Wissen im Klang: Neue Wege der Musikästhetik 9783839451496

How can interdisciplinary music-aesthetic thinking contribute to innovative knowledge production? A new definition of mu

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Wissen im Klang: Neue Wege der Musikästhetik
 9783839451496

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Inhalt
Einleitende Gedanken zu neuen Wegen der Musikästhetik
I. Musik und Klang als Historie
Musikhistoriographie und Ästhetik
Der Fall »Deljana«
Gemeinschaftsstimme
II. Musik und Klang in der Philosophie
Selbst und Selbstverlust im Sound
Kunst als Gesellschaftskritik
III. Medien- und kulturtheoretische Zugänge
Versuch über Spotify, oder: Musikstreaming als Arbeit am Subjekt
Cyborg Voice – Der Auto-Tune-Effekt als Klangästhetik des Humanoiden
IV. Empirische Musikästhetik
Entwicklung eines Testinstruments zur Differenzierung verschiedener Dimensionen ästhetischer Urteile
Das rohe Ohr
Autor*innen

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José Gálvez, Jonas Reichert, Elizaveta Willert (Hg.) Wissen im Klang

Musik und Klangkultur  | Band 45

José Gálvez (M.A.), geb. 1990, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Musikwissenschaft/Sound Studies an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Seine Forschungsschwerpunkte liegen an der Schnittstelle zwischen Musikästhetik, musikalischer Analyse und Sound Studies. Jonas Reichert (M.A.), geb. 1990, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Musikwissenschaft/Sound Studies der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Er promoviert zur Konstruktion kultureller Identität durch Musik im Mexiko des frühen 20. Jahrhunderts. Elizaveta Willert (M.A.), geb. 1993, studierte künstlerische Chorleitung an der Forschungsuniversität Tomsk sowie Musikwissenschaft an der Universität Wien und der Humboldt-Universität zu Berlin. Schwerpunktmäßig befasst sie sich mit dem Themenbereich Musik und Intermedialität.

José Gálvez, Jonas Reichert, Elizaveta Willert (Hg.)

Wissen im Klang Neue Wege der Musikästhetik

Die Herausgabe dieses Bandes wurde durch die Humboldt-Universitäts-Gesellschaft (HUG) Verein der Freunde, der Ehemaligen und Förderer e.V. unterstützt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Popular electronics, Steve Harvey @trommelkopf / unsplash.com Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5149-2 PDF-ISBN 978-3-8394-5149-6 https://doi.org/10.14361/9783839451496 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Einleitende Gedanken zu neuen Wegen der Musikästhetik José Gálvez, Jonas Reichert, Elizaveta Willert ...................................................... 7

I. Musik und Klang als Historie Musikhistoriographie und Ästhetik Lektüreerfahrungen mit Carl Dahlhaus und Frank Hentschel David Hagen .................................................................................................29

Der Fall »Deljana« Prolegomena zu einer Geschichte der Musik in Fällen Patrick Becker-Naydenov ................................................................................ 57

Gemeinschaftsstimme Klangpolitik, Volkskörper-Werden und Massensingen im Nationalsozialismus Christopher Klauke ........................................................................................ 79

II. Musik und Klang in der Philosophie Selbst und Selbstverlust im Sound Zur Ontologie sonischer Materialität Luise Wolf ................................................................................................... 95

Kunst als Gesellschaftskritik Überlegungen zur Ästhetischen Theorie Theodor W. Adornos Livia von Samson-Himmelstjerna ..................................................................... 115

III. Medien- und kulturtheoretische Zugänge Versuch über Spotify, oder: Musikstreaming als Arbeit am Subjekt Maximilian Haberer ...................................................................................... 145

Cyborg Voice – Der Auto-Tune-Effekt als Klangästhetik des Humanoiden Ein medienarchäologisches Statement David Friedrich ........................................................................................... 163

IV. Empirische Musikästhetik Entwicklung eines Testinstruments zur Differenzierung verschiedener Dimensionen ästhetischer Urteile Marik Roos .................................................................................................. 181

Das rohe Ohr Zu den theoretischen und praktischen Leerstellen in der »Empirischen Ästhetik« Viola Großbach............................................................................................ 199

Autor*innen ............................................................................................ 217

Einleitende Gedanken zu neuen Wegen der Musikästhetik José Gálvez, Jonas Reichert, Elizaveta Willert

Beim Begriff der Musikästhetik herrscht, womöglich stärker als bei der oft als Synonym verstandenen Musikphilosophie, Unklarheit darüber, was sie überhaupt ist oder sein soll.1 Die Reichweite musikästhetischer Reflexion ist nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden fachlichen Ausdifferenzierung und Spezialisierung in allen Wissensgebieten unüberschaubar geworden. Was einst als ein Reflexionsfeld mit sicheren Alliierten (Musiktheorie, theoretische Philosophie, Musikgeschichte), einer kohärent erzählbaren Geschichte (vom archaischen Griechenland bis zu den Avantgarden des 20. Jahrhunderts) und relativ stark konturierten Themenkomplexen (die Musikwahrnehmung, das Musikalisch-Schöne, das musikalische Kunstwerk) aufgefasst wurde,2 scheint nun in seinen Problemstellungen, Theorien und Methoden weitgehend entgrenzt.3 Die traditionelle Unterteilung in Produktions-, Werk- und Rezeptionsästhetik mag eine minimale Orientierung in der musikästhetischen Publikationslandschaft bieten. Allerdings laufen viele Ansätze quer zu dieser Unterteilung und setzen sich in unterschiedlichen Konstellationen mit technischen, historischen oder systematischen Fragestellungen auseinander, ohne

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Für diese Einschätzung vgl. Richard Klein, Musikphilosophie zur Einführung, Hamburg: Junius 2014, S. 8ff. Für einen Versuch, einen historischen Überblick über die abendländische Musikästhetik zu geben, vgl. Enrico Fubini, Geschichte der Musikästhetik. Von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart: Metzler 1997. Carl Dahlhaus hat bereits 1967 eine vergleichbare Situation für die philosophische Ästhetik festgestellt: »Man wird ihr erst gerecht, wenn man erkennt und gelten läßt, daß sie weniger eine geschlossene Disziplin mit fest umgrenztem Gegenstand als ein vager und weitgespannter Inbegriff von Problemen und Gesichtspunkten ist […].« Carl Dahlhaus, Musikästhetik, Köln: Hans Gerig 1967, S. 10.

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dass dabei ein einheitlicher Diskurs der Musikästhetik erkennbar wäre. Wie soll man angesichts dieser problematischen Ausgangslage überhaupt in einen Sammelband über »neue Wege der Musikästhetik« einleiten, wenn eine Bestimmung von Musikästhetik kaum geboten werden kann? Welche Disziplinen und Felder sollen als Verbündete musikästhetischer Reflexion herangezogen werden? Und wie lässt sich in diesem Kontext eine Vorstellung über neue Wege der Musikästhetik gewinnen?

Musikästhetik als Musikgeschichte und Musikphilosophie? Eine schlaglichtartige Diskussion wichtiger musikhistorischer und musikphilosophischer Ansätze der letzten Zeit mag eine erste Orientierung geben. Beginnen kann man aber vielleicht nicht in der unmittelbaren Gegenwart, sondern bei der einflussreichen Musikgeschichte Carl Dahlhausʼ, die bekanntlich den Anspruch erhebt, »sowohl eine Geschichte der Musik als auch eine Geschichte der Musik zu sein«4 . Dahlhaus mag zurecht als Vertreter einer »traditionellen« Musikgeschichte gelten, wobei einer ebenso »traditionellen« Musikästhetik – nämlich im Sinne einer Werkästhetik der Kunstmusik – eine genauso große Relevanz wie der Geschichtsschreibung beigemessen wird: »Historie und Ästhetik sind also wechselseitig aufeinander reduzierbar.«5 Dahlhausʼ Bestimmung von Musikästhetik, die aus ihrem irreduziblen Verhältnis mit der Geschichte »artifizieller Musik« hervorgeht, hat wiederum selbst Geschichte geschrieben: Selbst für systematisch ausgerichtete Musikästhetiken ist die Geschichtsarbeit zum wichtigen Korrektiv geworden und für heutige Musikgeschichten, deren zentrale Kategorie nicht das Dokument, sondern das musikalische Kunstwerk ist, stellt die Werkästhetik nach wie vor ihr Fundament dar.6 Dass das musikalische Kunstwerk zum Fluchtpunkt musikästhetischer Reflexion wurde, ist kein ausschließliches Relikt einer »werkzentrierten«

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Carl Dahlhaus, Grundlagen der Musikgeschichte, Köln: Hans Gerig 1977, S. 219. Hervor. i.O. Carl Dahlhaus, »Was ist und wozu studiert man Musikgeschichte?«, in: Hermann Danuser (Hg.), Carl Dahlhaus. Gesammelte Schriften, Bd. 1, Laaber: Laaber 2000, S. 196-208, hier S. 205. Für eine gründliche Diskussion von Dahlhausʼ Musikgeschichte vgl. Friedrich Geiger, Tobias Janz (Hg.), Carl Dahlhausʼ »Grundlagen der Musikgeschichte«. Eine Re-Lektüre, Paderborn: Fink 2016.

Einleitende Gedanken zu neuen Wegen der Musikästhetik

Musikgeschichtsschreibung.7 Der Philosoph Gunnar Hindrichs hat etwa unlängst eine Musikphilosophie vorgelegt, die sich als Ontologie des musikalischen Kunstwerks versteht. Als Vollzug und Gegenstand »ästhetischer Vernunft« befinde sich die abendländische (Kunst-)Musik im Geltungsbereich einer autonomen Musikontologie, so Hindrichs.8 Dabei gründe das Spezifische dieser Musik in der »Geistigkeit des Klanges«, die sich seit der Antike entfaltet habe und deren »Idealtypus« das musikalische Kunstwerk bilde.9 Was dabei aber ausgeblendet wird, sind das hörende Subjekt, tradierte musikalische Praktiken und vor allem die geschichtliche Entwicklung individueller Werke, obwohl Hindrichs auf das historisch gewordene musikalische Material, die musikalische Zeit und das Verstehen von Musik ausführlich eingeht. Theorien zur Ontologie des musikalischen Werks stellen keineswegs ein deutschsprachiges Kuriosum dar, sondern sind fester Bestandteil der analytischen Kunstphilosophie im angloamerikanischen Sprachraum.10 Die Philosophin Lydia Goehr hat etwa die Grenzen einer analytischen Ontologie musikalischer Werke aufgezeigt und Argumente für die Bestimmung des musikalischen Werks als ein »regulatives Konzept« mit einer historisch begrenzten Geltung in der europäischen Musikpraxis gegeben.11 Trotz Goehrs Problematisierung nicht-geschichtlicher Musikontologien ist die analytische Debatte um den ontologischen Status musikalischer Werke unter weitreichender Ausklammerung ihrer je historischen Spezifik bis zur Unübersichtlichkeit wei-

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Für ein ambitioniertes musikhistorisches Projekt mit einem musikästhetischen Fokus auf individuelle Werke, das in keiner unmittelbaren »Traditionslinie« mit Dahlhaus steht, vgl. etwa Richard Taruskin, The Oxford History of Western Music, 5 Bde., Oxford: Oxford University Press 2005. Vgl. Gunnar Hindrichs, Die Autonomie des Klangs. Eine Philosophie der Musik, Berlin: Suhrkamp 2014, S. 13f. Vgl. ebd., S. 17-25. Vgl. Nicholas Wolterstorff, »Toward an Ontology of Art Works«, in: Noûs 9 (1975), Nr. 2, S. 115-142; Jerrold Levinson, »What a Musical Work Is«, in: The Journal of Philosophy 77 (1980), Nr. 1, S. 5-28; Peter Kivy, The Fine Art of Repetition. Essays in the Philosophy of Music, Cambridge: Cambridge University Press 1993, S. 35-74; Stephen Davies, Themes in the Philosophy of Music, Oxford: Oxford University Press 2003, S. 11-79; Julian Dodd, Works of Music. An Essay in Ontology, Oxford: Oxford University Press 2007; Andrew Kania, »The Methodology of Musical Ontology: Descriptivism and Its Implications«, in: British Journal of Aesthetics 48 (2008), Nr. 4, S. 426-444. Vgl. Lydia Goehr, The Imaginary Museum of Musical Works. An Essay in the Philosophy of Music, Oxford: Oxford University Press [1992] 2008.

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ter gewachsen. In diesem Zusammenhang hat die Philosophin Lisa Giombini kürzlich eine bestens informierte Meta-Ontologie entworfen, die eine kritische Orientierung und Diskussion der Begrifflichkeit und Problemstellungen dieser Debatte liefert.12 Eine Musikphilosophie, die die Erlebnisqualität ins Zentrum der Reflexion stellt, wurde neuerdings vom Philosophen Christian Grüny vorgelegt. Anders als in der Musikontologie geht es ihm nicht um das wesenhafte »Was«, sondern um das phänomenologische »Wie« der Musikerfahrung.13 Dies wird mittels eines aus der Kunstwissenschaft, Psychologie und Kulturtheorie gewonnenen Begriffsarsenals in verschiedenen »philosophischen Konstellationen« ausbuchstabiert. Zentral für Grüny ist die Bestimmung von Musik als ein offener, aber nicht beliebiger Resonanzprozess, der »zwischen Bewegtwerden und aktiven Nachvollzug liegt«14 . Eine dezidiert theoretische Berücksichtigung des verkörperten Subjekts und die Betonung der »Idiosynkrasien«15 sind zentral für Grünys interdisziplinäre Reflexion individueller, affektiver und körperlicher Musikerfahrung, ohne dabei einem radikalen Subjektivismus oder einem Werk-Performance-Dualismus das Wort zu reden.16 Ähnlich weit entfernt von ontologischen Bestimmungen sind Theorien zum Musikverstehen.17 Der Philosoph Matthias Vogel hat in diesem Zusammenhang ein Nachvollzugsmodell vorgelegt. Dieses Modell expliziert das Verstehen von Musik als »Nachvollzug« musikalischer Verläufe und Strukturen und nicht als Deutung repräsentationaler Gehalte in Musik.18 Vogel zufolge wird Musik durch die Strukturierung und Erschließung eines Wahrnehmungsgegenstandes mittels Nachvollzügen – die imaginativ, gestisch,

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Vgl. Lisa Giombini, Musical Ontology. A Guide for the Perplexed, Mailand: Mimesis International 2017. Vgl. Christian Grüny, Kunst des Übergangs. Philosophische Konstellationen zur Musik, Weilerswist: Velbrück 2014, S. 8ff. Ebd., S. 91. Vgl. ebd., S. 111ff. Zwei Ansätze, die dies zumindest in ihrer diskursiven Wirkung getan haben, sind Vladimir Jankélévitch, Music and the Ineffable, New Jersey: Princeton University Press [1957] 2003 und Carolyn Abbate, »Music – Drastic or Gnostic?«, in: Critical Inquiry 30 (2004), Nr. 3, S. 505-536. Für einen systematischen Überblick vgl. Thomas Worschak, Hörbarer Sinn. Philosophische Zugänge zu Grundbegriffen der Musik, Freiburg: Karl Alber 2017. Vgl. Matthias Vogel, »Nachvollzug und die Erfahrung musikalischen Sinns«, in: Alexander Becker, Matthias Vogel (Hg.), Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 314-368, hier S. 314ff.

Einleitende Gedanken zu neuen Wegen der Musikästhetik

tänzerisch etc. ausfallen können – erst als Musik verstanden. Anders als bei Nachahmungen »erlaubt der Nachvollzug, daß der Gegenstand durch den Nachvollzug eine Struktur gewinnt, über die wir unabhängig vom Nachvollzug gar nicht verfügen«19 . Insofern ist er keineswegs beliebig, sondern stets auf die spezifische Verfasstheit von musikalischen Gestalten bezogen, dabei aber nicht bloß reproduktiv, sondern produktiv, ja sogar kreativ.20 So ist das »Nach« im Nachvollzugsmodel nicht temporal, sondern modal (»gemäß«) zu verstehen. Ausgehend von dieser knappen Darstellung aktueller musikästhetischer Positionen stellt sich die Frage nach der Positionierung von Musikästhetik zwischen Musikgeschichte und Musikphilosophie. Können wir bei traditionellen Themen musikästhetischer Reflexion wie das zunehmend empirisch erforschte Feld von »Musik und Emotionen«21 , die an Theodor W. Adornos interdisziplinäres Denken anschließenden Ansätze22 oder der der ästhetischen Praxis entstammenden »Kompositionsästhetik«23 tatsächlich von Musikgeschichte oder Musikphilosophie im strengen Sinne reden? Hier zeigt sich, dass Musikästhetik zwar auf die systematische Klärung (musik-)ästhetischer Grundbegriffe durch die Musikphilosophie und auf die Kontextualisierung und Interpretation durch die Musikgeschichte angewiesen, auf diese aber 19 20 21

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Ebd., S. 360. Vgl. S. 359ff. Vgl. Theodore Gracyk, Andrew Kania (Hg.), The Routledge Companion to Philosophy and Music, London: Routledge 2011, Teil 2; Patrik N. Juslin, John Sloboda (Hg.), Handbook of Music and Emotion. Theory, Research, Applications, Oxford: Oxford University Press 2011; Stefan Zwinggi, Musik als affektive Selbstverständigung. Eine integrative Untersuchung über musikalische Expressivität, Freiburg: Karl Alber 2014; Patrick N. Juslin, Musical Emotions Explained. Unlocking the Secrets of Musical Affect, Oxford: Oxford University Press 2019. Vgl. Adolf Nowak, Markus Fahlbusch (Hg.), Musikalische Analyse und Kritische Theorie. Zu Adornos Philosophie der Musik, Tutzing: Hans Schneider 2007; Albrecht Wellmer, Versuch über Musik und Sprache, München: Carl Hanser 2009; Nikolaus Urbanek, Auf der Suche nach einer zeitgemäßen Musikästhetik. Adornos »Philosophie der Musik« und die BeethovenFragmente, Bielefeld: transcript 2010; Richard Klein (Hg.), Gesellschaft im Werk. Musikphilosophie nach Adorno, Freiburg: Karl Alber 2015; Cosima Linke, Konstellationen – Form in neuer Musik und ästhetische Erfahrung im Ausgang von Adorno. Eine musikphilosophische und analytische Untersuchung am Beispiel von Lachenmanns »Schreiben. Musik für Orchester«, Mainz: Schott Campus 2018. Vgl. etwa John Cage, Silence. Lectures and Writings, Middletown: Wesleyan University Press [1961] 1973; Arnold Schönberg, Harmonielehre, Wien: Universal Edition [1922] 1997; Pauline Oliveros, Deep Listening. A Composer’s Sound Practice, Lincoln: iUniverse 2005.

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nicht reduzierbar ist. Musikästhetik scheint offene disziplinäre Grenzen zu haben, die immer wieder durch andere Felder, Disziplinen und nicht zuletzt durch die Musikpraxis selbst herausgefordert werden. Das zeigen vor allem Forschungsthemen, denen noch eine systematische Entfaltung bevorstehen, etwa zur musikalischen Improvisation oder Performativität.24

Neue Wege musikästhetischer Reflexion In Anlehnung an die Tradition der modernen philosophischen Ästhetik kann man sich einerseits zu einer allgemeinen Musikästhetik bekennen, die als Theorie sinnlicher Erfahrung musikalischer Gegenstände aufgefasst werden kann. Andererseits kann man eine kunsttheoretische Musikästhetik vertreten. Diese geht von einer »existenziellen« Musikerfahrung aus, die der »Strukturlogik« individueller Kunstwerke folgt und eine lebensweltliche Bedeutsamkeit für Menschen erlangt.25 Uns scheinen allerdings zwei zentrale Ansprüche einer zeitgenössischen Musikästhetik quer zu dieser Unterscheidung zu liegen. Erstens soll Musikästhetik eine Spezifik von Musikerfahrung hinsichtlich konkreter musikalischer Gegenstände bestimmen. Dabei kommen verschiedene Gegenstandsauffassungen von Musik – sei es als musikalisches Werk, musikalische Improvisation, auditive Medienkultur, organisierter Klang, akustischer Reiz etc. – in Frage. Darauf bezogen soll zweitens die Funktion bzw. der Wert von Musik für Formen des Verstehens, der Subjektivierung, der Identitätsbildung oder der Vergesellschaftung

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Vgl. Nicholas Cook, Beyond the Score. Music as Performance, Oxford: Oxford University Press 2013; Alessandro Bertinetto, »Jazz als gelungene Performance – Ästhetische Normativität und Improvisation«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 59 (2014), Nr. 1, S. 105-140; Mark J. Butler, Playing with Something that Runs. Technology, Improvisation, and Composition in DJ and Laptop Performance, Oxford: Oxford University Press 2014; Daniel Martin Feige, Philosophie des Jazz, Berlin: Suhrkamp 2014. Vgl. Daniel Martin Feige, »Zum Verhältnis von Kunsttheorie und allgemeiner Ästhetik. Sinnlichkeit als konstitutive Dimension der Kunst?«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 56 (2011), Nr. 1, S. 123-142, hier S. 136ff. sowie Stefan Deines, Jasper Liptow u.a., »Kunst und Erfahrung. Eine theoretische Landkarte«, in: Dies. (Hg.), Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse, Berlin: Suhrkamp 2013, S. 7-37, hier S. 14ff.

Einleitende Gedanken zu neuen Wegen der Musikästhetik

erklärt werden, die sich in kulturhistorisch verschiedenen Lebensformen symbolisch, affektiv, körperlich, institutionell etc. realisieren.26 Stimmt man diesen zwei Aufgaben zu, dann erweisen sich viele, sonst in musikphilosophischen oder musikhistorischen Debatten kaum beachtete Problemstellungen, Themen und Zugänge als zentral und nicht nur peripherisch für die Musikästhetik. Dies ist die Situation, aus der neue Wege der Musikästhetik aufgezeigt werden können – Wege, denen keine essenzialistische Bestimmung des »Ästhetischen« zugrunde liegt. Wir schlagen einen strategischen Begriff der Musikästhetik vor, der nicht nur eine Peripherie im Diskurs erkämpfen, sondern die Musikästhetik nachhaltig prägen könnte. Wir halten es für höchst produktiv, ausgehend von einem Dialog mit der Kultur- und Medienwissenschaft, der Geschichtswissenschaft, den Sound Studies sowie der empirischen Ästhetik neue Wege der musikästhetischen Reflexion zu erkunden, ohne damit die Musikästhetik radikal zu entgrenzen und sie ad absurdum zu führen. Wohin können aber diese neuen Wege führen? Ein erster Weg führt in die Bestimmung des Verhältnisses von Musik und Klang. Dies wurde zwar aus phänomenologischer Perspektive behandelt,27 allerdings liegt noch sehr viel Potenzial in Ansätzen, die das (historische) Material und die (medienspezifische) Materialität von Musik nicht in den traditionellen Kategorien klassisch-romantischer Musiktheorie artikulieren,28 sondern die die medientechnischen Bedingungen musikalischer Gestaltung und Erfahrung erschließbar machen.29 Dies wurde vor allem in der medientheore-

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Diese sind die zwei Hauptachsen der unlängst unterbreiteten Kunstphilosophie von Georg W. Bertram. Vgl. Georg W. Bertram, Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik, Berlin: Suhrkamp 2014. Vgl. Tobias Janz, »Qualia, Sound, Ereignis. Musiktheoretische Herausforderungen in phänomenologischer Perspektive«, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 7 (2010), Sonderausgabe, S. 217-239; Boris Voigt, »Über das Verhältnis von Musik und Klang. Eine phänomenologische Untersuchung«, in: Musiktheorie. Zeitschrift für Musikwissenschaft 26 (2011), Nr. 1, S. 69-86; Grüny, Kunst des Übergangs. Die Konzeptualisierung musikalischer Klanglichkeit als Ton in den traditionsreichen Begriffen »Tonkunst« (Hanslick), »Tonfunktionen« (Dahlhaus) sowie »Tonbestand« und »Tonbeziehungen« (Hindrichs) ist hier aufschlussreich. Der junge »posthermeneutische« Diskurs über musikalische Materialität, der die hermeneutisch und semiotisch motivierte Suche nach »musikalischer Bedeutung« kritisiert, versteht eher die Performativität und sinnliche Präsenz von Musik als deren Materialität. Vgl. Federico Celestini, »Zu Materialität des Klangs«, in: Nikolaus Urbanek, Melanie Wald-Fuhrmann (Hg.), Von der Autonomie des Klangs zur Heteronomie der Musik. Musikwissenschaftliche Antworten auf Musikphilosophie, Stuttgart: Metzler 2018, S. 33-48;

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tisch informierten Musikforschung30 und in der Erforschung populärer Musik31 , sofern diese als »produzierte Musik«32 verstanden wurde, geleistet. Eine gründliche Untersuchung verschiedener Konzeptualisierungen von Klang, welche musikalischen Techniken, Diskursen, Praktiken und Werken zugrunde liegen, erscheint zudem als ein vielversprechendes Gebiet für musikästhetische Reflexion.33 Schließlich können auch philosophisch ambitionierte Ansätze, die auf eine Klangontologie oder Klanganthropologie abzielen, ohne sich dabei auf eine normative Bestimmung von Musik zu verpflichten, wichtige Impulse für die Musikästhetik geben.34

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Nikolaus Urbanek, »Vom Sinn des Klangs. Ein Vortrag in posthermeneutischer Perspektive«, in: Jörn Peter Hiekel, Wolfgang Mende (Hg.), Klang und Semantik in der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, Bielefeld: transcript 2018, S. 47-69. Vgl. Richard Klein, »Wagners Medientechnologie – wie Friedrich Kittler sie sieht«, in: Johanna Dombois, Richard Klein, Wagner und seine Medien. Für eine kritische Praxis des Musiktheaters, Stuttgart: Klett-Cotta 2012, 409-423; Rolf Großmann, »Die Materialität des Klangs und die Medienpraxis der Musikkultur. Ein verspäteter Gegenstand der Musikwissenschaft?«, in: Axel Volmar, Jens Schröter (Hg.), Auditive Medienkulturen. Techniken des Hörens und Praktiken der Klanggestaltung, Bielefeld: transcript 2013, S. 61-77; Antoine Hennion, The Passion for Music. A Sociology of Mediation, New York: Routledge [1993] 2016; Alexander Rehding, Gundula Kreuzer u.a., »Discrete/Continuous: Music and Media Theory after Kittler«, in: Journal of the American Musicological Society 70 (2017), Nr. 1, S. 221-256. Vgl. etwa in Bezug auf die Spezifik digitaler Klanggestaltung Ragnhild BrøvigHanssen, Anne Danielsen, Digital Signatures. The Impact of Digitization on Popular Music Sound, Cambridge, MA: MIT Press 2016. Jens Gerrit Papenburg, »Popmusik als ›produzierte‹ Musik«, in: Musik & Ästhetik 23 (2019), Nr. 2, S. 68-71, hier S. 69. Vgl. Peter Wicke, »Mediale Konzeptualisierung von Klang in der Musik. Von der simulierten Aufführung zum simulierten Klang«, in: Musiktheorie. Zeitschrift für Musikwissenschaft 24 (2010), Nr. 4, S. 349-363. Vgl. Christoph Cox, Sonic Flux. Sound, Art, and Metaphysics, Chicago: Chicago University Press 2018; Holger Schulze, The Sonic Persona. An Anthropology of Sound, New York: Bloomsbury 2018; Rainer Bayreuther, Was sind Sounds? Eine Ontologie des Klangs, Bielefeld: transcript 2019.

Einleitende Gedanken zu neuen Wegen der Musikästhetik

Ein zweiter Weg führt in das musikalische Hören, das in den letzten Jahren zunehmend musikgeschichtlich untersucht wurde.35 Für die Sound Studies ist das Hören dagegen ein etablierter Forschungsgegenstand, der vor allem in seiner Historizität und Technizität erforscht wird.36 Daraus lässt sich viel für eine Musikästhetik gewinnen, die kein höchst idealisiertes musikalisches Hören impliziert oder unbestimmte Hörpraktiken postuliert, sondern kultur- und medienhistorisch spezifische Praktiken, Techniken, Wissensformen und Technologien des Hörens – auch in »außermusikalischen« Bereichen – als Bedingungen der Möglichkeit oder als Folgen kreativer Prozesse in der Musikproduktion und -rezeption erachtet.37 Dabei sind auch Formen des musikalischen Hörens zu berücksichtigen, die durch symbolische und materielle Körperpraktiken artikuliert38 oder eher taktil als aural realisiert werden.39 Ein dritter Weg führt in die noch ausstehende systematische Untersuchung der musikalischen Konstitution von Subjektivität in Geschichte und Gegenwart. Hierfür gibt es Ansätze in der kulturwissenschaftlich ausgerichteten Musikwissenschaft, der Musiksoziologie und den Sound Studies,40 die

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Vgl. Klaus Aringer, Franz Karl Praßl u.a. (Hg.), Geschichte und Gegenwart des musikalischen Hörens, Freiburg: Rombach 2017; C hristian Thorau, Hansjakob Ziemer (Hg.),The Oxford Handbook of Music Listening in the 19th and 20th Centuries, Oxford: Oxford University Press 2019. Als wegweisend gelten allerdings bereits die Studien von Heinrich Besseler zum musikalischen Hören; vgl. Heinrich Besseler, Das musikalische Hören der Neuzeit, Berlin: Akademie 1959. Vgl. Jonathan Sterne, The Audible Past. Cultural Origins of Sound Reproduction, Durham: Duke University Press 2003; Veit Erlmann, Reason and Resonance. A History of Modern Aurality, Cambridge, MA: MIT Press 2010. Vgl. Brian Kane, Sound Unseen. Acousmatic Sound in Theory and Practice, Oxford: Oxford University Press 2014; Stefan Niklas, Die Kopfhörerin. Mobiles Musikhören als ästhetische Erfahrung, Paderborn: Fink 2014; Samantha Bennett, Modern Records, Maverick Methods. Technology and Process in Popular Music Record Production 1978-2000, New York: Bloomsbury 2018. Vgl. Ulrich Tadday, »Musikalische Körper – körperliche Musik. Zur Ästhetik auch der populären Musik«, in: Helga de la Motte-Haber (Hg.), Musikästhetik (= Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft 1), Laaber: Laaber 2004, S. 395-407. Vgl. Steve Goodman, Sonic Warfare. Sound, Affect, and the Ecology of Fear, Cambridge, MA: MIT Press 2009; Salomé Voegelin, Sonic Possible Worlds. Hearing the Continuum of Sound, New York: Bloomsbury 2014, S. 157ff. Vgl. John Shepherd, Peter Wicke, Music and Cultural Theory, Cambridge: Polity Press 1997; David Schwarz, Listening Subjects. Music, Psychoanalysis, Culture, Durham: Duke University Press 1997; Naomi Cumming, The Sonic Self. Musical Subjectivity and Signi-

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mit musikphilosophischen Positionen zusammenzudenken wären.41 Mehr als die Frage nach der musikalischen »Sedimentierung« subjektiver Gedanken, Emotionen und Neigungen von Komponist*innen in Musikstücken, scheint uns die Frage nach der Aushandlung und Neubestimmung von Subjektivität mittels Musikmachen und Musikhören entscheidend. Diese Perspektive, die nach genuin musikalischen Artikulationen machtbedingter Kategorien wie »Klasse«, »Geschlecht« oder »Rasse« fragen kann, geht allerdings mit musikanalytischen und subjekttheoretischen Herausforderungen einher, die noch anzugehen sind. Ein vierter Weg führt in das, was neuerdings unter der Rubrik »empirische Musikästhetik« subsumiert wird.42 Dabei werden Ansätze der Philosophie, Psychologie, Soziologie, Kognitionswissenschaften, Linguistik etc. kombiniert, um wissenschaftliche Daten über Musikerfahrung zu erzeugen und auszuwerten, Bedingung von Regelmäßigkeiten festzustellen und die Struktur von Zusammenhängen zu erklären. Daraus ergeben sich u.a. komplexe empirisch fundierte Theorien und Modelle über verkörperte, vor-prädikative Formen des Musikverstehens43 oder über auf musikalische Eigenschaften bezogene ästhetische Urteile, affektive Verhaltens- und Rezeptionsweisen44 . Die Potenziale, Grenzen und Ergebnisse der empirischen Modellierung und Operationalisierung von Musikerfahrung können im Rahmen einer interdiszipli-

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fication, Bloomington: Indiana University Press 2000; Tia DeNora, Music in Everyday Life, Cambridge: Cambridge University Press 2000; Anahid Kassabian, Ubiquitous Listening. Affect, Attention, and Distributed Subjectivity, Berkeley: University of California Press 2013. Vgl. etwa Georg W. Bertram, »Was heißt es, Musik als eigenständige Artikulationsform des Denkens zu begreifen? Ein musikphilosophischer Versuch im Anschluss an Heidegger«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 40 (2015), Nr. 2-3, S. 231-251 sowie Jürgen Stolzenberg, »Musik«, in: Birgit Sandkaulen (Hg.), G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik (= Klassiker Auslegen 40), Berlin: De Gruyter 2018, S. 207-226. Für eine Debatte über die Spezifik und den Sinn empirischer Musikästhetik vgl. die Beiträge von Melanie Wald-Fuhrman, Marik Ross, Viola Großbach und Jin Hyun Kim in »Forum – Empirische Musikästhetik«, in: Musik & Ästhetik 23 (2019), Nr. 3, S. 84-99. Vgl. Jin Hyun Kim, »Musik als nicht-repräsentationales Embodiment. Philosophische und kognitionswissenschaftliche Perspektiven einer Neukonzeptualisierung von Musik«, in: Lars Oberhaus, Christoph Stange (Hg.): Musik und Körper. Interdisziplinäre Dialoge zum körperlichen Erleben und Verstehen von Musik, Bielefeld: transcript, S. 145-164. Vgl. Juslin, Musical Emotions Explained; Diana Omigie, Klaus Frieler u.a., »Experiencing Musical Beauty. Emotional Subtypes and Their Physiological and Musico-Acoustic Correlates«, in: Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts 2019, http://dx.doi.org/10. 1037/aca0000271 [letzter Zugriff: 31.1.2020].

Einleitende Gedanken zu neuen Wegen der Musikästhetik

nären Musikästhetik, die weder apodiktisch noch dogmatisch ist, dargelegt und kritisch diskutiert werden.

Wissen im Klang: Wissen über und durch Musik Der vorliegende Sammelband, der größtenteils aus dem im November 2018 an der Humboldt-Universität zu Berlin veranstalteten 31. Symposium des Dachverbandes der Studierenden der Musikwissenschaften »Musik und Ästhetik – alte Fragen neue Perspektiven« hervorgegangen ist, hat zum Ziel, der Pluralität des zeitgenössischen musikästhetischen Denkens Rechnung zu tragen und dabei die Konturen einer Musikästhetik mit lockeren disziplinären Grenzen darzulegen. Wir gehen von der Intuition aus, dass die Musikästhetik neue Wege einschlagen kann, wenn Musikphilosophie oder Musikgeschichte nicht als privilegierte oder gar einzige Alliierten musikästhetischer Reflexion gelten. Musikgeschichtliche und musikphilosophische Reflexionen sind weiterhin zentral für die Musikästhetik, wie einige Beiträge dieses Sammelbandes zeigen. Allerdings sollten sie sich auf ein Gespräch auf Augenhöhe mit anderen Disziplinen und Feldern einlassen. Daher gehen die Beiträge in diesem Band Kernfragen der Musikästhetik in ihren folgenreichen Verbindungen zu Problemstellungen der Musikgeschichte, Musikphilosophie, Kultur- und Medienwissenschaft, der Sound Studies sowie der empirischen Ästhetik nach. Entsprechend sind die Beiträge in vier thematische Bereiche gegliedert, die jeweils andere mögliche Zugänge zur Musikästhetik beleuchten: »Musik und Klang als Historie«, »Musik und Klang in der Philosophie«, »Medien- und kulturtheoretische Zugänge« und »Empirische Musikästhetik«. Die Metapher »Wissen im Klang« steht für die epistemischen Potenziale der interdisziplinären Musikästhetik, die uns vorschwebt. Einige Beiträge dieses Sammelbandes nehmen Stellung zu methodisch-theoretischen Problemstellungen der Musikgeschichte und Musikphilosophie, andere untersuchen Subjektivitäts- und Vergesellschaftungsformationen durch Musik in spezifischen Kulturen. Zudem werden sowohl die Potenziale als auch die Grenzen der empirischen Musikästhetik zur Debatte gestellt. Und medientechnische Bedingungen von Klanglichkeit werden ebenso kritisch reflektiert wie die körperlichen Resonanzprozesse individueller Klangerfahrung. Der vorliegende Sammelband zeugt so von der Verschiebung der theoretischen

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und methodischen Koordinaten, mit denen Wissen über und durch Musik generiert wird.45 Einer ersten Auslotung des Zusammenspiels von »Musikhistoriographie und Ästhetik« nähert sich David Hagen und rekurriert dabei auf Dahlhaus und dessen »Re-Lektüre«46 durch den Musikwissenschaftler Frank Hentschel. Hagen berührt dabei zentrale Kategorien des Dahlhaus’schen Denkens, insbesondere die Überlegungen zur Spezifik einer Musikhistoriographie in Abgrenzung zur allgemeinen Geschichtsschreibung, die sich in Begriffen wie »Kunstcharakter«, »ästhetische Präsenz« oder »Kanon als Prämisse der Historiographie« kondensiert haben und die gerade in letzter Zeit, etwa durch Hentschels ideologiekritische Positionen, problematisiert wurden. Einem konkreten Fall dagegen widmet sich Patrick Becker-Naydenov, wobei der Einzelfall der Reflexion auf eine »Musikgeschichtsschreibung als Kasuistik« dient, ein historiographisches Modell, das man in Abgrenzung und als Alternative zur Dahlhaus’schen Werkgeschichte und ihrem Wechselspiel von Historik und Ästhetik verstehen könnte. Versuchsweise und »im Sinne einer Arbeitshypothese« schlägt Becker-Naydenov vor, besagte Fallgeschichte »in der Rezeptionsgeschichte« zu verorten und untersucht den eigenartigen Fall »Deljana« im kommunistischen Bulgarien der 1950er Jahre. Christopher Klauke wählt einen kultur- und medienhistorischen Zugang zur Musikästhetik, um den klang- und damit verbundenen körperpolitischen Dimensionen des Singens im Nationalsozialismus nachzugehen. Dabei fokussiert sich Klauke auf die klangliche Materialität der Singstimme, die im Nationalsozialismus als Disziplinartechnik so trainiert wurde, dass sich in der Praxis des Gemeinschaftssingens ein klanglicher und körperlicher »Volkskörper« als Gemeinschaftsstimme artikulierte. Luise Wolf nimmt eine Reihe ontologischer Bestimmungen über Klang, Subjekt und musikalischen Sinn vor und betrachtet die Resonanz als dreiförmiges Bewegungsmuster von Körpern: Teilhabe bzw. Mitschwingen, Teilung bzw. Widerständigkeit und subjektiv-reflexiver Bezug zu diesen. Durch die Synthese zeitgenössischer Theoreme und Disziplinen – phänomenologischer, klanganthropologischer, rezeptionswissenschaftlicher und physika45

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Die Auffassung einer Wissensgenerierung mittels Musik wurde von Jacques Attali vertreten; vgl. Jacques Attali, Noise. The Political Economy of Music, Minneapolis: University of Minnesota Press [1977] 2008, S. 4ff. So der Untertitel des Sammelbandes, in dem der von Hagen herangezogene Aufsatz Hentschels erschienen ist. Vgl. Geiger, Janz (Hg.), Carl Dahlhausʼ »Grundlagen der Musikgeschichte«.

Einleitende Gedanken zu neuen Wegen der Musikästhetik

lisch-akustischer – wird in diesem Beitrag eine »Draufsicht« auf den Resonanzraum eröffnet, welcher Klang sowohl als sinnhaftes Phänomen als auch in seiner sonischen Materialität in den Blick nimmt. Livia von Samson-Himmelstjerna widmet sich mit Theodor W. Adorno einer zentralen Figur der philosophischen Musikästhetik. Schlüsselbegriffe aus seiner postum erschienenen Ästhetischen Theorie, etwa »Tendenz des Materials«, »Doppelcharakter«, »Wahrheitsgehalt« und »Utopie«, werden noch einmal in einer detaillierten Exegese diskutiert mit dem Ziel, durch Close Reading die Verbindung von Sozial- und Kunstkritik am Text selbst nachzuvollziehen. Am Fall von Spotify, zurzeit die weltweit größte Musikstreamingplattform, untersucht Maximilian Haberer die Implementierung von Algorithmen durch Streamingdienste sowie ihre weitreichenden Auswirkungen auf die Formierung von Musikhörpraktiken. Die spezifische Technisierung, Organisierung und Bewirtschaftung des Musikhörens versteht Haberer als Möglichkeitsbedingungen eines »unternehmerischen Hörsubjekts«. Die ästhetischen und politischen Dimensionen von Subjektivierung durch Musikhören werden in diesem Beitrag an der Schnittstelle zwischen algorithmisch personalisierter Kuration und systemischem Überwachungskapitalismus herausgearbeitet. David Friedrich unterzieht die Software Auto-Tune und den damit realisierbaren Auto-Tune-Effekt einer medienarchäologischen Analyse, die die Operatoren und Technologien des Klanggeschehens adressiert. Dabei kritisiert Friedrich bisherige medien- und kulturtheoretische Studien, die diese Klangtechnologie der populären Musik unzutreffend in direkter Verbindung mit dem Vocoder und Harmonizer gesetzt haben. Mit einem medienarchäologischen Ohr vernommen, erfasst dieser Beitrag den Auto-Tune-Effekt nicht als eine Ästhetik des Roboters, sondern als eine durch und durch medienspezifische Klangästhetik des Humanoiden. Marik Roos präsentiert angesichts der Komplexität der Einflussfaktoren auf den Akt der Musikrezeption, die in bisherigen Studien nicht ausreichend berücksichtigt wurde, ein Testinstrument, durch das ästhetische Urteile differenzierter erhoben werden können. In diesem »Motivationalen Inventar« werden vier verschiedene Dimensionen der ästhetischen Urteilsbildung berücksichtigt. Durch die derart durchgeführte Erhebung, liegt die Schlussfolgerung nahe, dass »Wahrnehmung von Musik, kognitive Verarbeitung und emotionale Reaktion […] von sozialem, kulturellem, zeitgeschichtlichem und kompositorischem Kontext« beeinflusst werden.

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Viola Großbach fragt in ihrem Beitrag nach dem Grundimpuls einer empirisch arbeitenden (Musik-)Ästhetik, der in der »Überwindung […] der Grenzen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften« liege, was sich in der Vorstellung einer »Natur-Kultur-Synthese« ausdrücke. Großbach plädiert dagegen für eine Aufrechterhaltung der Differenz von Natur und Kultur als Grundlage von Erkenntnis. Unter Rekurs auf Slavoj Žižek, Claude Lévi-Strauss, Hans Heinrich Eggebrecht u.a. und in Anlehnung an die Erkenntnisse der Linguistik erörtert sie, wie eine solche Erhaltung der »parallaktischen Lücke« für die Erforschung von Musik fruchtbar gemacht werden könnte. Uns bleibt am Ende eines gemeinsamen Forschungsprojektes, das in der vorliegenden Publikation nur einen von vielen Höhepunkten gefunden hat, den zahlreichen Unterstützer*innen und Weggefährt*innen zu danken. An erster Stelle der Humboldt-Universitäts-Gesellschaft, der wir für großzügige finanzielle Unterstützung danken, sowie dem Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, der (einstigen) Heimatinstitution der drei Herausgeber*innen, in dessen Räumlichkeiten und durch dessen finanzielle Unterstützung das 31. DVSM-Symposium stattfinden konnte. Den Podiumsdiskutant*innen des Symposiums Georg W. Bertram, Rolf Großmann, Christian Grüny, Tobias Janz, Sabine Sanio, Arne Stollberg, Ferdinand Zehentreiter danken wir für anregende Diskussionen, die sich nicht zuletzt auf die hohe Qualität der vorliegenden Beiträge ausgewirkt haben. Tatkräftig unterstützt wurden wir von unseren Chairs Max Alt, Nora Eggers, Adrian Fühler, Juliette Christine Gruner, Katja Heldt, Alexandra Röck, Teresa Roelcke sowie von Jörn Steiner an der Technik; außerdem von der Forschungsgruppe populäre Musik sowie der Fachschaftsinitiative Musik und Medien des Instituts für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft (beide Humboldt-Universität zu Berlin).

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I. Musik und Klang als Historie

Musikhistoriographie und Ästhetik Lektüreerfahrungen mit Carl Dahlhaus und Frank Hentschel David Hagen

Welche Rolle spielt es für die historische Erforschung von Musik, dass es sich bei dieser um einen ästhetischen Gegenstand, möglicherweise sogar um ein Kunstwerk handelt? Mit dieser für das Selbstverständnis der historischen Musikwissenschaft zentralen Problematik werde ich mich hier auseinandersetzen, indem ich mich mit zwei Autoren beschäftige, die dazu konträre Positionen einnehmen: Carl Dahlhaus und Frank Hentschel. Während Dahlhaus davon ausgeht, dass der Kunstcharakter der Musik eine für den historiographischen und hermeneutischen Zugriff konstitutive Rolle spielen müsse, weigert sich Hentschel, einen Unterschied zwischen Musikgeschichte und »normaler« Geschichte anzuerkennen. Während für Dahlhaus ästhetische Wertungen von Musik nicht zuletzt auch die historiographische Selektion beeinflussen können und müssen, hat Hentschel in seinen eigenen Arbeiten mitunter gerade ästhetische Normen als ideologische Konstrukte zu verstehen versucht und plädiert entsprechend für eine historische Musikforschung, die zwischen Kunst- bzw. Musikwerken und »nicht-ästhetischen« Dokumenten keinen Unterschied macht. Der von Dahlhaus immer wieder bemühte für die Kunstbzw. Musikgeschichtsschreibung spezifische Doppelcharakter ihrer Gegenstände als Dokument und Kunstwerk steht damit in Frage. Im ersten Teil dieses Aufsatzes werden Dahlhausʼ geschichtstheoretische Überlegungen aus den 1977 erschienenen Grundlagen der Musikgeschichte zum Kunstcharakter und der damit verknüpften Problematik ästhetischer Wertungen zunächst noch einmal genau analysiert. Im zweiten Teil werde ich auf die Kritik Hentschels insbesondere an der Rolle des Kanons bei Dahlhaus eingehen. Im dritten und vierten Teil werden jeweils philosophische Aspekte herausgearbeitet, die in der (posthumen) Kontroverse um Dahlhaus bislang

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nicht oder unzureichend diskutiert wurden: Zunächst werden Parallelen zwischen Hentschels Auseinandersetzung mit Dahlhaus zu dem bereits in den 1970er Jahren intensiv ausgetragenen theoretischen Konflikt zwischen ideologiekritischem und hermeneutischem Denken beleuchtet; dann werde ich Dahlhausʼ immer wieder angedeutete, aber nie systematisch begründete Idee eines »normativen Anspruchs« von Kunstwerken als theoretische Basis ausarbeiten, von der aus die Trennung von Kunstwerk und Dokument sinnvoll erscheint.1

I Geschichten gibt es viele und heute noch einige mehr als 1977, wo das »Alles ist interessant«-Paradigma der Kulturgeschichte noch vergleichsweise wenig Anerkennung fand.2 Warum bei all den Geschichten also ausgerechnet eine Sonder-Theorie der Musikgeschichte? Für Carl Dahlhaus, der in seinen Grundlagen der Musikgeschichte bekanntlich genau dies forderte, liegt der Grund hierfür im Kunstcharakter ihres Gegenstands. Er soll den Sonderstatus der Musik- bzw. Kunstgeschichte3 begründen und veranlasst Dahlhaus dazu, auf einem kategorischen Unterschied zwischen Musik- und »normaler« Geschichtsschreibung zu bestehen, der daher eine gesonderte 1

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Vorab sei noch bemerkt, dass meine Auseinandersetzung mit Dahlhaus eher systematischer und nicht historischer oder fachgeschichtlicher Natur ist. Das Erkenntnisinteresse, das ihr zugrunde liegt, ist die Frage nach der Schlüssigkeit und Aktualität seiner geschichtstheoretischen Überlegungen. Eine historisierende Annäherung, wie sie schon zur Genüge von anderen Autor*innen vorgelegt wurde, mag interessant sein, hilft dabei aber nur begrenzt weiter (vgl. z.B. Anne C. Shreffler, »Berlin Walls. Dahlhaus, Knepler, and Ideologies of Music History«, in: The Journal of Musicology 20 (2003), S. 498-525; John Hepokoski, »The Dahlhaus Project and Its Extra-Musicological Sources«, in: 19th-C entury Music 14 (1991), S. 221-246). Vielmehr gilt es, den dem Dahlhaus’schen Text inhärenten Anspruch, Wahrheiten zu formulieren, ernst zu nehmen und ihn gerade nicht als Dokument – etwa über den Ost-West-Konflikt – auszulegen. Was das genau heißt, wird am Ende dieses Aufsatzes hoffentlich klarer geworden sein. Peter Burke weist auf die massive Ausweitung des kulturgeschichtlichen Gegenstandsbereich vor allem in den 1990er Jahren hin; vgl. Peter Burke, Was ist Kulturgeschichte?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 49. Weil alle Überlegungen Dahlhausʼ zum Sonderstatus der Musikgeschichte auf den Kunstcharakter der Musik rekurrieren, handelt es sich daher strenggenommen gar nicht um einen Sonderstatus der Musikgeschichte, sondern um den Sonderstatus der Kunstgeschichte, zu der die Musik dazugehören würde.

Musikhistoriographie und Ästhetik

Reflexion erfordere. Das »fundamentale Problem«4 der Grundlagen lautet daher: Wie muss Musikgeschichtsschreibung vorgehen, wenn sie die Musik einerseits als ästhetischen Gegenstand bzw. als Kunstwerk, andererseits aber auch als historischen Gegenstand, als Produkt und Teil eines umfassenden historischen Zusammenhangs verstehen will? Damit wird eine Doppelperspektive gefordert, die sowohl die einer Musik »inhärenten« ästhetischen Eigenschaften5 berücksichtigt, als auch Musik mit historischen Fakten politischer, kultureller, sozialer oder geistesgeschichtlicher Art zusammen in eine »erzählbare« Ordnung zu bringen vermag. Die Musik soll als Kunstwerk, das gewissermaßen »für sich selbst« spricht – was das heißt, wird hoffentlich noch klarer werden – ebenso wie als Dokument, das für etwas anderes spricht, zu Wort kommen. Für Dahlhaus kommt alles darauf an, diese Doppelforderung dialektisch-produktiv zu entfalten und das heißt, all ihre Widersprüche theoretisch durchzudiskutieren mit dem Ziel, eine für die historiographische Anwendung praktikable Lösung zu finden: eben sowohl eine »Geschichte der Kunst« als auch eine »Geschichte der Kunst«6 schreiben zu können. Was aber heißt eigentlich »Kunstcharakter«? Wann hat eine Musik Kunstcharakter und wann nicht? Eine prägnante Definition von Kunst sucht man bei Dahlhaus gewiss vergebens, es wird in den Grundlagen aber schnell deutlich, dass Dahlhaus diesen Begriff oft gegen historiographische Ansätze in Stellung bringt, die Kunstwerke auf die eine oder andere Weise in Kontexten beleuchten. Der Kunstcharakter von Musik korrespondiert entsprechend mit einer letztendlich strukturell-immanenten Sicht auf einzelne Werke, die zu verstehen sucht, wie Werke als ästhetische Gebilde »funktionieren« und welchen historischen Wandlungen dieses innerästhetische Dasein unterliegt. Nur aus dieser Perspektive auf Kunst ist es letztendlich zu verstehen, dass Musik für Dahlhaus ästhetisch höher- oder minderwertig sein kann, dass ihr Kunstcharakter zukommen kann oder eben nicht. Kunstcharakter kann einerseits als der rekonstruierbare historische »Sachverhalt« verstanden werden, dass einem Musikwerk zu einem Zeitpunkt der Vergangenheit Kunstcharakter zugesprochen wurde. Damit wird 4 5

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Carl Dahlhaus, Grundlagen der Musikgeschichte, Laaber: Laaber [1977] 2017, S. 24. Ob es überhaupt etwas gibt, was einer Musik inhärent ist, das sei dahingestellt und kann in diesem Zusammenhang kaum diskutiert werden. Wie ich unten noch ausführen werde, lässt sich im Anschluss an Dahlhaus aber m.E. gut dafür argumentieren, dass man an inhärenten (oft auch »immanent« oder »innerästhetisch« genannten) Beschreibungen von Musik festhalten sollte (siehe IV). Dahlhaus, Grundlagen der Musikgeschichte, S. 24ff.

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aber der emphatische Anspruch des Kunstbegriffs, das rein Historische zu transzendieren, eigentlich wieder ganz und gar relativiert, indem Kunsthaftigkeit auf eine bloße diskursiv erzeugte Zuschreibung reduziert wird. Wenn Dahlhaus andererseits den Sonderstatus der Musik- bzw. Kunstgeschichte an der »ästhetischen Präsenz« ihrer Gegenstände festmacht, meint er damit, dass der Kunstcharakter mancher Musik im Hier und Jetzt immer noch zum Tragen komme, dass sie gerade aufgrund ihres Kunstcharakters in die Gegenwart hineinragt. In diesem Fall, den ich im Folgenden noch ausführlich diskutieren werde, erscheint der Begriff des Kunstcharakters also in einem gewissen, noch näher zu untersuchenden Sinn als der von Dahlhaus gesuchte Gegenpol zu einem rein historischen Denken, als Eigenschaft, durch die die Werke der Geschichte enthoben sind.7 In beiden Fällen bekommt die Musikhistoriographie es jedenfalls unweigerlich auch mit ästhetischen Normen und Kriterien zu tun, wenn sie den Begriff des Kunstcharakters nicht unreflektiert im Bereich des Gegebenen belassen will. Im ersten Fall kann sie einen ästhetischen Diskurs historisch rekonstruieren und mögliche Verbindungen zwischen Werken und sich in diesen Diskursen formierenden ästhetischen Werten oder Ideen aufzeigen. Im zweiten Fall sieht sie sich unvermittelt einem gegenwärtigen ästhetischen Diskurs gegenübergestellt, mit dem sie nicht so recht umzugehen weiß: Sollte dieser sie überhaupt beeinflussen? Soll sie ihn unreflektiert übernehmen oder gar aktiv in ihn eingreifen? Dahlhaus diskutiert in den Grundlagen beide Möglichkeiten (Kunstcharakter als historische Zuschreibung oder als ästhetische Präsenz), wobei allerdings die erste weitaus weniger kontrovers scheint und daher hier auch nur kurz angedeutet werden soll. Schon in dem einführenden Kapitel »Geschichtlichkeit und Kunstcharakter« weicht Dahlhaus sogleich die Dichotomie der Kapitelüberschrift auf: Der Kunstcharakter musikalischer Werke sei ein historisches Phänomen und müsse als solches behandelt werden. Das Verhältnis von Geschichtlichkeit und Kunstcharakter habe »Zirkelstruktur«, weil die »kunsttheoretischen 7

Dahlhaus versucht auf diese Weise, eine ästhetische Position auf die Geschichtsschreibung zu übertragen, die in der Musikästhetik durchaus verbreitet ist. An erster Stelle wäre wohl Theodor W. Adornos Ästhetische Theorie und die hier diskutierte Dialektik von Autonomie und »fait social« der Kunst zu nennen (vgl. hierzu auch den Aufsatz von Livia von Samson-Himmelstjerna in diesem Band). Auch Richard Klein versteht musikalische Werke als zwar historisch entstandene, gleichzeitig aber in gewissem Sinne auch »überzeitliche« Gegenstände; vgl. Richard Klein, Musikphilosophie zur Einführung, Hamburg: Junius 2019, S. 155.

Musikhistoriographie und Ästhetik

Prämissen«, die der Begriff des Kunstcharakters voraussetze, selbst geschichtlich und wandelbar seien.8 Was den Kunstcharakter eines Werks ausmacht, soll abhängig von ästhetischen Normen sein, die wiederum selbst zum Gegenstand der historischen Forschung gemacht werden können. Die Musikgeschichtsschreibung erscheint aus dieser Perspektive als Disziplin, die zwar mit ästhetischen Normen operiert, indem sie sie als historischen Strukturzusammenhang erforscht und zeigt, welche Rolle bestimmte Werke in diesem Zusammenhang spielen, die aber diese Normen nicht selbst aufstellt. Diese für den Historiker Dahlhaus wohl sehr beruhigende Idee wird dann insbesondere im Kapitel »Das Werturteil als Gegenstand und Prämisse« weiter vertieft, in dem Dahlhaus ästhetische Werturteile mit dem Weber’schen Konzept der Wertbeziehung zu fassen versucht; sie soll hier aber nicht weiter berücksichtigt werden, weil die große Dialektik von Kunstwerk und Geschichte dort im Grunde dann doch zu Gunsten der Geschichte aufgelöst wird. Methodisch wirklich problematisch wird es erst, wenn Dahlhaus darüber hinaus davon ausgeht, dass der Kunstcharakter der Musik eben nicht restlos historisierbar ist, sondern die Musik vielmehr umgekehrt gerade durch ihren Kunstcharakter das »Historisierbare« gleichsam »transzendiert«. Der Begriff der ästhetischen Präsenz, mit dem Dahlhaus genau diese Idee geschichtstheoretisch zu fassen versucht, ist wohl eines der schwierigsten und problematischsten Konzepte, die er in den Grundlagen entwickelt. Der Begriff changiert zwischen Extremen, von der bloßen Beschreibung einer Trivialität bis zu der normativ extrem aufgeladenen Begründung des »Sonderstatus« einer Musikgeschichte, die einem emphatischen Kunstbegriff gerecht werden soll. Zunächst einmal ist damit nur gemeint, dass die Möglichkeit der ästhetischen Erfahrung eines musikalischen Werkes auch dann noch möglich ist, wenn die Zeit seiner Entstehung längst vergangen und der historische Kontext, sei er politischer, gesellschaftlicher oder sonstiger Art, der Hörer*in kaum mehr bewusst ist. Dahlhaus zufolge ist dieser Sachverhalt jedoch von einer fundamentalen Bedeutung für die Musikgeschichtsschreibung. Wie jede Historiographie, so heißt es weiter, legitimiere sich auch die der Musik aus der Gegenwart heraus: »Die Art der Geschichtsschreibung«, so beruft sich Dahlhaus auf Johann Gustav Droysen, »ist demnach, um adäquat zu sein, da-

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Dahlhaus, Grundlagen der Musikgeschichte, S. 25.

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von abhängig, in welcher Weise der Gegenstand der Darstellung ›in gewissem Sinn noch ist‹«9 . Die Besonderheit der Musikgeschichte soll nun dadurch begründet sein, dass die Musik in der eben erwähnten Weise in der Gegenwart ästhetisch präsent ist. Und weil ästhetische Präsenz sich für Dahlhaus als eine Folge des Kunstcharakters der Werke darstellt, muss die Musikgeschichtsschreibung diesem besondere Rechnung tragen. Werke sind also einerseits Dokumente für etwas und sollten auch entsprechend analysiert werden, sie erschöpfen sich aber keineswegs darin. Erst als ästhetische Gebilde ragen sie ins Jetzt hinein und legitimieren sich für Dahlhaus überhaupt als Teil einer Vergangenheit, deren (kunstwissenschaftliche) Erforschung lohnt. Deshalb kann Musikhistorie, »wenn sie ihrem Gegenstand nicht Gewalt antun soll, von der Tatsache der ästhetischen Gegenwärtigkeit eines Teils der Werke, deren geschichtlichen Zusammenhang sie beschreibt, keinesfalls absehen«.10 Ästhetische Präsenz ist, das wird hier deutlich, eng verknüpft mit einem spezifisch hermeneutischen Verständnis von Tradition, demzufolge gerade so etwas wie Kunstprodukte in einen wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang eingebettet sind, von dem wir weder in der ästhetischen Rezeption noch im wissenschaftlichen Zugriff abstrahieren dürfen. Der Kunstcharakter von Musik ist somit in einem gewissen Sinne tatsächlich der Geschichte enthoben, aber eben nur in dem Sinne, dass er mit dem historischen Zusammenhang, dem diese Musik entstammt, in keinem zwingenden Verhältnis steht, sondern uns als nachkommende Rezipient*innen nur wirkungsgeschichtlich vermittelt verfügbar ist.11

II Folgt man der Einschätzung Frank Hentschels, ist eine derartige Überfrachtung des Präsenzbegriffs mehr als fragwürdig, zumal Dahlhaus noch nicht einmal zufriedenstellend erklären könne, was damit eigentlich gemeint sei.12

9 10 11 12

Ebd., S. 6. Ebd. Siehe hierzu ausführlich III. Frank Hentschel, »Ein musikhistoriographischer Sonderweg? Probleme mit Dahlhausʼ Geschichtstheorie«, in: Friedrich Geiger, Tobias Janz (Hg.), Carl Dahlhausʼ »Grundlagen der Musikgeschichte«. Eine Re-Lektüre, Paderborn: Fink 2016, S. 253-270, hier S. 256.

Musikhistoriographie und Ästhetik

Die Präsenz von älterer bzw. »klassischer« Musik sei zwar durchaus nachweisbar, da offensichtlich Menschen heute noch solche Musik hören, ohne viel über deren historische Hintergründe zu wissen – sei es, »weil sie im Konzertsaal erklingt, weil sie in Cafés als Hintergrundmusik eingesetzt wird« oder »auf Samplern erscheint«13 . Hentschel äußert aber angesichts solcher Beispiele, die ganz bewusst bildungsbürgerliche Kulturkritik aufs Korn nehmen, große Zweifel daran, dass eine derart verstandene ästhetische Präsenz als Basis für ein wissenschaftliches Unternehmen wie die Musikgeschichtsschreibung in Frage kommen kann. Für diese komme es vielmehr »darauf an zu rekonstruieren, was eine Musik in ihrer Zeit bedeutete usw., während es gleichgültig ist, welche Rolle sie in der Gegenwart spielt«14 . Hentschel vertritt somit eine Position, die musikalische Werke als bloße Dokumente versteht und deshalb auch dem Dahlhaus’schen Sonderstatus der Musikgeschichte konsequenterweise nichts abgewinnen kann. Dem Vorwurf der Kunstfremdheit, den Dahlhaus – natürlich nicht Hentschel selbst, aber immer wieder etwa einer Vereinnahmung der Musikgeschichte durch die Sozialgeschichte gegenüber – geäußert hat, glaubt Hentschel sich entziehen zu können: Die historische Erforschung von Musik schließe sehr wohl eine Rekonstruktion ihrer ästhetischen Erfahrung mit ein, bei der »man auch die eigene ästhetische Erfahrung als Zugang integrieren«15 müsse. Dieser Verstehensprozess unterscheide sich aber qualitativ nicht von anderen, nicht-ästhetischen Verstehensprozessen. Hentschels Kritik richtet sich also nicht so sehr gegen die Behauptung, man könne in der Explikation des Kunstcharakters von der ästhetischen Präsenz in der Gegenwart nicht abstrahieren, sondern vielmehr gegen den Sonderstatus der Musikgeschichte, den Dahlhaus damit begründen will.16 Wie bereits erwähnt sieht Dahlhaus aber in der ästhetischen Präsenz nicht nur ein Legitimations-, sondern auch ein Selektionskriterium der histori-

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Ebd., S. 257. Ebd. Ebd. Bedauerlicherweise führt Hentschel nirgendwo aus, wie er sich das vorstellt. Diesen Standpunkt hat Hentschel in dem von ihm jüngst herausgegebenen Grundlagenwerk Historische Musikwissenschaft erneut programmatisch verteidigt. Auch hier vertritt er die These, dass der ästhetische Wert oder das ästhetische Sein einer Musik keinen Einfluss auf die Methode und Selektion der Musikgeschichtsschreibung haben dürfe und somit potenziell jede Musik Teil der Musikgeschichte sein könne; vgl. Frank Hentschel, »Ästhetische Wertung«, in: Frank Hentschel (Hg.), Historische Musikwissenschaft. Gegenstand – Geschichte – Methodik, Laaber: Laaber 2019, S. 217-229.

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schen Forschung. In den Überlegungen zum Kanon tritt dieser Zusammenhang deutlich hervor. Dahlhaus unterscheidet hier »zwischen dem Kanon, den man wählt, und dem Kanon, aus dem man wählt«17 . Während Ersterer vom persönlichen Erkenntnisinteresse der Historiker*in abhänge, solle Letzterer in einer bestimmten Art »von außen« gegeben sein und es ist dieses Verständnis des Kanons, das hier von besonderem Interesse ist. Der Kanon ist demzufolge eine wertende Instanz, in der sich historische und ästhetische Wertungen auf komplexe Weise mischen.18 Es sind aber insbesondere die ästhetischen Aspekte, so Dahlhaus, die für die »Außenbeziehung«19 des Kanons charakteristisch seien. Ob ein Werk ästhetisch bedeutsam und demnach geschichtswürdig ist, entscheide die Historiker*in also nicht allein durch Rekonstruktion von Wertbeziehungen – durch konsequente Historisierung der einem solchen Urteil zugrundeliegenden ästhetischen Normen –, sondern auch mit Blick auf das ästhetische Urteil der Tradition, das der Gegenwart in Form des Kanons mehr oder weniger undurchsichtig vorliegt.20 Auch wenn Dahlhaus hier von Präsenz nicht wörtlich spricht, ist die Denkfigur offenbar identisch: Musikalische Werke sind – als ästhetische Gebilde und nicht als Dokumente – nicht restlos in historische Konstellationen auflösbar, sondern ragen qua ästhetischer Präsenz in die Gegenwart hinein. Die Historiker*in kann und darf davon nicht abstrahieren, wenn sie dem Kunstcharakter ihrer Gegenstände gerecht werden will. Für Dahlhaus ergibt sich die Notwendigkeit des Kanons also aus folgender Gemengelage von Prämissen: 1. Der Kunstcharakter, der in der ästhetischen Präsenz von Musik zur Geltung kommt, lässt sich nicht allein auf historisierbare Wertbeziehungen zurückführen. 2. Daraus folgt, dass die für die historiographische Selektion notwendigen ästhetischen Normen dem historischen Kontext eines Werks nicht einfach »entnommen« werden können. 3. Musikhistoriographie kann selbst keine ästhetischen Urteile begründen bzw. dafür benötigte Normen setzen.

17 18 19 20

Dahlhaus, Grundlagen der Musikgeschichte, S. 109. Vgl. ebd., S. 112f. Ebd., S. 113. Vgl. ebd., S. 115.

Musikhistoriographie und Ästhetik

Das folgende Zitat bringt das Problem noch einmal auf den Punkt: »Musikgeschichtsschreibung ist von sich aus unfähig, ästhetische Urteile, die eine Trennung des Wesentlichen vom Unwesentlichen möglich machen, zu begründen; der Historiker braucht, um nicht im Chaos der Fakten und der beliebig konstruierbaren Zusammenhänge zu ersticken, eine ›von außen‹ gegebene Norm.«21 Weil der Kanon durch Tradition entstanden ist, die die Zeit, aus der ein Werk stammt, mit der Gegenwart wirkungsgeschichtlich verbindet, handelt es sich bei ihm nicht um eine Wertbeziehung, die mit dem jeweiligen Werk selbst in einem unmittelbaren historischen Zusammenhang steht. Der Kanon fungiert deshalb, so die entscheidende Beobachtung von Dahlhaus, als »eine Wertung sui generis, die weder in einer geschichtlichen ›Wertbeziehung‹, die der Historiker rekonstruiert, noch in einer aktuellen ›Wertung‹, die er vollzieht restlos aufgeht«22 . Für Hentschel ist diese skizzierte Überlegung allerdings ein blanker Selbstwiderspruch. Dahlhausʼ Bemerkung, dass der Kanon weder eine subjektive Wertung noch eine historisch rekonstruierbare Wertbeziehung darstelle, stimmt Hentschel zwar zu, meint aber, gerade deshalb könne er unmöglich als »›Prämisse der Musikgeschichtsschreibung‹ fungieren, ohne deren Wissenschaftscharakter zu unterminieren«23 . Der Kanon hänge weder »mit dem Wertesystem zusammen, in das die Komponisten hineingehören«24 , noch sage er etwas über die rein historische Bedeutung aus, weil ästhetische und mitunter ideologisch-politische Werte in seine Etablierung mit eingeflossen seien.25 Wie schon die Präsenz von Musik – aus Hentschels Sicht ein höchst kontingentes Phänomen – keinen Sonderstatus der Musikgeschichtsschreibung begründen könne, so erscheine auch »die Möglichkeit, […] einen irgendwann unbegründet, ideologisch oder naturwüchsig und unabhängig von der Zeit, mit der man sich beschäftigt, entstandenen 21 22 23 24 25

Ebd. Ebd. Hentschel, »Ein musikhistoriographischer Sonderweg?«, S. 260. Ebd., S. 261. Hentschel hat in seiner Habilitation ausführlich gezeigt, dass gerade die ästhetischen Normen, die der deutschen Musikgeschichtsschreibung bis 1871 zugrunde lagen, eine ideale Möglichkeit für die ideologische Infiltrierung des musikhistorischen Diskurses geboten haben; vgl. Frank Hentschel, Bürgerliche Ideologie und Musik. Politik der Musikgeschichtsschreibung 1776-1871, Frankfurt a.M.: Campus 2006, insbes. Kap. I, 2.

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Kanon ausgerechnet zur ›Prämisse‹ der Historiographie zu erheben, als […] abwegig«26 .

III Aus der Perspektive Hentschels erscheint Dahlhausʼ Idee von Musikgeschichte bisweilen tatsächlich als verstaubtes Relikt bürgerlicher Ideologie. Daran mag viel Wahres sein, doch es lohnt sich zu versuchen, den Präsenzbegriff insbesondere mit Blick auf dessen theoretische Hintergründe besser zu verstehen. Tut man das, so scheint die radikale Ablehnung Hentschels zwar nicht falsch, allemal aber unterkomplex. Zunächst wird schnell klar, dass Dahlhaus mit ästhetischer Präsenz etwas anderes meint als die Tatsache, dass klassische Musik auf Samplern erscheint. Ästhetische Präsenz ist meines Erachtens überhaupt kein empirischer Begriff. Zwar hat er wie erwähnt eine legitimierende Funktion, für die er in der Tat durchaus empirisch verstanden werden kann, dahinter steht aber noch eine ganz andere, viel grundlegendere Überzeugung: Dahlhaus ist wie schon angedeutet Hermeneutiker und viele der Überlegungen, die er in den Grundlagen entwickelt, zeugen eindeutig von einer intensiven Rezeption der Hermeneutik Hans-Georg Gadamers.27 Dazu gehört vor allem auch Gadamers Verständnis des Verhältnisses von Tradition und geisteswissenschaftlichem Verstehen und ich denke, dass sich die »Kontroverse« zwischen Hentschel und Dahlhaus am besten in ihrem Verhältnis zu diesem hermeneutischen Grundgedanken fassen und kritisch beurteilen lässt. Gadamer entwickelt seine Hermeneutik bekanntlich zu großen Teilen als Abarbeitung am Historismus des 19. Jahrhunderts und unterzieht die Objektivierung der Vergangenheit, die dieser betreibt, einer ausführlichen

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Hentschel, »Ein musikhistoriographischer Sonderweg?«, S. 262. Ivana Rentsch geht sogar so weit zu behaupten, Dahlhaus habe »Gadamers philosophisch-historische Hermeneutik zu weiten Teilen in eine musikhistorische Hermeneutik überführt« (Ivana Rentsch, »›Historische Hermeneutik‹ – Dahlhaus, Gadamer und das Missverstehen musikalischer Rhetorik«, in: Geiger/Janz (Hg.), Carl Dahlhausʼ »Grundlagen der Musikgeschichte«, S. 123-136, hier S. 128). Zum Verhältnis Dahlhaus–Gadamer vgl. ferner Signe Rotter-Broman, »›Historismus und Tradition‹ – Grundlegung der (musik-)historischen Methode im Dialog mit ›Poetik und Hermeneutik‹«, in: ebd., S. 95-122.

Musikhistoriographie und Ästhetik

Kritik.28 Insbesondere bei Wilhelm Dilthey, in dessen Werk die »Aporien des Historismus«29 am deutlichsten zutage treten sollen, sieht Gadamer den verhängnisvollen Irrtum darin, dass »die Erforschung der geschichtlichen Vergangenheit als Entzifferung und nicht als geschichtliche Erfahrung gedacht«30 werde. Diltheys Projekt, die historische Wissenschaft am Vorbild der naturwissenschaftlichen Erkenntnis methodologisch zu begründen, scheitert Gadamer zufolge an der Abstraktion des historischen Objekts von der vermeintlich ahistorischen Position des erkennenden Subjekts. Demgegenüber betreibt Gadamer eine emphatische Rehabilitierung des Traditionsbegriffs,31 die auf die Auflösung des für den Historismus ebenso charakteristischen »abstrakten Gegensatzes zwischen Tradition und Historie, zwischen Geschichte und Wissen von ihr«32 zielt. Die Wissenschaft könne keinen harten Gegensatz zur alltäglichen und unreflektierten Wirkmacht der Tradition bilden. Geschichtlich bedingte Vorurteile und wissenschaftlich begründete Urteile über die Geschichte entspringen für Gadamer der gleichen hermeneutischen Grunderfahrung, die sich dann im dritten Teil von Wahrheit und Methode als ontologische Grundstruktur des menschlichen Daseins entpuppen wird. Dahlhaus knüpft an diese Überlegungen explizit an.33 Gadamers Polemik gegen die historistische »Abstraktion vom normativen Anspruch einer Überlieferung«34 versteht er offenbar ähnlich wie die eigene These, in der ästhetischen Präsenz ihrer Gegenstände gründe der Sonderstatus der Musikgeschichte. Das wird u.a. deutlich, wenn Dahlhaus (gegen Gadamer) moniert, »daß historische Distanzierung den ästhetisch-normativen Anspruch, den ein Kunstwerk erhebt – um seiner selbst willen in ästhetischer Präsenz da zu sein und nicht als bloßes Dokument über einen vergangenen Zustand analysiert zu werden –, keineswegs immer auslöscht und verleugnet«35 . Ästhetische Prä28

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Siehe hierzu insbesondere die Auseinandersetzung mit Wilhelm Dilthey in HansGeorg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen: Mohr Siebeck [1960] 1972, II. Teil, Kap. I, 2. Ebd., S. 205. Ebd., S. 228. Siehe insbes. ebd., S. 261-269. Ebd., S. 267. Vgl. die einzige und kurze, aber sehr dichte Diskussion von Gadamers Traditionsverständnis: Dahlhaus, Grundlagen der Musikgeschichte, S. 70-72. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 267. Dahlhaus, Grundlagen der Musikgeschichte, S. 72, Herv. d. Verf. Dass sowohl Ivana Rentsch als auch Signe Rotter-Broman von dem zitierten Einwand verwirrt sind, ver-

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senz ist für Dahlhaus also weit mehr als eine empirische Tatsache. Vielmehr scheint Dahlhaus damit dasjenige begrifflich zu fassen, was das Kunstwerk seiner historischen Kontingenz enthebt und einen hermeneutischen Zugriff im Gadamer’schen Sinne erfordert, der gerade nicht auf einer Distanzierung des Verstehenden beruht.36

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wirrt wiederum mich. Während Rotter-Broman die Frage, »welche Gadamer-Passagen damit kritisiert werden«, in den Raum stellt (Rotter-Bromann, »Historismus und Tradition«, S. 115), kommentiert Rentsch: »ein eigenartiger Vorwurf, wenn man bedenkt, dass Gadamer seinen Hermeneutik-Ansatz dezidiert an der Kunst erprobt hatte, genau weil die ästhetische Theorie ›die eindringlichste Mahnung an das wissenschaftliche Bewusstsein‹ darstelle, indem es die ›Grenzen‹ aufzeige« (Rentsch, »›Historische Hermeneutik‹«, S. 127). Das Argument Rentschs hat m.E. mit der eigentlichen Aussage von Dahlhaus wenig zu tun: Dieser wendet sich hier gegen die scharfe Gegenüberstellung von historischer Distanzierung bzw. Objektivierung auf der einen Seite und Traditionsaneignung aus dem Bewusstsein der Geschichtlichkeit und Begrenztheit des eigenen Standorts heraus auf der anderen Seite. Dies gilt bei Gadamer für die Kunst genauso wie für alle anderen Objekte des Verstehens. Dass Gadamer der Kunst eine heuristische Vorrangstellung einräumt, entkräftet also den Einwand von Dahlhaus überhaupt nicht. Dieser zweifelt die Triftigkeit der Gegenüberstellung von Aneignung und Distanzierung nicht an, sondern gibt lediglich zu bedenken, dass diese in der historischen Forschungspraxis nicht immer so problematisch sei, wie man das als Philosoph*in glauben könne. Es ist allerdings keineswegs sicher, ob Gadamer keine Einwände gegen Dahlhaus Parallelführung von hermeneutischer Traditionsaneignung und ästhetischer Präsenz hätte. Gadamer selbst entwickelt ja seine Hermeneutik zunächst am Beispiel der Kunst, indem er aufzeigt, wie sich im 19. Jahrhundert, von Kant bereits maßgeblich in Gang gebracht, ein ästhetisches Bewusstsein herausgebildet habe, dem er den schwerwiegenden Fehler der sogenannten »ästhetischen Unterscheidung« (Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 81) vorwirft. Damit meint er die für dieses Bewusstsein typische Abstraktionsleistung, »die allein auf die ästhetische Qualität als solche hin auswählt. Sie vollzieht sich im Selbstbewußtsein des ›ästhetischen Erlebnisses‹. Worauf das ästhetische Erlebnis gerichtet ist, soll das eigentliche Werk sein – wovon es absieht, sind die ihm anhaftenden außer-ästhetischen Momente: Zweck, Funktion, Inhaltsbedeutung.« (Ebd.) Gadamers Gegenentwurf versteht sich als eine hermeneutische Ästhetik, die Kunstwerke im Prinzip als Texte auffasst, deren Wahrheitsgehalt sich nicht fixieren, sondern wiederum nur aus der eigenen Geschichtlichkeit heraus im Akt der Horizontverschmelzung von Werk und Verstehendem erfassen lässt. Ob sich Dahlhausʼ Begriff der ästhetischen Präsenz, der vermutlich eher strukturell als semantisch zu verstehen ist, mit einer derartigen Wahrheitsästhetik verträgt, sei dahingestellt. Erstens sagt Dahlhaus dazu wenig – er ist ja Historiker –, zweitens spielt diese Frage hinsichtlich der Kontroverse mit Hentschel keine so zentrale Rolle wie die Legitimationsfrage. Und diese ist mit ihrem positiv konnotierten Traditionsverständnis eindeutig hermeneu-

Musikhistoriographie und Ästhetik

Die oben erwähnte Kritik sowie der – mit einer ironischerweise nun nicht mehr strategisch motivierten Naivität geäußerte – Gegenvorschlag Hentschels, »sich einem historisch angemessenen Verständnis anzunähern« und »die ästhetische Erfahrung zu rekonstruieren«37 , müsste nach der Auffassung von Dahlhaus und Gadamer das Spezifische des Kunstgegenstands also notwendig verfehlen. Wenn Hentschel, wie oben skizziert, die ästhetische Präsenz auf ihre empirischen Korrelate untersucht und daraufhin feststellt, dass hierauf keine Wissenschaft basieren könne, so ist das zwar in sich konsequent, schenkt aber den hermeneutischen Tiefenstrukturen des Präsenzgedankens gar keine Beachtung. Unabhängig davon, wie die hermeneutische Lehre von der Tradition zu bewerten ist: eine Kritik an Dahlhausʼ historiographischer Konzeption müsste meines Erachtens in jedem Fall zunächst einmal dort ansetzen. Hätte Hentschel das getan, so wäre ihm auch klar geworden, dass Dahlhaus mitnichten an »eine gewisse – nie näher bestimmte – Zeitlosigkeit des ästhetischen Urteils glaubt«38 . Vor dem skizzierten Hintergrund wird klar, dass Dahlhaus mit einer Ästhetik arbeitet, die in jenem wirkungsgeschichtlichen Sinne geradezu radikal zeitlich ist, weil sie eben die Zeitlichkeit des verstehenden Subjekts miteinbezieht, ohne aber dabei, wie Hentschel das selbst vertritt, dem Hume’schen Grundsatz »all sentiment is right« zu folgen, der mit einem radikal historisierenden Ansatz oft einhergeht.39 Mit Blick auf den hermeneutischen Hintergrund der Dahlhaus’schen Theorie ist die kritische Auseinandersetzung, die Hentschel führt, nicht nur oberflächlich, sie ist darüber hinaus nicht einmal neu, wie mit Blick auf die Debatten der 1970er Jahre zwischen Gadamer und Jürgen Habermas deutlich wird.40 Ein Vergleich von Hentschels Dahlhauskritik und Habermasʼ Gadamerkritik ist erhellend. Dass es sich bei der ästhetischen Präsenz um

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tisch. Zum Gadamer’schen Verständnis von Kunst als Text vgl. z.B. Ruth Sonderegger, »Wie Kunst (auch) mit der Wahrheit spielt«, in: Andrea Kern, Ruth Sonderegger (Hg.), Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 209-238, insbes. S. 209-217. Hentschel, »Ein musikhistoriographischer Sonderweg?«, S. 257. Zwar bemerkt Hentschel, dass man dabei »auch die eigene ästhetische Erfahrung als Zugang integrieren« könne, Ziel bleibe aber ein »historisch angemessenes Verstehen« (ebd.). Hentschel, »Ein musikhistoriographischer Sonderweg?«, S. 263. Vgl. Hentschel, Bürgerliche Ideologie und Musik, S. 38f. Siehe hierzu Jürgen Habermas, Dieter Henrich u.a. (Hg.), Theorie-Diskussion. Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971.

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ein Produkt von Tradition handelt, dürfte unumstritten sein. Doch so wie diese Tradition für Dahlhaus eine konstitutive und unhintergehbare Bedingung des historisch-hermeneutischen Verstehens darstellt, so steht sie für Habermasʼ ideologiekritischen Ansatz der historischen Erkenntnis im Wege: »Die Objektivität eines Überlieferungsgeschehens, das aus symbolischem Sinn gemacht ist, ist nicht objektiv genug.«41 Diese Forderung Habermasʼ scheint auch Hentschels Ansatz zu leiten. Habermasʼ kritische Bemerkungen zu Gadamer beziehen sich in erster Linie auf den universellen Charakter der Sprachlichkeit: Die Eingeschlossenheit in das Überlieferungsgeschehen, das niemals von einem absoluten Bewusstsein aus als Ganzes erschlossen werden könne, wie das noch Hegel gedacht hatte, laufe in der Konsequenz auf einen »relativen Idealismus«42 hinaus. Die »Metainstitution der Sprache als Tradition« habe zwar durchaus einen normativen Charakter, der in der Tat alle gesellschaftlichen Institutionen und mithin das hermeneutische Verstehen bestimme, sei aber durchaus kein Letztes, da sie »ihrerseits abhängig von gesellschaftlichen Prozessen« sei, »die nicht in normativen Zusammenhängen aufgehen. Sprache ist auch ein Medium von Herrschaft und sozialer Macht.«43 Obwohl diese philosophischen Überlegungen bei Hentschel keine Rolle spielen, so ist doch mehr als deutlich, dass seine Forschung in deren anti-hermeneutischer Erbschaft einzuordnen ist. Sie zielt auf ein Ausbrechen aus dem Überlieferungsgeschehen: Die Überlieferung, also das in sprachlicher Form gegebene Material, wird in Hentschels großer Studie zur Musikgeschichtsschreibung auf eine Weise durchdrungen, dass diejenigen Mechanismen und Interessen erkennbar werden, die außerhalb des sprachlichen Sinnzusammenhangs der Texte stehen (wie etwa Sprache als Herrschaftsinstrument).44 Das Prinzip ist dabei genau das Gegenteil des hermeneutischen Vorgriffs auf Vollkommenheit: Es ist gewissermaßen eine Verdachtshermeneutik, die immer erst einmal davon ausgeht, dass der Text von sich aus unvollständig ist und auf die unausgesprochenen und möglicherweise unbewussten gesellschaftlichen Mechanismen angewiesen bleibt, um überhaupt verständlich zu sein. Und diese Kontroverse, die sich auf grundsätzliche Weise am Begriff der Tradition entzündet, wirkt direkt auf 41

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Jürgen Habermas, »Zu Gadamers ›Wahrheit und Methode‹«, in: Jürgen Habermas, Dieter Henrich u.a. (Hg.), Theorie-Diskussion. Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971, S. 45-56, hier S. 52. Ebd. Alle Zitate ebd., Herv. i. O. Vgl. Hentschel, Bürgerliche Ideologie und Musik, passim.

Musikhistoriographie und Ästhetik

die Problematik der ästhetischen Präsenz zurück. Während Dahlhaus dieser einen für die Musikhistoriographie grundlegenden Charakter aufgrund der Tradition zuspricht, ist es für Hentschel gerade diese Tradition, die – kritisch genug betrachtet – gegen einen solchen grundlegenden Charakter spricht. Die Idee, dass musikalische Werke einen Kunstcharakter aufweisen können, der – zumindest heuristisch – vom historisch-gesellschaftlichen Kontext differenziert werden muss, ist Hentschel zufolge eine klar identifizierbare Erblast des bürgerlichen Autonomiekonzepts. Dass Dahlhaus ein derartiges historisch relativierbares und begrenztes ästhetisches Konzept zum Axiom der Musikhistoriographie umdeutet und somit universalisiert, offenbare den problematischen Kern hermeneutischer Traditionsaneignung: »Dahlhaus erweist sich […] als Gefangener einer bildungsbürgerlichen Ideologie des 19. Jahrhunderts. Autonomieprinzip, Kunstbegriff und hermeneutisches Verstehenskonzept sind die zentralen Symptome dieser Gefangenschaft.«45 Für Hentschel gehört also gleichsam alles zusammen: Die historiographischen Konzepte, auf die Dahlhaus aufzubauen versucht und zu denen Autonomie mit Sicherheit in einem komplexen Sinne gehört, würden von diesem nicht in ihrer Kontingenz und Partikularität reflektiert, ja Hentschel bezeichnet diese Konzepte sogar als Ideologie.46 Nun könnte man mit Recht einwenden, dass Dahlhaus diese Kritik in seiner Auseinandersetzung mit dem Marxismus schon antizipiert und durchaus auch reflektiert hat und dass er letztendlich gar nicht so radikal auf den autonomen Kunstcharakter pocht, wie manche seiner ideologiekritischen Rezensent*innen anzunehmen scheinen. Dahlhaus sieht, wie Hentschel selbst betont, durchaus die historische Gebundenheit der ästhetischen Ideen, die das Axiom der Präsenz musikalischer Werke bedingen.47 Er bemüht sich in den Grundlagen, wie insbesondere in seiner Konzeption eines strukturgeschichtlichen Ansatzes deutlich wird,48 schließlich doch immer wieder um einen Ausgleich zwischen ästhetischen und sozialgeschichtlichen Perspektiven. Das 45 46

47 48

Hentschel, »Ein musikhistoriographischer Sonderweg?«, S. 265. Natürlich ist diese Argumentation Hentschels nicht so trivial, wie es den Anschein hat, kann hier aber nicht weiter vertieft werden. Es wäre v.a. zu fragen, was eigentlich das spezifisch Ideologische am Autonomiekonzept ist, oder andersherum: warum der mit bildungsbürgerlichen Ideologien (wie Hentschel sie in seiner Arbeit behandelt) in Verbindung stehende Ursprung ästhetischer Konzepte automatisch dafür spricht, diese Konzepte als falsch oder inadäquat abzulehnen. Vgl. ebd. S. 266f. Vgl. Dahlhaus, Grundlagen der Musikgeschichte, Kap. 9.

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ändert für Hentschel aber nicht viel an der Schieflage: Die Oppositionen, die Dahlhausʼ Überlegungen leitmotivisch durchziehen – Kunst und NichtKunst, artifizielle und Trivialmusik, Inneres und Äußeres der Werke –, werden zwar erkannt und relativiert, bleiben jedoch, so Hentschel, immer zugunsten der einen Seite hin wertend gewichtet. Symptomatisch dafür sei die Tatsache, »dass das Autonomieprinzip ein über das gesamte Buch hinweg stets wiederkehrendes Thema darstellt, während die Beteuerung, dass soziologische Ansätze gleichberechtigt seien, nur punktuelle Behauptungen bilden.«49 Hentschels Ablehnung der wissenschaftlichen Indienstnahme ästhetischnormativer Begriffe wie »Autonomie«, »Werk«, »Artifizialität« oder »Präsenz« führt ihn also konsequenterweise zu der Schlussfolgerung, dass schon die für Dahlhaus zentrale Ausgangsdichotomie Dokument/Kunstwerk unzulässig ist. Für Letzteres, das Kunstwerk also, scheint, einmal dekonstruiert, in der historischen Wissenschaft kein Platz mehr zu sein: »Für eine Geschichtswissenschaft sind Werke per definitionem Dokumente. […] Das heißt freilich nicht, dass man annehmen müsste, jegliches Element eines Werkes befinde sich in Abhängigkeit sozialer, gesellschaftlicher oder anderer kultureller Faktoren. Doch der kulturwissenschaftlich nicht-erklärliche Rest ist eher das, was man der Psychologie überlassen sollte, anstatt ausgerechnet darin das spezifisch Musikhistorische zu suchen.«50

IV Es ist keine Frage, dass die ideologiekritischen Überlegungen Hentschels einen wertvollen und längst überfälligen Beitrag zur Theoriediskussion der historischen Musikwissenschaft geleistet haben. Eine theoretische Perspektive für eine »Musikwissenschaft als Kunstwissenschaft«51 muss sich mit Hent-

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Hentschel, »Ein musikhistoriographischer Sonderweg?«, S. 267, Fußnote. Vielversprechender als dieses dann doch eher psychologisierende Argument bzw. Verdacht wäre es, einmal die behauptete Hierarchie von immanent-ästhetischer und historisch-kontextualisierender Betrachtungsweise anhand der tatsächlichen historiographischen Werke Dahlhausʼ, z.B. der Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, zu überprüfen. Ebd., S. 269. Diese Formulierung stammt aus Tobias Janz, Zur Genealogie der musikalischen Moderne, Paderborn: Fink 2014, S. 15ff.

Musikhistoriographie und Ästhetik

schels Kritik an Dahlhaus auseinandersetzen, immerhin wirft sie mit dem Angriff auf Dahlhausʼ Unterscheidung Kunstwerk/Dokument indirekt auch die Frage auf, wozu es dann eigentlich noch der Musikwissenschaft als (historischer) Sonderdisziplin bedarf. Wenn Musik nur als Dokument für übergreifende historische Kontexte erforscht werden soll, dann könnte es ja sein, dass »normale« Historiker*innen diese Aufgabe genauso gut, wenn nicht sogar besser bewältigen könnten. Ich möchte hier abschließend einen Weg andeuten, wie man ein Festhalten an der Unterscheidung Kunstwerk/Dokument und damit letztendlich auch an ästhetischer Autonomie als historiographischem Konzept theoretisch fundieren könnte. In den Grundlagen finden sich dazu immer wieder Überlegungen, die ausgesprochen komplexe geschichtstheoretische und -philosophische Probleme scheinbar mühelos – und oft in Parenthesen – abhandeln. Darunter fällt auch eine Formulierung, mit der Dahlhaus die Unterscheidung Kunstwerk/Dokument umschreibt, und zwar bezeichnet er dort, wie oben bereits zitiert, den Anspruch eines Werkes, »um seiner selbst willen in ästhetischer Präsenz da zu sein und nicht als bloßes Dokument über einen vergangenen Zustand analysiert zu werden«, als »ästhetisch-normativen Anspruch, den ein Kunstwerk erhebt«52 . Diese Bezeichnung ist eine Abwandlung einer ebenfalls oben bereits zitierten Formulierung Gadamers, in der die Rede ist vom »normativen Anspruch einer Überlieferung«53 . Hier werden drei meines Erachtens sehr wichtige und leider nicht systematisch ausgeführte Punkte gemacht, die ich hier ausblickartig weiterdenken möchte: Erstens sieht Dahlhaus offensichtlich eine Parallele zwischen dem Anspruch von Kunstwerken auf ästhetischen Zugriff und dem Anspruch der Überlieferung, wie Gadamer sie versteht, d.h. dem Anspruch überlieferter Texte. Zweitens versteht er den Kunstcharakter und den damit einhergehenden historiographischen Zugriff als etwas, das von den Gegenständen gleichsam »eingefordert« wird, d.h. als einen objektiv gerechtfertigten Zugriff oder vorsichtiger formuliert: als einen Zugriff, der in gewisser Weise »den Dingen gerecht wird«. Und drittens handelt es sich bei diesem Anspruch, der auf mysteriöse Weise von den Dingen selbst gestellt wird, um ein normatives Phänomen.

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Dahlhaus, Grundlagen der Musikgeschichte, S. 72. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 267.

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1. Musikwerke als Texte? Aus den Grundlagen geht nicht klar hervor, wie genau sich Dahlhaus auf Gadamer bezieht und welche Differenzen, zumal musikspezifischen, er zwischen seiner musikhistorischen Hermeneutik und der Gadamers sieht. Es lohnt sich aber, in Bezug auf die Idee des »ästhetisch-normativen Anspruchs« der Frage nachzugehen, ob dieser vergleichbar ist mit dem, was Gadamer als »normativen Anspruch« der Überlieferung – und das heißt bei ihm: Texte – bezeichnet. Gadamer richtet sich damit gegen die Vorstellung, Texte in historistischer Manier gänzlich aus ihrem historischen Kontext heraus zu erklären, und setzt dem die Idee eines Wahrheitsanspruchs der Texte entgegen. Ohne hier in die Tiefe von Gadamers zu großen Teilen durchaus fragwürdiger Theorie zu gehen, denke ich, dass darin ein ganz entscheidender Aspekt des hermeneutischen Verstehens liegt, der uns helfen kann, Dahlhausʼ Dualismus von Kunstwerk und Dokument und den entsprechenden historiographischen Zugriffen besser zu verstehen und zu fundieren. Hält man es nämlich mit Texten, vor allem philosophischen Texten, so scheint eine solche Trennung historiographischer Zugriffe auf den ersten Blick einleuchtend. Die Philosophiehistoriographie scheint ja vor einem ähnlichen Problem zu stehen, wie Dahlhaus es zu Beginn der Grundlagen konstatiert, nämlich eine Reihe von in sich geschlossenen Texten in einen historischen Zusammenhang, in eine erzählbare Konstellation zu bringen – also eine Geschichte der Philosophie und eine Geschichte der Philosophie zu schreiben. Das wäre aber unbefriedigend, würde sie einzig den dokumentarischen Charakter dieser Texte beleuchten. Die Philosophie der Vergangenheit ist nicht nur deshalb interessant, weil sie etwas über menschliche Kulturen aussagt. Philosophische Texte müssen zunächst immer auch als Texte verstanden werden, die wahre Aussagen über die Welt machen möchten und somit gerade nicht kontextualisiert oder historisiert werden wollen. Wer also eine Geschichte der Philosophie schreiben möchte, muss einerseits als Philosoph*in arbeiten, die den untersuchten Texten gewissermaßen als philosophische Gesprächspartner*in gegenübertritt, andererseits muss sie aber auch historisch arbeiten und das, was in diesen Texten als Wahrheit behauptet wird, als Ausdruck von historischen Strukturen welcher Art auch immer begreifen. Ähnlich, denke ich, lässt sich auch Dahlhausʼ Festhalten an besagtem Dualismus verstehen. Der Vergleich hat natürlich Lücken: Insbesondere ließe sich diskutieren, was oder wer im Falle der Musikhistoriographie der Philosoph*in

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entspricht. Zumindest aber lässt sich festhalten: Das ästhetische Verstehen in historiographischer Absicht bedarf eines Zugriffs auf Musik, der eher in der Nähe des Nachvollzugs musikalischen Sinns zu suchen wäre als im historischkontextualisierenden Denken.54 Manche Kunstwerke können in diesem Sinne als Objekte verstanden werden, die im metaphorischen Sinne etwas »aussagen« – etwas, das um ernst genommen zu werden, immer auch eine gewisse »Abstraktion« vom historischen Kontext verlangt. Was das genau ist, ist natürlich eine offene Frage. Was Dahlhaus angeht, liegt es wie bereits erwähnt nahe, dass die Rede von immanent musikalischen Sachverhalten meist auf eine musikalisch-strukturelle Perspektive hinausläuft. Beide Verfahren – ästhetisch-hermeneutisches »Verstehen« und historisierend-kontextualisierendes »Erklären« – greifen trivialerweise immer ineinander und Dahlhaus hat die »vertrackte Dialektik« beider in den Grundlagen erschöpfend diskutiert. Musik sozialgeschichtlich zu kontextualisieren bleibt lückenhaft, so Dahlhaus immer wieder mit Nachdruck, wenn man nicht zumindest ein minimales Verständnis davon besitzt, wie diese Musik als Musik funktioniert. Andersherum ist es schwer und auch gar nicht wünschenswert, bei der ästhetischen Analyse einer Musik von dem historischen Wissen, das man immer schon irgendwie mitbringt, zu abstrahieren. Inwiefern handelt es sich aber bei dieser Trennung dennoch nicht um eine bloß heuristische, sondern um eine, die auf eine noch zu klärende Weise dem Gegenstand auch adäquat ist?

2. Objektivität Um ein populäres Beispiel aufzugreifen: Ist die Analyse der Zweiten Wiener Schule im Kontext der Entwicklung und Bewältigung bestimmter ästhetischer »Probleme« oder »Ideen« objektiv? Die schnelle und einfache Antwort darauf ist, dass auch der autonome Raum, in dem sich die Entwicklungen abspielen, die sich immanent-ästhetisch beschreiben lassen, auf paradoxe Weise historisch bedingt ist.55 Dass die hier zur Diskussion stehende ästhetisch-immanente Beschreibung auf Phänomene angewiesen ist, bei denen 54

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Die hierzu diskutierten Konzepte sind kaum zu überschauen und theoretisch äußerst vielfältig. Verwiesen sei nur exemplarisch auf den Sammelband von Alexander Becker, Matthias Vogel (Hg.), Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. Vgl. hierzu z.B. die klassische Position von Peter Bürgers Theorie der Avantgarde (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974). Siehe hierzu im Kontext von Dahlhaus: Richard Klein, »›Über die ›relative Autonomie‹ der Musikgeschichte‹ – Carl Dahlhaus und die Außen-

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überhaupt sinnvollerweise die Rahmenbedingungen für autonome Prozesse gegeben sind, dürfte mehr oder weniger unstrittig sein. Was das im Detail heißen kann, muss hier notwendigerweise offen bleiben. Ohnehin war Dahlhaus der Auffassung, dass man selbst in Fällen, in denen sich Autonomie als Wert, Wertbeziehung oder gar historische Tatsache rekonstruieren lässt, immer wieder auf musikhistorische »Sachverhalte« stößt, die sich verschiedenen Narrativen oder Erklärungsansätze zugleich fügen, ohne dass die historischen »Fakten« – was auch immer man darunter versteht – dabei eine Version definitiv verifizieren könnten. Somit stellt sich die Frage, inwiefern konkurrierende historische Erklärungsansätze in eine Hierarchie gebracht werden können, die mit den objektiven Gegebenheiten selbst in Verbindung steht. Dies war für Dahlhaus u.a. auch deshalb von großem Interesse, weil sich in den Grundlagen bekanntlich viele geschichtstheoretische Überlegungen immer auch an Positionen abarbeiten, die eine solche Hierarchie postulieren, und es ist gerade diese Frage nach der »Objektivität« oder dem »wahren Charakter« geschichtlicher Prozesse, die gleichsam alle theoretischen Auseinandersetzungen zwischen Dahlhaus und seinen »Gegnern« durchzieht. In der für Dahlhaus damals besonders präsenten marxistisch-orthodoxen Historiographie, aber auch in der Sozialgeschichte, löste man dieses Problem, indem man sich einfach auf eine Art Meta-Theorie der Gesellschaft berief, die eine solche Hierarchie postuliert (in ersterem Fall die primäre Bedeutung materieller bzw. ökonomischer Prozesse, gegenüber denen ästhetische Probleme und Entwicklung als sekundär und – je nachdem wie »vulgär« der Marxismus – als abhängig erscheinen).56 Dahlhaus stellt aber mit einigem Recht die Frage, wie aus Sicht der Historiographie eine Hierarchie von Erklärungen eigentlich gerechtfertigt werden könne, und kommt zu dem Schluss, dass dies auf keinen Fall mit Blick auf irgendeine »ontologische« Hierarchie geschehen dürfe.57 Denn ganz unabhängig von der im wahrsten Sinne des Wortes metaphysischen Frage, was denn die geschichtliche Objektivität eigentlich sei – ökonomische Gesetzmäßigkeiten, psychologische oder neuronale Prozesse,

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welt der Werke«, in: Geiger, Janz (Hg.), Carl Dahlhausʼ »Grundlagen der Musikgeschichte«, S. 157-178. Dahlhaus diskutiert seine Sicht auf das ursprünglich von Friedrich Engels stammende Konzept der »relativen Autonomie« und seine vulgär-marxistische Verzerrung im Kap. 8 »Über die ›relative Autonomie‹ der Musikgeschichte« (Dahlhaus, Grundlagen der Musikgeschichte, S. 127-152) Vgl. ebd., S. 98f.

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Elementarteilchen? –, sei im Hinblick auf historische Erklärung eher pragmatisch zwischen ontologisch erst einmal gleichberechtigten Weisen des Sprechens über einen Sachverhalt zu entscheiden.58 Es handelt sich also weniger um eine Hierarchie als vielmehr um eine bewusste Gewichtung bestimmter historiographischer Strategien, die allerdings laut Dahlhaus zu großen Teilen nicht in der Sache, sondern im Erkenntnisinteresse begründet ist. Diese Verwechslung von ontologischer und pragmatischer Hierarchie, die Dahlhaus damals insbesondere den Verfechter*innen der Sozialgeschichte vorgeworfen hat, lässt sich meines Erachtens auf historiographische Ansätze wie die Hentschels übertragen: Die »strikte Abwehr tonaler Momente scheint eine Reaktion auf die zeitgenössische Popmusik zu sein, von der man sich vehement absetzen möchte. Auch hier entpuppt sich ein scheinbar ›innermusikalisches‹ Element als soziale Funktion.«59 In dieser Formulierung scheint wieder jene ontologische Hierarchie durch: Nicht nur wird behauptet, dass man mit der Analyse von Atonalität im Kontext sozialer Distinktion eine aufschlussreiche und sogar empirisch abgesicherte Erklärungsmöglichkeit habe (was völlig in Ordnung wäre), Hentschel scheint darüber hinaus auch zu unterstellen, dass damit irgendetwas darüber gesagt sei, wie sich die Dinge »wirklich« verhalten, und somit auch alternative Ansätze widerlegt seien. Mit der Geste des »Das sind doch alles eigentlich nur …« soll also das Autonome in manchen Sphären von Kunst, historische Entwicklungen, die von vielen Akteur*innen selbst als »Auseinandersetzung« mit immanent-ästhetischen »Problemen« wahrgenommen wurden, in soziale Mechanismen aufgelöst werden.

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Das heißt natürlich nicht, dass Dahlhaus Empirie und die Möglichkeit der Falsifikation ausschließt, er vertritt eben nur die damals in der Geschichtswissenschaft rege diskutierte Auffassung, dass die Empirie immer auch Raum für verschiedene, empirisch gleichberechtigte sprachliche Beschreibungen historischer Tatsachen lässt.Dahlhaus scheint immer wieder darauf zu vertrauen, dass diese Offenheit mithilfe einer funktionierenden scientific community und einem entsprechenden Diskurs nicht in Beliebigkeit umschlägt. Hentschel, »Ein musikhistoriographischer Sonderweg?«, S. 268. Siehe hierzu ausführlich Ders., »Neue Musik aus soziologischer Perspektive: Fragen, Methoden, Probleme«, in: Neue Zeitschrift für Musik 5 (2010), S. 38-42, Online-Manuskript: http:// musikwissenschaft.phil-fak.uni-koeln.de/sites/muwi/user_upload/Neue_Musik_in_ soziologischer_Perspektiv.pdf [letzter Zugriff: 31.1.2020].

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3. Autonomie als normatives Phänomen Zusammenfassend lässt sich bis hierhin festhalten: Der ästhetisch-immanente Zugriff kann neben kontextualisierenden Zugriffen akzeptiert werden, solange man mit Dahlhaus a) von der Möglichkeit einer pragmatischen Wahl zwischen verschiedenen Ansätzen ausgeht, die sich keiner ontologischen Hierarchie verpflichtet, und b) die Autonomie, die einen ästhetischen Zugriff legitimiert, als historische Tatsache versteht, die wiederum historisch kontextualisiert werden kann. Die große Frage ist aber nun, wie das möglich sein kann: Wie kann ein musikhistorischer Vorgang sowohl das Resultat »externer« Faktoren (z.B. Distinktionsmechanismen) als auch gleichzeitig autonom sein? Ist Autonomie nicht letzten Endes ein »so tun als ob«, so etwas wie ein besonders interessanter historischer Analysemodus, der einfach eine andere Perspektive bietet, in der man heuristisch so tut, als würden die »wirklichen« Determinanten historischer Prozesse nicht existieren? Um diese Probleme zu verstehen und möglicherweise zu lösen, ist es meines Erachtens sinnvoll, Autonomie und die entsprechende historiographische Perspektive als normative Phänomene zu betrachten. Ich komme dafür zurück auf die oben eingeführten Parallelen zwischen der Doppelperspektive auf Musik und derjenigen auf philosophische Texte: Der in letzterem Fall historiographisch relevante hermeneutische Grundgedanke war, dass wir dem Anspruch dieser Texte, Wahrheiten zu formulieren, eigentlich nur dann wirklich gerecht werden, wenn wir sie gerade nicht als kontingente Phänomene verstehen. Die musikhistorische Rolle von Autonomie lässt sich ähnlich verstehen: Um ein Werk oder eine historische Konstellation von Werken aus einer autonom ästhetischen Perspektive zu betrachten, muss man die Kontingenzperspektive60 verlassen. Dass diese Alternative – insbesondere, wenn es um Kunst geht – bei den meisten Geisteswissenschaftler*innen auf einige Skepsis stoßen dürfte, ist kaum verwunderlich. Immerhin kann man wohl mit einigem Recht davon sprechen, dass eine der wenigen, kaum mehr in Frage gestellten Gemeinsamkeiten vieler geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen im Zuge

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Siehe hierzu einführend Andreas Reckwitz, »Die Kontingenzperspektive der ›Kultur‹. Kulturbegriffe, Kulturtheorien und das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm«, in: Ders., Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld: transcript 2008, S. 15-45.

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des sogenannten »cultural turns« eben jene Kontingenzperspektive ist. Darunter fällt allerdings nicht nur im engeren Sinne kulturwissenschaftliche Forschung, die an poststrukturalistische Theoriebildung anschließt, auch eine eher »konservativere« Disziplin wie die historische Musikwissenschaft hat sich zunehmend von ihren großen Erzählungen gelöst und betrachtet ihre Gegenstände so gut wie immer in im weitesten Sinne gesellschaftlichen Kontexten. Mit diesem Perspektivenwechsel geht aber auch genau die »ontologische« Festlegung einher, die ich im Anschluss an Dahlhaus oben diskutiert habe: dass nämlich kulturelle und besonders künstlerische Phänomene, die traditionellerweise als autonome Entwicklungen gesehen wurden, dies eben »in Wirklichkeit« gar nicht sind, wie das z.B. auch Hentschel mit Blick auf die Neue Musik unterstellt. Diese Entwicklung, die im Großen und Ganzen in erster Linie als Gewinn an kritischen Sichtweisen und in politischer Hinsicht als treibende emanzipatorische Kraft gewertet werden sollte, soll natürlich nicht in dem Sinne revidiert werden, dass die hier als »ontologisch« bezeichnete Verpflichtung der Kontingenzperspektive geleugnet werden soll. Was hier zur Diskussion steht, ist eigentlich folgende Frage: Wenn historische Prozesse kontingent sind, ist dann auch ihre (historiographische) Darstellung als autonome Prozesse »falsch«? Oder noch allgemeiner: Kann etwas kontingent und gleichzeitig nicht kontingent sein? Man kann das bejahen, wenn man eine Auffassung von Normativität vertritt, der zufolge menschliches Handeln und Denken sich von natürlichen Prozessen dadurch fundamental unterscheidet, dass sie Normen unterliegen.61 So sind beispielsweise Konsistenz und Wahrheitsanspruch, die oben bereits im Zusammenhang mit der Analogie zur Philosophiegeschichte erwähnt wurden, als Normen zu verstehen, deren Gültigkeit nicht auf kontingente Faktoren reduziert werden kann. Das gilt für sprachliche Äußerungen in einem grundlegenden Sinn, sofern nämlich die Sprecher*innen von anderen als für die Richtigkeit ihrer Äußerungen verantwortlich anerkannt werden. Schon an Urteilen einfachster Art, etwa »Es regnet«, lässt sich das zeigen: Man

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Ich beziehe mich im Folgenden insbesondere auf die im Umkreis von Robert Brandom, John McDowell und Robert Pippin entstandene Auffassung von Normativität als grundlegendem Charakteristikum menschlichen Denkens und Handelns. Vgl. systematisch Robert Brandom, Expressive Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000. Zur Frage nach dem Verhältnis von Normativität und Natur vgl. John McDowell, Geist und Welt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001.

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kann ein solches Urteil natürlich einfach als eine z.B. durch Umweltreize verursachte Äußerung verstehen, würde aber damit die normative Dimension von Urteilen außer Acht lassen, die darin besteht, dass Sprecher*innen ihre Urteil begründen können.62 Gründe aber unterscheiden sich von so etwas wie Ursachen auf grundlegende Weise, weil Gründe nicht einfach »geschehen« wie z.B. ein durch Naturgesetze bewirkter Vorgang, sondern unter Anwendung von Normen – etwa der Stringenz – formuliert und auch bewertet werden. Und das Befolgen von Normen ist eben kein von außen bedingter Prozess, sondern geschieht immer auch zu einem gewissen Teil aus Freiheit heraus. Der spezifisch normative Charakter menschlichen Sprechens und Denkens besteht darin, dass Sprecher*innen die Verantwortung oder Verpflichtung eingehen, relevante Normen zu befolgen, während zugleich die Rezipient*innen sprachlicher Äußerungen immer darauf angewiesen sind, eben darauf auch zu vertrauen. In diesem Sinne kann auch das für Gadamers Hermeneutik zentrale Prinzip des »Vorurteils der Vollkommenheit«63 , die zum Verstehen nötige heuristische Annahme der Wahrheit eines Textes, als normatives Phänomen verstanden werden.64 Ein Text kann somit als komplexe sprachliche Äußerung analysiert werden, deren Urheber*in eine Verpflichtung eingegangen ist, etwaige Normen der Schlüssigkeit korrekt zu befolgen. Das Verstehen auf der anderen Seite verlangt eine Haltung des »Ernst-Nehmens« dieses Anspruchs.

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Brandom entwickelt die Idee der Normativität des Urteilens auf aufschlussreiche Weise im Anschluss an Kant; vgl. Robert Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, Berlin: Suhrkamp 2015, Kap. 1.4. Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 299. Es besteht im Übrigen auch eine Kontinuität zwischen den hier im Hintergrund stehenden aktuellen philosophischen Debatten und der Hermeneutik Gadamers. Schon in Donald Davidson umfangreicher Arbeit zur Theorie des Verstehens taucht unter dem Namen »principle of charity« dieser hermeneutische Grundgedanke in einer ganz anderen Theorietradition auf, wird aber nicht im Zusammenhang mit Normativität diskutiert (vgl. u.a. Donald Davidson, Wahrheit und Interpretation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990). Bei John McDowell, der sich sowohl mit Gadamer als auch Davidson intensiv auseinandergesetzt hat, finden sich auf diese Weise zentrale hermeneutische Motive in einem Zusammenhang wieder, in dem kontinentale und analytische Philosophietradition zusammenkommen. Zum Verhältnis von Gadamer und McDowell siehe David Webermann, »McDowell aus der Sicht der Hermeneutik. Eine mannigfach interpretierbare Welt«, in: Christian Barth/David Lauer (Hg.), Die Philosophie John McDowells. Ein Handbuch, Münster: mentis 2014, S. 263-282.

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Damit verlässt man aber zugleich die Kontingenzperspektive: Wenn eine Person z.B. meint, es sei moralisch fragwürdig, Müll auf die Straße zu werfen, dann kann ich dieses Urteil nicht als kontingentes Phänomen analysieren, z.B. als sprachlichen Ausdruck eines Bedürfnisses sozialer Distinktion oder Ergebnis sonstiger externer Faktoren, und zugleich den Wahrheitsanspruch dieses Urteils ernst nehmen. Das liegt aber nicht daran, dass ein sprachlicher Ausdruck kein kontingentes Phänomen ist, wie auch umgekehrt aus der Tatsache, dass sprachliche Ausdrücke als kontingente Phänomene analysiert werden können, nicht folgt, dass man sie in ihrem Wahrheitsanspruch nicht mehr ernst nehmen kann, dass dieser also gleichsam eine Illusion ist. Die Verwirrung, die es zu entknoten gilt, besteht ja wie schon bei Dahlhaus genau darin zu verstehen, dass die Existenz des normativen Anspruchs gar nicht konkurriert mit der Existenz kontingenter Ursachen.65 Die hier vertretene These, dass etwas zugleich kontingent und nicht kontingent ist, ist nur scheinbar paradox, weil es beim normativen Anspruch und dem darauf eingehenden Verstehen gar nicht darum geht zu sagen, dass etwas so und so wirklich ist. Verstehen in diesem normativen Sinn und Erklären im Sinne der Kontingenzperspektive sind keine konkurrierenden Beschreibungen von Wirklichkeit, sondern sollten eher als unterschiedliche Modi des Sprechens über Phänomene verstanden werden. Zur Verdeutlichung komme ich abschließend zurück auf das oben schon mehrfach verwendete musikhistorische Beispiel der Atonalität und der Neuen Musik: Zweifellos lassen sich die ästhetischen Diskurse und die damit zusammenhängenden Werke der sogenannten »Neuen Musik« seit Schönberg im Anschluss an Pierre Bourdieu gleichsam als symbolische Ebene von Klassenkonflikten analysieren (um nur eine Möglichkeit zu nennen). Und es ist natürlich klar, dass aus einer derartigen Perspektive, wenn auch nicht etwa die »historische Realität«, so doch zumindest die komplexen Verhältnisse, mit denen Kunst und Gesellschaft zusammenhängen, adäquater beschrieben werden, als wenn man autonome ästhetische Entwicklungen oder sogar Fortschritte als historische Wirklichkeit postuliert. Gleichzeitig versteht man diesen Komplex von ästhetischen Diskursen und Werken (sofern dieser Begriff adäquat

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Zwischen Ursachen im Sinne von Kausalität und der Kontingenz kultureller Phänomene besteht freilich ein Unterschied, der hier nicht diskutiert werden kann. Die Gleichsetzung scheint mir aber in Bezug auf die Normativitätsthematik sehr hilfreich, weil in beiden Fällen Konzepte von Wirklichkeit im Spiel sind, die gegen den hermeneutischen Begriff des Verstehens ausgespielt werden.

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ist) auf eine ganz andere Weise, wenn man sie in dem eben erläuterten Sinn ernst nimmt und das heißt in diesem Fall, sich auf den normativen Anspruch einzulassen, dass die ästhetischen »Probleme«, in deren Kontext sich Werke positionieren, von diesen als wirkliche Probleme verstanden werden. Vor diesem theoretischen Hintergrund, der hier nur angedeutet wurde und noch detailliert ausgearbeitet werden muss, zeichnet sich eine Möglichkeit ab, die scheinbaren Widersprüche von Autonomie und Kontingenz, von Kunstwerk und Dokument, von immanent-ästhetischer und extern-kontextualisierender Perspektive, von Verstehen und Erklären etc. zu durchschauen und Dahlhausʼ Idee musikhistorischer Hermeneutik, die sich mit verschiedenen kontextualisierenden Ansätzen anreichert, zu aktualisieren.

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Der Fall »Deljana« Prolegomena zu einer Geschichte der Musik in Fällen Patrick Becker-Naydenov

Einleitung Wer sich mit der Möglichkeit einer Ereignisgeschichte der Musik auseinandersetzen möchte, sieht sich vor ein Problem gestellt, das schon C arl Dahlhaus in seinen Grundlagen der Musikgeschichte erkennt: »Musikgeschichte als Ereignisgeschichte zu schreiben, ist […] noch niemals versucht worden, obwohl fast immer einzelne Ereignisse beschrieben – seltener analysiert – werden.«1 Eine Musikgeschichtsschreibung als Kasuistik sieht sich offenbar mit dem Problem konfrontiert, dass sie einerseits auf keine Vorbilder zurückgreifen kann und andererseits redundant ist, weil die Beschreibung von Ereignissen bereits zum Metier der Musikhistoriker*in gehört, auch wenn sie sich nicht als Chronist*in von musikalischen Kasus versteht. Der Gedanke aber, man könnte sich auch hier mit dem inflationär gewordenen Verweis auf etwaige Verspätungen der Disziplin behelfen,2 wird hinfällig, wenn man sich bewusst macht, dass auch in prestigeträchtigeren Zweigen des Wissenschaftssystems Fallstudien mit einer »extreme circumspection«3 beäugt werden. Dass aber aus Sicht der Historik die Beschränkung auf Ereignisse und Fälle zur Aufhebung geschichtlicher Kontinuität tendiert, hat im 1

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Carl Dahlhaus, »Grundlagen der Musikgeschichte«, in: Hermann Danuser (Hg.), Carl Dahlhaus. Gesammelte Schriften in zehn Bänden, Bd. 1, Laaber: Laaber [1977] 2000, S. 11155, hier S. 127. Vgl. Anselm Gerhard, »Musikwissenschaft – eine verspätete Disziplin«, in: Ders. (Hg.), Musikwissenschaft – eine verspätete Disziplin? Die akademische Musikforschung zwischen Fortschrittsglauben und Modernitätsverweigerung, Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. 130. John Gerring, Case Study Research. Principles and Practices, New York: Cambridge University Press 2007, S. 6.

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Umfeld der rigorosen Kritik an den narrativen Strategien der Geschichtswissenschaft derart den Status eines Schreckgespensts verloren, wie überhaupt der vermeintliche Verlust der Geschichte heute neue Möglichkeiten ihrer Darstellung bietet, die weit über das hinausgehen, was sich Dahlhaus oder – mehr noch – das 19. Jahrhundert schlicht vorstellen konnten. Dennoch gehört es zu den aufdringlichen Eigenarten der Musikgeschichtsschreibung, dass sie für sich – selbst im größeren Verbund der Kunstwissenschaften – einen Sonderplatz reklamiert, der der befürchteten Verwässerung durch die Kulturwissenschaft mit einer unablässigen Hervorhebung des Werkbegriffs entgegentreten soll. Ob nun dieses Beharren auf das musikalische Kunstwerk in einem Ozean der Diskurse und Dispositive bloß Ausdruck eines tiefgreifenden Konservatismus ist oder sich durch Eigenarten des Forschungsgegenstands erklären lässt, die eine ganze Reihe von Methoden und Theorien aus angrenzenden Disziplinen unbrauchbar machen, bleibt abzusehen; allerdings täte auch eine musikgeschichtliche Kasuistik gut daran, das Subjekt ihrer Geschichte erstens zu bestimmen und, zweitens, einen methodischen Eklektizismus zuzulassen, der ihr nicht von Beginn an die gleichen Scheuklappen aufzwängt, wie sie sonst schon im Fach vorherrschen. Eine Lösung der Probleme, die mit einer Ereignisgeschichte der Musik einhergehen, ist zwar nicht absehbar, allerdings lässt sich die Gefahrenlage eines möglichen Scheiterns entschärfen, wenn man eine Fallgeschichte im Sinne einer Arbeitshypothese in der Rezeptionsgeschichte verortet und sie systemtheoretisch versteht. Als Teil von Rezeptionsgeschichte lässt sich eine musikgeschichtliche Kasuistik deshalb leichter bestimmen, weil sie so – zumindest vorerst – der Gefahr entgeht, das musikalische Werk als Ereignis zu bestimmen. Eine solche Festlegung würde unweigerlich zu Einwänden von Seiten der Philologie und der Musikphilosophie führen: Ist das Ereignis des Werks seine Herstellung durch poetische Akte von Komponist*innen? Muss es als Aufforderung zu einer Interpretation verstanden werden und tritt so erst bei einer Uraufführung zutage? Entspricht das Werk im Sinne neo-platonistischer Kunstauffassungen einem type-token-Modell und existiert so schon vor dem Kompositionsprozess, der die Idee des jeweiligen Werks bloß auffindet und instantiiert? Solche Fragen sind gerade in der Musikphilosophie der letzten Jahrzehnte – spätestens seit Lydia Goehrs The Imaginary Museum of Musical

Der Fall »Deljana«

Works4 – gängig geworden und haben unter anderem zur Ausbildung einer musikwissenschaftlichen Performance Studies geführt, deren kurze Existenz ein abschließendes Urteil über sie freilich noch nicht gestattet.5 Betrachtet man die Poiesis des Werks im Gegensatz zur Praxis des Sozialen6 wiederum aus systemtheoretischer Perspektive, scheint einerseits die Möglichkeit gegeben zu sein, der Ereignishaftigkeit des musikalischen Kunstwerks weniger kontrovers nachzuspüren, während sich andererseits ein musikgeschichtlicher Fall so auch im spezifischen Rahmen einer Musikhistoriographie untersuchen lässt, die nicht vor einer »Kunst der Kontextualisierung«7 zurückschreckt, weil sie sich der Interdisziplinarität in der Disziplin bewusst ist. Dahlhaus selbst erkannte feilich die Möglichkeit einer, wie er schreibt, »Akzentuierung der Strukturgeschichte«8 zugunsten der Ereignisgeschichte. So ließe sich mit Niklas Luhmann fragen, ob nicht künstlerisches Herstellen als »Beobachtungen der Unterscheidungen, die ein Ausfüllen der Leerseite verlangen«9 , die Möglichkeit einer musikhistorischen Beobachtung des Systems in zweiter Ordnung schafft. Eine Geschichte der Musik in Fällen könnte sich so legitimieren und zumal noch auf den unübersehbaren Umstand hinweisen, dass ein Großteil jener Quellen und Dokumente von der – man möchte sagen: orthodoxen – Musikgeschichtsschreibung ausgeschlossen werden: Dass Zeitungsrezensionen oder Korrespondenzen zwischen Komponist*innen und Impresarios nicht zum Gegenstand einer Musikgeschichtsschreibung gehören, die sich als Werkgeschichte versteht, bedeutet im Umkehrschluss noch lange nicht, dass sich die allgemeine Geschichtswissenschaft für derlei Quellen zuständig fühlt – was sich im Übrigen weitestgehend mit dem Eindruck deckt, den auch manche 4 5 6

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Lydia Goehr, The Imaginary Museum of Musical Works. An Essay in the Philosophy of Music, Oxford: Clarendon 1994. Vgl. Nicholas Cook, Beyond the Score. Music as Performance, Oxford: Oxford University Press, 2013. Dahlhaus erklärt in den Grundlagen der Musikgeschichte: »Der Begriff des Werkes, nicht der des Ereignisses ist die zentrale Kategorie der Musikhistorie, deren Gegenstand sich – aristotelisch gesprochen – durch Poiesis, das Herstellen von Gebilden, nicht durch Praxis, das gesellschaftliche Handeln, konstituiert.« (Dahlhaus, »Grundlagen der Musikgeschichte«, S. 14) Hermann Danuser, »Die Kunst der Kontextualisierung. Über Spezifik in der Musikwissenschaft«, in: Hans-Joachim Hinrichsen, Laure Spaltenstein u.a. (Hg.), Hermann Danuser. Gesammelte Vorträge und Aufsätze, Bd. 1, Schliengen: Argus 2014, S. 104-123. Dahlhaus, »Grundlagen der Musikgeschichte«, S. 127. Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, [1997] 2017, S. 68.

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Angehörige des Fachs in den letzten Jahren gewinnen konnten.10 In letzter Konsequenz würde ein solches Denken aber dazu führen, dass derartige Zeugnisse bei solcher Borniertheit gänzlich unangetastet bleiben. Laufen Methodendiskussionen in Gefahr, schlichtweg abstrakt zu bleiben, so soll hier ein Fall präsentiert werden, der einerseits der Rezeptionsgeschichte zuzuordnen ist und sich andererseits im politischen Kontext des Staatssozialismus in der Spätphase von Josef Stalins Herrschaft ereignet hat, wodurch er durchaus einem staatlich sanktionierten Feld der Verdikte über Musik zugerechnet werden kann.11 Es geht hierbei um die Kampagne gegen die Opern Vom ganzen Herzen von German Leont’evič Žukovskij12 (Ot vsego serdca, Libretto: Aleksandr Aleksandrovič Kovalenkov) und Bogdan Hmel’nic’kij von Kostjantin Fedorovič Dan’kevič (Libretto: Vanda Lăvivna Vasilevs’ka und Oleksandr Ėvdokimovič Kornijčuk) aus dem Jahr 1951 sowie deren Auswirkungen an der Peripherie des sowjetischen Einflussbereichs in der Volksrepublik Bulgarien, wo in Ermangelung anderer Möglichkeiten Paraškev Hadžievs Operette Deljana 1952 zum Gegenstand offizieller Kritik wurde. Nun handelt es sich bei den beiden ukrainischen Komponisten Žukovskij und Dan’kevič nicht gerade um Klassiker des sowjetischen Opernschaffens und so sind die beiden Artikel vom 19. April und 20. Juli 1951 in der russischen Tageszeitung Pravda bisher nicht Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung gewesen. Im Unterschied zu solch einschlägig bekannten Fällen – oder genauer: Skandalen – wie der Kampagne gegen Dmitrij Šostakovičs Lady Macbeth im Jahr 1936 oder dem allgemeinen Aufruhr im Umkreis der Ždanov-Doktrin 1948 erscheinen die Leitartikel gegen die Opern Vom ganzen Herzen und Bogdan Hmel’nic’kij geradezu defizitär und aus musikhistorischer Perspektive beinahe folgenlos. Was mit dem Anbruch des Kalten Kriegs aber in der Sowjetunion kaum Auswirkungen haben konnte, schlug in den neugegründeten Volksdemokratien Osteuropas hohe Wellen. Dies wird besonders am Beispiel Bulgarien deutlich, wo die Rezeption der Kampagne von 10

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Friedrich Geiger, »Komponieren unter Stalin. Ansatzpunkte musikhistorischer Forschung«, in: Friedrich Geiger, Eckhard John (Hg.), Musik zwischen Emigration und Stalinismus. Russische Komponisten in den 1930er und 1940er Jahren, Stuttgart/Weimar: Metzler 2004, S. 52-69, hier S. 54. Geiger schreibt weiter, dass »die musikhistorische Forschung [diese Kompetenz] nur in seltenen Fällen angestrebt und demzufolge auch erreicht hat« (ebd.). Vgl. Friedrich Geiger, Verdikte über Musik 1950-2000. Eine Dokumentation, Stuttgart/Weimar: Metzler, 2005. Die kyrillische Schrift wird nach DIN 1460(1984) transliteriert.

Der Fall »Deljana«

1951 im Geflecht internationaler Beziehungen zu einer Nachahmung führte: dem sogenannten Fall »Deljana« 1952, der vom bulgarischen Musikhistoriker Ivan Hlebarov als »erster Zusammenstoß der sozialistischen bulgarischen Musikkultur mit dem Totalitarismus« im Zeitraum von 1948 bis 1952 beschrieben worden ist.13 Während die unmittelbare Rezeption der Ždanov-Doktrin in Bulgarien eher schleppend voranging und sich hauptsächlich in einem musikpublizistischen Streit zwischen dem Mediziner und Laienkritiker Ljuben Balkanski auf der einen und dem jungen Komponisten Konstantin Iliev auf der anderen Seite Anfang 1949 niederschlug,14 intensivierte sich – auch durch zunehmende persönliche und institutionelle Kontakte mit der Sowjetunion – spätestens seit Ende 1949 die Umsetzung stalinistischer Kulturpolitik in Bulgarien. Mit der sowjetischen Kampagne gegen die beiden Opern Žukovskijs und Dan’kevičs wird so das Signal für eine bulgarische Aktion gegeben, die 1952 in dem gegen Hadžievs Deljana gerichteten Artikel »Ein schädliches Werk« ihren Lauf nimmt, der am 27. Oktober im Organ des Zentralkomitees der Bulgarischen Kommunistischen Partei, der Zeitung Arbeitertat (Rabotničesko delo), publiziert wurde. Will eine Untersuchung dieses Ereignisses als Rezeptionsgeschichte dieser Musik aber methodisch nicht im Trüben fischen, so bietet es sich hier an, aktuelle Ansätze aufzuzeigen, die – wenig überraschend – zu den bedeutendsten Paradigmen der zeitgenössischen bulgarischen Geschichtswissenschaft gehören.

Die Sofioter Schule der Geschichtsschreibung Zwar ist bei der Verwendung des Schulenbegriffs stets Vorsicht angebracht, weil allzu leicht eine Kollektivität von Ideen, Personen und Institutionen erzeugt wird, die in keiner Weise mit der Realität in Verbindung steht, doch lässt sich zweifelsohne von einer Sofioter Schule der Geschichtsschreibung 13

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Vgl. Ivan Hlebarov, »1948-1952 godina – ili părvoto sblăskvane na bălgarskata muzikalna kultura s totalitarizma«, in: Ders., Naj-novata bălgarska muzikalna kultura. Mitove i realnost 1944-1989, Sofia: Artkoop, 1997, S. 59-69. Eine erweiterte Version des Artikels ist 2008 erschienen: Ders., »Părvata sblăska na socialističeskata ni muzikalna kultura s totalitarnija sistem (1948-1952 godina)«, in: Ponedelnik. Spisanie za teorija, politika i kultura 11/7,8 (2008), S. 129-138. Vgl. Patrick Becker-Naydenov, »… näher ans Leben«? Zur Volksmusikrezeption der bulgarischen Nachkriegsavantgarde, Münster/New York: Waxmann 2020, in Vorbereitung.

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sprechen. Dabei handelt es sich um eine Gruppe von Historiker*innen, Literatur- und Kulturwissenschaftler*innen im Umkreis des Instituts für die Erforschung der jüngsten Vergangenheit (Institut za izsledvane na blizkoto minalo, IIBM), das 2005 vom bulgarischen Philosophen, Kulturund Kunstwissenschaftler Ivajlo Znepolski, dem Journalisten und Philanthropen Dimitrij-Ivan Panica und dem Historiker Lenko Lenkov gegründet wurde. Seit seiner Gründung haben dieses Institut und die assoziierten Wissenschaftler*innen durch Schriften in einer eigenen Reihe, die beim renommierten Siela-Verlag veröffentlicht werden, und Themen auf sich aufmerksam gemacht, die den Zeitraum des späten bulgarischen Zarentums der 1930er bis 1940er Jahre bis hin zur postkommunistischen Epoche der 1990er Jahre umfassen. Dass es sich beim Begriff einer Sofioter Schule der Geschichtsschreibung um mehr handelt als eine bloße Rekonstruktionsbemühung, wird schon an den Besonderheiten der geschichtswissenschaftlichen Forschung in Bulgarien seit der Wende deutlich. So erklären die beiden Historiker*innen Ivan Elenkov und Daniela Koleva in einem Beitrag über die Situation ihres Fachs aus dem Jahr 2007, dass sich der Mainstream bulgarischer Geschichtsforschung immer noch an Themen und Methoden orientiert, die aus der frühen Nachkriegszeit – und damit aus dem Arsenal des Marxismus-Leninismus – stammen.15 Dementsprechend lasse sich auch für die Zeit nach der Wende feststellen, dass die Veränderungen im Fach »went on under the pressure of circumstances outside historiography and not as a result of an inner logic. The present re-writing of Bulgarian history occurred first in public spaces and not inside the academy.«16 Dieser Umstand sei im Wesentlichen den institutionellen und personellen Kontinuitäten zu verdanken, die nach 1989 kaum Veränderungen erfahren haben: »An overview of the institutional context for the production of historical knowledge confirms, in our opinion, the thesis for the paramount importance of institutional continuity and change of paradigms and research styles. The efforts and achievements of individual researchers, however innovative, cannot bring about significant and lasting changes within the 15

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Vgl. Ivan Elenkov, Daniela Koleva, »Historical Studies in Post-Communist Bulgaria. Between Academic Standards and Political Agendas«, in: Sorin Antohi, Balázs Trencsényi u.a. (Hg.), Narratives Unbound. Historical Studies in Post-Communist Eastern Europe, Budapest/New York: Central European University Press 2007, S. 409-464, hier S. 419. Ebd., S. 428.

Der Fall »Deljana«

old structures where a reproduction of hitherto dominant methods and styles prevails, as well as criteria for professionalism, depend […] on institutional support and institutional continuity. Therefore, if we are to look for schools and paradigms, that is, for a ›critical mass‹ and not for separate individual achievements, the role of institutions and policy-makers cannot be ignored.«17 Während viele bulgarische Historiker*innen sich in ihrer Arbeit ausschließlich auf das eigene Land beschränken – ein Urteil, das auch für die meisten Arbeiten aus dem Umkreis des IIBM zutrifft –, gilt für die Forscher*innen des Instituts für die Erforschung der jüngsten Vergangenheit nicht, was Elenkov und Koleva über die Aneignung internationaler Methoden und Theorien in der bulgarischen Geschichtswissenschaft äußern: »Although one can sometimes detect the influence of Weber’s ideas, of Braudel’s and Le Goff’s topics and research styles, or of Hobsbawm’s and Gellner’s approaches, the work of Bulgarian historians in general remains insignificantly influenced by innovative Western thought. The bulk of publications do not seem to have benefited from the availability of Western literature in Bulgarian: it garners almost no references or mention in periodicals from the past decade.«18 Heute, also 13 Jahre nach Erscheinen dieser Bestandsaufnahme, scheinen indessen die Wissenschaftler*innen um Znepolski eine Linie für historische Forschung in Bulgarien herausgebildet zu haben, an der neue Beiträge sich messen müssen.19 An dieser Stelle interessieren weniger die erinnerungs- und mentalitätsgeschichtlichen Beiträge,20 Schriften zu transnationalen Verflech-

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Ebd., S. 457. Ebd., S. 431. Wenn hier kein Wort von der bulgarischen Musikgeschichtsschreibung fällt, dann entspricht dies im Wesentlichen dem Eindruck des Autors, dass sie – mit ihrem Fokus auf individuelle Komponist*innenmonographien und einer ganzen Reihe von Merkwürdigkeiten – bei weitem nicht jenen Reflexionsgrad erreicht hat, der den hier vorgestellten Prolegomena einer musikgeschichtlichen Kasuistik weiterhelfen könnte. Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel. Aleksandăr K’osev, Daniela Koleva (Hg.),Trudinijat razkaz. Modeli na avtobiografično razkazvane za socializma meždu ustnoto i pismenoto, Sofia: Siela 2017; Daniela Koleva (Hg.), Belene – mjasto na pamet? Antropologična anketa, Sofia: Siela 2010; Dies. (Hg.), »Vărhu hrastite ne padat mălnii«. Komunizmăt – žitejski sădbi, Sofia: Siela 2007; Ivajlo Znepolski, Tova e moeto minalo. Spomeni, dnevnici, svidetelstva (1944-1989), 3 Bde., Sofia: Siela

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tungszusammenhängen vor allem im Bereich des Wirtschaftslebens oder allgemein Forschungen zur Alltagsgeschichte des Sozialismus,21 als vielmehr jene Beiträge zu historiographischen Modellen, die einer Musikgeschichte in Ereignissen zuträglich sein können. Seit ihrem Erscheinen im Jahr 2016 hat sich Ivajlo Znepolskis zweibändige Studie Wie sich die Dinge verändern. Von Vorkommnissen bis zum großen Ereignis rasch zu einem Standardwerk der bulgarischen Geschichtswissenschaft entwickelt, die selbst – oder durch entsprechende Vorarbeiten des Autors – auch literatur- und kulturwissenschaftlichen Beiträgen bereits als methodisch-theoretisches Fundament dienen konnte. Sieht man einmal von der einfallsreichen Studie Havarien und Katastrophen. Eine Chronik der sozialistischen Industrialisierung Daniel Vačkovs ab, in der versucht wird, die Geschichte der sozialistischen Moderne in Bulgarien als Verkettung von Ereignissen ihrer ökonomischen Missgeschicke zu erzählen, wodurch dem Autor auch ein Beitrag zur »Konstruktion des Anderen« im Bild des Saboteurs gelingt,22 hat gerade der Literaturwissenschaftler Plamen Dojnov mit einer Reihe von Fallstudien auf sich aufmerksam gemacht. Galt Natalija Hristovas Der bulgarische Fall23 vor einigen Jahren noch als Versuch, auf die Unterschiede zwischen Bulgarien und anderen Ländern des ehemaligen sogenannten Ostblocks hinzuweisen, um so die Geschichte dieser Zeit als Gegenstand historischer Forschung überhaupt erst zu etablieren, so widmet sich Dojnov in einer 2011 publizierten Studie dem Sozialistischen Realismus in der bulgarischen Literatur dieser Zeit vor dem Hintergrund der elementaren Anordnung von Norm und Krise des literarischen Feldes. Dojnov untersucht die Krisenjahre kommunistischer Macht und Staatlichkeit 1956, 1968 und 1989 und kommt zu dem Schluss, dass aus Sicht eines normativen Sozialistischen Realismus in Bulgarien die Ereignisse dieser Jahre zu einer

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2010 (Bd. 1/2), 2015 (Bd. 3); Ders., Bez sleda? Lagerăt v Belene 1949-1959 i sled tova …, Ausstellungskatalog, Sofia: Siela 2009; Ders., Bălgarskijat komunizăm. Sociokulturni čerti i vlastova traektorija, Sofia: Siela 2008. Ivan Elenkov, Orbiti na socialističeskoto vsekidnevie, Sofia: Siela 2018; Mihail Gruev, Preorani slogove. Kolektivizacija i socialna promjana v bălgarskija severozapad 40-te–50-te godini na XX vek, Sofia: Siela 2009. Daniel Vačkov, Avarii i katastrofi. Hronika na socialističeskata industrializacija, Sofia: Siela 2018. Vgl. Natalija Hristova, Bălgarskijat slučaj. Kultura, vlast, inteligencija 1944-1989 g., Sofia: Izdatelstvo na Nov bălgarski universitet 2015.

Der Fall »Deljana«

teilweisen Öffnung des Buchmarkts für »Werke, die nicht dem Sozialistischen Realismus zuzurechnen sind«24 , führten. Obwohl die Ausübung (kultur-)politischer Macht im kommunistischen Bulgarien – gerade in der frühen Nachkriegszeit – auch »exzentrisch« von Moskau ausgehen konnte,25 betrachtet Dojnov die offizielle Literatur während des Kommunismus als »einheimischen Sozialistischen Realismus«: »Der bulgarische Sozialistische Realismus blieb weitestgehend im bulgarischen Sprachgebäude gefangen – unübersetzbar, hauptsächlich für die ›innere Benutzung‹ zuhause gedacht. Ein Publikum von Verwandten […]. Selbst die Übersetzungen […] bulgarischer Werke in anderen kommunistischen Staaten unterstreichen die vorbestimmte Mikro-Öffentlichkeit der VRB[= Volksrepublik Bulgarien]-Literatur, die kaum auf eine Antwort außerhalb ihrer Sprachgrenzen rechnen konnte. Es geht auch um eine andere Art von Sprache – einen Raum des komplexen (Un-)Verstehens. Sogar die dem offiziellen Sozialistischen Realismus gegenüber kritische äsopische Sprache [der nichtoffiziellen Literatur] ist ein typisch einheimisches Produkt – sie präsentiert sich als eine in Allegorien und Gleichnissen maskierte Kritik, die sich an ein Publikum von Eingeweihten richtet, die ein Teil von uns sind, d.h. die unsere Dramen und Probleme kennen und sie durch unser Vokabular interpretieren. Der Sozialistische Realismus ist einheimisch und dies insofern, als dass er in der Volksrepublik Bulgarien in den begrenzten Maßstäben eines Haushalts auftritt, in dem die Funktionen zugeteilt werden.«26

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»С всяка криза на комунизма самата държава все повече разбира, че за да осигури функциониране на литературния и книжния пазар, трябва да го отвори поне частично и за несоцреалистически творби – както преводни, така и български.« (Plamen Dojnov, Bălgarskijat socrealizăm 1956, 1968, 1989. Norma i kriza v literaturata na NRB, Sofia: Siela 2011, S. 15) Ebd., S. 9f. »Българският соцреализъм остава затворен предимно в българска езикова среда – непреводим, предназначен най-вече за ›вътрешно ползване‹ у дома. Една публика от роднини […]. Дори […] преводи на редица български произведения в други комунистически държави подчертават предопределената микропубличност на НРБ литературата, която не може да разчита на почти никакъв отзвук извън собствените си езикови граници. Става дума и за друг вид език – пространство на сложно (не)разбиране. Дори критичният спрямо официалния соцреализъм езоповски език е типичен домашен продукт – представя се за критика, маскирана в алегории и притчи, адресирана към аудитория от посветени, които са едни от нас, т. е. познават нашите драми и проблеми и ги тълкуват чрез нашия речник. Соцреализмът е дома-

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Klingt hier auch die Problematik an, überhaupt von einer inoffiziellen Literatur – oder eben Musik – zu reden,27 so spricht Dojnov angesichts der Konfrontationen von Literatur und Macht im »deautonomisierten literarischen Feld« Bulgariens von einer Literatur der Fälle.28 Es handelt sich gerade durch die übergreifende institutionelle und machtpolitische Verstrickung der Literatur nicht um ein autonomes Feld der Kunstproduktion, sondern um einen deautonomisierten Bereich, der politisch funktionalisiert wurde. Gleich anhand von sieben Fällen aus dem kommunistischen Bulgarien versucht sich der Autor an der Begründung einer »Mikrogeschichte der Literatur«: »Eine literarische Mikrogeschichte müsste über die Suche nach (Nicht-) Übereinstimmungen zwischen Worten und Taten, zwischen Leben und Werk, zwischen dem im Dokument Festgehaltenen und der vollzogenen Handlung durch eine Lebenssituation, aber auch durch den künstlerischen Akt hinausgehen. Im Gegenteil – gerade die Abgründe, die kausalen Lücken zwischen Werken, Dokumenten, mündlichen Aussagen, individuellen Gesten, sozialen Handlungen, politischen und weiteren Ereignissen sowie die komplexen hermeneutischen Kombinationen zwischen ihnen schaffen das Feld spezifischer literaturhistorischer Glaubwürdigkeit, die zum Verständnis der Vergangenheit führt. Die Herausforderung besteht darin, über die direkte Übertragung von Bedeutungen auf dem Weg zwischen Text und Realität hinauszugehen, oder – umgekehrt – Netzwerkpfade einzuschlagen, wobei die Kompensationsmechanismen der Realitätsaneignung (durch schriftliche oder mündliche Zeugnisse) und der Sinnherstellung unter Einbeziehung aller möglichen Hinweise in den Prozess der Interpretation zu berücksichtigen sind.«29

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шен и доколкото в НРБ той се случва в ограничените мащаби на едно домакинство, в което функциите са разпределени.« (Ebd., S. 14) Siehe für diesen Ansatz in der jüngeren Musikgeschichtsschreibung Peter J. Schmelz, Such Freedom, if Only Musical. Unofficial Soviet Music during the Thaw, Oxford/New York: Oxford University Press 2009. Plamen Dojnov, Literatura na slučaite. Ot »Tjutjun« do »Hajka za vălci«. Kazusi v literaturnoto pole na NRB, Sofia: Siela 2017, S. 9. »Една литературна микроистория би трябвало да отиде по-далеч от търсенето на (не)съответствия между думи и дела, между живот и творба, между записаното в документа и извършеното действие чрез житейска постъпка, но и чрез художествен акт. Напротив – точно зевовете, каузалните пропадания между творби, документи, устни изказвания, индивидуални жестове, социални актове, политически и други събития, както и сложните херменевтични комбинаторики между тях създа-

Der Fall »Deljana«

Steht die »Inventarisierung« von Fällen in der bulgarischsprachigen Literatur zwar noch aus, so rekurriert Dojnov mit seinem methodisch-theoretischen Ansatz auf Znepolskis Entwurf einer Ereignisgeschichte, die er in seiner zweibändigen Untersuchung Wie sich die Dinge verändern zur Geschichte bulgarischer Intellektueller an der wichtigsten Universität des Landes, der St. Kliment Ohridski-Universität in Sofia, skizziert hat. In seiner Studie nähert sich Znepolski dem »Ereignis der Ereignisse«30 , dem Untergang des bulgarischen Kommunismus und der Wende, indem er aus einer ereignisgeschichtlichen Perspektive rekonstruiert, die bei simplen Zwischenfällen beginnt und sich zu immer komplexeren Sinneinheiten zusammensetzt, bevor der Autor schließlich vom großen Ereignis der Wende zur Rekonstruktion der grundlegenden Ereignisse zurückkehrt.31

Von Moskau bis Sofia: Der Fall »Deljana« und seine Vorgeschichte Hat jene bulgarische Geschichts- und Literaturwissenschaft, die sich mit dem Land während des Kommunismus auseinandersetzt, eine besondere Sensibilität für ereignishafte Vorkommnisse ausgebildet, weil sich durchaus überlegen lässt, ob nicht »die Ausnahme« des Falls zur neuen »Norm wird«32 , so scheint auch aus musikgeschichtlicher Perspektive die Geschichte des Skandalösen in der bulgarischen Musik dieser Zeit gerechtfertigt zu sein. Der eingangs angesprochene Fall »Deljana« ist in dieser Hinsicht der erste seiner Art im Bulgarien der frühen Nachkriegszeit und beendet zugleich die Bestrebungen zur Umsetzung einer stalinistischen Kulturpolitik im Musikleben, deren Normativität schon in der kurz darauf anbrechenden Tauwetter-

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ват полето на специфична литературноисторическа достоверност, която води до разбирането на миналото. Предизвикателството е да се отиде отвъд прякото пренасяне на смисъл по пътя между текст и реалност, или обратно, за да се поеме по мрежовидни пътища, като се отчитат компенсаторните механизми за набавяне на реалност (чрез писмени и устни документални свидетелства) и за производство на смисъл въвличайки в процеса на интерпрецатия всички възможни следи.« (Ebd., S. 25) Ivajlo Znepolski, Kak se promenjat neštata. Ot incidenti do Goljamoto săbitie. Istorii s filosofi i istorici. Želju Želev, Nikolaj Genčev, Asen Ignatov, Isak Pasi, Ilčo Dimitrov, Dobrin Spasov, Ivan Slavov i drugi …, Sofia: Siela 2016, Bd. 1, S. 41. Vgl. ebd., Bd. 2, S. 325-339. »[М]оже да се твърди, че ›изключението‹ става ›нормално‹«. Dojnov, Literatura na slučaite, S. 19.

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Periode nach Stalins Tod 1953 zu bröckeln beginnt. Es handelt sich so zugleich um den Beginn und das Ende einer Form des musikgeschichtlichen Falls im politischen System des Kommunismus, bei dem der Skandal noch nicht zu einer Aushöhlung der Norm führt, wie dies in Bulgarien beispielsweise 1968 mit der Uraufführung von Konstantin Ilievs Fragmenten für großes Symphonieorchester geschah, sondern als Ereignis erscheint, das die Norm des Sozialistischen Realismus einerseits bestätigt und andererseits überhaupt erst einmal herstellt. Versteht man den Fall »Deljana«, wie der Musikwissenschaftler Ivan Hlebarov es getan hat, als Abschluss eines Zusammenstoßes der bulgarischen Musikkultur mit dem Totalitarismus,33 der im internationalen Dialog mit ähnlichen Vorgängen in der Sowjetunion stattfand, wirft diese bulgarische Kampagne von 1952 Fragen auf: Erstens fällt auf, dass im Gegensatz zur berüchtigten Ždanov-Doktrin von 1948 nicht über das Musikleben im Ganzen geurteilt wird, sondern der Fall »Deljana« konkret gegen eine Musiktheaterkomposition gerichtet ist und so an die beiden Artikel in der sowjetischen Pravda von 1951 erinnert. Während dort jedoch mit Žukovskijs Von ganzem Herzen und Dan’kevičs Bogdam Hmel’nic’kij zwei Opern zum Gegenstand der Kritik werden, sieht sich die bulgarische Kampagne, an deren Absicht zur Nachahmung des sowjetischen Vorbilds kaum Zweifel bestehen dürften, vor ein Problem gestellt: Es gibt schlichtweg nichts zu kritisieren. Die letzte Uraufführung einer Oper fand 1946 mit Ljubomir Pipkovs Momčil statt, die er noch während des Zweiten Weltkriegs fertiggestellt hatte. Einer Kritik stand dieses Werk freilich nicht zur Verfügung, da Pipkov sich auch vor der Gründung der Volksrepublik Bulgarien als Mitglied der BKP (Bălgarska Komunističeska Partija, Bulgarische Kommunistische Partei) und engagierter Kommunist hervorgetan hatte und außerdem Vorsitzender des Verbands der bulgarischen Konzertkünstler, Musikwissenschaftler und Komponisten war. Den häufigen Bekundungen glänzender Erfolge im Musikleben zum Trotz – eine Aussage, die aus institutionsgeschichtlicher Sicht durchaus nicht von der Hand zu weisen ist, weil sich der Staat unmittelbar nach 1946 daran machte, zahlreiche Opernhäuser und Symphonieorchester neu zu gründen oder ihre Finanzierung aus staatlichen Mitteln zu gewährleisten – gab es schlichtweg keine Musiktheaterkomposition, die man hätte kritisieren können. Ähnlich zu Pipkov war Aleksandăr Rajčevs Ballett Heiducken-Lied (UA 1953) erstens zu spät und zweitens von einem Parteimitglied verfasst 33

Siehe Anm. 13.

Der Fall »Deljana«

worden, das mit Kantaten wie Er stirbt nicht (UA 1951) auf einem gleichnamigen Text des bulgarischen Nationalschriftstellers Ivan Vazov kaum kritisch hätte gerügt werden können. So wird schließlich mit Hadžievs Deljana (Libretto: Vera Damjanova alias Verda) keine Oper, sondern bloß eine Operette zum Gegenstand einer kulturpolitischen Kampagne des Musiklebens. Der Vorgang selbst ist schon insofern aufsehenerregend, als dass die Sofioter Uraufführung von Hadžievs Deljana nicht im Opernhaus, sondern im 1948 gegründeten Staatsmusiktheater »Stefan Makedonski« (DMT »Stefan Makedonski«) stattfand, das geradezu als Paradigma allen Musiktheaterschaffens im bulgarischen Kommunismus gelten kann. Wenngleich den populären musikdramatischen Gattungen in Bulgarien zu dieser Zeit durchaus bloß eine »zweitrangige Rolle«34 zugewiesen wurde, gewann das DMT im Kontext einer Kulturpolitik, die auf die Demokratisierung der Kunst im Dienste des Volkes abzielte, eine besondere Aufmerksamkeit, die sich sogar in der dramaturgischen Konzeption der komischen Opern, Operetten und später auch Musicals niederschlug, die auf dieser Bühne gegeben wurden: »Die ästhetische Plattform der Volksoperette ist von der tendenziösen Suche des sozialen Konflikts in der Dramaturgie und vom kollektiven Bild des Volkes als Vehikel der szenischen Handlung legitimiert […]. Aber trotz der ambitionierten reformatorischen Bemühungen gegen alles Operettenhafte (noch ein Ideologem mit einer negativen Konnotation), ist der Versuch, das Genre unterhaltsamer und sinnlicher Romantik durch ideologische Plakatrhetorik zu ersetzen, zum Scheitern verurteilt […].«35 Im internationalen Kontext der frühen Nachkriegszeit ließe sich hier überlegen, ob nicht in der Übernahme des »sowjetischen Modells«36 der Verunglimpfung eines populären Musiktheaters ein Prozess stattfand, der aus Sicht postkolonialer Theorie als Mimikry umschrieben werden kann. So könnte die 34 35

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Rumjana Karakostova, Idejata Dăržaven muzikalen teată i proekcijata ì v nacionalnija repertoar do kraja na XX vek, Sofia: Mars 09 2012, S. 9. »Естетическата платформа на Народната оперета е легитимирана от тенденциозно търсения социален конфликт в драматургията и от колективния образ на народа като двигатели на сценичното действие […]. Но въпреки амбициозните реформаторски усилия срещу всичко оперетъчно (още една идеологема с негативна конотация), опитът да бъде подменена характерната за жанра развлекателност и чувствена романтика с идейноплакатна реторика е предварително обречен […].« (Ebd., S. 16f.) Ebd., S. 17.

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Einrichtung des Staatsmusiktheaters wie auch die repressiven Wellen des Zickzackkurses kommunistischer Kulturpolitik in Bulgarien als Effekte eines »comic turn from the high ideals of the colonial imagination to its low mimetic […] effects«37 verstanden werden. Dass es sich beim sowjetischen Imperialismus der späten Nachkriegszeit um eine Herrschaftsform gehandelt hat, der mit Ansätzen aus der postkolonialen Theorie beizukommen ist, setzt sich in vergangenen Jahren in verschiedenen Disziplinen zunehmend durch,38 wobei es sich im bulgarischen Fall weitestgehend um eine »self-colonization« gehandelt hat,39 da die Einrichtung des kommunistischen Staates und Umsetzung stalinistischer Kulturpolitik ohne eine sowjetische Okkupation des Landes stattfand. Der Fall »Deljana« besteht schließlich darin, dass der Leitartikel »Ein schädliches Werk«, der am 27. Oktober 1952 in der Zeitung Arbeitertat erschien, nicht bloß einzelne Aspekte dieses Operettenwerks über die Kollektivierung der bulgarischen Landwirtschaft kritisiert, sondern gleich ein Angriff auf das Werk, dessen Aufführung und die zuständigen politischen Einrichtungen wie das Komitee für Wissenschaft, Kunst und Kultur (Komitet za nauka, izkustvo i kultura, KNIK) startet: »Die Operette ›Deljana‹ verzerrt und verdirbt unsere Realität. Sie nährt die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Überreste in den Köpfen der Menschen, sie ist ein schädliches Werk.«40 Offensichtlich geht es den – unbekannten – Verfassern des Artikels darum, einerseits den Mangel an getreuer Darstellung der vermeintlich neuen sozialistischen Wirklichkeit auf dem bulgarischen Lande zu kritisieren und

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Homi K. Bhabha, The Location of Culture, London: Routledge 1994, S. 85. Vgl. bspw. David Chioni Moore, »Is the Post- in Postcolonial the Post- in Post-Soviet? Toward a Global Postcolonial Critique«, in: PMLA 116/1 (2001), Sonderheft: Globalizing Literary Studies, S. 111-128; Epp Annus, »The Problem of Soviet Colonialism in the Baltics«, in: Journal of Baltic Studies 43/1 (2012), S. 21-45; Ders., »The Conditions of Soviet Colonialism«, in: Interlitteraria (2011), H. 2, S. 441-459. Zum Begriff der »self-colonization« siehe Alexander Kiossev, »The Self-Colonizing Metaphor«, in: Atlas of Transformation, http://monumenttotransformation.org/atlasof-transformation/html/s/self-colonization/the-self-colonizing-metaphor-alexanderkiossev.html [letzter Zugriff: 31.1.2020]. »Оперетата ›Деляна‹ извращава и опорочава нашата действителност. Тя подхранва буржоазно-еснафските остатъци в съзнанието на хората, тя е вредно произведение.« (Anonym, »Vredno proizvedenie«, in: Rabotničesko delo, Nr. 301 vom 27.10.1952, Nachdruck in: Bălgarska muzika 3/5,6 (1952), S. 4-8, hier S. 8)

Der Fall »Deljana«

andererseits die Operette im Sinne des erzieherischen Auftrags zu bemängeln, der ihr von der Bulgarischen Kommunistischen Partei zugewiesen wurde. Schon als der Artikel im Organ des bulgarischen Komponistenverbands, der Zeitschrift Bulgarische Musik (Bălgarska muzika), nachgedruckt wurde, ist ihm eine weitere Verlautbarung aus der Redaktion dieser Zeitschrift vorangestellt, in der gleich von einer ganzen »Deljanština«41 im bulgarischen Kulturleben die Rede ist: »›Deljana‹ und die ›Deljanština‹ in unserem Musikleben zeugen augenscheinlich von einer Reihe noch verbleibender Überreste der bourgeoisen Ideologie. Diese Mängel äußern sich in einer verachtenswerten Verehrung von Pseudoautoritäten, einer oberflächlichen Einstellung zu den Problemen der Kunst, einer Überheblichkeit und Selbstbeschwichtigung bei der Lösung wichtiger künstlerischer Probleme, einem Mangel an Enthusiasmus für das Erlernen und die Beherrschung neuer Methoden der künstlerischen Arbeit, einer Angst vor der Selbstkritik und einer Erstickung der Kritik, einer Flucht vor den politisch-sozialen Problemen in der Kunst und einer Orientierung an leeren äußeren Effekten als Selbstzweck, einem Technizismus und Verwicklung der Form auf Kosten des Inhalts, in einer Vermeidung der Kunst, um das Typische zu suchen usw. usw.«42 Dass es sich bei der Kampagne gegen die Operette Deljana nicht bloß um einen Kasus gehandelt hat, der zeitlich rein zufällig im Kontext der sowjetischen Angriffe auf Žukovskijs Vom ganzen Herzen und Dan’kevičs Bogdan Hmel’nic’kij stattfand, wird spätestens deutlich, wenn man Dokumente aus dem bulgarischen Komponistenverband betrachtet, in denen eindeutig eine Verbindung zwischen diesen Kampagnen gezogen wird:

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Der Begriff könnte in Analogie zur sowjetischen Ždanovština, also der Ždanov-Doktrin, als – nun freilich negativ konnotierter – Deljanismus übersetzt werden. »›Деляна‹ и ›делянщината‹ в нашия музикален живот очевидно свидетелствуват за редица непреодолени още остатъци на буржоазната идеология. Тези недостатъци се изразяват в нископоклонничество пред мними авторитети, повърхностно отношение към проблемите на изкуството, самонадеяност и самоуспокояване при решаване на важни творчески задачи, липса на ентусиазъм за усвояване на нови знания и овладяване на нови методи в творческата работа, страх от самокритика и задушаване на критиката, бягство от политико-обществените проблеми в изкуството и самоцелно насочване към празни външни ефекти, техницизъм и усложняване на формата за сметка на съдържанието, избягване в изкуството да се търси типичното и пр. и пр.« (Anonym, »Vredno proizvedenie«, S. 3)

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»Waren unsere Fehler bei ›Deljana‹ nicht das Resultat von dieser, unserer, Ungefälligkeit in Beziehung zur zeitnahen Begutachtung wichtiger Dokumente aus der Sowjetunion und von unserer Partei? Wenn wir die Artikel in der Zeitung ›Pravda‹ über die Fragen der sowjetischen Oper im weiten Plenum unseres Verbands erörtert hätten, hätten wir auch erheblich zur richtigen Lösung unserer Opern- und Operettenfragen beitragen können. Dies, jedoch, haben wir nicht getan. […] Aber die unrichtige Beziehung zur sowjetischen Erfahrung wird zwangsläufig die richtige Entwicklung der bulgarischen Oper und Operette hemmen und behindern. So wird es sich in der Praxis ergeben.«43

Schluss In welcher Beziehung steht nun aber die sowjetische Kampagne mit dem bulgarischen Fall »Deljana«? Eine vollständige Rekonstruktion des Ereignisses steht mithin noch aus, weil hier nicht bloß Dokumente aus den Musikinstitutionen oder dem Komitee für Wissenschaft, Kunst und Kultur, sondern auch aus der Redaktion der Zeitung Arbeitertat miteinbezogen werden müssten. Allerdings bleibt fraglich, ob die schiere Ähnlichkeit zwischen den sowjetischen Artikeln und dem Fall »Deljana« tatsächlich durch die Vorstellung einer lückenlosen Befehlskette zwischen Moskau und Sofia adäquat wiedergegeben werden kann. Der Umstand, dass in der Sowjetunion wie in Bulgarien einerseits die mangelhafte Darstellung der sozialistischen Realität kritisiert und andererseits durch den Appell an die pädagogische Funktion musiktheatralischer Gattungen eine entsprechend verantwortungsbewusste Volkstümlich-

43

»Не бяха ли грешките в ›Деляна‹ резултата от тази наша неотзивчивост по отношение своеовременното разглеждане на важни съветски и наши партийни документи? Ако ние в широка съюзна среда бяхме обсъдили статиите на в.‹Правда‹ по въпросите на съветската опера, ние в значителна степен щяхме да бъдем подпомогнати в правилното разрешаване и на нашите оперни и оперетни въпроси. Това, обаче, ние не направихме. […] А неправилното отношение към съветския опит неминуемо ще затормози и ще спъне правилния развои на българската опера и оперета. Така, на практика се получава.« (SKMKA, »Doklad za rabotata na Săjuza in a muzikalnite institute v svetlinata na v[estnik] Rabotničesko delo – ›Vredno proizvedenie‹«, in: Stenogram ot obštoto săbranie vă vrăzka săs statijata »Vredno proizvedenie« (v[estnik] Rab[otničesko] delo), CDA 291/2/17, Bl. 1-14, hier Bl. 5.)

Der Fall »Deljana«

keit eingefordert wird,44 spricht eher für den Prozess einer übernationalen Aneignung von Argumentationsmustern. Die Durchsetzungsmacht der Sowjetunion zeigt sich weniger in Direktiven aus Moskau als vielmehr in der bereitwilligen und zuvorkommenden Nachahmung des im Zentrum wahrgenommenen im Sinne einer self-colonization der Peripherie. Diese Modelle kommunistischer Musikkritik entsprechen zwar durchaus jener Blockhaftigkeit des autoritären Diskurses, wie sie Alexei Yurchak ausgemacht hat,45 allerdings zeigt sich im Angriff auf Hadžievs Operette Deljana, dass eine Fetischisierung des Archivs nicht notwendig jene Wirklichkeit einer Musikgeschichtsschreibung erzeugen kann, die sich als Kasuistik verstehen würde. Am Beispiel des Falls »Deljana« in der Volksrepublik Bulgarien lassen sich methodische Reflektionen über die Möglichkeit einer musikhistorischen Kasuistik an einem konkreten Beispiel darstellen. Während sich in der bulgarischen Geschichts- und Literaturwissenschaft seit den 1990er Jahren eine gesteigerte Sensibilität für die Skandale, Ereignisse und Fälle im Kommunismus herausgebildet hat, die im Zwischenraum von Leben und Werk angesiedelt sind, weil das halbautonome künstlerische Feld in der Volksrepublik Institutionen und Werke im Begriff eines Sozialistischen Realismus zusammenbringt,46 steht eine Geschichte der bulgarischen Musik in Fällen noch aus. Würde es sich hier auch um eine Unternehmung handeln, die selbst im

44 45 46

Vgl. Anonym, »Za operata ›Bogdan Hmelnicki‹«, in: Pravda vom 20.7.1951, Nachdruck in: Bălgarska muzika 2/7 (1951), S. 18-21. Vgl. Alexei Yurchak, Everything Was Forever, Until It Was No More. The Last Soviet Generation, Princeton/Oxford: Princeton University Press 2006, S. 63. So erklärt Plamen Dojnov: »Der Sozialistische Realismus ist nicht nur eine politischästhetische Doktrin, strukturiert in einer literarischen ›Theorie‹, staatlichen Direktiven, einer normativen ›Poetik‹ und thematisch-stilistischen Prinzipien, sondern auch ein System, das ziemlich genau die Machtpyramide in der Volksrepublik Bulgarien wiederholt. Selbst wenn die Doktrin stark schwankt und schon in Auflösung begriffen ist, wie dies während der 1970er und mehr noch während der 1980er Jahre der Fall gewesen ist, arbeitet das System relativ stabil und garantiert die Dominanz des sozialistisch-realistischen Paradigmas im nichtautonomen Feld der Literatur.« »[С]оцреализмът не е само политестетическа доктрина, структурирана в литературна ›теория‹, властови директиви, нормативна ›поетика‹ и тематично-стилистически принципи, но е и система, повтаряща доста точно пирамидата на властта в НРБ. Така, дори докрината да е силно разколебана и едва ли не в разпад, както е през 70-те и особено през 80-те години на XX век, системата работи относително устойчиво и гарантира доминацията на соцреалистическата парадигма в лишеното от автономия литературно поле.« (Dojnov, Bălgarskijat socrealizăm, S. 13)

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Rahmen einer Globalgeschichte der Musik während des Kalten Kriegs mit dem Problem der Marginalität ihres Gegenstands aus westlicher wie auch aus sowjetischer Perspektive konfrontiert ist, ermöglicht die Einbettung solcher Vorgänge wie der Fall »Deljana« in übernationale Verflechtungszusammenhänge und vorsichtige Verwendung eines Methodenarsenals aus dem Gebiet der postkolonialen Theorie doch die Untersuchung von Ereignissen vor dem Hintergrund einer sich bloß langsam verändernden offiziellen Norm des musikalischen Schaffens in der kommunistischen Kulturpolitik.

Literatur Annus, Epp, »The Conditions of Soviet Colonialism«, in: Interlitteraria (2011), H. 2, S. 441-459. –, »The Problem of Soviet Colonialism in the Baltics«, in: Journal of Baltic Studies 43/1 (2012), S. 21-45. Anonym, »Za operata ›Bogdan Hmelnicki‹« [Über die Oper »Bogdan Hmel’nic’kij«], in: Pravda vom 20.7.1951, Nachdruck in: Bălgarska muzika [Bulgarische Musik] 2/7 (1951), S. 18-21. –, »Vredno proizvedenie« [Ein schädliches Werk], in: Rabotničesko delo [Arbeitertat], Nr. 301 vom 27.10.1952, Nachdruck in: Bălgarska muzika [Bulgarische Musik] 3/5,6 (1952), S. 4-8. Becker-Naydenov, Patrick, »… näher ans Leben«? Zur Volksmusikrezeption der bulgarischen Nachkriegsavantgarde, Münster/New York: Waxmann 2020, in Vorbereitung. Bhabha, Homi K., The Location of Culture, London/New York: Routledge 1994. Chioni Moore, David, »Is the Post- in Postcolonial the Post- in Post-Soviet? Toward a Global Postcolonial Critique«, in: PMLA 116/1 (2001), Sonderheft: Globalizing Literary Studies, S. 111-128. Cook, Nicholas, Beyond the Score. Music as Performance, Oxford: Oxford University Press 2013. Dahlhaus, Carl, »Grundlagen der Musikgeschichte«, in: Hermann Danuser (Hg.), Carl Dahlhaus. Gesammelte Schriften in zehn Bänden, Bd. 1, Laaber: Laaber [1977] 2000, S. 11-155. Danuser, Hermann, »Die Kunst der Kontextualisierung. Über Spezifik in der Musikwissenschaft«, in: Hans-Joachim Hinrichsen, Laure Spaltenstein u.a. (Hg.), Hermann Danuser. Gesammelte Vorträge und Aufsätze, Bd. 1, Schliengen: Argus 2014, S. 104-123.

Der Fall »Deljana«

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–, »Părvata sblăska na socialističeskata ni muzikalna kultura s totalitarnija sistem (1948-1952 godina)« [Der erste Zusammenstoß unserer sozialistischen Musikkultur mit dem totalitären System (1948-1952)], in: Ponedelnik. Spisanie za teorija, politika i kultura [Montag. Zeitschrift für Theorie, Politik und Kultur] 11/7,8 (2008), S. 129-138. Hristova, Natalija, Bălgarskijat slučaj. Kultura, vlast, inteligencija 1944-1989 g. [Der bulgarische Fall. Kultur, Macht, Intelligenzia 1944-1989], Sofia: Izdatelstvo na Nov bălgarski universitet 2015. Karakostova, Rumjana, Idejata Dăržaven muzikalen teată i proekcijata ì v nacionalnija repertoar do kraja na XX vek [Die Idee eines Staatsmusiktheaters und ihre Projektion im Nationalrepertoire bis zum Ende des 20. Jahrhunderts], Sofia: Mars 09 2012. Kiossev, Alexander, »The Self-Colonizing Metaphor«, in: Atlas of Transformation, http://monumenttotransformation.org/atlas-of-transformation/ht ml/s/self-colonization/the-self-colonizing-metaphor-alexander-kiossev. html [letzter Zugriff: 31.1.2020]. Koleva, Daniela (Hg.), »Vărhu hrastite ne padat mălnii«. Komunizmăt – žitejski sădbi [»Blitze schlagen nicht in Sträucher«. Der Kommunismus – Lebensschicksale], Sofia: Siela 2007. – (Hg.), Belene – mjasto na pamet? Antropologična anketa [Belene – ein Erinnerungsort? Eine anthropologische Enquête], Sofia: Siela 2010. K’osev, Aleksandăr, Daniela Koleva (Hg.), Trudinijat razkaz. Modeli na avtobiografično razkazvane za socializma meždu ustnoto i pismenoto [Die schwierige Erzählung. Modelle des autobiographischen Erzählens über den Sozialismus zwischen dem Mündlichen und dem Geschriebenen], Sofia: Siela 2017. Luhmann, Niklas, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, [1997] 2017. Schmelz, Peter J., Such Freedom, if Only Musical. Unofficial Soviet Music during the Thaw, Oxford/New York: Oxford University Press 2009. SKMKA (Săjuz na bălgarskite kompozitori, muzikovedi i koncertirašti artisti [Verband der bulgarischen Komponisten, Musikwissenschaftler und Musiker]) [Sprecher: Venelin Krăstev], »Doklad za rabotata na Săjuza in a muzikalnite institute v svetlinata na v[estnik] Rabotničesko delo – ›Vredno proizvedenie‹« [Bericht über die Arbeit des Verbands und der Musikinstitute im Lichte der Zeitung Arbeitertat – »Ein schädliches Werk«], in: Stenogram ot obštoto săbranie vă vrăzka săs statijata »Vredno proizvedenie« (v[estnik] Rab[otničesko] delo) [Stenogramm der Hauptversammlung in Ver-

Der Fall »Deljana«

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Gemeinschaftsstimme Klangpolitik, Volkskörper-Werden und Massensingen im Nationalsozialismus Christopher Klauke

Eine Zeitzeugin des Nationalsozialismus erinnert sich: »Dieser ganze NSStaat war ja so etwas wie eine Singdiktatur. Es wurde ständig gesungen«1 . Und dabei stets gemeinschaftlich – ließe sich hinzufügen – mit dem Ziel, eine ideologisch konnotierte Volksgemeinschaft hervorzubringen. Doch was zeichnet eine solche Gemeinschaft aus, die aus singenden Stimmen gebildet ist? Der vorliegende Aufsatz geht den klang- und den damit verbundenen körperpolitischen Dimensionen des Singens im Nationalsozialismus nach, indem das Gemeinschaftssingen auf Festakten sowie das stark körperbezogene Stimmenkonzept im Erziehungs-Diskurs schlaglichtartig erläutert und untersucht werden. Gemeinschaftssingen wird hier verstanden als musikalisch organisierte Praxis des Gemeinsam-die-Stimme-Erhebens. Durch das musikalische Organisationsprinzip des (Gemeinschafts-)Liedes ist gewährleistet, dass die einzelnen Stimmen sich ohne Anleitung eines weiteren Außen synchron erheben und sich darüber zu einer sogenannten Gemeinschaftsstimme verbinden können. Demgemäß wird dieser musikspezifische Vergemeinschaftungsprozess nachfolgend über die Praxis und das Ereignis des Singens beschrieben – mithin über die Materialität der Stimme –, nicht etwa über Texte oder satztechnische Strukturen der Lieder.

1

Zit. n. Gottfried Niedhart, »Sangeslust und Singdiktatur im nationalsozialistischen Deutschland«, in: Gottfried Niedhart, George Broderick (Hg.), Lieder in Politik und Alltag des Nationalsozialismus, Frankfurt a.M.: Peter Lang 1999, S. 5.

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Christopher Klauke

Da der Stimme stets ein Körper bzw. eine körperliche Dimension anhaftet – sie die Stimme eines Körpers ist, von dem sie ausgeht und gebildet wird2 –, lässt sich das Singen in politisch motivierten Arrangements als eine biopolitische Strategie3 der Hervorbringung und Abrichtung eines auditiven Körpers bzw. der auditiven Dimension des Körpers betrachten. Praktiken und klangästhetische Normen des Singens sowie vokalmusikalische Gattungen operieren auf der Ebene der Stimme, verlangen von ihr eine spezifische Artikulation, greifen damit auch immer auf den Körper zu und disziplinieren ihn zu Leistungen. Singpraktiken wirken so immer auch auf die Handlungen der Körper, festigen eine body politic. Der Nationalsozialismus stellt nach dieser Einschätzung – da er sowohl auf das Singen zugreift als dieses auch politisch instrumentalisiert – ein politisches Gefüge dar, in dem die Singpraxis als Regierungs- und Disziplinartechnologie betrachtet werden kann. Um solcherlei über Klangpraktiken organisierte Körperzugriffe eines kulturhistorisch spezifischen Geflechts aufzuspüren, wird zunächst die vom Regime intendierte Funktion und Wirkung des Gemeinschaftssingens skizziert. Daran anschließend wird über das Programm der Stimmerziehung von Friedrich Gößler ein Einblick in das Verhältnis von Stimme und Körper im Nationalsozialismus gegeben und schließlich exemplarisch, anhand des Festakts »Tag der nationalen Arbeit« am 1. Mai 1933 in Berlin, die Konstitution und Performativität eines durch das Gemeinschaftssingen evozierten auditiven Volkskörper beschrieben.

2

3

Die Medienphilosophin Sybille Krämer etwa fasst die essentielle »körpergebundene Materialität der Stimme« unter dem Begriff der »›physiognomische[n] Funktion‹ der Stimme«. Sybille Krämer, »Die ›Rehabilitierung der Stimme‹. Über die Oralität hinaus«, in: Doris Kolesch, Sybille Krämer (Hg.), Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 269-298, hier S. 275. Der Begriff der Bio-Politik wird hier grundsätzlich im Sinne Michel Foucaults Konzeptualisierung verwendet und dabei weitestgehend auf die Ebene der Disziplinartechnik bezogen. Vgl. Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-1976), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 276-313, mit Bezug zum Nationalsozialismus ebd., S. 300ff.

Gemeinschaftsstimme

Zur gemeinschaftsevozierenden Funktion des Singens im Nationalsozialismus Der totalitäre Charakter des Nationalsozialismus gründete zu einem erheblichen Teil auf der allumfassenden Einschließung aller Volksgenoss*innen in Organisationen – etwa Deutsches Jungvolk, Bund Deutscher Mädel, Hitlerjugend, NS Frauenschaft oder Schutzstaffel –, die das alltägliche Leben strukturierten und Ideologien über spielerische sowie häufig affektiv-körperliche Formate vermittelten. Besonders wurde hierzu auch das Gemeinschaftssingen instrumentalisiert, das fester Bestandteil jeglicher, stets durchgeplanter Gruppentreffen und Festakte war.4 Auffällig sind dabei eine Standardisierung des zu singenden Repertoires sowie die Art des Singens – die Lieder wurden in der Regel unisono gesungen –, die durch ein breites Regulierungssystem aus Zeitschriften, Liederbüchern und speziell ausgebildeten Musikspezialist*innen, die in jeder Gruppe vorhanden sein mussten und die Singpraxis anleiteten, sichergestellt wurde.5 Die vokalmusikalische Praxis stand damit im Feld nationalsozialistischer Politik und Propagandamaßnahmen, wurde über die bürokratisierte Instanz der Musikpädagogik von diesen kontrolliert und organisiert. Dem Singen kam dabei offensichtlich wesentlich die Funktion des Evozierens von Gemeinschaft zu, es wurde als gemeinschaftserlebende Aktivität verstanden, wie aus verschiedenen Quellen des nationalsozialistischen musikpädagogischen Diskurses hervorgeht.6 Für den NS-Musikpädagogen Fritz Reusch etwa gründe sich die nationalsozialistische Erziehung, dessen zentrale Aufgabe es sei, zu einer Volksgemeinschaft hinzuführen, »auf die elementaren Mächte der Musik, vor allem auf die lebenzeugende [sic!] und gemeinschaftsbildende Kraft des Singens«7 . Und auch die Musikwissenschaftlerin Anne Niessen kommt nach Auswertung einzelner Interviews mit Zeitzeuginnen des Bund Deutscher Mädel zu dem Schluss, dass durch das Singen Gemeinschaft intensiv auf eine vermeintlich

4 5 6 7

Anne Niessen, »Die Lieder waren die größten Verführer!« Mädchen und Musik im Nationalsozialismus, Mainz: Schott 1999, S. 224f. Vgl. Ulrich Günther, Die Schulmusikerziehung von der Kesternberg-Reform bis zum Ende des Dritten Reichs, Augsburg: Wißner 1992, S. 57f. Ebd., S. 56f. Fritz Reusch, Musik und Musikerziehung im Dienste der Volksgemeinschaft, Osterwieck: Zieckfeld 1938, S. 4.

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spielerische und freiwillig vollzogene Art erlebt wurde. Eine Zeitzeugin beschreibt die Erfahrung des Gemeinschaftssingens dabei wie folgt: »Es war einfach diese Stimmung, dieses Miteinander! Alle singen die gleiche Stimme; alle tun das Gleiche zu gleicher Zeit. Das war eigentlich die große Begeisterung, dass man so mittendrin stand und getragen wurde von der Gemeinschaft. Das war eigentlich das große Erlebnis.«8 Indem die Beteiligten »die gleiche Stimme« »zu gleicher Zeit« gesanglich erheben, wird eine Vokalgemeinschaft erzeugt, deren communitas-Konzept sich dadurch auszeichnet, dass die erlebte Synchronität der Einzelstimmen eine Selbsterfahrung ermöglicht, in der sich jeder Leib »mittendrin« und »getragen« von der akustischen Gemeinschaft verorten kann. Dieser Erfahrungsbericht des klanglichen In-der-Gemeinschaft-Seins deckt sich bezüglich des betonten Ereignischarakters mit den intendierten Funktionen des Gemeinschaftssingens im Propagandadiskurs, da auch hier die Volksgemeinschaft geradezu körperlich verortet erlebt wird. Die stark ideologisch konnotierte Volksgemeinschaft wird durch das Singen affektiv erfahren, nicht nur imaginär vorgestellt oder semantisch beschworen. Der Historiker Michael John hat in seiner Auseinandersetzung mit dem Massensingen im sowjetischen Agitprop die These aufgestellt, »dass ein den Massengesängen inhärentes ›Rauschen‹ den sinngebenden Akt verhindert« hätte und »mehr zu einer lustvollen Hingabe an das rein signifikante (klangliche) Erleben von Musik«9 hingeführt hätte. John kommt nach Auswertung von Erlebnisberichten und ideologischen Anweisungen bzw. Schriften zum Singen auf Massenfeiern zu folgendem Schluss: »Der Hörer reflektiert nicht mehr die Entwicklung des motivischen Materials, orientiert sich nicht innerhalb eines stilistischen Systems, […] sondern partizipiert rein sinnlich-emotional oder körperlich an dem Klanggeschehen, das sich für ihn auch als ein lustvolles Rauschen darstellen kann.«10 Hier wird nochmals die zentrale Stellung der sinnlichen Dimension im politisch motivierten Massensingen deutlich. Damit wird auch deutlich, dass 8 9

10

Niessen, »Die Lieder waren die größten Verführer!«, S. 225. Michael John, »Fröhlich sein und singen – Musikalische Entgrenzungsszenarien im sowjetischen Agitprop der zwanziger Jahre«, in: Árpád von Klimó, Malte Rolf (Hg.), Rausch und Diktatur. Inszenierung, Mobilisierung und Kontrolle in totalitären Systemen, Frankfurt a.M.: Campus 2006, S. 119-138, hier S. 119. Ebd., S. 133f.

Gemeinschaftsstimme

dem in dieser Form organisierten Massensingen eine spezifische Ästhetik des Rauschens zukommt, die eine Übersteigung des Ichs ermöglicht und für politische Interessen mobilisiert wird. Wichtig ist demnach zudem nicht so sehr, was oder wie gesungen wird, sondern dass gemeinschaftlich gesungen wird; die Gemeinschaft konstituierende Kraft des Singens steckt im Vollzug des performativen Akts des Mit-Singens selber, der auf je unterschiedliche Art gestaltet oder eingebunden, darüber auch stückweise ideologisch gefärbt werden kann.

Stimmerziehung als biopolitische Regulierung des Körpers Inwiefern die Stimme selbst, als Materialität des Singens, durch den Ideologieapparat biopolitisch reguliert wurde, zeichnet sich in der erstmals 1939 erschienenen Schrift Fragen einer Stimmerziehung in Jugend und Volk von Wilhelm Gößler ab, die mit dem Ziel antritt, ein totalitär anwendbares Programm einer Stimmerziehung für Schulen, Militär und sämtliche NS-Organisationen zu ergründen.11 Die »vordinglichste Aufgabe einer Jugendstimmerziehung« sei nach Gößler »die Erfassung der gesamten deutschen Jugend und ihrer Hinführung zu gesundem Singen«12 . Da er sich – eine Folge des unkontrollierten Singens in den NS-Organisationen – mit »nachweislichen massenhaften Schädigungen der Jugendstimme« konfrontiert sieht, sei eine biologisch fundierte Stimmerziehung als Maßnahme gegen den »stimmlichen Raubbau«13 einzurichten. Die Stimme der gesamten Jugend, des Volkskörpers, soll so vor Schäden bewahrt werden – vornehmlich damit keine »Erlebnishemmungen«14 beim Gemeinschaftssingen entstünden. Die von Gößler verwendeten Begriffe »gesund« und »Stimmschaden« verweisen schon auf die von ihm angenommene rassenhygienische Fundierung der Stimme, die durch eine biopolitisch aus-

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Gößler war zu der Zeit Sachbearbeiter für Stimmerziehung im Kulturamt der Reichsjugendführung. Die programmatische Schrift dürfte bereits wegen seiner beruflichen Stellung im bürokratischen Apparat einen gewissen Verbreitungsgrad erfahren haben, wurde außerdem direkt von der Reichsjugendführung in Auftrag gegeben. Friedrich Wilhelm Gößler, Fragen einer Stimmerziehung in Jugend und Volk, Wolfenbüttel: Georg Kallmeyer 1940, S. 15. Ebd., S. 16. Ebd., S. 72.

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gerichtete Stimmerziehung den Schutz des vokalen Volkskörpers gewähren soll. Gößler distanziert sich explizit von Stimmidealen, die mit der BelcantoTradition der Oper in Verbindung stünden; er kritisiert hieran, dass der Körper so sehr modifiziert werde, dass die Stimme ihrer Natürlichkeit enthoben werde.15 Zudem trete im vokalmusikalischen Ideal des Nationalsozialismus »[a]n die Stelle der stimmlichen Besonderheit der Einzelperson […] die stimmliche Besonderheit einer singenden Gemeinschaft«16 . Die Stimmen sollen also gerade nicht durch einen individuellen Klang bestechen, sondern in Hinblick auf eine chorisch klingende Stimme ausgebildet werden. Auffallend ist, dass das neue Singen bzw. die neue Stimme hier stets entwicklungsbiologisch begründet wird: »An die Stelle der gegenwärtigen konzertanten Gesangsausbildung tritt die Erkenntnis der Entwicklungsgesetze der im Wachstum stehenden Stimme«17 . Die »organbedingte[] Ausdrucksmöglichkeit der Jugendstimme«18 stünde im Zentrum der Erziehung zu einem gesunden Singen. Die Stimmerziehung greift so nicht (mehr) auf künstlerisch-ästhetische Vorstellungen zurück, um die Stimme zu formen, Anhaltspunkt ist vielmehr die biologische Kenntnis der Stimme; eine im Diskurs etablierte Betrachtungsweise, die Gößler unter dem Begriff der »Stimmbildungswissenschaft«19 fasst, worunter »allgemeine bewegungstechnische und kräftetechnische Gesetze der Muskeln und ihrer besonderen Beziehung zum akustischen Geschehen«20 verstanden werden. Auf Grundlage dieser von ihm erläuterten biologischen Kenntnisse der gesunden Stimmenhervorbringung soll der*die Stimmerzieher*in dann die Einzelstimmen formen und korrigieren. Die »›physiognomische Funktion‹ der Stimme«21 steht in diesem Diskurs also im Zentrum der Betrachtung und wird biologisch operationalisiert. Sie wird als ein körperlich-organisches Resultat und Phänomen verstanden und dies so weit, dass eine Stimmbildungserziehung in erster Linie nicht den Stimmklang formt, sondern – über die epistemologische Grundlage einer Stimmbildungswissenschaft – auf die in den Vorgang der Stimmbildung 15 16 17 18 19 20 21

Vgl. ebd., S. 50f. Ebd., S. 78. Ebd., S. 80. Vgl. dazu auch S. 17-34, 83ff. Ebd., S. 84. Ebd., S. 12. Vgl. dazu auch die gesamte Argumentation: S. 50-71. Ebd., S. 53. Krämer, »Die ›Rehabilitierung der Stimme‹«, S. 275.

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involvierten Körperteile zugreift, die Singstimme mithin nicht auf dem Tableau einer formalen Klangästhetik, sondern der Naturwissenschaften angesiedelt ist und von dort aus ge-stimmt wird. Der Staatsapparat verschafft sich über ein so angelegtes Erziehungsprogramm Zugriff auf die Stimmen hervorbringenden Körper, sorgt regelrecht für eine Stimmenhygiene, sodass in letzter Instanz selbst das Gemeinschaftssingen als Teil der Regierungspraxis betrachtet werden kann. Es ist immer schon eine durch jene Programme geformte Stimme, die sich erhebt.

Die Genese des vokalen Volkskörper-Werdens beim Festakt des 1. Mai 1933 Wie sich eine Volksgemeinschaft durch den Akt des Massensingens auditiv konstituiert, wie das vokalmusikalische Setting auf Festakten dafür arrangiert ist und was für ein stimmlicher Verbund von Körpern hier zu hören ist, soll nun anhand der 1.-Mai-Feier 1933 auf dem Tempelhofer Feld in Berlin erläutert werden.22 Der bereits seit dem Morgen dieses 1. Mai in Gang gesetzte Sternenlauf verschiedener Orts- und Interessengruppen zum Tempelhofer Feld führte dazu, dass sich dieses langsam füllte und gegen 20 Uhr – nach Angaben Joseph Goebbelsʼ – »einundeinehalbe Millionen Menschen«23 versammelt waren; der Höhepunkt des Festaktes begann. Nachdem seine Ankunft feierlich vorbereitet wurde, fährt Hitler schließlich mit einer größeren Kolonne aus Wagen vor. Das weitere Geschehen beschreibt Goebbels wie folgt: »Ich eröffne kurz und lasse eine Minute Schweigen eintreten für die in Essen am selben Tage verunglückten Bergleute. […] Dann spricht der Führer. […] Ein

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Die inhaltlich anders ausgerichteten Festakte im Nationalsozialismus ähneln den hier besprochenen in Bezug zum Ablauf und zu den performativen Setzungen stark. Das Gemeinschaftssingen des sog. Deutschlandliedes markiert dabei offensichtlich jedes Mal den Schluss des Festakts. Vgl. Carolyn Birdsall, Nazi Soundscape. Sound, Technology and Urban Space in Germany, 1933-1945, Amsterdam: Amsterdam University Press 2012, S. 37-59. Zit. n. Wieland Elfferding »Von der proletarischen Masse zum Kriegsvolk. Massenaufmarsch und Öffentlichkeit im deutschen Faschismus am Beispiel des 1. Mai 1933«, in: Klaus Behnken (Hg.), Inszenierung der Macht. Ästhetische Faszination im Faschismus, Berlin: Nishen 1987, S. 17-50, hier S. 44.

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toller Rausch der Begeisterung hat die Menschen erfaßt. Gläubig und stark klingt Horst Wessels Lied in den ewigen Abendhimmel hinauf […].«24 An dieser Beschreibung zeigt sich bereits implizit die auditive Gestaltung des Festhöhepunktes. Nach langem Warten trifft Hitler ein, jedoch ist vorerst auf dem bereits dunklen, stellenweise mit Fackeln und Scheinwerfern beleuchteten Feld Goebbelsʼ elektrisch verstärkte Stimme zu hören, auf welche ein Schweigen folgt.25 Dann erst ist Hitler über seine Stimme26 und die darin artikulierte Rede, in der er eine Volksgemeinschaft beschwört, präsent. Bemerkenswert ist, dass dieser Teil der Inszenierung primär auditiv getragen wird. Denn der Ablauf: Stimme Goebbelsʼ – Schweigen – Stimme Hitlers – Gemeinschaftsgesang legt in erster Linie eine auditive Struktur fest, die durch Ab- und Anwesenheit verschiedener Stimmen gekennzeichnet ist. Nun erhebt sich innerhalb dieses Ablaufes nach zwei Einzelstimmen, die die Masse adressieren und, laut Goebbels, in Rausch einstimmen, ein Gemeinschaftsgesang27 der 1,5 Millionen Adressat*innen. Hitler bezeichnet diese Masse in seiner emphatischen Rede als Volksgemeinschaft, sodass sie semantisch von außen bereits vor der Erfahrung des Gemeinschaftssingens als Einheit deklariert wurde. Und nicht nur das Horst-Wessel-Lied, wie dem Goebbels-Bericht zu entnehmen ist, wurde gesungen, sondern laut Wieland Elfferding auch das »Lied der Deutschen« mit daran anschließendem Horst-Wessel-Lied.28 24 25 26

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Ebd. Vgl. ebd., S. 43ff. Cornelia Epping-Jäger hat in ihren Analysen zum Mediendispositiv Laut/Sprecher im Nationalsozialismus die zentrale Funktion der elektrisch verstärkten sowie durch Lautsprecher und Volksempfänger gehörten Rednerstimme, auch in Bezug zur durch diese geformte Volksgemeinschaft beim Festakt des 1. Mai, hervorgehoben. Außerdem konstatiert sie, dass die fehlende visuelle Erscheinung Hitlers explizit durch die klangliche Dimension der Stimme kompensiert wurde. Cornelia Epping-Jäger, »›Eine einzig jubelnde Stimme‹. Zur Etablierung des Dispositivs Laut/Sprecher in der politischen Kommunikation des Nationalsozialismus«, in: Cornelia Epping-Jäger, Erika Linz (Hg.), Medien/Stimmen, Köln: DuMont 2003, S. 100-123. In der Literatur und den zeitgenössischen Zeitungsbeiträgen finden sich keine Angaben dazu, ob das Gemeinschaftssingen instrumental begleitet wurde. Zwar kamen mehrere Kapellen auf dem Feld bereits vor der Ankunft Hitlers zum Einsatz, doch wurde das Gemeinschaftssingen hier offensichtlich – wie auch auf anderen Festakten üblich – ohne orchestrale Begleitung vollzogen. Elfferding, »Von der proletarischen Masse zum Kriegsvolk«, S. 33. Das »Deutschlandlied« (meist die erste und vierte Strophe) wurde zur Zeit des Nationalsozialismus grundsätzlich mit anschließendem Horst-Wessel-Lied gesungen.

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Der Prozess des auditiven Volkskörper-Werdens in der hier verdeutlichten kulturhistorisch spezifischen Situation des Gemeinschaftssingens kann über den Fokus auf der klanglichen Materialität der Stimmen genauer beschrieben werden. Die Stimme in ihrer materiellen Dimension, fernab von Sinn und Inhalt, wie sie von einer gewissen Strömung der Musik- und Kulturwissenschaft betrachtet und analysiert wird29 , kann für die Analyse des Massensingens auf nationalsozialistischen Festakten eine interessante Perspektive öffnen, da hierüber der vokalmusikalische Akt nicht als Mitteilung einer (Text-)Bedeutung oder über seinen formalen Gehalt betrachtet werden muss, sondern vielmehr die Präsenz und Performativität der Stimme als (musikalisches) Material dieser Handlung bestimmt werden kann. Dieser Form einer klanglichen Materialität muss ein eigensinniges Potential der Vergemeinschaftung zugesprochen werden. Klänge – und damit auch Stimmen – können sich schließlich miteinander verbinden, ineinander verschmelzen. Ebenso wird damit auch grundsätzlich eine Ästhetik des Performativen aufgerufen, welche sich auf die Prozesshaftigkeit des klanglichen Ereignens bezieht. Eine singende Einzelstimme, die sich am 1. Mai 1933 auf dem Tempelhofer Feld erhebt, erklingt immer schon mit anderen Stimmen, da es der Akt des Gemeinschaftssingens in dieser Form vorsieht. In dieser musikalisch organisierten Vokalpraxis ist also eine Artikulation der Stimme als Stimmen gegeben. Zunächst werden die Einzelkörper dazu aufgefordert, ihre Stimme gesanglich zu erheben. Im Akt des Sprechens dagegen etwa vernimmt der Einzelne seine körperlich generierte Stimme als Spur seines Leibes, die den Körper verlässt, aber wiederum von ihm wahrgenommen wird. Nun bleibt in der Praxis des Gemeinschaftssingens dieser leibliche Akt der Hervorbringung vorhanden, aber die eigene Stimme wird nicht gehört. Die Einzelkörper sind zwar aktiv-körperlich an der Klangproduktion beteiligt, können sich aber nicht mehr ausschließlich als diese erfahren. Vernommen wird in dieser Situation auch nicht die Stimme der Anderen als einzeln differenziert wahrnehmbare Entitäten, vielmehr die Masse als ein nicht mehr quantitativ fassbares Gefüge.

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Bemerkenswert ist, dass in diesem Diskurs in der Regel die Einzelstimme betrachtet wird, das Konzept der Gemeinschaftsstimme hingehen weitgehend unbeachtet bleibt. Vgl. Doris Kolesch, Sybille Krämer, »Stimmen im Kontext der Disziplinen. Zur Einführung in diesen Band«, in: Doris Kolesch, Sybille Krämer (Hg.), Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 7-15. Vgl. zur Diskussion über die Materialität der Stimme auch Krämer, »Die ›Rehabilitierung der Stimme‹«.

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Die durch die Rede Hitlers beschworene Volksgemeinschaft wird in dieser Situation klanglich verkörpert. Die Einzelstimme ist in dem Moment des SichErhebens bereits mit anderen Stimmen verwoben, wodurch die fundamentale Erfahrung des Sich-sprechen-Hörens unterbunden wird und stattdessen eine Gemeinschaftsstimme gehört wird, der man aber gleichzeitig, indem man sie mitproduziert, angehört, dessen Teil man ist. Denn die Einzelkörper hängen, indem sie das Klanggefüge der Gemeinschaftsstimme selber miterzeugen, in diesem. Sie sind aufgrund der somatischen Dimension der Stimme sogar körperlich in dieses involviert, weshalb der Begriff der Volksgemeinschaft hierfür auch unpräzise wäre. Die Gemeinschaft, die sich hier konstituiert, ist wegen des körperlichen Bezugs der Stimme eine klanglich verkörperte. So kann denn auch die Gemeinschaftsstimme als körperliche Spur verstanden werden, als Spur jedoch von einem virtuellen und nur im Akt des Singens präsenten Volkskörper 30 . Ist das Apriori der Stimme für gewöhnlich der Körper, besteht die Spezifik dieses klingenden Gemeinschaftskörpers umgekehrt darin, dass er erst ein Resultat der Gemeinschaftsstimme ist, die zwar aus Stimmen von Einzelkörpern besteht, diese aber nicht differenziert hörbar sind. Die Stimme artikuliert hier erst einen (Volks-)Körper, bezeugt das Dasein eines ausschließlich klanglich anwesenden Kollektivkörpers, ist nicht die Spur oder der Index eines fleischlichen Körpers.31 Eine Gemeinschaftsstimme, die aus unzähligen Einzelkörpern hervorgeht, konstituiert einen Volkskörper, eben indem sie die Stimmen der darin erklingenden Einzelkörper miteinander verwebt und als zusammengefügte Einheit hörbar macht. Klanglich sind die Einzelkörper als differenzierte Einzelstimmen dann nicht mehr vorhanden, wohl aber werden sie währenddessen aktiv eingesetzt, um diesen Volkskörper zu produzieren. Dieser stetig aufrechterhaltene Übergang bzw. diese erlebte Differenz des Einzelstimme-Erhebens und des Gemeinschaftsstimme-Hörens zeichnet das Volkskörper-Werden aus. Die Stimme, über welche dieser Transformationsprozess verläuft, ist einerseits die Stimme eines individuellen Körpers (in diesem Beispiel des Einzelkörpers), besitzt andererseits aber auch die Möglich30

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Der Begriff des Volkskörpers nimmt innerhalb der NS-Propaganda eine zentrale Rolle ein. Hierrüber wird diskursiv u.a. ein Kollektivkörper-Phantasma verhandelt und verbreitet. Dieser kulturhistorisch spezifische Körper wird – dem Vorschlag dieser Arbeit nach – auch über Gesangspraktiken gebildet, gar verkörpert. Vgl. Boaz Neumann, Die Weltanschauung des Nazismus. Raum – Körper – Sprache. Göttingen: Wallenstein 2010, S. 128ff. Vgl. ebd., S. 11.

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keit, sich klanglich mit anderen Stimmen zu verweben und darüber eine andere Stimme zu evozieren, die einen klingenden Volkskörper präsent macht. In diesem Sinne erleben die Teilnehmenden sich klanglich als zwei Körper: sowohl als individueller Leib, mit dem sie ihre Stimme erheben, als auch als Teil eines kollektiven Körpers, dessen Stimme sie hören. Dieser virtuelle Volkskörper kann sich jedoch nur über den musikalischen Akt des Gemeinschaftssingens verwirklichen, ist so auch durch die Ereignishaftigkeit des Klingenden stets nur im hic et nunc vorhanden. Durch den Angebotscharakter des gemeinsam hervorgebrachten Liedes ist eine Ordnung gegeben, in der sich die Einzelstimmen zur Gemeinschaftsstimme verbinden können. Das Singen diszipliniert und koordiniert gewissermaßen die Stimmen und die daran hängenden Körper zur Einheit. Indem sich die Stimmen in ein gemeinsames Tempo sowie unisono artikuliert in einen Ton einstimmen und einer Melodie folgen, synchronisieren sie sich. Vokalmusik ist in diesem Arrangement die auf die Einzelkörper zugreifende Praxis oder gar Disziplinartechnologie, die die Stimmen performativ zu einer klanglichen Einheit fassen kann. Durch diese Praxis ist – pointiert formuliert – auf der 1.-Mai-Feier 1933 die Möglichkeit gegeben, eine beliebige Anzahl von Stimmen miteinander zu verschalten und die in der Rede Hitlers erwähnte Volksgemeinschaft klanglich anwesend und wahrnehmbar werden zu lassen. Die Gemeinschaftsstimme ist auch Resultat eines umfangreichen Ensembles an institutionell organsierten Maßnahmen – dem ständigen Singen in den Organisationen und der Stimmerziehung –, die durch einen intendierten Zugriff auf die Körper bzw. die Stimmen eine kulturhistorisch spezifische Praxis des Singens ausbilden und damit ein klangliches Volkskörper-Werden auf propagandistischen Festakten ermöglichen.

Fazit Dem Singen wurde innerhalb des nationalsozialistischen Diskurses die Funktion zugetragen, Gemeinschaft zu evozieren und erfahren zu können. Über die Materialität der Stimme, also ihrer klanglichen und nicht Bedeutung generierende Dimension, ließ sich erläutern, inwiefern der vokalmusikalische Akt als performativer Vollzug, Gemeinschaft auf eine spezifische Art generiert. Anhand der programmatischen Stimmerziehung Wilhelm Gößlers konnte gezeigt werden, dass über den biologischen Zugriff auf die im

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Singen beteiligten Körperteile eine gesunde und am Gemeinschaftssingen orientierte Stimme geformt werden sollte, die Stimme also zum biologischen Objekt wird, das nach Vorstellungen der Ideologie gestaltet werden kann. In der Praxis und dem Ereignis des Massensingens auf Festakten verbinden sich die Einzelstimmen zu einer Gemeinschaftsstimme, die als Ausdruck und Resultat eines klanglichen Volkskörpers verstanden werden kann. Diese Gemeinschaftserfahrung ist bestimmt durch den Zwiespalt bzw. die Irritation des Akts des Einzelstimme-Erhebens auf der einen Seite sowie des Gemeinschaftsstimme-Hörens auf der anderen Seite: Man hört sich mithin als Gemeinschaftsstimme und vollzieht einen Prozess des VolkskörperWerdens, in welchem sich das Konzept der Volksgemeinschaft performativ realisiert. Grundsätzlich lässt sich so ferner auch an eine Ästhetik des Performativen anknüpfen. Die Situation des Massensingens auf Festakten eröffnet den singend Partizipierenden eine ästhetische Erfahrung des Rauschens, die sie als Einzelne übersteigt. Nicht etwa auf das Werk – in diesem Fall das »Lied der Deutschen« – und dessen Gehalt richtet sich dann der Fokus, sondern auf den Mit-Vollzug der Aktion selbst. Die hierbei beförderte ästhetische Erfahrung ergibt sich durch das Programm der Stimmerziehung und durch die Inszenierung des Festaktes. Gemeinschaftssingen im Nationalsozialismus lässt sich somit als Disziplinartechnik verstehen, da die Singstimme sowohl durch den Zugriff auf den biologischen Körper in Besitz genommen und geformt wird als auch in der Praxis des Gemeinschaftssingens eine implizite Aufforderung liegt, sich mit anderen Körpern klanglich zu einem Volkskörper zu verbinden, zur Gemeinschaftsstimme zu werden.

Literatur Birdsall, Carolyn, Nazi Soundscape. Sound, Technology and Urban Space in Germany, 1933-1945, Amsterdam: Amsterdam University Press 2012. Elfferding, Wieland, »Von der proletarischen Masse zum Kriegsvolk. Massenaufmarsch und Öffentlichkeit im deutschen Faschismus am Beispiel des 1. Mai 1933«, in: Klaus Behnken (Hg.), Inszenierung der Macht. Ästhetische Faszination im Faschismus, Berlin: Nishen 1987, S. 17-50. Epping-Jäger, Cornelia, »›Eine einzig jubelnde Stimme‹. Zur Etablierung des Dispositivs Laut/Sprecher in der politischen Kommunikation des Natio-

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nalsozialismus«, in: Cornelia Epping-Jäger, Erika Linz (Hg.), Medien/Stimmen, Köln: DuMont 2003, S. 100-123. Foucault, Michel, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-1976), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. Gößler, Friedrich Wilhelm, Fragen einer Stimmerziehung in Jugend und Volk, Wolfenbüttel: Georg Kallmeyer 1940. Günther, Ulrich, Die Schulmusikerziehung von der Kesternberg-Reform bis zum Ende des Dritten Reichs, Augsburg: Wißner 1992. John, Michael, »Fröhlich sein und singen – Musikalische Entgrenzungsszenarien im sowjetischen Agitprop der zwanziger Jahre«, in: Árpád von Klimó, Malte Rolf (Hg.), Rausch und Diktatur. Inszenierung, Mobilisierung und Kontrolle in totalitären Systemen, Frankfurt a.M.: Campus 2006, S. 119-138. Kolesch, Doris, Sybille Krämer, »Stimmen im Kontext der Disziplinen. Zur Einführung in diesen Band«, in: Doris Kolesch, Sybille Krämer (Hg.), Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 7-15. Krämer, Sybille, »Die ›Rehabilitierung der Stimme‹. Über die Oralität hinaus«, in: Doris Kolesch, Sybille Krämer (Hg.), Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 269-298. Neumann, Boaz, Die Weltanschauung des Nazismus. Raum – Körper – Sprache. Göttingen: Wallenstein 2010. Niessen, Anne, ›Die Lieder waren die größten Verführer!‹ Mädchen und Musik im Nationalsozialismus, Mainz: Schott 1999. Reusch, Fritz, Musik und Musikerziehung im Dienste der Volksgemeinschaft, Osterwieck: Zieckfeld 1938.

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II. Musik und Klang in der Philosophie

Selbst und Selbstverlust im Sound Zur Ontologie sonischer Materialität Luise Wolf »Aesthetic immersive consciousness […] may be said to be in a vibratory self/nonself referential mode […] the ›infinitely close and at the same time infinitely distant‹.«1 Joseph Nechvatal

In Immersion Into Noise schreibt Joseph Nechvatal, Noise-Musik könne ein Schwanken der Wahrnehmung evozieren zwischen sich selbst unheimlich nahe sein und unglaublich weit entfernt fühlen. Mit dieser Beobachtung ist er nicht allein. Als »flow« zwischen Selbstkontrolle und Selbstverlust charakterisiert Paul Hegarty die Erfahrung von Noise.2 Olivia Lucas schreibt über die Drone-Musik der Band Sunn O))): »When my body stopped fighting the overload, however, and submitted, I discovered a state of freedom and relaxation so intense as to be soporific.«3 Weiterhin berichtet sie: »In submitting to this sensory overtake, we are invited to free ourselves from thoughts of how and why and simply be with and in the sound.«4 Erst ein Sich-Lösen vom kognitiv-reflexiven Rezipieren der Musik löst eine ästhetische Erfahrung des Sich-selbst-Bewusstseins und zugleich der Freiheit vom Selbstsein aus. Viele

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Joseph Nechvatal, Immersion Into Noise, Ann Arbor: Open Humanities Press 2011, S. 29. Paul Hegarty, »Brace and Embrace: Masochism in Noise Performance«, in: Marie Thompson, Ian Biddle (Hg.), Sound, Music, Affect. Theorizing Sonic Experience, London: Bloomsbury 2013, S. 133-146, hier S. 142. Olivia Lucas, »Maximum Volume Yields Maximum Results«, in: Marcel Cobussen, Vincent Meelberg (Hg.), Journal of Sonic Studies 7 (2014), www.researchcatalogue.net/view/84314/87805, S. 5 [letzter Zugriff: 31.1.2020]. Ebd., S. 5.

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Rezipient*innen entdecken gänzlich neue Gefühle, Sinneswahrnehmungen, Höreinstellungen oder Deutungen der Musik.5 Von einer ungewohnten Materialität ergriffen, fühlen sie sich in eine andere eigene Welt versetzt.6 Taumeln und Rauschen sind lang tradierte ästhetische Begriffe für solche immersiven Sinnes- oder Selbstverlusterfahrungen in der Musik, wenn Formen und Strukturen verrauschen, wenn Musik scheinbar jeder Zeichenhaftigkeit, Übersetzbarkeit und Konventionalität entbehrt.7 Doch mehr noch als die bloße Freiheit von Zeichen und musikalischen Codes löst diese spezifische sonische Materialität solche leiblichen Erfahrungen aus, die sich auf die Denkund Deutungswelt auswirken.8 In diesem Aufsatz frage ich nach ontologischen Merkmalen sonischer Materialität, die dieses Potential erklären. Welche klanglichen und subjektiven Bedingungen führen zu einer Resonanz, die zugleich akustische Konventionalität entbehrt und neuen musikalischen Sinn evoziert, in der sich Hörer*innen selbst verlieren und neufinden? Wie ist das Klangliche beschaffen, dass es andere Welten erfahren lässt? Die beschriebenen Rezeptionserfahrungen weisen zunächst auf ein Spannungsfeld hin, das es zu bedenken und nutzen gilt, wenn wir über das Sein des Klanglichen und das hörende Subjekt nachdenken. Am Anfang jeder Musikerfahrung liegt eine wirkliche körperliche Bewegung. Hören heißt: bewegt werden. Als lebende Körper in Resonanz sind wir beim Hören uns selbst nahe und fremd zugleich, sind Subjekt und Objekt der Reflexion. Wir sind Teil der Bewegungen und Affekte des Klanges, über die wir nach(zu)denken (versuchen). Wir sind Klangkörper. Im von Luftschall durchzogenen Raum sind 5

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Vgl. ebd. oder Remo Bitzi, »The Haxan Cloak, Prurient, Wife, Oneirogen: Metal trifft Techno«, in: Spex Magazin (2014), https://spex.de/the-haxan-cloak-prurient-wifeoneirogen-metal-trifft-techno/[letzter Zugriff: 31.1.2020]. Vgl. Sven Kabelitz, »The Haxan Cloak: Excavation. Mutige hören das bei voller Lautstärke und mit geschlossenen Augen«, in: Laut, 12.4.2013, https://www.laut.de/The-HaxanCloak/Alben/Excavation-89423 [letzter Zugriff: 31.1.2020]. Vgl. Otto Kolleritsch, »Laß singen, Gesell, laß rauschen… Vorbemerkung zum Thema«, in: Otto Kolleritsch (Hg.), »Lass singen, Gesell, lass rauschen…« Zur Ästhetik und Anästhetik in der Musik (= Studien zur Wertungsforschung 32), Wien: Universal-Edition 1997, S. 8-13 und Martin Seel, »Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung – Fünf Thesen«, in: Gert Mattenklott (Hg.), Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich, Hamburg: Meiner 2004, S. 73-82. Vgl. u.a. Hegarty, »Brace and Embrace« und Lucas, »Maximum Volume Yields Maximum Results«.

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wir »von derselben Art«9 wie Klang und wie das, wovon Klang erst ausgeht, wie Christian Grüny es ausdrückt. Wie also können wir dieses Medium wissenschaftlich beschreiben – auch jenseits subjektiver Wahrnehmungsgrenzen und Zuschreibungen? Erst wenn wir diese, uns eigene Stofflichkeit der Körper und Materialien in die Überlegungen mit einbeziehen, können wir das Klangliche selbst erhaschen.10 Deshalb spreche ich hier von sonischer Materialität, die eben sowohl die subjektiv-leibliche Erfahrung des Sonischen als auch seine unverfügbare und widerständige Materialität bezeichnet.11 Erst im Spüren und Reflektieren der Grenzen und Schwellen dieser uns eigenen leiblichen Resonanz lassen sich auch etwaige Widerständigkeiten und Un(ver)mittelbarkeiten bemerken. Geht hiervon die Faszination oder auch Ohnmacht gegenüber dem Medium aus? Sind wir uns in der disparaten Rolle als Subjekt und Objekt selbst unklar oder gar fremd?12 Erst aus der Betrachtung sowohl der subjektiven Rezeption – und zwar der psychisch-kognitiven und affektiv-motorischen – als auch der des Gegenstandes an sich lassen sich allgemeingültige Aussagen über Klang und seine Wirkungen treffen.13 Naturwissenschaftliche Perspektiven bzw. solche, die von einer naturwissenschaftlichen Objektlogik informiert sind, bieten einen Zugang zum Gegenstand, wo sich dieser jenseits unserer sinnlichen Wahrnehmung und sinnhaften Nachvollziehbarkeit bewegt. Gleichfalls ist aber selbst seine Widerständigkeit nicht auf diese Perspektive beschränkt, stellt sie sich doch auch spürbar in und durch unsere Körper ein, sind doch auch unsere Körper Teil der Unverfügbarkeit der materiellen Welt. In Hinblick auf diese Bedingungen, die der Klangerfahrung immanent sind – Bewegtwerden und Widerständigkeit – werde ich im Folgenden ontologische Betrachtungen über das Sonische und die Resonanz anstellen. Den Gegenstand versuche ich in möglichst »hoher Auflösung« zu betrachten, auch um gegen die Annahme anzuschreiben, Materialität könne nicht gedacht oder

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Christian Grüny, Kunst des Übergangs. Philosophische Konstellationen zur Musik, Weilerswist: Velbrück 2014, S. 327. Vgl. ebd., S. 311 und 326f. Vgl. hierzu auch ebd., S. 306-312. Vgl. ebd., S. 342ff. Vgl. hierzu auch ebd., S. 324-327.

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beschrieben werden, sie besäße keine Existenz außerhalb ihrer selbst.14 Mir erscheint sie vielmehr als Grund und Ursache allen Denkens und Tuns.

1. Klangkörper Grüny meint, dass es zur Bestimmung des Klanglichen weniger einen fertigen Begriff bräuchte als vielmehr ein Verständnis dafür, dass es sich um eine »bestimmte Dimension der Erfahrung«15 handle, die sich der Distanz eines vom Sehen und Logos her gedachten Sinnbegriffs entzieht. Auch in diesem Sinne definiert Holger Schulze das Sonische als »Bewegung – Berührung – Übertragung«16 . Klang entsteht in und aus der Bewegung von Materialien – ein Bogen berührt die Saite, magnetische Anziehung oder Druckunterschiede in der Atmosphäre lösen Luftschall aus, eine Irritation und dann die stetige Vibration der Teilchen.17 Die Bewegungsübertragung bewirkt zeitweise Verdichtungen und Verdünnungen der Atmosphäre. Anders als beim Stofftransport kehren die Teilchen nach dieser schallenden Erschütterung in ihre Ruhelage zurück. Die Druckwellen des Schalls pflanzen sich in vielfältigen Formen, von der einfachen periodischen Schwingung bis hin zu Zacken-Formen, in Geschwindigkeiten von 344 bis 350 Metern pro Sekunde durch die Luft fort, je nach Temperatur und Luftfeuchtigkeit.18 Die Welle dient seit der Aufzeichnung akustischer Signale als sinnbildliche Figur des Sonischen,19 doch sie ist auch die wirkliche, die reale Form dieser Bewegung. »Klänge durchspannen die Materie«20 in der räumlich-zeitlichen Struktur der Welle. Diese zeige, so Gilles Deleuze und Félix Guattari,

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Diese Problematik wird insbesondere in semiologisch informierten und diskursanalytischen Studien zu Klang und Musik deutlich; vgl. u.a. John Shepherd, Peter Wicke, Music and Cultural Theory, Cambridge: Polity Press 1997, S. 143 und Ole Petras, Wie Popmusik bedeutet. Eine synchrone Beschreibung popmusikalischer Zeichenverwendung, Bielefeld: transcript 2011, S. 100. Grüny, Kunst des Übergangs, S. 310 sowie S. 343. Holger Schulze, »Bewegung – Berührung – Übertragung. Einführung in eine historische Anthropologie des Klangs«, in: Holger Schulze (Hg.), Sound Studies. Traditionen – Methoden – Desiderate. Eine Einführung, Bielefeld: transcript 2008, S. 143-165, hier S. 143f. Vgl. Donald E. Hall, Musikalische Akustik. Ein Handbuch, Mainz: Schott 2008, S. 21-25. Vgl. ebd. sowie S. 25ff. und 36ff. Vgl. Stefan Rieger, Schall und Rauch. Eine Mediengeschichte der Kurve, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 7-15. Schulze, »Bewegung – Berührung – Übertragung«, S. 151.

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dass unsere Realität »bewegliche Ränder«21 aufweist. Nicht nur dem Klang, aller Materie könnten – freilich nur in bestimmten Auflösungsgraden der Beobachtung – wellenähnliche Eigenschaften zugesprochen werden.22 Elektronen bewegen sich in Bewegungsmuster von Wellen wie Streuung, Beugung, Brechung und Interferenz – deshalb spricht der Akustiker Donald E. Hall auch von der »Wellennatur der Materie«23 . Die Welle zeige an, so Deleuze und Guattari, dass Körper eben nicht »angeblich feststehende Endzustände«24 sind, hart oder weich, offen oder geschlossen, sondern immer im Prozess. Andernfalls gebe es kein Wachsen, kein Werden, keine Entwicklung von Formen und Figuren, keine Variationen oder Mutationen.25 Körper seien mannigfaltige, komplexe Maschinerien aus unendlich vielen, individuellen Zusammensetzungen und Verteilungen von Partikeln, Elementen und Gefügen.26 Auf dieser uns eigentlich wirklich umgebenden, feinstofflichen, mikrologischen oder molekularen Konsistenzebene fänden Prozesse des Werdens statt; Ausdehnungen, Berührungen und Übertragungen, Sprünge von Materialien und ihre Ballungen zu intensiven Verbindungen – zu Affekten.27 An bestimmten Punkten oder Flächen, in Nachbarschaften von Körpern, müsse es Schwellen geben, wo Partikel in andere übergehen, Körper sich transformieren, in Beziehung stehen im Sinne eines Teilseins und nicht als Gegenspieler oder Grenzfiguren.28 Körper sind Deleuze und Guattari zufolge nicht in ihrer Form oder Funktion definierbar, sondern in ihrem »Wesen«, sie seien »Affekte und räumliche Bewegungen«29 . Die Formen ihres Werdens seien einzig durch »die Gesamtheit von materiellen Elementen unter bestimmten Verhältnissen von Bewegung und Ruhe, von Schnelligkeit und Langsamkeit«30 determiniert.

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Gilles Deleuze und Félix Guattari, Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus, Berlin: Merve 1992, S. 343. Vgl. Hall, Musikalische Akustik, S. 76. Ebd. Vgl. Deleuze und Guattari, Kapitalismus und Schizophrenie, S. 343. Vgl. ebd., S. 346-349. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 349f., 363f. sowie 382ff. Vgl. ebd., S. 326 sowie S. 342. Ebd., S. 354. Ebd.

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Auch Raum und Zeit definierten Körper nicht. Körper seien nicht wie Markierungen in diese Koordinaten gesetzt, vielmehr prägten Körper selbst Zeit und Raum aus qua ihrer Bewegung.31 Das Sonische ist Bewegung und Affekt, ist transitiv und klingt qua dieser Wellennatur der Materie in relativer Langsamkeit, die durch die Trägheit der Materialien verursacht wird und also die Widerständigkeit sonischer Materialität betrifft. Und das Sonische schwingt in relativer Schnelligkeit, die seine Schwingung und Bewegung ermöglicht.32 Das Material des Sonischen ist also, ganz wie Grüny formuliert, »die Menge der materiellen Bedingungen [seiner] Erzeugung«33 . Klang ist ein Übergangs- oder »Zwischenphänomen«34 , das auf die Körper bezogen bleibt und keine endgültige Form ausbildet.35 Klingen ist eine reale Bewegung, eine Spannung durch die Körper. Sie löst eine Berührung aus – einen Aufprall oder ein Reiben der Substanzen, ein Stöhnen, Durchfahren, Pfeifen, Heulen oder Brummen, einen Affekt. Schall bewirkt, dass Körper mit anderen Körpern in eine Spannung treten, in deren »Angeln« erst eine Re-Sonanz stattfinden kann, ein Wieder-Klang oder Rück-Hall.36 Von Materie zu Materie weitergegeben akkumulieren sich die Resonanzen des Schalls zu einer »ubiquitären Atmosphäre«, wie Jean-Luc Nancy formuliert.37 Dies geschieht ständig und bereits vor der Wahrnehmung bestimmter Formen und Figuren – Alltagsgeräusche, Noise. Luftschall bringt Myriaden von Teilchen in Bewegung. Er breitet sich kugelförmig um die Schallquelle zu sogenannten Schallfeldern aus.38 Reflexionen und Interferenzen eines sonischen Ereignisses bilden Bewegungsmuster, Spannungsgefüge, Kraftfelder aus, in denen übergangsweise komplizierte Formen auftauchen – Brechungen, Polarisationen, Absorptionen und Dispersionen.39 Körper entwickeln aufgrund ihrer spezifischen Konsistenz, ihrer Zusammensetzung und Verteilung – bestimmt durch Dichte, Temperatur, Bewegung und andere Ei-

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Vgl. ebd., S. 356f. Vgl. auch Holger Schulze, The Sonic Persona. An Anthropology of Sound, New York: Bloomsbury 2018, S. 142. Vgl. Hall, Musikalische Akustik, S. 47-50. Grüny, Kunst des Übergangs, S. 327. Ebd., S. 13. Vgl. ebd., S. 333. Vgl. ebd., S. 326f. Jean-Luc Nancy, Zum Gehör, Zürich: Diaphanes 2010, S. 22. Vgl. Hall, Musikalische Akustik, S. 21-25 und 320. Vgl. ebd. S. 86.

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genschaften – eigene Resonanzfähigkeiten, Affektpotentiale. Daraus ergibt sich die grobe Unterteilung in Körper-, Luft- und Flüssigkeitsschall.40 Die von Schall durchzogenen Körper haben selbst transformierenden Charakter auf den Klang. Widerstände reflektieren Schall und verstärken, verteilen oder verschieben ihn;41 poröse Materialien dispergieren, absorbieren oder dämpfen Schall.42 Membrane schwingen mit ihm – eine Übertragung, Übersetzung und Transformation findet statt.43 »In einem Körper, der sich öffnet und sich zugleich schließt, der sich mit anderen disponiert und exponiert, erklingt das Geräusch seines Teilens (mit sich, mit anderen)«44 , so Nancy.

2. Körperklang Als lebende Körper in Re-Sonanz hören und spüren wir die Konsistenzen des Sonischen im Moment der Berührung. Wir selbst sind Menge der materiellen Bedingungen der Erzeugung und Übertragung von Klang. Doch wir sind auch Widerstand, zwischen uns und dem Klang bestehen auch »Unstimmigkeiten«.45 Unsere Körper werden berührt, bewegt und übertragen Klang in ihrer Eigenresonanz und -bewegung an ihre Umgebung. Jeder Klang ist, sobald wir ihn bemerken, eine Berührung des eigenen Körpers.46 Die Berührungen des Schalls nehmen wir primär an den gespannten Oberflächen des Körpers wie Trommelfell und Bauchdecke als Druck wahr, als Kommen und Vorübergehen, und innerlich als Durchdringung, Ausdehnung und Zurückweichen.47 Das Ohr ist kein »Aufschreibesystem« (Kittler) für akustische Signale. Es ist vielmehr selbst ein Instrument oder ganzes Instrumentarium; ein komplexes, weit verzweigtes Organ aus Gängen, Membranen, Kammern, Knöchelchen, Haarzellen, Flüssigkeiten und anderen Ausprägungen.48 Es hat 40 41 42 43 44 45 46 47 48

Vgl. ebd., S. 21-30 und 43-51. Vgl. auch Schulze, »Bewegung – Berührung – Übertragung«, S. 145. Vgl. Hall, Musikalische Akustik u.a. S. 337 und 320-325. Vgl. ebd. S. 327f. Vgl. ebd. S. 338. Nancy, Zum Gehör, S. 54. Vgl. auch Grüny, Kunst des Übergangs, S. 343. Vgl. Hall, Musikalische Akustik, S. 106-109 zum Aufbau und zur Funktion des Gehörs. Vgl. etwa Schulze, »Bewegung – Berührung – Übertragung«, S. 147f. oder Nancy, Zum Gehör, S. 21f. Vgl. Hall, Musikalische Akustik, S. 106-109.

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Verbindungskanäle zum Mund; von den Ohrmuscheln im Innenohr gehen Hörnerven kreuzweise in verschiedene Hirnareale ab, berühren in divergenten und konvergenten Verschaltungen Nervenstränge anderer Sinne.49 Sonische Ereignisse geschehen in uns, rauschen wirklich durch uns hindurch. Das Sonische pflanzt sich auf »dynamischen Bahnen« in die »Tiefe der klingenden Körper«50 fort, in vielfach in sich gefaltete Räume, Körper im Körper. Klänge bespielen unser Gehör wie ein Instrument, das re-soniert und »mitspielt«, Schwingungen materiell ertastet, verstärkt, kanalisiert, schwächt, kompensiert, übersetzt, transformiert und weiterleitet.51 Was Hörnerven in den auditorischen Cortex weitergeben, ist also bereits ein Klanggemisch aus fremdem und eigenem Klang, das Geräusch unseres Teilens. Das Ohr streckt sich nach außen aus, wie es sich nach innen ausdehnt und verzweigt, entfaltet und aushöhlt. Der Körper ist »Tonos« – die »fleischliche Ausprägung des Sonos«52 . Unser Fleisch wird ergriffen von anderen Verhältnissen von Spannung und Lösung.53 Die reale Bewegung setze »reine«54 Kräfte frei, so Deleuze, sie ließe dynamische Bahnen im Raum erfahren. Hören – reale Bewegung – löst ein reales Werden aus, Klangwerden. Schulze beschreibt dieses Klangwerden als einen in die Lautsphäre hinein exponierten Körper, der nicht mehr dem denkenden Subjekt gehört, sondern nur mehr der sinnlichen Empfindung, ein Körper, der selbst Klang und Medium seiner Ergreifung ist: »Listening is an alien corpus resonating to matter. Sensing sound is an activity realized by a medium – thus turning the listening aliens into media of resonance themselves. Multiple waves of pressure reach a humanoid’s skin, bones, flesh, his or her diaphragms, eardrums, vocal chords, and cochlea constantly throughout their existence.«55

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Vgl. ebd. und sowie Wilfried Gruhn, Der Musikverstand. Neurobiologische Grundlagen des musikalischen Denkens, Hörens und Lernens, Hildesheim: Olms 2008, S. 13. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, München: Fink 1992, S. 26 und Nancy Zum Gehör, S. 36f. Deleuze‹ Ausdruck übernehme ich hier aus seinen Betrachtungen über das Theater. Vgl. hierzu ebd., S. 106-109. Schulze, »Bewegung – Berührung – Übertragung«, S. 149. Vgl. auch Nancy, Zum Gehör, S. 16f. Vgl. Schulze, »Bewegung – Berührung – Übertragung«, S. 150. Vgl. auch S. 144. Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 26. Schulze, The Sonic Persona, S. 142.

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Das Werden sei nicht an Identifikation oder an ein Subjekt gebunden, so Deleuze und Guattari.56 Noch vor dem subjektiven Bewusstwerden über das Vernommene agierten die Körper in ihrer eigenen Selbstverständlichkeit, quasi in »Selbstverständigung«. Musikalische Affekte dienen bei dieser Verständigung als »Aktivierungskonturen« von Körperreaktionen, sie funktionieren also wie eine »gemeinsame Währung«57 zwischen Körpern, wie Grüny bemerkt. Affekte, musikalische Intensitäten, sind quantitative Größen, unwillkürliche reale Konsistenzen, die uns berühren, durchspannen.58 Sie sind mehr als akustische oder musikalische Codes, sie sind reale Bewegungen, Sprünge, transformative Kräfte von Körpern; Bewegungsmustern, die spezifische Dynamiken und zeitliche Verläufe modulieren. Die beschriebenen Prozesse der Affektion und des Werdens des Körpers mit und durch Klang sind nur eine Bedingung der Resonanz. Die andere ist die Trennung bzw. Widerständigkeit, die eine uns eigene Bewegung erst ermöglicht.59 Unser Körper ist weder Stoff der Musik noch ihr Adressat, sondern Teil der materiellen Bedingungen von Klang. Er wird affiziert und affiziert selbst, schließt oder öffnet sich dieser Bewegung. Das Echo der Klänge in der Tiefe des Körpers ist kein mimetisches Nachhallen, ist kein sich wiederholendes Decrescendo, wie Nancy es metaphorisch beschreibt;60 zumindest nicht derselben Klangfarbe, Intensität und Bewegungsform. Der Körper ist auch Widerstand, relativ fest in seiner Form und Zusammensetzung und hat als autonomer Körper eine Eigendynamik.61 Die Klänge, die wir hören, sind nicht die Klänge, die im Außenraum an sich geschehen.62 Besteht der Körper aus real gestimmter Materie, so liegen hier Gestimmtheiten als auch Ungestimmtheiten vor.63

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Vgl. Deleuze und Guattari, Kapitalismus und Schizophrenie, S. 325-328. Vgl. Grüny, Kunst des Übergangs, S. 100f. Vgl. Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 294f. Über den Zusammenhang von Affekt und Intensität in der Musik vgl. auch Will Schrimshaw, »Non-cochlear Sound: On affect and exteriority«, in: Marie Thompson, Ian Biddle (Hg.), Sound, Music, Affect. Theorizing Sonic Experience, London: Bloomsbury 2013, S. 27-44, hier S. 35f. Vgl. hierzu Grüny, Kunst des Übergangs, S. 98 sowie Nancy, Zum Gehör, S. 23. Vgl. Nancy, Zum Gehör, S. 36. Vgl. auch Grüny, Kunst des Übergangs, S. 91f. Vgl. etwa Hall, Musikalische Akustik, S. 392. Begriffe wie Stimmung oder Unstimmung rekurrieren hier zu stark auf Emotionen. Vgl. auch Grüny, Kunst des Übergangs, S. 76, der sich daher eher auf den Begriff der Resonanz konzentriert.

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Die Schwingung, die Körper und Klang eingehen, spielt sich vor allem an »ausgezeichneten Punkte[n]«64 ab, wo intensive Quantitäten des Klanglichen auf sensible Stellen des Körpers treffen, an denen sich Klang und Körper ballen und beschleunigen. Das Ohr bildet einen solchen ausgezeichneten Punkt bzw. ein ausgezeichnetes Gefüge, das in sich wiederum unterschiedlich sensible Punkte, Zonen und Räume ausprägt, welche Schall leiten, beschleunigen oder verlangsamen, verstärken oder auch dämpfen. Vor allem hier geraten Körper und Klang miteinander ins Spiel, hier finden höchst verdichtete Erregungen statt.65 Aus den Affektionen dieser Berührungen lassen sich sowohl grundlegende Gehörfunktionen als auch die Parameter der Musik ableiten.66 Wir reagieren taktil und binaural-kinästhetisch auf die Schallschnelle, die als Druck wahrgenommen wird – die Lautstärke.67 Tonhöhen nehmen wir über das Ertasten der Anzahl ankommender Schwingungen wahr. In den Bewegungsformen und -richtungen von Schall, seinen Laufbahnen, orientieren wir uns räumlich. Hören, das ein affektiv-motorischer Vorgang ist, findet unwillkürlich statt, wir können unsere Ohren nicht schließen. Doch unsere Höreinstellungen und -techniken sind an unser subjektiv-reflexives Bewusstsein gebunden. Wir können versuchen, etwas im Klang zu erkennen, darin Sinn zu vernehmen oder offen-fragend lauschen. Hören ist nicht bloßes passives Mitschwingen, kein diffuses Angerührtsein. Es gehe darum, so Grüny, »sich ansprechen zu lassen«, »responsiv«68 zu werden. Es gibt ein »körperlichapperzeptives«69 Hören. Es setzt eine gewisse Sensibilität und Vertrautheit

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Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 41. Diesen Ausdruck überführe ich hier aus seinen Betrachtungen über Lern- und Erfahrungsprozesse, die er als ineinandergreifende Bewegung von Wiederholung und Differenz an solchen Punkten begreift. Im Folgenden verwende ich den Begriff ohne weitere Zitation. Vgl. Schulze, »Bewegung – Berührung – Übertragung«, S. 147f. Vgl. Grüny, Kunst des Übergangs, S. 94-100. Zu den folgend aufgezählten Funktionen, die keinesfalls Vollständigkeit beanspruchen, vgl. auch Grüny, Kunst des Übergangs, S. 229ff. sowie Hall, Musikalische Akustik, S. 379-402. In Halls Darstellung zeigt sich insbesondere, dass Tonhöhenwahrnehmung, Klangfarben- und Lautstärkeerkennung hoch komplizierte, psycho-physische Vorgänge sind und noch nicht vollständig erklärt werden konnten und darüber teilweise noch konträre Theorien diskutiert werden. Grünys Ausführungen darüber spiegeln also einen vorläufigen, groben Konsens. Grüny, Kunst des Übergangs, S. 92. Ivan Polednák, »Zum Problem der Apperzeption der Musik«, in: International Review of the Aesthetics and Sociology of Music 16 (1985), Nr. 1, S. 43-56.

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mit dem Medium, eine Körpererfahrung voraus, um die »Innenspannungen« des Klanglichen, die Interferenzen und »energetischen Kurven«70 zu bemerken. Je sensibler wir für die Feinstruktur des Musikalischen werden, desto deutlicher treten materielle Schwingungen und das affektive Wesen des Hörens hervor.71 Der Körper ist also Konstituierter, wie er Konstituierender ist. Doch agiert er keinesfalls aus bloßem Automatismus, sonst könnten wir uns der Erfahrung weder bewusst werden noch unterschiedlich auf sie reagieren.72 Körper sind »materiell-diskursiv«73 . Die Leittonspannung wird in der westlichen Musikkultur zwar als musikalisches »Faktum« aufgefasst, als reale Anziehung von Quantitäten sich nahe liegender Frequenzspektren, doch ist sie in anderen Musikkulturen nicht unbedingt hörbar.74 Musikalische Sozialisation ist auch eine Sache des körperlichen Werdens. Qua unserer sonischen Erfahrungen bilden wir Hörtechniken und -einstellungen aus, werden Hörschwellen und Fühlgrenzen geprägt. Resonanzerfahrungen lagern sich wirklich in die Körper ein, »stellen« sie ein, »stimmen« sie. Das körperliche Werden wirkt nach Deleuze und Guattari unmittelbar auf den Geist ein und verbindet sich mit unserem gesamten Wissen und Verständnis der Welt.75 Der Leib sei der »Entwickler«76 der Empfindung. Er trage die »Urmeinung« in sich und gebe uns »das Sein der Empfindung«77 .

3. Klangsinn Rezipient*innen von Drone und Noise berichten von Selbstverlusterfahren, davon, sich selbst in der Immersion im Sound unheimlich nahe und daraufhin

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Grüny, Kunst des Übergangs, S. 92 und 171. Vgl. ebd. Vgl. Karl Mertens, »Die Leiblichkeit des Handelns«, in: Friedrich Jaeger, Jürgen Straub (Hg.), Paradigmen und Disziplinen. Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 2, Stuttgart: Metzler 2011, S. 327-340, hier S. 331. Rick Dolphijn, Iris van der Tuin, New Materialism. Interviews & Cartographies, London: Open Humanities 2012, S. 112. Vgl. Grüny, Kunst des Übergangs, S. 76. Vgl. Deleuze, Guattari, Kapitalismus und Schizophrenie, S. 349f. Gilles Deleuze, Félix Guattari, Was ist Philosophie?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 211. Ebd.

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wiederum unheimlich weit entfernt zu fühlen. Was ist das Selbst, wenn es uns so unverhohlen verloren gehen kann? Das Selbst oder das Ich ist nichts Substantielles, nichts Verfügbares an sich. Jean-Luc Nancy zufolge ist es ein Bezug oder ein Verweis – nicht zum Ich oder zu mir, sondern Bezug an und für sich, der ein zu mir überhaupt erst ermögliche.78 Hören ist ein Bezug – ist Re-Sonanz.79 Am Grunde jedes Bewusstseins liege ein Spüren, das den Bezug zu sich überhaupt erst ermögliche, so Nancy.80 Ein Subjekt sei dasjenige, das sich in seinem Spüren bemerkt, ein »Sich-SpürenSpüren«81 , wie Nancy es nennt. Sich tasten, sich hören, sich schmecken, sich berühren – erst dieser Selbstbezug in Gegenwart von etwas anderem ermögliche ein Selbst oder Ich.82 Im Schrei des Kindes sieht Nancy die Urszene des Selbst oder Ich: »Einer der zu sich kommt, indem er sich vernimmt«83 . Der Schrei des Kindes sei der erste Selbstbezug bzw. Selbstverweis im Leben eines Subjekts.84 Der Schrei entfaltet sich, verteilt sich im Raum und kehrt als Widerhall in anderer Tonigkeit und Lautstärke, als etwas anderes in die eigenen Ohren zurück. Dieser Bezug verräumlicht und verzeitlicht das Selbst, eröffnet ihm Wahrnehmungsund Handlungsräume. Und er trägt Verweise anderer Räume und Zeiten in den eigenen Körper hinein – die »Raumantwort«.85 So ist er ein Verweis darauf, dass wir Teil der Welt und von ihr getrennt sind. Erst das Bemerken des Verweises auf etwas, die Betrachtungen von etwas, dieses Sich-Bemerken in Gegenwart von etwas entfalte ein Selbst, so Nancy.86 Auf »augenscheinlichste Weise« trage Klang diese sinnliche Bedingung

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Vgl. Nancy, Zum Gehör, S. 21. Vgl. ebd., S. 20. Vgl. ebd., S. 16. Ebd., S. 16. Deleuze (Differenz und Wiederholung, S. 108) bringt außerdem einen ähnlichen Gedanken im Begriff der »Betrachtungen« zum Ausdruck, der die Direktionalität dieser verweisenden Bewegung unterstreicht. Vgl. Nancy, Zum Gehör, S. 16. Ebd., S. 27. Vgl. ebd., S. 26. Vgl. Peter Androsch, »Schall – Raum – Macht. Klänge des Abendlandes«, in: Peter Androsch (Hg.), Hoerstadt – Labor für Akustik, Raum und Gesellschaft (2014), www.hoerstadt.at/journal/schall-raum-macht [letzter Zugriff: 31.1.2020]. Vgl. Nancy, Zum Gehör, S. 21.

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in sich, nämlich »das Teilen eines Drinnen/Draußen, Teilung und Teilhabe, Entkopplung und Ansteckung«87 . Im Spüren und Bemerken eines Bezugs liegt nach Nancy also die Bedingung des Seins und subjektiver Autonomie überhaupt. Nah oder fern, oben oder unten sind nicht faktische Abstände zum leiblich erfahrenen Körper, sondern praktische Entfernungen, mögliche Handlungs- und Erfahrungsräume, auf die sich bezogen werden kann und muss.88 Der Bezug zu den schallenden Spannungen eines Klanges bildet für uns meist bereits einen »impliziten, leiblichen Aushandlungsprozesses«89 , wie Grüny bemerkt. Doch erst das Bemerken dieser Spannungen, die unsere Körper durchlaufen und »umspülen«, ermöglicht uns das Bemerken der eigenen Figur und Sinne – und eine Bewegung zwischen Hingabe und Widerständigkeit, Mitschwingen und Gegenhalten, Ergriffensein und Rück(be)zug. Dieser implizite, leibliche Aushandlungsprozess ermöglicht erst ein Empfinden von und bewusstes Handeln in Raum und Zeit.

4. Disparation und Möglichkeitssinn Rezipient*innen berichten auch davon, dass sich die befreiende – oder auch bedrohliche – Erfahrung des Selbstverlusts erst dann einstelle, wenn sie sich vom kognitiv-reflexiven Hören lösten. Was ist musikalischer Sinn? Wie kann die vermeintlich nur für sich selbst stehende sonische Materialität Sinn haben, Sinn erzeugen oder entziehen? Das Denken stoße uns stets durch eine Intensität zu, so Deleuze.90 Sie stürze uns in eine Differenz bzw. Disparation.91 Das ist der Sinn nach Deleuze; eine wirkliche Disparation, ein Problem, denn sonst hätten wir ihn nicht nötig.92 Der Schrei des Kindes bedeutet für Nancy eine solche Disparation; ei-

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Ebd., S. 23. Vgl. Mertens, »Die Leiblichkeit des Handelns«, S. 337. Den Begriff vom Leib verwende ich nach Mertens (S. 333) vor allem im Kontext situierter Subjekte und um die »eigenleibliche« Wahrnehmung zu betonen. Dahingegen spreche ich weiterhin von Körpern, wenn es vorwiegend um gemeinsame und unterschiedene Eigenschaften mit anderen Körpern geht. Grüny, Kunst des Übergangs, S. 240. Vgl. Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 188. Vgl. ebd., S. 297ff. Vgl. ebd., S. 188.

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nen Einschlag, einen Einschnitt, der einen ersten sinnhaften Sinn evoziert.93 Sinn sei der »Verweis einer Präsenz auf etwas anderes als sie selbst, auf eine andere Sache […] oder die Abwesenheit von Sache«94 . Ein Körper, der seinen Selbstbezug verliert, der die Orientierung, das Zeitgefühl oder sein gewohntes Körpergefühl verliert, ist etwas anderes, eine andere Sache, eine Abwesenheit von Sache, die Abwesenheit von Orientierungspunkten, von gewohnten Stimmungen und Widerständen, Identifikations- und Deutungsmustern. Sinn ist der Versuch, diese Bruchstelle, die innere Lücke, die Zone der Fassungslosigkeit, der Unbegreiflichkeit zu überbrücken, sich auf etwas zu beziehen, sich zu verweisen.95 Sinn überwindet die Lücke mit Erkenntnis, Wissen, einer Bedeutung, kompensiert die innere Disparation. Erst eine sinnliche Differenzerfahrung macht den sinnhaften Sinn möglich und notwendig.96 Diese Disparation ist freilich eine Sache des Grades – immer in Abhängigkeit von den individuellen Fühlgrenzen und Hörschwellen, den Skansionen des Körpers, den Hörerfahrungen und -techniken, der momentanen KörperRaum-Zeit-Konstellation. Und der Sinn meint also nicht eine konkrete Bedeutung, eine bestimmte Referenz und schon gar nicht Konvention oder Meinung.97 Dieser Sinn, der also am Grunde eines Sinnhaften liegt, meint eher eine vage Bedeutsamkeit, wie sie auch Grüny beschreibt;98 ein Gespür, ein »sinnhaftes Gefühl«99 oder unbestimmtes Empfinden, wie es der Philosoph Eugene T. Gendlin begreift. Dieser Sinn ist eine mögliche Bedeutung, ein Möglichkeitssinn, jedoch keinesfalls irgendein beliebiger Sinn, sondern einer, der sich aus der spezifischen, individuellen Situation erst noch erweisen muss.100 Die innere Disparation bringt das Subjekt in einen Zustand, in dem es sich unvermittelbar empfindet, in dem es verstummt, wie Nancy es erklärt;101

Vgl. Nancy, Zum Gehör, S. 35ff. Ebd., S. 35. Vgl. Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 299 sowie Nancy, Zum Gehör, S. 38ff. Vgl. Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 297ff. Vgl. Nancy, Zum Gehör, S. 37 sowie Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 26. Vgl. Grüny, Kunst des Übergangs, S. 86f. Vgl. Donata Schoeller, »Die Relevanz gespürter Bedeutung in Eugene Gendlins Philosophie«, in: Holger Schulze (Hg.), Gespür, Empfindung, kleine Wahrnehmungen. Klanganthropologische Studien, Bielefeld: transcript 2012, S. 51-68, hier S. 61ff. 100 Vgl. ebd., S. 52 und 64. Der »Möglichkeitssinn« tauchte bereits 1930 in Robert Musils Werk Der Mann ohne Eigenschaften auf, der damit den Sinn für das Mögliche im Gegensatz zum Sinn für das Wirkliche bezeichnete, vgl. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes Buch, Reinbek: Rowohlt 1970. 101 Vgl. Nancy, Zum Gehör, S. 35ff.

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in dem es sich auf sich selbst zurückgeworfen fühlt und sich zugleich doch unidentifizierbar bleibt, wie es Roland Barthes beschreibt.102 Gendlin zufolge drückt dieser Zustand das »noch vordifferenzierte Ineinander« bedeutsamer Sinnbezüge aus, die erst noch in der entsprechenden Situation »eine spezifische Kreuzung erfahren«103 müssen, um gedacht oder gesagt werden zu können. Diese Sinnschicht, die sich geradewegs aus den körperlichen Erfahrungen schält, ist Gendlin zufolge an unserem gesamten Sprechen und Handeln immer mit beteiligt.104 Die Worte holten immer auch »gespürte[] Bedeutung« in die körperlichen Handlungen mit hinein, so Gendlin, lösten dieses mannigfaltige Gespür teilweise ein und veränderten damit – auch rückwirkend – die Bedeutung von Aussagen und Gesten sowie das Selbstverständnis der Subjekte.105 Musikalische Erfahrungen lösen also körperliche Bewegungen und ein reales Werden aus, für das erst noch ein Bezug und ein Verweis zu unserem Verstehen und Wissen, zu einem Sinn gefunden werden muss. Die Reflexion mag sprunghaft und willkürlich sein, doch um bewusst, um getan und gesagt zu werden, um zu klingen, muss sie eine aktuelle materielle Ausprägung erlangen.106 Die körperliche Erfahrung sonischer Materialität ist fundamental mit dem körperlichen Erleben verbunden und das Sinnliche ist Entwickler dieses sinnhaften Sinns. Jedem Sinn, der nicht bloß Übernahme oder Konvention ist, liegt eine sinnliche Berührung, eine wirkliche Interaktion und Spannung der materiellen Welt zugrunde bzw. wird durch diese initiiert. Der Zustand der inneren Disparation, in dem wir spürbar bewegt werden, doch einen Bezug zum Klingenden erst herstellen müssen, ist eine Bedingung für neue Erfahrungen und Erkenntnisse des Hörens.

5. Musikalischer Sinn Musikalischer Sinn ist ein anderer als der sprachliche. Er ist eine »energetisch aufgeladene Artikuliertheit«, die sich erst im körperlichen Nachvollzug, in der

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Vgl. ebd., S. 37 und 54f. Eugene T. Gendlin, zit. n. Schoeller, »Die Relevanz gespürter Bedeutung«, S. 64. Vgl. ebd., S. 61ff. Vgl. ebd. Vgl. hierzu auch Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 116f.

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Resonanz offenbart.107 Diese Resonanz schlägt Empfindungen in uns an, sie lässt uns wirklich physisch mit dem Klang spielen – zusammen, ineinander oder entgegen.108 Synkopische Rhythmen schlagen in uns Gefühlssprünge an; tiefere Klänge schwingen tatsächlich in tiefer liegenden Teilen unserer Ohrmuscheln.109 Die Zusammensetzung sonischer Konsistenzen, ihre Verhältnisse von Bewegung und Ruhe und ihre Affekte modulieren mögliche Artikulationsverhältnisse von Sinnlichem überhaupt – räumliche und zeitliche Verläufe wie Rhythmen und Richtungen, Linien und Punkte, Dichte und Verflüchtigung.110 Erst im Spüren der realen Konsistenzen, die uns umgeben, werden wir uns unseres Selbsts bewusst. Der Resonanz sind – um meine ontologischen Betrachtungen damit zusammenzufassen – drei Bewegungsformen inne, die musikalischen Nachvollzug erst ermöglichen: die Teilhabe, welche das Bewegtwerden ermöglicht; die Teilung, welche die Widerständigkeit sonischer Materialität betrifft; und der subjektive Bezug zu diesen Bewegungen.111 Dieser Bezug erst ermöglicht es, eine eigene subjektive Bedeutsamkeit zur unwillkürlichen leiblichen Resonanz herzustellen.112 Denn die Affektionen und Perzeptionen, die die Musik bei Hörer*innen auslöst, sind eigendynamische Körpererregungen und subjektive Empfindungen, wie Grüny betont.113 Erst im Bezug zu sich, das heißt erst im Bemerken des Wie dieses Bezugs, dem Verweis auf bestimmte gemeinsame und unterschiedene Gefühle und Affekte, könne man – so Grüny – von 107 Grüny, Kunst des Übergangs, S. 147f. 108 Vgl. hierzu auch die »Spielarten« von Kunstwerken, einem Theorem von Deleuze und Guattari (Was ist Philosophie?, S. 197f.) über die ästhetische Zusammensetzung und Wirkung von Kunstwerken. 109 Vgl. Hall, Musikalische Akustik, S. 108f. 110 Vgl. Grüny, Kunst des Übergangs, S. 85. 111 Vgl. Nancy, Zum Gehör, S. 23 und Grüny, Kunst des Übergangs, S. 98. Grüny schreibt, Ähnlichkeit, Differenz und Bezug würden die Resonanz der Hörer*innen bedingen. Eine physiologisch-akustische Perspektive auf das »Material« zeigt aber, dass es nicht logisch-kategoriale Funktionen wie Ähnlichkeit oder Differenz sind, die Schwingung oder Widerständigkeit bedingen. Vielmehr ermöglichen oft gerade differente Ausprägungen und Funktionsweisen von Materialien hohe Reaktionsfähigkeiten, wie sich an der Bauweise des Gehörs zeigt. Deleuze und Guattari (Kapitalismus und Schizophrenie, S. 219f. und 371f.) betonen auch, dass sich das Natürliche eben nicht nach dem Prinzip der Ähnlichkeit entwickelt, nicht modular oder polar funktioniert, sondern einzig im Prozess des Werdens durch Nachbarschaften und Affekte. 112 Vgl. Grüny, Kunst des Übergangs, S. 96-100. 113 Vgl. ebd.

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innerer Erfahrung sprechen und einem wirklichen Nachvollzug der Musik.114 Dieser Selbstbezug stellt also die Bedingung subjektiver Autonomie in der Musikrezeption dar. Er ermöglicht es, die Erfahrung durch körperliche und reflexive Einstellungen zu variieren und sich für diese oder jene Rezeption zu entscheiden, sich nicht im Sound zu verlieren. Genres wie Drone, Noise oder Dark Ambient unterbrechen diesen Selbstbezug ganz bewusst durch sonische Dominanz und aisthetisch-ästhetische Grenzfiguren.115 »Drones« – sich ständig wandelnde Haltetöne – entfalten komplexe Strukturen und eine gedehnte Rhythmizität, in der die Formen der Musik verrauschen zu scheinen.116 Extreme Höhen und Tiefen dehnen unsere Hörschwellen;117 starke Schalldrücke erweitern unsere Fühlgrenzen; Interferenzen wie stehende Wellen lassen die physische Bewegung von Klang durch Zeit und Raum fasslich werden.118 All diese sind Vibrationen, durch die wir uns selbst anders, fremd oder auch gar nicht mehr spüren, weil sie unseren Körper durchspannen. Dieser Selbstverlust ist – wie ich vorhergehend deutlich gemacht habe – eine wirkliche physisch-leibliche und kognitiv-reflexive Trennung von sich selbst. Erst durch unsere sinnliche Wahrnehmung bemerken wir, dass wir existieren. Erst im Bezug auf diese oder jene Empfindung können wir unsere Hörerfahrung gestalten, überhaupt ein Selbst entfalten, uns in bekannten oder unbekannten Hörweisen und -einstellungen auf unser Selbst beziehen. Doch Klänge, die sich sowohl einer kognitiv-reflexiven als auch leiblich-apperzeptiven Rezeption entziehen, können in dem Moment, in dem sie unseren Körper ergreifen, eine innere Disparation erzeugen – und wir uns unspürbar und unfasslich werden.119 Dieser Selbstverlust kann als bedrohlich empfunden werden oder aber als kathartisch120 , wenn Hörer*innen die Lücke leiblich114 115

Vgl. ebd. Zum Begriff der sonischen Dominanz vgl. Julian Henriques, Sonic Bodies. Reggae Sound Systems, Performance Techniques and Ways of Knowing, New York: Continuum 2011. 116 Vgl. Maya Kalev, »Deeper Underground: An Interview with the Haxan Cloak«, in: The Quietus (2013), www.thequietus.com/articles/11966-haxan-cloak-excavation-interview [letzter Zugriff: 31.1.2020]. 117 Vgl. ebd. 118 Vgl. ebd. 119 Vgl. auch Bianca Ludewig, »Klänge, die weh tun. Über die Eröffnung sonischer Möglichkeitsräume in der dystopischen Musik des Hardcore Techno«, in: Susanne BinasPreisendörfer, Jochen Bonz u.a. (Hg.), Pop – Wissen – Transfers. Zur Kommunikation und Explikation populärkulturellen Wissens, Berlin: LIT 2014, S. 65-91, hier S. 85. 120 Vgl. etwa Kalev, »Deeper Underground«.

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responsiv und reflexiv überbrücken können, neue Hörweisen und Bezüge zu sich selbst erspüren und erfinden. Der Sound so extremer Subgenres evoziert ein unübersetzbares Artikulationspotential und somit neue Höreinstellungen und Deutungsmuster. Freilich ist dieser Prozess immer abhängig von vorhergehenden Hörerfahrungen, der musikalischen Sozialisation und so auch der gegebenen Zeit. In diesem Beitrag habe ich auch versucht zu verdeutlichen, dass die Ausprägung von Rezeptionsweisen kein subjektiv-willkürlicher oder allein kognitiver Vorgang ist, sondern vorerst ein leiblicher. Es handelt sich um ein körperliches Werden, ein Prozess von Zuständen – Bewegtwerden, Sichverlieren, Verstummen, Nachdenken über Klang, um sich selbst wieder bewusst zu werden. Und auch wenn der Sound den Hörbereich übersteigt oder unterläuft und quasi unhörbar wird, kann er unter Umständen gerade dadurch unseren Wahrnehmungsraum erweitern, indem wir nicht mehr hören, doch immer noch spüren, dass da etwas ist. Gerade dadurch vermag uns die Helligkeit der Streicher »himmlisch« oder ein Drone »höllisch« zu werden. Denn Sound kann uns wirklich, physisch und geistig, qua der realen Kräfte seiner Bewegungen, in »andere Welten« versetzen.

Literatur Androsch, Peter, »Schall – Raum – Macht. Klänge des Abendlandes«, in: Peter Androsch (Hg.), Hoerstadt – Labor für Akustik, Raum und Gesellschaft (2014), www.hoerstadt.at/journal/schall-raum-macht [letzter Zugriff: 31.1.2020]. Bitzi, Remo, »The Haxan Cloak, Prurient, Wife, Oneirogen: Metal trifft Techno«, in: Spex Magazin (2014), https://spex.de/the-haxan-cloak-prurientwife-oneirogen-metal-trifft-techno/[letzter Zugriff: 31.1.2020]. Deleuze, Gilles, Differenz und Wiederholung, München: Fink 1992. Deleuze, Gilles, Félix Guattari, Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus, Berlin: Merve 1992. –, Was ist Philosophie?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000. Dolphijn, Rick, Iris van der Tuin, New Materialism. Interviews & Cartographies, London: Open Humanities 2012. Gruhn, Wilfried, Der Musikverstand. Neurobiologische Grundlagen des musikalischen Denkens, Hörens und Lernens, Hildesheim: Olms 2008. Grüny, Christian, Kunst des Übergangs. Philosophische Konstellationen zur Musik, Weilerswist: Velbrück 2014.

Selbst und Selbstverlust im Sound

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Kunst als Gesellschaftskritik Überlegungen zur Ästhetischen Theorie Theodor W. Adornos1 Livia von Samson-Himmelstjerna

Seit 2013 werden am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main »die Natur der ›ästhetischen Lust‹ und die verschiedenen Schattierungen ästhetischen Gefallens und ›ästhetischer Gefühle‹«2 erforscht. Diese sollen, so das Versprechen, »erstmals universell messbar«3 werden. Ästhetisches Erleben wird somit nicht nur als quantifizierbar, sondern Gefallen auch als dessen wesentliche Eigenschaft behauptet.4 Indem das MPI auch der Frage »Was ist schön?« mit »naturwissenschaftlichen Methoden«5 nachgeht, liegt der Fokus stets auf dem rezipierenden Subjekt. Theodor W. Adorno hätte ein solches Forschungsvorhaben sicherlich kritisiert.6 Seines Erachtens müsste das »Interesse an der gesellschaftlichen Dechiffrierung der Kunst […] dieser

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Ich danke insbesondere Robert Ziegelmann, Philipp Idel und David Hagen für hilfreiche Diskussionen. https://www.aesthetics.mpg.de/institut/fragen-und-ziele.html [letzter Zugriff: 31.1. 2020]. https://www.aesthetics.mpg.de/institut/news/news-artikel/article/neues-instrumentzur-messung-aesthetischer-gefuehle-publiziert.html [letzter Zugriff: 31.1.2020]. Vgl. u.a. die Studie »Gefühlssache?!«: »Wie wissen Sie, was Ihnen gefällt? Wir vermuten: Reine Gefühlssache! Wenn wir etwas Schönes sehen oder hören, so ist diese ›ästhetische Erfahrung‹ von Gefühlen begleitet.« www.ae.mpg.de/gefuehle [letzter Zugriff: 12.9.2017, Link abgelaufen]. https://www.mpg.de/sprache/literatur [letzter Zugriff: 31.1.2020]. Adorno wendet sich explizit gegen eine Reduktion ästhetischer Erfahrung auf »Gefallen« und künstlerischen Gehalts auf »Schönheit«. Zu Ersterem vgl. Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie (= Gesammelte Schriften 14), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1968, S. 183; zu Letzterem Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie (= Gesammelte Schriften 7), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 74ff.

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sich zuwenden, anstatt mit der Ermittlung und Klassifizierung von Wirkungen sich abspeisen zu lassen«7 . Die Frage nach dem Gegenstand der Forschung ist dabei nicht nur eine wissenschaftspolitische, sondern auch eine philosophische. Vordergründig handelt es sich lediglich um sich ergänzende Forschungs- und Erkenntnisinteressen. Kunst- und Kulturwissenschaften widmen sich der Analyse einzelner Kunstwerke, das MPI für empirische Ästhetik beschäftigt sich damit, »was wem warum und unter welchen Bedingungen ästhetisch gefällt«8 . Insofern an Kunstwerken lediglich »ästhetisch gefallende Objekteigenschaften«9 berücksichtigt werden, gerät die gesellschaftliche Relevanz der Erforschung dessen, was Adorno den »gesellschaftlichen Gehalt« der Kunstwerke nennt, allerdings in den Hintergrund.10 Gerade die Vorstellung eines gesellschaftlichen Gehalts bietet aber Raum für das, was in der quantitativen Beschreibung lustvollen ästhetischen Erlebens zwangsläufig aus dem Blickfeld gerät: künstlerische Kritik der und Alternativen zu den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Ist man der Auffassung, dass Ästhetik dieses kritische Potenzial der Kunstwerke ernst zu nehmen und zu entfalten hat, stellt sich neben der Aufgabe, einzelne Kunstwerke zu beschreiben, auch die Frage, inwiefern sich in ihnen überhaupt Gesellschaftliches findet. Die Verbindung sozialphilosophischer und ästhetischer Überlegungen wird in Adornos Ästhetischer Theorie zwar stets behauptet, bleibt aber schwer greifbar. Der Begriff des »Gehalts« bzw. des »Wahrheitsgehalts«, der mit den Attributen »metaphysisch«,

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Adorno, Ästhetische Theorie, S. 338. Das der Forschung des Max-Planck-Instituts zugrundeliegende Interesse ist, zumindest im Sinne Adornos, nicht als Interesse an der gesellschaftlichen Dechiffrierung von Kunst zu verstehen. https://www.aesthetics.mpg.de/institut/fragen-und-ziele.html [letzter Zugriff: 31.1.2020]. Die Fokussierung auf das rezipierende Subjekt wird auch in der Ausrichtung des MPI auf die Erforschung der »Funktionen ästhetischer Praktiken und Urteile für die Entwicklung kognitiver und affektiver Fähigkeiten sowie für subjektives Wohlergehen, Selbst-Konzept und Selbst-Stilisierung von Individuen, für soziale Kommunikation ebenso wie für ökonomisches Handeln« (ebd.) deutlich. Ebd. Adorno wendet sich nicht nur gegen eine Hypostasierung des rezipierenden Subjekts, sondern auch gegen die Reduktion der Kunstwerke auf ihre gesellschaftliche Funktion. Vgl. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 345: »Die Immanenz der Gesellschaft im Werk ist das wesentliche gesellschaftliche Verhältnis der Kunst, nicht die Immanenz von Kunst in der Gesellschaft.«

Kunst als Gesellschaftskritik

»geschichtlich« und »geistig« versehen wird,11 spielt dabei eine zentrale Rolle. »Philosophie und Kunst konvergieren in deren Wahrheitsgehalt: die fortschreitend sich entfaltende Wahrheit des Kunstwerks ist keine andere als die des philosophischen Begriffs.«12 Dieser Beitrag versucht daher, sich dem Verhältnis von Kunst und Gesellschaft, Ästhetik und Gesellschaftstheorie anhand des Konzepts eines Gehalts der Kunstwerke zu nähern. Dabei geht es nicht um Definitionen, die für Adorno »rationale Tabus«13 wären, sondern um schrittweise Annäherungen anhand der Verknüpfung einzelner Elemente und Konzepte. In der Ästhetischen Theorie finden sich zwei zentrale Begriffsfelder. Die rationalen Momente der Kunst werden als »Form« und »Konstruktion« bezeichnet;14 auch »Struktur«, »Organisation« und »Durchbildung« werden ähnlich oder synonym verwendet.15 Ihnen sind prä-rationale Momente der »Mimesis« und des »Ausdrucks« entgegengesetzt, die grob als Anlehnung an und Nachahmung des »Naturschönen« zu verstehen sind.16 Aus dem als »dialektisch« beschriebenen Verhältnis von »Konstruktion« und »Mimesis« resultiert Adorno zufolge eine widersprüchliche Einheit des Kunstwerks, deren »Stimmigkeit« eng mit dem »Gehalt« verknüpft ist.17 Ich werde mich in diesem Beitrag weitgehend auf die Erläuterung des ersten Begriffsfelds, der intentionalen und rationalen Momente von Kunst, beschränken. Ich wende mich somit den bestimmbaren Aspekten des künstlerischen Produktionsprozesses zu, anhand dessen ich das Verhältnis von Gesellschaft und Kunst darstellen möchte.18 Dazu erläutere ich zunächst die Vorstellung einer von der gesellschaftlichen Entwicklung unabhängigen künstlerischen Entwicklung (I). Vor diesem Hintergrund plausibilisiere ich die Idee einer Verbindung der künstlerischen und gesellschaftlichen Entwicklung, die auf der Annahme einer Verwandtschaft gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeiten und künstlerischer »Formgesetze« beruht. Dabei wird eine Parallelität der aus

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Zu »metaphysischer Gehalt« vgl. ebd., S. 122, zu »geschichtlicher Gehalt« u.a. S. 132f., zu »geistiger Gehalt« S. 139. Ebd., S. 197. Ebd., S. 24. Vgl. u.a. ebd., S. 211f. Vgl. ebd., S. 146, 189 und 195. Vgl. u.a. ebd., S. 180f. Vgl. ebd., S. 21. Insbesondere die mimetischen Momente der Kunstwerke wären zudem an einzelnen Werken zu diskutieren.

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der gesellschaftlichen »Dialektik von Produktivkraft und Produktionsverhältnissen« resultierenden Krisen und der sich im Kunstwerk manifestierenden »Problemen der Form« behauptet (II). Die Kunstwerke, einerseits Teil einer unabhängigen künstlerischen Entwicklung, andererseits warenförmige Produkte gesellschaftlicher Arbeit, sind insofern zugleich »autonom« und »faits sociaux«. Halten sie das Gleichgewicht dieser beiden Aspekte nicht, drohen sie Herrschaft zu verschleiern und zu stabilisieren, »ideologisch« zu werden (III). Gerade aufgrund ihres »Doppelcharakters« kommt gelungenen Kunstwerken Adorno zufolge allerdings ein »Gehalt« oder »Wahrheitsgehalt« zu. Dieser ist insofern »wahr«, als das Kunstwerk dem im Bestehenden angelegten utopischen Potenzial Ausdruck verleiht. Utopie kann derart konkretisiert werden, wenn auch nur im Medium des Scheins (IV). Dieses über sich hinausweisende Verhältnis des Kunstwerks zur Gesellschaft bezeichnet Adorno als »bestimmte Negation« (V). Der Beitrag schließt mit einem Ausblick, der das Vorangegangene kurz zu alternativen kunstphilosophischen Ansätzen in Beziehung setzt (VI).

I. Tendenz des Materials Die Idee einer künstlerischen Entwicklung und künstlerischen Fortschritts hängt in der Ästhetischen Theorie eng mit der Vorstellung einer »Tendenz des Materials« zusammen. Material ist, so Adorno, »womit die Künstler schalten: was an Worten, Farben, Klängen bis hinauf zu Verbindungen jeglicher Art bis zu je entwickelten Verfahrungsweisen fürs Ganze ihnen sich darbietet: insofern können auch Formen Material werden; also alles ihnen Gegenübertretende, worüber sie zu entscheiden haben.«19 Um diesen Materialbegriff besser zu verstehen, scheint es mir hilfreich, auf die Vorstellung eines Möglichkeitsraums zu rekurrieren.20 Durch den Begriff der Möglichkeit wird hervorgehoben, dass all das Material ist, was möglicherweise Teil eines Kunstwerks sein kann. Der Möglichkeitsraum umfasst grob drei Kategorien. Erstens »Worte, Farben, Klänge«; einzelne, zum 19

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Adorno, Ästhetische Theorie, S. 222. Der Materialbegriff ist eng an die künstlerische Produktion gebunden. Es gibt keine Menge von Dingen, denen unabhängig von der Arbeit der Künstler*innen die Eigenschaft zukommt, Material zu sein. Ich übernehme dieses Konzept, zumindest der Grundidee nach, von Gunnar Hindrichs, »Ästhetischer Materialismus«, in: Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie 3/2 (2016), S. 246-255.

Kunst als Gesellschaftskritik

Teil materielle Bestandteile. Zweitens »Formen« und »Verbindungen jeglicher Art«; die Beziehungen, in denen diese Elemente stehen. Drittens die »Verfahrungsweisen«; die Arten des Umgangs mit dem, was die vorangegangenen Kategorien bezeichnen. Dass auch Formen, Verbindungen und Beziehungen Teil des Materials sind, ist beispielsweise in Bezug auf musikalische Komposition plausibel. Töne existieren nicht isoliert, sondern sind in Tonsysteme und -beziehungen eingebunden, mit denen die Komponist*innen agieren. Es besteht somit eine »Vorgeformtheit«21 des Tonmaterials. Die »Verfahrungsweisen« sind insofern Teil des Materials und somit mögliche Bestandteile des neuen Kunstwerks, als die Künstler*innen auch mit diesen (Kompositions-)Techniken agieren, sie sich aneignen oder sie negieren.22 Der Rede von »je entwickelten Verfahrungsweisen« liegt dabei die Vorstellung eines gewachsenen und historisch spezifischen »Materialstands« zugrunde. Dieser »Stand« ist vor dem Hintergrund der bisherigen künstlerischen Entwicklung, der bisherigen Produkte künstlerischer Arbeit, kurz der Tradition zu verstehen. Insofern ist er historisch gebunden und gleichzeitig dynamisch. Neue Kunstwerke und die in ihnen realisierten »Verfahrungsweisen« werden Teil des Materialstands, Künstler*innen setzen sich im weiteren Verlauf der Geschichte damit auseinander. Allerdings grenzt sich Adorno besonders durch zwei Annahmen von der Vorstellung genialer Künstler*innen ab, die völlig autonom mit dem Material »schalten«, es auswählen, verwenden, formen.23 Zum einen geht er von einem »Zwang des Materials« aus, der in dessen »Tendenz« und »Fortschritt« walte.24 Zum anderen spricht er davon, dass die Entscheidungen der einzelnen 21

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Adorno, Ästhetische Theorie, S. 223: »Material ist auch dann kein Naturmaterial, wenn es den Künstlern als solches sich präsentiert, sondern geschichtlich durch und durch.« Die »Vorgeformtheit« des Materials lässt sich auch an Klängen beobachten, die alltägliche, beispielsweise lautmalerische Entsprechungen haben. Die bereits bestehende, historisch wandelbare Semantik wird, ähnlich der alltäglichen Bedeutung der Worte in literarischen Texten, im Kunstwerk verhandelt. Zu einer ausführlichen und über Adornos Konzeption hinausgehenden Besprechung des Materialbegriffs, vgl. Christian Grüny, Kunst des Übergangs. Philosophische Konstellationen zur Musik, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2014, S. 320ff. Dennoch ist »Auswahl des Materials, Verwendung und Beschränkung in seiner Anwendung […] ein wesentliches Moment der Produktion« (Adorno, Ästhetische Theorie, S. 222). Ebd. Vgl. auch Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik (= Gesammelte Schriften 12), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975, S. 38f.: »Die Annahme einer geschichtlichen Tendenz der musikalischen Mittel widerspricht der herkömmlichen Auffassung vom Ma-

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Künstler*innen Ausdruck »kollektiver Reaktionsweisen« seien.25 Der Zwang des Materials äußert sich darin, dass der Stand des Materials den Künstler*innen »gegenübertritt«, sich ihnen »darbietet«, sodass die Künstler*innen nicht willkürlich über das Material entscheiden können: »Die unter unreflektierten Künstlern verbreitete Vorstellung von der Wählbarkeit des Materials ist insofern problematisch, als sie den Zwang des Materials und zu spezifischem Material ignoriert, der in den Verfahrungsweisen und ihrem Fortschritt waltet.«26 Diese Annahme eines »Fortschritt des Materials« wurde häufig als Postulat einer linearen, von den konkreten Verwirklichungen unabhängigen Entwicklungstendenz missverstanden.27 Anhand der Vorstellung des bereits genannten »Möglichkeitsraums« lässt sich allerdings eine plausiblere Lesart entwickeln. Laut Adorno verengt und erweitert sich das Material, sodass zu einem bestimmten Zeitpunkt Bestimmtes möglich ist – und anderes nicht mehr. Die Verengungen lassen sich als Ausscheiden von Möglichkeiten aus dem Möglichkeitsraum begreifen. Bestimmtes Material oder ein bestimmter Umgang mit demselben wird »unmöglich«. Dabei handelt es sich nicht um technische oder logische Unmöglichkeit. Es ist prinzipiell zu jedem Zeitpunkt möglich, tonal zu komponieren. Allerdings ist, so Adorno, vom »abstrakt verfügbaren Material« nur »äußerst wenig konkret, also ohne mit dem Stand des Geistes zu kollidieren, verwendbar«28 . Seines Erachtens entsprechen beispielsweise

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terial der Musik.« Hindrichs spricht von einer »Normativität des Materials« (Hindrichs, »Ästhetischer Materialismus«, S. 249). Vgl. u.a. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 60: »Denn das idiosynkratische, zunächst bewußtlose und kaum theoretisch sich selbst transparente Verhalten ist Sediment kollektiver Reaktionsweisen.« Ebd., S. 222. Vgl. u.a. Albrecht Wellmer, Versuch über Musik und Sprache, München: Hanser 2009, S. 302 (Herv. i.O.): »Auf der einen Seite steht das ›post‹ im Begriff der musikalischen Postmoderne für eine Abkehr von einem [sic!] noch für Adorno charakteristischen unilinearen Konzeption des musikalischen Fortschritts, wonach der Übergang von der spätromantischen Chromatik zur Zwölftonmusik und dann zur seriellen Musik bis hin zu einer informellen Anverwandlung der seriellen Verfahren die Bahn des musikalischen Fortschritts, bedingt durch den jeweiligen Stand des musikalischen Materials, bezeichnet.«. Adorno spricht sich explizit gegen diese Vorstellung aus. Vgl. u.a. Ästhetische Theorie, S. 143 oder 312: »Kontinuität ist überhaupt nur aus sehr weiter Distanz zu konstruieren. Die Geschichte von Kunst hat eher Knotenstellen.« Adorno, Ästhetische Theorie, S. 223.

Kunst als Gesellschaftskritik

tonale Kompositionstechniken zu einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr dem »Stand des Geistes«.29 Was damit gemeint ist, wird an einem Beispiel aus der Philosophie der neuen Musik deutlich. Zu Beginn des Abschnitts »Schönberg und der Fortschritt« beschreibt Adorno die »Schäbigkeit und Vernutztheit des verminderten Septimakkords«30 . Klänge wie dieser seien nicht primär »veraltet und unzeitgemäß«, sondern »falsch«: »Sie sind falsch. Sie erfüllen ihre Funktion nicht mehr. Der fortgeschrittenste Stand der technischen Verfahrungsweisen zeichnet Aufgaben vor, denen gegenüber die traditionellen Klänge als ohnmächtige Clichés sich erweisen.«31 Die Beschreibung des »Stands des Geistes« als »fortgeschrittenster Stand der Verfahrungsweisen« ist dabei nicht als Reduktion auf technische Entwicklungen zu verstehen. Er ist nicht abstrakt daran erkennbar, was zu einem bestimmten Zeitpunkt technisch möglich oder denkbar ist, sondern zeigt sich primär an bereits existierenden Kunstwerken. Der künstlerische »Stand des Geistes« ist somit der Stand der sich den Künstler*innen in Anbetracht der bisherigen künstlerischen Entwicklung stellenden Aufgaben. Bestimmte Klänge, Verfahren und Techniken erfüllen ihre Funktion nicht mehr, sofern sie diese Aufgaben nicht erfüllen oder beantworten können. Diese Spannung äußert sich laut Adorno zunächst als »vages Unbehagen« in der ästhetischen Erfahrung. Für das »technisch erfahrene [Ohr]« setzt sich dieses Unbehagen in einen »Kanon des Verbotenen« um.32 Dass um den »Kanon des Verbotenen« zu erfassen ein »technisch erfahrenes Ohr« nötig ist, kann leicht missverstanden werden. Zwar bedarf das »technisch erfahrene Ohr« bestimmter Fähigkeiten und Bildung, die beispielsweise Künstler*innen

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Daniel Martin Feige versucht die Beziehung der künstlerischen Entwicklung zur Gestalt des einzelnen Werks anhand der Vorstellung einer »temporalen, retroaktiven Logik« zu beschreiben, die sich seines Erachtens in Jazzimprovisation findet: »Die skizzierte temporale Logik der Improvisation gilt nicht allein für Elemente von Werken, die in einem manifesten Sinne zeitlich sind. Sie gilt zugleich für das Verhältnis von Werken zueinander. […] Im Geiste der entwickelten Überlegungen Adornos könnte man sagen: So wie der Sinn des einzelnen Elements in und durch die späteren Elemente ausgehandelt wird, so wird der Sinn jedes Werks in und durch die späteren Werke ausgehandelt.« (Daniel Martin Feige, »Retroaktive Neuverhandlung. Zum Verhältnis von Vorbild und Nachbild in der Kunst«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 63/1 (2018), S. 127-137, hier S. 134) Adorno, Philosophie der neuen Musik, S. 40. Ebd. Ebd.

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zukommen. Allerdings betont Adorno, dass sich in ihren Handlungen »kollektive Reaktionsweisen« ausdrücken. Dabei kann er nur durch die egalitäre Annahme, dass Menschen so unterschiedlich nicht sind, ein »Allgemeines« in der ästhetischen Erfahrung vermuten: »Im Kanon der Verbote schlagen Idiosynkrasien der Künstler sich nieder, aber sie wiederum sind objektiv verpflichtend, darin ist ästhetisch das Besondere buchstäblich das Allgemeine. Denn das idiosynkratische, zunächst bewußtlose und kaum theoretisch sich selbst transparente Verhalten ist Sediment kollektiver Reaktionsweisen.«33 Der »Kanon der Verbote« ist dabei in zweierlei Hinsicht konkret. Er entsteht, indem sich einzelne Künstler*innen mit der bisherigen künstlerischen Entwicklung und dem Material auseinandersetzen, und ist abhängig von einzelnen Werken. Unter Abstraktion von dem im jeweiligen Kunstwerk realisierten »Zusammenhang« lassen sich keine generellen Aussagen über die Angemessenheit der Klänge oder Akkorde treffen. Vielmehr zeigt sie sich erst an den jeweiligen »kompositorischen Aufgaben«34 . Wo diese nicht mehr gelöst werden, wo bestimmtes Material und bestimmte »Verfahrungsweisen« ihre Funktion nicht mehr erfüllen, entsteht Neues. Das Neue ist somit an den jeweiligen Materialstand, das heißt auch an eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort gebunden.35 Die künstlerische Entwicklung ist daher für Adorno insofern autonom, als sie nicht direkt und nicht vollständig von der gesellschaftlichen determiniert ist. Künstler*in und Kunstwerk antworten auf das, was sich im »Stand des Materials«, an den bisherigen Produkten künstlerischer Arbeit zeigt. Die Aufgaben und Probleme, die von den Künstler*innen bearbeitet werden, sind genuin künstlerische und setzen sich explizit nicht direkt mit gesellschaftlichen Problemen auseinander. Inwiefern soll Kunst unter diesen Umständen aber Gesellschaft kritisieren können?

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Adorno, Ästhetische Theorie, S. 60. Adorno, Philosophie der neuen Musik, S. 42. Vgl. ebd.: »Über die Wahrheit und Falschheit von Akkorden entscheidet nicht deren isoliertes Vorkommen. Sie sind meßbar allein am gesamten Stand der Technik.«

Kunst als Gesellschaftskritik

II. Formgesetz und »fait social« Wie eingangs erwähnt ist »das Verhältnis von Kunst zur Gesellschaft« Adorno zufolge »nicht vorwiegend in der Sphäre der Rezeption aufzusuchen. Es ist dieser vorgängig: in der Produktion.«36 Dieser Zusammenhang kann unter drei Aspekten beschrieben werden, wobei Adornos Fokus auf dem dritten und komplexesten, der Parallelität gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeiten und künstlerischer »Formgesetze«, liegt.37 Als erster und trivialster Aspekt sind unmittelbar gesellschaftlichökonomische Eingriffe in die künstlerische Produktion zu nennen. Gerade heute ist die Kapitalisierung der Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen von Künstler*innen nicht von der Hand zu weisen.38 Sie führt zu Abhängigkeiten und Konflikten, die Adorno zwar erwähnt, die für ihn allerdings eine untergeordnete Rolle spielen.39 Der zweite Aspekt, die Tatsache, dass Kunstwerke in arbeitsteiligen Gesellschaften produziert werden, ist bereits erklärungsbedürftiger und für Adorno zentraler. Mit dem Begriff der »Arbeitsteilung« bezeichnet er vorrangig die Trennung geistiger und körperlicher Arbeit, aber auch die Ausdifferenzierung innerhalb der Produktion. In dieser Trennung liegt für Adorno eine historische Schuld, über die die Kunstwerke durch ihre bloße Existenz hinwegtäuschen.40 Diese Schuld wird zweifach begründet. Zum einen werden Kunst und Kultur als Produkte geistiger Arbeit nur dadurch möglich, dass körperliche Arbeit verrichtet wird. Die Notwendigkeit körperlicher Arbeit als Mittel der Reproduktion wird allerdings verschleiert.41 Zum anderen sind Kunstwerke nicht nur aufgrund ihrer »realen Ohnmacht« 36 37 38

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Adorno, Ästhetische Theorie, S. 338. Vgl. u.a. ebd., S. 208. Vgl. u.a. Kerstin Stakemeier, »Kunst im Kapital. Zur Reproduktion der Gegenwart«, in: what’s next? 150 (2012) http://whtsnxt.net/150 [letzter Zugriff: 31.1.2020]. Stakemeier sieht die Kapitalisierung der Produktionsweise von Kunst zugleich als Chance. Durch ihre unmittelbare Teilhabe an »Diskursen und Kalkulationen nationaler und supranationaler Krisenökonomien« böte sich die Möglichkeit einer »Repolitisierung der Produktionsbedingungen des Kapitalismus« durch die Kunstwerke. Anders als Stakemeier stellt Adorno den Zusammenhang von Kunst und Gesellschaft in Form direkter gesellschaftlich-ökonomischer Eingriffe in die künstlerische Produktion in den Hintergrund. Vgl. Ästhetische Theorie, S. 340. Vgl. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 335 und 340. Vgl. ebd., S. 337 und 348. Vgl. ebd., S. 348. 37

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schuldig, sondern auch, weil sie angesichts des historisch-realen Sinnverlusts einen »Sinnzusammenhang« realisieren.42 Gleichzeitig ist diese Trennung und die »Vergeistigung« der Kunst Bedingung ihrer Autonomie.43 Adorno beschreibt diesen Prozess der Vergeistigung, der sich seines Erachtens auch in der Geschichte der Kunst vollzieht, auch als einen Prozess der »Aufklärung«.44 Insofern lässt sich auf eine Parallelität künstlerischer und gesellschaftlicher Entwicklung schließen – in Form zunehmender Rationalisierung.45 Diese an Max Weber angelehnte Vorstellung von Rationalisierung zeigt sich für Adorno vorrangig in Verfahren und Techniken. Seines Erachtens ist es eine »geistesgeschichtliche Trivialität, daß die Entwicklung der künstlerischen Verfahrungsweisen […] der gesellschaftlichen korrespondiert«46 . Beschreibt er diese »Korrespondenz« genauer, spricht er davon, dass die gesellschaftliche Entwicklung sich in den einzelnen Kunstwerken manifestiere, die »fensterlose Monaden« seien:47 »Daß die Kunstwerke als fensterlose Monaden das ›vorstellen‹, was sie nicht selbst sind, ist kaum anders zu begreifen als dadurch, daß ihre eigene Dynamik, ihre immanente Historizität […] nicht nur desselben Wesens ist wie die auswendige, sondern in sich jener ähnelt, ohne sie zu imitieren.«48 Anhand des Leibniz’schen Vokabulars grenzt Adorno sich von der Vorstellung ab, künstlerische Phänomene seien lediglich Widerspiegelungen gesellschaftlicher oder ökonomischer Vorgänge. Der Begriff der Monade impliziert, dass die Kunstwerke in sich geschlossene Entitäten sind. Die Rede von einer »eigenen Dynamik«, einer »immanenten Historizität« der Kunstwerke verweist auf die im vorherigen Abschnitt dargestellte »Tendenz des Materials«, die sich in den einzelnen Kunstwerken zeigt. Dass Adorno statt von »Widerspiegelung« oder »Reflex« davon spricht, dass die »eigene Dynamik« der künstlerischen

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Vgl. ebd. und insb. S. 228f. Vgl. ebd., S. 349. Vgl. ebd. u.a. S. 16f., 50, 339. Vgl. ebd., S. 488. Ebd., S. 15. Vgl. auch ebd., S. 350: »Der Prozeß, der in den Kunstwerken sich vollzieht und in ihnen stillgestellt wird, ist als gleichen Sinnes mit dem gesellschaftlichen Prozeß zu denken, in den die Kunstwerke eingespannt sind; nach Leibnizens Formel repräsentieren sie ihn fensterlos.« Ebd., S. 15f.

Kunst als Gesellschaftskritik

Entwicklung »desselben Wesens« ist wie die gesellschaftliche, ihr »ähnelt«,49 legt das Konzept einer »prästabilierten Harmonie« zwischen künstlerischer und gesellschaftlicher Entwicklung nahe. Eine derartige Verwandtschaft würde Parallelität bei gleichzeitiger Unabhängigkeit implizieren. Zumindest in der Leibniz’schen Konzeption ist dabei ein »transzendenter Schöpfer« zur Einrichtung der Harmonie notwendig.50 Adorno wendet sich zwar explizit gegen eine derartige »geschichtsphilosophische Mystifizierung« im Sinne einer »vom Weltgeist veranstalteten prästabilierten Harmonie zwischen der Gesellschaft und den Kunstwerken«51 . Er übernimmt allerdings die Vorstellung eines indirekten Zusammenhangs, einer formalen Parallelität gesellschaftlicher Prozesse und des Prozesses, »der in den Kunstwerken sich vollzieht und in ihnen stillgestellt wird«52 . Dieses Verhältnis, das an der Struktur einzelner Kunstwerke sichtbar wird, macht für Adorno den dritten und zentralsten Aspekt des Zusammenhangs zwischen Kunst und Gesellschaft aus. Die gesellschaftliche Entwicklung zeigt sich seines Erachtens insofern im Kunstwerk, als die künstlerischen »Formgesetze« gesellschaftlichen »Gesetzen« entsprechen: »Die Konfiguration der Elemente des Kunstwerks zu dessen Ganzem gehorcht immanent Gesetzen, die denen der Gesellschaft draußen verwandt sind. Gesellschaftliche Produktivkräfte sowohl wie Produktionsverhältnisse kehren der bloßen Form nach, ihrer Faktizität entäußert, in den Kunstwerken wieder, weil künstlerische Arbeit gesellschaftliche Arbeit ist; stets sind es auch ihre Produkte.«53 Da künstlerische Arbeit gesellschaftliche Arbeit ist, sind auch Kunstwerke Produkte gesellschaftlicher Arbeit.54 Es ist zunächst aber unplausibel, dass sich gesellschaftliche »Produktivkraft und Produktionsverhältnis« in den Kunstwerken wiederfinden. Ersteres, die »gesellschaftliche Produktivkraft« 49

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Am Zitat ist u.a. auffällig, dass der Zusammenhang zwischen »desselben Wesens« und »ähnelt« als Steigerung gefasst wird: »nicht nur desselben Wesens, sondern […] ähnelt«. Naheliegender wäre eine explikative oder begründende Formulierung: »desselben Wesens, d.h. […] ähnelt« oder »desselben Wesens, weil […] ähnelt.« Vgl. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 420. Ebd., S. 350. Ebd. Zu einer ausführlicheren Diskussion des Prozesscharakters der Kunstwerke vgl. Max Paddison, Adorno’s Aesthetics of Music, Cambridge: Cambridge University Press 1993, insb. S. 189f. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 350. Vgl. ebd., S. 335.

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bezeichnet die durch den Stand von Wissenschaft und Technik bedingte Produktivität menschlicher Arbeitskraft. Die »ästhetische Produktivkraft« könnte insofern derjenigen der nützlichen Arbeit entsprechen, als die Arbeitskraft, die in der ästhetischen Produktion zur Verfügung steht, dieselbe ist wie diejenige zur gesellschaftlichen Produktion.55 Sie wird lediglich dadurch zur »ästhetischen«, dass sie nicht zur gesellschaftlichen Reproduktion gebraucht wird.56 Allerdings erklärt dieser Zusammenhang nicht, inwiefern die gesellschaftliche Produktivkraft »der Form nach« in die Kunstwerke eingeht. Zweiteres, die »gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse« bezeichnen grob die ökonomische Struktur der Gesellschaft. Adorno scheint davon auszugehen, dass die Produktionsverhältnisse sich in den Produkten gesellschaftlicher Arbeit, somit auch in den Kunstwerken finden.57 Insofern die Kunstwerke »Produkte gesellschaftlicher Arbeit« sind, haben auch sie »Warenform«.58 Diese These lässt sich plausibilisieren, sofern davon ausgegangen wird, dass die ökonomische Struktur sich bereits dadurch in den Produkten wiederfindet, dass es sich um Waren handelt, die für den Markt produziert werden. Diese Vorstellung bietet zwar eine erste Erklärung bezüglich des formalen Zusammenhangs gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse und künstlerischer Strukturen. Sie ist aber insofern unbefriedigend, als keine Aussage über das spezifische Eingehen der Produktionsverhältnisse in Kunstwerke im Vergleich zu anderen Waren gemacht wird. Dass Produktivkraft und Produktionsverhältnisse »der bloßen Form nach« wiederkehren, weist allerdings nicht nur darauf hin, dass sie in die Form des Kunstwerks eingehen, sondern auch darauf, dass die Form ihres Verhältnisses – von Adorno als »dialektisch« oder »antagonistisch« beschrieben – sich im Kunstwerk findet. In dieser Lesart manifestieren gesellschaftliche Produktivkraft und Produktionsverhältnisse sich nicht direkt im Kunstwerk. Stattdessen wird das Spannungsverhältnis zwischen den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen, der Produktion auf der Grundlage von Privateigentum an Produktionsmitteln, und den von ihnen 55 56

57 58

Vgl. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 350f. Vgl. ebd., S. 351: »Nicht an sich sind die Produktivkräfte in den Kunstwerken verschieden von den gesellschaftlichen sondern nur durch ihre konstitutive Absentierung von der realen Gesellschaft.« Diese Vorstellung findet sich u.a. bei Georg Lukács, Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats, Bielefeld: Aisthesis 2015, S. 14. Vgl. ebd., S. 353, auf S. 401 auch »dinghafter Charakter«.

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hervorgebrachten Produktivkräften hervorgehoben. Die Analogie der gesellschaftlichen zur künstlerischen Entwicklung manifestiert sich dabei als Parallelität der gesellschaftlichen, aus der »Dialektik von Produktivkraft und Produktionsverhältnissen« resultierenden »Antagonismen« zu den »Problemen der Form«, die sich in der künstlerischen Produktion zeigen:59 »Die ungelösten Antagonismen der Realität kehren wieder in den Kunstwerken als die immanenten Probleme ihrer Form. Das, nicht der Einschluß gegenständlicher Momente, definiert das Verhältnis von Kunst zur Gesellschaft.«60 Die Struktur des gelungenen Kunstwerks resultiert daher nicht aus der direkten Reflexion auf gesellschaftliche Krisen, sondern ergibt sich in der Auseinandersetzung mit dem »Materialstand«.61 Die in der Arbeit der Künstler*in an den Problemen und Aufgaben der bisherigen künstlerischen Entwicklung entstehenden antagonistischen Formen des Kunstwerks sind, so die Idee, den immanenten Problemen, Krisen und Brüchen der gesellschaftlichen Entwicklung verwandt.62

III. Doppelcharakter und Ideologie Einerseits ist die künstlerische Entwicklung, die Entwicklung des Materials als Möglichkeitsraum, also eigengesetzlich und von der gesellschaftlichen Entwicklung unabhängig. Sie zeigt sich in den Gesetzen der künstlerischen Produktion und den Formen des konkreten, »autonomen« Werks. Andererseits gleichen dessen Formgesetze denjenigen der Gesellschaft: zum einen dadurch, dass auch die Kunstwerke Produkte gesellschaftlicher Arbeit und somit warenförmig sind; zum anderen dadurch, dass laut Adorno eine Analogie zwischen den immanenten Problemen der Kunst und denjenigen der

59 60 61 62

Vgl. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 15f. und S. 252f. Ebd., S. 16. Vgl. ebd., S. 262f. Diese Analogie wird in der Ästhetischen Theorie nicht konkret ausgeführt oder begründet. Das liegt unter anderem daran, dass sie sich, wie Adorno immer wieder betont, nur in Analysen einzelner Kunstwerke konkretisieren lässt. Besonders in seinen Monographien zu Mahler und Wagner gehen detaillierte musiktheoretische Analysen in gesellschaftliche Reflexion über. Vgl. Theodor W. Adorno, Die musikalischen Monographien (= Gesammelte Schriften 13), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994.

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Gesellschaft besteht. Die Kunstwerke sind daher, so das viel zitierte Schlagwort, zugleich »autonom« und »faits sociaux«.63 Dieser »Doppelcharakter« und dessen Gleichgewicht ist ausschlaggebend für den gesellschaftlichen Gehalt der Kunstwerke.64 Sie müssen einerseits autonom sein, um die Gesellschaft kritisieren zu können, andererseits auf die Gesellschaft bezogen, um nicht beliebig zu werden. Nimmt eines der beiden Momente überhand, nehmen die Kunstwerde also entweder keine Distanz zur Gesellschaft ein oder lösen sich gänzlich von ihr, drohen sie affirmativ und somit unkritisch zu werden: »Läßt sie [die Kunst] von ihrer Autonomie nach, so verschreibt sie sich dem Betrieb der bestehenden Gesellschaft; bleibt sie strikt für sich, so läßt sie als harmlose Sparte unter anderen nicht minder gut sich integrieren.«65 Ersteres beschreibt Adorno unter anderem in Ausführungen über die Kulturindustrie, Letzteres anhand des Prinzips der »l’art pour l’art«.66 Dass seines Erachtens nicht nur in diesen Hinsichten »verkehrte« Kunstwerke »ideologisch« sind, zeigt sich an der folgenden Passage, die ich in zwei Teile gliedern möchte: »[a] Sind tatsächlich die Kunstwerke absolute Ware als jenes gesellschaftliche Produkt, das jeden Schein des Seins für die Gesellschaft abgeworfen hat, den sonst Waren krampfhaft aufrecht erhalten, so geht das bestimmende Produktionsverhältnis, die Warenform, ebenso in die Kunstwerke ein wie die gesellschaftliche Produktivkraft und der Antagonismus zwischen beidem. [b] Die absolute Ware wäre der Ideologie ledig, welche der Warenform innewohnt, die prätendiert, ein Für anderes zu sein, während sie ironisch ein bloßes Für sich: das für die Verfügenden ist.«67 Die Bezeichnung der Kunstwerke als »absolute Ware« in [a] kann, in einer ersten Lesart, im Sinne ihres Doppelcharakters verstanden werden. Die Kunstwerke sind einerseits »absolut«, losgelöst von der gesellschaftlichen Entwicklung und somit »autonom«; andererseits sind sie »Ware«, Produkte gesellschaftlicher Arbeit, und daher »faits sociaux«. Ein Arbeitsprodukt ist dabei

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Vgl. u.a. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 16 und 335. Ich gehe insb. im vierten Abschnitt dieses Beitrags auf den Begriff des »Wahrheitsgehalts« ein. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 352f. Vgl. ebd. Ebd., S. 351.

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Ware, sofern es für den Markt und den Tausch mit anderen Arbeitsprodukten oder Geld produziert wird. Ware ist somit immer auf anderes bezogen und befriedigt in der Tauschgesellschaft, so Adorno, »falsche Bedürfnisse«.68 Kunstwerke sind demgegenüber »absolut« und nicht relativ, da sie sich, zumindest dem Anspruch nach, nur auf sich selbst beziehen. Ihre gesellschaftliche Funktion besteht in ihrer »Funktions- und Nutzlosigkeit«, sie sind »Für sich«. Da sie zumindest idealerweise nicht für den Tausch produziert sind, müssen sie den Schein, »Für anderes« zu sein, den »Schein des Seins für die Gesellschaft«, nicht aufrechterhalten. Somit entziehen sie sich der Logik des Tauschs:69 »Das Prinzip des Füranderesseins […] ist das des Tausches und in ihm vermummt sich die Herrschaft. Fürs Herrschaftslose steht nur ein, was jenem nicht sich fügt; für den verkümmerten Gebrauchswert das Nutzlose. Kunstwerke sind die Statthalter der nicht länger vom Tausch verunstalteten Dinge, des nicht durch den Profit und das falsche Bedürfnis der entwürdigten Menschen zugerichteten.«70 In dieser Lesart sind die Kunstwerke im Sinne einer Selbstbezüglichkeit und der damit einhergehenden Loslösung von der gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeit »absolut«. Allerdings stehen die beiden Halbsätze des Zitats [a] in einem Bedingungszusammenhang, der nahelegt, dass »Produktionsverhältnisse«, »Produktivkraft« und »der Antagonismus zwischen beidem« insofern in die Kunstwerke eingehen, als diese »absolute Ware« sind: »Sind tatsächlich die Kunstwerke absolute Ware […], so geht das bestimmende Produktionsverhältnis, die Warenform, ebenso in die Kunstwerke ein wie die gesellschaftliche Produktivkraft und der Antagonismus zwischen beidem.«71 Da die »Absolutheit« der Kunstwerke im Sinne ihrer »Autonomie« verstanden wurde, legt die erste Lesart aber eher eine Distanz zur Gesellschaft nahe. Um den zweiten Halbsatz zu begründen, müsste der Fokus darauf liegen, dass auch Kunstwerke »Produkte gesellschaftlicher Arbeit« sind. In einer zweiten Lesart liegt die Betonung innerhalb der Bezeichnung der Kunstwerke als »absolute Ware« daher auf ihrer Warenförmigkeit. Der Begriff der Absolutheit wird als unterstützend verstanden: Dass Kunstwerke 68 69 70 71

Vgl. ebd., S. 337. Vgl. ebd., S. 336f.: »Soweit von Kunstwerken eine gesellschaftliche Funktion sich präzidieren läßt, ist es ihre Funktionslosigkeit.« Ebd., S. 337. Ebd., S. 351.

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den »Schein des Seins für die Gesellschaft« abgeworfen haben, macht sie zur »idealen«, »vollkommenen« Ware. Aufgrund ihrer Funktions- und Nutzlosigkeit haben sie in dieser Lesart nicht nur, wie die Ware, einen verkümmerten, sondern gar keinen Gebrauchswert. Somit entziehen sie sich der Logik des Tauschs nicht, sondern führen sie konsequent weiter. Gegen diese zweite Lesart spricht wiederum der zweite Satz der oben zitierten Stelle: »[b] Die absolute Ware wäre der Ideologie ledig, welche der Warenform innewohnt, die prätendiert, ein Für anderes zu sein, während sie ironisch ein bloßes Für sich: das für die Verfügenden ist.«72 Wird der Nebensatz »Warenform, die prätendiert …« als nähere Bestimmung der Warenform verstanden, liegt es nahe, [b] als Weiterführung der ersten Lesart von [a] zu verstehen.73 Die »absoluten«, im Sinne der ersten Lesart von der Tauschgesellschaft »losgelösten«, autonomen Kunstwerke sind demnach insofern »der Ideologie ledig«, als die Ideologie der Warenform innewohnt, von der diese sich distanzieren. Beide Lesarten legen den Fokus auf jeweils einen Aspekt des Doppelcharakters der Kunstwerke und tragen daher beide zu dessen besserem Verständnis bei. Allerdings ist [b] im Konjunktiv formuliert: »Die absolute Ware wäre der Ideologie ledig«. Auch in [a], »Sind tatsächlich die Kunstwerke absolute Waren …«, wird durch das »tatsächlich« angedeutet, dass die Kunstwerke nicht uneingeschränkt als »absolute Ware« zu verstehen sind. Beide Lesarten müssen also eingeschränkt werden. Wären die Kunstwerke »absolute Ware«, wären sie »der Ideologie ledig«. Sie sind aber in zweifacher, den beiden Lesarten und ihrem Doppelcharakter entsprechenden Hinsicht »ideologisch«. Zum einen sind die Kunstwerke nur um den Preis des Vergessens ihrer gesellschaftlichen Gemachtheit autonom. Zum anderen können sie sich nicht gänzlich vom »Schein des Seins für die Gesellschaft« befreien; sie sind keine, gemäß der zweiten Lesart, »vollkommenen« Waren, da auch sie im Hin72 73

Ebd., S. 353. Wird »welche der Warenform innewohnt, die …« als »welche der[jenigen] Warenform innewohnt, die …« gelesen, ergibt sich eine weitere Dimension der zweiten Lesart. Diejenige Warenform, die einen »Schein des Seins für die Gesellschaft« hat, prätendiert, »Für anderes« zu sein. Indem sie den »Schein des Seins für die Gesellschaft« aufrechterhält, ist sie »ideologisch«. Die »vollkommene Ware«, das nutzlose Kunstwerk, hat diesen »Schein« abgeworfen, ist nur auf sich selbst bezogen und somit »der Ideologie ledig«. In dieser Lesart gäbe es also eine »ideale«, nicht ideologische Warenform, diejenige des Kunstwerks. Allerdings ist unklar, inwiefern das auf sich selbst bezogene Kunstwerk in dieser Interpretation noch als »Ware« zu verstehen wäre.

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blick auf Verkaufbarkeit hergestellt und »auf dem Markt feilgeboten«74 werden. Sie haben somit einen Tauschwert und sind Teil der gesellschaftlichen, laut Adorno »ideologischen« Verhältnisse. Kunst ist daher »unideologisch […] wohl überhaupt nicht möglich«75 . Allerdings ist der ideologische Charakter der Kunstwerke laut Adorno zugleich die Kehrseite ihres »Wahrheitsgehalts«; Ideologie kann im Kunstwerk »in Wahrheit umschlagen«76 .

IV. Wahrheitsgehalt und Utopie Adorno zufolge sind Kunstwerke weniger aufgrund ihrer direkten Korrespondenz zur außerkünstlerischen Realität als aufgrund ihrer immanenten Kohärenz »wahr«. Sie sind insofern »realistisch«, als sie in sich »durchgeformt« sind: »Je tiefer sie durchgeformt sind, desto spröder machen sie sich gegen den veranstalteten Schein, und diese Sprödigkeit ist die negative Erscheinung ihrer Wahrheit. […] die durchgeformten Werke, die formalistisch gescholten werden, sind die realistischen insofern, als sie in sich realisiert sind und vermöge dieser Realisierung allein auch ihren Wahrheitsgehalt, ihr Geistiges verwirklichen, anstatt bloß es zu bedeuten.«77 Die Begriffe »Form« und »Durchformung« bzw. »Durchbildung« sind als »Inbegriff aller Momente von Logizität oder, weiter, Stimmigkeit an den Kunstwerken«78 zu verstehen, als Organisation der Elemente des Kunstwerks zu einem sinnvollen Ganzen. Die Begriffe der Durchbildung und Stimmigkeit implizieren allerdings keine Widerspruchslosigkeit. Gegensätze, die sich im zu formenden Material finden, bleiben im Kunstwerk wesentlich erhalten. Gerade dadurch, dass in der Komposition die Eigenschaften der Elemente »bewahrt« werden, weist die neue Konstellation als »gewaltlose« über das herrschende Bewusstsein hinaus:

74 75 76 77 78

Adorno, Ästhetische Theorie, S. 351. Ebd. Ebd., S. 353. Vgl. auch S. 346: »Ideologie, als gesellschaftlicher notwendiger Schein, ist in solcher Notwendigkeit stets auch die verzerrte Gestalt des Wahren.« Ebd., S. 195f. Ebd., S. 211.

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»Alldem gegenüber ist die ästhetische Form die objektive Organisation eines jeglichen innerhalb eines Kunstwerks Erscheinenden zum stimmig Beredten. Sie ist die gewaltlose Synthesis des Zerstreuten, die es doch bewahrt als das, was es ist, in seiner Divergenz und seinen Widersprüchen, und darum tatsächlich eine Entfaltung der Wahrheit.«79 Gerade indem die Kunstwerke das Bestehende auch in seinen Widersprüchlichkeiten darstellen, bringen sie die gesellschaftlichen Verhältnisse und das herrschende, falsche Bewusstsein adäquat zum Ausdruck.80 Diese defizitär wirkende »Wahrheit falschen Bewußtseins in der ästhetischen Erscheinung«81 begründet Adorno zunächst damit, dass das »richtige Bewußtsein« nie existiert habe: »Die Trennung zwischen einem an sich Wahren und dem bloß adäquaten Ausdruck falschen Bewußtseins ist nicht zu halten, denn bis heute existiert das richtige Bewußtsein nicht […]. Vollkommene Darstellung falschen Bewußtseins ist der Name für es und selber Wahrheitsgehalt.«82 Dass die Darstellung falschen Bewusstseins als »wahr« bezeichnet wird, sofern sie »vollkommen« ist, kann zum einen als Sichtbarmachung des »falschen« Charakters des bestehenden Bewusstseins, zum anderen als Verweis auf das darin angelegte »richtige« Bewusstsein verstanden werden. Die herrschenden Verhältnisse kommen einerseits insofern »adäquat« zum Ausdruck, als sie als normativ falsche sichtbar und somit kritisierbar werden. Andererseits ist die Darstellung »vollkommen«, indem sie auf das »richtige Bewußtsein« verweist, das noch nicht verwirklicht und somit ein »Nichtseiendes« ist. Dieses manifestiert sich als »Sehnsucht« in den Kunstwerken.83 Diese Sehnsucht ist allerdings nicht subjektiv oder zufällig.84 Sie ist in den bestehenden Verhältnisse angelegt, sodass die Kunstwerke lediglich »die Bedürftigkeit, die als Figur dem geschichtlich Seienden einbeschrieben ist […] nachzeichnen«85 . Indem Kunst den »Bann der Realität« wiederholt, »befreit sie zugleich ten-

79 80 81 82 83 84 85

Ebd., S. 215f. Vgl. ebd., S. 196 und 353. Ebd., S. 196. Ebd. Vgl. ebd., S. 199. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. auch ebd.: »Ohnmächtig wären Kunstwerke aus bloßer Sehnsucht, obwohl kein stichhaltiges ohne Sehnsucht ist.«

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denziell sich« und »verwandelt […] ihn in die negative Erscheinung der Utopie«86 . Kunstwerke sind demnach insofern »wahr«, als sie dem in der Geschichte angelegten utopischen Potenzial Ausdruck verleihen.87 Ihre vielfältigen utopischen Momente ergeben sich aus »Bedürftigkeit«, indem sie die Sehnsucht und unerfüllten Bedürfnisse nach Veränderung aufgreifen, die im bisherigen geschichtlichen Verlauf unterdrückt und abgespalten werden mussten.88 Daher erscheint die Utopie in ihnen nicht als Wunschbild einer besseren Zukunft, sondern als »Erinnerung«. Es ist Adorno zufolge das »Eingedenken […], das allein Utopie konkretisiert, ohne sie an Dasein zu verraten«89 . Utopie lässt sich laut Adorno also realisieren, allerdings lediglich via negativa. Der Begriff des »Scheins« betont dabei die Prekarität und Ambivalenz dieser Realisierung. In der geschichtlichen Entwicklung ist das »richtige Bewußtsein« insofern bloß Schein, als es nicht verwirklicht und »auch damals […] nie gewesen«90 ist. In den Kunstwerken erhält dieses »Nichtseiende« als »ästhetischer Schein« oder »Erscheinung« ein »zweites, gebrochenes Dasein«:91 »Der Glanz, den heute die alle Affirmation tabuierenden Kunstwerke ausstrahlen, ist die Erscheinung […] eines Nichtseienden, als ob es doch wäre. Sein Anspruch zu sein erlischt im ästhetischen Schein, was nicht ist, wird jedoch dadurch, daß es erscheint, versprochen. Die Konstellation von Seiendem und Nichtseiendem ist die utopische Figur von Kunst.«92 Adorno spricht wiederholt davon, dass das Erscheinen des Utopischen kein bloßer »Schein«, sondern ein »Schein des Wahren« oder »Schein des Schein-

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Ebd., S. 196. Vgl. auch S. 54: »Weil der Bann der auswendigen Realität über die Subjekte und ihre Reaktionsformen absolut geworden ist, kann das Kunstwerk ihm nur dadurch noch opponieren, daß es ihm sich gleichmacht.« Vgl. ebd., S. 132: »Geschichte darf der Gehalt der Kunstwerke heißen. Kunstwerke analysieren heißt so viel wie der in ihnen aufgespeicherten immanenten Geschichte innezuwerden.« Vgl. ebd., S. 199. Insb. für die Konkretisierung dieses Gedankens danke ich Robert Ziegelmann. Ebd., S. 200. Ebd. Vgl. ebd., S. 167: »Schein sind die Kunstwerke dadurch, daß sie dem, was sie selbst nicht sein können, zu einer Art von zweitem, modifiziertem Dasein verhelfen; Erscheinung, weil jenes Nichtseiende an ihnen, um dessentwillen sie existieren, vermöge der ästhetischen Realisierung zu einem wie immer auch gebrochenen Dasein gelangt.« Ebd., S. 347.

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losen« sei.93 Dass der »Wahrheitsgehalt« als »scheinlos« bezeichnet wird, lässt sich einerseits darauf beziehen, dass er nicht willkürlich, sondern im Bestehenden verankert und insofern objektiv ist. Andererseits ist das herrschende Bewusstsein ideologisch und somit »scheinhaft«. Das richtige Bewusstsein wäre demgegenüber unideologisch und insofern »scheinlos«, als ihm kein »ideologischer Schein« anhaftet. Dass der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke wesentlich von ihrer individuellen »Konstruktion« abhängt, ist zunächst widersprüchlich. Das Allgemeine manifestiert sich laut Adorno aber nur im Besonderen. Nur als »Gemachte« erhalten die einzelnen Kunstwerke einen »Schein des Nichtgemachten«, der nicht verwirklichten Wahrheit. Dieser Schein kann nicht begrifflich gefasst, nicht »bedeutet« werden. Indem das Kunstwerk, sofern es nicht affirmativ ist, auf das »Andere«, »Nichtseiende« verweist, steht es im Spannungsverhältnis zum von Adorno diagnostizierten »Identitätszwang« der gesellschaftlichen Verhältnisse.94 Der Gehalt der Kunstwerke bezeichnet daher gerade kein »Identisches«, auf dessen Wiedererkennung sich die ästhetische Erfahrung, wie beispielsweise Juliane Rebentisch meint, beschränkt.95 Er erscheint in ihnen, so die Idee, als nicht identifizierbares, nicht identisches »Vieles«. Es besteht eine Pluralität an Kunstwerken, in denen, auf je spezifische Weise, diverse gesellschaftliche Sehnsüchte und unbefriedigte Bedürfnisse zum Ausdruck kommen: »Dies Andere ist nicht Einheit und Begriff sondern ein Vieles. So stellt der Wahrheitsgehalt in der Kunst als ein Vieles, nicht als abstrakter Oberbegriff der Kunstwerke sich dar. […] Von allen Paradoxien der Kunst ist wohl die innerste, daß sie einzig durch Machen, die Herstellung besonderer, spezifisch in sich durchgebildeter Werke, nie durch unmittelbaren Blick darauf das nicht Gemachte trifft, die Wahrheit.«96 Insofern nicht nur die Unzulänglichkeit des Bestehenden, sondern auch das »Nichtseiende« in der Komposition der Kunstwerke sichtbar wird, weisen

93 94 95 96

Vgl. ebd., S. 198 sowie S. 200: »Wahrheit hat Kunst als Schein des Scheinlosen.« Vgl. ebd., S. 14. Vgl. Juliane Rebentisch, Ästhetik der Installation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 131f. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 199. Vgl. auch S. 195: »Der geistige Gehalt schwebt nicht jenseits der Faktur, sondern die Kunstwerke transzendieren ihr Tatsächliches durch ihre Faktur, durch die Konsequenz ihrer Durchbildung.«

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diese über sich hinaus. Dieses Verhältnis, das zumindest der »Idee« der Form entspricht, bezeichnet Adorno als »bestimmte Negation«.97

V. Bestimmte Negation und Kritik Adorno diagnostiziert, dass sich die Gesellschaft auf eine »totale Tauschgesellschaft« hinbewege, in der alles »Für anderes« sei. Dieser gesellschaftliche Prozess habe sich »als einer zur Selbstvernichtung«98 offenbart. Im zugrundeliegenden Prinzip des Tausches, so Adorno, »vermummt sich die Herrschaft«99 . Erst diese normative Annahme rechtfertigt, dass Kunst die Gesellschaft nicht bejaht. Tut sie dies, droht sie affirmativ, herrschaftsstabilisierend und -verschleiernd, »ideologisch« zu werden.100 Sofern die Kunstwerke »Für sich« statt »Für anderes« sind, entziehen sie sich der »Tauschgesellschaft«. Diese Selbstbezüglichkeit zeigt sich unter anderem in ihrer Konstruktion und »Durchbildung«: »Indem sie [die Kunst] sich als Eigenes in sich kristallisiert, anstatt bestehenden gesellschaftlichen Normen zu willfahren und als ›gesellschaftlich nützlich‹ sich zu qualifizieren, kritisiert sie die Gesellschaft, durch ihr bloßes Dasein […]. Nichts Reines, nach seinem immanenten Gesetz Durchgebildetes, das nicht wortlos Kritik übte, die Erniedrigung durch einen Zustand denunzierte, der auf die totale Tauschgesellschaft sich hinbewegt: in ihr ist alles nur für anderes. Das Asoziale der Kunst ist bestimmte Negation der bestimmten Gesellschaft.«101 Gelungene Kunstwerke beziehen sich daher nicht direkt auf die Gesellschaft. Adorno zufolge ist Kunst durch »ihre immanente Bewegung gegen die

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Vgl. ebd., S. 219: »Wäre bruchlose und gewaltlose Einheit der Form und des Geformten gelungen, wie sie in der Idee von Form liegt, so wäre jene Identität des Identischen und Nichtidentischen verwirklicht, vor deren Unrealisierbarkeit doch das Kunstwerk ins Imaginäre der bloß fürsichseienden Identität sich vermauert.« Zum Verhältnis von Gehalt und bestimmter Negation vgl. ebd., S. 195: »Kein Wahrheitsgehalt der Kunstwerke ohne bestimmte Negation; Ästhetik heute hat diese zu exponieren.« 98 Ebd., S. 335. 99 Ebd., S. 337. 100 Vgl. die Ausführungen zur Kritik der Kulturindustrie, ebd., S. 32f. 101 Ebd., S. 335.

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Gesellschaft, nicht ihre manifeste Stellungnahme«102 gesellschaftskritisch. Diese »Bewegung gegen die Gesellschaft« findet sich auf zwei wechselseitig konstitutiven Ebenen, derjenigen des einzelnen Kunstwerks und derjenigen der innerkünstlerischen Entwicklung. Um sie nicht abstrakt zu negieren, muss sich Kunst dennoch auf die Gesellschaft beziehen. Diese Beziehung beschreibt Adorno auf beiden Ebenen. Zum einen besteht eine Verwandtschaft der künstlerischen und gesellschaftlichen Entwicklung in ihrer Rationalisierungstendenz. Diese äußert sich in der künstlerischen Entwicklung als Materialbeherrschung, in der gesellschaftlichen als Naturbeherrschung. Zum anderen besteht eine Parallelität künstlerischer, sich in der Struktur der Kunstwerke manifestierender »Formgesetze« und gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeiten. Diese kommt vor allem in den daraus resultierenden Dysfunktionalitäten zum Ausdruck, den Problemen der »Form« in der Kunst und den Krisen und Kämpfen in der Gesellschaft: »Gesellschaftliche Kämpfe, Klassenverhältnisse drücken in der Struktur von Kunstwerken sich ab; die politischen Positionen, die Kunstwerke von sich aus beziehen, sind demgegenüber Epiphänomene, meist zu Lasten der Durchbildung der Kunstwerke und damit am Ende auch ihres gesellschaftlichen Wahrheitsgehalts. Mit Gesinnung ist wenig getan.«103 Die Gesellschaft wird indirekt negiert, durch »bestimmte Negation« des Materials in der künstlerischen Produktion. Indem das spezifische Kunstwerk auf ungelöste kompositorische Aufgaben antwortet, nimmt es »bestimmte Stellung zur empirischen Realität«104 . Es tritt »aus deren Bann […], nicht ein für allemal, sondern stets wieder konkret, bewußtlos polemisch gegen dessen Stand zur geschichtlichen Stunde«105 . Da das Kunstwerk sich dementsprechend auf einen historisch spezifischen Stand bezieht, kann sich sein kritisches Potenzial mit der Zeit verlieren.106 Adorno ist dabei der Auffassung, dass das Neue durch das Negierte bestimmt und somit nicht willkürlich ist:

102 Ebd., S. 337: »Nichts Gesellschaftliches an der Kunst ist es unmittelbar, auch nicht wo sie es ambitioniert. Gesellschaftlich an der Kunst ist ihre immanente Bewegung gegen die Gesellschaft, nicht ihre manifeste Stellungnahme.« 103 Ebd., S. 344. 104 Ebd., S. 15. 105 Ebd. 106 Vgl. ebd., S. 288f.: »Was Werke durch die Konfiguration ihrer Elemente sagen, bedeutet in verschiedenen Epochen objektiv Verschiedenes, und das affiziert schließlich ihren Wahrheitsgehalt.«

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»Evident, wie sehr etwa der Komponist, der mit tonalem Material schaltet, von der Tradition es empfängt. Benutzt er jedoch, kritisch gegen jenes, ein autonomes: von Begriffen wie Konsonanz und Dissonanz, Dreiklang, Diatonik ganz gereinigtes, so ist in der Negation das Negierte enthalten.«107 Dadurch, dass bestimmtes Material und bestimmte Verfahren aus dem Möglichkeitsraum ausgeschlossen werden, ergeben sich Leerstellen und Aufgaben, die auf mögliche Erweiterungen verweisen. Das Negierte bildet einen »negativen Kanon, Verbote dessen, was solche Moderne in Erfahrung und Technik verleugnet; und solche bestimmte Negation ist beinahe schon wieder Kanon dessen, was zu tun sei«108 . Die »Erfahrung und Technik«, die für diesen Ausschluss ausschlaggebend sind, sind als gesellschaftliche Phänomene zu verstehen. Als »Stand des Geistes« bilden sie eine Brücke zwischen künstlerischer und gesellschaftlicher Entwicklung. Das Konzept der »bestimmten Negation« findet sich also in vier sich bedingenden Prozessen und Bereichen. Erstens in der gesellschaftlichen Funktionslosigkeit von Kunst. Zweitens in der künstlerischen Entwicklung, die sich den Gesetzmäßigkeiten der Gesellschaft entzieht. Drittens in der Produktion, der Auseinandersetzung der Künstler*in mit dem Materialstand. Viertens in der resultierenden Gestalt des einzelnen, in sich stimmigen Kunstwerks. In diesen Aspekten weist Kunst über das Bestehende hinaus auf das zu Verwirklichende; die »bestimmte Negation« wird in Bezug auf das Nachfolgende »bestimmend«.109

VI. Ausblick In diesem Beitrag habe ich versucht, einige zentrale Konzepte der Ästhetischen Theorie zu erläutern und zueinander in Beziehung zu setzen. Vor dem Hintergrund des Vorangegangenen wird nun deutlich, inwiefern Kunst, folgt man den bisher dargelegten Gedanken, dem utopischen Potenzial des Bestehenden Ausdruck verleihen kann – und wie sich Adornos Überlegungen zu anderen kunstphilosophischen Ansätzen verhalten. In ihrer Funktions- und Nutzlosigkeit deuten die Kunstwerke auf eine von Zweck-Mittel-Rationalität und den Prinzipien des Tauschs befreite Ge107 Ebd., S. 223. 108 Ebd., S. 57f. 109 Diese treffende Formulierung stammt von Robert Ziegelmann.

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sellschaft. Dass sich dies in den Kunstwerken »chiffriert«, ist, so Adorno, »ihr gesellschaftlicher Sprengkopf«110 . Diese distanzierte Stellung der Kunst hat eine autonome künstlerische Entwicklung zur Voraussetzung und äußert sich zugleich in ihr. In der für diese Entwicklung konstitutiven Produktion neuer Kunstwerke verweisen die durch Negation bestimmten Materials entstehenden Leerstellen auf neue Verfahren. Dabei konkretisiert sich besonders in der Konstellation, in die das zu formende Material im gelungenen Kunstwerk tritt, das, was im Bestehenden angelegt aber nicht verwirklicht ist:111 »Die Elemente jenes Anderen sind in der Realität versammelt, sie müßten nur, um ein Geringes versetzt, in neue Konstellation treten, um ihre rechte Stelle finden. Weniger als daß sie imitieren, machen die Kunstwerke der Realität diese Versetzung vor.«112 Der Gehalt der Kunstwerke ist daher nicht mit begrifflich bestimmbaren »Inhalten«, etwa der Idee oder Weltanschauung, die dem Werk zugrunde liegt, oder auf die außerkünstlerische Realität verweisenden »Stoffen«, die im Werk verhandelt werden, zu verwechseln.113 Für Adorno ist die Verbindung von Gesellschaft und Kunstwerk aufgrund »offen oder verhüllt gesellschaftlicher Gegenstände« die »oberflächlichste und trügerischste«114 . Darin liegt ein entscheidender Unterschied zu kunstphilosophischen Ansätzen, die den Gehalt von Kunst auf Stoff und Inhalt reduzieren, indem sie ihn mit der »fremdrefe-

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Adorno, Ästhetische Theorie, S. 338: »Eine befreite Gesellschaft wäre jenseits der Irrationalität ihrer faux frais und jenseits der Zweck-Mittel-Rationalität des Nutzens. Das chiffriert sich in der Kunst und ist ihr gesellschaftlicher Sprengkopf.« Vgl. ebd., S. 199. Ebd. Der Halbsatz »weniger als daß sie imitieren« bezieht sich auf die mimetischen Momente der Kunstwerke. Vgl. ebd. S. 195: »Wie wenig der Wahrheitsgehalt mit der subjektiven Idee, der Intention des Künstlers zusammenfällt, zeigt die einfachste Überlegung. Kunstwerke existieren, in denen der Künstler, was er wollte, rein und schlackenlos herausbrachte, während das Resultat zu mehr nicht geriet als zum Zeichen dessen, was er sagen wollte, und dadurch verarmt zur verschlüsselten Allegorie. Sie stirbt ab, sobald Philologen aus ihr wieder herausgepumpt haben, was die Künstler hineinpumpten, ein tautologisches Spiel, dessen Schema etwa auch viele musikalische Analysen gehorchen.« Ebd., S. 341. Vgl. auch S. 18 zur »abbildende[n] oder diskursive[n] Behandlung von Stoffen«.

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renzielle[n] Seite der Kunst«115 oder mit den gesellschaftspolitischen Themen gleichsetzen, die im Werk verhandelt werden.116 Anhand der Fokussierung auf die Gestalt des einzelnen Kunstwerks wendet Adorno sich zudem explizit gegen »engagierte« Kunst. Wie er selbst zugesteht, lässt absolute Kunst dadurch, dass ihre »Absage an die Gesellschaft […] der Sublimierung durchs Formgesetz gleichkommt«, die Gesellschaft »zugleich auch unbehelligt«117 . Wird sie missverstanden, kann diese Vorstellung selbstbezüglicher Kunst daher »zu einem Alibi für eingreifende Praxis werden«118 . Gerade in der »Form« des Kunstwerks findet sich seines Erachtens allerdings eine »Gestalt von Praxis«: »Gestaltung, welche die wortlosen und stummen Widersprüche artikuliert, hat dadurch Züge einer Praxis, die nicht nur vor der realen sich flüchtet; genügt dem Begriff von Kunst selbst als einer Verhaltensweise. Sie ist eine Gestalt von Praxis und muß nicht dafür sich entschuldigen, daß sie nicht direkt agiert: selbst dann vermöchte sie es nicht, wenn sie es wollte, die politische Wirkung auch der sogenannten engagierten ist höchst ungewiß.«119 Die Artikulation und Sichtbarmachung der »wortlosen und stummen Widersprüche«, wodurch sich gelungene Kunstwerke für Adorno auszeichnen, hat deren Distanz zu »engagierter« Praxis vielmehr zur Voraussetzung: »Der Praxis sich enthaltend, wird Kunst zum Schema gesellschaftlicher Praxis: jedes authentische Kunstwerk wälzt in sich um.«120 Dieses neue Schema

Harry Lehmann, Gehaltsästhetik. Eine Kunstphilosophie, Paderborn: Wilhelm Fink 2016, S. 200 116 Vgl. Rebentisch, Ästhetik der Installation. Laut Rebentisch kann der »offene Horizont möglicher Sinn- und Zusammenhangsbildungen«, den das Kunstwerk vollzieht, »mit konkreten gesellschaftspolitischen Gehalten gesättigt sein« (S. 133). 117 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 335. 118 Theodor W. Adorno, Ästhetik (1958/59), (Nachgelassene Schriften 4, Vorlesungen 3), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 195. Ein solches Missverständnis scheint mir die Universalisierung des Begriffs der »Form« zu sein. Caroline Levine, eine Vertreterin des »New Formalism«, versteht darunter Organisationstypen und Anordnungsmuster, die Kunst und Gesellschaft dadurch verbinden, dass sie in beiden vorkommen. Darunter fällt ihres Erachtens allerdings sehr viel und Unterschiedliches, wie bereits der Titel ihres Buches verrät: Caroline Levine, Forms: Whole, Rhythm, Hierarchy, Network, Princeton: Princeton University Press 2015. Vgl. Auch Eva Geulen, »Agonale Theorie. Adorno und die Rückkehr der Form«, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 8/1 (2019), S. 5-20. 119 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 345. 120 Ebd., S. 339.

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Livia von Samson-Himmelstjerna

gesellschaftlicher Praxis ist insofern wünschenswert, als es zumindest dem Anspruch nach »herrschaftslos« ist.121 In seiner »gewaltlosen Synthesis« integriert das Kunstwerk Momente des »Spiels« und der »Unverantwortlichkeit«.122 Dieser spielerische Umgang mit dem Bestehenden ist wesentlicher Bestandteil der künstlerischen Produktion: »Das Verhältnis zum Neuen hat sein Modell an dem Kind, das auf dem Klavier nach einem noch nie gehörten, unberührten Akkord tastet. Aber es gab den Akkord immer schon, die Möglichkeiten der Kombination sind beschränkt, eigentlich steckt alles schon in der Klaviatur.«123 Das noch nicht Verwirklichte ist also, wenn auch unbewusst und interpretationsbedürftig, latent vorhanden.124 An einzelnen Kunstwerken wird es, im Medium des Scheins, konkret. Die Kunstwerke sind in dieser Scheinhaftigkeit einerseits »ohnmächtig«.125 Andererseits wird, indem das Bestehende an ihnen sichtbar wird, das Mögliche möglich: »Daß aber die Kunstwerke da sind, deutet darauf, daß das Nichtseiende sein könnte. Die Wirklichkeit der Kunstwerke zeugt für die Möglichkeit des Möglichen.«126

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Vgl. ebd. S. 18: »Das Kriterium der Kunstwerke ist doppelschlächtig: ob es ihnen glückt, ihre Stoffschichten und Details dem ihnen immanenten Formgesetz zu integrieren und in solcher Integration das ihr Widerstrebende, sei’s auch mit Brüchen, zu erhalten.« 122 Zur »Herrschaftslosigkeit« vgl. ebd., S. 105 und 338, zur »gewaltlosen Synthesis« S. 215f. Zum Verhältnis von »Ernst« und »Unverantwortlichkeit« vgl. u.a. ebd., S. 64f. 123 Ebd., S. 55. Vgl. auch ebd., S. 158: »Denn alles, was die Kunstwerke an Form und Materialien, an Geist und Stoff in sich enthalten, ist aus der Realität in die Kunstwerke emigriert und in ihnen seiner Realität entäußert: so wird es immer auch zu deren Nachbild.« 124 Um diese Form herrschaftsfreier Praxis zu begreifen und realisierbar zu machen, bedarf es Adorno zufolge der »Entfaltung der Werke«. Diese erfolgt anhand dreier Verfahren, die er als »philosophisch« beschreibt: »Interpretation, Kommentar, Kritik«. Vgl. ebd., S. 289 und S. 193: »Die Werke, vollends die oberster Dignität, warten auf ihre Interpretation.« Vgl. auch S. 113: »Deshalb bedarf Kunst der Philosophie, die sie interpretiert, um zu sagen, was sie nicht sagen kann, indem sie es nicht sagt.« 125 Vgl. ebd., S. 164. 126 Ebd., S. 200.

Kunst als Gesellschaftskritik

Literatur Adorno, Theodor W., Einleitung in die Musiksoziologie (= Gesammelte Schriften 14), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1968. –, Ästhetische Theorie (= Gesammelte Schriften 7), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970. –, Philosophie der neuen Musik (= Gesammelte Schriften 12), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975. –, Die musikalischen Monographien (= Gesammelte Schriften 13), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994. –, Ästhetik (1958/59), (= Nachgelassene Schriften 4, Vorlesungen 3), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009. Feige, Daniel Martin, »Retroaktive Neuverhandlung. Zum Verhältnis von Vorbild und Nachbild in der Kunst«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 63/1 (2018), S. 127-137. Geulen, Eva, »Agonale Theorie. Adorno und die Rückkehr der Form«, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 8/1 (2019), S. 5-20. Grüny, Christian, Kunst des Übergangs. Philosophische Konstellationen zur Musik, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2014. Hindrichs, Gunnar, »Ästhetischer Materialismus«, in: Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie 3/2(2016), S. 246-255. Lehmann, Harry, Gehaltsästhetik. Eine Kunstphilosophie, Paderborn: Wilhelm Fink 2016. Levine, Caroline, Forms: Whole, Rhythm, Hierarchy, Network, Princeton: Princeton University Press 2015. Lukács, Georg, Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats, Bielefeld: Aisthesis 2015. Paddison, Max, Adorno’s Aesthetics of Music, Cambridge: Cambridge University Press 1993. Rebentisch, Juliane, Ästhetik der Installation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. Stakemeier, Kerstin, »Kunst im Kapital. Zur Reproduktion der Gegenwart«, in: what’s next? 150 (2012) http://whtsnxt.net/150 [letzter Zugriff: 31.1.2020]. Wellmer, Albrecht, Versuch über Musik und Sprache, München: Hanser 2009.

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III. Medien- und kulturtheoretische Zugänge

Versuch über Spotify, oder: Musikstreaming als Arbeit am Subjekt Maximilian Haberer

Musikrezeption ist für immer mehr Menschen ein Hören mit und durch Streamingdienste. Laut dem »Music Consumer Inside Report 2018«, einer Umfrage der International Federation of the Phonographic Industry (IFPI),1 konsumieren rund 86 % der weltweit befragten Teilnehmer*innen Musik über sogenannte »on demand« Streamingdienste wie YouTube oder Spotify. 61 % der Befragten greifen hierbei auf reines Audio-Streaming zurück.2 Eine Tendenz, die sich auch in den Umsatzzahlen der globalen Musikindustrie widerspiegelt: 46,9 % aller Umsätze (ca. 8,9 Milliarden US-Dollar) wurden 2018 der IFPI zufolge durch Streaming generiert, wobei 37 % alleine durch bezahlte Musikabonnements erwirtschaftet wurden.3 Nach einer langen Zeit sinkender Verkaufszahlen verhilft Streaming der Musikindustrie 2018 somit bereits im vierten Jahr in Folge zu Umsatzsteigerungen trotz anhaltender Rückläufe im Verkauf physischer Tonträger.4 Die durch Digitalisierung und Filesharing Anfang der 2000er Jahre angestoßene Krise der Musikindustrie scheint, so der Eindruck dieser Zahlen, 1

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Durchgeführt wurde die Umfrage zwischen April und Mai 2018 mit insgesamt 19.000 Teilnehmer*innen im Alter zwischen 16 und 64 Jahren aus 22 weltweit verteilten Territorien, die 2017 91,3 % des weltweiten Musikumsatzes ausmachten; vgl. IFPI, »IFPI releases 2018 Music Consumer Insight Report« 2018. Online verfügbar unter https://www.ifpi.org/news/IFPI-releases-2018-music-consumer-insight-report [letzter Zugriff: 31.1.2020]. Vgl. IFPI, »Music Consumer Insight Report« 2018, S. 12. Online verfügbar unter https://www.ifpi.org/downloads/Music-Consumer-Insight-Report-2018.pdf [letzter Zugriff: 31.1.2020]. Vgl. IFPI, »Global Music Report. State of the Industry« 2019, S. 6ff. Online verfügbar unter https://ifpi.org/news/IFPI-GLOBAL-MUSIC-REPORT-2019 [letzter Zugriff: 31.1.2020]. Vgl. IFPI, »Global Music Report«, S. 12f.

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Maximilian Haberer

dank des neuen Zugpferdes namens Musikstreaming überwunden. Musikkonsum via Streamingdienste entwickelt sich zu einer, wenn nicht zu der dominierenden Rezeptionsform unseres Zeitalters. Folgt man der Argumentation diverser Publikationen aus dem Forschungsfeld auditiver Medienkulturen, üben Musikmedien gravierenden Einfluss auf die Ausbildung von Hör- und Produktionsästhetiken aus.5 So beschreibt etwa Mark Katz in seinem Buch Capturing Sound. How Technology Has Changed Music die mannigfaltigen Auswirkungen phonographischer Reproduktion auf die Musikästhetik des 20. Jahrhunderts (u.a. auf die Verwendung von Vibrato beim Geigenspiel).6 Die Verbreitung von Musikstreaming hat demzufolge nicht nur ökonomische Implikationen für die Musikindustrie. Vielmehr bringt die Technologie eigene Rezeptionsformen hervor, die spezifische Praktiken, Kulturen und Ästhetiken des Musikhörens ausbilden. Eine erste Beschreibung der Konturen dieser neuen Rezeptionsform(en) des Musikstreamings findet sich in Jens Gerrit Papenburgs 2013 publizierten Artikel »Soundfile. Kultur und Ästhetik einer Hörtechnologie«7 . Subsumiert unter dem Begriff des Soundfile-Hörens identifiziert Papenburg hier vier zentrale Dynamiken einer sich herausbildenden Hörpraktik: 1. Statt Musik als Gegenstand zu besitzen, hat die Soundfile-Hörer*in Zugriff auf einen durch Online-Dienste regulierten Musikbestand. Dies impliziert aufgrund der Angebotsähnlichkeiten unterschiedlicher Streaminganbieter den Verlust identitätsstiftender individueller Musiksammlungen sowie »neue Formen der Zugänglichkeit der Klangmaterie«8 über Metadaten. 2. Playlists, d.h. serielle Verknüpfungen einzelner Soundfiles, aktualisieren den Musikbestand und organisieren das Musikhören. Die Verknüpfungen werden durch die 5

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Zur Auswirkung von Musiktechnologie auf Musikästhetik, Hörpraktiken und -kulturen siehe unter anderem Shuhei Hosokawa, »The Walkman Effect«, in: Popular Music 4 (1984), S. 165-180; Jonathan Sterne, The Audible Past. Cultural Origins of Sound Reproduction, Durham: Duke University Press 2003; Mark Katz, Capturing Sound. How Technology Has Changed Music, Berkeley: University of California Press 2010; Jonathan Sterne, MP3. The Meaning of a Format, Durham: Duke University Press 2012; Jens Gerrit Papenburg, Hörgeräte. Technisierung der Wahrnehmung durch Rock- und Popmusik, Berlin: HumboldtUniversität zu Berlin, Philosophische Fakultät III 2012. Mark Katz, Capturing Sound, S. 94ff. Jens Gerrit Papenburg, »Soundfile. Kultur und Ästhetik einer Hörtechnologie«, in: POP. Kultur und Kritik 2 (2013), Nr. 1, S. 140-155. Wolfgang Ernst, »Sonisches Gedächtnis als Funktion technischer Speicher«, in: Martin Pfleiderer (Hg.), Populäre Musik und kulturelles Gedächtnis. Geschichtsschreibung – Archiv – Internet. Köln: Böhlau 2011, S. 37-48, hier S. 46, zit. n. Papenburg, »Soundfile«, S. 145.

Versuch über Spotify, oder: Musikstreaming als Arbeit am Subjekt

Nutzer*innen sowie durch programmierte Verfahren hergestellt, die Playlists auf Grundlage von Nutzer*innenverhalten oder durch die schematische bzw. automatisierte Analyse von Klangdaten erzeugen. 3. Soundfiles erfahren Kompression zwecks schnellerer Datenübertragung sowie klangliches Fine-Tuning durch Nutzer*innen-Endgeräte (etwa in Form von Lautstärkeanpassungen). Während Audio-Kompressionen sich in Anlehnung an die Arbeiten Jonathan Sternes9 als eine Verschiebung vom Klangideal der High Fidelity zur Portabilität verstehen lassen, deutet Fine-Tuning durch Abspielgeräte auf eine Verschiebung der Funktion des Masterings hin. 4. Der Austausch von Playlists über soziale Netzwerke sowie die Kopplung von Nutzer*innendaten durch algorithmische Empfehlungssysteme macht Musikhören zu einem »sozialen« Ereignis.10 Musikrezeption über Streamingdienste lässt sich demnach als ein durch Playlists organisiertes, auf Mobilität und Sozialität hin ausgerichtetes Bestandshören zusammenfassen. Fünf Jahre nach Veröffentlichung scheinen diese Beobachtungen weiterhin zutreffend: Musikstreaming ermöglicht auch heute Zugriff statt Besitz, organisiert Tracks primär mithilfe von Playlists und folgt dem Ideal des ubiquitären, mobilen Musikhörens. Zwei wichtige Aspekte der zeitgenössischen Musikrezeption werden hierbei jedoch aufgrund der zeitlichen Differenz noch nicht in vollem Umfang erfasst, beziehungsweise nur in Ansätzen behandelt: 1. Die kuratorische Rolle von Empfehlungsalgorithmen sowie 2. die hiermit verbundene Konstruktion von Musikstreamingplattformen als Orte der Subjektivierung. In den folgenden Ausführungen werden die Evolution und die Funktionen dieser beiden neuen Merkmale der streamingbasierten Musikrezeption herausgearbeitet. Als Beispiel dienen hierbei die technologische Entwicklung und die 2013 damit verbundene unternehmensstrategische Neuausrichtung des marktführenden Streaminganbieters Spotify.

Musikstreaming als Verknappung durch Empfehlung Das schwedische Unternehmen Spotify ist mit 232 Millionen User*innen, davon 108 Millionen zahlende Abonnent*innen, der weltweit populärste Audio-

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Vgl. Jonathan Sterne, »The Mp3 as Cultural Artifact«, in: New Media & Society 8 (2016), Nr. 5, S. 825-842; sowie Sterne, MP3. Vgl. Papenburg, »Soundfile«, S. 140ff.

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Streamingdienst und nach eigener Aussage der größte Umsatzfaktor der Musikindustrie.11 2006 in Stockholm gegründet, beginnt das Unternehmen als ein P2P-Netzwerk-basierter Online-Audioplayer, der 2007 zunächst nur einer kleinen Gruppe von Personen als Beta-Version verfügbar gemacht und 2008 schließlich veröffentlicht, beziehungsweise über Lizenz-Vereinbarungen mit Plattenfirmen legalisiert wird. Der Service basiert auf einem zweispurigen Modell, das zum einen aus werbefinanzierten kostenlosen Accounts (»Spotify Free«) und zum anderen aus werbefreien Bezahlabonnements (»Spotify Premium«) besteht. Bis zum Börsengang im April 2018 ist das Unternehmen nicht etwa in der Hand seiner Gründer Daniel Ek und Martin Lorentzon, sondern in Besitz diverser Wagnisfinanzierungsgesellschaften (»venture capital firms«).12 Bis etwa Ende 2012 ist für Spotify die »on-demand doctrine«13 des ortsund zeitunabhängigen Zugriffs (»Spotify gives you the music you want, when you want it.«14 ) leitgebend für die Unternehmensausrichtung. Ab 2013 verändert der Streamingservice jedoch diese Strategie und fokussiert sich stattdessen auf personalisierte Musikempfehlungen. Ausschlaggebend für diesen »curational turn«15 , den verschiedene Streamingdienste in dieser Zeit vollziehen, ist laut dem Musikwissenschaftler Eric Drott die zunehmende Erfahrung von Überfluss angesichts wachsender Musikbibliotheken: Auswahlmaximierung und somit Erfolg im Sinne der »on-demand doctrine« führe aufgrund der simultan ansteigenden Überflusserfahrung nicht notwendigerweise zu größerer Nutzer*innenaktivität. Unerschöpfliche musikalische Fülle durch Streamingservices beseitige demnach den für das Begehren neuer Musikerfahrungen notwendigen Mangel: »By removing barriers to the immediate satisfaction of musical desire, streaming platforms inadvertently transmute a potential source of gratification into its antithesis. In a way, streaming services risk ending up

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Spotify, »Company Info« 2019. Online verfügbar unter https://newsroom.spotify.com/ company-info/[letzter Zugriff: 31.1.2020]. Vgl. Maria Eriksson, Rasmus Fleischer u.a., Spotify Teardown. Inside the Black Box of Streaming Music, Cambridge, MA: MIT Press 2019, S. 31ff. Eriksson, Fleischer u.a., Spotify Teardown, S. 60. Spotify, »Website. Home« 2006. Online verfügbar unter https://www.spotify.com [letzter Zugriff: 27.11.2006], zit. n. Eriksson, Fleischer u.a., Spotify Teardown, S. 42. Eriksson, Fleischer u.a., Spotify Teardown, S. 61.

Versuch über Spotify, oder: Musikstreaming als Arbeit am Subjekt

as victims of their own rhetorical success, as their promise of saturating musical desire has the unintended effect of suffocating it instead.«16 Das neue Ziel von Streamingdiensten bestehe Drott zufolge darin, das Begehren nach Musikerfahrung über die künstliche Einführung eines Mangels wiederherzustellen, ohne dabei die eigene Musikbibliothek zu verkleinern. Der Konkurrenzkampf der Anbieter drehe sich somit nicht mehr primär um das größte Angebot, sondern um die beste Verknappung (»scarcity«).17 Die Verknappung des Überangebotes geschieht in den meisten Fällen über die Entwicklung von Empfehlungssystemen, die den Musikbestand durch persönliche und/oder personalisierte Kuration filtern. Der Streamingdienst Tidal etwa bietet eine große Anzahl von Playlists an, die von bekannten Musiker*innen und DJs erstellt wurden. Das Angebot erfährt so durch persönliche Empfehlungen und die Performanz kultureller Autorität Reduktion.18 Spotify hingegen minimiert die Überflusserfahrung seiner Nutzer*innen vor allem durch personalisierte Kuration mithilfe nutzer*innendatenverarbeitender Empfehlungsalgorithmen. Ziel ist es hierbei, auf Grundlage individueller Verhaltensdaten den Musikgeschmack von Nutzer*innen möglichst genau zu identifizieren und dadurch personalisierte Empfehlungen beziehungsweise Vorhersagen anzubieten, »giving listeners exactly what they want, and what they don’t yet know they want.«19 Das Speichern und Prozessieren von Nutzer*innendaten sowie die Quantifizierung von Musik(-geschmack) ist für Spotifys technische Personalisierung folglich essentiell und der »curational turn« des Unternehmens mit einem Ausbau der Datenanalysekapazitäten verbunden. 2014 akquiriert Spotify in diesem Zuge The Echo Nest, ein Tech-Start-Up mit Sitz in Boston, das mittels diverser Algorithmen Musik, Unterhaltungen über Musik sowie Hörer*innenverhalten in quantifizierbare Daten wandelt, analysiert, korreliert und damit

16 17 18 19

Eric Drott, »Why the Next Song Matters. Streaming, Recommendation, Scarcity«, in: Twentieth-Century Music 15 (2018), Nr. 3, S. 325-357, hier S. 333. Vgl. ebd., S. 332f. Vgl. ebd., S. 334. Robert Prey, »Knowing Me, Knowing You. Datafication on Music Streaming Platforms«, in: Michael Ahlers, Lorenz Grünewald-Schukalla u.a. (Hg.), Big Data und Musik. Jahrbuch für Musikwirtschafts- und Musikkulturforschung 1/2018, Wiesbaden: Springer 2019, S. 921, hier S. 12.

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individuelle Musikempfehlungen generiert.20 Durch die Unterstützung von The Echo Nest bietet Spotify seinen Nutzer*innen eine algorithmisch personalisierte Musikauswahl und präsentiert Musikstreaming als singuläre Musikerfahrung.

Musikquantifizierung, »Taste Profiles« und »Discover Weekly«: Spotifys algorithmische Kuration Die individuellen algorithmischen Musikempfehlungen auf Spotify basieren auf sogenannten »Taste Profiles«, die durch The Echo Nest erstellt werden. »Taste Profiles« sind, wie der Name bereits sagt, Geschmacksprofile von Nutzer*innen, die aus Korrelationen zwischen kartografierten (»mapped«) Musikdaten und Verhaltensdaten generiert werden. Grundlage für die Musikkartografierung sind hierbei zum einen die Untersuchung und Klassifikation von Tonspuren mithilfe akustischer Analysesoftware sowie zum anderen die automatisierte semantische Analyse von Aussagen über Musik im Internet. Bei der Tonspuranalyse untersucht die Software einen Song anhand diverser musikalischer Parameter, wie zum Beispiel Tempo, Tonart, Tonhöhen, Fades und Metadaten: »The system ingests and analyzes the mp3, working to understand every single event in the song, such as a note in a guitar solo or the way in which two notes are connected […]. The average song has about 2000 of these ›events‹ for the system to analyze.«21 Daraufhin wird ein spezifisches Songprofil mit den Kategorien »energy«, »loudness«, »danceability«, »liveness«, »speechiness«, »hottness«, »tempo«,

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Vgl. Prey, »Knowing Me, Knowing You«, S. 12f. Siehe auch The Echo Nest, »Our Company« 2019. Online verfügbar unter http://the.echonest.com/company/[letzter Zugriff: 31.1.2020]. Brian Whitman, Technischer Direktor und Mitgründer von The Echo Nest, zit. n. Dyn Guest Blogs, »The Echo Nest: Redefining the Internet Music Experience« 2012. Online verfügbar unter https://dyn.com/blog/dyn-dns-client-the-echo-nest-internetmusic-streaming-spotify-pandora-online/[letzter Zugriff: 31.1.2020]. Vgl. auch The Echo Nest, »Track LISTENING. Slide deck for the Echo Nest API workshop for Boston music hack day« 2009. Online verfügbar unter https://www.slideshare.net/plamere/ the-echo-nest-workshop-for-boston-music-hack-day [letzter Zugriff: 31.1.2020].

Versuch über Spotify, oder: Musikstreaming als Arbeit am Subjekt

»duration«, »key«, »time sig« und »mode« erstellt,22 das mit den über 35 Millionen Titeln der Datenbank abgeglichen wird. Songs mit ähnlichen Strukturen werden hier gesammelt und geclustert.23 Gleichzeitig wird, über Webcrawler und automatisierte Textanalyse, der semantische Ko(n)text eines Songs sowie der Interpret*innen untersucht und anhand von Stichworten erneut in Beziehung zu ähnlichen Titeln in der Datenbank gesetzt. »The data is used to determine song similarities on a more cultural level.«24 Das Ergebnis dieser Quantifizierungs- und Analyseprozesse ist letztlich eine Datenbank, die Songs deduktiv entlang der Korrelationen kartographiert und mit deren Hilfe Nutzer*innen neue Titel vorgeschlagen werden können, die strukturelle und kulturelle Ähnlichkeiten mit bereits Gehörtem aufweisen. Vor dem Hintergrund dieser dynamischen Musikdatenkarte generiert The Echo Nest schließlich auf Grundlage von Anwender- und Verhaltensdaten individuelle »Taste Profiles«.25 Inwiefern welche Daten zur Profilbildung und zu darauf basierenden Musikempfehlungen beitragen, ist opak. Gespeichert werden laut den Nutzungsbedingungen von Spotify neben personenbezogenen Daten (mindestens E-Mail-Adresse, Geburtsdatum, Geschlecht, Postleitzahl und Land) Interaktionen mit dem Interface (Datum und Zeit jeglicher Anfragen, angehörte Lieder, erstellte Playlists, angesehene Videoinhalte, Interaktion mit anderen Spotify-Nutzer*innen, Details zu Nutzung von Anwendungen Dritter und Werbung), technische Daten (URL-Informationen, Cookie-Daten, IP-Adresse, Geräte-IDs etc.), bewegungserzeugte oder richtungserzeugte mobile Sensordaten sowie auf freiwilliger Basis von Nutzer*innen gezielt ausgewählte Fotos, Geodaten, Sprachdaten (»um es Ihnen zu ermöglichen, mit dem Spotify Service über Ihre Stimme zu interagieren«) und gespeicherte Kontakte (»um Ihnen zu helfen, Freunde zu finden, die Spotify nutzen«).26 Die mithilfe dieser Metadaten automatisch erstellten »Taste Profiles« dienen The Echo Nest als Werkzeug, um die Präferenzen von Nutzer*innen zu ana22

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Vgl. Paul Lamere, »ArtistX – The Artist Explorer«, in: Music Machinery, 17.3.2013, https://musicmachinery.com/2013/03/17/artistx-the-artist-explorer/ [letzter Zugriff: 31.1.2020]. Vgl. Dyn Guest Blogs, »The Echo Nest: Redefining the Internet Music Experience«. Prey, »Knowing Me, Knowing You«, S. 13. Vgl. ebd. Vgl. Spotify, »Datenschutzerklärung Spotify« 2018. Online verfügbar unter Datenschutzerklärung Spotify, [letzter Zugriff: 31.1.2020].

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lysieren und zu visualisieren. Neben der Generierung einer auf Mikro-Genres basierenden »listening identity« wird so das Anwendungsverhalten mit anderen Nutzer*innen verglichen und nach folgenden Kategorien ausgewertet: »Mainstreamness – How widely popular is what you listen to? Freshness – Do you prefer music that was just released? Diversity – How open are you to new sounds? How often do you add new music to your playlists or collection? Hotness – Amongst tastemakers, how buzzy is what you play? Discovery – How often does what you listen to get popular later?«27 »Taste Profiles« können somit als »dynamic record of one’s musical identity«28 verstanden werden und bilden das Fundament beziehungsweise den »Treibstoff«29 personalisierter Musikempfehlungen auf Spotify. Neue Musik wird den Nutzer*innen hierbei vor allem über automatisch generierte Playlists vorgeschlagen, die von The Echo Nest dementsprechend als »engine of discovery«30 bezeichnet werden. Exemplarisch für dieses automatisierte »playlisting«31 kann die »Discover Weekly«-Playlist des Streamingdienstes genannt werden, die jeden Montag für Spotify-Nutzer*innen erstellt wird. »Discover Weekly« basiert auf einem hybriden Empfehlungsalgorithmus (»the cyborg approach«32 ), der Spotifys Musikbestand gleich mehrfach filtert: Die Streamingplattform macht hierbei zunächst von ihren zahlreichen, größtenteils nutzer*innengenerierten Playlists Gebrauch, die nach bereits gehörten Songs und Künstler*innen durchsucht werden. Daraufhin werden noch nicht gehörte Songs in diesen Playlists identifiziert und mithilfe der »Taste Profiles« nach aktuellen Hörpräferenzen gefiltert, sodass am Ende eine Empfehlungsliste mit 30 Songs generiert werden kann, die den Nutzer*innen mutmaßlich 27

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Vgl. Constine, Josh, »Inside The Spotify – Echo Nest Skunkworks«, in: TechCrunch, 19.10.2014, https://techcrunch.com/2014/10/19/the-sonic-mad-scientists/ [letzter Zugriff: 31.1.2020]. Prey, »Knowing Me, Knowing You«, S. 13. »If Playlisting is the discovery engine, Taste Profiles are the fuel«, The Echo Nest, »Music Discovery and Personalization« 2019. Online verfügbar unter http://the.echonest.com/ solutions/musicdiscovery/ [letzter Zugriff: 31.1.2020]. The Echo Nest, »Music Discovery and Personalization«. Ebd. Vox Creative, »The secret to your Discover Playlist? A »cyborg« approach. Paid content from Spotify« 2017. Online verfügbar unter https://www.theverge.com/ad/14887516/ go-inside-the-algorithm-that-knows-all-the-embarrassing-things-you-listen-to-onspotify [letzter Zugriff: 31.1.2020].

Versuch über Spotify, oder: Musikstreaming als Arbeit am Subjekt

unbekannt sind, aber zugleich dem präsupponierten Musikgeschmack entsprechen.33 Durch diese besondere Form kollaborativen Filterns bietet »Discover Weekly« eine Mischung aus persönlicher und personalisierter Kuration an, bei der die Verknappung des Musikbestands zum einen über die Suggestion kultureller Autorität anderer Nutzer*innen sowie zum anderen über die Performanz technologischer Autorität nutzer*innendatenverarbeitender Algorithmen erfolgt. Wie Jeremy Wade Morris zeigt, fällt Algorithmen hierbei die Rolle von Kulturvermittlern (»cultural intermediaries«) zu, die den Wert und die Auswahl kultureller Produkte (in diesem Fall Musik) legitimieren.34 Musikrezeption über Streamingdienste wie Spotify ist in diesem Sinne ein durch Algorithmen vermitteltes beziehungsweise kuratiertes Hören. Dabei sind Algorithmen alles andere als neutrale Vermittler, sondern im Gegenteil mit Macht ausgestattete, diskriminierende Handlungsträger, deren Stärke »gerade darin [besteht], Objektivität auf die äußere Welt zu projizieren […] und zugleich in Bezug auf ihr inneres Selbst zu akkumulieren«35 . Die Implementierung von Algorithmen durch Streamingdienste hat somit weitreichende Auswirkungen auf die Ausbildung von Musikhörpraktiken: So dienen etwa Such- und Empfehlungsalgorithmen nicht nur als Orientierungshilfe in Zeiten von »big music«36 , sondern bringen aufgrund der stetigen Rückbindung an bereits Gehörtes unter anderem auch (semi-)geschlossene Filterblasen hervor.37 Algorithmische Kuration folgt dabei dem Ideal der situationsadäquaten, personalisierten Vorhersage38 und impliziert ein idiosynkratisches, auf die unmittelbare Zukunft hin ausgerichtetes, Konzept von Zeitlichkeit: 33 34

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Vgl. Prey, »Knowing Me, Knowing You«, S. 13f. Vgl. Jeremy Wade Morris, »Curation by Code. Infomediaries and the Data Mining of Taste«, in: European Journal of Cultural Studies 18 (2015), Nr. 4-5, S. 446-463. In Bezug auf Pierre Bourdieu, Distinction. A Social Critique of the Judgement of Taste, London: Routledge and Kegan Paul 1984. Jonathan Roberge, Robert Seyfert, »Was sind Algorithmuskulturen«, in: Robert Seyfert, Jonathan Roberge (Hg.), Algorithmuskulturen. Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit, Bielefeld: transcript 2017, S. 7-40, hier S. 17. Vgl. Marinos Koutsomichalis, »From Music to Big Music. Listening in the Age of Big Data«, in: Leonardo Music Journal 26 (2016), S. 24-27. Vgl. Jonathan Kropf, »Recommender Systems in der populären Musik«, in: Jonathan Kropf, Stefan Laser (Hg.), Digitale Bewertungspraktiken. Für eine Bewertungssoziologie des Digitalen, Wiesbaden: Springer 2019, S. 127-163. Vgl. Prey, »Knowing Me, Knowing You«, S. 12.

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»A peculiar conception of the future, and its relation to past and present, can be discerned in the importance streaming sites attach to their (alleged) capacity not only to anticipate the desires, needs, and actions of individual users, but also to do so even before these have been registered by users themselves.«39 Die Perfektion der personalisierten Vorhersage basiert hierbei auf dem Prinzip der allumfassenden Ausmessung der Nutzer*innen über Verhaltensdaten: Je mehr Information demnach vorliegen, umso besser »versteht« der Streamingdienst die Nutzer*innen und desto eher entsprechen die algorithmischen Empfehlungen den antizipierten Bedürfnissen. Das kontinuierliche Sammeln von Verhaltensdaten (data mining) über geschlossene Datenrückkopplungsschleifen erscheint somit essentiell für algorithmische Musikkuration. Musikhören über Spotify ist in diesem Sinne ein Hören im Feedbackloop, in welchem der Streamingdienst das Hörverhalten nicht nur speichert und verarbeitet, sondern die Praxis und die Ergebnisse dieser Überwachung selbst über personalisierte Empfehlungen den Nutzer*innen stetig vor Augen führt. Obwohl die genauen Algorithmen von The Echo Nest (wohl auch aus ökonomischen Gründen) geheim gehalten werden und Spotify ungefragte Einblicke in sein System mit allen Mitteln zu unterbinden versucht,40 verheimlicht der Streamingdienst keineswegs die grundsätzliche Verwendung von Algorithmen zwecks Personalisierung und den damit verbundenen Einfluss des Nutzer*innenverhaltens auf die eigenen Musikempfehlungen. Ganz im Gegenteil, das Unternehmen wirbt sogar mit der Möglichkeit personalisierter Musikempfehlungen durch seine Software und kommuniziert offen die (ungefähre) Funktionsweise seiner algorithmischen Kuration mit seiner Community und der Presse.41 Musikrezeption über Spotify ist somit nicht nur ein durch Algorithmen kuratiertes Hören, sondern auch ein algorithmenbewusstes, selbstreflexives Hören, das ein Wissen um die Auswirkungen der eigenen Musikhöraktivitäten auf »Taste Profiles« und Empfehlungen impliziert.

39 40 41

Drott, »Why the Next Song Matters«, S. 337. Vgl. Eriksson, Fleischer u.a., Spotify Teardown, S. 1. Vgl. etwa Vox Creative, »The secret to your Discover Playlist? A »cyborg« approach«; Dyn Guest Blogs, »The Echo Nest: Redefining The Internet Music Experience« sowie Spotify, »Five Ways to Make Your Discover Weekly Playlists Even More Personalized« 2019. Online verfügbar unter https://newsroom.spotify.com/2019-05-02/five-ways-to-makeyour-discover-weekly-playlists-even-more-personalized/[letzter Zugriff: 31.1.2020].

Versuch über Spotify, oder: Musikstreaming als Arbeit am Subjekt

Musikstreaming als Arbeit am Subjekt Wie Karakayali, Kostem und Galip in ihrer Analyse des Online-Musikdienstes last.fm zeigen, evozieren Empfehlungsalgorithmen in Form rekursiver Datenschleifen bei Nutzer*innen Praktiken der stetigen Selbstreflexion und verweisen dabei gleichzeitig auf die Möglichkeit, jene Musikempfehlungen über das eigene Hörverhalten zu beeinflussen: »[…] since users can influence their ›profiles‹ by modifying their activities, such systems also accompany users in this self-transformation process and mediate their relation to what appears to them as an ›objectified‹ aspect of themselves.«42 Nutzer*innen von last.fm behandeln demnach ihre Musikbibliotheken als eine Art musikalischen Spiegel (»musical mirror«43 ), in welchem sie ein formbares Abbild ihres Musikgeschmacks erkennen. Hierbei fungieren Empfehlungsalgorithmen nicht bloß als Repräsentationen aktueller Musikpräferenzen, sondern vielmehr als Interpretationen der individuellen Bibliotheken. Statt lediglich derzeitige Geschmacksprofile wiederzugeben, stellen algorithmische Musikempfehlungen somit vor allem die Veränderlichkeit derselben in den Vordergrund.44 Den Autor*innen zufolge gebrauchen die Anwender*innen von last.fm algorithmisch generierte Empfehlungen schließlich nicht nur zur Entdeckung neuer Musik, sondern auch zur Revidierung und zur Modifizierung ihres derzeitigen Musikgeschmacks. In Nutzer*innenprofilen und -bibliotheken abgebildeter Musikgeschmack lasse sich daher nach Michel Foucault als »ethische Substanz«45 verstehen – als ein Aspekt des Selbst, um den sich gesorgt und an welchem Arbeit verrichtet wird. Empfehlungsalgorithmen werden so zu »Technologien des Selbst, die es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener

42

43 44 45

Nedim Karakayali, Burc Kostem u.a., »Recommendation Systems as Technologies of the Self. Algorithmic Control and the Formation of Music Taste«, in: Theory, Culture & Society 35 (2018), Nr. 2, S. 3-24. Ebd., S. 12. Vgl. ebd. Ebd.

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Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an […] seinem Verhalten […] vorzunehmen«46 . Musikhören mithilfe algorithmischer Empfehlungssysteme kann demnach als Selbstpraktik, als Arbeit am Subjekt verstanden werden. Wie Mark Drott anmerkt, beschränken sich diese Beobachtungen zunächst nur auf das System von last.fm, dessen »Scrobbler«-Funktion die hörverhaltensabhängige Geschmacksentwicklung protokolliert und für Nutzer*innen unmittelbar grafisch darstellt. Streamingdienste wie Spotify oder Pandora würden demnach ihren Nutzer*innen keine derart direkten Einblicke in die eigene Profilgenese ermöglichen und daher auch die Modifizierung des eigenen Hörverhaltens weniger in den Vordergrund stellen.47 Trotz dieses Einwandes scheint einiges dafür zu sprechen, auch Musikstreaming über Spotify als Arbeit am Subjekt zu begreifen: Erstens erscheint angesichts der zunehmenden Implementierung von Algorithmen in die »Strukturen aller sozialen Prozesse, Interaktionen und Erfahrungen […], deren Entfaltung von Rechenleistung abhängig ist«48 , ein ebenfalls wachsendes Wissen um und ein Interesse an Algorithmen durchaus wahrscheinlich. Dies äußert sich nicht zuletzt auch im öffentlichen Diskurs, wie kürzlich bei einer Werbekampagne von Facebook zu beobachten, bei der die Frage »Warum kennt mich Facebooks Algorithmus so gut?« auf großen Plakaten an Bushaltestellen präsentiert wurde.49 Zweitens finden sich auf sozialen Medien wie Twitter zahlreiche Einträge zur Abhängigkeit des »Spotify-Algorithmus« von der eigenen Höraktivität.50 Drittens weisen Blogeinträge wie zum Beispiel

46

47 48 49

50

Michel Foucault, »Technologien des Selbst«, in: Luther H. Martin, Huck Gutman u.a. (Hg.), Technologien des Selbst, Frankfurt a.M.: Fischer 1993, S. 24-62., hier S. 26. Vgl. auch Karakayali, Kostem u.a., »Recommendation Systems as Technologies of the Self«, S. 4. Vgl. Drott, »Why the Next Song Matters«, S. 349. Roberge, Seyfert, »Was sind Algorithmuskulturen«, S. 7. Vgl. Reinhard Bieck, »Datenschutzbeauftragte fordert Offenlegung von Algorithmen«, Interview Deutschlandfunk vom 5.4.2018, https://www.deutschlandfunk.de/ neue-datenschutzgrundverordnung-datenschutzbeauftragte.694.de.html?dram:article_id=414895 [letzter Zugriff: 31.1.2020]. Eine einfache Suche über Twitter unter den Stichworten »Spotify« und »Algorithm« verschafft hier bereits Abhilfe. So schreibt zum Beispiel die Nutzer*in Bianca ltuarte in einem Tweet vom 11.09.2019: »My algorithm on Spotify is so messed up because I have a mix of obvious bops, study lo-fi, and the time my mom played Prince for 8 hours straight.«, Bianca ltuarte, »My Algorithm on Spotify is so messed up«, Tweet vom 10.9.2019, https://twitter.com/bianca_ituarte/status/1171597612413325313 [letzter Zugriff: 31.1.2020].

Versuch über Spotify, oder: Musikstreaming als Arbeit am Subjekt

»If Your Discover Weekly Playlist Sucks, Try This«51 auf aktive Nutzer*innenpraktiken der Empfehlungsoptimierung über Verhaltensveränderungen hin. Und viertens thematisiert Spotify, wie bereits erwähnt, selbst die Implementierung und Funktionsweise seiner Empfehlungsalgorithmen in eigenen Blogeinträgen52 und Interviews mit Fachmagazinen.53 Folglich kann bei vielen Spotify-Nutzer*innen durchaus von einem Wissen um den Einfluss des eigenen Hörverhaltens auf algorithmische Kuration ausgegangen werden. Gleichzeitig finden sich Hinweise, dass algorithmische Kuration von Nutzer*innen aufgrund der präsupponierten neutralen Datenautorität als subjektkonstituierend betrachtet wird. So beschreibt etwa Noreen Malone im Ney York Magazine das Gefühl, vom »Algorithmus« aufgrund ihres Verhaltens beschämt zu werden.54 Musikhören über Spotify besteht somit zum einen aus der (bewussten) kontinuierlichen Überwachung der Nutzer*innen durch das Streamingunternehmen unter dem Versprechen der algorithmisch personalisierten, kontextsensitiven Musikvorhersage und zum anderen aus der Selbstkontrolle im Sinne eines unternehmerischen Hörsubjekts.55 Die Streamingplattform dient hierbei als Subjektivierungsraum, als Bedingung der Subjektwerdung. Spotify ist in diesem Sinne gleich mehrfach an einer Maximierung der Nutzer*innenaktivitäten interessiert: Einerseits bedeutet erhöhter Musikkonsum Umsatzsteigerungen für die Plattenfirmen (Spotifys Kunden), die über den Streamingservice ihre Produkte distribuieren. Andererseits produzieren mehr Interaktionen mit dem Streaminginterface zusätzliche Verhaltensdaten, die eine genauere Vermessung der Nutzer*innen und somit personalisierte Empfehlungen ermöglichen, welche die unternehmerischen Subjektivierungstendenzen der Nutzer*innen katalysieren. Je 51

52 53

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55

Vgl. Nick Douglas, »If Your Discover Weekly Playlist Sucks, Try This«, in: lifehacker, 3.2.2018, https://lifehacker.com/if-your-discover-weekly-playlist-sucks-try-this1823436104 [letzter Zugriff: 31.1.2020]. Vgl. Spotify, »Five Ways to Make Your Discover Weekly Playlists Even More Personalized«. Vgl. Alex Heath, »Spotify has a Secret ›Taste Profile‹ on Everyone, and They Showed me Mine«, in: Business Insider, 14.09.2015, https://www.businessinsider.com/how-spotifytaste-profiles-work-2015-9?r=US&IR=T [letzter Zugriff: 31.1.2020]. Vgl. Noreen Malone, »The Algorithm Knows Me. So Why Does It Keep Shaming Me?«, in: New York Magazine. Intelligencer, 11.10.2018, http://nymag.com/intelligencer/ 2018/10/algorithm-shame-the-feeling-of-being-seen-by-the-algorithm.html [letzter Zugriff: 31.1.2020]. Vgl. Bröckling, Ulrich, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2016.

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mehr Spotify hierbei als ein Subjektivierungsmedium anstelle eines Musiklieferanten wahrgenommen wird, so die hieraus resultierende Annahme, desto weniger neigen seine ökonomisch wertvollen »Premium«-Kunden dazu, ihr Abonnement zu kündigen. Wie die emeritierte Ökonomin Shoshanna Zuboff in ihrem Buch Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus schreibt, sind die Anhäufung von Verhaltensdaten im Speziellen und Praktiken des Nutzer*innen-Monitorings im Allgemeinen Zeichen einer neuen Marktform des Überwachungskapitalismus, in welchem menschliche Erfahrung zum Rohstoff wird. Die Anhäufung von Verhaltensdaten ermöglicht demnach die Fertigung ertragreicher Vorhersageprodukte. Dabei sind die Unternehmen beim Wettkampf um die Ausschöpfung aussagekräftiger Verhaltensdaten »dahintergekommen, dass man die aussagekräftigsten Verhaltensdaten überhaupt durch den aktiven Eingriff in den Stand der Dinge bekommt, mit anderen Worten, indem man Verhalten anstößt, herauskitzelt, tunt und in der Herde in Richtung profitabler Ergebnisse treibt. […] Das neue Ziel besteht darin, uns selbst zu automatisieren. […] Auf diese Weise gebiert der Überwachungskapitalismus eine neue Spezies von Macht, die ich als Instrumentarismus bezeichne. Instrumentäre Macht kennt und formt menschliches Verhalten im Sinne der Ziele anderer.«56 Mit dem »curational turn« 2013 scheint auch Spotify in das Zeitalter des Überwachungskapitalismus eingetreten zu sein, verbunden mit der Erkenntnis, dass Musikhören als Subjektivierungsprojekt Kund*innen langfristig an den Dienst in Zeiten wachsender Konkurrenz binden kann. Wie verschiedene Autor*innen zuletzt nachweisen konnten, ist Spotify seither darum bemüht, Musikhören als eine ubiquitäre, kontext- und stimmungsangemessene Aktivität zu inszenieren und entsprechende Imaginarien der algorithmischen Subjektivierung bei seinen Nutzer*innen zu verankern.57 Spotify evoziert somit im Sinne Zuboffs neue Formen der Musikrezeption, um Nutzer*innenverhalten entsprechend seines Produktes zu modifizieren beziehungsweise auszu56 57

Shoshana Zuboff, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Frankfurt a.M.: Campus 2018. Vgl. Paul Allen Anderson, »Neo-Muzak and the Business of Mood«, in: Critical Inquiry 41 (2015), Nr. 4, S. 811-840; Drott, »Why the Next Song Matters«; Maria Eriksson, Anna Johansson, »›Keep Smiling!‹. Time, Functionality and Intimacy in Spotify’s Featured Playlists«, in: Cultural Analysis 16 (2017), Nr. 1, S. 67-82; Eriksson, Fleischer u.a., Spotify Teardown; Prey, »Knowing Me, Knowing You«.

Versuch über Spotify, oder: Musikstreaming als Arbeit am Subjekt

richten. Der neue Slogan des Spotify-Analysetools Spotify.me »Du bist, was du streamst.«58 erscheint so im Lichte einer selbsterfüllenden Prophezeiung, bei der das Unternehmen die Bedingung seiner eigenen Notwendigkeit erschafft.

Literatur Anderson, Paul Allen, »Neo-Muzak and the Business of Mood«, in: Critical Inquiry 41 (2015), Nr. 4, S. 811-840. Bourdieu, Pierre, Distinction. A Social Critique of the Judgement of Taste, London: Routledge and Kegan Paul 1984. Bröckling, Ulrich, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2016. Constine, Josh, »Inside The Spotify – Echo Nest Skunkworks«, in: TechCrunch, 19.10.2014, https://techcrunch.com/2014/10/19/the-sonicmad-scientists/[letzter Zugriff: 31.1.2020]. Douglas, Nick, »If Your Discover Weekly Playlist Sucks, Try This«, in: lifehacker, 3.2.2018, https://lifehacker.com/if-your-discover-weekly-playlistsucks-try-this-1823436104 [letzter Zugriff: 31.1.2020]. Drott, Eric, »Why the Next Song Matters. Streaming, Recommendation, Scarcity«, in: Twentieth-Century Music 15 (2018), Nr. 3, S. 325-357. Eriksson, Maria, Rasmus Fleischer u.a., Spotify Teardown. Inside the Black Box of Streaming Music, Cambridge, MA: MIT Press 2019. Eriksson, Maria, Anna Johansson, »›Keep Smiling!‹. Time, Functionality and Intimacy in Spotify’s Featured Playlists«, in: Cultural Analysis 16 (2017), Nr. 1, S. 67-82. Ernst, Wolfgang, »Sonisches Gedächtnis als Funktion technischer Speicher«, in: Martin Pfleiderer (Hg.), Populäre Musik und kulturelles Gedächtnis. Geschichtsschreibung – Archiv – Internet, Köln: Böhlau 2011, S. 37-48. Foucault, Michel, »Technologien des Selbst«, in: Luther H. Martin, Huck Gutman u.a. (Hg.), Technologien des Selbst, Frankfurt a.M.: Fischer 1993, S. 2462. Heath, Alex, »Spotify has a Secret ›Taste Profile‹ on Everyone, and They Showed me Mine«, in: Business Insider, 14.09.2015, https://www. businessinsider.com/how-spotify-taste-profiles-work-2015-9?r=US &IR=T [letzter Zugriff: 31.1.2020]. 58

Spotify, »Spotify.me. Homepage« 2018.

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Hosokawa, Shuhei, »The Walkman Effect«, in: Popular Music 4 (1984), S. 165180. ltuarte, Bianca, »My Algorithm on Spotify is so messed up«, Tweet vom 10.9.2019, https://twitter.com/bianca_ituarte/status/1171597612413325313 [letzter Zugriff: 31.1.2020]. Karakayali, Nedim, Burc Kostem u.a., »Recommendation Systems as Technologies of the Self. Algorithmic Control and the Formation of Music Taste«, in: Theory, Culture & Society 35 (2018), Nr. 2, S. 3-24. Katz, Mark, Capturing Sound. How Technology Has Changed Music, Berkeley: University of California Press 2010. Koutsomichalis, Marinos, »From Music to Big Music. Listening in the Age of Big Data«, in: Leonardo Music Journal 26 (2016), S. 24-27. Kropf, Jonathan, »Recommender Systems in der populären Musik«, in: Jonathan Kropf, Stefan Laser (Hg.), Digitale Bewertungspraktiken. Für eine Bewertungssoziologie des Digitalen, Wiesbaden: Springer 2019, S. 127-163. Lamere, Paul, »ArtistX – The Artist Explorer«, in: Music Machinery, 17.3.2013, https://musicmachinery.com/2013/03/17/artistx-the-artist-explorer/[letzter Zugriff: 31.1.2020]. Malone, Noreen, »The Algorithm Knows Me. So Why Does It Keep Shaming Me?«, in: New York Magazine. Intelligencer, 11.10.2018, http://nymag. com/intelligencer/2018/10/algorithm-shame-the-feeling-of-being-seenby-the-algorithm.html [letzter Zugriff: 31.1.2020]. Morris, Jeremy Wade, »Curation by Code. Infomediaries and the Data Mining of Taste«, in: European Journal of Cultural Studies 18 (2015), Nr. 4-5, S. 446463. Papenburg, Jens Gerrit, Hörgeräte. Technisierung der Wahrnehmung durch Rockund Popmusik, Berlin: Humboldt-Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät III 2012. –, »Soundfile. Kultur und Ästhetik einer Hörtechnologie«, in: POP. Kultur und Kritik 2 (2013), Nr. 1, S. 140-155. Prey, Robert, »Knowing Me, Knowing You. Datafication on Music Streaming Platforms«, in: Michael Ahlers, Lorenz Grünewald-Schukalla u.a. (Hg.), Big Data und Musik. Jahrbuch für Musikwirtschafts- und Musikkulturforschung 1/2018, Wiesbaden: Springer 2019, S. 9-21. Roberge, Jonathan, Robert Seyfert, »Was sind Algorithmuskulturen«, in: Robert Seyfert, Jonathan Roberge (Hg.), Algorithmuskulturen. Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit, Bielefeld: transcript 2017, S. 7-40.

Versuch über Spotify, oder: Musikstreaming als Arbeit am Subjekt

Sterne, Jonathan, The Audible Past. Cultural Origins of Sound Reproduction, Durham: Duke University Press 2003. –, MP3. The Meaning of a Format, Durham: Duke University Press 2012. –, »The Mp3 as Cultural Artifact«, in: New Media & Society 8 (2016), Nr. 5, S. 825842. Zuboff, Shoshana, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Frankfurt a.M.: Campus 2018.

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Cyborg Voice – Der Auto-Tune-Effekt als Klangästhetik des Humanoiden Ein medienarchäologisches Statement David Friedrich

Es ist die Symbiose von Mensch und Technologie, die die populäre Musik organisiert und zum Ausdruck bringt, deren hybrider Charakter zur Formation des Klangs1 führt.2 Bereits das Mikrophon – dieses simple technische Artefakt – sprengt die »natürliche Ordnung«3 , indem es die Stimme vom menschlichen Körper isoliert; sie als künstliches Objekt konzeptualisiert und realisiert. Denn damit die via Mikrophon erfasste Stimme im Kontext einer Aufnahme – die ja bereits selbst als »synthetic sound formation«4 dem Natürlichen widerspricht – ihren Platz besetzen kann, muss sie verstärkt und prozessiert wer-

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»Es ist Klang nicht nur als auf eine bestimmte Weise strukturierter Schall […], sondern strukturierter Schall mit Bezug auf die jeweiligen Relevanzverhältnisse im Rahmen einer gegebenen Kultur. […] Es sind die Operatoren, die Technologien der Artikulation und deren diskursive, also an begriffliche Wahrnehmungs- und Verarbeitungsraster gebundenen Parameter, die damit ins Spiel kommen.« Peter Wicke, »Das Sonische in der Musik«, in: PopScriptum 10 (2008), https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/handle/ 18452/21050/pst10_wicke.pdf, S. 3 [letzter Zugriff: 31.1.2020]. Vgl. Nick Prior, »Software Sequencers and Cyborg Singers. Popular Music in the Digital Hypermodern«, in: New Formations 66 (2009), S. 81-99, hier S. 95; Peter Wicke, »From Schizophonia to Paraphonia. On the Epistemological and Cultural Matrix of Digitally Generated Pop Sounds«, in: Stan Hawkins (Hg.), Critical Musicological Reflections. Essays in Honour of Derek B. Scott, Farnham: Ashgate 2012, S. 95-100, hier S. 95; Ragnhild BrøvigHanssen, Anne Danielsen, Digital Signatures. The Impact of Digitization on Popular Music Sound, Cambridge, MA: MIT Press 2016, S. 143. Das Natürliche wird in dieser Arbeit wie folgt verstanden: Der Seinsmodus der Natur ist die Wirklichkeit. Vgl. Max Bense, Aesthetica. Einführung in die neue Aesthetik, BadenBaden: Agis [1965] 1982, S. 17. Wicke, »From Schizophonia to Paraphonia«, S. 97.

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den.5 Und obwohl es sich hierbei folglich um ein technologisch produziertes Konstrukt handelt, »a result of the synthesis of human sound production and machine mutations«6 , ist die Stimme mit dem Natürlichen konnotiert.7 Trotz technologischer Transformation des durch die Glottis geformten Klangs wird dieser als »that most ›natural‹ expression of unmediated humanity«8 begriffen. Um nun der durch das Mikrophon bereits technifizierten Stimme jene vermeintliche »natural expression« tatsächlich zu rauben, bedarf es spezieller Technologien, wie etwa der Software Auto-Tune, deren digitale Operation in die Grundstruktur der Stimme einbricht und im »heavy use« ein »hyperembodiment«9 provoziert. Erst das daraus resultierende Klanggeschehen realisiert die Transformation der »sounding voice into a hybrid of human and machine«10 – die Cyborg Voice. In diesem Sinne versteht sich der Auto-TuneEffekt als Klangästhetik11 des Humanoiden12 ; ein mit Information aufgeladenes Klanggeschehen; die tatsächlich hörbare und registrierbare Symbiose zwischen Mensch und Technologie (dem speicherprogrammiertem Digitalcomputer). Zunächst, isoliert von »kulturhistorische[n] Dimension[en]«13 , wird zu Beginn dieses Aufsatzes jene Technologie und deren Operation betrachtet, die den Auto-Tune-Effekt realisiert, um daraufhin das Klanggeschehen zu fassen. Daraufhin offenbart sich die Klangästhetik des Humanoiden dem 5 6 7 8 9 10 11

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Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd. Prior, »Software Sequencers and Cyborg Singers«, S. 83. Brøvig-Hanssen, Danielsen, Digital Signatures, S. 138f. Ebd., S. 139. Das Klanggeschehen ist von der Klangästhetik in dieser Arbeit wie folgt zu unterscheiden: Das Klanggeschehen ist eine Analyse des zu hörenden Ereignisses – ›Was ist zu hören?‹. Erst mit der Implantation einer Bedeutung kommt es zur Klangästhetik, die »es nicht mit einer Präparation von Qualität zu tun [hat], sondern mit der Konstituierung einer Seinsart, einer Gegenstandsart […].« (Bense, Aesthetica, S. 136) »[D]ie Ästhetik stellt aus der vorausgesetzten künstlerischen Produktion die Gegenstände ihrer Untersuchung erst her. Dabei handelt es sich um den ästhetischen Gegenstand, um das ästhetische Urteil und um die ästhetische Existenz« (Ebd., S. 22). Humanoid meint ›menschenähnlich‹ und steht in dieser Arbeit als Synonym für Cyborg. Wicke, »Das Sonische in der Musik«, S. 3. Beim Sonischen dient die kulturhistorische Dimension der Klang-Formung. Die Akustik wird demnach zum »kulturisierte[n] Schall« (Ebd.).

Cyborg Voice – Der Auto-Tune-Effekt als Klangästhetik des Humanoiden

Diskurs der populären Musik als Klangkörper, der »Figur des Dritten«,14 die als Mischwesen weder Mensch noch technologische Maschine ist.

Provozierter Klangkörper – Der Auto-Tune-Effekt Auto-Tune ist per se kein Effekt, sondern eine automatische TonhöhenkorrekturSoftware; eine digitale Operation, die die US-amerikanische Firma Antares 1997 auf den Markt brachte.15 Die auf Basis der Fourier-Transformation beruhenden Algorithmen ermöglichen eine Tonhöhenänderung des Klangmaterials und sollten primär Intonationsunreinheiten beheben.16 Wird diese Verschiebung der Töne als Artefakt hörbar, spricht man vom AutoTune-Effekt,17 der im Folgenden in seiner technologischen Verfahrensweise skizziert wird.18 Ein akustisches Ereignis, beispielsweise der Klang einer Stimme, muss zunächst in die »Sprache« des Computers – den binären Code – transformiert werden, damit die Software das Signal prozessieren kann. Mittels Analog/Digital-Converter (ADC) tastet der Computer das eingehende Audiosignal eines Mikrophons ab und quantisiert diese Abtastwerte in ein digitales Signal.19 »Die Frequenz dieser Abtastung wird Abtastrate oder Sampling-

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Vgl. Dierk Spreen, »Der Cyborg. Diskurse zwischen Körper und Technik«, in: Eva Eßlinger (Hg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010, S. 166-179, hier S. 166. Vgl. Immanuel Brockhaus, Kultsounds. Die prägendsten Klänge der Popmusik 19602014, Bielefeld: transcript 2017, S. 393f. Brockhaus datiert die Einführung der AutoTune-Software zunächst auf 1997 (vgl. ebd., S. 393) und später auf 1996 (vgl. ebd., S. 394). Vgl. Brockhaus, Kultsounds, S. 394ff. Auch andere Software-Hersteller ermöglichen mit deren Programmen eine vergleichbare Tonhöhenkorrektur, wie etwa das deutsche Pendant Melodyne. Daran wird deutlich, dass Auto-Tune ein Sound-Brand der Marke Antares ist (vgl. Brockhaus, Kultsounds, S. 393). Ein Synonym für den Auto-Tune-Effekt ist beispielsweise der »Cher Effekt« (ebd., S. 394), da in Chers Song Believe erstmals das Auto-Tune-Artefakt zu hören war (vgl. ebd., S. 401). Vgl. Brockhaus, Kultsounds, S. 401. Es handelt sich hierbei um eine vereinfachte Darstellung. Vgl. Udo Zölzer, »Signalverarbeitung, Filter und Effekte«, in: Stefan Weinzierl (Hg.), Handbuch der Audiotechnik, Berlin: Springer 2008, S. 813-848, hier S. 814.

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frequenz […] genannt«20 und bestimmt die Zeitachse x. Entscheidend für die korrekte Frequenzzuordnung ist die Abtastrate, die doppelt so hoch sein muss als die Frequenz des eingehenden, abzutastenden Signals.21 Andernfalls könnten beispielsweise »kontinuierliche Sinusschwingungen der Frequenz 1 kHz, 5 kHz und 7 kHz bei einer Abtastfrequenz von 6 kHz zu gleichen Abtastwerten führen«22 – dieser Effekt wird als »Aliasing« bezeichnet.23 Daraus resultiert die in der Musikproduktion zumeist genutzte Samplingfrequenz von 44,1 kHz, welche doppelt so hoch ist als das hörbare Frequenzspektrum eines Menschen. Während die Samplingfrequenz auf der Zeitachse operiert, transformiert die Quantisierung den Amplitudenwert y. Sie diskretisiert, abhängig von der »Wortbreite, d.h. […] [der] Zahl der Bits pro Zahlenwert«24 , das Eingangssignal in die für den Computer verständliche »Sprache«. Jedem Abtastwert wird in Form eines binären Zahlenwerts ein Amplitudenwert zugeschrieben. Bei einer Wortbreite von beispielsweise 16 Bit ergeben sich 216 = 65536 mögliche Quantisierungsstufen, wobei 32767 Möglichkeiten dem positiven Amplitudenbereich zur Verfügung stehen und -32768 dem negativen Bereich. Dem Amplitudenwert 0, der sogenannten »mid-tread-Kennlinie«, ist ebenfalls ein Zahlenwert vorbehalten, was den fehlenden Wert im positiven Amplitudenbereich erklärt.25 Bei einer Auflösung von 16 Bit und einer Samplingfrequenz von 44,1 kHz, werden folglich 44,1 Werte pro Millisekunde abgetastet und einer von 216 Quantisierungsstufen zugeordnet. Dies entspricht der Auflösung einer Compact-Disc. Das vormals akustische analoge Signal wurde vom Mikrophon empfangen und mittels ADC in einen binären Code diskretisiert. Während die Abspielgeschwindigkeit einer Klangaufnahme die Tonhöhe bestimmt, ermöglicht die binäre Form ein von der Zeitachse losgelöstes Eingreifen in das Klangmaterial.26 Dies eröffnet die Möglichkeit der Tonhöhenänderung bei gleichblei-

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21 22 23 24 25 26

Alexander Lerch, Stefan Weinzierl, »Digitale Audiotechnik. Grundlagen«, in: Stefan Weinzierl (Hg.), Handbuch der Audiotechnik, Berlin: Springer 2008, S. 785-812, hier S. 787. Ebd., S. 788. Ebd. Ebd., S. 789. Ebd., S. 790. Vgl. ebd. Vgl. Dieter Stotz, Computergestützte Audio- und Videotechnik. Multimediatechnik in der Anwendung, Berlin: Springer 2011, S. 115.

Cyborg Voice – Der Auto-Tune-Effekt als Klangästhetik des Humanoiden

bender Abspielgeschwindigkeit. Dabei »handelt es sich nicht mehr um eine bloße Umstrukturierung der vorhandenen Daten, sondern es sind Teildaten zu entfernen oder hinzuzufügen«27 . Die Synthese von Teildaten offenbart sich den Rezipierenden als hörbares Artefakt – eine an und für sich unerwünschte Klangstörung – einer Tonhöhenkorrektur-Software, wie etwa Auto-Tune. Dieser Effekt lässt sich von der Software-Userin oder dem -User bewusst provozieren und hat »nicht[s] mit einer vom Hersteller zugedachten Standardanwendung zu tun, sondern mit einer unkonventionellen Zweckentfremdung, die das Perfekte nicht suggeriert, sondern das Künstliche hervorhebt«28 . Der provozierte Klang, die aus Teildaten generierten, hörbaren, digitalen Artefakte der Tonhöhenkorrektur-Software, ist zunächst vom Vocoder zu differenzieren. Bestehend aus Synthese- und Analyse-Weg wird das Eingangssignal beim Vocoder »über eine Schaltmatrix mit beliebig wählbaren Zuordnungen« zu einem »durch eine Stimme (vox) codierte[n] Instrumentalsound«29 . Folglich handelt es sich hierbei zwar um eine klangliche Mensch-MaschinenSymbiose, jedoch referiert diese mehr auf das Instrument – hier dem Vocoder – und sollte im Zuge dessen als »roboterartig«30 und nicht als »humanoid« beschrieben werden: »The vocoder turns the voice into a synthesizer. […] It synthesizes the voice into voltage, into an electrophonic charge that gets directly on your nerves […].«31 Der Auto-Tune-Effekt ruft Erinnerungen an von Vocodern geformte Stimmen hervor, allerdings wird die Stimme im Vollzug der drastischen Tonhöhenkorrektur selbst zum Klangkörper; einem Körper, dem man sowohl menschliche als auch technologische Teile anhört.32 Während der Klang des Vocoders durch sein Klangsyntheseverfahren auf einen universellen Roboter referiert, bleibt im Gegensatz dazu der menschliche Aktant trotz technologischer Einwirkung beim Auto-Tune-Effekt weiterhin bestehen – dazu jedoch später mehr. Das hier provozierte Klanggeschehen der Software unterscheidet sich vor allem durch »digitale Glätte und Abruptheit« 27 28

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Ebd. Brockhaus, Kultsounds, S. 401. Es bleibt zu diskutieren, inwieweit es sich hierbei um eine ›nicht zugedachte Standardanwendung‹ des Herstellers handelt, da dieser dem Anwender die Möglichkeit der Zweckentfremdung auf Basis der Software bereits anbietet. Friedrich A. Kittler, Grammophon. Film. Typewriter, Berlin: Brinkmann und Bose 1986, S. 77. Brockhaus, Kultsounds, S. 395. Kodwo Eshun, More Brilliant than the Sun. Adventures in Sonic Fiction, London: Quartet Books 1998, S. 80, zit. n. Prior, »Software Sequencers and Cyborg Singers«, S. 92. Vgl. Brøvig-Hanssen, Danielsen, Digital Signatures, S. 139 und 146.

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von den aufgrund der totalen Klangsynthese »weniger akzentuierten Stimmklängen des Vocoders […]«33 und kann als punktuell auftretende Teilsynthese beschrieben werden, die zur bereits aufgenommenen und dadurch mediatisierten Stimme hinzukommen. Nichtsdestoweniger assoziiert der Literatur- und Popkritiker JensChristian Rabe den Klang des Auto-Tune-Effekts mit »roboterhafte[n] Sägen«34 und setzt damit neben Jochen Bonz, Immanuel Brockhaus, Ragnhild Brøvig-Hanssen und Anne Danielsen, Nick Prior und Alexander G. Weheliye eine irrtümliche Genealogie innerhalb des Diskurses über Stimme und AutoTune fort.35 Als Beispiel dafür lässt sich hier Bonz anführen, der »die digital flatternd klingende Stimme des Autotune-Effekts […] in einer Reihe mit stufenlos hoch oder tief gepitchten Stimmen, wie sie beispielsweise bereits das 1996 veröffentlichte Debütalbum Daft Punks bestimmen«36 verknüpft. Demnach knüpfe die Tradition37 des Auto-Tune-Effekts – wenn man hier von einer Tradition sprechen mag – vermeintlich an das Klanggeschehen des Harmonizers an. Bereits der Name – ein »Kofferwort«, bestehend aus Harmonie und Synthesizer – referiert auf den synthetischen Aspekt des Effekts und offenbart damit die maschinelle Nähe zum Vocoder. Während in der prä-digitalen Ära der populären Musik die Tonhöhenänderung mittels Bandgeschwindigkeit realisiert wurde, ließ ab 1980 die digitale Technologie ein Eingreifen in die Tonlage, unabhängig von der Abspielgeschwindigkeit, zu.38 Doch auch wenn via Harmonizer Mehrstimmigkeit erklingt, wiegt die technologische Synthese schwer und verbaut damit den hörbaren Bezug zum menschlichen Aktanten, im Gegensatz zum Klang des Auto-Tune-Effekts.

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Jochen Bonz, Alltagsklänge. Einsätze einer Kulturanthropologie des Hörens, Wiesbaden: Springer 2015, S. 66, Anm. 8. Jens-Christian Rabe, »Das große Flattern. Tune, was du nicht lassen kannst. Digitale Tonhöhenkorrektur, Kanye West und das irre kalte Monster Pop«, in: Süddeutsche Zeitung (18.12.2008), S. 13, zit. n. Bonz, Alltagsklänge, S. 65. Vgl. Alexander G. Weheliye, »›Feenin‹. Posthumen Voices in Contemporary Black Popular Music«, in: Social Text 71 (2002), S. 21-47, hier S. 35ff.; Prior, »Software Sequencers and Cyborg Singers«, S. 92f.; Bonz, Alltagsklänge, S. 66; Brockhaus, Kultsounds, S. 395f.; Brøvig-Hanssen, Danielsen, Digital Signatures, S. 139. Bonz, Alltagsklänge, S. 72. »[D]er Autotune-Effekt [steht] in einer Tradition der Verfremdung der Gesangsstimme, die einen eigenen Strang in der Geschichte afroamerikanischer Pop-Ästhetik bildet.« (Bonz, Alltagsklänge, S. 66). Vgl. Brockhaus, Kultsounds, S. 394.

Cyborg Voice – Der Auto-Tune-Effekt als Klangästhetik des Humanoiden

Denn der entscheidende Unterschied, zwischen Auto-Tune-Effekt und Harmonizer bzw. Vocoder liegt insbesondere in der gezielt automatischen Tonhöhenkorrektur einzelner Stimmpassagen, was jedoch schlichtweg von Einigen überhört wird.39 Dies hat allerdings Auswirkungen auf das Klanggeschehen – wenn auch nur sehr subtil: »As a studio tool, Autotune turns the vocal into a series of interrupted chops, stutters and warps […].«40 Diese »artifizielle Weise« des Tonverschiebung findet sich zwar auch bei Vocoder und Harmonizer wieder, allerdings bleibt beim »punktuelle[n] Auftreten des [Auto-Tune-]Effektes […] eine relativ hohe Sprachverständlichkeit und Klangtreue«41 vorhanden. Eben deshalb bleibt trotz technologischen Eingriffs der Bezug zur menschlichen Stimme und dem dazugehörigen Körper bestehen. Beeinflusst werden diese unnatürlichen und – im Sinne des Digitalen – diskreten Tonverschiebungen durch den Retune-Speed-Regler.42 Bereits die Mittelstellung des Reglers, mit welchem sich die Geschwindigkeit der Tonhöhenverschiebung bestimmen lässt, führt zur »cyber-Stimme«43 , zur Klangästhetik des Humanoiden, die »dem Hörer reichlich kalt rein[fährt]« und »doch auch wohlig entrückt, delirierend«44 klingt: »We still recognise the voice, but it is shrouded, encoded, perhaps even haunted by the non-human – cyborg for sure […].«45 Der Auto-Tune-Effekt ist mehr als lediglich eine Symbiose zwischen Mensch und Technologie; Natur und künstlichem Objekt; dem Humanen und dem Nicht-Humanen. Er ist eine Metamorphose aus »technischen und organischen […] Anteilen«46 , der als Klangästhetik des Humanoiden ein Zeichen, also das Mittel der auditiven und/oder visuellen Produktion von Bedeutung, im »Zeichennetztwerk« populärer Musik bildet. Im Folgenden wird sich zeigen, dass die durch Auto-Tune provozierte Cyborg Voice ohne weitere Zeichen und aus sich selbst heraus auf die Symbiose zwischen Mensch und Maschine verweist.

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Vgl. ebd. Prior, »Software Sequencers and Cyborg Singers«, S. 91. Brockhaus, Kultsounds, S. 395. Vgl. ebd., S. 398; Bonz, Alltagsklänge, S. 63. Brockhaus, Kultsounds, S. 396. Rabe, »Das große Flattern«, zit. n. Bonz, Alltagsklänge, S. 65. Prior, »Software Sequencers and Cyborg Singers«, S. 92. Spreen, »Der Cyborg«, S. 166.

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Cyborg Voice – So klingt das Humanoide Seit Thomas A. Edisons Phonograph lässt sich Klang von dessen Quelle trennen und zeitenthoben wiedergeben.47 Die damit einhergehende entmachtete Präsenzmetaphysik, die Täuschung der Präsenzwahrnehmung durch die vom Medium zeitversetzte Wiederaufführung, beschreibt R. Murray Schafer als »Schizophonia«, als von seiner Quelle befreiten Klang.48 Bereits hier wird die Tragweite einer Audio-Aufnahme deutlich: Sie widersetzt sich der natürlichen Ordnung, der temporären Existenz von akustischen Ereignissen, und bildet damit eine auf der Technologie basierende, neue Norm. Um dieser Norm zu entsprechen, muss die Stimme selbst zu einem Artefakt werden: »[T]he voice has become a technologically produced construct, a result of the synthesis of human sound production and machine mutations. While the ›natural‹ voice of Elvis Presley, as with every other pop star, might be capable of a synthetic sound formation, the technologically unamplified and unprocessed use of voice does not work within a media context. It is only technology that can provide sensual presence to vocal imagery in the record form.«49 In ihrer eskalierten Form ist die heutige technologische Ordnung, also die neue Norm, mit virtuellen Klangräumen und komprimierten Stimmen – um nur eine Handvoll zu nennen – fester Bestandteil populärer Musik. Mehr noch: Populäre Musik formt sich mit und aus Technologie und ist eben deshalb ein nicht wegzudenkender Teil der (Klang)Ästhetik jener Musik, was unter anderem bereits der Musik- und Medienwissenschaftler Rolf Großmann hervorgehoben hat.50 Doch obwohl sich nun die Aufnahme als solche als ein artifizielles Produkt beschreiben lässt, sticht in ihr die menschliche Stimme als »natürlichstes« Element hervor.51 Dies ist zurückzuführen auf die durch Technologie bereits infizierte »Hör-Gewohnheit«, die die durch Technologie

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Vgl. Wolfgang Ernst, Gleichursprünglichkeit. Zeitwesen und Zeitgegebenheit von Medien, Berlin: Kadmos 2012, S. 23. Vgl. ebd., S. 17 sowie R. Murray Schafer, The New Soundscape. A Handbook for the Modern Music Teacher, Don Mills: BMI Canada 1969, S. 46. Wicke, »From Schizophonia to Paraphonia«, S. 97. Vgl. Rolf Großmann, »303, MPC, A/D. Popmusik und die Ästhetik digitaler Gestaltung«, in: Markus S. Kleiner, Thomas Wilke (Hg.), Performativität und Medialität populärer Kulturen. Theorien, Ästhetiken, Praktiken, Wiesbaden: Springer 2013, S. 299-316, hier S. 314ff. Vgl. Weheliye, »Feenin«, S. 25; Prior, »Software Sequencers and Cyborg Singers«, S. 83.

Cyborg Voice – Der Auto-Tune-Effekt als Klangästhetik des Humanoiden

medialisierte und dadurch verkünstlichte Stimme der unberührten Natürlichen vorzieht, wie die Musikwissenschaftlerinnen Ragnhild Brøvig-Hanssen und Anne Danielsen erhellend beschreiben:52 »For example, the voice in today’s popular music production is generally highly mediated, in terms of being compressed, equalized, reverbed, autotuned, and so on. This means that when we hear a voice, either on a musical recording or at a concert, that feels different from this compressed and voluminous high-definition sound, we want to blame somebody (usually the sound engineer). The unmediated voice, today, is that orchid in an otherwise utterly mediated musical environment.«53 Eine aufgenommene Stimme repräsentiert damit, trotz der beträchtlichen Verformung mittels Technologie, die Klangästhetik des Natürlichen, des Menschlichen. Das Gegenstück dazu bilden die synthetisierten Stimmen des Vocoders und Harmonizers, deren maschinelle Klangästhetik als »speaking synthesizer«54 aufgefasst werden. Vor allem im Afrofuturismus, dessen Konzept der Musikwissenschaftler Robert Finke als eine durch Technologie provozierte (Science-)Fiktion beschreibt,55 wurde damit »die Bezugnahme auf etwas Anderes, eine Bezugnahme auf etwas, das sich zum Bekannten different verhält«56 , hervorgerufen. In diesem Sinne stellt sich die »natürliche« Stimme der synthetisierten, maschinellen Stimme gegenüber. Zwischen diesen beiden Polen platziert sich nun der Auto-Tune-Effekt. Als »de-humaniser«57 spaltet er den natürlichen Charme der Stimme ab und katalysiert die Metamorphose mit der Maschine. Die natürliche Stimme verschmilzt mit der automatischen Tonhöhenkorrektur-Software; die bereits medialisierte, jedoch als natürlich wahrgenommene Stimme wird mit synthetischen Teildaten angereichert; das »technische […] System« wird »Teil des Leibes«58 und bildet die Klangästhetik des Humanoiden – einen tonalen, 52 53 54 55 56 57 58

Vgl. Wicke, »From Schizophonia to Paraphonia«, S. 97; Brøvig-Hanssen, Danielsen, Digital Signatures, S. 147. Brøvig-Hanssen, Danielsen, Digital Signatures, S. 148. Ebd., S. 146. Vgl. Robert Fink, »The story of ORCH5, or, the classical ghost in the hip-hop machine«, in: Popular Music 24 (2005), Nr. 3, S. 339-356, hier S. 351. Bonz, Alltagsklänge, S. 69. Prior, »Software Sequencers and Cyborg Singers«, S. 91. Spreen, »Der Cyborg«, S. 169. Spreen beschreibt anhand Helmuth Plessner den Unterschied »zwischen ›Körper-Haben‹ und ›Leib-Sein‹ […]: Körper als Instrument hat man, Leib ist man.« (Ebd.)

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»selbstregulierenden Organismus«, den »cybernetic organism«59 . Eben dies gilt es hervorzuheben, wenn die Rede vom Auto-Tune-Effekt ist: Während durch Vocoder und Harmonizer generierte Klänge ganz deutlich auf den Klangkörper des Künstlichen, den synthetischen Teil der Klangmaschine, referieren und eine aufgenommene – und dadurch bereits medialisierte – Stimme in der Regel auf den aus Fleisch bestehenden Körper des Menschen verweist, enthält die durch Auto-Tune bearbeitete Stimme sowohl künstliche als auch natürliche Körperanteile. Der medienarchäologische Blick, der – unbeeindruckt von dem Narrativ der Geschichtsschreibung – bis in die Tiefe der Tonaufnahme sowie deren Struktur reicht, offenbart folglich eine differente Genealogie in Bezug auf den Auto-Tune-Effekt. Durch diese technische Begründung bildet sich jedoch ein enormer Unterschied heraus, der die Ästhetik der mit Auto-Tune bearbeiteten Stimme betrifft. Im Folgenden soll sich dieser hörbaren Mensch-Maschinen-Symbiose angenommen werden. Dabei wird sich zeigen, dass mit dem Einsatz von Auto-Tune die Ästhetik des Humanoiden einkehrt. Das Humanoide, der Cyborg, ist laut dem Soziologen Dierk Spreen ein »Mischwesen aus […] Mensch und Technik«, dessen zwitterähnliche Ästhetik »als ›Figur des Dritten‹ betrachtet werden«60 kann. In diesem Sinne lässt sich die automatische Tonhöhenkorrektur-Software als »neue[s] Organ[] der Welteinwirkung«61 bezeichnen; eine cyborgtechnologische Prothese, die neue Funktionen in den Klangleib der menschlichen Stimme integriert.62 Hörbar ist dieses Mischwesen allerdings erst als (Auto-Tune-)Effekt, als Cyborg Voice. Hierbei handelt es sich um eine klangliche Eskalation – oder eine Abzweigung im Sinne der Metaphorik der Genealogie – der Stimme: Der menschliche Klangkörper bleibt weiterhin bestehen; übersteigt allerdings im selben Moment die medialisierte Stimme – die dem Natürlichen entspricht –, da synthetische Teildaten hinzukommen, und erfährt damit eine neue Entwicklungsstufe – quasi ein Update. Damit gehört die durch Auto-Tune geformte Cyborg Voice dem Stammbaum der Stimme an und keineswegs dem (Instrumenten)Stammbaum des Vocoders und Harmonizers. Dieser Kurzschluss ist jedoch nur möglich durch das Bewusstsein, dass bereits die aufgenommene Stimme, eine technifizierte ist. Darüber hinaus offenbart sich hier die Klangäs-

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Ebd., S. 166. Ebd. Ebd., S. 172. Vgl. ebd.

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thetik des Humanoiden; eine ästhetische Mensch-Maschinen-Symbiose, die via Klang vermittelt wird. Im Folgenden soll die Klagästhetik des Humanoiden erläutert werden. Basis dafür bildet die Klangästhetik als solche. Im Allgemeinen changiert die Klangästhetik nicht nur zwischen den Instrumenten und Stimmen der musikalischen Komposition, sondern ebenfalls zwischen »Realität, Materie, Raum und Zeit. Ihre Realität ist die Notwendigkeit, wenn auch nicht hinreichende Bedingung dafür, daß das [musikalische] Kunstwerk Gegenstand ästhetischer Wahrnehmung und ästhetischen Urteils werden kann.«63 Auch die Klangästhetik des Humanoiden ist folglich nur im Zuge der »Mitrealität (Mitwirklichkeit)«64 , also inklusive aller sie umgebenden Faktoren, wie etwa Künstler*innen-Image, -Herkunft oder -Geschlecht, erfahrbar. Demnach lässt sich die Stimme – ganz gleich ob technifiziert oder nicht – immer nur als ein Zeichen in einem Zeichennetzwerk, welches am Ende ein Ganzes provoziert, betrachten. Vor allem die Zeichenstruktur der Cyborg Voice unterscheidet sich deutlich von der roboterhaften Klangästhetik des Vocoders oder Harmonizers. Während Letztere den Klangkörper einer Maschine bezeichnen und durch diese Künstlichkeit das Posthumane heraufbeschwören,65 bleibt beim humanoiden Auto-Tune-Effekt die Verbindung zum menschliche Körper erhalten.66 Dieses technische Add-On des menschlichen Körpers – hier auf die durch Auto-Tune bearbeitete Stimme bezogen – ist für Spreen jedoch noch kein Grund vom roboterhaften Posthumanen zu sprechen: »Die technische Veränderung des menschlichen Körpers und die Variation der Gestalt des Menschen geben keine Gründe, von einem Posthumanum zu sprechen.«67 Trotz technischer Implementierung besteht weiterhin eine menschliche Körperlichkeit, die sich über die natürliche Form stellt bzw. sich different dazu verhält. Bonz zufolge »ist es eben dieser Riss, dem das Subjekt der spätmodernen westlichen Kultur in seinen Eintritten in den Geltungsbereich einer symbolischen Ordnung

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Bense, Aesthetica, S. 25. Ebd. »Because theories of posthumanity are so closely associated with theorizations of cyberspace, computer-mediated communication often appears to be the precondition for becoming posthuman.« (Weheliye, »Feenin«, S. 24) »[C]yborg for sure, but not absolutely post-human.« (Prior, »Software Sequencers and Cyborg Singers«, S. 92) Spreen, »Der Cyborg«, S. 173.

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am eigenen Leib begegnet – und der im Autotune-Effekt als ästhetische Erfahrung erlebt werden kann, indem dieser den Riss markiert, ihn ausstellt und damit dem mimetischen Spiel anbietet.«68 Der Auto-Tune-Effekt lässt folglich die Symbiose zwischen Mensch und Maschine immer dann erhören, wenn die im Symbolischen operierenden binären Teildaten zur menschlichen Stimme addiert werden. Dies hat zur Folge, dass die Klangästhetik des Humanoiden, der Cyborg Voice, immer auf den von ihm ausgehenden menschlichen Leib – den des Sängers oder der Sängerin – und dem Speicherprogrammierten Digitalcomputer referiert, wohingegen Vocoder und Harmonizer das undifferenzierte »Andere« heraufbeschwört.69 Die Klangästhetik der Cyborg Voice ist zwar nur ein Zeichen in einer Zeichenreihe; ein Knoten im kulturellen Netzwerk, dessen Bedeutung allerdings bereits aus sich selbst rekrutiert wird.70 Demnach lässt sich die Ästhetik des Humanoiden auch ohne Auto-Tune-Effekt provozieren, doch bedarf es dafür weiterer Zeichen, die im Zeichennetzwerk den Cyborg anzeigen. Dies soll nun anhand eines Beispiels näher erläutert werden. Im Afrofuturismus wird mit der Ästhetik des Anderen gearbeitet, was – wie bereits erwähnt – einen vermeintlichen Kurzschluss zwischen Vocoder, Harmonizer und Auto-Tune-Effekt provoziert.71 Zwar lässt sich im Afrofuturismus ebenfalls von der Figur des Cyborgs sprechen, jedoch ist dessen Konstitution eine andere: Sie zeigt sich in der Summe der Zeichen und nicht im Zeichen selbst, wie im Fall der Cyborg Voice. Folglich lässt sich ebenso aus der maschinellen Klangästhetik des Vocoders eine Ästhetik des Humanoiden bilden. Dafür bedarf es jedoch weiterer Zeichen, die die nicht-menschliche Klangästhetik des Stimmen-Synthesizers mit der Körperlichkeit des Menschen wieder vereint, wie es beispielsweise die Band Zapp in Computer Love tut. Während zu ihren Anfängen in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren die Band durch George Clinton im wahrsten Sinne des Wortes vermenschlicht wurde, technifizierten später Vocoderklänge die Klangästhetik der Band, wofür sie laut Alexander G. Weheliye letztlich bekannt waren:

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Bonz, Alltagsklänge, S. 79. Vgl. ebd., S. 69; Der Auto-Tune-Effekt verschiebt hier das Tonregister der zu hörenden Stimme in einen anatomisch unmöglichen Bereich. Dabei bleibt jedoch das Geschlecht hörbar erhalten. Vgl. Bense, Aesthetica, S. 139. Vgl. Prior, »Software Sequencers and Cyborg Singers«, S. 92f.; Bonz, Alltagsklänge, S. 70; Brøvig-Hanssen, Danielsen, Digital Signatures, S. 146f.

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»In fact, Zapp ›embodies‹ the vocoder like no other musical group, at least in black popular music, since the group’s idiosyncrasy was the prominence of this device on all its recordings.«72 Der Vocoder war somit fester Bestandteil der Klangästhetik der Band und ließe sich losgelöst von der Mitrealität, losgelöst von weiteren Zeichen im Netzwerk, also losgelöst von allen weiteren Klängen und Informationen als roboterhafte oder maschinelle Ästhetik beschreiben. Doch in ihrem Song Computer Love treten die natürlichen Stimmen mit der synthetischen Vocoder-Stimme in einen Dialog – hier trifft quasi das Zeichen der natürlichen Stimme auf das Zeichen des synthetisch klingenden Vocoders.73 Die differenten Klangästhetiken verschmelzen zur Diskursfigur des Humanoiden; katalysiert durch den Songtext, der von einer körperlichen Vereinigung erzählt:74 »›Shoo-be-do-bop shoo-do-bop I wanna love you/shoobe-do-bop computer love,‹ reinforced by the ›feminine‹ ›sanging‹ of ›I wanna love you baabee.‹«75 Die Liebe zwischen Computer und Mensch ist von einer klanglichen Erotik untermalt, die mittels Instrumentierung, wie etwa dem Saxophon, produziert wird. Denn »›Computer Love‹ utilizes the vocoder to intensify the longing of the male subject, and even though this current is surely prominent here, the track also suggests desire for the machine itself by deferring a conclusive or coherent identification of its target.«76 Die Figur des »Anderen« wird hier durch eine Vielzahl von Zeichen zur Figur des Cyborgs, wie Weheliye meint: »Here, the ›human‹ and ›machinic‹ become mere electric effects that conjoin the human voice and (intelligent) machines.«77 In Summe, also wenn alle klanglichen, textlichen und sonstigen Komponenten zusammengezogen werden, lässt sich im hier erwähnten Beispiel Computer Love von einer Ästhetik des Humanoiden sprechen. Ändert sich jedoch eines der Zeichen in der Gleichung, die wir Ästhetik nennen, führt dies umgehend zu einer differenten Summe, also zu einer anderen Ästhetik, die nicht mehr zwangsläufig dem Humanoiden entsprechen muss. Folglich verliert sich der Bezug zum Humanoiden, wenn sich die Zeichen in der Zeichenkette ändern, wie es beispielsweise bei dem Duo Daft Punk zu erfahren ist.

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Weheliye, »Feenin«, S. 35. Vgl. ebd., S. 35f. Vgl. ebd., S. 36f. Ebd. Ebd. Ebd., S. 37.

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Die hier eingesetzten Vocoder und Harmonizer konstituieren keine MenschMaschinen-Metamorphose, sondern eine Roboter-Ästhetik, die auch auf der visuellen Ebene gefestigt wird, da das Duo in der Öffentlichkeit lediglich als Roboter zu sehen ist. Der Körper des Menschen findet sich bei Daft Punk weder auf auditiver Ebene noch auf visueller. Stattdessen der Roboter, der an und für sich geschlechts- und herkunftslos ist, im Gegensatz zu der dem Menschlichen noch ähnelnden Figur des Cyborgs. Somit sind weder aus einer klanganalytischen noch aus einer medienarchäologischen Perspektive Beziehungen zwischen Vocoder, Harmonizer und Auto-Tune-Effekt nachweisbar, wie die Literatur sie behauptet. Vielmehr geht es hier um Phänomene, deren kulturelle Kodierung zwar Ähnlichkeiten aufweist, dennoch die Differenzen zwischen Cyborg und Roboter verkennt. Zurückzuführen ist die gesetzte Beziehung auf die intuitive Unterscheidung des Klanggeschehens, auf das Ignorieren einer vermeintlich feinen Nuance, die den Auto-Tune-Effekt vom Vocoder und Harmonizer unterscheidet: die »relativ hohe Sprachverständlichkeit und Klangtreue […]«78 . Sie ist jedoch der Pfeiler, der dem Auto-Tune-Effekt die Körperlichkeit der Stimme zuschreibt und ist keineswegs lediglich eine Nuance. Denn erst der speicherprogrammierte Digitalrechner ermöglicht es, dass durch Hinzufügen von Teildaten eine Tonhöhenverschiebung stattfinden kann, ohne dabei den Bezug zum menschlichen Körper zu verlieren. Demnach neigt sich das »digitale [F]lattern[]«79 des hörbaren Auto-Tune-Effekts – paradoxerweise – zur »natürlichen« Stimme und kehrt der synthetisierten Stimme des Vocoders und Harmonizers den Rücken. Möglich ist dies vor allem deshalb, weil die »natürliche« Stimme eben eine nicht-natürliche, verfremdete ist, um in der »mediatized world«80 bestehen zu können. Eine klangliche Gleichstellung der drei Effekte führt zwangsläufig zu einem unbefriedigenden Kurzschluss zum Afrofuturismus. Dabei wird jedoch überhört, dass beim Afrofuturismus die Klangästhetik des Vocoders genutzt wird, um das »Andere« zu ästhetisieren. Die »Lyrics«, die auch nur ein Zeichen unter vielen sind, bildeten dabei nur eine Möglichkeit der ästhetischen Gestaltung. Der Auto-Tune-Effekt als Klangästhetik des Humanoiden bedarf jedoch keiner textlichen Dimension, um das »Andere« darzustellen. Überhaupt stellt er auch gar nicht das »Andere« dar,

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Brockhaus, Kultsounds, S. 395. Bonz, Alltagsklänge, S. 72. Wicke, »From Schizophonia to Paraphonia«, S. 100.

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sondern verweist mit seinem hyperembodiment ganz konkret auf ein differentes Abbild des Menschen. Erst die automatische Tonhöhenkorrektur bildet die Klangästhetik der Figur des Dritten, des Cyborgs, die aus einem und nicht aus mehreren Zeichen besteht. Folglich wirkt der Auto-Tune-Effekt alles andere als »ungezielt, gestreut, kontingent«.81 Spätestens wenn jegliche Art von akustisch erklingender Musik aufgenommen wird, muss klar sein, dass es sich hierbei um eine medialisierte Tonaufnahme handelt; eine nicht nur durch Technologie geformte, sondern ebenso davon abhängig ästhetisierte Form von Musik. Folglich ist es schon nahezu fahrlässig, eine Analyse des Klanggeschehens ohne Berücksichtigung der involvierten Medien, dieser für die Klangästhetik so entscheidenden Technologien, durchzuführen. Vor allem bei der Untersuchung populärer Musik plädiere ich für eine medienarchäologische Herangehensweise, da die verwendete Technologie während der (Re-)Produktion der Musik in die Ästhetik eingreift. Des Weiteren bildet die Technologie einen definierten Rahmen innerhalb dessen jene Musik organisiert wird; eine Gesetzmäßigkeit, welche unumstößlich ist. Damit bezieht sich eine medienarchäologische Untersuchung immer auf ein technisch fundiertes Gesetz; einen Ist-Zustand, der das wissenschaftliche Unterfangen erdet und sich damit von der narrativen Struktur der Geschichte emanzipiert. Von dieser Basis aus lässt sich eine Klangästhetik beschreiben, die zwar nicht losgelöst von kulturhistorischen Dimensionen ist, jedoch bis zu einem gewissen Grad die Technologie für sich selbst sprechen lässt. Im Falle des Auto-Tune-Effekts hat sich dadurch eine Klangästhetik des Humanoiden offenbart, die keiner weiteren Zeichen bedarf, sondern aus sich selbst rekrutiert wird.

Literatur Bense, Max, Aesthetica. Einführung in die neue Aesthetik, Baden-Baden: Agis [1965] 1982. Bonz, Jochen, Alltagsklänge. Einsätze einer Kulturanthropologie des Hörens, Wiesbaden: Springer 2015. Brockhaus, Immanuel, Kultsounds. Die prägendsten Klänge der Popmusik 19602014, Bielefeld: transcript 2017.

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IV. Empirische Musikästhetik

Entwicklung eines Testinstruments zur Differenzierung verschiedener Dimensionen ästhetischer Urteile Marik Roos

Der philosophische Diskurs über die Ästhetik ist ein umfangreicher und noch stets aktueller, der vor allem mit der Musikwissenschaft zahlreiche Berührungspunkte hat. Auch in der Musikpsychologie wird die Ästhetik zunehmend erforscht – besonders, wenn es um die Frage geht, von welchen Variablen oder (gar musikalischen) Parametern ein ästhetisches Urteil abhängig sein kann und inwieweit es objektivierbar ist. Untersucht werden hierbei beispielsweise der (räumliche, zeitgeschichtliche, kulturelle etc.) Kontext der Rezeption, das Vor- bzw. Hintergrundwissen oder Interesse an einem Werk, die musikalische Präferenz der Rezipient*in, sein/ihr (musikalischer) Bildungsgrad sowie individuelle Mechanismen kognitiver Verarbeitung (zum Beispiel »Predictive Processing«) und Persönlichkeitseigenschaften der Rezipient*innen (beispielsweise anhand des Konzepts der so genannten »Offenohrigkeit«) und viele andere interessante Variablen. In den Lehrbüchern der Psychologie zum Thema Ästhetik finden sich zwar durchaus Erläuterungen verschiedener Dimensionen der ästhetischen Wahrnehmung, die auch aus den Thesen des philosophischen Diskurses schöpfen,1 doch lässt sich in psychologischen und kunst- oder musikwissenschaftlichen Studien oft beobachten, dass das ästhetische Urteil nicht in dieser Differenziertheit empirisch erhoben wird. In vielen Fällen wird ein bloßes Gefallensurteil über einen Kunstgegenstand abgefragt und in Abhängigkeit zu unterschiedlichen Variablen (Beschaffenheit und Ausprägung von Vorwissen, diverse Persönlichkeitsmerkmale, Intelligenz, Interesse etc.) untersucht. An der Methodik selbst soll an dieser Stelle keine große Kritik geübt werden, da je

1

Vgl. z.B. Christian G. Allesch, Einführung in die psychologische Ästhetik, Wien: WUV 2006.

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nach Fragestellung unterschiedliche Methoden sinnvoll sein können. Problematisch wird es vor allem dann, wenn in Forschungsberichten von »ästhetischer Erfahrung« gesprochen wird, obwohl eigentlich »Gefallen« oder »Präferenz« gemessen wurde und sich der (musik-)philosophische Diskurs auf eben diese Studien bezieht, ohne zu wissen – oder wissen zu können – wie genau die Erhebung des Urteils zustande gekommen ist. Ein weiteres Problem liegt gerade bei musikalischen Stimuli natürlich in der Komplexität des Forschungsgegenstands selbst. Je detaillierter jedoch das ästhetische Urteil in einzelne Dimensionen differenziert wird, desto leichter lassen sich auch Zusammenhänge zwischen Ebenen der Bewertung und tatsächlichen musikalischen Parametern der Stimuli beobachten – oder anders gesagt: Wenn kontextuelle, soziale oder assoziative Faktoren durch kontrollierte Erhebung aus der Korrelation herausgerechnet werden können, bleibt der beobachtbare Zusammenhang von diesen Variablen unbeeinflusst und kann somit zulässige Kausalschlüsse zwischen der Musik selbst und der Reaktion der Rezipient*innen zulassen oder zumindest eine Hypothese darüber. Werden beispielsweise beim Hören von Musik affektive Reaktionen (psychologisch definiert als kurzzeitige, stärkere Zustandsänderungen der Gemütserregung, die einen konkreten Auslöser erfordern) mittels Biofeedback-Verfahren aufgezeichnet, können zusätzlich erhobene Variablen wie Vertrautheit mit der Musik, Assoziationen, Präferenzurteile usw. nicht nur Aufschluss darüber geben, wie selbige Variablen das Urteil über die Musik beeinflussen, sondern auch, wo das Urteil durch sie unbeeinflusst bleibt, also wo möglicherweise musikalische Parameter einen direkten Einfluss auf die Wahrnehmung und Bewertung haben. In Philosophie und Psychologie existieren viele Theorien darüber, welche Variablen das Verhältnis zwischen Musik und Rezipient*in beeinflussen können und welche Urteilsebenen durch welche Art von Musik, Rezeption und kognitiver Verarbeitung wirksam werden. Im Folgenden soll eine von vielen Möglichkeiten vorgestellt werden, das ästhetische Urteil differenzierter zu erheben: anhand des »motivationalen Inventars für ästhetische Urteile« (MIAU).

Entwicklung eines Testinstruments

Das Verhältnis zwischen Musik und Rezipient*in als Beginn empirischer Ästhetik Die Frage nach den Einflussfaktoren auf ästhetische Urteile oder genauer: nach den Wirkmechanismen zwischen Reiz und Reaktion und nach den Parametern, die diese Mechanismen beeinflussen, also die Frage nach Ästhetik in ihrer etymologischen Bedeutung, nach Gesetzmäßigkeiten der Wahrnehmung und Empfindung sinnlicher Eindrücke, ist auch in Musikwissenschaft und Psychologie einige Jahrhunderte alt. Einer der ersten Musikwissenschaftler, der zu diesem Thema empirische Studien durchgeführt hat, war Gustav Theodor Fechner. Er greift in seinen Studien zur Wahrnehmung und Bewertung von Musik nicht nur philosophische Ideen von Lust und Unlust auf, sondern nimmt auch vorweg, was die Kognitionswissenschaften der letzten Jahrzehnte in der Ästhetikforschung immer wieder feststellen, nämlich dass ein Reiz sowohl bezüglich seiner Quantität, also dem Grad unserer Empfänglichkeit, als auch bezüglich seiner Qualität aufmerksamkeitswürdig sein muss, damit im ersten Schritt überhaupt eine Zuwendung und im zweiten Schritt eine zufriedenstellende kognitive Verarbeitung erfolgen kann.2 Bei Fechner heißt diese These »Prinzip der ästhetischen Schwelle«. Diesem Ansatz ist nicht nur eine Theorie über die grundsätzliche emotionale und kognitive Verarbeitung von Musik inhärent, sondern er bezieht auch die individuellen Toleranzschwellen, Kapazitäten und Ansprüche der Rezipient*innen mit ein, die sich aus sozialem Kontext, Hörgewohnheiten und Präferenzen zusammensetzen. Darüber hinaus inkludiert er sogar die Vielfalt unserer Hirnchemie, die – gemäß neueren Theorien und Erkenntnissen der Neurowissenschaften – ganz individuell bestimmt, in welchem Maße ein Reiz für uns den optimalen Grad zwischen Anforderung und Überforderung anspricht und dadurch dopaminerge Reaktionen begünstigen kann, welche als belohnend interpretiert werden. Auch assoziative und handwerkliche Variablen bezieht Fechner in seine Überlegungen zum Einfluss auf das ästhetische Urteil ein, die in ihrer Summe eine positive Bewertung sogar noch stärker ausfallen lassen können als es der bloße Stimulus an sich getan hätte. Daniel Berlyne greift diesen Ansatz auf, indem er einen kurvenförmigen Zusammenhang zwischen der bei der Rezipient*in ausgelösten Anregung, al-

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Vgl. Gustav Theodor Fechner, Vorschule der Äesthetik. Erster Theil, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1876, S. 49f.

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so dem Potential (»Hedonic Value«) und Gefallen eines Reizes beschreibt.3 Dabei ist diese Suche nach dem Optimalniveau von Aktivation oder Inkongruenz vor allem durch die Bedürfnisse nach Informationssuche (spezifische Exploration) und Stimulation (diversive Exploration) motiviert.4 Diese lassen sich allerdings nicht immer eindeutig voneinander trennen, nehmen jedoch erneut eine Mehrdimensionalität des ästhetischen Urteils sowie die Variable des Zwecks der Rezeption an (bezogen auf Musikpsychologie also das Konzept der »Anwendung von Musik«) und sind mit neurowissenschaftlichen Theorien über Motivation und Belohnung in Einklang zu bringen.

Die Perspektive der Kognitionswissenschaften Die drei prominentesten kognitionswissenschaftlichen Theorien, welche den Ansätzen von Fechner und Berlyne – und selbstverständlich den philosophischen Überlegungen von Aristoteles bis Walter Benjamin zu Mimese, Ähnlichkeitsästhetik und Reproduktion – sehr ähneln, heißen »Cognitive Fluency«, »Mere Exposure« und »Prototypicality«. Robert Zajonc entdeckte 1968 den sogenannten »Mere Exposure Effect«. Zajonc wollte die Hypothese untersuchen, dass wir solche Reize präferieren, die uns grundsätzlich vertraut sind. Das Ergebnis seiner Studie war allerdings viel interessanter: Tatsächlich stieg die Präferenz eines Stimulus mit wiederholter Darbietung, auch ohne dass diese Wahrnehmung den Versuchspersonen bewusst gewesen wäre.5 Einfach gesagt: Je öfter wir also ein Musikstück hören, desto mehr schätzen wir es, bis es schließlich – gemäß Fechner – die ästhetische Schwelle durch Mangel an Aktivierungspotential wieder unterschreitet. Etwas zugänglicher ist vielleicht die Erklärung über sich ständig entwickelnde Hörgewohnheiten im Verlaufe der Musikgeschichte. Es muss gar nicht ein bestimmtes Werk sein, das wir durch wachsende Vertrautheit präferieren, sondern es können auch viel grundlegendere, über Jahrhunderte hinweg internalisierte Konstrukte sein wie tradierte Akkordprogressionen 3 4

5

Vgl. z.B. Daniel E. Berlyne, Studies in the New Experimental Aesthetics: Steps Toward an Objective Psychology of Aesthetic Appreciation, Washington DC: Hemisphere 1974. Für eine übersichtliche Zusammenfassung von Berlynes wichtigsten Theorien vgl. Pavel Machotka, »Daniel Berlyne’s Contributions to Empirical Aesthetics«, in: Motivation and Emotion 4/2 (1980), S. 113-121. Vgl. Robert B. Zajonc, »Attitudinal Effects of Mere Exposure«, in: Journal of Personality and Social Psychology 9/2.2 (1968), S. 1-27.

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und Kompositionsregeln. Man denke nur an die Uraufführung von Igor Strawinskys Le sacre du printemps, nur eines vieler Werke, die offenbar einer Gewöhnungsphase bedurften, ehe sie in den Kanon der Musikgeschichte eintreten konnten. »Prototypicality« bezeichnet ein ähnliches Konzept und besagt, dass der Prototyp einer bestimmten Kategorie (Künstler, Gattung, Genre, Harmonik, Melodik etc.) kognitiv leichter zu verarbeiten ist und daher grundsätzlich präferiert wird. Die einzelnen Vertreter einer Kategorie sind hierbei in einer Rangfolge abgespeichert, je nachdem wie gut sie die Kategorie repräsentieren. Auf den Prototypen ist dabei also der schnellste Zugriff möglich.6 Ähnlich wie in der Gestaltpsychologie wird hier das Gesetz der Prägnanz wirksam, welches Strukturen im Vordergrund von denen im Hintergrund unterscheidbar macht. Eine Melodie beispielsweise, die prototypischen Kompositionsregeln folgt, keine zu großen Sprünge macht, diatonisch gestaltet ist und logisch nachvollziehbare bzw. leicht vorhersagbare Intervallfortschreitungen enthält, erfordert weniger kognitiven Aufwand in der Verarbeitung als eine weniger leicht als Einheit wahrnehmbare Gestalt, die sich aufgrund ihrer fehlenden Prägnanz nicht als Prototyp auszeichnet. Auch hier sei vorausgesetzt, dass die Irritation durch die Randvertreter einer Kategorie groß genug ist, um ein Streben nach diversiver Exploration zu motivieren (dies kann selbstverständlich auch im Verlauf ein und desselben Stücks geschehen). »Cognitive« oder auch »Perceptual Fluency« bezeichnet ebenfalls die leichte Verarbeitbarkeit wahrgenommener Informationen sowie das Phänomen, dass beispielsweise eine geschriebene Aussage eher für wahr gehalten wird, wenn der Schrifttypus leichter zu entziffern ist.7 Sie ist außerdem Teil des Modells zur ästhetischen Urteilsfindung von Helmut Leder et al., das die kognitiven Prozesse der Kunstwahrnehmung in fünf Stufen unterteilt: perzeptuelle Analyse, implizite Gedächtnisintegration, explizite Klassifikation, kognitive Bewältigung und Evaluation.8 Auch dieses (für visuelle Kunst entwickelte) Modell basiert auf der Annahme einer ästhetischen Erfahrung, der ein neurophysiologisch bedingtes Belohnungsereignis inhärent ist, das wiederum als affek-

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Vgl. Eleanor Rosch, »Cognitive Reference Points«, in: Cognitive Psychology 7 (1975), S. 532547. Vgl. Rolf Reber, Norbert Schwarz, »Effects of Perceptual Fluency on Judgments of Truth«, in: Consciousness and Cognition 8 (1999), S. 338-342. Vgl. Helmut Leder, Benno Belke u.a., »A Model of Aesthetic Appreciation and Aesthetic Judgements«, in: British Journal of Psychology 95/4 (2004), S. 489-508.

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tiv positive Gemütsregung interpretiert wird.9 Der Verarbeitungsprozess der fünf Stufen umfasst also die sensorische Aufnahme, die anschließende Kontextualisierung des Sinneseindrucks anhand der individuellen Vorerfahrungen der Rezipient*in – hier können die oben genannten Verarbeitungsmechanismen der Kognitionswissenschaften auch auf unbewusster Ebene wirksam werden – und das bewusste Erkennen des Inhalts (Eigenschaften und Stil) als Resultat der vorangegangenen Abgleichung. In der Phase der kognitiven Bewältigung werden schließlich Bedeutung auf Objektebene erfasst und Verständnis auf Subjektebene generiert, während die Evaluation darüber stattfindet, ob die Bedeutungsfindung erfolgreich war. Leder spricht hier von einer Integration kognitiver und emotionaler Aspekte, die als ähnlich zu den Voraussetzungen für die ästhetische Schwelle bei Fechner zu verstehen sind. Eine ästhetische Emotion entsteht laut Leder also vor allem durch die Belohnungsreaktion einer erfolgreichen kognitiven Verarbeitung.

Die Perspektive der Musikphilosophie als Grundlage für erste Modelle In der Musikphilosophie werden ästhetische Erfahrungen und Urteile ebenfalls als komplexes Konstrukt betrachtet, das aus viel differenzierteren Dimensionen besteht als dem bloßen Gefallen oder der Orientierung an einer vermeintlich objektivierbaren Schönheit und dessen Definition stetigem Wandel unterworfen ist. Bei Schopenhauer beispielsweise wird der ästhetischen Erfahrung ein kontemplatives Element zugeschrieben, bei Adorno Momente der Erhabenheit und Erkenntnis und bei Kant zeigt sie sich als eine Art Verschmelzung rationaler und sensorischer Reaktionen, um nur einige der zahlreichen Theorien zu nennen, welchen man im Rahmen eines Artikels unmöglich gerecht werden kann. Doch diese Ansätze, so heftig sie sich auch gegenseitig kritisieren mögen, müssen sich nicht ausschließen. Martin Seel etwa differenziert das ästhetische Erleben auf Basis dieses komplexen Diskurses in verschiedene, mehrere Theorien vereinende Dimensionen: zum einen die Kontemplation oder das »bloße Erscheinen«, zweitens die Korrespondenz

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Vgl. Anne J. Blood, Robert J. Zatorre, »Intensely Pleasurable Responses to Music Correlate with Activity in Brain Regions Implicated in Reward and Emotion«, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 98 (2001), S. 11818-11823.

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oder das »atmosphärische Erscheinen«, und schließlich die Imagination oder das »artistische Erscheinen«.10 Auch hier, in der Philosophie, finden sich Theorien darüber, dass die ästhetische Wahrnehmung von Musik von nichtmusikalischen Parametern abhängig ist. Diese Thesen berücksichtigen nicht nur den zeitgeschichtlichen Kontext aus Kanon, musikalischer Vorbildung und Hörgewohnheiten, der zu einer diskurs- oder vertrautheitsabhängigen oder Wertschätzung führt, sondern beinhalten ebenso Überlegungen über die Art der Rezeption, der oftmals auch Annahmen über den musikalischen Bildungsgrad beigeordnet werden, wie beispielsweise in den Hörertypologien von Adorno, Rauhe, Besseler, Rochlitz und Behne. Der Musikschriftsteller Johann Friedrich Rochlitz unterscheidet auf amüsant polemische Art und Weise zwischen selbstdarstellerisch rezipierenden (ausschließlich männlichen) Kunstkennern und solchen, die Musik als affektiven Reiz gebrauchen, sowie solchen, die sie zur kontemplativen Reflexion verwenden.11 Auch Theodor W. Adornos Hörertypologie liegen als zentrale Unterscheidungskriterien musikalische Bildung und Anwendung von Musik (also in welchem Kontext Musik im Alltag zweckmäßig rezipiert wird) zugrunde.12 Hermann Rauhe integriert in seine Theorie erstmals auch die Hypothese, dass Persönlichkeitsmerkmale, Anwendung von Musik und musikalische Präferenz miteinander korrelieren.13 Ausgehend von diesem Ansatz wurde in der Musikpsychologie innerhalb der letzten 20 Jahre viel Forschungsarbeit geleistet, woraus u.a. das operationalisierte Testinventar zur »Anwendung von Musik im Alltag« hervorgegangen ist, welches es erlaubt, das Nutzungsverhalten von Musik introspektiv in fünf statistisch voneinander abgrenzbaren Dimensionen zu erheben und somit auch mit Präferenzen, Persönlichkeitsmerkmalen oder anderen interessanten Variablen zu korrelieren.14

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Vgl. Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, München: Hanser 2000, S. 148ff. Vgl. Friedrich Rochlitz, »Die Verschiedenheit der Urtheile über Werke der Tonkunst«, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 1 (1799), Sp. 497-506, hier Sp. 500f. Vgl. Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen, Reinbek: Rowohlt Verlag 1968, S. 15ff. Vgl. Hermann Rauhe, Hans-Peter Reinecke u.a., Hören und Verstehen. Theorie und Praxis handlungsorientierten Musikunterrichts, München: Kösel 1975, S. 132. Vgl. Richard von Georgi, Anwendung von Musik im Alltag. Theorie und Validierungsstudien zum »IAAM«, Marburg: Tectum 2013.

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Klaus-Ernst Behne unterscheidet beim Urteilen über Musik drei sich gegenseitig beeinflussende Ebenen: ein Sachurteil, ein Ich-Urteil und ein ManUrteil, denen nicht nur kontextuelle, sondern ebenso soziale und präferenzorientierte Motivationen zugrunde liegen.15 Insgesamt gelingt es ihm in seiner umfangreichen Sozialstudie mit 1224 Kindern und Jugendlichen zwischen 10 und 25 Jahren sowohl über verbale (allgemeines Urteil, z.B. über Genre oder Künstler*in) und klingende (konkretes Urteil über gehörtes Musikstück) Präferenzen eine statistische Kategorisierung in 40 Hörertypen vorzunehmen, unterscheidbar vor allem durch Präferenzen, Anwendungen von Musik sowie Eigenschaften der Versuchspersonen. Auch wenn seine Ergebnisse sich nach vier Jahrzehnten popkulturellen und gesellschaftlichen Wandels auf diese Art und Weise nicht mehr replizieren lassen und Behne seiner eigenen Typologie den Hinweis voranstellt, dass alle Typologien streng genommen falsch seien und »bestenfalls idealtypische Gültigkeit beanspruchen«16 können, lassen sich zumindest die signifikanten Häufigkeiten nicht leugnen, welche seine Theorie stützen, dass es unterschiedliche Motive gibt, aus denen heraus ein ästhetisches Urteil gefällt werden kann: das Man-Urteil, welches die Sozialisation des Subjekts zur Konsequenz und somit auch (extrinsische) Motivation hat, das Ich-Urteil, welches (intrinsisch) durch die Erfahrung des angenehmen Stimulus sowie durch Präferenzen motiviert ist, sowie das Sachurteil, welches durch Wertschätzung auf objektiver (distanzierter, sachlicher) Ebene, Hörgewohnheiten, Diskurs, musikalische Bildung etc. motiviert sein kann. Auch Renate Müller orientiert sich an Behnes Differenzierung und nimmt unter Bezugnahme auf philosophische Thesen (beispielsweise Kant und Bourdieu) eine Unterteilung in »kontemplativ-distanzierte« (Sachurteil; handwerkliche und performative Komponenten), »involviert-distanzlose« (Ich-Urteil; Bewegung von Körper und Seele) und »sozialästhetische« (ManUrteil; als Zwischenposition) Urteile vor. Trotz dieser nun differenzierteren und sowohl Thesen der Philosophie als auch der Psychologie einbindenden Gliederung verliert diese in der Datenerhebung an differenzierendem Potential dadurch, dass die erste Kategorie in Müllers Studien durch die Frage abgedeckt wurde, ob ein Stück »gut gemacht« sei, die zweite dadurch, ob ein Stück »gefalle«.17 Ersteres erhebt zwar, ähnlich wie die Frage nach 15 16 17

Vgl. Klaus-Ernst Behne, Hörertypologien. Zur Psychologie des jugendlichen Musikgeschmacks, Regensburg: Bosse 1986, S. 14ff. Ebd., S. 24. Vgl. Renate Müller, »Ästhetische Urteile als soziale Gebrauchsweisen von Musik. Theoretische und forschungsmethodische Überlegungen zur empirischen Ästhetik«,

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dem Gefallen, scheinbar ein objektives Werturteil, jedoch nicht die zugrundeliegenden Motivationen, aus welchen heraus das Urteil gefällt wurde. Letzteres erhebt zwar die klingende Präferenz, nicht aber das komplexe Konstrukt eines involviert-distanzlosen Ich-Urteils, welches sich der Theorie gemäß durch die potentielle Anwendung der Musik (z.B. zur Kontemplation oder Selbstregulation), im Moment des Hörens empfundene Emotionen, grundsätzliche Präferenzen und andere Variablen zusammensetzen könnte. Auch die oben erwähnte Differenzierung nach Martin Seel in Kontemplation, Korrespondenz und Imagination ist nur eingeschränkt mit diesem Ansatz vereinbar, beziehungsweise wirft diese Verknüpfung die Frage auf, ob es nicht doch mehr als drei Dimensionen der Urteilsbildung gibt oder geben muss, um möglichst viele Einflussfaktoren auf eben jenes Urteil abzudecken.

Operationalisierung eines mehrdimensionalen Urteils Die Komplexität der Theorien, die Lücken zwischen Theorie und Datenerhebung sowie die Absicht einer konfirmatorischen Analyse bezüglich der semantischen und statistischen Validität eines solchen Konstrukts zur statistischen Abgrenzbarkeit diverser Dimensionen aus zahlreichen Modellen dienten als Grundlage für die Entwicklung eines Motivationalen Inventars über Ästhetische Urteile (MIAU).18 Ziel dieses Projekts ist es, einen introspektiven Fragebogen zu entwickeln, der die verschiedenen Theorien über Dimensionen ästhetischer Urteilsprozesse der (Musik-)Philosophie und (Musik-)Psychologie für die Bewertung von Musik operationalisiert und mittels explorativen und konfirmatorischen Faktorenanalysen auf ihre statistische Trennbarkeit prüft. Mit anderen Worten: Bei der Beurteilung von Musik sind sicherlich mehrere Dimensionen wirksam, doch nicht immer alle gleichzeitig oder in gleichem Ausmaß, wodurch sich einzelne Statements korrelativ miteinander gruppieren lassen, was Aufschluss darüber geben kann, welches Statement welche

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Vortrag im Rahmen der Jahrestagung der Arbeitsgruppe Musiksoziologie der DGS, 5.10.2007, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, unpubliziertes Manuskript unter: https://www.ph-ludwigsburg.de/fileadmin/subsites/1c-sozi-t-01/AEsthetische_Urteile_als_soziale_Gebrauchsweisen_von_Musik_Renate_Mueller.pdf [letzter Zugriff: 31.1.2020] Vgl. Marik Roos, »MIAU-2D. Das motivationale Inventar für ästhetische Urteile über Musik in zwei Dimensionen«, 2019, DOI: 10.13140/RG.2.2.30214.01609.

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Dimension abbildet. Hierdurch kann anschließend induktiv eine Theorieanpassung auf Basis der tatsächlich voneinander abgrenzbaren Dimensionen geschehen und möglicherweise Aufschluss darüber geben, welche kognitiven und emotionalen Prozesse das Urteil motivieren. Darüber hinaus kann erschlossen werden, wie sich diese Dimensionen voneinander unterscheiden, um somit möglicherweise auch eine Anwendbarkeit des theoretischen Konstrukts und/oder der Forschungsergebnisse, die unter Verwendung des Fragebogens entstanden sind, für den musikästhetischen Diskurs zu schaffen. An den Punkten, an welchen sich also Ebenen der Wahrnehmung als statistisch voneinander unabhängig erweisen, lassen sich Rückschlüsse auf die Verarbeitung einer einzelnen Ebene ziehen (beispielsweise bezüglich kognitionswissenschaftlicher oder neurophysiologischer Modelle der Wahrnehmungspsychologie), um den Informationsgehalt dieser Ebene zu maximieren, sofern andere Einflussvariablen wie Präferenzen und Assoziationen kontrolliert erhoben werden. Hierbei ist es natürlich wichtig, dass das Inventar für möglichst viele Versuchspersonen sprachlich verständlich ist, aber trotzdem für alle dasselbe Konstrukt erfasst. Soll eine Theorie den Anspruch haben, im Rahmen der in der Population geltenden Verteilung valide Aussagen über die Rezeption von Musik zu treffen, birgt dies die methodische Herausforderung der Kommunikation über Musik. Den Rezipient*innen soll in keinem Fall die Fähigkeit zum ästhetischen Urteil abgesprochen werden, nur weil ihnen das Vokabular des Diskurses fehlt. Außerdem sollte das Inventar gemäß den ethischen Standards empirischer Forschung die Grenzen der Zumutbarkeit nicht überschreiten, also nicht zu komplex ausfallen, aber trotzdem alle nötigen Parameter erfassen. Bei der Erstellung des Inventars wurden zunächst sechs verschiedene Dimensionen der Urteilsbildung angenommen, also sechs Gruppierungen jeweils ähnlicher Motive zusammengestellt, aus denen heraus ein ästhetisches Urteil getroffen werden kann. Hierzu dienten als Grundlage die zwei Hauptdimensionen, die Müller aus den Theorien philosophischer und psychologischer Forschung über die urteilende Wahrnehmung von Musik extrahierte: ein »kontemplativ-distanziertes« sowie ein »involviert-distanzloses Urteil«.19 Als angenommene Subfaktoren dieser beiden Kategorien wurden die folgenden nach prominenten Theorien des Diskurses (s.o.) voneinander differenziert: 19

Müller, »Ästhetische Urteile als soziale Gebrauchsweisen von Musik«, S. 6.

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Kontemplativ-distanziertes Urteil (intellektuelle Verarbeitung) • objektives Wertschätzen • kognitiver Anspruch • Diskursabhängigkeit Involviert-distanzloses Urteil (emotional-affektive Verarbeitung) • affektive Bewegtheit • assoziative Korrespondenz • emotionale Korrespondenz In der Dimension »objektives Wertschätzen« werden Urteile über die Handwerkskunst, Virtuosität, Performanz u.a. zusammengefasst. Die Dimension »kognitiver Anspruch« fasst Urteile darüber zusammen, ob der Stimulus Fechners ästhetische Schwelle überschritten hat, also im für den Rezipienten befriedigenden Maße Aktivationspotential besitzt bzw. eine den Bedürfnissen des Rezipienten angemessene intellektuelle Herausforderung bietet. Die Dimension »Diskursabhängigkeit« fasst Urteile zusammen, die durch die Bekanntheit, eingeschätzte Wichtigkeit bzw. die Wertschätzung des jeweiligen Werks im jeweiligen kulturellen Kanon motiviert werden. In der Dimension »affektive Bewegtheit« sind Urteile darüber enthalten, in welchem Maße die Musik physische Reaktionen verursacht wie beispielsweise affektive Gemütsregungen positiver und negativer Valenz oder den Drang, sich zur Musik zu bewegen. Mit »assoziativer Korrespondenz« ist hier nicht die bloße Vertrautheit durch Hörgewohnheiten gemeint, sondern Urteile über die Musik, die durch persönliche Erinnerungen oder durch mit dem konkreten Werk verknüpfte Ereignisse motiviert werden. Die Dimension »emotionale Korrespondenz« beinhaltet schließlich diejenigen Urteile, die durch einen persönlichen Bezug zur Musik motiviert werden; es handelt sich dabei also um eine Art seelischer Kontemplation, eine Anregung zur Selbstreflexion, eine Identifikation oder das Sich-in-der-Musik-Verlieren bzw. -Wiederfinden. Das von Müller als Überschneidung zwischen dem Ich- und dem Sachurteil angenommene »sozialästhetische« Man-Urteil wird bei diesem Ansatz als teilweise die assoziative Korrespondenz (durch Sozialisation und Hörgewohnheiten) und teilweise das diskursabhängige Urteil beeinflussend angenommen. Gerade durch die bereits als extern kontrollierbare Einflussfaktoren genannten Störvariablen wie musikalische Bildung, Präferenzen, Sozialisati-

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on und Alter könnte das Man-Urteil sich auch statistisch als von der direkten Musikbewertung abgrenzbar erweisen und somit zwar zukünftig als zusätzlicher Einflussfaktor erhoben werden, allerdings als solcher, der als Mediatorvariable zwischen Stimulus und Urteil steht und durch seine Abgrenzbarkeit eine direktere Beobachtung der urteilenden Verarbeitung musikalischer Parameter ermöglicht. Der Einfluss von (sowohl direkten als auch indirekten, sich durch die Entwicklung der Musiktheorie und Kompositionsregeln ergebenden) Hörgewohnheiten wird im Sinne der vorgestellten kognitionswissenschaftlichen Konstrukte (»Mere Exposure«, »Cognitive Fluency« und »Prototypicality«) sowohl als mehrere Dimensionen beeinflussend, als auch grundsätzlich bei jeder Rezipient*in als unvermeidbar angenommen, der dem jeweiligen Kulturkreis, in dessen Tradition die zu bewertende Musik steht, sozialisiert ist. In jeder dieser Dimensionen wurden sechs bis sieben operationalisierende Items konstruiert, durch welche die introspektive Einschätzung des eigenen Urteils erfolgte. Für die Dimension »emotionale Korrespondenz« könnte ein Item beispielsweise wie folgt lauten: »Ich fühle, dass das Musikstück meine Persönlichkeit spiegelt«. Auch wenn bei der Erstellung des Fragebogens nicht der Anspruch erhoben werden sollte, dass eine »ästhetische Erfahrung« im Sinne einer transzendentalen Erfahrung, emotionalen Überwältigung oder Wahrheitserkenntnis in einer Laborsituation ausgelöst werden könnte, wurden der Vollständigkeit und aller Eventualitäten halber sechs zusätzliche Items konstruiert, welche genau dieses Erlebnis abbilden und kontrollieren sollten. Abgesehen von der Tatsache, dass die Versuchspersonen diesen Items nur wenig Zustimmung gaben, ließen sie sich auch statistisch nicht von den anderen Dimensionen abgrenzen. Die Versuchspersonen (N=216; 14-69 Jahre, M=30.41, SD=16.47) bewerteten in drei Studien verschiedene Musikstücke unterschiedlicher Gattungen und Genres anhand dieser Items auf einer siebenstufigen Skala und zusätzlich bezüglich ihrer subjektiven Einschätzung des ästhetischen, kulturellen und qualitativen Werts sowie in Bezug auf Anspruch der Musik, Verstehen, Vertrautheit und Gefallen. Außerdem gaben sie an, wie viel Hintergrundwissen sie über die Musik hatten und wie sie ihre eigene musikalische Bildung einschätzten. Zur Aufklärung der Anzahl, Trennschärfe und Konstellation der einzelnen Items in den jeweiligen Dimensionen wurden explorative und konfirmatorische Faktorenanalysen gerechnet, also eine statistische Analyse darüber an-

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gestellt, welche Urteile miteinander so korrelieren, dass sie in einer späteren Interpretation der Ergebnisse als aus einem ähnlichen Motiv heraus getroffen angenommen werden können. In der ersten Studie (N=47) konnte der Itempool aufgrund mangelnder Trennschärfe und schlechter Verteilung der Bewertungen bereits auf zwölf Items reduziert werden. Die explorative Faktorenanalyse ergab für die angenommenen sechs Dimensionen keine befriedigenden Ergebnisse. Auch die konfirmatorische Faktorenanalyse zur Prüfung der Annahme einer Zweidimensionalität aus kontemplativ-distanziertem und involviert-distanzlosem Urteil ergab für die angenommene Itemkonstellation zunächst kein befriedigendes Ergebnis. Nach Abschluss der zweiten und dritten Erhebung erwiesen sich jedoch acht der zwölf verbliebenen Items als trennscharf und normalverteilt. Die Dimensionen »assoziative Korrespondenz« und »Diskursabhängigkeit« ließen sich statistisch nicht von den anderen trennen und mussten somit aus dem Faktorenmodell eliminiert werden. Eine explorative Faktorenanalyse über die verbleibenden acht Items ergab zwei Hauptdimensionen mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von p