer eitel Segen bedeuten. In einer sehr großen Universität ist es möglich, durch geschickte Manipulationen die Zuwendungen einigermaßen breit zu verteilen; an allen anderen aber vermögen sie den Lehrbetrieb in völlig unberechenbarer Weise aus dem Gleichgewicht zu bringen, und zwar dadurch, daß einige Institute aufgeblasen und andere ausgetrocknet werden. Da der reiche Engländer relativ geizig ist, läßt sich das ganze Übel am besten in den Vereinigten Staaten erkennen, was lange nicht bedeutet, daß nur dort jeder Dollar einen Haken hätte. Selbst in Großbritannien spürt man die diskrete, aber wirksame Atmosphäre der Protektion. Abgesehen von den älteren Universitäten, die sowohl in bezug auf alte Stiftungen als auch auf die Ehre, die sie ihren Mäzenen einbringen, recht gut dastehen, wird die Politik der Universität oft weit weniger von denen beherrscht, die ihr in der Vergangenheit etwas zukommen ließen, als von denen, die als zukünftige Spender angesehen werden. Die Entwicklung der Forschung an der Universität hängt mindestens ebenso sehr von dem Geschick der Professoren und Institutsdirektoren ab, bei lokalen Magnaten Geld locker zu machen, wie von ihren wissenschaftlichen Fähigkeiten. Selbst liberal denkende Leiter zögern, Forscher zu beschäftigen, deren Tätigkeit dem Institut finanzielle Nachteile verursachen könnte. 7 Solche Überlegungen wirken sich besonders auf ökonomische und soziologische Forschungen aus. In anderen Wissenschaften bieten Auswahl und Ausbildung der in der Forschung Tätigen hinreichende Gewähr dafür, daß derartige unangenehme Erscheinungen nicht auftreten. Die Tatsache selbst bedeutet aber an sich schon eine ernsthafte Kritik am ganzen System.

7

An einer Universität der Provinz strich ein wohlhabendes Mitglied des Governing Board [Kuratoriums, Verwaltungsrates] die Universität aus seinem Testament, weil sich der Lehrkörper aktiv an Solidaritätsaktionen für die Spanische Republik [während des Spanischen Bürgerkrieges 1936—1939] beteiligt hatte.

123

Staatliche Forschungseinrichtungen. Die spezifischen Schwierigkeiten, unter denen die staatlich betriebene Forschung leidet, entspringen großenteils bürokratischen Methoden. Die Art und Weise, wie im Staatsdienst und in der Armee verfahren wird, kann ihrem Wesen nach nicht auf die Forschung übertragen werden. Forschung ist immer ein Vorstoß ins Unbekannte, und ihr Wert läßt sich nicht an der Zeit messen, die zu ihrer Durchführung aufgewendet werden mußte, sondern muß gegen die neuen Ideen, die sie hervorbringt, aufgerechnet und an der Praxis überprüft werden. Geregelte Arbeitszeit, womöglich mit Stechuhr zu Beginn und am Ende, mit vierzehn Tagen Jahresurlaub, ist originellem Denken nicht förderlich.8 Die Arbeit des Wissenschaftlers erfordert ganz unregelmäßige Zeiten. Manchmal möchte er Wochen hindurch sechzehn oder vierundzwanzig Stunden täglich im Laboratorium arbeiten; zu anderen Zeiten erscheinen ihm die ganzen Stunden, die er dort verbringt, nutzlos; er würde die besten Ergebnisse erzielen, wenn er an Partys teilnehmen oder Bergwanderungen machen würde. Nicht nur die Arbeitsbedingungen sind manchmal unangemessen, oft hat die Arbeit Routinecharakter. Nun müssen staatliche Laboratorien natürlich Routinearbeit leisten, nur machen sie, wenn sie sie durchführen lassen, allzu oft keinen Unterschied zwischen den Mitarbeitern; daher lassen sie die Fähigkeiten vielversprechender Forscher verkümmern und verleiden zugleich vielen anderen den Eintritt in diesen Bereich. Der Wissenschaftler im Staatsdienst hat doppeltes Pech: Einerseits hat er nicht die Privilegien eines Akademikers, andererseits nicht die Aussicht auf Beförderung und oft nicht einmal die Sicherheit des Arbeitsplatzes, die der Beamte hat. Die höheren Funktionen sind Verwaltungsbeamten vorbehalten, und so kommt es vor, daß viele Wissenschaftler im Staatsdienst Vorgesetzte haben, die von wissenschaftlichen Dingen kaum mehr als einen blassen Schimmer haben. Das kann in Zukunft noch ärger werden; denn naturwissenschaftliches Allgemeinwissen soll beim Examen zum Eintritt in die höhere Beamtenlaufbahn nicht mehr verlangt werden. Hinzu kommt, daß ein großer Teil der wissenschaftlichen 8

In seinem interessanten Büchlein Science and Life, London 1938, S. 79/80, bemerkt J. G. Crowther dazu: „Das bekannteste staatliche Laboratorium ist das National Physics Laboratory . . . Es ist eines der am besten ausgestatteten in Europa, und seine Arbeit ist gründlich. Obwohl sehr gute Arbeit geleistet wird, fallt es schwer zu glauben, daß seine Ressourcen an wissenschaftlicher Qualifikation und Ausrüstung optimal genutzt werden. Die Forscher müssen sich an eine bestimmte Arbeitszeit halten, und ihnen wurden die Traditionen des britischen Beamtentums beigebracht. Man hat sie merken lassen, daß es wichtiger ist, sich nach Präzedenzfällen zu richten und sich an die anderen Merkmale dieser Traditionen zu halten, als Entdeckungen zu machen. Diese Situation beruht auf der Überzeugung, die älteren Einrichtungen des Staates seien mit Angelegenheiten beschäftigt, die der Sache nach bedeutender seien als wissenschaftliche Forschung. Die Arbeitsgewohnheiten der Beamten des Finanzministeriums werden als geeignete Vorbilder für naturwissenschaftliche Entdecker angesehen. Warum erwartet man von Wissenschaftlern, daß sie den Arbeitsgewohnheiten von Leuten aus völlig andersartigen Bereichen folgen? Das ergibt sich aus dem höheren Prestige von Politik und Finanzwesen. Allgemein wird noch geglaubt, die Prinzipien des Regierens hätten in der modernen Welt keinerlei Beziehung zur Wissenschaft. Man glaubt, Politik bestehe notwendigerweise im Manipulieren von Personen und Parteien, und die Wissenschaft sei nur von Bedeutung als Mittel zur Erreichung dieses Zieles. Diese Ansicht erwächst in natürlicher Weise aus den philosophischen Grundlagen des derzeitigen englischen Gesellschaftssystems. Unter den 600 Mitgliedern des Unterhauses befindet sich nicht ein einziger hauptberuflicher Wissenschaftler, dessen tägliche Arbeit in wissenschaftlicher Forschung besteht, und nur eine Handvoll Mitglieder besitzt einen Hochschulabschluß in einer wissenschaftlichen Disziplin. Hier ist die Situation sogar noch reaktionärer als im Oberhaus, wo es immerhin zwei oder drei hervorragende Forscher auf naturwissenschaftlichem Gebiet gibt. Dies widerspiegelt die Auffassung, Wissenschaft sei in einer modernen Gesellschaft nicht von erstrangiger Bedeutung. Sie vermittelt vielen Menschen mit wissenschaftlichen Fähigkeiten das Gefühl, Wissenschaft sei weniger wichtig als Politik, so daß sie dazu neigen, aus der wissenschaftlichen Forschung in die Politik überzuwechseln, die sich höheren Prestiges erfreut."

124

Mitarbeiter nicht für dauernd, sondern nur befristet [„zeitweilig"]9 oder als Studenten oder nur für spezielle Untersuchungen eingestellt werden. In diesem Fall wirkt die Unsicherheit des Arbeitsplatzes als zusätzliches Abschreckungsmittel, irgendetwas über das vorgeschriebene Minimum hinaus zu tun. Es überrascht nicht, daß unter diesen Umständen viele gute Naturwissenschaftler davor zurückschrecken, in den Staatsdienst einzutreten, und daß fast alle, welche Stellen an Universitäten erhalten können, bereit sind, sie anzutreten, selbst wenn die Universitäten schlechter zahlen.

Forschung in der Industrie Die Geheimhaltung. Zwei Faktoren beeinträchtigen die Effektivität der naturwissenschaftlichen Forschung in der Industrie erheblich. Der eine ist die allgemeine Atmosphäre der Geheimhaltung, in der sie durchgeführt wird, der andere der Mangel an Freiheit des einzelnen Forschers. Insofern eine Untersuchung geheimgehalten werden muß, können alle daran Beteiligten nur sehr begrenzte Kontakte zu ihren Kollegen unterhalten, ob im Ausland, an Universitäten oder, oft genug, sogar in anderen Abteilungen desselben Unternehmens. Natürlich schwankt der Grad der Geheimhaltung beträchtlich. Einige der größeren Unternehmen sind mit Untersuchungen derart allgemeinen und fundamentalen Charakters befaßt, daß es ihnen eindeutig zum Vorteil gereicht, sie nicht geheimzuhalten. Trotzdem werden zahlreiche Verfahren, die von solchen Forschungen abhängen, unter absoluter Geheimhaltung entwickelt, bis sie das Stadium der Patentreife erreicht haben. Noch mehr Verfahren werden niemals patentiert, sondern gänzlich geheimgehalten. Das gilt speziell für die chemische Industrie, wo zufällige Entdeckungen eine weit größere Rolle spielen als in physikalischen Industrien oder im Maschinenbau. Mitunter geht die Geheimhaltung derart weit, daß nicht einmal der Charakter eines Forschungsvorhabens erwähnt werden darf. Viele Unternehmen haben Schwierigkeiten, naturwissenschaftliche oder technische Bücher von Bibliotheken zu bekommen, weil sie nicht bereit sind, als Ausleiher bestimmter Werke in den Karteien genannt zu werden, aus Furcht, Agenten anderer Unternehmen könnten daraus Rückschlüsse auf den Charakter der Forschungen ziehen, die von ihnen betrieben werden. Als weiteres Beispiel läßt sich hier die Geschichte mit den Industrial Research Laboratories [Industriellen Forschungslaboratorien] anführen, über welche die Association of Scientific Workers eine Dokumentation zusammengestellt hat. Sie enthält Einzelheiten 9

„Zeitweilig" ist oft ein Euphemismus. Es gibt einen Fall, mit dem sich neulich die Association of Scientific Workers befaßt hat: Im Jahre 1918 wurde Herr X als „zeitweiliger Assistent" eingestellt; zehn Jahre später war er es noch immer. Um diese Zeit wurde bei der Einrichtung, bei der er beschäftigt war, eine neue Regelung eingeführt, die, wie sich zeigte, auf Herrn X angewendet werden konnte. Während der Wirtschaftskrise 1930—32 wurde Herrn X bei verschiedenen Gelegenheiten geraten, sich eine andere Stellung zu suchen, obwohl ihn sein Direktor von Zeit zu Zeit durch Bemerkungen, die zum Ausdruck brachten, er sei für eine Beförderung vorgesehen, ermutigt hatte. Im Jahre 1934 schließlich wurde Herr X entlassen: auf Grund einer Regelung, die etwa 10 Jahre später in Kraft gesetzt worden war, als Herr X seine „zeitweilige" Arbeit begonnen hatte. Nach dieser Regelung sollte die Beschäftigung eines „zeitweiligen Assistenten" auslaufen, nachdem er ein Jahr lang das seiner Qualifikation entsprechende maximale Gehalt bezogen hatte. Es ging offenbar nicht um das Problem der beruflichen Fähigkeit von Herrn X; es wurde nur die Regelung angewandt, die viel später eingeführt worden war, als man Herrn X unter diesen speziellen Bedingungen eingestellt hatte und auf Grund derer er nicht befördert worden war, selbst nach sechzehn Jahren „zeitweiliger" Beschäftigung. (Vgl. The Scientific Worker, Bd. 9, 1937, S. 166.)

125

über Industrielaboratorien, die ungefähren Aufwendungen, die Anzahl der beschäftigten Forscher usw. Zu ihrer Erarbeitung wurden an 450 Unternehmen, in denen Forschungsarbeiten durchgeführt werden, Rundschreiben geschickt. Von diesen Unternehmen antworteten ganze 80, nur 35 davon machten detaillierte Angaben über die Aufwendungen, 12 lehnten es ab, auch nur die Anzahl der bei ihnen beschäftigten Mitarbeiter mit akademischem Grad zu nennen. Ein Unternehmen teilte mit, daß die Namen der in seinen Laboratorien beschäftigten Mitarbeiter nicht angegeben würden (siehe Anhang III (C)). Solche Methoden der Geheimhaltung sind aber nur dann tatsächlich wirksam — wenn auch unmoralisch —, wenn diejenigen, die mit geheimen Untersuchungen betraut sind, ein persönliches Interesse an ihrer Geheimhaltung haben. Hier schadet sich das System jedoch selbst. Daß in der industriellen Forschung erzielte Ergebnisse von den betreffenden Unternehmen auf Eis gelegt werden, wirkt deprimierend auf die Forscher. Wenn ein Unternehmen, sei es aus Borniertheit oder aus einer sicheren Monopolstellung heraus, es nicht für notwendig hält, dafür zu sorgen, daß verbesserte Verfahren angewendet werden, lohnt es sich für den Forscher kaum, solche Methoden zu ersinnen oder sich mehr für das Unternehmen anzustrengen, als es der eigene Vorteil gebietet. Nur höchst selten ist der Wissenschaftler Direktor oder auch nur wichtiger Aktionär des Unternehmens. Sein Interesse an der Geheimhaltung beschränkt sich in der Regel darauf, seinen Posten zu behalten und sich eine bescheidene Vergrößerung seines Einkommens oder eine kleine oder nominelle Gratifikation für jede abgeschlossene Untersuchung zu sichern. Es ist tatsächlich nicht ganz ungefährlich, in dieser Richtung allzu viel Eifer zu zeigen, da zu befürchten ist, daß man damit einen Maßstab setzt, an dem man später gemessen wird. Nach einer Periode anfanglichen Enthusiasmus wird es einem Forscher, der merkt, daß seine Arbeit nur wenig gesellschaftlichen oder wissenschaftlichen Gewinn bringt und ihm keine finanziellen Vorteile verschafft, nicht allzuschwer fallen, seine Untersuchungen beliebig in die Länge zu ziehen und sich lieber auf Kosten des Unternehmens ein wirksames Systems des Bluffs zurechtzulegen. Mangel an Freiheit. Eine der größten Belastungen des Wissenschaftlers in der Industrie ist der Mangel an persönlicher Freiheit. Die meisten Wissenschaftler arbeiten auf vertraglicher Basis. Diese Verträge, die der zukünftige Mitarbeiter gewöhnlich nicht durchschaut oder nicht abzulehnen wagt, sind fast ausschließlich so abgefaßt, daß sie die Interessen des Unternehmens schützen. Das Ergebnis der geistigen Arbeit eines Menschen innerhalb einer bestimmten Zeitspanne wird aufgekauft. Sämtliche Erfindungen und Ideen, selbst wenn sie außerhalb des eigentlichen Aufgabengebiets zustande kommen, gehören dem Unternehmen. Alle Patente müssen übertragen werden, zu einem Spottpreis, selbst wenn sie Tausende Pfund Sterling abwerfen. Manche dieser Verträge gehen so weit, daß sie dem Forscher verbieten, innerhalb einer Zeitspanne von zwei Jahren nach seinem Ausscheiden eine Arbeit bei der Konkurrenz aufzunehmen. Das bedeutet in Wirklichkeit, daß zwar der Forscher dauernd an das Unternehmen, dieses aber nicht an ihn gebunden ist. Neuerdings hat sich ein noch üblerer Mißbrauch herausgebildet: Forscher werden eingestellt auf Grund von Verträgen, die auslaufen, sobald sie ein Alter von dreißig oder vierzig Jahren erreicht haben. Sie werden ausgenutzt, solange sie jung, voller Schaffenskraft und billig sind, und dann — ohne viel Aussicht auf eine neue Arbeitsstelle — auf die Straße gesetzt. Man braucht wohl nicht zu betonen, daß dies kaum der Weg ist, auf dem ein wissenschaftlicher Mitarbeiter zu Höchstleistungen angespornt wird. Daß die Manager nichts von Wissenschaft verstehen, wirkt sich in zweierlei Hinsicht negativ aus: Es schließt aus, daß der Wissenschaftler richtig eingeschätzt und entlohnt wird, aber auch, daß das Unternehmen jemals merkt, inwieweit seine wissenschaftlichen Mitarbeiter bloß emsig damit beschäftigt sind, die Zeit 126

totzuschlagen. Wissenschaftler von Universitäten, welche Industrielaboratorien besuchen, sind oft über die Unkenntnis der dort beschäftigten Wissenschaftler entsetzt — die unter den gegebenen Umständen nicht überrascht —, weit mehr aber über die Art und Weise, in der sich diese Unkenntnis auf die Leitung des Unternehmens auswirkt. Alle Nachteile, die den staatlichen Laboratorien anhaften, lassen sich erst recht bei den Industrielaboratorien feststellen. Was ein großes Unternehmen an Mitteln für die Forschung gewinnt, verliert es durch entsprechende Entwicklung der Bürokratie. Die Freiheit des Wissenschaftlers ist, was Arbeitszeit und Urlaub betrifft, erheblich eingeschränkt, oft zum Nachteil der Arbeit. Es wäre für einen in der Industrie tätigen Wissenschaftler zum Beispiel von großem Vorteil, drei oder vier Monate im Jahr in einem Universitätslaboratorium zu arbeiten; aber das geschieht nur selten. Selbst die Möglichkeiten, an wissenschaftlichen Kongressen teilzunehmen oder Vorlesungen zu besuchen, sind stark eingeschränkt. Ein sehr großes Unternehmen erreichte es tatsächlich, daß Vorlesungen, die an einer Universität speziell für Wissenschaftler aus der Industrie geplant waren, außerhalb der Arbeitszeit stattfanden, wodurch die Zeit für Diskussionen beschnitten wurde; diese wären tatsächlich aber wertvoller gewesen als die Vorträge. Außerdem gibt es eine natürliche Tendenz, Routinearbeiten und Arbeiten, welche sofortige Ergebnisse versprechen, bei weitem den größten Platz einzuräumen. Niedriges Niveau. Daß der Wissenschaftler im allgemeinen bei Verwaltungsangelegenheiten nur wenig mitzureden hat, macht ihn noch weniger geeignet, die Richtung der Anwendung seiner Ergebnisse zu bestimmen und zu kontrollieren, und dies pflegt sein Interesse an der Arbeit erheblich erkalten zu lassen. Die Folge dieser Bedingungen zeigen sich seitens der begabteren und aktiveren der in der Industrie tätigen Forscher in der Tendenz, in die Forschung an der Universität zurückzukehren; das tun sie in der Regel auch dann, wenn sie dort erheblich weniger verdienen. Diejenigen, die stärker finanziell interessiert sind, übernehmen untergeordnete Positionen im Management, während sich der Rest mit seiner Stellung abfindet, die üblichen Routinearbeiten ausführt und keinerlei besonderen Tatendrang oder Erfindergeist an den Tag legt. Daher ist die Effektivität der Arbeit in den wissenschaftlichen Industrielaboratorien ungewöhnlich niedrig, insbesondere im Verhältnis zu dem beträchtlichen Aufwand für Geräte. Infolgedessen wird der Nutzen, den die wissenschaftliche Forschung den Unternehmen bringen könnte, im allgemeinen viel zu niedrig bewertet. Bei diesen Arbeitsbedingungen für Wissenschaftler in der Industrie überrascht es nicht, daß Stellen in der Industrie von Naturwissenschaftlern am allerwenigsten begehrt werden und ihnen oftmals sogar die Tätigkeit als Lehrer an einer Schule vorgezogen wird. Obwohl es einige hervorragende Forscher gibt, die aus irgendwelchen Gründen in die Industrie gegangen und dort geblieben sind, bilden diese die Ausnahme; im allgemeinen sind die Naturwissenschaftler in der Industrie nicht gerade die besten. Diese Tendenz wird noch durch die Art und Weise verstärkt, in der Naturwissenschaftler von der Industrie eingestellt werden. Zum größten Teil wird selbst in den bedeutendsten Unternehmen die Auswahl nicht von Wissenschaftlern, sondern von den Personalchefs getroffen, so daß Auftreten, gesellschaftlicher Konformismus, Public-School-Bildung und sportliche Fähigkeiten ebenso sehr, wenn nicht stärker ins Gewicht fallen als die wissenschaftliche Qualifikation. 1 0 10

Jemand, der sich um eine Stellung in der Forschung bewarb, war doch sehr erstaunt, als er zum Schluß des Gesprächs gefragt wurde: „Können Sie kegeln?" Der Angestellte, der diese Überraschung bemerkte, sagte: „Ja, sehen Sie, einen weiteren Chemiker für unsere Forschung brauchen wir eigentlich nicht, aber ein tüchtiger Kegler wäre uns angenehm."

127

Daß diese so gering geschätzt wird, scheint nicht ganz unberechtigt; denn die Universitätsausbildung ist meist von der Art, daß sie die Studenten nicht oder nur schlecht auf die wissenschaftlichen Aufgaben in der Industrie vorbereitet. Somit bietet das Zusammenwirken der Art und Weise, wie Naturwissenschaftler in die Industrie gelangen, und der Voraussetzungen, die sie dafür mitbringen, geradezu die Gewähr dafür, daß die naturwissenschaftlichen Stellen in der Industrie zumeist mit liebenswerten, wohlerzogenen, vielleicht fleißigen, aber sicherlich nicht besonders fähigen oder aktiven Leuten besetzt sind (siehe S. 383). Die gegenwärtigen Bedingungen der Naturwissenschaft in der Industrie werden sich höchstwahrscheinlich nicht so leicht ändern lassen, da sie tiefliegende Ursachen haben. Die entscheidende liegt im Charakter der industriellen Produktion selbst. Die Produktion um des Profits willen verzerrt, wie im nächsten Kapitel gezeigt werden wird, unweigerlich die Anwendung der Naturwissenschaft und damit auch die Richtung der naturwissenschaftlichen Forschung. Konkurrenz und Monopol zusammen führen direkt zur Geheimhaltung und zur Drosselung der Grundlagenforschung. Eine unmittelbar wirkende Ursache für die besonders phantasielose Art der naturwissenschaftlichen Forschung in der Industrie ist die Tatsache, daß sie von rein kommerziell denkenden Leuten beherrscht wird, die in der Regel von Naturwissenschaft keine Ahnung haben, ihre Ergebnisse wie Waren und die Produzenten dieser Ergebnisse wie Lohnarbeiter behandeln. Es gibt Grund zu der Annahme, daß in dieser Hinsicht die Situation heute weit schlechter ist als vor fünfzig Jahren. Insbesondere bei den großen Unternehmen ist die Leitung aus den Händen der Gründer, die ein gewisses Verständnis für Naturwissenschaften haben mußten, in die von Nachfolgern übergegangen, die wenig oder keines mehr haben; daß heute Naturwissenschaftler neue Konzerne von einiger Bedeutung gründen, ist auf Grund der Herrschaft der Monopole praktisch unmöglich geworden. In welchem Umfang diese Entwicklung vor sich gegangen ist, zeigt eine Analyse über die Direktoren von neun Unternehmen der Elektroindustrie und der chemischen Industrie, die selbst ihre Existenz der Naturwissenschaft verdanken, von Männern mit naturwissenschaftlichen Fähigkeiten gegründet worden waren und zusammen mehr als dreiviertel der industriellen Forschung in Großbritannien betreiben. Nur dreizehn der 114 Direktoren haben einen naturwissenschaftlichen Hochschulabschluß; diese dreizehn verteilen sich auf nur fünf Unternehmen, und fünf von ihnen sind bei ein und demselben Unternehmen tätig. Nur ein einziger unter allen diesen Direktoren ist ein Mann, dessen Fähigkeiten in der wissenschaftlichen Welt anerkannt werden. Unter diesen Bedingungen ist die zynische Einstellung der wissenschaftlichen Mitarbeiter gegenüber den leitenden Angestellten verständlich. Nicht genug damit, daß die Direktoren keine Ahnung von Naturwissenschaft haben; im großen und ganzen stehen sie im Rahmen der Traditionen der Klasse, der sie angehören — oder angehören möchten —, dem Geist der Naturwissenschaft aktiv feindselig gegenüber. 11

11

In Science and Life, a. a. O., S. 76/77, kommentiert J. G. Crowther die britische Haltung gegenüber der Naturwissenschaft folgendermaßen: „Um 1850 etwa begannen die Deutschen, an Universitäten ausgebildete Chemiker nach England zu schicken, die in den chemischen Fabriken arbeiteten und die praktischen Verfahren erlernen sollten. Diese Leute kehrten nach Deutschland zurück, verbesserten die Verfahren mit Hilfe ihres überlegenen chemischen Wissens und gründeten chemische Unternehmen. Von Anfang an waren die Eigentümer und die Leiter der chemischen Betriebe in Deutschland Chemiker mit theoretischer Ausbildung, und innerhalb eines halben Jahrhunderts hatten sie wichtige Bereiche der chemischen Industrie in der Welt an sich gerissen. Trotzdem konnten die englischen Chemiemagnaten auf Grund ihrer alten Monopolstellung und ihrer angehäuften Profite auch weiterhin auf großem Fuße leben. Es kümmerte sie nicht, daß sie die

128

Wissenschaftliche Geräte Eine bedeutende Quelle der Ineffektivität der naturwissenschaftlichen Forschung sind Kosten und Beschaffenheit der wissenschaftlichen Ausrüstung. Abgesehen von einem kleinen Anteil, der in den Institutswerkstätten selbst hergestellt wird, ist der Naturwissenschaftler, was seine Ausrüstung betrifft, großenteils von der Industrie abhängig, die wissenschaftliche Geräte herstellt. Dieser Industriezweig verdankt sogar seine Existenz der Naturwissenschaft, auch wenn er sich auf zwei ältere Gewerbe, das des Glasbläsers und das des Töpfers, stützen kann. Die ersten wissenschaftlichen Instrumentenbauer waren von Beruf entweder Uhrmacher oder Brillenschleifer bzw. erfindungsreiche Persönlichkeiten mit einem natürlichen Hang zur Naturwissenschaft, die Instrumente bauten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, und auf eigene Rechnung Untersuchungen anstellten. Diesen Männern hat die Naturwissenschaft viel zu verdanken. Als erster entdeckte John Dollond das Prinzip der achromatischen Linse, auf dem die gesamte moderne Astronomie, Mikroskopie und Photographie beruhen. James Watt ließ sich in Glasgow als wissenschaftlicher Instrumentenbauer nieder, und gerade die Reparaturen, die er am Dampfmaschinenmodell der Universität ausführte, befähigten ihn, die moderne Dampfmaschine zu konzipieren. Fraunhofer und Abbe waren im optischen Glasgewerbe tätig. Bis zu Beginn dieses Jahrhunderts war mit Ausnahme der optischen Instrumente der wissenschaftliche Gerätebau ein relativ kleiner Zweig, in dem Handarbeit vorherrschte; in der Regel bestand ein sehr enger Kontakt zu den wenigen Wissenschaftlern, die seine Erzeugnisse benutzten. Das Eindringen der Naturwissenschaft in die Industrie führte jedoch zu einer rapide steigenden Nachfrage nach den Dingen, die ursprünglich wissenschaftliche Instrumente waren, nun aber in der Industrie unentbehrlich geworden waren (wie beispielsweise sämtliche Arten elektrischer Meßinstrumente, Amperemeter usw.). Einen weiteren Auftrieb erhielt diese Industrie durch die Verbreitung des Radios; damit wurde etwas zum Massenbedarfsartikel, was einmal als ein höchst kompliziertes und empfindliches wissenschaftliches Gerät angesehen worden war. Das Ergebnis ist, daß wir heute eine relativ breite wissenschaftliche Geräte-Industrie mit einem Jahresumsatz von etwa sechs Millionen Pfund Sterling haben, nicht eingerechnet die beträchtliche Menge wissenschaftlicher Instrumente, die von der Elektroindustrie produziert, und die Gefäße für die Initiative in der industriellen Entwicklung verloren, sie beschäftigten sich mehr damit, sich einen Platz in der Klasse der englischen Müßiggänger zu sichern. Der 1934 verstorbene F. Haber war in bezug auf die Verbindung von naturwissenschaftlicher Forschung und Industrie die größte Autorität in der Welt. Als er gefragt wurde, warum die britische Industrie keinen zufriedenstellenden Weg zur Organisierung dieser Beziehungen gefunden habe, meinte er, dies sei zum Teil eine Folge der gesellschaftlichen Ansichten der britischen oberen Klassen. Er sagte, erfolgreiche englische Geschäftsleute und Forscher auf dem Gebiet der Naturwissenschaft würden, wenn sie sich in Clubs träfen, nicht miteinander fachsimpeln. So würden Geschäftsleute und Naturwissenschaftler einander nicht als Gleichgestellte kennen lernen und vom Charakter ihrer jeweiligen Probleme niemals etwas erfahren; dementsprechend käme es auch nie zu einer Zusammenarbeit. In Deutschland dagegen erwarte man vom Geschäftsmann, daß er von Geschäften, und vom Naturwissenschaftler, d a ß er über Naturwissenschaft spreche. Dies führe zu gegenseitigem Verständnis und Respekt. Das gesellschaftliche Verhalten in Großbritannien, auf das Haber anspielt, widerspiegelt das Prestige des Ideals der oberen Klassen in England. Der englische Geschäftsmann oder Naturwissenschaftler möchte üblicherweise zuerst als wohlhabender Müßiggänger und erst später als großer Organisator oder Entdecker bekannt werden. Er nutzt die Mittel, zu denen ihm sein Erfolg verhilft, um nach den Gepflogenheiten der reichen Nichtstuer zu leben. Obwohl die Naturwissenschaft in der britischen Industrie seit dem Weltkriege erheblich besser genutzt wird, ist diese Einstellung der oberen Klassen noch weit verbreitet, und sie beeinflußt das Wachstum der Naturwissenschaft in Großbritannien ungünstig." 9

Bemal

129

Chemie, die von normalen Glas- und Keramikherstellern geliefert werden. Daran erkennt man, daß die Industrie mindestens dreimal soviel einnimmt, wie der Etat der naturwissenschaftlichen Forschung beträgt, also nicht mehr in erster Linie von ihr abhängt. Serienproduktion. Dies kommt in gewisser Weise der Naturwissenschaft zugute. Die größere Nachfrage nach bestimmten Elementen der wissenschaftlichen Ausrüstung hat dazu geführt, daß diese in größeren Stückzahlen in Serienproduktion gefertigt werden; dies wiederum hat die Kosten so weit gesenkt, daß sich in der Labortechnik eine Umwälzung vollzogen hat. 12 Andererseits wirken sich gewisse Praktiken, die im wissenschaftlichen Gerätebau gang und gäbe sind, auf die Arbeit im Laboratorium sehr nachteilig aus. Der wissenschaftliche Gerätebau wird heute auf streng kommerzieller Basis betrieben, ist also diesen Praktiken gegenüber ebenso anfallig wie jeder andere Wirtschaftszweig. Insoweit Unternehmer Geräte für andere Bereiche der Industrie herstellen, ist das Niveau hoch, oft allerdings auch der Preis. Wird aber für private oder sonstige nichttechnische Verbraucher produziert, so werden viele dieser Geräte mit überflüssigen Verzierungen versehen und noch höhere Preise verlangt. Am auffallendsten ist das bei Geräten für medizinische Zwecke. Hier wird ein doppelter Schnitt gemacht: Der Hersteller weiß, daß der Arzt den tatsächlichen Wert eines Apparates überhaupt nicht beurteilen kann und verlangt deshalb mindestens den vierfachen Preis, achtet aber sorgfaltig darauf, daß das Produkt in einer Weise gestaltet wird, die darauf berechnet ist, die Patienten des Arztes zu beeindrucken, damit dieser seinerseits entsprechend höhere Honorare verlangen kann. Die tatsächlichen Kosten, beispielsweise für die Anfertigung einer Röntgenaufnahme, einschließlich Gemeinkosten und Abschreibungen, dürften kaum mehr als drei Schillinge betragen, aber ein Patient schätzt sich glücklich, wenn er nicht mehr als zweiundvierzig Schillinge bezahlen muß. Hohe Preise. Wenn Spezialgeräte direkt an wissenschaftliche Laboratorien verkauft werden, so tauchen andere Schwierigkeiten auf. Verglichen mit dem allgemeinen Markt ist dieser Markt klein, und die Unternehmer zeigen nur wenig Neigung, sich speziell um ihn zu kümmern. Das Ergebnis ist, daß die Preise, wenn sie auch nicht ganz so hoch wie für das leichtgläubigere Publikum, immer noch hoch genug sind, um Verkäufe in Grenzen und den Markt klein zu halten; damit ist der Teufelskreis geschlossen. Tatsächlich ließen sich viele der in den Laboratorien verwendeten Geräte in Serienproduktion fertigen und damit der Preis bei gleichbleibender Gewinnspanne auf einen Bruchteil, manchmal auf ein Zehntel des gegenwärtigen, herabdrücken. Dies wurde in der neuen wissenschaftlichen GeräteIndustrie der Sowjetunion verwirklicht (siehe S. 240) und in Großbritannien in der Radioindustrie. Im großen und ganzen läßt man es aber bei den alten Bedingungen bewenden, da niemand ein direktes Interesse daran hat, sie zu ändern. Es ist zur Tradition geworden, daß wissenschaftliche Geräte gekauft werden müssen, und keine Universität war weitblickend genug, Geld in eine eigene Fabrik für Instrumente zu stecken, die sowohl die eigenen Institute beliefern als auch durch zusätzlichen Verkauf kostendeckend arbeiten könnte. Stattdessen kaufen die Institute fast sämtliche Geräte auf der Grundlage irgendwelcher Zuwendungen, und zwar im allgemeinen zum Einzelhandelspreis. Auf diese Weise lassen Universitäten und Forschungsinstitute den Einzelhändlern beträchtliche Gewinne zu12

Die Methoden der Serienproduktion bringen jedoch nicht nur Vorteile, besonders wenn sie zu einer Produktion führen, die nicht mehr flexibel ist. So hat sich beispielsweise die Gestaltung von Röntgenröhren in den letzten zehn Jahren nicht geändert, obwohl viel bessere Röhren hergestellt werden könnten, einfach deshalb, weil dies größere Umstellungen im Produktionsbetrieb erforderlich gemacht hätte.

130

Hießen, was man sich sparen könnte, wenn jede Universität bzw. jede Gruppe von Instituten ihren Bedarf über einen Einkäufer zum Großhandelspreis decken würde. Natürlich würde man vermutlich auch hier auf Widerstand stoßen, da sicherlich manche Provision nicht mehr gezahlt werden würde. Auf lange Sicht würde sich jedoch eine solche Politik sowohl für die Universitäten als auch für die Industrie bezahlt machen, da weit mehr Geräte gekauft würden. Der derzeitige Stand der Dinge ist gewissermaßen die Strafe dafür, daß die Naturwissenschaft wild gewachsen ist und den materiellen Dingen stets mit Verachtung begegnete. Gewöhnlich gibt es recht enge Beziehungen zwischen den Geräteherstellern und den Universitäten ; da es aber, jedenfalls in Großbritannien, nur selten vorkommt, daß Firmen den Universitäten Geräte kostenlos überlassen, sehen sich die Laboratorien ihrerseits auch nicht veranlaßt, die Hersteller bei der Verbesserung ihrer Erzeugnisse zu unterstützen. Das Ergebnis ist, daß speziell im physiko-chemischen und im biologischen Gerätebau die Apparate oftmals erheblich veraltet sind.

Mangelnde Koordinierung der Forschung Die Ineffektivität und die ungenügende Organisation der einzelnen Forschungslaboratorien sind keinesfalls die größten Übel, unter denen die wissenschaftliche Forschung zu leiden hat. Weit schwerer wiegt der allgemeine Mangel an Koordinierung zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Instituten und zwischen Forschern an verschiedenen Orten. Tatsache ist, daß die allgemeine Organisation der Wissenschaft und die Kommunikation zwischen ihren verschiedenen Teilen auf einem primitiven Niveau geblieben und demzufolge hinter den Anforderungen des gewaltigen Anwachsens der wissenschaftlichen Aktivitäten in den letzten fünfzig Jahren zurückgeblieben sind. Im großen und ganzen kennt die Wissenschaft auch heute noch als einzige Formen der Organisation die Gelehrtengesellschaften, die, obwohl sie in der frühen Entwicklung der Wissenschaft während des siebzehnten Jahrhunderts eine wesentliche Rolle spielten, in keiner Weise den Problemen des wissenschaftlichen Fortschritts unserer Tage gerecht werden können. Der wesentliche Mangel der Gelehrtengesellschaft besteht darin, daß sie ihrer ganzen Anlage nach eine freiwillige Vereinigung von Personen ist, die Wissenschaft aus Liebhaberei betreiben — wobei jeder völlig freie Hand hat —, die zum Zwecke der gegenseitigen Erbauung zusammenkommen und gemeinsam gewisse Vorhaben verfolgen, z. B. Zeitschriften herausgeben, die die Funktion der privaten brieflichen Mitteilungen übernehmen. Zu ihrer Zeit waren diese Gesellschaften sicherlich ein großer und sogar revolutionärer Schritt, wie aus dem gewaltigen Enthusiasmus und der erbitterten Gegnerschaft, die sie erzeugten, zu ersehen ist. 13

13

9*

So schrieb J. Glanvill in seiner Schrift Plus Ultra, einer Laudatio auf die Royal Society, London 1668: „Das war ein machtvolles Unternehmen, fest begründet, weise angelegt und mit glücklicher Hand von seinem Begründer empfohlen, der dieses Werk in edelster Absicht in Gang gebracht hatte und ihm mit Geist und sicherem Urteil vorstand. Um es weiter gedeihen zu lassen, bedurfte es aber zahlreicher Köpfe und Hände, die zu einem Ensemble geformt werden mußten, um jeden einzelnen über alle Versuche und Beobachtungen in Kenntnis setzen zu können, sämtliche Vorhaben und Überlegungen auf eine gemeinsame Grundlage zu stellen und auf diese Weise die verbesserungsfahigen und lichtspendenden Phänomene, die kreuz und quer über das unermeßliche Feld der Natur verstreut sind, zu sammeln und in ein gemeinsames Gebäude einzubringen. Das war der sehnlichste Wunsch des großen Mannes (Francis Bacon), der zu diesem Zwecke nach romantischem Bilde eine Gesellschaft von Experimentatoren begründete, aber nicht mehr tun konnte. Seine Zeit war nicht reif für solche Unter-

131

Die Vorstellung einer freiwilligen Vereinigung von wohlhabenden und täglicher Mühsal enthobenen Persönlichkeiten entspricht nicht mehr den organisatorischen Anforderungen einer modernen Wissenschaft. Es gibt heute nur wenige Wissenschaftler, ganz gleich in welchem Lande, die nicht bei Universitäten, dem Staat oder der Industrie angestellt sind und von dort Gehalt beziehen. Daß sie sich frei fühlen, beruht weitgehend auf ihrer Ineffektivität, beziehungsweise darauf, daß die herrschenden Kräfte von den eigentlichen Ergebnissen ihrer Arbeit keine Ahnung haben. Die bestehenden wissenschaftlichen [bzw. Gelehrten-] Gesellschaften bieten, wie wir gesehen haben, keineswegs eine angemessene Grundlage für nehmen. Diese Dinge wurden folglich noch einmal von den späteren Virtuosi aufgegriffen, von denen sich mehrere zusammenschlössen und sich an dieses Vorhaben heranwagten." Als Gegenstück verfaßte ein anonymer Autor die Schrift: „ T H E PLUS U L T R A reduziert auf ein N O N PLUS oder Eine Kostprobe einiger kritischer Anmerkungen zum PLUS U L T R A des Herrn Glanvill", aus der folgende Zitate angeführt werden sollten, die von jedem modernen Gegner der Naturwissenschaft stammen könnten: „In jenem vielgepriesenen Werke stieß ich auf so viele U n b i l d u n g v e r r a t e n d e Stellen, daß die Ehre u n s e r e r N a t i o n seine Zurückweisung zu verlangen scheint. D a sind Stellen, die so destruktiv sind, daß jedermann, dem das Interesse unserer Monarchie, der protestantischen Religion und das Wohlergehen eines jeden Bürgers (und nicht nur das des Geschäftsmannes) am Herzen liegt, sich aufgefordert sieht, zu Feder und Papier zu greifen, und so will auch ich nicht schweigen. Ich habe meine kritischen Anmerkungen in mehrere Teile gegliedert; einige sollen diese merkwürdigen Geistesgrößen in ihrer Lächerlichkeit treffen, andere sollen sie dem Königreich einfach verhaßt machen. Ich wähnte, in jenen Tagen würden nur wenige Muße finden, langatmige Traktate zu studieren, und dachte bei mir, der Streit werde die Gemüter umso heftiger erfassen, wenn sie durch eine Vielfalt solcher Erörterungen in Bestürzung versetzt werden . . . Es gibt noch ein anderes Traktat, das klar die wahren Ziele der Vereinigung der experimentellen Philosophen umreißt, so wie sie Campanella einst angelegt hatte, und das eine Parallele dessen enthält, womit er (und ihr Historiograph hat dies aufgegriffen) England und Holland unter die Knute des Papstes zurückbringen will, desgleichen eine Kostprobe etlicher Experimente, die von einigen Virtuosi publiziert wurden, aber v e r f ä l s c h t o d e r g e s t o h l e n sind, indes als e i g e n e E r f i n d u n g e n angepriesen werden; samt einigen Hinweisen auf die Gefahren, die allen Handelsleuten durch das Fortbestehen d i e s e r V e r e i n i g u n g drohen. U m dies zu erhärten, werde ich einen Vorschlag anfügen, der dazu bestimmt war, in der letzten Sitzung des Parlamentes zum G e s e t z erhoben zu werden. Er wurde von Sir P. N. einem ehrenwerten Mitgliede des Unterhauses zugeleitet, der ihn mir mit folgendem Zusatz übersandte: ,Daraus werden Sie ersehen können, w o r a u f sie a u s s i n d , nämlich anstelle in diesem oder jenem speziellen Gewerbe für eine bestimmte Zeit ein Monopol innezuhaben, ein für allemal das Monopol für alles, was je erfunden werden sollte, an sich zu reißen. Es wird da vorgeschlagen, daß alle Arten angeblich neuer Erfindungen, die sich auf Mechanik, Handel und Industrie beziehen und dem Parlament unterbreitet werden oder werden sollen, von ihnen solchen unparteiischen Personen zugestellt werden, die ein treffendes Urteil über die Neuheit, Realisierbarkeit, Nützlichkeit usw. der vorgeschlagenen Dinge abgeben können, sowie darüber, ob sie die versprochene Wirkung haben werden. Darüber wollen sie dann dem Parlament einen Bericht zukommen lassen. Und die Royal Society of London for Improving of Natural Knowledge hat sich bereits als Vereinigung konstituiert, und der Rat besagter Society besteht aus 21 Mitgliedern und hat gemäß seiner Satzung einen Eid auf sich genommen, in allen Dingen, die dem Vertrauen des besagten Rates überlassen werden, Gerechtigkeit walten zu lassen. Es wird vorgeschlagen, daß solche Dinge besagtem Rate zugeleitet werden und er einen Bericht an das Parlament anfertige.' Die diese Leute kennen, kennen ihre Absichten. Und jeder, der die Zusammensetzung unseres Parlaments kennt, weiß, daß es sich nicht anderswo nach Männern von erforderlicher Urteilskraft umschauen muß, um das Haus über Neuheit, Nützlichkeit, Realisierbarkeit usw. von Erfindungen in Kenntnis zu setzen. Sollte es dem Parlament aber tatsächlich einmal an solchen Männern fehlen, dann müßte der besagte Rat bessere Berichte liefern als ihr Historiograph, oder es wird keinen Sinn haben, seine Dienste in Anspruch zu nehmen. Und unter dem gleichen Vorwand wird diese zusammengewürfelte Vereinigung u n p a r t e i i s c h e r M ä n n e r , hat sie erst einmal ihr Ziel erreicht, vorgeben, Betrügereien im Handel entdecken zu müssen; sie wird ferner alles daran setzen, an den Universitäten und sonstwo so weit wie möglich gelehrten Männern den Vorzug zu geben, und dann wird alles seinen Lauf nehmen. Aber ich will nicht allzu ausführlich werden, sondern möchte lediglich hinzufügen, daß ich die Erörterung und die Tragweite dieses Vorhabens den Handelsleuten von London überlasse, welche die daraus erwachsenden Tendenzen und Folgen besser abschätzen können als ich."

132

die Organisation der Forschung, geschweige denn für Initiativen zu ihrer Lenkung; sie sind fast ausschließlich zu Herausgebergremien und zu Institutionen geworden, die das Ansehen ihrer Mitglieder erhöhen. Informelle Methoden der Koordinierung. Was es in der Wissenschaft an Organisation gibt, spielt sich fast ausschließlich auf privater Ebene ab. Kollegen eines Spezialgebietes lernen sich in der Regel persönlich kennen und verständigen sich, wenn sie auf freundschaftlichem Fuße zueinander stehen, darüber, welche Arbeit jeder zu machen beabsichtigt, und stimmen diese Arbeiten untereinander ab. Dieses System hat zweifellos seine Vorteile. Es vermeidet Reglementierung und Bürokratie, doch zugleich ist es anfallig gegenüber grobem Mißbrauch. Es liefert kein Mittel dagegen, daß eigennützige Interessen verfolgt werden. Natürlich bietet die Wissenschaft weniger Anreiz zu unlauterem Verhalten als das Geschäftsleben oder die Politik, aber es gibt so etwas; zwar bringen Stellen in der Wissenschaft nicht allzu hohe Gehälter ein, doch hängt der Wissenschaftler in fast kindlicher Weise an Titel und Prestige einer Stellung. Erbitterte Fehden, manchmal persönlicher Art, manchmal um die Bedeutung einzelner Disziplinen, werden mit allen Mitteln privater Intrige ausgefochten. Da der Wissenschaft niemals genügend Geld zur Verfügung steht, um mehr als einen Bruchteil des Bedarfs zu befriedigen, spielt sich hinter den Kulissen ein ständiges Tauziehen um dieses wenige Geld ab. Das wird noch dadurch gefördert, daß über all diese Transaktionen der Schleier des Geheimnisses gebreitet wird; sämtliche Verhandlungen, insbesondere mit reichen Gönnern, werden sorgfaltigst verschwiegen, 'bis ihr Abschluß als vollendete Tatsache offenbart werden kann. Jeder, der vorher dahinter kommt, wird nach Möglichkeit mit einem Anteil an der „Beute" beschwichtigt. Die Energien, die darauf verwendet werden, sich auf Kosten anderer Wissenschaftler von irgendwelchen Regierungsstellen oder potentiellen Wohltätern Geld zu beschaffen, würden bei zweckentsprechender Organisation ausreichen, die Forderungen nach solchen Zuwendungen so nachdrücklich zu erheben, daß genügend Mittel für alle herausspringen würden. Das Ergebnis dieser unsystematischen Aktionen ist, daß wir neben Beispielen erfolgreicher Zusammenarbeit solche der Überschneidung finden, einfach weil es an Absprachen fehlt. Mangelnde Integration verschiedener Disziplinen. Weit mehr fallt ins Gewicht, daß es der Wissenschaft an einer intensiv und bewußt verfolgten Konzeption gebricht, und dies immer stärker auf Grund der jüngsten Entwicklungen, durch die die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen weniger scharf voneinander abgegrenzt werden. Die zwanglosen Methoden der Zusammenarbeit, die zwar innerhalb einer Disziplin noch einigermaßen funktionieren mögen, versagen jetzt zwischen den verschiedenen Zweigen der Wissenschaft völlig. Für Mitglieder verschiedener wissenschaftlicher Gesellschaften gibt es weit weniger Möglichkeiten zusammen zu kommen, als für Mitglieder derselben Gesellschaft, und wenn es doch einmal geschieht, liegen auf Grund der weit vorangeschrittenen Spezialisierung die gemeinsamen Interessen vermutlich außerhalb der Wissenschaft. Man könnte meinen, die Universitäten wären in der Lage, diesem Zustand zu begegnen; tatsächlich aber sind die Rivalitäten zwischen verschiedenen Instituten stärker als die gemeinsamen Interessen, und es kommt vor, daß ein Professor der Physik weit besser darüber Bescheid weiß, was in einem physikalischen Laboratorium auf der anderen Seite unseres Erdballs vor sich geht, als darüber, was im chemischen Laboratorium nebenan passiert. Die Folge ist, daß immer erst nach vielen Jahren erkannt wird, welche Bedeutung das eine Wissensgebiet für das andere hat. Beispielsweise haben die Chemiker ein Vierteljahrhundert lang nicht erkannt, daß die Fortschritte in Physik und Kristallographie nicht nur eine oberflächliche Über133

prüfung von Ergebnissen ihrer Wissenschaft, sondern eine völlige Neugestaltung ihrer Grundlagen erforderlich pachten (vgl. S. 261); ebensowenig haben die Mathematiker erkannt, welch außerordentlich reiches Betätigungsfeld ihnen die jüngsten Untersuchungen über die Entwicklung von Organismen erschlossen haben. Dies wirkt sich unter anderem so aus, daß die Wissenschaft gerade dort nicht weiterkommt, wo ihr Fortschritt am dringlichsten ist, in den Grenzbezirken zwischen etablierten Disziplinen. Jede Fakultät hat ihre eigenen inoffiziellen, aber effektiven Wege, sich Geld zu beschaffen und Mitarbeiter zu gewinnen. Außerhalb der Fakultäten und auch zwischen ihnen lassen sich solche Möglichkeiten jedoch nur sehr schwer erschließen; ohne diese können aber Entdeckungen, selbst wenn sie gemacht werden, nicht weiter Verfolgt werden. Vielfach ist man sich gar nicht darüber im klaren, wie sehr das Tempo des wissenschaftlichen Fortschritts dadurch aufgehalten wird, daß solche materiellen Mittel fehlen. Geräte und Mitarbeiter machen noch keine Wissenschaft, aber ohne sie verkrüppelt sie wie ein Lebewesen, das in den ersten Jahren hungert (vgl. S. 118). Die wirkliche Tragödie besteht darin, daß Leute, die auf wissenschaftlichem Neuland schöpferisch tätig sind, so lange kurz gehalten werden, bis sie nach vielen Jahren harter Arbeit Ergebnisse vorweisen können, die genügend Aufmerksamkeit erregen; erst dann, wenn ihre schöpferischen Kräfte schwinden, können sie sich entfalten. Zwar kann ein Mensch von ausreichender Erfindungsgabe und Ausdauer auch mit einem Minimum an Material gute Arbeit leisten. Große Naturwissenschaftler wie Faraday und Pasteur haben dies eindeutig bewiesen. Aber selbst in solchen Fällen wird der Fortschritt oft für Jahre aufgehalten, und auf einen, der Erfolg hat, kommen Dutzende, die vielversprechend beginnen, dann aber entmutigt aufstecken und aus der aktiven Forschung ausscheiden. Der Mangel an Kontakten zwischen einzelnen Zweigen der Naturwissenschaft hemmt auch die Entwicklung von Verfahren innerhalb jeder einzelnen Disziplin. Würden neue Methoden aus der Physik in zweckmäßiger Weise in die Chemie übernommen, so könnten viele Verfahren der Analyse und Synthese ganz wesentlich effektiver und schneller gestaltet werden. Geht alles seinen normalen Gang, so setzen sich solche Verbesserungen erst in zehn bis fünfzig Jahren durch, und dann sind sie in der Physik selbst wieder veraltet. Das bedeutet, daß ein erheblicher Teil der Zeit und des Geldes, die heute in der Chemie aufgewendet werden, vergeudet wird: Mitarbeiter bringen viele Wochen mit Arbeiten zu, die in wenigen Tagen erledigt sein könnten. Die alten Männer. Gegenüber jeder Kritik an der bestehenden Organisation der Wissenschaft wird stets geltend gemacht, die Gewähr dafür, daß sie funktioniere, liege im Charakter der Männer von unbestrittener wissenschaftlicher Leistung, die hohe Funktionen in der Leitung der Forschung bekleiden. In allen Berufen ist aber die führende Rolle der Alten ein umstrittenes Thema. Die Vorteile, die Erfahrung und die Tatsache mit sich bringen, daß sie im allgemeinen keine egoistischen Interessen verfolgen, wodurch auch die Kontinuität der Tradition gesichert und allzu unbedachte Maßnahmen und allzuviel Eigenreklame vermieden werden, bilden die eine Seite; die Scheu vor Veränderungen, die Unfähigkeit, schnell zu reagieren, sowie der Mangel an Kontakten zur modernen Welt die andere. In der Wissenschaft jedoch, deren Existenz unmittelbar von der Entdeckung neuer Dinge und dem Zustandebringen neuer Kombinationen abhängt und wo Initiative mehr zählt als Erfahrung, fallen die Nachteile des Alters schwerer ins Gewicht als anderswo. Insbesondere in den letzten fünfzig Jahren hat es in den grundlegenden Konzaptionen einen derart raschen Wandel gegeben, daß die meisten der älteren Wissenschaftler nicht mehr in der Lage sind, ihr eigenes Gebiet zu verstehen, geschweige denn, es voranzubringen. Nun liegt aber nahezu alles, was an Wissenschaftsorganisation existiert, sowie die so lebenswichtige 134

Verfügungsgewalt über Stiftungen in den Händen von älteren Leuten. 14 Zwar haben sie in vielen Fällen den Scharfblick, fähige junge Leute zu fördern, doch ist ein System, das auf Gunst und Fürsprache beruht, nie gegen Mißbrauch gefeit15 und dem Charakter der Wissenschaft nicht zuträglich. Die Fähigkeiten eines jungen. Wissenschaftlers können weit besser von seinen aktiv tätigen Kollegen beurteilt werden als von einem Gremium noch so hervorragender Senioren. Außerdem ist zu beachten, daß unter den derzeitigen Bedingungen hervorragende Leistungen in der Wissenschaft oft auf Kosten eines umfassenden Überblicks und der Allgemeinbildung erreicht werden. Zu einem Teil muß gerade diesem Umstand der Mangel an Verständnis und Initiative zugeschrieben werden, der bei den offiziellen wissenschaftlichen Gremien bei den allgemeineren Problemen der gesellschaftlichen Verantwortung der Wissenschaft zutage tritt. Sollte Wissenschaft organisiert sein ? Ein ganz entgegengesetzter Einwand gegen jede Reorganisation der Wissenschaft beruht auf der Erkenntnis, daß die Herrschaft der älteren Wissenschaftler gerade diese Gefahr mit sich bringt. Der derzeitige anarchische Zustand der Wissenschaft läßt viele Möglichkeiten offen, sich einer besonders lästigen Kontrolle zu entziehen. Hat man Einwände gegen die Politik der einen Kommission, so kann eine andere gebildet werden, die unter anderen Auspizien die gleiche Arbeit durchfuhrt. Man glaubt, daß Organisation diesen Möglichkeiten ein Ende setzen und vielleicht wirksamer als zuvor unorthodoxe Entwicklungen der Wissenschaft unterbinden könnte, da stets die Gefahr bestehe, daß auf diese Organisation die Prinzipien der autokratischen Leitung übertragen würden. Das ist aber weniger ein Einwand gegen Organisation schlechthin als ein Einwand gegen ihren Mißbrauch. Jede neue Organisation der Wissenschaft, die lebensfähig und effektiv zugleich sein soll, muß mit demokratischen Prinzipien einhergehen, die Wissenschaftlern unabhängig von ihrem Alter und ihrer Stellung eine angemessene Beteiligung an einer verantwortungsbewußten Leitung sichern. Die Vorstellung, die Wissenschaft brauche eine Organisation über die heutigen Formen hinaus, dürfte sicherlich von zahlreichen Wissenschaftlern ganz entschieden bekämpft werden. Die Verfechter des derzeitigen Standes der Dinge begründen ihre Haltung unter Berufung auf die traditionelle Freiheit des Wissenschaftlers. Jeder könne selber darüber urteilen, was untersucht werden muß und mit welchen Methoden am besten; außerdem glaubt man, er könne sich die erforderlichen Mittel beschaffen und verfüge über die zu dieser Untersuchung notwendige Zeit. Beim gegenwärtigen Zustand der Wissenschaft treffen aber diese Bedingungen nicht mehr zu. Doch selbst wenn sie zuträfen, würden die Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftlern und das Bewußtsein, an gemeinsamen Anstrengungen teilzuhaben, ganz bestimmt der Arbeit jedes einzelnen förderlich sein. Wie dies geschehen könnte, wird in späteren Kapiteln dargelegt werden.

14

15

So ist beispielsweise in einem der wichtigsten Organe der englischen Wissenschaft, dem Advisory Council of the Department of Scientific and Industrial Research [Beirat des Amtes für wissenschaftliche und industrielle Forschung] das Durchschnittsalter der Mitglieder 64 Jahre, und kein einziges Mitglied ist jünger als 55 Jahre. In der Geschichte der Wissenschaft lassen sich dafür viele Beispiele angeben. So hat sich etwa der Rat der Royal Society über lange Perioden ihrer Geschichte annehmbarer Mittelmäßigkeit gegenüber weit wohlwollender gezeigt als gegenüber genialen Männern; es sei nur daran erinnert, wie Priestley oder Joule behandelt wurden. Auch große Wissenschaftler sind nicht frei von menschlichen Schwächen, wie die Eifersucht Davys auf Faraday beweist. Wollte man die Wissenschaftler danach beurteilen, wie sie ihre jüngeren Kollegen behandeln, so würden nur die allergrößten wie Pasteur und Rutherford bestehen.

135

Wissenschaftliche Veröffentlichungen In dem Maße, in dem sich die Wissenschaft entwickelt, hängen die Phänomene, von denen sie ausgeht, und die Art und Weise, wie Gesetze und Theorien gebildet werden, immer weniger von direkter Beobachtung der Natur durch den Wissenschaftler selbst ab, sondern immer stärker von früheren Beobachtungen anderer Wissenschaftler und ihren Methoden der Interpretation. Selbst das Instrumentarium der Naturwissenschaft ist sozusagen die materielle Verkörperung bereits vorliegender Theorien. Daher wäre es von ausschlaggebender Bedeutung, daß sich ein Wissenschaftler in jedem Stadium seiner Arbeit schnell und mit geringem Aufwand einen Überblick über sämtliche bisherigen relevanten wissenschaftlichen Erkenntnisse verschaffen kann. Das ist die Funktion des Systems der wissenschaftlichen Veröffentlichungen, das sich im Zuge der Entwicklung der Wissenschaft herausgebildet hat. Gegenwärtig bildet es einen ungeheuren Wust. Es gibt heute in der Welt nicht weniger als 33 000 verschiedene wissenschaftliche Periodika; wahrscheinlich sind es sogar mehr, da diese Zahl in der letzten Ausgabe der World List of Scientific Periodicals von 1934 genannt ist. Daneben gibt es zahllose Bücher, Broschüren und Dissertationen. Jede dieser Zeitschriften erfüllt die Bedürfnisse der wissenschaftlichen Information auf einem speziellen Gebiet in einem speziellen Land, oder versucht es wenigstens. Einige, wie die Mitteilungen der Akademien, erstrecken sich auf alle Forschungsgebiete und haben weltweite Verbreitung, andere sind das Produkt eines hochspezialisierten Instituts und außerhalb ihres Ursprungslands nur unter großen Schwierigkeiten erhältlich. Die Produktion wissenschaftlicher Veröffentlichungen hat seit langem einen solchen Umfang angenommen, daß, wie man erkannt hat, ein Wissenschaftler selbst auf einem an sich schon sehr kleinen Teilgebiet der Wissenschaft nur noch einen kleinen Bruchteil der Arbeiten lesen kann. Wie kann er aber sicher sein, daß die Arbeiten, die er tatsächlich liest, für seine Tätigkeit von größter Bedeutung sind, oder woher weiß er, daß er sich nicht mit Problemen befaßt, die schon gelöst sind? Zu diesem Zweck ist in den letzten Jahren ein umfassendes System von Referatenorganen [Abstracts] entstanden, in denen der Inhalt jeder wissenschaftlichen Arbeit in einigen wenigen Zeilen wiedergegeben wird. Trotz aller Rationalisierungsversuche gibt es in diesen Referaten immer noch sowohl beträchtliche Überschneidungen als auch Lücken, und die Referatenorgane selbst haben einen unhandlichen Umfang angenommen. So umfassen die American Chemical Abstracts jedes Jahr drei Bände zu je 2000 Seiten und einen Indexband von weiteren 1000 Seiten. Diese Situation verschlimmert sich schnell. Die Anzahl der in den Biological Abstracts erfaßten Titel ist von 14506 im Jahre 1927 auf 21531 im Jahre 1934 angestiegen. Veröffentlichungen für das „wissenschaftliche Massengrab". Infolgedessen ist es dem normalen Wissenschaftler, falls er nicht den Hauptteil seiner Zeit mit Lesen zubringen will, unmöglich, sich über den Fortschritt auf seinem Spezialgebiet auf dem laufenden zu halten, noch weniger, den Fortschritt der Wissenschaft als Ganzes zu verfolgen, und sei es nur in großen Zügen. Gleichzeitig kann eine große Menge wertvoller wissenschaftlicher Arbeit für immer verlorengehen, weil sie zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung nicht richtig eingeschätzt wurde und später jeder eifrig damit beschäftigt ist, sich mit den jeweils neuesten Publikationen zu befassen, so daß er keine Zeit mehr übrig hat, sich durch frühere Arbeiten hindurchzuwühlen. Zum Teil sind diese Schwierigkeiten das unvermeidbare Resultat des enormen Anwachsens der Wissenschaft, zu einem weit größeren sind sie aber dem Umstand zuzuschreiben, daß die Wissenschaftler dem Problem des Austausches ihrer Ergebnisse zu wenig Beachtung schenken. Von der Flut der wissenschaftlichen Veröffentlichungen darf man sich aber nicht irreführen lassen. Die Publikationen sind von höchst 136

ungleichem Wert. Ein großer Teil, vielleicht bis zu drei Viertel, brauchte überhaupt nicht veröffentlicht zu werden und wird nur gedruckt, weil wirtschaftliche Überlegungen dahinter stehen, die mit den wirklichen Interessen der Wissenschaft nichts zu tun haben. Die Stellung des einzelnen Wissenschaftlers wird viel zu sehr durch die Menge und nicht durch die Qualität seiner Veröffentlichungen bestimmt. Oft erfolgen Veröffentlichungen vorzeitig, und zwar nur deshalb, weil der Autor sich die Priorität sichern muß; dies ist an sich schon ein Anzeichen für den unnützen Existenzkampf, der sich innerhalb der wissenschaftlichen Welt abspielt. Die Anzahl der wissenschaftlichen Zeitschriften ist insgesamt gesehen zu groß, obwohl jede einzelne zur Zeit ihrer Gründung eine gewisse Daseinsberechtigung hatte. Sie war ins Leben gerufen worden, um die Ergebnisse einer neuen Disziplin aus neuer, nichtorthodoxer Sicht darzulegen; im Laufe der Zeit verschwinden zwar diese besonderen Merkmale, aber die Zeitschrift bleibt. In der Wissenschaft wird dem Lokalpatriotismus oder auch dem persönlichen Ehrgeiz manches Opfer gebracht. Deshalb haben fast sämtliche Zeitschriften nur eine kleine Auflage, und da viele von ihnen nur die Bibliotheken der wichtigsten Universitäten und Akademien erreichen, verfehlen sie größtenteils ihren Zweck. Die Publikationskosten. Die Last dieser riesigen Masse von Publikationen ist an sich schon ein großes Hindernis für die wissenschaftliche Forschung. Abgesehen von gewissen staatlichen Subventionen, werden die Kosten für wissenschaftliche Veröffentlichungen von den Wissenschaftlern selbst getragen. Nur sehr wenige Zeitschriften, hauptsächlich technischen Inhalts, sind rentabel. Die meisten werden von Akademien gestützt, deren finanzielle Möglichkeiten sie derart stark in Anspruch nehmen, daß nur selten etwas für die Forschung selbst übrig bleibt. Die Kosten für Zeitschriften und Bücher sowie die Beiträge für die Gelehrtengesellschaften werden in der Regel nicht vom Laboratorium oder Institut übernommen, so daß das reale Einkommen des Wissenschaftlers stets um fünf bis zehn Prozent unter dem nominellen liegt. Außerdem hat sich auf Grund der allgemeinen Erkenntnis, daß unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht jeder, der an einem Spezialbeitrag interessiert ist, ihn auch tatsächlich bekommt, die Praxis herausgebildet, von jeder Arbeit bis zu 200 Sonderdrucke an einen ausgewählten Kollegenkreis zu verschicken, was natürlich zusätzliche und oft recht beträchtliche Kosten verursacht. Dieses Verschicken von Sonderdrucken ist ein hoffnungsvolles Anzeichen und kann, wie in einem späteren Kapitel vorgeschlagen wird, den Weg zu einem wesentlich besseren System der Kommunikation weisen. Zur Zeit ist es jedoch ineffektiv und kostspielig, da für jede einzelne Veröffentlichung das Verhältnis von Angebot und Nachfrage anders ist. Speziell Sonderdrucke von Arbeiten, die sich als wichtig herausstellen, sind in der Regel bereits nach Ablauf eines Jahres nicht mehr zu bekommen. Aus unseren bisherigen Ausführungen sollte klar geworden sein, daß das gegenwärtige System der wissenschaftlichen Veröffentlichungen eine Vergeudung von Zeit und Geld und für die Wissenschaftler selbst eine beständige Quelle des Unbehagens darstellt. Natürlich werden immer wieder Anstrengungen unternommen, es zu verbessern. So setzt sich allmählich in verschiedenen Disziplinen der Wissenschaft ein System der Reports über die Ergebnisse durch. Die Zahl der Zeitschriften, welche Referate über wissenschaftliche Arbeiten bringen, ist zurückgegangen, und die Referate selbst werden besser klassifiziert. Doch können diese Verbesserungen mit der stets wachsenden Flut neugegründeter Zeitschriften und der Anhäufung ungelesener Beiträge kaum Schritt halten. Was nottut, ist eine weit drastischere Umgestaltung des Gesamtsystems der wissenschaftlichen Kommunikation. Einige Vorschläge in dieser Richtung werden in einem der folgenden Kapitel unterbreitet. 137

Persönliche Kommunikation und Reisen. Nicht nur das Chaos der wissenschaftlichen Publikationen ist ein Beweis dafür, daß die Kommunikation unter den Wissenschaftlern völlig unzureichend ist. In der Wissenschaft gibt es vieles, das nur sehr schwer, wenn überhaupt, in die Veröffentlichungen einfließen kann. In allen Experimentalwissenschaften sind die Verfahren, mit denen Meßwerte gewonnen werden, fast ebenso wichtig wie die Meßergebnisse selbst. A u f ähnliche, wenn auch weit weniger zugängliche Weise sind die Denkweisen einzelner Wissenschaftszweige, so weit sie sich von den in der Wissenschaft allgemein üblichen unterscheiden, von ausschlaggebender Bedeutung für den wissenschaftlichen Fortschritt. Nun trifft es aber immer noch zu, daß selbst beim besten Publikationssystem, das man sich vorstellen kann, die manuellen und die geistigen Arbeitsmethoden im allgemeinen am besten durch direkte Erfahrung übernommen werden können. Tatsächlich wurde das zum größten Teil früher auch so gehandhabt. Eine neue Methode oder gar eine neue Wissenschaftsdisziplin wird meist dadurch verbreitet, daß auswärtige Studenten den Ort besuchen, an dem sie entstanden ist, und dann ihrerseits Schulen gründen, von denen aus wieder über persönliche Kontakte der Prozeß sich fortsetzt. Das geschieht auch, aber nicht in ausreichendem Maße. Möglichkeiten zu Reisen und zur Arbeit in anderen Laboratorien existieren zwar, genügen aber nicht. Die Kosten bilden für alle, abgesehen von den wenigen Glücklichen, welche Besuchs- oder Austauschstipendien erhalten, ein ernstes Hindernis. A m schwersten haben es diejenigen, die es am dringendsten nötig hätten: junge Wissenschaftler, die drei oder vier Jahre Forschungstätigkeit hinter sich haben, aber noch keine Stellung, die genug abwerfen würde, um zu reisen oder im Ausland davon zu leben. Die Folge ist, daß bestimmte Methoden nur sehr langsam bekannt und vielfach in der ganzen wissenschaftlichen Welt erst dann angewendet werden, wenn sie schon veraltet sind. Besucht man Laboratorien, so macht man vielfach die Erfahrung, daß man einerseits auf unvermutete Verbesserungen stößt, die dort bereits seit Jahren in Gebrauch sind, andererseits auf völlig veraltete Methoden, die sich ebenso lange gehalten haben. Die weitere Verwendung veralteter Methoden kann oft dazu führen, daß die Anstrengungen von Jahren umsonst waren. Das läßt sich aber nicht vermeiden, wenn nicht schnellere und direktere Möglichkeiten zu persönlichem Gedankenaustausch zwischen den Wissenschaftlern geschaffen und realisiert werden.

Die Auswirkungen ineffektiver Organisation Der Schaden, der dem wissenschaftlichen Fortschritt aus der geschilderten Ineffektivität der Organisation erwächst, läßt sich in seinem Umfang nur sehr schwer abschätzen. Doch besteht kein Zweifel, daß diese Ineffektivität zur Zeit einer der Hauptfaktoren ist, die den Fortschritt der Wissenschaft verzögern. Um einige Zahlen zu nennen: Die durchschnittliche Effektivität kann nicht sehr viel über fünfzig Prozent liegen, mitunter aber liegt sie nur bei etwa zehn Prozent. Das bedeutet, daß, wie die Dinge zur Zeit liegen, zwischen fünfzig und neunzig Prozent der Gelder und der Anstrengungen, die der Wissenschaft gewidmet werden, vergeudet werden. Das soll nicht heißen, daß dann, wenn die Ursachen dieser Ineffektivität beseitigt würden, die Wissenschaft doppelt bis zehnmal so rasch vorankäme, da unter den gegenwärtigen Bedingungen der beschränkten Mittel und Stellenzahl jede ins Gewicht fallende Beschleunigung des wissenschaftlichen Fortschritts auf diese beiden einschränkenden Faktoren stoßen würde. Das rasche Wachstum der Naturwissenschaft in den letzten hundert Jahren ist zum Teil selbst für die gegenwärtigen Schwierigkeiten verantwortlich. Der Wissenschaftler konzentriert sich nach wie 138

vor zu sehr auf die Arbeit, mit der er sich gerade beschäftigt, als daß er die ständig zunehmende Komplexität der Organisation, in deren Rahmen er tätig ist, bemerken würde, und tatsächlich wird er sich der Schwierigkeiten meist erst dann bewußt, wenn sie eine Form annehmen, die seine Arbeit direkt behindern. Es sind gerade die Erfolge der Wissenschaft, welche vor den Augen der Öffentlichkeit und sogar vor den Augen der Wissenschaftler selbst verschleiern, mit welchem übergroßen Aufwand sie erzielt wurden. Der Wissenschaftler tut seine Arbeit, die Wissenschaft schreitet voran, die Anwendungen und Neuerungen folgen nach. Das sieht man; was man nicht sieht, ist, daß der Fortschritt weit rascher vonstatten gehen könnte, als es zur Zeit der Fall ist, und daß dies mit weit weniger Aufwand an Zeit und Intelligenz erreichbar wäre. Es gibt drei Dinge, die man beachten sollte, wenn man die Errungenschaften der Wissenschaft von außen beurteilt. Erstens zieht die Wissenschaft dank der inneren Befriedigung, die sie ihren Jüngern gewährt, und dank ihrer scheinbaren Wertfreiheit noch immer einen großen Teil der glänzendsten Geister jeder Generation an. Zweitens ist Wissenschaft eine leichte Sache, viel leichter, als sich jemand, der nichts damit zu tun hat, vorstellen kann. Hat man einmal ihre Sprache erlernt, so stellen sich Fortschritte, sieht man von gewissen kritischen Stellen ab, fast von selbst ein. Für den größten Teil der naturwissenschaftlichen Arbeit ist ein Minimum an manueller Geschicklichkeit, an Fleiß und Gewissenhaftigkeit alles, was man braucht. Daß so ungeheuer viel zu entdecken ist, entschädigt einen reichlich für die Unzulänglichkeiten, die bei der Arbeit hindern. Im großen und ganzen ist sie ein Zaubergarten. Alles liegt zum Greifen bereit, man braucht es nur zu nehmen. Drittens ist es nur natürlich, die Effektivität der heutigen Wissenschaft mit der anderer menschlicher Tätigkeiten zu vergleichen. Bei einer solchen Gegenüberstellung schneidet die Wissenschaft durchaus nicht so schlecht ab, da sie in ihrer allgemeinen Richtung von den schwererwiegenden Übeln des ökonomischen und politischen Lebens weitgehend frei ist: von Spekulation, vorsätzlicher Einschränkung, unlauteren Praktiken und Korruption, diesen Symptomen der deformierenden Auswirkung des eigennützigen Bestrebens, ein abgewirtschaftetes System aufrechtzuerhalten. Andererseits widerspiegelt die Ineffektivität der Wissenschaft im einzelnen einfach in zugespitzter Form die Ineffektivität des ökonomischen Systems, unter dem sie ihren gegenwärtigen Stand erreicht hat. Allerdings gibt es im kommerziellen und im industriellen Bereich einen direkten ökonomischen Anreiz für effektives Management. Effektive Methoden der Unternehmensführung machen sich, selbst wenn sie ein Mehr an Geräten und Personal erfordern, letzten Endes dadurch bezahlt, daß sie an anderen Stellen größere Einsparungen ermöglichen. Nun wirft die Wissenschaft, obwohl sie in einer industrialisierten Gesellschaft letztlich eine Quelle des Profits darstellt, an sich keinen Profit ab. Sieht man Wissenschaft an sich als ein Geschäft an, so lohnt sie sich nicht; dementsprechend tritt der Verschleiß hochqualifizierter wissenschaftlicher Kader durch triviale und unnütze Arbeiten nicht als Verlust in Erscheinung, während jede Ausgabe zur Vermeidung solchen Verschleißes ebenso viel Geld bedeutet, das man hätte sparen können. Der Fortschritt der Wissenschaft und ihr Beitrag zum Wohl der Menschheit sind keine Anliegen der Geschäftswelt. Da dem wissenschaftlichen Fortschritt so wenig gesellschaftliche und wirtschaftliche Beachtung geschenkt wird, überrascht vielleicht nicht so sehr die Ineffektivität der wissenschaftlichen Forschung als vielmehr die Tatsache, daß sie so effektiv und so glänzend betrieben wird. Wissenschaft in Gefahr. Warum also, könnte man fragen, wünschen wir, daß mit der Wissenschaft eine Ausnahme gemacht wird? In dieser schlechten Welt geht es ihr doch gar nicht so schlecht. Der Grund dafür ist, daß Wissenschaft ein einmaliges Produkt der menschlichen Gesellschaft ist, das — und zwar mit vollem Recht — besondere Beachtung erfordert. 139

Vom beständigen Fortschritt der Wissenschaft hängen nicht nur der Sieg über Armut und Krankheit ab, sondern auch alle Mittel, die in der menschlichen Gesellschaft einen wesentlichen Wandel herbeiführen können. Und Wissenschaft ist ein empfindlicher Prozeß. Wir wissen nicht, wieviel Einengung und Ineffektivität sie aushalten kann. Mehr als einmal in der Geschichte haben wir Wissenschaft aufblühen und untergehen sehen. Das kann sich wiederholen. Dieses Risiko kann sich aber weder die Wissenschaft noch die Gesellschaft leisten.

140

SECHSTES KAPITEL

Die Anwendung der Wissenschaft

Jeder Versuch, über die Anwendung der Wissenschaft und die Faktoren, die ihre Natur und ihren Umfang bestimmen, zu schreiben, bringt zwangsläufig ganz besondere Schwierigkeiten mit sich. Daß die Wissenschaft Anwendung findet, wird nämlich so sehr als selbstverständlich angesehen, daß die Art und Weise, wie dies vor sich geht, niemals ernsthaft untersucht wurde. Sowohl die meisten Wissenschaftler als auch Laien geben sich mit dem offiziellen Mythos zufrieden, derjenige Teil der Arbeit der Grundlagenforscher, der für die Menschheit von Nutzen sein könne, werde sofort von unternehmungsfreudigen Erfindern und Geschäftsleuten aufgegriffen und der Öffentlichkeit möglichst billig und zweckdienlich zur Verfügung gestellt. Man braucht sich jedoch nur mit dem gegenwärtigen oder dem vergangenen Zustand von Wissenschaft und Industrie ernsthaft vertraut zu machen, um sofort zu erkennen, daß dieser Mythos in jedem Punkt unrichtig ist; wie es aber tatsächlich ist, ist sehr viel schwieriger herauszufinden.

Die Wechselwirkung von Wissenschaft und Technik. Zwischen der Entwicklung der Naturwissenschaft und der Entwicklung der Technik bestand immer eine enge Wechselwirkung. Weder hätte sich die Technik ohne Naturwissenschaft, noch diese ohne jene entwickeln können, denn ohne den Fortschritt der Wissenschaft würde die Technik zu handwerklicher Tradition erstarren, und ohne die Anregung durch die Technik würde die Wissenschaft in reine Scholastik zurückfallen. Daraus folgt aber weder, daß man sich dieses Zusammenhangs bewußt ist, noch daß er einen hohen Wirkungsgrad besitzt. Tatsächlich stieß die Anwendung der Wissenschaft auf das praktische Leben immer auf die größten Schwierigkeiten, und selbst heute, da ihr Wert allmählich erkannt wird, vollzieht sie sich rein zufallig und höchst ineffektiv. Lord Stamp, keineswegs ein scharfer Kritiker unseres gegenwärtigen Gesellschaftssystems, charakterisiert diesen Prozeß wie folgt: „Alle diese Entdeckungen, diese Geschöpfe der Naturwissenschaft, ordnungsgemäß in die Welt gesetzt und der Gesellschaft auf die Schwelle gelegt, werden angenommen und in mannigfacher Weise umsorgt, aber nach unbekannten Prinzipien und ohne jede Anweisung seitens ihrer Erzeuger. Auch fühlen sich die Ökonomen normalerweise nicht verpflichtet, diese Phase zu untersuchen, irgendwelche Verfahren zur Prüfung ihres Wertes für die Gesellschaft anzugeben oder gar Methoden und Hinweise für die schnellste Einführung von Neuerungen zu liefern. Diese Dinge geschehen' eben, im allgemeinen unter dem Drang nach Profit und nach den Wünschen der Verbraucher, in freier Konkurrenz, ohne Rücksicht darauf, wie die neuen Wünsche gegenüber den alten einzuschätzen sind und ohne Rücksicht auf Veränderungen in der Produktion und damit der Beschäftigungslage mit all ihren sozialen Folgen. Der Ökonom untersucht diese Dinge, wenn sie geschehen, so gut er kann, macht sich aber keine Gedanken darüber, daß sie überhaupt nicht in dieser Weise ablaufen 141

dürften, weil sie soziale Störungen oder eine Beeinträchtigung nicht-ökonomischer Werte mit sich bringen könnten." 1 Die Beziehungen zwischen der Naturwissenschaft und der Entwicklung der technischen und ökonomischen Tätigkeiten sind komplex und in ständigem Wandel begriffen. Die Wissenschaft im Sinne rationaler expliziter und kumulativer menschlicher Erfahrung trat, verglichen mit den traditionsgebundenen, impliziten — allerdings ebenfalls kumulativen — handwerklichen Verfahren relativ spät in Erscheinung. Dies konnte auch nicht anders sein: Das Verstehen muß vom Einfachen zum Komplizierten fortschreiten, aber die primitiven Bedürfnisse des Menschen, die befriedigt werden müssen, ehe er auch nur zu verstehen beginnt, liegen auf einer höchst komplizierten Ebene. Der erste praktische technische Fortschritt des Menschen vollzog sich in Richtung Biochemie, bei der Zubereitung von Nahrung, und in Richtung Tierpsychologie, bei der Jagd und schließlich bei der Domestikation von Tieren. Ein wissenschaftliches Verständnis dessen, was man tat, war von der Sache her unmöglich. Tatsächlich liefert selbst jetzt noch die primitive Magie bei vielen dieser Dinge ebenso unmittelbar nützliche Erklärungen der Erscheinungen wie die Wissenschaft. Was rational verstanden werden soll, muß einfach sein; doch lohnt sich das Verstehen nur, wenn es auch etwas nützt. Daher kamen erst auf der relativ späten Stufe zivilisierten Lebens in Städten Mathematik, Mechanik und Astronomie — die einfachsten Wissenschaften — auf, als die wichtigsten technischen Verfahren des menschlichen Daseins bereits feste Formen angenommen hatten. Kochen, Hauswirtschaft, Ackerbau, Töpferei, Textil- und Metallbearbeitung hatten etwa den gleichen Entwicklungsstand wie zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts. Die Wissenschaft erlangte erst dann eine für die Praxis nützliche Bedeutung, als in den neuen Zivilisationen des Westens die im großen Maßstab betriebenen mechanischen Künste in Kriegs- und Friedenszeiten ökonomisch wichtig wurden, während sie vordem nur als Magie von Interesse waren. Sieht man von Navigation und Feuerwaffen ab, die beide nur Optik und Mechanik erfordern, so hatte bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts die Industrie der Wissenschaft weit mehr gegeben als die Wissenschaft der Industrie. 2 Dann kam der Wendepunkt. Bald danach begann sich die Entwicklung der 1 2

J. Stamp, The Science of Social Adjustment, London 1937, S. 13. Das wurde im siebzehnten Jahrhundert für so selbstverständlich gehalten, daß es die Wissenschaftler als ihre Aufgabe ansahen, nachdrücklich zu betonen, in Zukunft könne die Wissenschaft ihrerseits der Industrie von Nutzen sein. So verfaßte Robert Boyle ein Pamphlet That the Goods of Mankind May Be Increased by the Naturalist's Insight into Trades, aus dem hier folgendes zitiert sei: „. . . Ich möchte dies abschließen mit der Bemerkung, daß Sie nun, wie ich hoffe, davon überzeugt sind, daß nicht nur die experimentelle Philosophie selber durch eine Inspektion der Handwerksberufe weiterentwickelt werden kann, sondern daß sie ihrerseits auch diese voranzutreiben vermag; der glückliche Einfluß, den sie auf diese haben kann, ist nicht das schlechteste Mittel, mit dessen Hilfe sie der Naturalist nützen könnte, um der Herrschaft des Menschen forderlich zu sein. Die Tatsache, daß eine gebührende Beherrschung der verschiedenen Handwerksberufe ganz offensichtlich eine Angelegenheit der Öffentlichkeit ist, geht aus vielen unserer englischen, noch in Kraft befindlichen Statute Laws [vom Parlament erlassene Gesetz] zur Regulierung des Handwerks der Färber, Ziegelbrenner und verschiedener anderer Handwerksberufe hervor, in denen es der Gesetzgeber nicht unter seiner Würde gehalten hat, sich dazu herabzulassen, sehr genaue Regeln und Instruktionen zu schaffen . . . Ich könnte, hätte ich die Muße, einige Gründe hinzufügen, warum ich keinen Zweifel hege, daß der Landwirt mit Hilfe des Naturforschers in Zukunft seinen Beruf auf eine höhere Stufe heben wird, indem er einen therapeutischen Zweig hinzunimmt, der sich nicht nur auf die tierischen und die pflanzlichen Produkte des Bodens erstreckt, sondern auch auf die Beschaffenheit des Bodens (im weitesten Sinne des Wortes) selbst. Denn würden die Ursachen der Unfruchtbarkeit des Bodens im allgemeinen und seiner mangelnden Eignung, bestimmte Pflanzen oder Tiere hervorzubringen und zu ernähren, durch den Scharfsinn des Forschers entdeckt, so sehe ich nicht ein, warum nicht viele dieser Mängel durch vernünftige Anwendung geeigneter Heilverfahren behoben werden könnten; ebenso sehen wir in vielen

142

chemischen Wissenschaft, welche sich im Verständnis der natürlichen A b l ä u f e a n M e c h a n i k und Optik anschließt, auf die älteren traditionellen Verfahren der Färber u n d Schmiede auszuwirken. Erst in unserem Jahrhundert wurde der nächste entscheidende Schritt getan, und das Verständnis lebender Strukturen durch B i o c h e m i e u n d Genetik hat b e g o n n e n , die noch älteren traditionellen Verfahren des K o c h s u n d des Landwirts zu beeinflussen. Das Eindringen der Wissenschaft in die Industrie. Dieser kurze historische Überblick m a g genügen, u m die allgemeine Tendenz in den Beziehungen zwischen Wissenschaft u n d Technik zu zeigen; ein tieferes Verständnis erfordert j e d o c h eine A n a l y s e der Art u n d Weise, in der heute wissenschaftliche Forschung und P r o d u k t i o n aufeinander einwirken. Dieser Prozeß wird notwendigerweise durch die gesellschaftlichen u n d insbesondere die ö k o n o m i s c h e n Produktionsbedingungen beherrscht. Gegenwärtig [1938] wird außerhalb der Sowjetunion die Produktion überall um des privaten Profits willen betrieben, und der Gebrauch, der dabei v o n der Wissenschaft gemacht wird, hängt primär d a v o n ab, was sie zum Profit beiträgt. Im großen und ganzen wird Wissenschaft d a n n u n d nur d a n n angewendet, wenn sie sich bezahlt macht. Im Laufe der Entwicklung wurde Wissenschaft in der Industrie nach u n d nach i m m e r m e h r angewendet, auch w e n n die einzelnen Etappen sich k a u m voneinander abheben. D i e Wissenschaft kann sozusagen in die Industrie einsickern, u n d zwar in d e m M a ß e , wie ihre Operationen einfach sind. Ein altes traditionelles Gewerbe kann sehr gut o h n e Wissenschaft

anderen unbelebten Dingen Schwierigkeiten überwunden, einschließlich sogar der unzugänglichen und widerspenstigen metallischen.. . . Der Naturforscher kann Macht und Besitz der Menschheit mittels der handwerklichen Künste mehren, nicht nur, indem er diejenigen verbessert, die schon bekannt sind, sondern indem er neue einführt, zum Teil solche, die völlig neu erfunden werden, zum Teil solche, die an Plätzen, an denen er eine Nachfrage nach ihnen erzeugt, nicht bekannt waren. Denn man würde weder der Natur noch dem Menschen gerecht, würde man glauben, die Reichtümer der Natur und der Fleiß des Menschen wären so erschöpft, daß den Händen der Handwerker nicht neue Betätigungsmöglichkeiten erschlossen werden könnten, wenn sich philosophische Köpfe befleißigen, neue Entdeckungen zu machen. Und hier meine ich, daß sich in vielen Fällen das Handwerk vom wissenschaftlichen Experiment unterscheidet, nicht so sehr in der Natur der Dinge, als vielmehr darin, daß jenes das Glück hatte, zum Wohle des Menschen oder von einer Gruppe von Handwerkern zum Zwecke ihres Gewinnes genutzt zu werden; dies sind aber Dinge, die dem wissenschaftlichen Experiment wesensfremd sind und es nur zufallig begleiten. Um es an einem Beispiel zu demonstrieren: Das explosive Aufflammen eines Gemisches von Salpeter, Schwefel und Holzkohle war, solange es nicht aus der Studierstube jenes Mönches herausdrang, dem diese Entdeckung zugeschrieben wird, nichts weiter als ein Experiment; sobald aber erkannt worden war, welch großer (wenn auch unglückseliger) Gebrauch davon gemacht werden konnte, und Mechaniker sich entschlossen, es zu ihrem Beruf und Geschäft zu machen, es zu verbessern und praktisch zu nutzen, rief dieses einzelne Experiment mehr als ein Gewerbe ins Leben, die Berufe des Pulvermachers, des Feldschlangengießers, des Kanoniers (sowohl für Feldschlangen als für Mörser) und des Büchsenmachers; letzterer umfaßt wieder unterschiedliche Handwerksberufe wie den des Musketenbauers, des Pistolenmachers, des Herstellers von einfachen und von gezogenen Läufen, sowie noch weitere, die ich hier nicht aufzählen will. Die Entdeckung der Eigenschaft der Magnetnadel, sich nach den Polen zu richten, hat die Kunst der Anfertigung von Schiffskompassen, wie man diese Geräte heute nennt, ins Leben gerufen, die sich in London zu einem besonderen und eigenständigen Gewerbe entwickelt hat. Und es ließen sich weitere Beispiele zum gleichen Zwecke anführen, besonders dort, wo mechanische Werkzeuge und Vorrichtungen mit der Art und Weise Hand in Hand gehen, in der die Natur wirkt. Oftmals verwandeln sich einige wenige mathematische Überlegungen und ein paar physikalische Beobachtungen, die durch die Erfindung von Instrumenten und die Praxis von Handwerkern ermöglicht wurden, in ein neues Gewerbe, so wie wir sehen, daß einige dioptrische Theorien, deren sich geschickte Mechanikerhände bemächtigten, die Berufe des Brillenschleifers und des Herstellers so vortrefflicher Geräte wie Teleskope und Mikroskope hervorgebracht haben." 143

auskommen, solange es im kleinen Maßstab einer Hauswirtschaft ausgeübt wird, aber selbst hier kann in gewissem Umfang Wissenschaft ins Spiel kommen, wenn bestimmte Meßgeräte benutzt werden wie Küchenwaagen und Backofenthermometer. Auf Wissenschaft kann jedoch dann nicht mehr verzichtet werden, wenn auf Grund ökonomischer Entwicklungen das gleiche Verfahren in einem viel größeren Maßstab angewandt werden soll. In früheren Zeiten waren zum Beispiel Backen und Brauen ausschließlich Tätigkeiten im Haushalt, die nach traditionellen Verfahren ausgeübt wurden und deren Erfolg teils von der bewährten Wirksamkeit der Tradition, teils vom Geschick der Hausfrau abhing. Sobald sie aber in einem größeren Maßstab ausprobiert wurden, war die Tradition nur noch von begrenztem Wert, und dem einzelnen war es nicht mehr möglich, die Vorgänge wie bisher im Detail zu beherrschen. Hier kam die Wissenschaft herein, in ihrer elementarsten Form des Messens und Standardisierens. Das alte Verfahren wurde nicht verändert, doch wurden verschiedene Instrumente wie Thermometer, Hydrometer, Saccharimeter eingeführt, um zu gewährleisten, daß die neuen Verfahren so genau wie notwendig den Prinzipien des alten folgten. Das nächste Stadium setzt ein, wenn es vorteilhaft erscheint, das Verfahren zu ändern, entweder weil es beim Übergang zu einem größeren Maßstab bestimmte Schwierigkeiten gibt, oder weil man durch Verwendung billigeren Materials oder durch Beschleunigung des Prozesses Geld sparen will. Das kann man je nach Geschmack als Verbessern oder als Verfälschen bezeichnen, jedenfalls werden Anforderungen gestellt, die die Tradition von sich aus nicht befriedigen kann. Dann muß irgendwie experimentiert werden, und in einem großen Maßstab sind über den Daumen gepeilte Versuche höchstwahrscheinlich unvertretbar kostspielig. Versuche in kleinem Maßstab sind aber dem Wesen nach Laborexperimente. Tatsächlich entspringt die ganze Vorstellung wissenschaftlichen Experimentierens Schmelzversuchen, die, wie Agricola darlegte, einfach Schmelzvorgänge im kleinen Maßstab sind. Um ein Verfahren zu verbessern, muß man es daher bis zu einem gewissen Grade wissenschaftlich verstehen. Das ist ein Stadium, in das die metallurgische Industrie im vorigen Jahrhundert eintrat und aus dem sie erst jetzt herauskommt, und es ist das Stadium, in das die alten biochemischen Gewerbe jetzt allmählich eintreten. Dieses Stadium erfordert eine einigermaßen entwickelte Organisation von Industrielaboratorien und eine Experimentalwissenschaft, die kausale Zusammenhänge erfaßt. Auf die Verbesserung eines industriellen Verfahrens folgt als nächster Schritt offenbar seine vollständige Beherrschung; das ist aber nur möglich, wenn die Natur des Verfahrens völlig verstanden wird. Dies wiederum setzt das Vorhandensein einer wirklich adäquaten wissenschaftlichen Theorie voraus. Einer der größten Fortschritte des neunzehnten Jahrhunderts war die Bereitstellung einer solchen Theorie für die Chemie, dank welcher sich die chemische Industrie nicht wie die Metallurgie durch Herumprobieren und teures Experimentieren, sondern mit Hilfe bestimmter Überlegungen entwickeln konnte. In Wirklichkeit verläuft diese Entwicklung niemals so einfach. Oft erweist sich eine Theorie als inadäquat, und bisweilen eilt ihr die Praxis voraus und muß von ihr eingeholt werden. In dieser Weise stimulieren Wissenschaft und Technik einander gegenseitig. Obwohl beispielsweise die Entwicklung der Dampfmaschine in ihren Hauptlinien der Theorie des Verhaltens von überhitzten Dämpfen folgte, die bereits im siebzehnten Jahrhundert ausgearbeitet worden war, führte der tatsächliche Einsatz von Dampfmaschinen zu Ergebnissen, die von dieser Theorie nicht vorausgesehen worden waren, und zeigte insbesondere die Unzulänglichkeiten der alten wissenschaftlichen Vorstellungen von der Natur der Wärme. Diese Diskrepanz wiederum führte, sobald sie überwunden war, zu einer weiteren Verbesserung der Dampfmaschine und zur Erfindung weiterer Wärmekraftmaschinen. 144

Die vollständigste Integration von Industrie und Wissenschaft ist jedoch erst dann erreicht, wenn das Wissen um die grundlegende Natur eines Verfahrens so umfassend ist, daß es zur Entwicklung völlig neuer Verfahren führen kann, an die innerhalb der traditionellen Methoden nicht gedacht wurde oder nicht einmal gedacht werden konnte; als Beispiele seien die chemische Synthese neuer Farbstoffe oder spezifischer Arzneimittel genannt. Die gleichen Resultate ergeben sich sogar unmittelbarer, wenn eine rein wissenschaftliche Entdeckung eines neuen Effektes industriell genutzt wird, wie beispielsweise beim Telegraphen und beim elektrischen Licht. In diesen Fällen haben wir einen durch und durch wissenschaftlichen Industriezweig, der sowohl sein Zustandekommen als auch seine weitere Entwicklung der Wissenschaft verdankt. Die herausragenden heutigen Beispiele dafür sind die verschiedenen Zweige der Elektroindustrie; das betrifft sowohl die Erzeugung und Verteilung von Elektroenergie als auch die Verbesserung der Nachrichtentechnik. Nun sind diese verschiedenen Grade der industriellen Anwendung der Wissenschaft natürlich keine statischen Kategorien. Mit dem gemeinsamen Fortschreiten von Wissenschaft und Industrie nehmen die wissenschaftlichen Aspekte der Industrie immer größeren und ihre traditionellen Aspekte immer geringeren Raum ein. Doch ist das Entwicklungstempo in den einzelnen Industriezweigen zwangsläufig sehr unterschiedlich, da es nicht nur von den spezifischen Schwierigkeiten abhängt, die das zugrunde liegende Verfahren einer wissenschaftlichen Beschreibung bietet — wie etwa beim Kochen und bei der Viehhaltung —, sondern auch ganz erheblich von der relativen ökonomischen Rückständigkeit solcher traditionellen Gewerbe. Auch hier sind jedoch die ökonomischen Gründe entscheidend. Bisher paßte es besser in den Rahmen, die Produktion, also auch die wissenschaftliche Forschung, auf die Schwerindustrie und auf die Erzeugung von Waren zu konzentrieren, die in großen Mengen in Fabriken hergestellt werden konnten. Die Interessen des Produzenten, ökonomisch zu wirtschaften, hatten Vorrang vor denen des Verbrauchers. Wäre der gleiche Aufwand an Zeit und Geld, mit dem bisher die maschinelle Produktion entwickelt wurde, darauf gerichtet worden, die Lebensbedingungen zu erforschen und zu verbessern, speziell in der Nahrungsmittelversorgung und im Gesundheitswesen, so wären wir schon viel weiter, und zwar nicht nur in unserer Lebensqualität, sondern auch im Verständnis biologischer Probleme. Die Verzögerung bei der Anwendung der Wissenschaft. Was bei der Anwendung neuer Entdeckungen in der Praxis besonders auffallt, ist das Phänomen, daß zwischen dem Zeitpunkt einer Entdeckung und dem Beginn ihrer praktischen Nutzung so viele Jahre lagen und noch immer liegen. Für die Frühstadien der Entwicklung der Wissenschaft mag eine solche Verzögerung als unvermeidlich angesehen werden. So brauchen wir nicht überrascht zu sein, daß zwischen der Entdeckung des Vakuums und seiner Nutzung in der atmosphärischen Dampfmaschine fast ein ganzes Jahrhundert verstrich. Doch selbst als die Nützlichkeit der Wissenschaft voll erkannt war, blieb diese Verzögerung bestehen. So entdeckte Faraday 1831 das Prinzip der elektromagnetischen Induktion und baute die erste Dynamomaschine, durch die mit mechanischer Kraft elektrischer Strom erzeugt wurde. Es dauerte jedoch noch fünfzig Jahre, ehe der erste kommerziell hergestellte Generator lief und Edison das erste öffentliche Elektrizitätswerk errichtete. Diese Zeitspanne hat sich bis auf den heutigen Tag gehalten. So werden die Möglichkeiten der Strukturanalyse kristalliner Stoffe mit Hilfe von Röntgenstrahlen, die sich aus der Entdeckung Max von Laues im Jahre 1912 ergeben, in der Industrie noch kaum genutzt. Die Ursachen dieser Verzögerung lassen sich sehr schwer ergründen, das Problem umfaßt wissenschaftliche, technische und ökonomische Faktoren. Auch wird die Erklärung in den einzelnen Fällen höchst unterschiedlich ausfallen, da die Zeitspanne keinesfalls einheitlich ist. Mitunter IO

Bernal

145

wird, und das gilt auch schon für frühere Zeiten, eine Entdeckung oder Erfindung sofort aufgegriffen und rasch verbreitet, wie beispielsweise im Fall des Schießpulvers und der Buchdruckerkunst. 3 Die wissenschaftlichen und die technischen Gründe dieses Zurückbleibens ließen sich rasch aus dem Wege räumen. Von den wissenschaftlichen Gründen können wir sogar absehen, wenn wir als Zeitpunkt der Entdeckung nicht denjenigen ansehen. 711 dem das Phänomen beobachtet, sondern denjenigen, zu dem es in das System des naturwissenschaftlichen Wissens integriert wurde. So wurden beispielsweise nach unserer Auffassung die Röntgenstrahlen und die elektromagnetischen Wellen nicht im achtzehnten Jahrhundert entdeckt, als diese Erscheinungen erstmals wahrgenommen wurden, sondern ein Jahrhundert später, als sie einen festen Platz in der Naturwissenschaft einnahmen. Die technischen Schwierigkeiten sind ernster. Die Überführung einer im Laboratorium gemachten Entdeckung in die Praxis bringt Änderungen im Maßstab und in der Intensität mit sich, läßt sich nur effektiv bewerkstelligen, wenn Materialien verfügbar sind, die diejenigen Eigenschaften besitzen, die durch diese Änderungen notwendig werden. So kamen die Hochdruckdampfmaschinen, die von der Sache her in ihrer Arbeitsweise einfacher sind als die Vakuum-Dampfmaschinen, erst etwa ein Jahrhundert später auf, weil die verfügbaren Metalle den erforderlichen Drücken nicht standgehalten hätten. Trotzdem sind die technischen Faktoren meist nicht die einschränkenden; denn technische Schwierigkeiten lassen sich großenteils überwinden, wenn man nur genug Zeit und Geld oder, besser gesagt, hinreichend viel Geld aufbringt, denn Zeit ist Geld. Es sind also die ökonomischen Faktoren, in denen wir die Erklärung dafür zu suchen haben, daß die Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit so schleppend Eingang finden; ebenso erhalten wir daraus Aufschluß über den allgemeinen Charakter der Anwendungen der Wissenschaft in der Praxis. Bernhard J. Stern schildert die Lage folgendermaßen: „Die mächtigsten Faktoren der Zivilisation sind offenbar ökonomischer Art: Bemühungen, ökonomische Vorteile und die Herrschaft über die anderen Klassen der Gesellschaft, über Konkurrenten im gleichen Industriezweig und über Rivalen um den gleichen Markt auf Nachbargebieten zu behaupten; die Kosten, eine neue Methode oder ein neues Produkt einzuführen, das in seiner ursprünglichen Form gewöhnlich primitiv und nicht standardisiert ist und für welches nur eine einzige von zahlreichen Neuerungen zur Lösung des betreffenden Problems zur Verfügung steht; die Verluste, welche durch die Wertminderung von Maschinen und Erzeugnissen eintreten, die durch die Neuerung überholt sind; die starre Struktur und die

3

Schätzungen für die durchschnittliche Verzögerung in der Anwendung hat S. C. Gilfillan in einer höchst interessanten Arbeit Prediction of Inventions angegeben, die in dem Bericht der amerikanischen Regierung Technological Trends and National Policy (1938) abgedruckt ist: „Bei 19 Erfindungen, die zwischen 1888 und 1913 eingeführt und als außerordentlich nützlich eingestuft wurden, betrugen die durchschnittlichen Zeiträume: zwischen dem Zeitpunkt, zu dem die Idee der Erfindung aufkam und dem ersten funktionstüchtigen Modell oder Patent 176 Jahre; von dann an bis zum ersten praktischen Einsatz 24 Jahre; bis zum kommerziellen Erfolg 14 Jahre, bis zur allgemeinen Verbreitung 12 Jahre — also fünfzig Jahre, gerechnet vom erstmaligen wirklichen Arbeiten an der Erfindung. Weiterhin ergab die Untersuchung der wichtigsten Erfindungen der letzten Generation vor 1930 in: Recent Social Trends eine mittlere .Tragzeit' von 33 Jahren zwischen dem zweiten der oben genannten Zeitpunkte und dem des kommerziellen Erfolgs. Sucht man nach Ausnahmen, so stößt man kaum auf eine Erfindung, bei der es von dem Zeitpunkt an, zu dem mit der Arbeit an ihr oder etwas ganz Ähnlichem begonnen wurde, weniger als zehn Jahre dauerte, bis sie wichtig wurde, und nur bei einigen genügten zwanzig Jahre. Somit haben wir eine ausgezeichnete Vorhersageregel für die vorliegende Studie: nur solche Erfindungen vorherzusagen, die bereits .geboren' sind, deren physikalische Möglichkeit schon bewiesen ist, die aber noch nicht praxiswirksam sind und deren physikalische Möglichkeit schon bewiesen ist, die aber noch nicht praxiswirksam sind und deren künftige Bedeutung noch nicht allgemein erkannt ist." (S. 19.)

146

Unbeweglichkeit der großen Unternehmen, die zögern, einen Markt durcheinanderzubringen, der bereits durch Drosselung der Produktion Profit abwirft; die Schwierigkeiten von kleinen Unternehmen, genügend Kapital für Investitionen zu beschaffen; die lähmende Wirkung kapitalistischer Krisen; schließlich der Kampf der Arbeiter, um zu verhindern, daß sie in dem Profitsystem Opfer einer Arbeitslosigkeit durch technische Freisetzung werden, daß ihre Qualifikation verlorengeht und daß das Arbeitstempo beschleunigt und die Löhne gesenkt werden. Es gibt auch politische Faktoren, die mit eigener Dynamik wirken und eingesetzt werden können, um technische Veränderungen zu verhindern, wie beispielsweise der restriktive Einfluß des Nationalismus oder ein schlechtes Patentrecht sowie Gerichtsentscheidungen, welche die Unterdrückung von Erfindungen rechtfertigen; das System ,unkündbarer' Konzessionen und Privilegien; die Macht der einflußreichsten Industriellengruppen, die Gesetzgebung so in ihrem Interesse zu lenken, daß sie nützlichen Neuerungen, welche ihre Profite gefährden könnten, entgegenwirkt." 4

Die Gewinnträchtigkeit der Wissenschaft Es sei daran erinnert, daß die Vorstellung, man könne die Wissenschaft bewußt und direkt zum Wohle des Menschen anwenden, relativ jungen Datums ist und daß dies sogar heute [1938], abgesehen von der Sowjetunion und einigen philantropischen Organisationen, nicht einmal versucht wird. Statt dessen wurde und wird die Wissenschaft als einer der variablen Faktoren in der industriellen bzw. landwirtschaftlichen Produktion benutzt, um zusätzlichen Profit zu erzielen. Die Wissenschaft wird danach eingeschätzt, was sie zur Erhöhung des Wertes von Produkten oder zur Senkung der Kosten beiträgt, und dementsprechend bezahlt. Die grundlegende Schwierigkeit, auf die bereits hingewiesen wurde, besteht jedoch darin, daß die Rentabilität von Neuentwicklungen, die der Wissenschaft zu verdanken sind, im allgemeinen ungewiß ist und sich meist erst relativ spät herausstellt. Zum Zeitpunkt einer wissenschaftlichen Entdeckung läßt sich nicht erkennen, zumindest nicht von kommerziell Denkenden, ob sie Gewinn bringen wird oder nicht. Eine Entdeckung aufzugreifen, bedeutet also ein gewisses Risiko, und je weiter sie dem Anschein nach von kommerziell genutzten Verfahren entfernt ist, desto größer ist dieses Risiko und desto geringer die Wahrscheinlichkeit, daß sie auf kommerzieller Grundlage weiterentwickelt wird. Das Risiko ist natürlich ein doppeltes: zum einen, daß die Entdeckung oder Erfindung nicht funktioniert, zum anderen, daß sie, wenn sie funktioniert, trotz aller Patentregelungen (vgl. S. 161) so leicht geraubt werden kann, daß die Profite nicht denen zufließen, die zuerst Geld hineingesteckt haben, sondern anderen. Schwierigkeiten in der Finanzierung der Forschung. Eben dies führt zu der paradoxen Situation, daß es stets schwierig und zuweilen sogar unmöglich ist, die Anwendung wissenschaftlicher Forschung, die eine größere Rendite als jede andere Form der Investition erbringen kann, zu finanzieren. Wenn wir bedenken, daß die Rendite der organisierten 4

Technological Trends and National Policy. Including the Social Implications of New Inventions, June 1937; Report of the Subcommittee on Technology to the National Resources Committee (im folgenden: Technological Trends), Washington 1937, S. 59/60. — Eine gründliche Untersuchung über ökonomische Hemmnisse des technischen Fortschritts findet sich in Sterns Arbeit in: Science and Society, Bd. 2, New York 1938, S. 3.

10«

147

Forschung, wie gezeigt wurde, etwa 800 Prozent jährlich beträgt (siehe S. 88 und Anhang V), so wird das Paradoxon ganz und gar unglaubhaft, solange wir uns nicht vor Augen halten, daß Profite dieser Art der Geschäftswelt nichts nützen. Für einen solchen Preis könnten die Risiken sogar in Kauf genommen werden; es fühlt sich aber niemand dafür verantwortlich, daß sie jemand auf sich nimmt. Der Kapitalmarkt ist tatsächlich nicht im mindesten dafür geeignet, solche langfristigen spekulativen Investitionen zu finanzieren, wie sie Entwicklungen von Erfindungen zu sein pflegen. In der Tat ist er nicht nur weit davon entfernt, den technischen Fortschritt zu fördern, sondern entwickelt sich immer mehr zu einem Faktor, der ihn hemmt. Die folgende Analyse, die ich H. D. Dickinson verdanke, zeigt die Gründe: „Die Organisation für Investitionen (Banken, Emissionshäuser, die Aktienbörse usw.) ist in einer Weise erstarrt, die rein kommerziell ausgerichtet ist. Sie ist den Zwecken der Industrie, soweit diese sich von denen des Handels unterscheiden, nicht sehr dienlich, wie aus den jahraus, jahrein wiederkehrenden Klagen darüber hervorgeht, daß es kein effektives System der Finanzierung lang- und mittelfristiger Entwicklungen in der Industrie gibt, wobei unter Industrie die Anwendung bekannter Verfahren verstanden wird (siehe den Macmillan-Bericht), und daß daher Firmen, die weder von der Größe noch vom Umfang und der Vielfalt der Produktion her in der Lage sind, Erweiterungen aus eigenen Profiten zu finanzieren, sich die erforderlichen Mittel nicht beschaffen können. Dasselbe gilt erst recht für die naturwissenschaftliche Forschung. Das Funktionieren des Kapitalmarktes wird noch immer durch seine historische Bindung an das überseeische Handelsgeschäft und den Wechsel gehemmt. Die Aktienbörse hat die Funktion, Geschäfte mit realisierten Investitionen zu erleichtern, und dies trägt gelegentlich dazu bei,' den Start neuer Unternehmen zu fördern, doch hat sie wenig direkten Anteil daran, neue Investitionen anzuregen. Banken, Versicherungen, Teilzahlungskreditanstalten, Investmentgesellschaften, Firmengründungskonsortien, freie Makler, Aktienschieber usw. teilen den Kapitalmarkt unter sich auf . . . Sie sind sämtlich nur in ganz geringem Maße an der Finanzierung neuer Anwendungen der Naturwissenschaft interessiert. Sie sind technisch nicht genügend versiert, um die Möglichkeit eines solchen Vorschlages zu beurteilen, müssen sich also auf bezahlte Experten verlassen. Daher kann nicht erwartet werden, daß sie auf diesem Gebiet sehr oft Entwicklungen anregen."5 Zwei weitere Faktoren stehen einer leichten Finanzierbarkeit von Anwendungen der Naturwissenschaft entgegen, die unabhängig von bestehenden großen Firmen betrieben werden. Erstens sind die Geldbeträge, um die es sich dabei handelt, im Vergleich zu üblichen Transaktionen lächerlich gering; es sind bestenfalls etwa 100 000 Pfund Sterling statt einiger Millionen. Da es sich um einen ziemlich unüblichen Typ von Investitionen handelt, lohnt es sich also nicht, sich damit zu befassen, und es gibt nur wenige Firmen, die so etwas überhaupt in Erwägung ziehen. Zweitens gibt es innerhalb des Konjunkturzyklus nur eine sehr kurze Zeitspanne, in der es sich lohnen würde, Geld in eine problematische langfristige Investition wie die wissenschaftliche Forschung zu stecken. Während der Konjunktur läßt sich mit Spekulation viel mehr verdienen, und während einer Rezession setzt niemand sein Geld aufs Spiel. Die Folge ist, daß die Entwicklung neuer Anwendungen der Wissenschaft immer mehr den bestehenden Firmen und besonders den großen Monopolunternehmen überlassen bleibt, die es sich als einzige leisten können, an bedeutende Entwicklungen heranzugehen (siehe S. 153, Anmerkung 9). 5

Charles F. Kettering, Vizepräsident und Forschungsdirektor der General Motors Corporation sagte im Jahre 1927 in diesem Zusammenhang etwas ähnliches: „Bankiers sehen die Forschung als höchst gefährlich an und als etwas, das das Bankgeschäft zu einem Wagnis macht, weil sie in der Industrie zu schnellen Änderungen führt." (in: Technological Trends, S. 63.)

148

Diesem Widerwillen gegen Investitionen in die Entwicklung wissenschaftlicher Ideen muß ein Anreiz zu solchen Investitionen entgegengesetzt werden. Nun ist aber, wie wir bereits bei der Erörterung der bloßen Entdeckungen gezeigt haben, der Fortschritt der Wissenschaft auf irgendeinem Gebiet eine Funktion der für dieses Gebiet aufgewandten Geldbeträge. Natürlich ist er diesen Beträgen nicht proportional, es läßt sich aber nicht bestreiten, daß es ohne Geld keinen Fortschritt gibt. Die gleiche Überlegung gilt auch für die Anwendung der Wissenschaft, nur daß hier die erforderlichen Geldsummen weit größer sind, weil die Experimente in großem Maßstab durchgeführt werden, höhere Kapitalauslagen und laufende Kosten mit sich bringen und die bereits erwähnten technischen Schwierigkeiten überwunden werden müssen. Um unter solchen Bedingungen überhaupt eine Anwendungsmöglichkeit realisieren zu können, müssen dem Verlustrisiko sehr große Einsparungen gegenüberstehen, die im Falle des Erfolges zu erzielen sind. Diese werden meistens eintreten, wenn die Anwendung dazu bestimmt ist, schon ein dringendes ökonomisches Bedürfnis zu befriedigen, und noch sicherer dann, wenn dadurch eine bekannte Verlustquelle ausgeschaltet werden soll. Voraussetzungen für praktische Erfolge. Das Studium der Geschichte der Technik lehrt, daß naturwissenschaftliche Ideen gewöhnlich zuerst in einem Gebiet von unmittelbarer Rentabilität angewendet wurden, das oft nicht dasjenige zu sein brauchte, auf dem sie schließlich die größte Bedeutung erlangten. So wurde das mechanische Weben zunächst zur Fertigung von Bändern genutzt und erst viel später zur Herstellung von Tuchen, und die Dampfkraft wurde zuerst für Gartenspringbrunnen, dann zur Grubenentwässerung und zuallerletzt zum Antrieb von Maschinen eingesetzt. Die Forderung nach kurzfristiger Rentabilität hemmt die Anwendung der Wissenschaft gerade am Anfang einer Entwicklung, wo diese am intensivsten sein könnte. So wurde beispielsweise in dem bereits zitierten Fall der Elektroenergie in den ersten zehn Jahren praktisch nichts unternommen, weil es keine unmittelbar rentable Verwendung für elektrischen Strom gab. In den vierziger Jahren [des neunzehnten Jahrhunderts] wurden einige Gleichstromgeneratoren für Galvanisierungszwecke entwickelt. Aber erst in den siebziger Jahren, als zunächst für Leuchttürme und dann für die Straßenbeleuchtung die Bogenlampe eingeführt wurde, setzten wirklich bedeutsame Entwicklungen ein. Doch bedurfte es der Glühlampe für Haushaltszwecke, um das zentrale Elektrizitätswerk aufkommen zu lassen, das erstmalig deutlich machte, auf welch mannigfache Weise frei verfügbarer elektrischer Strom verwendet werden kann. Zwar mußten in dieser ganzen Zeit technische Schwierigkeiten überwunden werden, doch kann man ruhig sagen, daß die Hälfte bis zwei Drittel der Zeit dieser Entwicklung hätten eingespart und der technische Fortschritt der Industrie dementsprechend beschleunigt werden können, wenn die Anstrengungen und die Gelder, die zwischen 1880 und 1890 für die Entwicklung der Elektrotechnik aufgewendet wurden, früher verfügbar gewesen wären. Das Problem des Maßstabes. Es gibt eine Schwierigkeit, die jeder solchen spontanen ökonomischen Entwicklung von Entdeckungen innewohnt. Eine Anwendung kann erst dann voll rentabel werden, wenn sie sich in großem Maßstab vollzieht. Andererseits sind aber die technischen Schwierigkeiten der Großproduktion weit größer als in der Kleinproduktion; sie können tatsächlich unüberwindlich sein, wenn nicht beträchtliche Vorarbeiten mittleren Maßstabes geleistet wurden, die ihrerseits im allgemeinen aufwendig und nur selten rentabel sind. So haben wir beispielsweise das offenbare Paradoxon, daß eine Antriebskraft, wenn sie wirtschaftlich sein soll, in großem Maßstab arbeiten muß; denn im kleinen kann, menschliche Muskelkraft höchst ökonomisch eingesetzt werden, 149

und wird auch noch eingesetzt. Eine Großanlage erfordert jedoch große bewegliche Teile, welche in der Konstruktion — wenn sie mit hohem Wirkungsgrad arbeiten sollen — die größten Schwierigkeiten bereiten. So hatten die Zylinder der ersten Dampfmaschinen Durchmesser, die mehr als zehnmal so groß waren wie die der modernen Flugzeugmotoren, deren Leistung praktisch tausendmal so groß ist. Sie waren dementsprechend schlecht gebaut und äußerst ineffektiv, und Abweichungen bis zu einem halben Zoll in der Bohrung waren nicht ungewöhnlich. Unter solchen Bedingungen mußte der ökonomische Vorteil der Dampfmaschine überwältigend sein, ehe sie überhaupt eingeführt werden konnte. Die Anfangsstufen der Anwendung einer Neuerung können deshalb erst dann realisiert werden, wenn gewisse rentable Zwischenstufen gefunden wurden. Diese waren für die Elektroenergie das elektrolytische Galvanisieren und für die Dampfmaschinen die Bewässerungsanlagen in den Gärten der Adligen; beides waren Anlagen in kleinem Maßstab, die Luxuszwecken dienten. Teure Erfindungen und entmutigte Erfinder. Ein anderer Aspekt der ökonomischen Schwierigkeiten, die mit der Anwendung der Wissenschaft unlösbar verbunden sind, besteht darin, daß eine Anwendung im Anfangsstadium stets höchst ineffektiv ist, aber nur verbessert werden kann, wenn sie praktisch eingesetzt wird. Andererseits ist die Nachfrage zu Beginn gering und wächst mit dem Erfolg der Methode. Das Ergebnis ist, daß eine neue Idee zur falschen Zeit gebremst wird und sich zunächst sehr langsam weiterentwickelt und dann, wenn sie den kritischen Punkt der Rentabilität erreicht hat, plötzlich in eine ganz intensive Entwicklung hineingestoßen wird. 6 Vom gesamtgesellschaftlichen Standpunkt aus ist dies eine unglaubliche Vergeudung. In die frühen, d. h. die Pionierstadien einer Entwicklung fällt der größte Teil der schöpferischen Arbeit, und diese wird durch Mangel an finanziellen Mitteln nahezu erstickt, während die Zeit des Erfinders, die er für weitere Anwendungen und Erfindungen nutzen könnte, im Kampf mit unzureichender Ausrüstung und finanziellen Schwierigkeiten verschwendet wird. Das Wissen um diese Dinge schreckt alle außer den entschlossensten und fanatischsten Geistern ab. Fast jeder fähige Wissenschaftler hat mindestens einmal an praktische Anwendungen seiner Arbeit gedacht, aber sich nicht entschließen können, seine wissenschaftliche Tätigkeit aufzugeben, um sich in einen unsicheren Kampf einzulassen, den dieser Versuch bestimmt nach sich gezogen hätte. Sobald einmal eine Anwendung Erfolg hat, sorgt das Tempo, mit der die Verbesserungen nun vorangetrieben werden, für weitere Verluste, weil die früheren Vorbereitungen 6

Diese Situation wird sehr wohl erfaßt, doch wird nur wenig oder gar nichts getan, um sie zu ändern. Sir James Henderson kommentierte sie vor der British Association 1936 wie folgt: „Allgemein wird geglaubt, die Industrien würden stets nach neuen Erfindungen Ausschau halten; in der Hauptsache interessieren sie sich aber für solche, welche die Lohnkosten senken und welche im allgemeinen zu wachsender Arbeitslosigkeit führen. Tatsächlich war dies fast die einzige Art von Erfindungen, für welche nach dem Weltkrieg Nachfrage bestand. Die Industrie ist im wesentlichen eine kommerzielle Angelegenheit, und ihre Führungskräfte sind Geschäftsleute, die an ihren Dividenden interessiert sind und auf ihrem Kapital sitzen, es sei denn, sie verwenden es zur Steigerung der Produktion. Ist eine Erfindung erst einmal bis zur kommerziellen Nutzung entwickelt, so bestehen nur wenig Schwierigkeiten, Kapital für ihren industriellen Einsatz aufzubringen. Es ist viel leichter, 25000 £ oder mehr für die kommerzielle Nutzung einer Erfindung zu beschaffen als 5000 £ für Entwicklung. Dabei sind die Profite, welche die Entwicklung einer erfolgversprechenden Erfindung einbringen kann, sehr groß, und allein der Verkauf von Lizenzen ins Ausland würde den Geldgeber überreichlich entschädigen. In den Jahren vor dem ersten Weltkrieg gab es eine Anzahl reicher Leute, die sich als Förderer von Erfindungen betätigten. Seit dem Kriege sind sie jedoch selten geworden, vielleicht wegen der hohen Steuern oder auch aus anderen Gründen, und eine neue Generation von Kapitalisten ist aufgekommen, deren Aufmerksamkeit noch nicht auf diese lukrative Art der Geldanlage gelenkt worden ist, bzw. die nicht über den nötigen ökonomischen Weitblick verfügen, um deren Möglichkeiten zu erkennen.

150

nicht genügen und weil Leute mit geeigneter Ausbildung und Intelligenz nicht in ausreichender Anzahl zur Verfügung stehen, so daß die erzielten Ergebnisse im Verhältnis zum aufgewandten Geld weit hinter dem zurückbleiben, was bei einer angemessenen Behandlung der ganzen Sache hätte erreicht werden können. Konstruktive und therapeutische Anwendungen. Natürlich hängt es ganz erheblich vom Charakter einer Anwendung selbst ab, wie leicht und schnell sie industriell genutzt wird. Wir können zwischen einer positiven oder konstruktiven Anwendung der Wissenschaft und einer negativen oder therapeutischen unterscheiden. Im ersten Fall zeigt die Wissenschaft, wie neue Dinge — etwa das Flugzeug oder das Kino — hervorzubringen sind, im zweiten setzt man sie ein, um bekannte Ursachen von Schäden wie etwa die Korrosion von Metallen oder Heuschreckenplagen zu bekämpfen. Im ersten Falle beschert die Wissenschaft der Menschheit neue Gaben. Dann besteht das ökonomische Problem darin, eine hinreichende Nachfrage zu finden, um die Erfindung durch ihre Frühstadien hindurchzubringen. Hier, wo das gesellschaftliche Bedürfnis nach Anwendung am größten ist, ist es unter dem derzeitigen ökonomischen System am schwersten, sie überhaupt zu erreichen. Wo die Wissenschaft in der Industrie oder in der Landwirtschaft eher therapeutisch als konstruktiv wirkt, sind die Bedingungen nicht so schlecht. In diesem Fall muß eine bestimmte Schwierigkeit überwunden oder eine Verlustquelle ausgeschaltet werden. Ist das Bedürfnis erkannt und stehen Mittel für die erforderlichen Untersuchungen zur Verfügung, so kann das Problem oft durch Anwendung bereits bekannter wissenschaftlicher Tatsachen gelöst werden. Gerade in dieser Weise haben Wissenschaftler in der Vergangenheit der Wissenschaft in der Industrie Anerkennung verschafft, und es geschieht noch heute. Ein klassisches Beispiel ist die Entdeckung der Grubenlampe durch Davy. Hier lag ein klar formuliertes Bedürfnis nach einer Lampe vor, die keine Schlagwetterexplosion verursachte. Es bereitete Davy keine sonderlichen Schwierigkeiten, die Lösung zu finden: Er brauchte nur bekannte wissenschaftliche Prinzipien anzuwenden, obgleich Stephenson, der mit dem Bergbau vertraut war, sie ebenfalls gefunden hatte, und zwar empirisch. Die Ergebnisse waren aber ganz anders, als zu erwarten war. Crowther schreibt dazu folgendes: „Die Sicherheitslampe ermöglichte es der Kohleindustrie, rasch zu wachsen. Sie verminderte nicht die Zahl der Todesopfer des Bergbaus, weil durch seine Ausdehnung die Zahl der den Gefahren Ausgesetzten anstieg und tiefere und größere Schächte niedergebracht wurden. Davy weigerte sich, die Erfindung patentieren zu lassen, weil es ,ihr alleiniger Zweck sei, der Sache der Menschlichkeit zu dienen'. Die hauptsächliche Wirkung seiner Erfindung war die Vermehrung des Reichtums der Grubenbesitzer, mehr Menschen wurden in die Gruben gebracht und den Gefahren ausgesetzt, von denen das schlagende Wetter nur eine ist. Daher hatte Davys Lampe als Werkzeug der Wirtschaft mehr Bedeutung als für die Sicherheit."7 In vielen wichtigen Fällen sind jedoch die Dinge nicht so einfach, und hier wird gerade durch das Bestehen auf sofortigen praktischen Ergebnissen das Gegenteil erreicht. Das praktische Problem kann so beschaffen sein, daß zu seiner Lösung Kenntnisse erforderlich sind, die noch nicht zur Verfügung stehen und möglicherweise grundlegender Natur sind. Solchem Wissen nachzugehen, so wichtig dies aus der Sicht der Wissenschaft auch sein mag, scheint jedoch denjenigen, die es bezahlen, allzuweit vom unmittelbaren Untersuchungsgegenstand entfernt. Daher wird ein großer Teil — wahrscheinlich sogar der größere — aller industriellen Forschung dadurch, daß sie zu eng an ihre praktischen Aspekte geknüpft wird, insofern vergeudet, als die gewünschten Ergebnisse nicht erreicht 7

J. G. Crowther, British Scientists of the Nineteenth Century, a. a. O., S. 62/63 Große englische Forscher, a. a. O., [S. 71]. 151

werden. Auf lange Sicht ist jedoch der Verlust noch größer, da der Ansporn für die allgemeine Entwicklung der Wissenschaft entfallt, den solche Untersuchungen, würden sie in erforderlicher Weise weitergeführt, nach sich zögen. So stellen wir beispielsweise fest, daß Riesensummen ausgegeben werden, um Einzelfragen der Metallurgie zu klären, aber vergleichsweise nur lächerliche Beträge für die wissenschaftliche Erforschung der Natur des metallischen Zustandes. Würde diese energisch vorangetrieben, so ergäbe sich nicht nur eine gewaltige Einsparung an Zeit und Geld, die für Untersuchungen der erstgenannten Art aufgewandt werden, sondern auch eine Beschleunigung des Erkenntnisprozesses über die rationelle Verwendung von Metallen. 8 Sehr viele Anwendungen der Wissenschaft lassen sich sowohl den konstruktiven als auch den therapeutischen Aspekten zuordnen, je nachdem, ob man vom technischen oder vom ökonomischen Standpunkt ausgeht, so die Entwicklung von Verfahren, Materialien oder Anlagen, die eine ökonomische Funktion erfüllen und technisch völlig neuartig sind, aber im Augenblick ihres Auftretens zur Einsparung von Kosten verwendet werden. Die Dampflokomotive in ihren Frühstadien, als sie gerade das Pferdegespann abgelöst hatte, ist ein typisches Beispiel, und die Verwendung des Quecksilberdampfgleichrichters ein anderes. Das Haupthindernis, das sich Anwendungen solcher Art in den Weg stellt, ist die Schwierigkeit, in einem anarchischen Produktionssystem die wissenschaftlichen Möglichkeiten und die technischen Bedürfnisse unter einen Hut zu bringen. Wahrscheinlich liegen aber gerade hier die größten unmittelbaren Möglichkeiten für den industriellen Fortschritt. Wie sie freigesetzt werden könnten, soll in einem späteren Kapitel diskutiert werden.

Die industrielle Konkurrenz und die Forschung Mehrere weitere Faktoren führen im Verein mit den bereits erwähnten dazu, daß die reibungslose Anwendung der Ergebnisse wissenschaftlicher Entdeckungen beeinträchtigt wird. Im vorigen Jahrhundert — und zum großen Teil noch heute — wird die industrielle und noch stärker die landwirtschaftliche Produktion in sehr vielen kleinen und praktisch unabhängigen Einheiten betrieben. Wenn aber wissenschaftliche Forschung überhaupt einen Wert für die Anwendung erbringen soll, muß stets ein gewisses Minimum an Zeit und Geld aufgewandt werden. Als M a ß für dieses Minimum können wir etwa die Ausgaben für einen Wissenschaftler sowie seine Geräte und Hilfskräfte für einen Zeitraum von ungefähr fünf Jahren nehmen; hinzu kommt noch ein gewisser Betrag für die Ausrüstung des Labors und die laufenden Kosten. Insgesamt wird die Gesamtsumme kaum unter 4000 Pfund Sterling liegen. Die Einsparungen, die durch die Aufgabe dieser 4000 £ bewirkt werden können, wenn die Forschung zum Erfolg führt, können durchaus in der Größenordnung von 40000 £ pro Jahr liegen. Es kann aber vorkommen, daß die Forschung keinen Erfolg hat oder daß die neuerliche Ausgabe einer ähnlichen Summe für weitere fünf Jahre notwendig wird, ehe es soweit ist. Wird dieses Geld nicht bereitgestellt, so können die ersten 4000 £ unwiderruflich verloren sein. Gegen einen eventuellen Mißerfolg gibt es keine Versicherung; die Wahrscheinlichkeit eines solchen wird verringert, wenn mehr Forschung betrieben, also mehr Geld aufgewendet wird, und das kann natürlich die Möglichkeiten eines kleinen Unternehmens übersteigen. Nach der klassischen ökonomischen 8

Vgl. W. L. Braggs Vorlesungen Some Scientific Problems of Industry [Einige wissenschaftliche Probleme der Industrie], die im März und April 1938 in der Royal Institution gehalten wurden.

152

Theorie müssen die einzelnen Unternehmer diese Risiken übernehmen, und nur den Glücklichen darunter wird eine angemessene Belohnung zuteil. Tatsächlich schreckt jedoch das Risiko erfolgloser Forschung die überwiegende Mehrheit der kleinen Unternehmen ab, überhaupt Forschung zu betreiben. Die Konjunkturschwankungen verschlimmern dies. Forschung ist, wie wir bereits gesehen haben, ein Wagnis auf lange Sicht (s. S. 85). Ein kleines Unternehmen kann aber seine Forschung nicht durch die Talsohle einer Depression hindurch aufrechterhalten. Auch lassen sich die Ausgaben für Forschung am leichtesten streichen. In Zeiten der Konjunktur dagegen sind die kleinen Firmen viel zu sehr damit beschäftigt, die Ernte einzubringen, solange das Wetter schön ist, als daß sie sich den Kopf über Forschung zerbrechen. Ein weiterer Punkt ist, daß selbst dann, wenn eine Untersuchung erfolgreich abgeschlossen wird und zu einer deutlichen Kostensenkung führt, sich die Ergebnisse nur dann für die Firma, die die Untersuchungen durchgeführt hat, in Form höherer Profite niederschlagen, wenn sie geheimgehalten werden können und nicht hinreichend viele andere Firmen ähnliche Untersuchungen erfolgreich zu Ende führen und damit den Preis des betreffenden Produktes drücken. Selbst wenn ein Patent angemeldet wird, können die Einnahmen daraus, von den Risiken eventueller Prozesse ganz abgesehen, unter dem bleiben, was als angemessener Ertrag der ursprünglichen Auslagen erwartet wurde. All dies wirkt in der Richtung, Unternehmen abzuschrecken, überhaupt Forschung zu treiben und, wenn sie schon forschen, dies im geheimen — also ineffektiv — zu tun. In der Landwirtschaft ist die Lage noch ärger. Hier muß Forschung, falls sie überhaupt zu Buche schlagen soll, in sehr großem und kostspieligem Umfang unternommen werden, und die Risiken sind erheblich größer. Folglich gibt es praktisch keine Landwirte, die sich je mit Forschung befaßt haben, von gelegentlichen Ausnahmen unter den wohlhabenden Grundbesitzern abgesehen. Um diese dem Kleinbetrieb notwendigerweise anhaftenden Übel zu beheben, wurden von der Regierung die Research Associations und die landwirtschaftlichen Versuchsstationen eingerichtet. Wie schon gesagt, erfassen sie jedoch nur etwa die Hälfte der Betriebe, und zwar die fortgeschrittensten, so daß sie nur einer Minderheit von Unternehmen zugute kommen können. Angesichts der enormen Vorteile, welche die Wissenschaft der Industrie zu bieten vermag, ist klar, daß das System des freien Wettbewerbs unter den gegenwärtigen Bedingungen den technischen Fortschritt ganz nachhaltig behindert. 9

Monopol und Forschung Es ist jedoch nicht die Industrie der freien Konkurrenz, sondern die monopolistische, die heute die wichtigsten Anwendungen der Wissenschaft beherrscht. Monopole, ob es sich um ein einzelnes Unternehmen handelt oder um ein aus mehreren Firmen bestehendes 9

Die Schwierigkeiten kleiner Firmen, die keine Möglichkeiten für gemeinsame Forschung haben, werden in dem Bericht Technological Trends der amerikanischen Regierung genannt: „Während der Depression gab es eine Entwicklung, die allgemein bekannt wurde als Produktion von Hochspannungsanlagen durch kleine Fabrikanten. . . . Die kleinen Fabrikanten sind stark benachteiligt, weil ihnen keine eigenen Prüfmöglichkeiten für Starkstromanlagen zur Verfügung stehen, da diese außerhalb ihrer finanziellen Möglichkeiten liegen. Diejenigen, die für die Wartung von Hochspannungsanlagen verantwortlich sind, möchten natürlich, daß sämtliche Teile vor ihrer Verwendung einer strengen Prüfung unterzogen werden, doch haben die Kleinproduzenten nicht die Mittel, kostspielige Prüfstände einzurichten, so daß sie mit starken Benachteiligungen fertig werden müssen." (S. 279/280.)

153

Kartell mit Preis- und Lizenzabsprachen, haben stets die Möglichkeit, große Summen für Forschung auszugeben. Tatsächlich entfallen zur Zeit in Großbritannien etwa vier Fünftel der industriellen Forschung — außerhalb der vom Staate selbst betriebenen — auf höchstens zehn Großfirmen. In Deutschland ist diese Entwicklung noch weiter vorangeschritten, und die Forschungslaboratorien der großen Industrievereinigungen, etwa der IG-Farben, sind zu bedeutenderen Forschungszentren geworden als die Einrichtungen des Staates und der Universitäten. Das Monopol beseitigt viele der ökonomischen Hindernisse, die die Forschung in kleinen Unternehmen erschweren. Offenbar kommt hier die Gesamtheit der positiven Ergebnisse der Forschung dem Unternehmen zugute, und die Vielzahl der Arbeiten gewährleistet, daß selbst unter der Voraussetzung, daß viele Einzeluntersuchungen nicht zu ökonomischen Ergebnissen führen, diese Verluste durch die Gewinne der übrigen aufgewogen werden. Schon die Größe der Industrielaboratorien läßt ihre Effektivität dadurch steigen, daß sie Zusammenarbeit in der Forschung ermöglicht. Das kleine Einmann- oder Zweimannlaboratorium ist vermutlich die ineffektivste Weise, Geld für Forschung auszugeben. Andererseits heißt das nicht, daß mit der Größe eines Laboratoriums die Effektivität der dort geleisteten Arbeit wächst. Je nach der Art des Themas und der Mannigfaltigkeit der verschiedenen Methoden, die bei einem bestimmten Forschungsvorhaben kombiniert werden müssen, gibt es wahrscheinlich für jede mit Anwendungen der Wissenschaft befaßte Institution eine optimale Größe, die in Industrielaboratorien, besonders auf dem Kontinent, zuweilen überschritten wird. In der Sowjetunion gab es zunächst die Tendenz, solche großen Forschungsinstitute einzurichten, doch stellte man schon nach wenigen Jahren fest, daß die damit zusammenhängenden administrativen Schwierigkeiten zu groß wurden und die Gefahr bestand, daß die Aufgaben der wissenschaftlichen Kooperation zuviel Zeit von der eigentlichen Forschung wegnahmen, so daß man heute zu kleineren Forschungseinheiten mit 5 bis 20 Mitarbeitern zurückkehrt. Fehlender Anreiz. Einige der Schwierigkeiten, denen die industrielle Forschung unter Monopolbedingungen gegenübersteht, wurden bereits diskutiert, besonders die Tendenz, die Forschungsabteilung in ähnlicher Weise wie die anderen Abteilungen des Betriebes zu behandeln und ihre Effektivität durch bürokratische Methoden zu drosseln. Diese Mängel sind nur ein Symptom einer tieferliegenden Schwierigkeit. Unter Konkurrenzbedingungen sind Untersuchungen zur Anwendung der Wissenschaft mit schwerwiegenden Risiken verbunden, doch besteht auch ein sehr großer Anreiz für solche Forschungen; sind sie nämlich erfolgreich und werden sie hinreichend geheimgehalten, so liefern sie einen Vorteil im Konkurrenzkampf, der über Erfolg oder Untergang entscheiden kann. Unter Monopolbedingungen dagegen sind die Risiken der Forschung praktisch ausgeschaltet, großenteils aber auch der Anreiz. 10 Wissenschaftliche Forschung wird hier zu einem von vielen Mitteln, die Profite zu steigern, aber nicht unbedingt zum wichtigsten. Natürlich kann die Anwendung der Wissenschaft Betriebskosten senken, doch vermögen dies auch Rationalisierungsmaßnahmen und Beschleunigung des Arbeitstempos zu leisten. Das 10

Das Versagen der Forschungslaboratorien von Großunternehmen, einen adäquaten Beitrag zum technischen Fortschritt zu leisten, wird in Technological Trends folgendermaßen kommentiert: „Es wird oft gesagt, die Einrichtung von Forschungslaboratorien und Research Associations durch Großunternehmen und Kartelle widerlege den Vorwurf, die Großindustrie sei unbeweglich. Diese relativ wenigen Forschungseinrichtungen geben aber den Unternehmen eine größere Verfügungsgewalt über alle Neuerungen, die den Markt stören könnten. Nach Grosvenor waren von den 75 wichtigsten Erfindungen, die zwischen 1889 und 1929 gemacht wurden, nur ganze 12 das Ergebnis der in Großunternehmen betriebenen Forschung." (S. 63/64.)

154

Hauptproblem unter Monopolbedingungen besteht weniger darin, die Herstellungsmethoden zu verbessern, als Märkte bei hohen Preisen zu sichern. Infolgedessen übersteigen die Werbekosten die Forschungskosten um ein Vielfaches. Detaillierte Angaben lassen sich nur schwer beschaffen, aber man weiß, daß Inserate jährlich 35 Millionen Pfund Sterling verschlingen, und die Werbung durch Postwurfsendungen und Plakate dürfte kaum weniger kosten. Allein die Zeitungsinserate für die Wundermittelchen, die in den meisten Fällen ein grausamer Betrug an den Leuten sind, denen die Wissenschaft vorenthalten wird, erfordern etwa 2,8 Million Pfund Sterling, und das ist mehr, als Staat und Industrie zusammen für wissenschaftliche Forschung ausgeben (vgl. S. 171). Bas Veralten. Eine weitere Schwierigkeit, die der Anwendung der Wissenschaft unter Monopolbedingungen entgegensteht, ist die Größe der Anlagen und die damit verbundene Gefahr großer Kapitalverluste durch Veralten. Eine Wirkung, die wissenschaftliche Forschung zwangsläufig hat, besonders in Industriezweigen, die traditionell betrieben werden, ist die ungeheuere und immer rascher zunehmende Vergrößerung der Effektivität. Das bedeutet aber, daß Anlagen, die auf einer bestimmten Entwicklungsstufe der Produktion installiert wurden, mit ziemlicher Sicherheit innerhalb weniger Jahre veraltet sind, manchmal sogar, bevor sie in Betrieb genommen werden. Das wird als ein sehr reales Übel angesehen. Lord Stamp schreibt dazu: „Die zweite Art von Gleichgewicht, die für den ökonomischen Fortschritt lebensnotwendig ist und durch überschnelle Neuerungen gestört werden kann, ist das Gleichgewicht zwischen Veralten und Abschreibung. Um wirksam werden zu können, muß der gesamte auf die ökonomische Weiterentwicklung ausgerichtete naturwissenschaftliche Fortschritt sich in Kapitalanlagen verkörpern, die immer komplizierter, größer und kostspieliger werden. Die Produktivität solcher Maschinen und Anlagen wird immer größer, und selbst wenn man die Leute mitzählt, welche diese Maschinen herstellen und die Verfahren entwickeln, wird der gesamte Bedarf durch immer weniger menschlichen Arbeitsaufwand gedeckt. Nun pflegt man zu sagen, der britische Maschinenpark sei für die Ewigkeit gebaut und würde noch funktionieren, wenn er schon lange veraltet ist, während die amerikanischen Maschinen so gemacht seien, daß sie viel früher verschlissen sind; daher wären sie billiger und könnten sofort durch Anlagen ersetzt werden, welche dem neuesten Stand entsprechen. Wenn man erreichen kann, daß der Zeitpunkt des physischen mit dem des moralischen Verschleißes zusammenfallt, hat man die beste Ökonomie und die größte Sicherheit für das Kapital. Wenn die kostspielige Vergegenständlichung der neuesten Wissenschaft schon veraltet sein und ersetzt werden kann, ehe sie physisch verschlissen ist, dann liegt Vergeudung von Kapital und Verlust von Zinsen vor, und daraus ergibt sich Unsicherheit in der Geschäfts- und Investitionstätigkeit. Allein der Faktor der physischen Sicherheit erfordert, daß jede Vergegenständlichung wirklich dauerhaft sein muß, selbst wenn sie nicht auf Hochglanz poliert ist. Daher ist es unmöglich, die physische Lebensdauer gänzlich auf die vermutliche moralische Lebensdauer zu reduzieren. So können allzu rasch aufeinanderfolgende Neuerungen bedeuten, daß zahlreiche ausgezeichnet funktionierende Kapitalanlagen im Hinblick auf einen relativ kleinen zusätzlichen Gewinn als unrentabel angesehen und verschrottet werden. Eine verantwortungsbewußte sozialistische Gemeinschaft würde jedes Mal dafür sorgen, daß sich der Gewinn lohnt, aber miteinander konkurrierende Individuen beginnen gerade erst ein kollektives Verantwortungsgefühl zu entwickeln. Nehmen wir einmal an, die Queen Mary* könne nur für zwei Jahre eine

* Luxuspassagierschiff (77482 BRT) der Cunard-Linie — 1936 in Dienst gestellt — war eins der am Wettbewerb um das „Blaue Band" für die schnellste Atlantiküberquerung beteiligten 77 Schiffe.

155

Gewinn sichernde Anzahl von Passagieren anziehen, bis eine glückliche Erfindung in einem neuen mit ihr konkurrierenden Schiff ihr durch einen etwas niedrigeren Fahrpreis alle Passagiere abspenstig macht. Das ist Fortschritt in einem einzigen typischen Sinne; aber der geringfügige Vorteil, den sich die Individuen als unabhängige Konsumenten zu sichern vermögen, kann sie durch riesige Umverteilungen von Kapital oder durch Kapitalverluste, die auf eben diese Individuen als Produzenten zurückschlagen, teuer zu stehen kommen. Ist jedoch die Neuerung sehr umwälzend und wirkt sie sich sofort auf die Produktionskosten aus, so kann die Spanne zwischen den alten und den neuen Betriebskosten groß genug sein, um die Zinsen für das neu eingesetzte Kapital abzuwerfen und obendrein den nicht abgeschriebenen Restwert des ersetzten Anlagekapitals abzudecken. Eine Lokomotive kann noch eine stattliche Anzahl von Dienstjahren vor sich haben, aber ein neues Modell kann die Betriebskosten um eine Spanne senken, die nicht nur ausreicht, das neue Modell unter normalen Erneuerungsbedingungen anzuschaffen, sondern darüber hinaus die Kosten aufzufangen, die durch die vorzeitige Verschrottung des veralteten Typs entstehen. Für den überwiegenden Teil der modernen Neuerungen gilt allerdings, daß die Kosten des Veraltens nicht gedeckt werden und daß eine reguläre und natürliche physische Erneuerung durch Ersatz nicht dabei herausspringt. Ähnliche Überlegungen gelten auch für den Aufwand an Kapital für Anlagen aller Art in einem Bezirk, der zwar durch die gesamte Wirtschaft dieses Gebietes amortisiert werden könnte, etwa in einem Bergbaugebiet, der aber zur Fehlinvestition wird, wenn durch die Einführung einer Neuerung in konkurrierende Unternehmen an einem anderen Ort investiert werden kann. Ein Beispiel bietet die Auswirkung, welche die Entdeckung für Lancashire hatte, daß die vielgerühmte natürliche Luftfeuchtigkeit, die dort für das Spinnen und Weben so vorteilhaft war, überall künstlich erzeugt werden konnte, und zwar mit einem höheren Grad an Gleichmäßigkeit. Die Geschwindigkeit, mit der sich neue Methoden durchsetzen und sich auf die Beschäftigungslage auswirken, kann von der Größe und der Beschaffenheit der jeweiligen Wirtschaftseinheit abhängen. Wären sämtliche Produktionsbetriebe, die den gleichen Markt beliefern, in einer Hand oder durch Übereinkünfte koordiniert, so würde die Geschwindigkeit, mit der eine neue arbeitssparende Maschine eingeführt wird, nach der schon erwähnten Erwägung geregelt. Sie könnte mit jedem Erneuerungsprogramm an die Stelle einer veralteten Einheit treten, so daß es keine Kapitalvergeudung durch vorzeitiges Veralten gäbe. Das gilt aber nur, wenn die Vorteile klein sind. Sind die Vorzüge groß, so wird die Differenz der Betriebskosten nach dem alten und dem neuen Verfahren bei einer bestimmten Produktion so beträchtlich sein, daß sie sämtliche oben angeführte Kosten deckt. In keinem der beiden Fälle wird Kapital vergeudet, und die neue Idee wird zur rechten Zeit wirksam. Wieder kann bei einem marktbeherrschenden Unternehmen das Veralten aus den laufenden Kosten bezahlt werden. Owen Young sagte kürzlich: ,Grob gesprochen, gab es während der letzten fünfzig Jahre keinen Zeitpunkt, zu dem nicht alles, was von der General Electric Company produziert wurde, zumindest in einem gewissen Grade schon veraltet war, als es in Dienst gestellt wurde.' 11 Es liegt auf der Hand, daß sich dieser Prozeß im Rahmen einer Produktionseinheit als allgemeiner Bestandteil der laufenden Kosten widerspiegeln kann und man deshalb nicht anzunehmen braucht, die

11

Vor der Versammlung der General Electric Company anläßlich ihres fünfzigjährigen Bestehens in Schenectady.

156

Company hätte in diesen fünfzig Jahren irgendwann einmal keine Profite erzielt und keine Dividenden ausgeschüttet — weil sie das Geld zum Ausgleich des Veraltens benötigte." 12 Dieses Zitat zeigt deutlich, wie sich für den Einzelproduzenten, wenn auch nicht unbedingt für den Verbraucher, die Gefahren des Veraltens durch ungezügelte Konkurrenz beträchtlich erhöhen. Ein neues Verfahren kann schnell übernommen werden, und damit werden alle, die das alte beibehalten, gezwungen, ihre Anlagen zu verschrotten. Daß die anarchische Ökonomie in der Richtung wirkt, daß der technische Fortschritt aufgehalten und jeder Fortschritt möglichst verlustreich gemacht wird, geht aus der ganzen Argumentation hervor. Der Vorteil der Beherrschung durch Monopole besteht darin, daß sie vom Prinzip her nicht gezwungen sind, ihre Anlagen zu ersetzen, bevor sie physisch verschlissen sind oder bevor das Geschäft sich so weit vergrößert hat, daß auf die neuen Anlagen umgestiegen und die Produktion mit den alten Anlagen eingestellt werden kann. Das Monopol hat, da es den Mechanismus des Veraltens und Erneuerns beherrscht, die Tendenz, den Fortschritt wirksamer zu verzögern als der Wettbewerb. Die Methoden der Massenproduktion verstärken diese konservative Haltung. Es ist schon schwer genug, bei in Serienproduktion hergestellten Artikeln konstruktive Details zu ändern; noch viel schwieriger ist es, wenn für die beabsichtigte Änderung die Anlagen völlig neu eingerichtet werden müssen. Ein großes Monopolunternehmen in Großbritannien pflegt von seinen neuen Anlagen jährlich fünfzig Prozent abzuschreiben. Das bedeutet, daß eine neue Anlage nur dann aufgestellt wird, wenn Aussicht besteht, sie aus den Profiten zweier Jahre bezahlen zu können. Bleibt sie länger in Betrieb, so ist alles, was sie produziert, reiner Profit. Daraus läßt sich unschwer erkennen, wie gewaltig die Rentabilität der angewandten Wissenschaft ist und wie schwerwiegend die Restruktionen sind, denen sie unter der Herrschaft der Monopole ausgesetzt ist. 13

12 13

J. Stamp, The Science of Social Adjustment, a. a. O., S. 34—37. Wie ernst das Problem des Veraltens in den USA ist, geht aus Schätzungen hervor, die in dem Bericht Technological Trends angeführt sind. Dort heißt es: „Im Jahre 1934 wurde im Auftrage der Wirtschaftszeitschrift Power eine Untersuchung von 454 besser als durchschnittlichen industriellen Antriebsaggregaten durchgeführt, die etwa 10 Prozent der industriellen Antriebskapazität ausmachen. 62 Prozent der Anlagen waren älter als 10 Jahre und etwa 25 Prozent älter als 20 Jahre. Einige der älteren Anlagen waren vermutlich Reserven für Notfälle, doch wurden die meisten als derart veraltet angesehen, daß man, würde man sie durch modernste Typen ersetzen, im Durchschnitt von jedem Dollar, der mit den alten Anlagen ausgegeben wird, 50 Cent zur Gewinnung industrieller Antriebskraft sparen könnte. Im Jahre 1935 wurde im Auftrage des American Machinist untersucht, wie weit die Metallbearbeitungsmaschinen veraltet sind. Man kam zu dem Schluß, eine solche Ausrüstung sei in der Regel innerhalb von zehn Jahren nach Herstellung veraltet, weil der Maschinenbau so schnell zu Verbesserungen kommt. Eine Bestandsaufnahme zeigte, daß in den USA 65 Prozent aller Metallbearbeitungsmaschinen älter als zehn Jahre, also vermutlich veraltet sind. Die Berichte der Interstate Commerce Commission weisen aus, daß 61 Prozent der derzeitigen Dampflokomotiven in den USA vor mehr als zwanzig Jahren gebaut worden sind. Diese Zahlen lassen Rückschlüsse .zu, in welchem Ausmaß die Kapitalanlagen veraltet sind. Weiteres Licht auf den Umfang dieses Veraltens werfen die Schätzungen des potentiellen Maschinenbedarfs der Industrie, die 1935 vom Machinery and Allied Product Institute erarbeitet wurden. Dieses Institut hat seine umfassende Erhebung durchgeführt und in Stichproben den Bedarf verschiedener Industrien erfaßt, die etwa 85 Prozent der Industrie insgesamt ausmachen. Auf Grund dieser Erhebung wurde geschätzt, daß sich der potentielle Bedarf der genannten Industrie an Maschinen auf mehr als 18 Milliarden Dollar beläuft. Von diesem Betrag entfallen 10 Milliarden auf Neuausrüstungen für den Ersatz größtenteils veralteter Anlagen. Derartige Erhebungen über den Stand der Überalterung weisen klar aus, in welchem U m f a n g Anlagen veraltet sind. Dagegen wurden die sozialen Auswirkungen des Veraltens von Anlagen bisher nur sehr wenig untersucht, so daß noch ganze Fragenkomplexe beantwortet werden müssen. Wenn Ausrüstungen veralten und deshalb an Wert verlieren, wer erleidet dann diesen Verlust? Bedeutet Veralten auch

157

Drosselung der Forschung Die unmittelbare Reaktion auf die Gefahren, die das Veralten mit sich bringt, war nicht das Bestreben, das Ausmaß der Anwendung der Wissenschaft in der Industrie zu erweitern und ihre Methoden zu rationalisieren, sondern die Entwicklung der Wissenschaft aufzuhalten, um die mit dem Veralten verbundenen lästigen Schwierigkeiten gar nicht erst aufkommen zu lassen. Das geschieht auf zweierlei Weise: Bereits gemachte Erfindungen werden unterdrückt, und neue Erfindungen werden durch Einschränkung der Forschung abgewürgt. Natürlich ist es außerordentlich schwierig, konkrete Beispiele für die erstgenannte Praxis anzuführen, doch wird seit langem darüber gesprochen, und in jüngster Zeit von höchst autorisierten Stellen. So sagte Sir Alexander Gibb 1937 in seiner Ansprache als Präsident der Engineering Section [Sektion Technik] der British Association in Nottingham: „Natürlich gilt hier, wie stets in der Forschung, je größer der Erfolg in der Forschung, desto unmittelbarer und drastischer ist die Auswirkung auf bestehende Anlagen und Ausrüstungen. Hier liegt manchmal der Pferdefuß. Millionen stecken zwangsläufig in Anlagen, die auf Grund der Entwicklung neuer Verfahren binnen ein oder zwei Jahren veraltet sein können. Das Veralten geht heute derart rasch von statten, daß es nichts Ungewöhnliches ist, wenn eine neue Fabrik innerhalb von vier Jahren abgeschrieben wird, und viele wertvolle Erfindungen wurden von den etablierten Firmen aufgekauft und unterdrückt, um den höheren Verlust, den ihre Nutzung für die in Betrieb befindlichen Anlagen bedeuten würde, abzuwenden. Es überrascht daher nicht, daß ungezügelte Forschung nicht immer Begeisterung weckt und bereitwillig gepriesen wird. Das ist jedoch eine kurzsichtige Politik." 1 4 In Nature wird eine öffentliche Untersuchung dieser Frage vorgeschlagen, doch darf bezweifelt werden, ob sie mehr an positiven Ergebnissen liefern würde als die Royal Commission on the Private Manufacture of Armaments, und zwar aus sehr ähnlichen Gründen. 1 5 In den Vereinigten Staaten sind die Leute etwas offener. So lesen wir in dem Regierungsbericht Technological Trends and National Policy: „Die Konkurrenz zwischen Unternehmern führte zwar zu anarchischer und Vergeudung mit sich bringender Produktion und

14 15

Kosten für die Gesellschaft oder nur für das Unternehmen? Sind veraltete Anlagen eine Ursache für mangelnde industrielle Anpassung? Verhindert das Vorhandensein zahlreicher veralteter Anlagen die Nutzung besserer Fertigungsverfahren? Kann das Risiko des Veraltens von Allagen reduziert werden, ohne daß der Einsatz besserer Verfahren beeinträchtigt wird? Sollten die Verluste, die durch veraltete Anlagen entstehen, auf die gesamte Industrie verteilt werden? Bisher weiß man derart wenig über die tatsächlichen Auswirkungen des Veraltens von Anlagen auf die Wirtschaft, daß diese Fragen vorerst nicht beantwortet werden können. Es sind jedoch Fragen, die sich uns infolge der raschen Verbesserung der Technik aufdrängen und deshalb sorgfältigste Untersuchung verdienen. Das Verhalten von Anlagen und alles, was damit zusammenhängt, muß umfassend erforscht werden, um die vollen sozialen Auswirkungen der gegenwärtigen Tendenzen zur Verbesserung der Technik richtig einschätzen und den Problemen, welche die Verbesserung der Technik aufwirft, entgegentreten zu können." (S. 12/13.) Report of the British Association for the Advancement of Science, September 1937, S. 158/159. Nach der Wiedergabe der obigen Ausführungen von Sir A. Gibb heißt es dort, daß „je größer der Erfolg der Forschung ist, desto drastischer ihre Auswirkungen auf die bestehenden Anlagen und Ausrüstungen sind. Er sagte: .Millionen liegen zwangsläufig in Anlagen fest, die auf Grund der Entwicklung neuer Verfahren binnen ein oder zwei Jahren veraltet sein können', und er erklärte, daß viele wertvolle Erfindungen im Interesse des angelegten Kapitals aufgekauft bzw. unterdrückt werden, um die größeren Verluste abzuwenden, die ihre Nutzung den bereits in Betrieb befindlichen Anlagen bringen würde. Diese Behauptung ist so oft zu hören, daß man sich nur schwer vorstellen kann, sie enthalte nicht eine gute Portion Wahrheit. Der Mangel an Angaben über konkrete Einzelfälle des Aufkaufs bzw. der Unterdrückung von Patenten ist ein schwerwiegender Nachteil, wenn man die Verluste bestimmen will, die der Nation durch solche Praktiken entstehen bzw. entstehen können." (Research and Industry, in: Nature, Bd. 140, 1937, S. 438.)

158

ebensolchem Angebot, förderte aber bis zu einem gewissen Grade das Eingehen auf technische Neuerungen, um der Konkurrenz den Rang abzulaufen. Sobald aber ein Monopol in der Lage ist, im Rahmen des Profitsystems Preise zu diktieren, Produkte zu standardisieren und die Produktion zu drosseln, vermindert sich das Interesse am technischen Fortschritt, werden Erfindungen und ihre Anwendung gebremst. William M. Grosvenor bringt in Chemical Markets [Chemische Märkte] die Haltung einer modernen Unternehmensleitung zur Anwendung neuer Erfindungen zum Ausdruck: ,Ich habe sogar feststellen müssen, daß Entwicklungsrichtungen, die dem öffentlichen Wohle am meisten versprechen, völlig vernachlässigt oder gar unterdrückt wurden, nur weil man befürchtete, sie könnten die Industrie revolutionieren. Wir haben kein Recht, von einem Unternehmen zu erwarten, daß es sich aus reiner Wohltätigkeit die Kehle durchschneidet . . . Warum sollte ein Unternehmen seinen Gewinn ausgeben und damit seine Aktionäre ihrer Dividenden berauben, nur um etwas weiterzuentwickeln, das den eigenen Markt durcheinanderbringt und seine derzeitige Ausrüstung in Schrott verwandelt? . . . solange die Entwicklung von gebildeten und erfahrenen Leuten gelenkt wird, die den Aktionären für die Ausgaben verantwortlich sind, haben sie wenig Veranlassung, etwas ersetzen zu wollen, für dessen Weiterentwicklung und Verbesserung sie bezahlt werden . . .' Welche Auswirkungen auf technische Neuerungen die übertriebene Zurückhaltung von Monopolunternehmen hat, die teils ihrer Angst entspringt, ihre großen Investitionen, speziell in langlebigen Anlagen, zu gefährden, teils ihrem sehr schwerfalligen Management, wurde im Jahre 1912 von Louis D. Brandeis vor dem Oldfield Hearing on Patents geschildert: ,Diese großen Organisationen sind von ihrer Struktur her fortschrittsfeindlich. Sie werden sich niemals auf das große Wagnis einlassen. Man nehme die Gasgesellschaften dieses Landes: Sie wollen nichts mit dem elektrischen Licht zu tun haben; man nehme die Telegraphengesellschaft, die Western Union Telegraph Company. Sie will mit dem Telephon nichts zu tun haben, und weder die Telephongesellschaft noch die Telegraphengesellschaft will mit drahtloser Telegraphie etwas zu tun haben. Nun hätte man annehmen können, bei jedem dieser Beispiele hätten die Konzerne, besäßen sie die übliche fortschrittliche Gesinnung der Amerikaner, sofort gesagt: Wir sollten das aufgreifen und weiterentwickeln! Aber sie lehnten es ab, und in jedem einzelnen der hier genannten Fälle mußte gänzlich neues Kapital auf den Plan treten, damit diese großen und revolutionierenden Erfindungen verwertet wurden.'" 16 Was die tatsächliche Unterdrückung von Erfindungen betrifft, so haben wir das Zeugnis der Federal Communications Commission [Bundesauschuß für Nachrichtenwesen]: „Im Jahre 1937 erklärte die Federal Communications Commission, die Firma Bell Telephone System habe mehr als 3400 Patente gekauft und unterdrückt, um der Konkurrenz zuvorzukommen. Darunter waren 1307 Patente, die, wie man sagte, ,von der amerikanischen Gesellschaft und ihren Tochtergesellschaften, in deren Händen sich die Rechte befanden, aus Konkurrenzgründen ungenutzt im Panzerschrank lagen'. Als Antwort auf die Erklärung der Gesellschaft, die übrigen 2126 würden nicht genutzt, weil .bessere Lösungen zur Verfügung stünden', führt der Ausschuß folgendes an: ,Das ist eine Art der »Aufbewahrung« bzw. Unterdrückung von Patenten, die einem zusätzlichen Patentschutz entspringt, den man sich zur Ausschaltung des Wettbewerbs sichert. Die Bell System hat seit jeher mit Hilfe von Patenten den Wettbewerb in der Kabeltelephon- und Telegraphentechnik unterdrückt. Sie hat sich stets geweigert, ihren Konkurrenten auf dem Gebiet des Telephon- und Telegraphenwesens für ihre einschlägigen Patente Lizenzen zu erteilen, und diese Weigerung erstreckt sich auch auf Patente sämtlicher Typen von Bauteilen. Überdies 16

Technological Trends, S. 62/63.

159

erwarb die Bell System zusätzlich . . . alle Patente, die für ihre Konkurrenten irgendwie von Nutzen hätten sein können. Diese Politik führte dazu, daß zahlreiche Patente über alternative Vorrichtungen und Methoden erworben wurden, für welche die Bell System keine Verwendung hatte . . . Klauseln, die auf die Unterdrückung bestimmter Entwicklungen abzielen, sind auch in die Patentlizenzverträge zwischen der Western Electric Company und unabhängigen Produktionsfirmen eingebaut.'" 1 7 Die zweite Praxis, die Einschränkung der Forschung, läßt sich schon von der Natur der Sache her unmöglich direkt nachweisen, da keine Firma verpflichtet ist, Geld für Forschungszwecke auszugeben; es kann aber keinen ernsthaften Zweifel geben, daß dies ein Faktor ist, der den Fortschritt der angewandten Wissenschaft mit am stärksten beeinträchtigt. Das gilt insbesondere für Untersuchungen, die zu Eingriffen in Produktionsmethoden führen, in denen große Kapitalmengen stecken. Ein bemerkenswertes Beispiel ist das relativ langsame Tempo, mit dem die elektrische Leuchtstoffröhre entwickelt wurde. 1 8 Jeder wirklich effektive allgemeine Gebrauch dieser Beleuchtungsmethode hätte zwar die zur Erzielung des gleichen Beleuchtungseffekts notwendige Menge an Elektroenergie auf ein Drittel bis ein Viertel gesenkt, zugleich aber auch das in den Anlagen zur Herstellung der üblichen Glühlampen investierte Kapital erheblich entwertet. Nur als eine große neue Nachfrage nach billiger Beleuchtung auftauchte, wie etwa durch die Einführung moderner Straßenbeleuchtung oder das Anstrahlen von Gebäuden, wurde das Problem der elektrischen Leuchtstoffröhre ernsthaft aufgegriffen. Mit relativ geringem Forschungsaufwand hätte sich der heutige Stand bereits vor zwanzig oder dreißig Jahren erreichen lassen, und wir wären heute entsprechend weiter. Ein anderes Beispiel ist die Tatsache, daß bis vor kurzem die Forschung über Aluminium und andere Leichtmetalle nicht vorangetrieben wurde. Die Gewinnung dieser Metalle liegt in den Händen von unbeweglichen Monopolen, die an hohen Preisen und relativ geringem Ausstoß interessiert sind. 19 Zu diesem Preis kann Aluminium auf vielen Gebieten, etwa im Automobilbau, wo seine Verwendung weit sinnvoller wäre, nicht erfolgreich mit Stahl konkurrieren. Da Forschung mit dem Ziel, den Aluminiumpreis drastisch zu senken, wahrscheinlich dazu führen würde, daß es aus billigen Ausgangsstoffen wie etwa Ton hergestellt werden könnte, und zwar ohne die gewaltigen Mengen an Elektro17 18

19

Ebenda, S. 50. Der erste Hinweis auf die Leuchtstoffröhre stammt aus dem Jahre 1744; vgl. J. G. Crowther, Famous American Men of Science, New York 1937, S. 67. „Im Jahre 1937 beklagte das Büro des United States Attorney General [des Generalstaatsanwalts der USA]: , Kraft ihres hundertprozentigen Monopols in der Gewinnung und in dem Verkauf von Tonerde und Rohaluminium in den Vereinigten Staaten hat die Aluminium Co. eine beherrschende Monopolstellung in der Gewinnung und dem Verkauf von Tonerde, Aluminium, Aluminiumblechen, legiertem Blech und Halbzeugen erlangt und verteidigt sie; dies gilt dann auch für Produkte, die daraus hergestellt und innerhalb der USA und im Außenhandel verkauft werden. Dadurch besitzt sie die Macht, willkürliche, diskriminierende und unredliche Preise festzusetzen, ihre Monopolherrschaft auszudehnen und zu verewigen und alle anderen, die außerhalb dieses Monopols mit der Aluminium Co. in der Produktion und dem Verkauf von Bauxit, Tonerde, Rohaluminium sowie den daraus erzeugten Aluminiumprodukten in Wettbewerb treten wollen, auszuschließen. .Weil neue Unternehmen, die in der Aluminiumindustrie tätig werden wollen, der Gnade einer einzigen mächtigen Gesellschaft, welche die wesentlichen Rohmaterialien beherrscht, ausgeliefert wären und wegen der großen Risiken, die mit dem Einstieg in ein so vollständig von der Aluminium Co. und den ganz in ihren Händen befindlichen Tochtergesellschaften monopolisiertes Geschäft zwangsläufig verbunden sind, hat diese Monopolstellung die direkte und unmittelbare Wirkung, daß jeder echte Wettbewerb unterdrückt und ausgeschaltet wird, der sonst in der Produktion und dem Verkauf von Bauxit, Tonerde, Aluminium und den daraus hergestellten Aluminiumerzeugnissen im Innen- und Außenhandel entstehen würde; daher verstößt dieses Monopol gegen das öffentliche Interesse." (Technological Trends, S. 55.)

160

energie, die heute noch erforderlich sind, wäre das Ergebnis von Verbesserungen, daß früher oder später das Monopol auf diesem Gebiet gebrochen würde. Folglich wurden derartige Untersuchungen nicht ermutigt. In letzter Zeit wurden jedoch infolge der gewaltigen Förderung der Flugzeugproduktion, die mit den allgemeinen Kriegsvorbereitungen einsetzte, Aluminium- und Magnesiumlegierungen äußerst interessant, so daß sich die Regierungen gezwungen sahen, das Problem ihrer Herstellung als dringende nationale Aufgabe aufzugreifen. Es darf deshalb erwartet werden, daß uns die nächsten paar Jahre einen raschen Fortschritt in den Methoden der Aluminiumgewinnung und schließlich ein entsprechend schnelles Sinken des Aluminiumpreises bringen werden (vgl. S. 361). Wie weit die Anwendung von Forschungsergebnissen tatsächlich beeinträchtigt wird, läßt sich stets nur sehr schwer abschätzen, da man nicht angeben kann, was sich mit dem gleichen Aufwand an Zeit und Geld gegenüber dem, was erreicht wurde, eigentlich hätte erreichen lassen. D o c h deutet die Tatsache, daß die Anwendung der Naturwissenschaft trotz der enorm gewachsenen Möglichkeiten ihrer bewußten Lenkung und Leitung immer noch beträchtlich zurückbleibt, darauf hin, daß restriktive Kräfte am Werke sind, die fast ebenso rasch wachsen. Patente. Ein weiterer Faktor, der die Anwendung der Naturwissenschaft ernstlich kompliziert, ist das bestehende Patentrecht. Ursprünglich sollte es die Öffentlichkeit vor den üblen Auswirkungen schlecht funktionierender neuer Verfahren schützen, 20 wogegen heute Patente entweder als Vergütung für den Erfinder oder als Gegenstand eines Vertrages zwischen ihm und der Gesellschaft angesehen werden. Das mögen sie früher durchaus gewesen sein, doch besteht kein Zweifel, daß sie heute bei der Erfüllung dieser Funktion jämmerlich versagen und Erfindungen weit mehr hemmen als fördern. In der Praxis bringen die Patente, von den üblichen Mißbräuchen einmal ganz abgesehen, dem ursprünglichen Erfinder nur höchst selten eine Belohnung ein, und sie halten die Weiterentwicklung der Erfindung eher auf, als daß sie sie fördern. 21

20 21

11

Vgl. J. Stamp, The Science of Social Adjustment, a. a. O. „Entscheidungen amerikanischer Gerichtshöfe haben die Unterdrückung von Patenten in Urteilen sanktioniert, die von erstrangiger Bedeutung sind, wenn man den Widerstand gegen den technischen Fortschritt in den Vereinigten Staaten richtig einschätzen will. So entschied 1896 das Oberste Gericht, der Patentinhaber,könne sich die ausschließliche Nutzung seiner Erfindung oder Entdeckung vorbehalten . . . Dieses Recht ist ausschließlich und nach den einschlägigen Bestimmungen der Verfassung über das Privateigentum derart eindeutig, daß er weder verpflichtet ist, seine Entdeckung selbst zu nutzen, noch anderen erlauben muß, sie zu nutzen.' Als diese Entscheidung 1909 nochmals bestätigt wurde, wurde erklärt, ,die Öffentlichkeit habe kein Recht, die Nutzung patentierter Vorrichtungen oder nichtpatentierter Vorrichtungen zu erzwingen, wenn dies mit den grundlegenden Regeln über das Eigentum unvereinbar ist'. Der technische Fortschritt wird auf solche Weise unlöslich an ein Eigentumsrecht geknüpft, das in den Kategorien des Rechtes des Individuums und des Rechtes eines speziellen Industriezweiges im Gegensatz zu den Interessen der Gemeinschaft ausgelegt wird. In der Praxis kommt eine solche Auslegung den großen Gesellschaften zugute. Denn es ist die stets gleichbleibende Erfahrung der Erfinder, daß sie nicht die Möglichkeit haben, als einzelne ihre Patente auf Gebieten zu realisieren, die von solchen Gesellschaften beherrscht werden. Ein Haupthindernis ist natürlich, daß es ihnen an Kapital mangelt, um ihre Pläne in die Praxis umzusetzen. Die Erfinder werden in kostspielige Patentverletzungsverfahren verwickelt und lästigen Anfechtungsklagen ausgesetzt, die sie zwingen, ihre Patente an Großunternehmen mit konzentrierten Kapitalreserven zu verkaufen, die auf solche Weise ihre Chance wahrnehmen, Patente dieser Art zu unterdrücken. Patentgemeinschaften beschränken den Nutzen von Patenten auf einen kleinen Kreis von Gesellschaften und verwehren Unabhängigen ihre Verwertung, so d a ß ein technischer Fortschritt auf breiter Basis verhindert wird. Die Gepflogenheiten der Monopole gegenüber technischen Veränderungen legt sofort die Analogie mit dem einschränkenden Einfluß der mittelalterliche Zünfte nahe." (Technological Trends, S. 3.)

Bernal

161

Das Patentrecht ist auf unabhängige Kleinproduzenten und Erfinder, die ihr Kapital selbst aufbringen können, zugeschnitten. Es darf allerdings bezweifelt werden, ob dies für irgendeine größere Erfindung jemals zutraf. Selbst im achtzehnten Jahrhundert mußte Watt eine Partnerschaft mit Boulton eingehen, der seinen ganzen Einfluß geltend machen und 70000 Pfund Sterling aufwenden mußte, ehe einer von ihnen auch nur einen Penny aus dem Unternehmen Dampfmaschine zurückerhielt. Das ist heute sicherlich anders. Den einzelnen Erfinder gibt es noch, doch fallt es ihm immer schwerer, einen Geldgeber zu finden (vgl. S. 147), und außerdem muß er immer nachteiligere Bedingungen in Kauf nehmen. Die weitaus meisten Patente werden von Gesellschaften angemeldet. Das liegt nicht nur daran, daß aus den schon erwähnten Gründen es sich heute nur noch große Firmen leisten können, Wissenschaft anzuwenden, sondern auch am Patentrecht, das mittlerweile so kompliziert geworden ist, daß nur diejenigen mit den dicksten Brieftaschen hoffen können, ein Patent vor sicher zu erwartenden Verletzungen zu schützen. Das Spiel läßt sich natürlich in zwei Richtungen betreiben. Große Firmen dürften eher bereit sein, Patente, die in ihr Gebiet zu fallen scheinen — seien sie nun von Bedeutung oder nicht —, aufzukaufen, als vor Gericht zu gehen; und die Anmeldung von sogenannten Sperrpatenten (Dr. Levinstein schätzt, daß etwa 95 Prozent aller Patente zu dieser Kategorie zählen)22 ist eine der sichersten Formen legaler Erpressung. In großen Unternehmen wird gewöhnlich vereinbart, daß die Rechte sämtlicher Erfindungen, die von einem ihrer Angestellten gemacht werden (vgl. S. 126), auf die Firma übergehen. Ob der ursprüngliche Erfinder eine Vergütung erhält, hängt ganz von der Gnade der Leitung ab und ist eher Ausnahme denn Regel. Er darf sich glücklich schätzen, wenn er einen sehr bescheidenen Gewinnanteil erhält. Daher wird der Zweck eines Patents, dem Erfinder eine Vergütung zu sichern, heute nur selten erreicht, ob der Erfinder unabhängig ist oder nicht. Das derzeitige Patentrecht vermag also nicht einmal, dem Erfinder eine Vergütung zu sichern, überdies wirkt es stark zum Nachteil der Öffentlichkeit. Selbst ein so konservativer Kritiker wie Lord Stamp betont, daß unter den gegenwärtigen Bedingungen die Schutzfrist viel zu lang ist: „Nimmt man beispielsweise an, die Theorie vom gesellschaftlichen Interesse an einer Erfindung sei richtig, so wird ihr zuwidergehandelt, wenn es das Patentrecht ermöglicht, zu verhindern, daß die Erfindung kommerziell genutzt wird. Können getrennte Patente von anderen für nicht grundsätzlich verschiedene Dinge erworben werden, so kann sich daraus ein zu Vergeudung führender Wettbewerb erergeben, der keinerlei vergleichbaren gesellschaftlichen Vorteil bringt. Von größerer Bedeutung für meine Untersuchung ist aber die Schutzfrist. Sie beträgt in der Regel 14 oder 15 Jahre, in einigen Fällen sogar bis zu 20 Jahren. Das hielt man unter Bedingungen, als der Pulsschlag des Lebens langsamer war und Veränderungen viel weniger schnell aufeinander folgten, für eine angemessene Zeitspanne. Die eigentliche Frage ist aber, ob diese Zeitspanne immer noch die ideale ist, die wir wählen würden, wenn wir unter modernen Bedingungen von vorne anfangen würden. Wenn unter den alten Bedingungen eine Idee durchschnittlich etwa dreißig Jahre Bestand hatte, bis sie abgelöst wurde, so diente sie also während der Zeitspanne ihrer Wirksamkeit zur Hälfte privaten und zur Hälfte gesellschaftlichen Interessen. Wenn wir heute eine Zeitspanne von fünfzehn Jahren ansetzen und das Patentrecht nicht ändern, so haben wir das paradoxe Ergebnis, daß Ideen in der Regel während der ganzen Zeit ihrer Wirksamkeit unter Patentschutz bleiben und die Gesellschaft nur über überholte Ideen verfügen kann. Es ist von vornherein unvorstellbar, daß die Bedingungen eines gerechten Vertrages zwischen Gesellschaft und Individuen, die im Lichte der vor einem Jahrhundert geltenden Voraussetzungen ausgehandelt wurden, ihre 22

Vgl. H. Levinstein, British Patent Laws, Ancient and

162

Modern.

Gültigkeit beibehielten, wenn wir sie ohne vorgefaßte Meinung aus unseren heutigen Verhältnissen heraus festlegen würden. Es kann durchaus sein, daß die ideale Zeitspanne nicht einheitlich ist, sondern in Abhängigkeit vom jeweiligen Kapitalaufwand festgelegt werden muß. Sicherlich dürften die Schwierigkeiten, in verschiedenen Staaten Patente zu erwerben, überwunden werden können. Selbst innerhalb des britischen Empire sind fünfzig verschiedene Patentanträge einzureichen. Überdies wurde die Theorie des Patentrechtes zu einer Zeit erarbeitet, als die meisten Entdeckungen noch nicht von Angestellten großer Industrielaboratorien gemacht wurden. Die Behörden der Vereinigten Staaten sind der Ansicht, das System . . . ermögliche die Bildung von Monopolen über den Wirkungsbereich eines bestimmten Patentes hinaus und verhindere die Nutzung neuer Erfingungen zum Wohle der Allgemeinheit, . . . wenn gesagt werde, die Verschrottung bestehender Ausrüstungen sei eine Vergeudung, so sollte die Entscheidung darüber nicht Monopolinteressen überlassen werden, sondern bei einer unparteiischen Behörde liegen, welche die Gesamtheit der beteiligten Interessen berücksichtigt. Im allgemeinen erhält der Entdecker rein wissenschaftlicher Ideen keinerlei Schutz oder Vergütung — diese kommen ausschließlich Erfindern zugute, die sich die praktischen Anwendungen ausdenken." 23 Auch der Erwerb von Patenten zu diesem Zweck, die Nutzung bestimmter Verfahren zu unterbinden, statt sie einzuführen, ist ein weitverbreiteter Mißbrauch; ein ebensolcher Mißbrauch ist es, Patente zu verwenden, um die Gemeinschaft zur Kasse zu bitten. Das ist in der Medizin geradezu teuflisch, wo es möglich ist, durch Patente die weitere Forschung abzuwürgen und die Preise für wirklich wirksame Arzneimittel jahrelang hochzuhalten, was für ärmere Patienten einem Todesurteil gleichkommt. Die Auffassungen darüber, ob Wissenschaftler Patente erwerben sollten, sind sehr geteilt. Das allgemeine Ethos des Berufs spricht ganz entschieden dagegen. Man ist erstens der Ansicht, kein einzelner Wissenschaftler könne ehrlichen Gewissens ein so ausschließliches Recht an einer Entdeckung geltend machen, das es ihm gestatten würde, für sich allein Gewinn daraus zu ziehen, und zweitens, daß kein Wissenschaftler das Recht habe, den Fortschritt in der Anwendung irgendwie zu behindern. Andererseits hält man es aber nur für gerecht, wenn der Wissenschaft für die neuen Werte, die sie der Gesellschaft gibt, etwas zurückerstattet wird. Die erste Schwierigkeit könnte überwunden werden und wird auch überwunden, wenn die Patente von Instituten und nicht von Einzelpersönlichkeiten erworben werden. Das vergrößert jedoch nur die zweite Schwierigkeit. Bei dem gegenwärtigen Patentwesen, das juristisch schlecht und in der Praxis korrupt ist, besteht immer die Gefahr, daß es den Fortschritt hemmt. Die Ungerechtigkeit bleibt. Die Wissenschaft hat mehr als jeder andere einzelne Faktor zur Schaffung moderner Werte beigetragen, doch ist es den Wissenschaftlern, sowohl dem einzelnen als der Gesamtheit, verwehrt, ihren Anspruch auf einen Teil des Reichtums, den sie geschaffen haben, geltend zu machen.

Industrielle Forschung in Kooperation Die Tatsache, daß es aus ökonomischen Gründen weder große noch kleine Unternehmen fertig gebracht haben, die wissenschaftliche Forschung in angemessener Weise zu nutzen, hat in vielen Ländern dazu geführt, daß der Staat die industrielle Forschung vorantrieb. Das Eingreifen des Staates in die Forschung hat vor allem den Vorteil, daß es die 23

ir

J. Stamp, The Science of Social Adjustment, a. a. O., S. 151 — 153.

163

Schwierigkeiten überwindet, die kleine Firmen haben, überhaupt Forschung zu betreiben. Durch ihre Zusammenarbeit in Research Associations wären sie in der Lage, in jeder Branche genügend Mittel zusammenzutragen, um recht umfangreiche Forschungsvorhaben zu realisieren. Bisher war es jedoch außerordentlich schwierig, Geld für diese kooperative Forschung tatsächlich aufzubringen, zum Teil deshalb, weil jeder Art wissenschaftlicher Forschung wenig Verständnis entgegengebracht wird, in der Hauptsache jedoch deshalb, weil eine auf diese Weise durchgeführte Forschung ihre wichtige Bedeutung für den Konkurrenzkampf verliert. Sämtliche Firmen, die finanzielle Mittel bereitstellen, und bis zu einem gewissen Grade auch alle anderen Firmen der Branche, profitieren in gleichem Maße durch die Forschung, die im Rahmen der Research Associations durchgeführt wird. Die Vorteile, die sonst der Konkurrenzkampf mit sich bringt, treten kaum in Erscheinung. Wenn unter diesen Umständen eine Kostensenkung eintritt, kann sie oft zu niedrigeren Preisen statt zu höheren Profiten führen, es sei denn, die Bedingungen in dieser Branche sind schon monopolistisch oder halbmonpolistisch, d. h., es besteht zwischen den einzelnen Firmen ein offenes oder stillschweigendes Übereinkommen, irgendwelche verbesserten Methoden nicht zu Konkurrenzzwecken einzusetzen. Daß das derzeitige ökonomische System mit einer im öffentlichen Interesse betriebenen Forschung unvereinbar ist, zeigt sich in den außerordentlichen Schwierigkeiten, die auftraten, als man gewisse Industrien dazu bringen wollte, solche Forschungen in Angriff zu nehmen, wie fast aus jedem einzelnen Bericht des D.S.I.R. hervorgeht (vgl. S. 68 und 318). Doch kommt der Widerstand gegen die Ausdehnung der staatlichen Forschung nicht nur aus dieser Richtung. Viele der Funktionen, die am besten von solchen Laboratorien wahrgenommen werden könnten, liegen heute bei privaten Gutachtern, deren Stellung, auch wenn sie üblicherweise unsicher ist, lukrative Möglichkeiten bietet. Auf den ersten Blick könnte es scheinen, daß ein wirklich umfassendes System der industriellen Forschung für diese Gruppe verheerende Folgen hätte, in Wirklichkeit dürfte aber die größere Wertschätzung, die dies der Wissenschaft generell einbringen würde, zwangsläufig zu ihrem Vorteil umschlagen. Ähnliche Einwände werden auch von den praktischen Tierärzten gegen die Erweiterung der landwirtschaftlichen Forschung vorgebracht, insbesondere in der lebenswichtigen Frage der Beratung von Landwirten. Eben dadurch, daß es keinerlei wohldurchdachte Forschungspolitik gibt, konnte ein solches Profitinteresse an der Unwissenheit aufkommen ; darin paßt sich jedoch die Forschung lediglich dem bestehenden Chaos in der Organisation der Produktion an. Aus politischen und aus ökonomischen Gründen zeigen auch die Regierungen nur wenig Neigung, sich irgendwie aktiv in die Forschung hinsichtlich der Anwendung der Wissenschaft einzuschalten. Wenn ein staatliches Laboratorium zu einem Ergebnis gelangt, das kommerzielle Bedeutung haben könnte, so ist es nicht in der Lage, es zu verwerten, da es ihm weder gestattet ist, das Verfahren einem Industrieunternehmen zu verkaufen, noch auf eigene Rechnung damit zu arbeiten. Es gilt das allgemeine Prinzip, daß unter keinen Umständen, abgesehen von militärischen Erfordernissen in Kriegszeiten, staatliche Einrichtungen mit Industrieunternehmen in der Produktion konkurrieren dürfen. 24 Die unausbleibliche Folge ist, daß die Einstellung staatlicher Stellen gegenüber der Anwendung von Forschungsergebnissen fast gänzlich negativ ist. Für sie besteht kein Anreiz, die Anwendungsmöglichkeiten zu erweitern, so daß sie nur auf spezifische Anforderungen 24

Der Medical Research Council hat durch seine Förderung der chemotherapeutischen Forschung diese Regel teilweise durchbrochen und sich damit eine beträchtliche Gegnerschaft zugezogen, die argumentiert, dies sei ureigenste Angelegenheit der Chemieunternehmen.

164

einzelner Industriezweige eingehen. Hierbei behandeln sie insbesondere solche Fälle, in denen es bloß darum geht, ein Mittel zur Überwindung einer bei einem Produktionsprozeß erkannten Schwierigkeit zu finden. Daher vermag außerhalb der Sowjetunion, staatliche Forschung weder den Anstoß für neue Anwendungen der Wissenschaft zu geben, noch dafür zu sorgen, daß schon bestehende Anwendungen rationell betrieben und weiterentwickelt werden. Konkurrenz zwischen einzelnen Industriezweigen. Neben den unmittelbaren Auswirkungen von Konkurrenz und Monopol auf die Industrie gibt es noch andere Faktoren, die die Anwendung der Wissenschaft beeinträchtigen. Selbst dort, wo durch Monopole innerhalb eines ganzen Industriezweiges praktisch kein Wettbewerb mehr existiert, bleibt die Konkurrenz zwischen einzelnen Industriezweigen bestehen. Diese Konkurrenz wirkt bisweilen zum Nachteil einer effektiven Anwendung wissenschaftlicher Forschung. Wären die Bedürfnisse sowohl bei einzelnen Konsumenten als auch bei ganzen Industriezweigen fest und unveränderlich, so gäbe es für keine einzige Branche einen besonderen Anreiz, die Qualität ihrer Erzeugnisse zu verbessern. Auf die Dauer könnte sich schließlich bei den traditionellen Industrien ein Gleichgewicht einstellen, bei dem es für jeden Zweck ein einziges geeignetes Material und ein einziges passendes Gerät gäbe. Unter den Bedingungen einer sich entwickelnden Industrie gibt es jedoch aus einer Reihe von Ursachen eine immer stärker werdende Tendenz, andere Materialien einzusetzen, und die einzelnen Industriezweige, die sie liefern, konkurrieren notwendigerweise miteinander. Bei dieser Konkurrenz hängt der Erfolg von der Verbesserung der Qualität oder von der Senkung des Preises ab, so daß ein Anreiz besteht, sich mit wissenschaftlicher Forschung zu befassen, um den Markt eines konkurrierenden Materials zu erobern oder sich zumindest einen Anteil daran zu sichern. Leider ist aber das Problem nicht ganz so einfach, wie man meinen möchte. Die Hersteller des alten Materials werden, im Vertrauen auf ihre Position, im allgemeinen erst dann daran denken, sich mit Forschung zu befassen, wenn der Konkurrent auf dem Markt ist. Die Folge ist, daß sie Verluste hinnehmen müssen und möglicherweise bankrott sind, bevor sie ihre Verfahren überprüfen und verbessern können. So wurden im vorigen Jahrhundert die Eingeborenen, die Indigo anbauten, und die Händler, die ihn aufkauften und auf den Markt brachten, mit einem Schlage ruiniert, als die Anilinfarbstoffe aufkamen. Es heißt, daß etwa eine Million Hindus, die in der Landwirtschaft arbeiten, verhungert sind.25 Dabei steht aber keineswegs fest, ob nicht durch Rationalisierung der Verkaufsorganisation und durch eine biologische Forschung zur Steigerung des Ertrags das Naturprodukt auf die Dauer billiger gekommen wäre. Bis zu einem gewissen Grade wurden Lehren daraus gezogen. Heute steckt beispielsweise die Lackindustrie, die durch das Aufkommen synthetischer Plaste gefährdet ist, bestimmte Beträge in die Forschung, um die Lacke zu verbessern und ihnen neue Anwendungsmöglichkeiten zu erschließen. Es fallt jedoch besonders schwer, solche Untersuchungen durchzustehen, wenn der Absatz rückläufig ist. Andererseits ergibt sich aus der Existenz völlig unabhängiger finanzieller Interessen, die hinter der Herstellung von alternativen Produkten stehen, daß jedes einzelne Produkt zum Nutzen der Fabrikanten forciert wird, ohne daß dabei der Platz berücksichtigt wird, den es in einer ausgewogenen Struktur tatsächlich einnehmen sollte. So konkurrieren beispielsweise im Bauwesen die Interessen der Zement- und die der Stahlindustrie auf höchst anarchische Weise miteinander, und es gibt keine unparteiische zentrale Stelle, die festlegen würde, welche Kombination von Stahl und Zement für unterschiedliche Zwecke die beste 25

Vgl. J. G. Crowther, Science and Life, a. a. O., S. 33/34.

165

ist. Werden aber solche Schätzungen von Architektenvereinigungen oder anderen Organisationen angestellt, so haben sie keine Aussicht auf Realisierung, wenn sie den Interessen eines der beteiligten Industriezweige zuwiderlaufen. Die eigentliche Schwierigkeit, die diese Konkurrenz zwischen Industriezweigen für die Forschung mit sich bringt, besteht darin, daß sie die Forschung aufsplittert und damit jene tiefere Wechselwirkung zwischen verschiedenen Aspekten der Anwendung der Wissenschaft verhindert, die allein die aussichtsreichsten neuen Ergebnisse liefern könnte. Allein die Existenz dieser Art von Konkurrenz spricht das Urteil über ein ökonomisches System, das von Natur aus nicht imstande ist, die Produktion im Interesse des Volkes als Ganzes zu planen. Anstelle einer solchen Planung haben wir staatliches Eingreifen, doch fast immer zur Unterstützung einer der rivalisierenden Interessengruppen. 26 Wie wenig das öffentliche Interesse dabei in Betracht gezogen wird, ist aus der Tatsache zu ersehen, daß in dem ganzen komplizierten System der Zölle, Kontingente, erzwungene Fusionen, Absatzplanungeh usw. nur wenig oder gar nichts für Forschungen zur Verbesserung oder Verbilligung der Produkte im Interesse der Öffentlichkeit vorgesehen ist.

Ökonomischer Nationalismus und Forschung Als größte Gefahr für die Anwendung der Wissenschaft zum Wohle des Menschen hat sich unter den jüngsten Tendenzen jedoch die Herausbildung eines ökonomischen Nationalismus erwiesen. Ökonomischer Nationalismus heißt Einsatz außerökonomischer Faktoren, insbesondere politischer Macht, um mit Hilfe von Schutzzöllen, Subventionen und Währungsmanipulationen die Absatzmärkte der eigenen Industrie in den verschiedenen kapitalistischen Ländern zu sichern und auszudehnen. Vom Unternehmerstandpunkt aus gesehen, ist es offenbar viel bequemer, wenn ihnen die Gewinne, die durch wissenschaftliche Forschung erzielt werden könnten, durch Eingreifen des Staates zufließen, was den zusätzlichen Vorteil hat, daß den betreffenden Industrien keine Kosten entstehen. Die unmittelbare Auswirkung ist die gleiche wie beim Monopol: Der Anreiz für Verbesserungen der Produktion wird geringer. Es gibt jedoch viel schlimmere Auswirkungen. Eine davon, die zunehmende Ausrichtung wissenschaftlicher Forschung auf militärische Anwendungen, wird in einem gesonderten Kapitel behandelt. Eine andere ist die Art und Weise, in welcher der ökonomische Nationalismus mit dem internationalen Charakter der Wissenschaft in Konflikt gerät, zunächst mit der angewandten, und dann auch mit der Grundlagenforschung. Für den ökonomischen Nationalismus werden die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung mehr und mehr zu bloßen nationalen Aktivposten. Die Geheimhaltung, die sich schon innerhalb der Wirtschaft jedes einzelnen Landes schlimm genug auswirkt, nimmt in unserem Zusammenhang nun die weit gefährlichere Form der Wahrung von Staatsgeheimnissen an. In jedem Land werden parallele Forschungsvorhaben vorangetrieben, was trotz unvermeidlicher „Lecks" bedeutet, daß enorme Anstrengungen mehrfach unternommen werden. Daß die gleiche Arbeit an mehr als zwei Stellen durchgeführt wird (zwei mögen zu Kontrollzwecken gerechtfertigt sein), zersplittert nicht nur die verfügbaren Kräfte, sondern beraubt sie der zusätzlichen Vorteile des freien Meinungsaustauschs, der gegenseitigen Anregung und des Austauschs von Ideen. Ökonomischer Nationalismus in der Wissenschaft führt letztlich dazu, daß der 26

Dies wird durch die raschen Änderungen in der Politik der Bewertung der verschiedenen Verfahren zur Kohleverflüssigung belegt.

166

Wissenschaftler zum Diener, genauer gesagt, zum Sklaven des Staates und die Wissenschaft selbst Bestandteil der nationalen Propaganda wird. Schon hören wir von einer „deutschen Physik". Nichts wird auf die Dauer die Wissenschaft mit größerer Wahrscheinlichkeit ruinieren als ein solcher Zustand (vgl. S. 210ff.). Die Schäden, die die Geheimhaltung in der Praxis anrichtet, sind arg genug, aber der Schaden, den sie dem Wissenschaftler und vor allem dem Klima zufügt, in dem er seine Arbeit leistet, ist weit schlimmer. Mißtrauen und Selbstsucht werden einziehen. Ohne daß sich Veröffentlichungen der Überprüfung und der freien Kritik stellen, kann notorischer Unsinn offiziell sanktioniert werden. Die Lehre wird zur Einweihung in Mysterien werden und die Wissenschaft zu jener Art kabbalistischer Alchemie entarten, die sie zur Zeit des Niederganges des Römischen Reiches war. Ihr Inhalt mag reichhaltig sein und ihre Anwendungen in der Praxis mögen erhalten bleiben, aber die Kraft, das Siegel des Unbekannten zu brechen, kann ebenso verhängnisvoll verlorengehen, wie es im Mittelalter der Fall war. Geheimhaltung. Die Entstehung der modernen Naturwissenschaft fiel mit einer entschiedenen Absage an die Idee der Geheimhaltung zusammen. Diese Absage ist nirgends klarer formuliert als in Réaumurs Werk L'Art de convertir le fer forgé en acier [Die Kunst, das Schmiedeeisen in Stahl umzugestalten].* Darin legt Réaumur die Grundprinzipien der Stahlerzeugung, die er experimentell gewonnen hatte, offen dar, obwohl sie zwei oder gar dreitausend Jahre lang als Berufsgeheimnis gehütet worden waren. Er rechtfertigt dies mit folgenden Ausführungen, die es verdienen, ungekürzt wiedergegeben zu werden: „Völlig andersartig sind die Vorwürfe, denen entgegnen zu müssen ich mich geschmeichelt fühle, die nach oben den soeben erwähnten Sitzungen der Akademie gegen mich erhoben wurden. Es gab da Leute, die es befremdend fanden, daß ich Geheimnisse preisgegeben hatte, die nicht hätten enthüllt werden dürfen. Andere wiederum hätten es lieber gesehen, wenn sie Unternehmen anvertraut worden wären, die davon hätten Gebrauch machen können und die, indem sie zu ihrem eigenen Nutzen damit gearbeitet hätten, auch zum allgemeinen Wohle des Königreiches [Frankreich] beigetragen hätten. Die Empfindungen, auf welche die erste Denkweise schließen läßt, sind so unedel, daß man sich nicht einmal rühmen könnte, direkt entgegengesetzte zu haben; widersprechen sie nicht sogar der natürlichen Gleichheit? Ist es wirklich so sicher, daß unsere Entdeckungen so sehr uns gehören, daß die Öffentlichkeit kein Recht auf sie hat, sie also nicht auch irgendwie ihr gehören? Wir alle müssen, und dies ist unsere vornehmste Pflicht, zum allgemeinen Wohle der Gesellschaft beitragen. Wer dies versäumt, wenn er etwas dazu beitragen könnte, und wer es gar versäumt, wenn es ihn weiter nichts kosten würde als zu reden, der verletzt eine wesentliche Pflicht, und dies unter höchst verabscheuungswürdigen Umständen. Wenn dieses Prinzip anerkannt wird, gibt es dann überhaupt noch Umstände, unter denen wir uneingeschränkt Herr unserer Entdeckungen wären? Nun wird allerdings seit geraumer Zeit geklagt, die Öffentlichkeit sei so undankbar, daß sie dem, was ihr bekannt werde, nicht einmal Lob zolle. Ein Geheimnis wird, solange es gehütet wird, als etwas Wunderbares angesehen, ist es aber enthüllt, so heißt es nur ,Ist das alles?' Man versucht zu beweisen, man habe ja alles längst gewußt, die leisesten Spuren und die geringsten Ähnlichkeiten werden als Beweise angeführt. Das hat verschiedenen Gelehrten den Vorwand geliefert, ihre Erkenntnisse für sich zu behalten und andere, die ihr Wissen anscheinend weitergeben, veranlaßt, es so zu verpacken, daß das Vergnügen, es zu * Im folgenden zitiert nach: J. D. Bemal, Die Wissenschaft in der Geschichte, a. a. O., S. 290. — Deutscher Titel der Réaumurschen Arbeit nach: W. Jonas/V. Linsbauer/H. Marx, Die Produktivkräfte in der Geschichte, Bd. 1, Berlin 1969, S. 284.

167

erwerben, teuer erkauft wird. Selbst wenn diese Klagen begründet wären und die Vermutung von der Ungerechtigkeit der Öffentlichkeit ebenfalls so allgemein zuträfe, wie dies einige Autoren behaupten, würde uns das ermächtigen, für uns zu behalten, was ihr nützen könnte? Hätte der Arzt das Recht, Kranken, die in großer Gefahr sind, von denen er keine Erkenntlichkeit zu erwarten hat, oder von denen er sogar weiß, daß sie undankbar sind, die Hilfe zu verweigern? Ist es denn weniger wichtig, etwas für den Geist zu tun als für den Körper? Sind nicht etwa richtig eingeschätzte Erkenntnisse das realste Gut? Ich möchte sogar sagen, seine Untersuchungen nicht in so klarer Form zu veröffentlichen, wie man kann, nur einen Teil davon vorzulegen und den Rest erraten zu lassen, heißt meiner Meinung nach, für den Zeitverlust verantwortlich zu sein, der den Lesern dadurch bereitet wird. Ich wünschte, die Menschen würden denjenigen ihre Bewunderung versagen, die mehr danach zu trachten scheinen, sich bewundern zu lassen, als nützlich zu sein . . . Um den zweiten Einwand aufzugreifen, den ich erwähnt habe, es haben sich Leute gefunden, die es nicht billigten, daß die Entdeckungen, welche Gegenstand dieser Arbeiten sind, veröffentlicht wurden. Sie hätten gewünscht, daß sie dem Königreich vorbehalten geblieben wären, daß wir also jene meiner Meinung nach wenig lobenswerten Beispiele der Geheimnistuerei nachgeahmt hätten, die uns einige unserer Nachbarn bieten. Wir sind vor allem unserem Vaterland verpflichtet, aber auch dem Rest der Welt: diejenigen, die arbeiten, um die Naturwissenschaften zu vervollkommnen, müssen sich sogar als Bürger der ganzen Welt begreifen. Schließlich wird, wenn die in diesen Arbeiten behandelten Untersuchungen die Erfolge haben, die ich damit angestrebt habe, kein anderes Land daraus so viel Nutzen ziehen können wie das Königreich. Es wird in Zukunft auch ohne die feinen Stähle auskommen, die es zur Zeit aus dem Ausland bezieht. Das setzt aber voraus, daß wir nicht, wie wir dies nur allzu oft tun, versäumen, Nutzen aus dem zu ziehen, was sich bei uns findet, und daß wir unsere Vorhaben nicht so leicht aufgeben, wie wir sie beginnen." 27 In diesen Ausführungen zeigt sich Réaumur zugleich als echter Wissenschaftler und als wahrer Patriot. Die beiden Prinzipien, die er verkündet — daß die Arbeit des Entdeckers der Gesellschaft gehört und daß diejenigen, die wissenschaftlich tätig sind, Bürger der Welt sind —, sind seit dieser Zeit die leitenden Prinzipien der Beziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft und geraten erst heute wieder in Gefahr. Die Vorstellung von einer nationalen Wissenschaft ist natürlich ebenso alt wie die moderne Wissenschaft selbst. Die Royal Society, die Académie des Sciences, die Preußische und die Russische Akademie der Wissenschaften waren sämtlich gegründet worden, um nationale wissenschaftliche Talente zu fördern und ebenso ganz ausdrücklich, um das nationale Handwerk und die nationalen Industrien zu verbessern. In früheren Zeiten wurden jedoch die genannten Gefahren wettgemacht durch die weit größere Freiheit, die es den Wissenschaftlern ermöglichte, ins Ausland zu gehen und dort zu arbeiten, sowie durch das Prestige, welches Mäzenatentum gegenüber der Wissenschaft den Landesherren einbrachte, und dieses Prestige setzte freie Publikationsmöglichkeiten voraus. Die heutige Gefahr besteht darin, daß in Staaten, die von der Idee einer autarken Wirtschaft und den Vorbereitungen auf einen totalen Krieg besessen sind, der Wert der Naturwissenschaft nur in engstem ökonomischem Rahmen gesehen wird. Die Forschung nach Austauschstoffen für industrielle Materialien und für Nahrungsmittel, die aus dem Ausland importiert werden müssen, hat schon gewaltige Bedeutung erlangt, und zwar nicht nur in Deutschland. Da solche Untersuchungen in einer vernünftigen Weltwirtschaft überflüssig wären, stellen sie eine bedauerliche Vergeudung wissenschaftlichen Schöpfertums dar. 27

R. A. Ferchault de Réaumur, L'Art de convertir le fer forgé en acier, englischen Original abgedruckten französischen Zitat direkt übersetzt].

168

Paris 1722 [Text aus dem im

Nun liegt die Herrschaft über die wissenschaftliche Forschung ebenso wie die Herrschaft über den Staat so sehr in den Händen großer Monopolunternehmen, daß der Druck, die Forschung in diese Richtung zu drängen, zu stark werden kann, als daß ihm die freien und offenen Traditionen der Wissenschaft widerstehen könnten. Internationale Monopole. Die Tendenzen zum ökonomischen Nationalismus werden bis zu einem gewissen Grade durch die Bestrebungen der internationalen Monopole aufgehoben. Diese internationalen Monopole sind eigentlich freiwillige internationale Vereinigungen oder Kartelle nationaler Monopole, deren Zusammenarbeit sich in der Regel darauf beschränkt, die Preise festzusetzen, die Absatzmärkte verbindlich aufzuteilen, gemeinsame Verkaufsorganisationen zu unterhalten und, was das wichtigste ist, wissenschaftliche Patente und Produktionsgeheimnisse gemeinsam zu nutzen. Von den Laboratorien verschiedener Unternehmen des gleichen Kartells wird angenommen, daß sie miteinander in Verbindung stehen oder daß jedenfalls ihre Ergebnisse ausgetauscht werden. In der Praxis ist jedoch der größte Teil der Forschung gewöhnlich in einem der Unternehmen des Kartells konzentriert, und die anderen hängen, was die Ergebnisse betrifft, fast ganz von diesem ab. So wird in der chemischen Industrie von den IG-Farben, dem deutschen Kartellmitglied, mehr Forschungsarbeit geleistet als von jedem der anderen. Im Jahre 1935 entfielen auf die IG-Farben 555 neue Verfahrenspatente, 1936 auf Du Ponts 508 und auf die I.C.I. (Imperial Chemical Industries) ganze 270. Trotzdem werden die weltweiten internationalen Kartelle langsam aber sicher durch begrenzte Industriegruppierungen ersetzt, die politisch mit verschiedenen Gruppierungen von Großmächten verbunden sind. Innerhalb der einzelnen Gruppierungen gibt es einen gewissen Austausch wissenschaftlicher und technischer Informationen, zwischen ihnen hingegen zunehmende Rivalität mit entsprechender Geheimhaltungspraxis und mangelnder Zusammenarbeit. Was sich vor unseren Augen tatsächlich abspielt, ist die Mobilisierung von Wissenschaft und Technik in Vorbereitung auf einen heraufziehenden Krieg, und dies zusätzlich zu jenen Aspekten der direkten Kriegsvorbereitung, die im nächsten Kapitel untersucht werden sollen.

Die Verzerrung der industriellen Forschung Die meisten der bisher erörterten Faktoren sind von der Art, daß sie überhaupt jede effektive Anwendung der Wissenschaft unterbinden. Das ist aber nur ein Teil der Geschichte. Die Anwendung wissenschaftlicher Forschung wird nicht nur dem Umfang, sondern auch dem Inhalt nach eingeschränkt. Die Anwendungen der Wissenschaft, und damit auch die Grundlagenforschung, werden durch die für unser gegenwärtiges ökonomisches System charakteristische Art der tatsächlichen Anforderungen in bestimmte Richtungen gedrängt. Legt man das Wohl des Menschen als Richtschnur zugrunde, so wird den Investitionsgütern und der Schwerindustrie ein unverhältnismäßig hohes Gewicht beigemessen, den Konsumgütern und dem Gemeinwohl dagegen nur ein sehr geringes. Selbst dort, wo Forschung mit solcher Zielstellung durchgeführt wird, wird ihr Effekt oftmals durch kommerzielle Erwägungen zunichte gemacht. 28 28

In seinem Buch Scientific Research and Social Needs sagt Julian Huxley dazu: „Der größte Teil der Forschung in Großbritannien wird von der Produktionsseite her organisiert, das heißt, sie wird organisiert und geplant, im Hinblick darauf, die Effektivität technischer Verfahren zu erhöhen und die Kosten für den Produzenten bzw. den Staat zu senken. Es sollte jedoch viel mehr Forschung von der Konsumtionsseite her organisiert werden und auf die Bedürfnisse des einzelnen Bürgers als Individuum

169

Das gilt insbesondere für Forschungen zur Erzeugung von Waren, die von einem Publikum gebrau