Wir heißen Euch hoffen!: Betrachtungen über den Sinn des Lebens
 9783111545608, 9783111177083

Table of contents :
Wilhelm Bousset
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Selig seid ihr!
Wir heißen Euch hoffen!
Die Einfachheit unserer Frömmigkeit
Vorsehung
Der Glaube
Die Kraft des Glaubens
Das Wunder
Gott in der Natur
Der Sinn des Lebens
Wer fein Leben gewinnen will, der wird es verlieren
„Es kann sich niemand etwas nehmen, es werde ihm denn vom Himmel gegeben."
Das rechte Vergessen
Wir schauen im Spiegel
Der Triumph des Geistes
Das Geheimnis des Kreuzes Christi
Don der Vergänglichkeit zur Herrlichkeit
Trost der Ewigkeit
Ewiges Leben
Ostern
Pfingsten
Advent
Weihnacht 1. 2. 3.
Jesus-Betrachtungen
1. Das Reich Gottes
2. „Er lehrt wie ein Berufener"
3. Jesus als Arzt
4. Jesus unter den Zöllnern und Sundern
5. Jesus und feine Jünger
6. Er jubelte auf im Geiste
7. „Feuer zu werfen, bin ich gekommen."
8. „Selig sind, die das Wort Gottes hören und halten."
9. Gott ~ Vater.
10. Gott - der Richter
11. Der gute Gott
12. Vergebung der Sünden
13. „ Liebet Eure Feinde."
14. „Wir sind Knechte"
15. Jesus und die Ehebrecherin
16. Der Weg zum Leben
17. „Die Weisheit behält recht in allen ihren Knechten."
18. „Wer nicht Vater und Mutter haßt, kann nicht mein Jünger sein."
19. Dom Aergernis-Geben
20. Passion
Berichtigung von Druckversehen

Citation preview

Wilhelm Bousset: Wir heißen Euch hoffen!

Wir heißen

Euch hoffen! Betrachtungen

über den Sinn des Lebens

von

Wilhelm vousset Herausgegeben von Marie Boirffet

1923

Verlag von Alfred Töpelmann in Gießen

Alle Rechte vorbehalten

Die Religion schafft uns

die Menschen,

die uns

hlnüberführen über diese schweren Zetten der Krisis und

der Verödung des menschlichen Daseins, Menschen, die

dann noch den Mut behalten, wenn auch die ganze Wett hinter ihnen zusammenbricht, Menschen, die das können,

weil sich ihr Herz nicht gehängt hat an die Kulturgüter als Höchstes und Letztes, und weil sie ihr „dos — moi

— pu — sto" außerhalb des kulturellen Daseins gefunden haben in der ewigen Wett ihres Gottes, und die deshalb

den ungeheuren Zusammensturz überdauern, der über sie und ihr Volk hereinbricht, Menschen, die dahkngehen und sich freuen, als freuten sie sich nicht, und weinen, als

weinten sie nicht, von denen es heißt: „Sie gehen hin und

weinen und streuen edlen Samen." (1911)

W. Bousset.

Wilhelm Bousset. Der vorliegenden Sammlung von Andachten W. Bouffets

ein Geleitwort mitzugeben bittet mich die Herausgeberin.

Nicht

etwa, weil es nötig wäre, das Büchlein durch ein empfehlendes Wort zu stützen: der Name des unvergeßlichen Verfassers trägt es durch eigene Kraft. Auch wohl nicht, um den Andachten eine Würdigung Bouffets voranzuschicken: dazu wäre hier nicht der

Ort,- ich hoffe für eine zusammenfassende Würdigung seines Lebenswerkes und seiner Persönlichkeit die Gelegenheit noch zu finden. Ich darf die Bitte der Herausgeberin dahin verstehen, daß sie für diese Veröffentlichung, die in das allerpersönltchste

Leben ihres Gatten hineinführt, ein persönliches Wort von einem haben möchte, der ihm nicht

in seiner wissenschaftlichen Arbeit wohl am nächsten stand, sondern ihm gerade auch per­ nur

sönlich durch eine langsam gewachsene, nie getrübte Freundschaft eng verbunden war, die für den Heimgegangenen wie für ihn selbst zu den köstlichsten Lebensgütern gehörte. Wer Wilhelm Bousset nur oberflächlich kannte, etwa das

eine oder andere wissenschaftliche Werk gelesen oder gar nur von ihm gehört hat als dem .rücksichtslosen" oder „radikalen" Kritiker, mag verwundert sein ihm hier als Verfasser von An­ dachten zu begegnen. Nicht, wer einmal einen unmittelbaren Eindmck von ihm selbst erhielt oder auch nur eins seiner Be-

kenntntsbücher wie „Jesus" oder „Unser Gottesglaube" las. Dieser Sohn des Lübecker orthodoxen Pfarrhauses, der in Er­ langen und Leipzig die erste theologische Ausbildung suchte, dann aber von A. Ritschl entscheidend beeinflußt wurde, um schließ­ lich auch über diesen Führer hinauszuwachsen und seine eigenen

Wege zu gehen, war durch und durch Theologe, Theologe in dem Slnne des allen Wortes: pectus facit theologum, das Herz

schafft den Theologen. Bouffets ganzes reiches Lebenswerk als Gelehrter, Forscher, Dozent und Politiker wurzelt mit allen Fasern

kn lebendigem evangelischen Christentum. Wenn er als Forscher und Lehrer sich durch keinerlei dogmatische Schranke hemmen ließ, wenn er scharfe, ost leidenschaftliche Krklik an der Kirche, ihrer Lehre und prarks übte, er tat es aus innerem Zwang, der herausgeboren war gerade aus der Liebe zu evangelischem Christentum. Wenn er die harten Enttäuschungen, welche, die

akademische Laufbahn ihm brachte, wenn er die unerhörte Zurück­ setzung, die ihm wegen seiner mutigen theologischen und poli­ tischen Stellungnahme widerfuhr [erst dem Fünfzigjährigen öffnete sich die Tür zu einer ordentlichen Professur — außerhalb Preußens) ertrug, ohne sich kn seinem Wege beirren zu lassen, ohne in seiner Arbeitsfreudigkekt zu erlahmen, ohne bitter und zum Menschenverächter zu werden: die Kraft dazu und der un­ gebrochene Mut flössen ihm auS dem tiefliegenden Quell lebendigen Glaubens. Ob er in schnellem Fluge die weiten Gebiete der

Reltglonsgeschichte durcheilte, ob er in zuversichtlicher Entdecker­ freude neue Wege suchte in seinem eigensten Arbeitsgebiet, der Geschichte des Urchristentums, ob er mit einer für seine stürmische Art fast unbegreiflichen Geduld verwickelten Problemen der Textkritik nachgtng oder einer entlegenen literarischen Frage, ob

er mit staunenswerter Energie in das von Haus aus ihm fremde und nicht bequem liegende Feld der Reltgkonsphilosophke ein­ drang, oder seine glänzende Redegabe und seine organisatorische Begabung als national-sozialer und demokratischer Politiker in den Dienst der sozialen und politischen Gesundung des Vater­ landes stellte: Einheit und Stoßkraft fand sein mannigfaltiges

und vielseitiges Tun in dem Ewkgkeltsgehalt seiner Seele.

Nur daß er nicht viel und leicht davon redete. Seine Frömmigkeit war keusch und zurückhaltend. 3m allgemeinen von einem ungewöhnlichen Drang sich mttzuteilen beherrscht, scheute

er das Sprechen über das Geheimnis des inneren Lebens. 3n unserer engen Freundschaft, in der es ihm Bedürfnis war, mit

VIII

mir alles zu teilen, hat er in vollem Einverständnis mit mir diese letzten Dinge immer nur mit großer Zurückhaltung berührt. Nur wo er die Pflicht zu helfen empfand, öffnete er in Rede

und Schrift das Geheimfach seiner Seele. Freudig, gesund, kernhast, männlich, wie er selbst, war die Frömmigkeit, die da sichtbar wurde. Schlicht, einfach, un­ kompliziert, im besten Sinne naiv wie sein ganzes Wesen. Bei aller Fähigkeit sich in die verschiedensten Formen der Religion

einzufühlen, schob er für sein eigenes religiöses Leben die ver­

wickelte, ost überreizte und ungesunde religiöse Problematik der heutigen Generation beiseite. Fremd war seiner Frömmigkeit alles rein gefühlsmäßige und weichliche, alles forcierte, alles genießerische und quietistische Wesen. Die Mystik im eigentlichen

Sinn kannte fle nicht. Bouffet war eine durch und durch sitt­ liche Natur. Und so drängte seine Frömmigkeit zum Handeln und zur Betätigung. Erlösung war auch ihm das Wesen des

Christentums, aber Erlösung zu höherem Leben und zum Hinaus­ wachsen über sich und die Welt. Das Leben in und mit Gott war ihm eine Macht, das Leben in der Welt zu überwinden, es mutig und fest zu packen und zu gestalten, das Geschick zum Schicksal zu formen. Bei dem Geschehenen und Vergangenen, fei es im äußeren oder im inneren Leben, zu verweilen war nicht

seine Art. Seine Losung hieß: vorwärts I Die klare, herbe Höhenlust der predigt Jesu, die den Willen packt und ihm viel zumutet, war die Lebenslust seiner Frömmigkeit. Der Paulus war sein Führer, der das Wort schrieb: „Ich vergesse was da­ hinten ist, und strecke mich zu dem was vorne ist.' Kurz,

das Herz seiner Frömmigkeit war „Glaube', Vertrauen, geboren aus der Verankerung in dem Gott, der schafft und wirkt und

die Menschen als feine Werkzeuge will, und daraus hervor­ quellend unermüdliches Arbeiten, ungeteilte Hingabe an Gottes Willen und die gottgewollten Aufgaben in Volk und Staat. Doch der Leser nehme selbst und lese!

Die Andachten

stammen aus den Jahren 1902 und 1909. Inzwischen ist der Weltkrieg über uns gekommen, der Zusammenbruch von Staat und Polk, der Friede, der kein Friede ist.

Und im Augenblick,

wo ich dieses Geleitwort schreibe und einmal wieder stille Zwie­ sprache mit dem Heimgegangenen Freunde halte, lastet die Sorge um die Zukunft unseres Volkes und aller einzelnen schwerer und

drückender als je zuvor auf uns. Die Ratlosigkeit hat ihre Höhe erreicht, Hoffnung scheint Vermessenheit zu sein. Was sollen

uns jetzt diese Andachten, die aus einer so ganz anderen, äußer­ lich so viel glücklicheren Zett stammen? Und ist nicht auch unsere innere Einstellung vielfach eine andere geworden? Ganz gewiß!

Aber auch jetzt, grade jetzt haben diese Andachten uns viel zu

sagen. Das Evangelium ist unveränderlich — und dieses Evan­ gelium lebt in diesen Blättern. Und es lebt in diesen Blättern

der Geist, der, wenn überhaupt etwas, uns allein befähigen kann, dürch das Dunkel der Zetten hindurchzukommen und neue Wege zu finden, der Geist des »Glaubens", des in Gott ver­ ankerten, in Gott geborgenen Vertrauens, und der heiligen Tntschloffenhett, in dem von Gott gelenkten Geschehen unser Schicksal zu wollen und zu gestalten. Mit Recht hat die HerauSgebertn als Ueberschrkst der Sammlung das Goethewort gewählt:

»Wir

heißen euch hoffen."

So möge das Büchlein seinen Weg gehen und Gott diesen Weg segnen! Bonn, am 28. Oktober 1922.

Wilhelm Heilmüller.

X

Vorwort. Den Worten des Freundes fei nur weniges hinzugefügt. Einige Daten aus dem äußereren Lebensgang des Heim­

gegangenen Verfassers der Andachten werden vielleicht manchem

Leser willkommen sein. Wilhelm Bousset wurde am 3- September 1865 zu Lübeck als ältester Sohn des Pastors der dortigen St. Lorenzgemeinde geboren. Tr besuchte das Gymnasium seiner Vaterstadt und ging als Achtzehnjähriger auf die Universität, nach dem Vor­

bild seines Vaters sich dem Studium der Theologie zuwendend. Nach wenigen Semestern in Erlangen und Leipzig wurde ihm Göttingen, wohin ihn die Persönlichkeit Ritsch l's zog, zur eigentlichen geistigen Heimat. Er habilitierte sich hier 1890, und nachdem er hier 1896 zum außerordentlichen Professor ernannt war, blieb Göttingen auch die Hauptstätte seiner beruflichen Wirksam­ keit. Erst nach 25 jähriger Dozententätigkeit verließ er sie, einem Rufe als Ordinarius nach Gießen folgend. Nur 4 Jahre des Wirkens sollten ihm hier beschieden sein, denn am 8. März 1920 machte ein Herzschlag seinem Leben ein jähes und uner­ wartetes Ende. Die in diesem Büchlein gesammelten Andachten wurden in den Jahren 1901/02 und 1909 für die »Kirchliche Gegenwart", Gemeindeblatt für Hannover, geschrieben, nur eine Betrachtung stammt aus dem Jahre 1912. Sie sind nicht

nach der Zeitfolge, sondern, so weit es angängig schien, dem Zusammenhänge nach geordnet und Betrachtungen verwandten Inhalts neben einander gestellt. Wenn sie jetzt einem größeren Kreise zugänglich gemacht werden, so geschieht es irt der Hoffnung,

daß sie in dieser Zeit religiösen Sehnens und Umherirrens manchem Suchenden Klämng, Stärkung und Trost bringen werden.

Göttingen, am 1. November 1922. Marie Bousset.

Inhaltsverzeichnis. Sette Wilhelm Bouffet's elgne Worte als ^otto"............................................... V Geleitwort von Wilhelm Heitmüller..............................................................VI Vorwort von Marie Bouffet.............................................................................. X Selig seid ihr! 1 Wir heißen Euch hoffen!................................................................................... 3 Die Einfachheit unserer Frömmigkeit............................................................... 5 Vorsehung.............................................................................................................. 8 Der Glaube....................................................................................................... 10 Die Kraft des Glaubens.................................................................................. 12 DaS Wunder....................................................................................................... 14 Gott in der Natur.............................................................................................18 Der Sinn des Lebens....................................................................................... 21 Wer sein Leben gewinnen will, der wird eö verlieren............................... 23 Es kann sich niemand etwas nehmen, eS werde ihm denn vom Himmel gegeben............................................................................................ 25 Das rechte Vergessen ......................... 27 Wir schauen im Spiegel.................................................................................. 29 Der Triumph des Geistes.................................................................................. 31 Das Geheimnis des KreuzeS Christi............................................................. 33 Von der Vergänglichkeit zur Herrlichkeit........................................................ 35 Trost der Ewigkeit............................................................................................ 37 Ewiges Leben.......................................................................................................40 Ostern ............................... 42 Pfingsten ............................................................................................................ 44 Advent................................................................................................................. 47 Weihnacht 1. 2. 3 49, 51, 53

Jesus-Betrachtungen. 1. 2. 3. 4.

Das Reich GotteS....................................................................................... 55 Er lehrt wie ein Berufener........................................................................58 Jesus als Arzt.............................................................................................60 Jesus unter den Zöllnern und Sündern................................................... 62

XII Sette 5. Jesus und seine Jünger................................................................................... 64

6. Er jubelte auf im Geiste................................................................................... 66

7. Feuer zu werfen, bin ich gekommen............................................................. 69 8. Selig sind, die das Wort Gottes hörenundHallen...................................... 71

.

9 Gott — Vater.........................................................................................'

73

10. Gott — der Richter......................................................................................... 75 11. Der gute Gott.................................................................................................... 77

12. Vergebung der Sünden

....................................................................................79

13. Liebet Eure Feinde.............................................................................................. 82 14. Wir sind Knechte...............................................................................................84 15. Jesus und die Ehebrecherin..............................................................................86

89

16. Der Weg zum Leben........................................................

17. Die Weisheit behält recht in allen

ihrenKnechten..................................91

18. Wer nicht Vater und Mutter haßt, kannnichtmein Jünger sein

19. Vom AergerniS-Geben

.

93

................................................................................... 95

20. Passion.....................................................................................................................98

Selkg seid ihr! »Selig seid ihr* — die Erinnerung hat kn unsern Evan­ gelien den Moment festgehalten, in welchem Jesus mit diesem wunderbaren Ruf unter die Menge des armen Volkes in Galtlaea getreten ist. »Selkg seid ihr", wir denken an dteö arme, unter der Fremdherrschaft seufzende, von harten Herren bedrückte, von räuberischen Rotten ost in seinem Dasein bedrohte, hart arbeitende Volk von galiläischen Bauern, Fischern und Hand­ werkern. Wir meinen ihre von Sorgen durchfurchten Gesichter, auf deren Stirn noch der Schweiß rinnt, ihre hageren, von dürftiger Kleidung bedeckten Glieder, ihre vom Weinen und ver­ geblichem Hoffen trüben Augen noch vor uns zu sehen. Und dennoch »selig seid ihr" — wir empfinden die gewaltige Para­ doxie dieses Wortes. »Selig seid ihr", mit diesem Wort trägt Jesus die Seelen seiner Hörer hoch hinauf über alles Erdenglück und Erdenweh. Es gibt etwas viel Höheres und Mächtigeres, etwas, woran irdisches Geschehen nicht rühren, was irdische Ereignisse nicht mehren und mindern können: Seligkeit. Und diese Seligkeit ist etwas greifbar Gegenwärtiges. Was Jesus diesen Armen verheißt, daß das Reich ihnen gehören, daß all ihr Hungern und Dursten gestillt, ihr Weinen und Klagen getröstet werden soll, das liegt noch in der Zukunft. Und trotzdem heißt es: Selig seid ihr. Warum konnte Jesus mit so sicherer und starker Kraft die Seligkeit seinen Hörern inS Herz hineknstrahlen? Wir wissen es: was hinter seiner Botschaft stand, war die Gewißheit von dem gegenwärtigen Gott. Zwar verkündete er, den Gedanken seiner Zeit folgend, zunächst nur, daß Gott, GotteS Herrschaft sehr bald kommen solle, aber eben hinter dieser Botschaft stand für ihn mit unmittelbarer Selbstgewißhett die Ueberzeugung von der greifbaren Nähe des gegenwärtigen Gottes. Und das ist nun das für alle echte Frömmigkeit und wahres Gottempfinden Eigne und Charakteristische: ein ganz Bousfet 1

neues, eigenartiges Lebensgefühl, das in die Seele tritt. Wir nennen es Seligkeit, wir sagen damit, daß es in einer ganz anderen Sphäre liegt, als alle irdische Freude. Es ist das Be­ wußtsein von etwas Höherem, Ueberwältigendem, etwas ganz Starkem und doch wieder Feinem und Zartem, das unsere Seele füllt. Es ist, als ob bei einer Alpenwanderung die vor­ liegenden niederen Gipfel sich fortschteben und wir plötzlich an­ gesichts der Kette der in Schnee und Eis erstarrten glänzenden Bergriesen stehen und unsre Seele in Ehrfurcht ahnungsvoll erschauert. Es ist, als träfen Glockentöne aus der Höhe in feierlichem Schwünge unser Ohr und trügen uns hoch hinüber über das Gewühl irdischen Lebens. Es gibt mehr als Glück, es gibt Seligkeit. »Freuet euch in dem Herrn allewege und abermals sage ich: freuet Euch." Und zu dieser Freudigkeit und Seligkeit tritt dann noch ein zweites hinzu: ein inneres Bedürfnis, das köstliche Gut andern mitzuteilen. Sehen wir nicht in den Evangelien, wie es Jesus dringt und zwingt, den Besitz, den er kn seiner Seele birgt, wekterzugeben, wie es aus ihm mit Gewalt herausbrtcht: »Selig seid ihr"?! Die in der Seele gespürte Freude will überströmen, das einzelne menschliche Herz ist zu klein für sie. Wenn wir die Seligkeit der Gottesnähe empfinden, dann ahnen wir zugleich etwas von dem Band, das alle irdischen Geister umschlingt, von dem einen großen, heiligen Liebeswillen Gottes, der die Menschen zur Gemeinschaft ruft,- dann treibt es uns, mitzuteilen und zu geben von dem Besten, was wir haben. Und das ist das Beste, daß wir wissen: Es gibt eine Freude, die hoch erhaben ist über alles irdische Geschehen in Zeit und Raum, es gibt Seligkeit. Selig seid ihr, denn ihr dürft und sollt selig sein.

(1909).

Wir heißen Euch hoffen! Matth. 5, 8. Selig sind, die reineHerzen- sind, denn sie werden Gott schauen. Wenn die jüdischen Frommen zu Jesu Zett an die Zukunft dachten, so war es ein verworrenes Vielerlei von Stimmungen, das sich ihnen aufdrängte. Es ist wahr, auch sie hofften auf eine Zeit, in der Gott sich seinem Volke wieder zeigen und bet ihm wohnen wollte und die Frommen ihn schauen sollten, aber sie hofften auf so Vieles anderes daneben. Sie dachten an die Herrlichkeit ihres Volkes und die Herrschaft über die Heiden, sie träumten von einem Jerusalem mit goldenen Zinnen und Toren von Edelstein, vom herrlichen König auf Davids Thron, dem die Heiden Tribut bringen sollten, von immer grünen Matten und immer fließenden Quellen, von großem Reichtum und großen Ehren, von einem Leben gleich einem Hochzektsfeste. Jesus hat den Frommen nicht gesagt, daß diese Hoffnungen falsch seien, er hat dann und wann selbst einen dieser Hoffnungs­ gedanken angeschlagen. Aber im großen und ganzen läßt er in seiner predigt von der Zukunft alle jene Nebentöne zurücktreten und schlägt mit aller Stärke den einen Grundton an: Selig sind, die reineS Herzens sind, denn sie werden Gott schauen. Und dieser Grundton klingt nun weiter im neuen Testament. Wenn Paulus an die selige Zukunft denkt, so läßt er seine Gedanken in das Wort ausmünden: Auf daß Gott sei alles in allem (1. Kor. 15, 28). „Wir werden ihm gleich sein, denn wir werden ihn sehen, wie er ist", sagt der Verfasser des ersten Iohannekschen Briefes in seiner geheimnisvollen, mystischen Weise. „Gott schauen", was hat das Wort für einen geheimnis­ vollen, unergründlichen, tiefen, und dennoch trauten Laut. Gott schauen, — ja wir sehnen uns danach, Gott zu schauen. Wir sehen so wenig von ihm, die dichte Hülle der Welt und ihrer bunten Erscheinungen deckt ihn vor unseren Augen. Und je mehr wir Menschen unser Leben scheinbar so sicher gründen aus den Boden dieser Welt, je mehr wir aus den Bausteinen, die sie uns liefert, unser Leben aufbauen zu einem kunstvollen, mäch­ tigen, reichgegliederten, schöngeschmückten Bau, desto schwerer

wird es uns, die Hülle zu zerreißen und etwas vom Wesen Gottes zu schauen. Vor dem Lärm des Tages scheint Er zurück zu weichen, kn dem Gewühl und Gewirr des geschäftigen Lebens hören wir Seine Stimme nicht mehr. Doch fühlen wir uns nicht wohl dabei, nicht dauernd befriedigt, denn des Menschen Seele ist auf Gott angelegt, sic bleibt unruhig und sehnsuchts­ voll in dieser Weltlichkeit, des Menschen Seele dürstet nach Seligkeit. Aber in manchen Augenblicken unseres Lebens ahnen wir etwas, was es heißt, Gott zu schauen. Der eine hat's so und der andere anders empfunden. Vielleicht, wenn Du allein am Meere standest und die Wellen kamen und gingen im ewigen Spiel und Du fühltest Dich so einsam und klein, so verlassen und fremd der großen Wasserwüste gegenüber, dann ist es über Dich gekommen wie ein Hauch des Geistes aus einer anderen Welt, Du fühltest Dich von der warmen Welle eines großen Lebens umfaßt, getragen, und was Du vor Dir sähest, war nicht mehr das in seiner Majestät fremde, unheimliche Natur­ element, sondern das Spiegelbild der ewigen, lebendigen Herr­ lichkeit Deines Gottes, die Dich umgab. Oder Du hast hinein­ schauen dürfen kn das Leben eines großen und guten, vom Geiste Gottes getragenen Menschen, und Dein Geist ist ruhig geworden, mit sanften Flügclschlägen emporgetragen in Höhen, die Du kaum ahntest. — Wann es auch gewesen sein mag, wir haben alle etwas gespürt von dem, was der Dichter singt: „Ich hab' von ferne, Herr, Deinen Thron erblickt". Dann aber lauschen wir mit Wonne auf das traute wunderbare Wort Jesu: „Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen". Selig sind, die reines Herzens sind, das wollen wir nicht vergessen. Zum Gottschauen gehören geistige Organe, die Gott zu schauen vermögen, die werden uns nicht geschenkt, die sollen wir uns hier auf Erden erarbeiten. Und nicht auf Wissen und Erkennen und allerlei Können komint es an. Gott ist gut, wer ihn schauen will, nuiß km Guten sich üben. Nur einem hellen Sinn und einem reinen Herzen gibt Gott sich zu schauen. Doch rufen von drüben Hier winden sich Kronen Die Stimmen der Meister, In seliger Stille, Die Stimmen der Geister: Die sollen mit Fülle Vergeßt nicht zu üben Die Tätigen lohnen, Die Kräfte des Guten. Wir heißen Euch hoffenl (1902).

Die Einfachheit unserer Frömmigkeit. Mich. 6, 8. Es ist dir gesagt, o Mensch, was frommt und was Gott von dir fordert: Nur Gerechtigkeit üben und Liebe erweisen und demütig wandeln vor Deinem Gott.

Es ist noch heute die Neigung weit unter uns verbreitet, kn der Frömmigkeit etwas ganz Besonderes zu sehen, etwas dem gesamten sonstigen Wesen des Menschen möglichst Fremdartiges, etwas Kompliziertes unö schwer Erreichbares und wiederum so Feines und Zartes, daß es ängstlich hinter verschlossenen Wänden behütet und bewahrt werden muß. Der heute herrschenden pietistisch-orthodoxen Frömmigkeit eignet, da wo sie noch echt ist, dieser Charakter in ausgesprochener Weise. Sie stammt ihrem Wesen nach aus der Erweckungsperiode der Mitte des vorigen Jahrhunderts. 2n dieser Erweckungszeit geschah es, daß die Auffassung wieder besonders stark hervortrat, lebendige Religion sei der Besitz kleiner und besonderer Kreise der Auserwählten und Bekehrten, die sich mit ihrem Bewußtsein von Bekehrung und Erleuchtung, mit ihren Bußkämpfen und der überschwäng­ lichen Freude an der Gnade kn schroffem Gegensatz gegenüber der „Welt" ringsum fühlten. Es war Treibhausatmosphäre mit ihrer künstlich erzeugten Wärme, ihrer Enge und Abgeschlosfenheit von Lust und Licht, in die man die Pflanze des religiösen Lebens versetzte. Und daß sie sich in dieser Atmosphäre nicht kn feder Beziehung günstig entwickelte, sondern vielfach willkürlich wucherte, mag man z. B. aus der vortrefflichen Schilderung jener Zeit in Hausraths schöner Biographie von Richard Rothe ersehen. Aber auch in die wissenschaftliche Betrachtung der Religion ist in unsern Tagen eine Tendenz gekommen, das Wesen der Frömmigkeit möglichst aus ihren heftigsten und aufgeregtesten Erscheinungen zu entnehmen. Sie erscheint den Psychologen da am echtesten, wo sie beinahe an das Krankhaste streift. Ekstase und das Schauen himmlischer Gesichte, plötzliche Erleuchtungen, wunderbares Wissen und Hellsehen, Bußkrämpfe iint> unter Er­ schütterung des ganzen leiblichen Organismus sich vollziehende Bekehrung will man sehen,- wo sich diese Erscheinungen nicht finden, geht man gleichgültig vorüber.

Gegenüber allen diesen Tendenzen und Stimmungen wirkt dieses Prophetenwort in seiner Schlichtheit und Größe wie ein gesundes Stahlbad. Es weht darinnen die starke und frische Luft echter Frömmigkeit. „Es ist Dir gesagt", beginnt der Prophet. Er will uns lehren, so wie Jesus es dem reichen Jüngling sagte: Wenn Du fromm fein willst, begib Dich nicht auf die Jagd nach etwas Neuern, Absonderlichem und Unerhörtem. Es ist Dir schon gesagt. Schau in Dein Inneres, schau in die Tiefen Deines eignen gottgegebenen Wesens. Dort auf dem Grunde Deiner Seele findest Du von Gottes Hand eingeschrieben, was fromm sein heißt. „O Mensch" fährt der Prophet fort. Es ist fast, als ob er sich hier über die Grenzen seiner eignen Bedingtheit hoch er­ heben wollte. Er redet hier nicht den einzelnen Israeliten, das Volk Israel an, er wendet sich zu dem Menschen. Frömmigkeit ist nicht das ausschließliche Erbteil kleiner auserwählter Kreise,was sie fordert und was sie geben will, geht den Menschen an. Das meinte auch der große Kirchenvater, als er sein Wort von der anima naturaliter christiana sprach. „Was frommt und Gott von Dir fordert". Wir achten auf beides, was der Prophet uns hier sagen will. Frömmigkeit ist Gabe und Aufgabe, Gnade und Forderung in einem. Frömmigkeit frommt, sie ist Vollendung und Krönung mensch­ lichen Wesens,- ja mehr als das, sie ist Fundament und Zentrum. Menschenwesen müßte zerflattern und vergehen, wenn es nicht in lhr seine Zusammenfassung und seinen Halt fände. Sie ist Gabe und Gnade. Aber zugleich auch strenge Forderung Gottes. Der Mensch soll sich vollenden, indem er sein Herz zu Gott erhebt,- er soll die Tiefen seines eignen Wesens bejahen und sein Leben auf den Felsen der Frömmigkeit bauen. Wehe ihm, wenn er es nicht tut, es handelt sich um Vernichtung oder Erhaltung seines Lebens. „Nur Gerechtigkeit üben und Liebe erweisen". Fromm sein äußert sich im Gut-sein und nur darin. Und vor uns er­ heben sich die beiden großen Forderungen des sittlich Guten in ihrer ganzen Majestät. „Gerechtigkeit üben." Du sollst wissen, daß Du nicht allein bist in Deines Gottes Welt. Du sollst den andern, den Gott in seiner Art neben Dich gestellt hat, neben Dir gelten lassen und ihm an Rechten geben, was Du von ihm für Dich forderst. Das aber tuts noch nicht allein. Für den, der fromm ist, stehen die einzelnen Menschen nicht mehr losgelöst neben einander. Es schlingt sich um sie ein Band der Gemeinsamkeit, das Band des großen und guten

göttlichen Willens, der auf das Endziel eines Reiches der Geister gerichtet ist. Diesem Willen Gottes folgen wir, an seinem Reiche bauen wir, wenn wir Gemeinschaft halten und Liebe üben. »Und demütig wandeln vor Deinem Gott". Gut-sein aber hat seine tiefsten und eigentlichsten Wurzeln km Fromm­ sein. Wenn wir uns ernstlich kn die Welt des Sittlichen ver­ tiefen, erhebt sich hinter ihr deutlich erkennbar der majestätische heilige Wille Gottes, ja Gottes Wesen selbst. Wir aber beugen uns in dein bedrückenden Gefühl, das; wir täglich und stündlich weit Zurückbleiben hinter den heiligen Forderungen unseres Gottes, in Ehrfurcht vor ihin. Und fassen doch wieder den Mut, daß er uns trotz allem haben will zu Mitarbeitern an seinem Werk. »Und demütig wandeln vor Deinem Gott". Die wahre Frömmigkeit ist von einer majestätischen Ein­ fachheit. Es scheint aber uns nicht leicht zu werden, das Ein­ fache einfach zu nehmen. Wir treiben gern viele Künste. Der allmächtige Gott schenke uns den Sinn der Schlichtheit und Einfachheit. (1909).

Vorsehung. Röm. 8, 28. Wlr wissen, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen.

Fast keine religiöse Frage bewegt so weithin die Gemüter wie die nach der göttlichen Vorsehung. Sie beschäftigt fortge­ schrittene Christen, sie drängt sich namentlich allen denen auf die Lippen, die eben wieder beginnen, ihr Interesse religiösen Fragen zuzuwenden. Wenn ein Gott ist, warum gibt es soviel Unglück und Mißgeschick in der Welt? So fragen solche, die gern glauben möchten, so spotten auch die Spötter. Und ein furcht­ bares Maffenunglück wie das von Messina ruft auch i» unsern Tagen eine ganze Flut von Literatur, von gutgemeinten Lösungsversuchen dieses Rätsels hervor. Es gibt eigentlich nur eine Antwort, nämlich die, daß die ganze Frage falsch gestellt sei: „Wenn ein Gott ist, warum gibt es so viel Unglück in der Welt?" Um die Torheit dieser Frage ans Licht zu stellen, genügt die eine Gegenfrage: Was ist eigent­ lich Glück, und was ist Unglück? Ist Leben unter allen Um­ ständen ein Glück? Kann nicht auch der Tod ein Erlöser und Befreier sein? Ist Gesundheit unter allen Umständen ein Glück? Ist es nicht denkbar, daß selbst schwere Krankheit für einen Menschen heilsam sein kann? Ist Schande vor den Menschen immer ein Unglück, kann nicht die Dornenkrone ein Ehrenkranz sein? Ja, bist du, wenn du in dein Leben schaust, imstande, mit Sicherheit zu erkennen, ob ein äußeres Ereignis für dich Glück oder Unglück bedeute? Hast du nicht erleben müssen, daß du dich sehr ost in deinem Urteil getäuscht hast? So unheilvoll das Pilatuswort ist: „Was ist Wahrheit?", so berechtigt und heilsam ist der Zweifel gegenüber der Frage: Was ist Glück? Und an einen so unsicheren Gegenstand willst du die Entscheidung binden über das, was dir das Allergewisseste sein soll, die Existenz des allmächtigen Gottes? Der Apostel führt uns hier einen ganz anderen Weg, der zur Klarheit und wirklichen Einsicht führt. Er sagt wörtlich: Wir wissen, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge „zum Guten dienen" müssen. Luther hat frei aber vortrefflich über-

setzt „zum Besten dienen". Darum handelt es sich, wenn wir an Gott denken, daß er uns zum Guten führe — nicht zum Glück —, daß alle Dinge uns zum Besten dienen. Was aber ist das Gute, das Beste? Der Apostel sagt es uns, indem er fortfährt: „Denen, die nach dem Vorsatz (Gottes) berufen sind." Und er denkt dabei, wie aus dem Folgenden hervorgeht, an die Berufung zum ewigen Ziel. Das ist das Beste in unserm Leben, daß wir unsere ewige Bestimmung in ihm finden. Wir sollen aus der Welt des Scheines und der Täuschungen zur letzten Wirklichkeit hindurchdrtngen, aus dem in Raum und Zeit zerstreuten Dasein uns sammeln zur Einheit des Lebens in Gott, aus der Gebundenheit an die niedere Welt der Sinnlichkeit und ihrer Triebe zur Freiheit der Kinder Gottes, aus der Zeit in die Ewigkeit. So überwindet der Apostel in stolzer Sicherheit alle Zweifel und Unsicherheiten, die auf unserm Leben lasten. Wir wissen, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen. Der Apostel weiß es, alle Ereignisse, die aus der äußeren Wirklichkeit an uns herandringen, müssen uns dienen. Denn sie stammen alle aus dem einen allmächtigen Willen des lebendigen Gottes, der uns unser Ziel setzte rind eine Welt er­ schuf uns zu Dienst. Freilich eine Bedingung fügt er hinzu: denen, die Gott lieben, sollen alle Dinge zum Besten dienen. Eins müssen wir können und verstehen, wir müssen die Dinge und Ereignisse, die an uns herantreten, so nehmen, wie sie ge­ meint sind, wir müssen aus ihnen Gottes Willen an uns heraus­ hören. Dazu bedarf cs keines Wissens und keiner künstlich er­ worbenen Fertigkeit, dazu ist nur eines erforderlich, daß wir Gott lieben. Die Gottcslkebe macht unsern Blick hell und scharf, den Weg zu sehen, den Gott uns weist, und unser Wollen stark, ihn mit ganzer Kraft zu wandeln. Je mehr wir das lernen, desto mehr schwindet die Frage nach Glück und Unglück unseres Lebens. Wir kennen dann einen tieferen Sinn und einen höheren Wert unsres Daseins.

(1909).

10

Der Glaube.

Der Glaube. Hebr. 11,1. Es. ist aber der Glaube eine gewisse Zuversicht dessen, was man hofft, eine Ueberzeugung von Dingen, die man nicht sieht.

Einer alten oder doch immer mehr veraltenden Art religiösen Fragens und Forschens war es eigentümlich, mit der Frage zu beginnen: Wer ist Gott, wie können wir sein Dasein beweisen, wie lassen sich die Geheimnisse seines innersten Wesens deutlich machen? Sekt der Reformation hat sich für uns die Fragestellung erst unbewußt, dann bewußt völlig verändert. Wir fragen, wenn wir über die Welt unseres religiösen Lebens zur Klarheit kommen wollen, nicht mehr: wer ist Gott — sondern: was bedeutet es, daß wir an Gott glauben, was heißt Glauben? Auf diese Kardinalfrage unseres religiösen Erlebens gibt uns der Verfasser des Hebräerbrkefes eine klassische Antwort: „Es ist aber der Glaube eine Ueberzeugung von Dingen, die man nicht sieht." Wir denken sicher im Geist des Verfassers des Hebräerbriefes, wenn wir zu den Dingen, die man sieht, nicht nur die Dinge unserer sinnlichen Wahrnehmung rechnen, sondern auch alle Erkenntnisse, die unser Verstand aus unserer sinnlichen Wahrnehmung erschließt. Und wir erweitern also in seinem Sinne jene Bestimmung des Glaubens, wenn wir etwa sagen: es ist aber der Glaube eine Ueberzeugung von Dingen, die man nicht verstandesgemäß cinsieht. Als Musterbeispiele aller ver­ standesgemäß erworbenen Einsichten mögen uns dabei die Er­ kenntnisse der Mathematik und der Naturwissenschaft gelten. Und wir behaupten, daß der Glaube uns in eine Welt hineinführt, die jenseits und über der Welt unserer verstandesgemäßen Er­ kenntnis liegt. Der Glaube sagt uns, daß die letzte Wirklichkeit dieser Welt Geist und nicht Materie fei. Unser auf die Dinge der sichtbaren Welt beschränkter Verstand dringt niemals zu dem Geheimnis geistigen Lebens vor. Er ist gebunden an das sinnlich Greifbare, an das, was man messen, wägen, zählen, teilen und zusammenfetzen kann. Was wir Geist nennen, hat aber all diese Eigenschaften nicht. Der „Verstand" hat keine Organe, die Wirklichkeit geistigen Lebens zu fassen. Unser Glaube aber dringt kühn hinaus über die beschränkte Welt des Verstandes zur tieferen Wirklichkeit. Unser Glaube sagt uns: Gott ist Geist, und wir gehören trotz aller sinnlichen Gebundenheit im letzten Kern unseres Wesens zur Welt des Geistes.

Unser Glaube spricht zu uns von der Freiheit der Kinder Gottes, von einem in der Freiheit wurzelnden sittlichen Du sollst, von Verantwortung, Sünde und Schuld. Unser verstandesge­ mäßes Erkennen sagt uns, daß es in der ganzen Welt sinnlicher Erfahrung Freiheit nicht gibt, daß alles Geschehen immer und immer seine Ursache hat, die es bedingt, daß sich die Kette der Kausalität ins Unendliche, nicht Absehbare erstreckt. Der Glaube aber hat den Mut, die Welt, die der Verstand uns zeigt, eine sinnlose Welt zu nennen, eine Welt des Scheines nur und des farbigen Abglanzes. Der Glaube behauptet die wirkliche Welt als eine Welt der Freiheit, des freien, selbsttätigen, verantwortungs­ vollen geistigen Seins. Das Erkennen und Wissen unseres Verstandes läßt uns in letzter Hinsicht ratlos stehen vor einer Welt einzelner Zufällig­ keiten. Denn soweit auch der Verstand das Netz seiner Gesetze auswirft und so fein er seine Maschen gestaltet, er erklärt doch niemals und in alle Ewigkeit nicht das konkrete Sein dieser Welt, und alle seine Gesetze gelten immer nur für dieses schon vorhandene individuelle Dasein, aber können dieses selbst nicht hervorbringen und schaffen. Der Glaube aber zeigt uns das letzte geheimnisvolle Band alles Seins, er sagt uns, daß unsere Wirklichkeit nicht dem Zufall entstammt, sondern einem einheit­ lichen wesenhaften Willen,- er lehrt uns eine höhere und andere Notwendigkeit begreifen als die des Naturgesetzes, die Not­ wendigkeit, die kn dem allmächtigen persönlichen Willen der Liebe und der Heiligkeit wurzelt: Von Gott, durch Gott und auf Gott hin sind alle Dinge. So führt der Glaube uns in eine unergründliche, tiefe, wett über die Welt unsres verstandesmäßigen Begreifens hinausliegende Wirklichkeit. Und dennoch ist er nichts unserem Wesen Fremdes, das uns mit äußerer Gewalt aufgedrängt werden müsse. Das tiefe Wort des alten Kirchenvaters von der anima naturaliter Christiana ist und bleibt wahr. Im Glauben erschließen sich uns die verborgenen, 'heimlichen und doch eigenen Tiefen unsres Wesens. Und es bedeutet die Arbeit unsres Lebens, die unser ganzes Wollen und unsern vollen Ernst kn Anspruch nimmt, diese Tiefen eigenen Lebens 311 erfassen und sich bewußt anzu­ eignen. Za, diese Aufgabe ist so schwer, daß das einzelne, isolierte, persönliche Leben ihr selten oder nie gewachsen ist. Nur in der Gemeinschaft und deshalb in der Geschichte strömen die Quellen seiner Kraft. (1909).

Die Kraft des Glaubens. Mt. 17, 20. Wahrlich ich sage Euch, wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, werbet ihr zu diesem Berge sprechen: hebe dich von hier aus dorthin, und er wird sich fortheben. Und nicht- wird euch unmöglich sein.

Hat Jesus das Wort von der bergeversehenden Kraft des Glaubens wörtlich und im beschränkt sinnlichen Verstände ge­ meint? Wir werden diese Annahme mit gutem Grunde ab­ lehnen müssen. Denn es ist sicher, daß der, welcher seinen Glauben zu derartigen Naturkunststückcn und willkürlichen Ein­ griffen kn Gottes Walten in der großen Wirklichkeit verwenden würde, gar nicht den rechten Glauben besäße. Mit folchem Glauben ist nämlich unzertrennlich die Ehrfurcht und das demütige Sich-Beugen vor der überragenden Macht, Ehre und Selbst­ herrlichkeit Gottes verbunden. Es ist eigentlich selbstverständlich, daß wir das Wort Jesu als eine Paradoxie zu verstehen haben, die wir nicht buchstäblich auffafsen dürfen. Jede rechte Paradoxie aber birgt einen tiefen innern Sinn in sich und so auch diese. Auch wir dürfen es Jesus nachsprechen: der rechte Glaube birgt eine Kraft in sich, welche das Unmögliche möglich macht. Worauf beruht diese Kraft? 2m rechten Glauben richten wir unsern Sinn und unser Sein auf die letzte wesenhafte Wahrheit und Wirklichkeit. Daher bedeutet rechter Glaube eine gewaltige Konzentration des Wollens. Wir hängen unsern Willen nicht mehr bald an diese, bald an jene Einzelheiten der uns umgebenden zerspaltenen Sinncswelt. Wir sammeln ihn aus aller Zerstreutheit zur letzten Einheit, aus allem Wider­ streit zum Frieden, aus aller Disharmonie zum vollen Einklang, aus der Unstetigkekt zur Stete, aus der Gebrochenheit zur Kraft. Das ist in der Tat der Eindruck, den wir von allen wirklich frommen Menschen haben: den der ungebrochenen Energie und der ruhig gesammelten Kraft. Der Wille fließt ungehemmt in seinem Strombett dahin. Wer wirklich glaubt, nimmt bewußt oder unbewußt seinen Weg mit der Wirklichkeit der Dinge. Denn Gott lenkt alle Dinge und mit ihnen und in ihnen dein und mein Leben, unser aller persönliches Leben zu einem ewigen Endziel. Wir be­ greifen dies letzte Ziel nicht mit unserm denkenden Verstand, wir

ahnen und hoffen es,- wir durchdringen das Geheimnis mit unsrer Erkenntnis nicht, wie Gott die Dinge lenkt,- aber daß er es tut, ist sicher und gewiß. Darum so glauben wir, daß dem der Gott liebt, alle Dinge zum besten dienen müssen. Darum wissen wir, der echte Glaube hat eine unbezwingbare Macht. Wer nicht glaubt, ist wie ein Seemann ohne Kompaß, er gibt seinem Leben bald diese, bald jene Richtung, er stößt sich ständig an der harten Wirklichkeit der Dinge und verzehrt im Kampf mit ihnen seines Lebens beste Kraft. Wer aber wirklich glaubt, den trägt auch alles äußere Geschehen, das sein Leben umgibt und bedingt, dem ewigen Ziel zu. Wer wirklich glaubt, dessen Blick wird Helle, und dessen Urteil wird sicher auch in den Dingen dieser Welt. Er kann seine höhere Einsicht andern mit den Mitteln irdischen Erkennens, Verstehens und Beweisens nicht deutlich machen. Ja, er be­ greift sich selber kaum. Aber die Wirklichkeit ist ihm trans­ parent geworden, und hinter ihr schaut er ahnend die Ordnungen und Gesetze göttlicher Weisheit und väterlicher Güte. Er nimmt mit instinktiver Sicherheit seinen Pfad durch alle Fährlichkeiten und Widersprüche, durch alle Rätsel und Nöte dieses Lebens. Wo alle Wege verschlossen zu sein scheinen, wo sich steile Fels­ wände auftürmen und ein Weiterkommen unmöglich machen, wo Abgründe sich auftun, die Menschenkraft nicht überbrücken können — das Auge des Glaubens findet einen Weg, der wetterführt. Und wo das verständige Urteil das „unmöglich" aussprtcht, da spricht der Glaube sein „und dennoch". Wer glaubt, dem enthüllt sich in stiller Ahnung endlich auch das Geheimnis des eigenen Lebens. Wer nicht glaubt, bleibt sich selbst eine ewige Frage, ein großes Rätsel. Er müht sich bald in dieser, bald in jener Richtung bis zur Verzweiflung an Sinn und Wert seines Lebens. Wer aber glaubt, vor dessen Seele steigt der Plan, den Gott gerade mit seinem Leben hat, empor, er schaut ihn, so wie alles Ewige sich im Zeitlichen spiegelt, km Bilde nur, in undeutlichen Umrissen. Aber was er schaut, genügt, um seinem Leben Halt und Gesundheit und eine immer sich erneuernde und verjüngende Kraft zu geben. Das etwa meint das Evangelium, wenn es von der berge­ versehenden Kraft des Glaubens spricht. Wir fragen uns, ob wir etwas in diesem Leben spüren von dieser Wundermacht und antworten freudig und demütig, vertrauend und zagend: Ich glaube, Herr hilf meinem Unglauben! (1909).

14

Das Wunder.

Das Wunder. Ueber das Wunder herrscht unter uns viel Streit und Kampf. Dabei stellt man die Frage gewöhnlich so: Ist Gott imstande Wunder zu tun oder nicht? Und die, welche die Wunder behaupten, werfen den Wunderleugnern Unglaube an die göttliche Allmacht, Fesselung Gottes durch das Naturgesetz vor, während umgekehrt diese von jenen behaupten, daß sie in kleinlichen, allzu menschlichen Begriffen von Gott, seinem Wollen und Wirken befangen seien und seine vorausschauende Weisheit verletzten. Ich glaube, wir müssen, um aus dieser Verwirrung heraus­ zukommen, die Frage anders stellen. Fragen, ob Gott Wunder tun kann, überhaupt fragen, was Gott kann und was er nicht kann, heißt eine vermessene Frage aufstellen, welche die Grenzen unsrer Einsicht und Kraft einfach überschreitet. Wir stellen die Frage anders: gesetzt auch, es seien Wunder, haben wir geistige Organe, um solche Wunder aufzufaffen und für unser Innenleb en zu einem wertvollen Erlebnis zu gestalten? Ehe wir aber an diese Frage treten, müssen wir uns klar werden, was wir eigentlich unter Wunder verstehen wollen. Man sucht jetzt den Begriff Wunder ost recht beträchtlich abzu­ schwächen, indem man alles außerordentliche Geschehen kn Naturund Geksteswelt als Wunder bezeichnet. Wenn man als Wunder nur dies auffaßt: das Außerordentliche, noch nicht Erklärte, bis jetzt nicht Begreifbare, dann heißt fragen, ob es Wunder gebe, eine sehr überflüssige, banale Frage aufwerfen. Nein, Wunder bedeutet km gewöhnlichen Sprachstnn des Wortes mehr. Man denkt beim Wunder immer zugleich an den Gegensatz von Natur und natürlichem Geschehen, d. h. Geschehen unter Naturgesetzen. Und wenn man Wunder behauptet, so be­ hauptet man zwei Sphären des Geschehens, eine Sphäre, in welcher alles natürlich zugeht unt> das Gesetz herrscht, natürlich mit Willen und unter Zulassung Gottes, und eine Sphäre über und jenseits des Naturgeschehens, innerhalb derer Gott gleichsam direkt wirkte Und in letztere Sphäre verlegt man das Wunder.

Man nimmt also das Wunder als etwas prinzipiell Andersartiges im Vergleich zum natürlichen Geschehen. Man sagt nicht etwa, ein Wunder ist alles Außerordentliche, das wir noch nicht be­ greifen, sondern ein Geschehnis, das sich unserm Begreifen und Verstehen überhaupt und prinzipiell entzieht. Und indem wir das Wunder in diesem Sinne verstehen, fragen wir uns, ob wir Organe haben, das Wunder aufzufaffen und in den Bereich unseres Geisteslebens einzubeziehen. Und da können wir zunächst einen Satz mit Sicherheit aufstellen: Das Wunder liegt nicht im Bereich unseres Wissens uni) Erkennens,d. h. weder im Bereich des wissenschaftlichen Naturerkennens noch in dem der wissenschaftlichen Erforschung der Geschichte. Der Naturforscher kennt in dem Bereich der Wirklichkeit, die er erforscht, keine Wunder und darf keine kennen. Cr kennt nur Gesetze und gesetzmäßiges Geschehen,- die Einzelerscheinungen, die sich ihm von hier aus nicht auflösen, wird er nicht verge­ waltigen und nicht wegdisputieren, aber er wird ihnen gegen­ über bei dem Vertrauen beharren, daß dieses Nichtverstehen nur ein Noch-nicht-verftehen ist, das sich ihm oder folgenden Generationen in ein Begreifen umwandeln wird. Und selbst wenn heutigen Tages ein Naturforscher sehen würde, wie ein Stück Eisen auf dem Wasser schwimint, er würde nicht sprechen, hier gehe ein Wunder vor sich, sondern er würde sagen, hier wirken unbekannte Kräfte, die ich noch nicht erforscht habe, aber die ich erforschen werde. Und auch der Fromme beginnt fetzt zu verstehen, daß er die Naturforschung in dieser ihrer Eigenart belassen muß. Die Naturforschung würde sich selbst als Wissenschaft aufgeben, wenn sie anders verführe. — Die Naturwissenschaft hat kein Organ für das Wunder. Nicht anders verhält es sich mit der Wissenschaft der Ge­ schichte. Auch der Historiker scheidet aus seinem Forschungs­ bereich das eigentlich Wunderbare, sei es instinktiv, sei es be­ wußt, mit konstanter Regelmäßigkeit aus. Wo ihm ein Geschehnis überliefert wird, das aus aller Ordnung ynt) Regelmäßigkeit herausfällt, das aller Analogie und sonstiger Erfahrung spottet, da existiert dies Erlebnis einfach für ihn nicht, da erklärt er die Quellen, die derartiges berichten, für unzuverlässig. Z. B. wenn der Historiker auf eine katholische Heiligenlegende stößt, die be­ richtet, daß der Heilige Tote erweckt habe und seinen Jüngern schwebend erschienen sei, und wenn er atlch wüßte, daß diese Quelle von unmittelbaren Düngern und Augenzeugen geschrieben sei, so würde er daraus nur schließen, daß die menschliche Phan­ tasie leicht getäuscht wird und außerordentlich rasch arbeitet. Der

Historiker wird sich bei alledem hüten, das Außerordentliche mit dem schlechthin Wunderbaren zu verwechseln, und wird sich sagen, daß oft die Grenzlinie zwischen diesem und jenem sehr fein und schwer erkennbar ist. Das wird die Sicherheit seines Urteils im einzelnen Fall schwankend machen, aber nicht die Sicherheit des Gesamtverfahrens. Der Historiker wird auch viel mehr schwer Erklärbares, noch nicht Erklärbares in seinem Bereich anerkennen, weil das Individuelle, Persönliche, tatsächlich Ein­ malige ganz anders in sein Gebiet hineinragt, als in das des Naturforschers. Aber auch für ihn wird das alles nur ein Noch-ntcht Erklärbares bleiben, ein Gebiet, in das er weiter und weiter einzudrkngen hofft. Ja, selbst vor der Geschichte des alten und neuen Testaments macht er nicht Halt, sondern zieht auch diese wie alles menschliche Geschehen kn den Bereich ihrer zu­ sammenhängenden Betrachtung. Auch die Geschichtswissenschaft hat kein Organ für das Wunder. Fast ungeduldig wird man mir den Einwand erheben: Wir wollen ja die Frage der Wunder auch nicht vom Stand­ punkt wissenschaftlichen Erkennens beantworten, sondern von dem des Glaubens aus. Der Einwand ist berechtigt. Aber wie haben wir nun die Wunderfrage unter dem Gesichtspunkte des Glaubens zu beurteilen? Da ist jedenfalls das eine sicher, daß gerade für den frommen Menschen, wenn er sich recht versteht, jene Spaltung der Wirklichkeit in zwei Sphären, in deren einer alles „natürlich" zugeht, in deren andrer Gott unmittelbar wirkt, nicht existiert und nicht existieren darf, ja, daß sie ihm geradezu unerträglich ist. Denn dies ist die Aussage unseres Glaubens, daß die ganze Wirklichkeit Gottes ist. Wahrhaft glauben heißt sich über die gesamte Verkettung von Ursache und Wirkung, die sich end­ los rings um uns dreht, und in die wir bis in die letzten Fasern unseres Daseins gefesselt zu sein scheinen, — sich über dieses ganze naturhafte Sein erheben zu dem lebendigen persön­ lichen Gott. Wahrhaft glauben heißt den Mut fassen, zu dieser Welt der Natur zu sprechen: Du bist mir Erscheinung einer tieferen und wahreren Wirklichkeit, einer Welt der Ewigkeit und Freiheit, eines Reiches, über das ein allmächtiger, geistiger Liebes­ wille wohnt. Wahrhaft und vollendet glauben, das heißt alle Dinge dieser Zeitlichkeit, und seien sie noch so rätselhaft, als einen Ausdruck und eine Offenbarung einer höchsten geistigen Wesenheit ahnend betrachten. Und so hat auch der Glaube kein Organ für die Auf-

faffung eines Wunders km eigentlichen Sinne des Wortes, für die Meinung, daß Gott die große weite Welt ringsum nach natürlichen Gesetzen laufen lasse und an wenigen einzelnen Punkten in direktem Eingriff sich offenbare. Er spricht: die ganze Wirklichkeit ist gleicher Weise Gottes. Ja, er hängt gar nicht so sehr, wenn wir uns recht verstehen, an dem Unerklär­ lichen und Außerordentlichen, an dem Gewaltigen und zermal­ mend Großen. Er kann sich ebenso gut entfalten gegenüber dem ganz Alltäglichen und Gewöhnlichen, dem Kleinen und Gering­ fügigen, an dem, was für unser Erkennen völlig erklärbar ist. Dann immer können wir von Glauben und gläubiger Betrach­ tung reden, wenn sich gegenüber einem Ereignis in Natur und Geschichte, einem äußeren oder inneren Erlebnis die Ueberzeugung in uns entzündet: es waltet über dir eine persönliche Macht der Güte und der Liebe. Und das wird gerade der Fall sein bei den kleinen, bei den intimen Ereignissen unseres Lebens, die nur zu uns sprechen, denen kein Mensch sonst etwas Besonderes ab­ lauscht, die aber uns bis ins Innere hinein treffen, weil in diesen Erlebnissen die harte Wirklichkeit für uns gleichsam trans­ parent wird und wir in ihnen die Stimme unseres Gottes hören, sein Antlitz uns entgegenleuchten sehen. Man wird vielleicht erwidern: „Und also gibst Du doch zu, daß Gott uns in bestimmten Ereignissen unsres Lebens lebendiger und greifbarer vor die Seele tritt, als in andern. Das aber ist es, was der Wunderglaube behauptet. Und also wären Wunder gerechtfertigt/ Darauf wäre zu antworten: Allerdings lebt der Glaube von einzelnen Ereignissen, die wir km Lichte der Ewigkeit schauen. Aber falsch ist die dogmatische Annahme, daß der lebendige allinächttge Gott in diesen Ereig­ nissen anders und mehr wirksam wäre als in andern, die unsre Seele nicht in derselben Weise treffen. Vielmehr wir sind es, die jenen Ereignissen die persönliche und für uns bedeutsame Note geben, und wir sind es wiederum, die an so vielen Ereig­ nissen, in denen Gott zu uns reden möchte, gleichgültig und stumpf vorübergehen. Ja, wäre unser Blick Heller, unser geistiger Sinn feiner und offener, so würden wir Gottes lebendiges Wirken noch viel öfter und deutlicher sehen und greifen. Wären wir vollendet oder der Vollendung nahe, könnten wir mit den Glaubensaugen schauen, mit denen Jesus schaute, so wäre die ganze Wirklichkeit für uns durchsichtig. Dann würden wir wahrhaft Gottes Güte schauen in der Blume auf dem Felde, in dem Vöglein unter dem Himmel und in den leuchtenden Augen der Kinder,- wir würden seine Stimme hören, so wie er Doussel 2

sie auch aus den Worten einer von seiner Umgebung verachteten Heidin heraushörte, wir würden seinen Willen herausfühlen aus aller Not und allem Kreuz des Lebens,- die ganze Wirklichkeit würde uns ein großes Wunder der Allmacht und Güte Gottes. Da aber unser Glaube nicht vollendet ist, sind wir zufrieden, wenn hier und da gebrochene Strahlen seiner ewigen Wesenheit unsre Seele treffen, und suchen in ihrem Licht das übrige, das noch km Dunkeln liegt, wenn auch nur halbwegs zu begreifen. Und wir hoffen auf die Ewigkeit, da die Hülle dieser Zeitlich­ keit, die Gott so vielfach vor unsern Blicken barg, fallen, sein Schaffen und Watten klar vor unserer Seele liegen und jener Schein, als wirke er nur hier und da und an anderen Orten nicht oder nicht in derselben Weise, verschwunden fein wird. (1909).

•Ä.

Gott fn der Natur. Psalm 104, 1 — 2. Herr mekn Gott, Du bist herrlich. Du bist schön und prächtig geschmückt / Licht ist Dein Kleid, das Du anhast/ Du breitest aus den Himmel wie einen Teppich.

Wen unter uns hätten diese Worte des psalmisten nicht schon einmal und das andere in tiefstem Herzen ergriffen. Wer hätte nicht an sie gedacht, wenn ihm km Anqxsickt der hehren Majestät des Meeres und der Berge, beim Aufschaucn zum ge­ stirnten Himmel oder bei der liebenden Betrachtung einer Blume auf dem Felde Schauer des Entzückens durch die Seele gingen. Es tönt aus diesen Worten ein so warmer Klang gesättigter Harmonie. Natur-Anschauung und Erkenntnis, Schönhettsgefühl, Andacht vor dem Erhabenen, frommer persönlicher Glaube reichen sich die Hand und schlingen den Reigen: Herr mein Gott, du bist sehr prächtig . . . Licht ist dein Kleid, das du anhast,- du breitest aus den Himmel wie einen Teppich. Und doch — wir können uns nicht mehr so ganz unbe­ fangen diesem Wort htngeben. Für uns ist diese Einheit der

Betrachtung nicht mehr vorhanden,- es erheben fich in unserer Seele schwere Zweifel und Bedenken. Die antike Welt, der das Christentum mit dem alten Testament auch diese Worte brachte, besaß hier noch die völlige Unbefangenheit der Hingabe. Die Anschauung ihrer Welsen kam jener Botschaft ganz und gar entgegen. Die Welt war für fie das Spiegelbild der Gottheit, die von göttlicher Vernunft durchwebte Wirklichkeit, die von der Schönheit göttlicher Ideen durchtränkte Materie. Das Wort Welt (Kosmos) bedeutete für fie Schmuck, Ordnung, sinnvolle Einheit und Totalität. Und die Frommen unter ihnen wußten, daß in der Welt sich die Gottheit offenbarte. Naturwissenschaft und Theologie waren bei­ nahe ein und dasselbe.

Za, noch die moderne Zeit des stebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts sah in diesem an der Schönheit und Erhabenheit der Natur sich freuenden vernünftigen Glauben ganz und gar den Ausdruck ihrer innersten frommen Stimmung. Zwar hatte mittlerweile die Naturwissenschaft stolz und königlich ihr Haupt erhoben und hatte in zusammenhängender Weise die Betrachtung der Weltwlrklichkett unter dem Gesichtspunkte der unverbrüchlichen Ordnung und ehernen Gesetzmäßigkeit durchgeführt. Aber der fromme Glaube fuhr fort, den allmächtigen Gott als hinter der gesetzmäßigen Ordnung der Dinge stehend zu verehren, oder er erhob sich zu der tieferen Anschauung, daß Gott im ehernen Verlauf der Naturgesetze selbst gegenwärtig und wirksam sei. Und die persönliche Auffassung Gottes wirkte doch wieder und wieder auf die naturgesetzltche Weltanschauung zurück und breitete über sie einen freundlichen, verklärenden, gemütlichen Schimmer. So entstand eine etwas oberflächliche und geschwätzige, mit allen Rätseln allzu schnell fertige, etwas weichliche und rührselige Frömmigkeit, die sich anmaßte, Gottes Weisheit und Güte, sein zweckmäßiges und sinnvolles Handeln überall in der Natur zu begreifen und dem Verstände nachzuweifen. Wir nennen diese Frömmigkeit die des Rationalismus.

Für uns ist auch dieser Glaube und diese Stimmung der Frömmigkeit unwiederbringlich verloren. Die moderne Natur­ wissenschaft hat erbarmungslos damit aufgeräumt. Sie hat uns klar gemacht, daß wir auf dem Wege des Erkennens und Be­ weisens Gott in Ewigkeit nicht in der Natur finden. Und von dem Boden moderner NaturerkenntnkS aus bat Kant mit zwingender Gewalt alle natürlichen Beweise für das Dasein Gottes zertrümmert. Za, die Naturwissenschaft hat uns die

Welt als eine zermalmende, furchtbare Wirklichkeit gezeigt, die uns zu verschlingen droht. Wenn wir ihr folgen, so dehnt sich diese Wirklichkeit in der Endlosigkeit der Zetten und Räume vor den Augen unseres Geistes aus. Und nirgend finden wir einen letzten Ruhepunkt für unsere Gedanken, nirgends ein Letztes, Unbedingtes, ein Unteilbares und Ganzes. Vergebens ist es, daß wir uns den Geist zermartern nach einem Zweck und Sinn dieses Geschehens. Und das lichte Kleid der Gottheit, der ge­ stirnte Himmel, wird bei näherer Betrachtung das sinnlose Un­ geheuer des endlosen Raumes, und die Gestirne, die freundlich leuchtend ihre Bahnen ziehen, sind Feucrhöllen, wie keines Menschen Phantasie sie sich ärger erdenken kann. Können wir uns denn noch irgendwie zu dem frommen Glauben des psalmisten zurückfinden? Wir können es, wenn wir zunächst einmal das Wesen des Glaubens recht fassen und verstehen. Wenn wir, dem großen sursum corda des Glaubens folgend, uns über diese ganze Wett naturhafter Wirklichkeit er­ heben und unseren festen Standpunkt außerhalb ihrer nehmen. Wenn wir den Mut gewinnen, zu dieser Welt nSturhafier Wirk­ lichkeit zu sprechen: Du bist Schein — und unsere Gedanken er­ heben zu der ewigen Hekmat einer tieferen Wirklichkeit, der Welt des Geistes und der Freiheit, der Welt Gottes und der all­ mächtigen Liebe. Auch des psalmisten Glauben ruhte auf tieferem Grunde, als auf der Betrachtung der Natur. Wenn wir den Glauben gewonnen haben, dann melden sich vernehmlicher und vernehmlicher die Klänge wieder, die sich vorher in Disharmonie aufzulösen drohten. Auf dem Wege des Verstandes können wir Gott nicht erreichen in der Welt naturhaster Wirklichkeit. Aber wenn der Glaube an ihn unser Herz gefaßt hat, dann können wir ihn ahnend fühlen auch in dieser sinnlichen Wirklichkeit, dann leuchten uns in ihr die gebrochenen Strahlen seines Wesens. Und wir stehen in Andacht vor der Blume, die uns am Wege grüßt, und vor der Sternenpracht zu unfern Häupten, vor dem Vogel, der sein Frühlingslted singt, und vor dem Rauschen des ewigen Meeres, vor dem linden Frühlingswehen der Winde und dem Donner verheerender Blitze: Herr mein Gott Du bist sehr herrlich, Du bist schön und prächtig geschmückt.

(1909).



Der Sinn des Lebens. Luk. 12, 16-21. Er sagte ihnen ein Gleichnis und sprach: Eines reichen Mannes Land hatte gut getragen. Und er überlegte bet sich und sprach: Was soll ich tun? Denn ich habe keinen Raum, wo ich meine Ernte aufspetchere. Und er sprach: Das will ich tu«. Ich will meine Scheuern Niederreißen und größere bauen. Und will dort mein Getreide und mein Gut aufhäufen und will zu meiner Seele sprechen: Liebe Seele, auf viele Jahre hast Du nun großen Vorrat liegen. Thin gönne Dir Ruhe, iß und trink und sei fröhlich. ES sprach aber Gott zu ihm: Du Narr, diese Nacht wird man Dein Leben von Dir fordern. Was Du erworben hast, wem wird es zufallen? So gehts dem, der Schätze sammelt und seinen Reichtum nicht in Gott findet.

Eins der gewaltigsten Gleichnisse Jesu steht hier vor uns. Es ist der pinsel eines großen Malers, der das Bild entworfen. Breit und wuchtig und mit unnachahmlicher Sicherheit und Ruhe ist es gezeichnet. Da ist kein Zug zu viel und keiner zu wenig. Jedes steht an seiner Stelle und alle wirken zusammen auf einen einzigen gewaltigen geschlossenen Eindruck hin. Und welch ein geistiger Gehalt in ihm! Ein ganzes Menschenleben im Glück und Glanz mit der atemlosen Jagd nach dem Erfolg und stolzem Gelingen, mit Freude und Genuß bis zur Sättigung, zieht in breitem, stolzem Strom an uns vorüber. Darüber liegt es wie eine dichte Hülle, eine dräuende, sich ballende Wolke. Die Dunkel des Todes und der Vergänglichkeit beschatten das reiche und lachende Bild. Und eine bange Frage schreit uns aus ihm entgegen, die ihre Beantwortung nicht in ihm selbst finde». Es ist die Frage nach dem Sinn des Lebens, die Jesus mit diesem Gleichnis seinen Hörern in Herz und Gewissen bohrt. Er schildert uns ein volles, reiches Leben. Auf den ersten Blick fehlt nichts daran. Es war reich an Arbeit. Denn nicht ein Zufall ist es, daß die Felder des reichen Mannes gut getragen haben. Er hat sein Feld wohl bestellt lind mit kundigem Sinn bebaut. Er hat die Gunst der Witteruizg zu benutzen verstanden, der Ungunst mit kluger Berechnung vorgebeugt. Nun steht in goldenen Aehren die reiche Ernte, zur Arbeit hat sich der Erfolg gesellt. Die alten Scheuern wollen den reichen Segen nicht fassen. Doch mit sicherem Blick und vorausbedachtem Sinn wird auch die über Erwarten reichliche Ernte ekngebracht. Zur Arbeit und zum Erfolg stellt sich die Gabe ein, den Erfolg recht aus­ zunützen und keinem anderen zu überlassen. Und nun winkt die

Ruhe und das Wohlergehen in alten Tagen, ein Leben in Fülle und ohne Sorge, ein ruhiges Genießen aller der Freuden und Genüsse, an denen das Leben so verschwenderisch reich ist. Ein glücklicher Mann, ein reiches Leben. So werden Tausende und Taufende urteilen. Ein Leben kn Arbeit, Erfolg und frohem Genießen ist in ihren Augen ein Jesus urteilt anders. Er wirst auf dieses reiches Leben. glänzende Bild die Schatten des Todes und der Vergänglichkeit. ,Du Narr, diese Nacht wird man Dein Leben von Dir fordern, und wem wird es zufallen, was Du erworben hast?" Jesus zeigt die Kehrseite des Bildes. Er zeigt uns, daß alles, was der reiche Mann an Erfolg und Ehren, an Glück und Glanz aufgehäuft hat, nichts ist als ein äußeres Gewand, das er bald wieder ablegen muß. Vielleicht sehr bald, vielleicht über Nacht, vielleicht etwas später,- — was bedeuten die wenigen Jahre gegenüber der unentrinnbaren Notwendigkeit! So lehrt er uns erschüttert fragen: Was ist das Leben? Ein vorüberfltegender Schatten? ein Funken, der aufstiebt, um wieder in Nacht und Dunkelheit zu versprühen, ein sinn- und zweckloses Spiel? Jesus gibt uns die Antwort auf die Frage. Ein jeder Mensch, Du und ich, wir haben nicht nur ein Leben nach außen, ein Leben, das sich darstellt in der Arbeit an der Außenwelt, im Erfolg dieser Arbeit, im Erwerben und Genießen äußerer Güter,- wir, Du und ich, besitzen ein Innenleben, ein eigenes Ich, ein wunderbares Etwas. Wir spüren es dann und wann recht deutlich dieses Innenleben, dann namentlich, wenn eine innere rätselhafte Stimme uns zwingt, äußere Güter, äußere Erfolge, und seien sie noch so groß, von uns zu werfen, um der Ruhe und des Friedens unseres eigenen Innenlebens willen. Und siehe, das ist der Zweck Deines Lebens, daß Du Dein eigenes inneres Leben zum Wachstum und zur Reife bringst, es zur vollen starken Selbständigkeit erwachsen läßt. Aber schwer und fast unmöglich ist es, mitten im Strom des Lebens [unter den von allen Seiten auf uns einstürmenden Eindrücken der Außenwelt dies eigene, innere höhere Selbst zu finden und zu fördern. Wir finden es, wenn wir unsere Ge­ danken zu Gott erheben, wenn wir im stillen Verkehr mit ihm betend und ringend erfassen, was er von uns wollte, als er uns das Gut des ?^bens schenkte, wenn wir km rauschenden Lärm des Tages uns üben, seine Stimme zu hören, die zu uns redet von den ewigen Geboten des Guten und des Wahren. Dann entdecken wir dies unser höheres, unvergängliches Selbst, dann wissen wir, wofür wir zu leben, woran wir zu arbeiten haben,

Wer sein Leben gewinnen will, der wird es verlieren.

23

daß wir auf Erden sind, für die Ewigkeit reif zu werden. Dann. verstehen wir Jesu Mahnung: Sammelt Euch nicht Schätze, sucht Euren Reichtum in Gott. (1902).

Wer fein Leben gewinnen will, der wird es verlieren. Mk. 8, 35 — 36. Wer sein Leben gewinnen will, der wird «S ver­ lieren, wer aber sein Leben.............. verlieren wird, der wird es gewinnen. Was nützt eS dem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen und um sein Leben zu kommen. Denn was kann der Mensch als Entgelt für sein Leben geben?

Es ist ein schweres und ernstes, aber auch stolzes und freies Wort, das hier vor uns steht. Der große Individualist, der Däne Kierkegaard, hat einmal geäußert, das Evangelium denke in der Kategorie des Einzelnen. Er wird dabei an diese Stelle des Evangeliums vor allem gedacht haben. Denn dieses Wort Jesu verleiht dem einzelnen menschlichen Leben einen ungeheuren Wert. Jesus wirst hier die ganze große Welt und ihre uner­ meßlichen Schätze in die eine Wagschale und in die andere das einzelne menschliche Leben und läßt diese Schale vor unsern Augen tief sinken und jene steigen. Ist diese Anschauung vom Wert des menschlichen Einzel­ lebens berechtigt? Der moderne Mensch ist geneigt zu verneinen, daß das Einzelleben so hoch einzuschätzen sei. Das Kind hält sich in naiver Unmittelbarkeit für den Mittelpunkt seiner kleinen Welt, glaubt, daß alles, was es umgebe, um seinetwillen da sei. Der beschränkte einfache Mann, dessen Blick nicht über seine Familie, seine Umgebung und seinen Stand hknausreicht, der vermag die große Welt draußen nicht anders anzusehen, als vom Standpunkt seines Interesses aus. Aber der gereiste ernste Mann lebt der Ueberzeugung, daß das Leben der Güter höchstes nicht sek. Was bedeutet das Leben des einzelnen Menschen! Ts ist ein Sandkorn kn der großen ungeheuren Wirklichkeit, eine Welle in des Meeres zwecklosem, großartig-eintönigem Spiel, ein fallend Laub, das im ewigen Kreislauf und Wechsel des Stoffes den Boden düngt, im besten Fall ein Räderchen in dem

24

Wer sein Leben gewinnen will, der wird es verlieren.

ungeheuren Getriebe der Weltmaschkne, das, wenn es seine Zeit abgedient, leicht durch ein anderes erseht wird. Denn kein Einzelleben — auch das größte nicht — ist unentbehrlich. Was der Einzelne an scheinbarem Eigentum hat, das verdankt er dem Ganzen, was wertvoll an ihm ist, ist das, was er an das Ganze wektergibt. Die Lehre des Evangeliums ist ein schöner Traum unserer Kindheit. Aber schauen wir genauer in unser Wort hinein, so sehen wir, wie das Evangelium durch diese Einwände nicht getroffen wird, und wie es sich den beiden hier gezeichneten Anschauungen vom Leben überlegen zeigt. Denn auch das Evangelium sagt so bestimmt wie nur möglich, daß dies Leben der Güter höchstes nicht sei. „Wer sein Leben gewinnen will, der wird es ver­ lieren." Der, dessen ganzes Dichten und Trachten auf das eigne Ich ausgeht, wer nur daran denkt, dies Ich zu fördern und zu pflegen, wer alles, was das Leben an uns heranbringt, nur danach beurteilt, ob es dem eigenen Selbst schädlich oder förder­ lich sei, der muß notwendig in seinem Streben Bankerott machen und auch sein eignes Ich verlieren. Denn das kleine Einzel­ leben des Menschen ist viel zu schwach und zwerghaft, als daß es imstande wäre, ein wirkliches Lebenszentrum abzugeben, planlos und ziellos wird es von den es umgebenden Wirkungen und Erscheinungen des großen Weltganzen umhergewirbelt. Das Leben des Egoisten, der alle Dinge auf sich selbst bezieht, ist in Wahrheit ein fortgesetztes ziel- rind zweckloses Sich-Preksgeben an die Dinge der Außenwelt. Wer sein Leben gewinnen will, der wird es verlieren. Auch das Evangelium weist uns zunächst den andern Weg. Es sagt uns, daß es gilt, das Leben zu verlieren. Die Jünger Jesu haben in den Zeiten des beginnenden Kampfes mit dem Heidentum bei dem Worte ihres Meisters vor allem an die Preisgabe des irdischen Lebens im Martyrium gedacht. „Sei getreu bis in den Tod, so will ich Dir die Krone des Lebens geben". Das Wort Jesu hat aber einen tieferen und allge­ meineren Sinn und gilt jedermann, nicht nur den Blutzeugen und Märtyrern. Das ist die erste Forderung, die der Glaube an uns stellt, daß wir uns selbst verlieren. Keine wahre und echte Frömmigkeit gibt es ohne das durchbohrende Gefühl unserer eigenen Kleinheit, Nichtigkeit und Unvollkommenheit gegenüber dem allmächtigen, lebendigen Gott. Zum Glauben kommen heißt für Paulus Sterben. Der Glaube beginnt in uns sein Werk, indem er uns aus dem Mittelpunkt unserer Welt wirft und Gott in das Zentrum rückt.

Es kann sich niemand etwas nehmen, usw.

25

Aber damit hat das Evangelium noch nicht das letzte Wort gesprochen. Es sagt uns nun: Wer so sein Leben verliert, der gewinnt es. Wer gelernt hat, Gott sein Leben zu geben, nicht mehr sein Selbst im tiefsten Grunde zu wollen, sondern Gottes Ehre, der erhält von Gott geläutert und verklärt sein Selbst zurück. Für den Jünger Jesu heißt es nicht mehr: Was ist das Leben? — eine Welle km Meer, ein fallend Laub, ein Rad in einem toten Maschinenwcrk. Er lebt der Ueberzeugung, daß ein jedes Einzcllcben ein Gedanke Gottes sei, den Gott so nur ein­ mal denkt, ein Baustein in Gottes großem Bau, der nicht wieder ausgebrochcn wird. Und dieser Glaube wirst auch aller Offenbarung des Todes und der Vergänglichkeit, die unser Leben rings umgibt, sein kühnes „und dennoch" entgegen. „Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen". 3m frohen Ahnen und Hoffen entquillt diesem Glauben ewiges Leben. Wer sein Leben verliert, gewinnt es. Das Leben in Goit ist der Güter höchstes. (1902).

„Cs kann sich niemand etwas nehmen, es werde ihm denn vom Himmel gegeben." kühnem Vertrauen auf den himmlischen Vater alle Rätsel des Lebens in ein Dank­ gebet, alle Enttäuschungen in jubelnde Zuversicht verwandelt? (1901).

7. „Feuer zu werfen, bin ich gekommen." Luk. 12, 49-50: Feuer auf Erden zu werfen, bin lch ge­ kommen, und wie wünsche ich, daß es schon brennte! Eine Taufe muß ich bestehen, und wie drängt es mich, daß eS vollendet wäre!

Es ist ein gefährlich Ding, ein geistiges Feuer anzünden. Feuer ist eine freundlich-feindliche Macht. Es leuchtet und strahlt, es wärmt und belebt, — es blendet und brennt, es versengt und tötet. So ist's auch im geistigen Leben. Das Feuer leuchtet und macht die dunkle Nacht hell, und die, welche ein starkes und klares Auge haben, die freuen sich daran. Aber es gibt lichtscheues Gesindel, das haßt das Feuer, es gibt eine Menge von Menschen mit Awachen Augen, — die möchten ein wenig Licht, sie lieben die Dämmerung,- der Glanz des Feuers blendet sic, sie wenden ihm den Nucken und fliehen in die Dunkelheit zurück. Das Feller wärmt uni) glüht, und die der Begeisterung für das Große lind Gute fähig sind, lassen sich jauchzend durch­ wärmen und durchglühen. Es gibt wenige, die das Gute durch­ aus nicht wollen und es hassen,- aber es gibt nur zu viele, die ein wenig Wärme uni) ein wenig Kälte wollen und die Glut des Feuers nicht lieben. Sie wollen das Gute und Rechte, aber durchaus mit Maßen, nur keine Einseitigkeit, keine Ueber­ treibung, keine Aufregung. Das Feuer brennt und reinigt, es vernichtet alles Schlechte, Wertlose, Unechte, Faule. Es gibt nur wenige, die diesem brennenden, schmerzenden, ätzenden Feuer standhalten und sich von ihm reinigen uni) läutern lassen. Die große Mehrzahl möchte das Gute, aber es darf nicht wehe tun, es darf nicht unbequem werden, es darf nicht liebgewordenc Anschauungen und Gewohn­ heiten nehmen und zerstören. Daher wehe denen, die wirklich ein Feuer anzündenI Nicht mir die Feinde des Lichts und alles Guten, nein, alle Nikodemusnaturen, welche die Dämmerung lieben, alle die Unklaren, welche die Klarheit der Tageshelle fürchten, alle die Lauen, welche die Glut nicht ertragen, alle die Gewohnheitsmenschen, die sich nicht gern aus den Bahnen des alltäglichen Lebens schrecken lassen, sie

treten auf die andere Seite. Die große Mehrzahl weist mit den Fingern auf den, der das Feuer angezündet: seht den Brand­ stifter, macht ihn unschädlich. — Und er steht allein mit wenig Getreuen. Jesus weiß, daß er gekommen ist, Feuer anzuzünden. Er hat die Stimme des Vaters gehört, seinen Auftrag vernommen. Wohl werden in ihm und um ihn versuchliche Stimmen der Vorsicht laut geworden sein. War es klug, Feuer anzuzünden? Das Feuer, einmal entzündet, kann nicht mehr durch den Willen der Menschen gezügelt und gebändigt werden. Es wird um sich greifen mit elementarer Gewalt. Es wird nicht nur Heu, Stroh und Stoppeln, es wird auch vielleicht noch einmal nutzbares Bauholz vernichten. Die Halben und Unentschiedenen werden entschiedene Gegner werden, die noch zu Gewinnenden werden nun sicher verloren sein. Wer nicht für ihn ist, wird nun wider ihn sein. — Jesus bleibt seines Auftrages gewiß: „Feuer auf die Erde zu werfen, bin ich gekommen, und wie wünsche ich, daß es schon brennte/ Jesus war sich auch darüber klar, was seiner harrte, wenn er das Feuer anzündet. Manch einer facht ein Feuer an und weiß nicht, was er tut. Er meint, daß die Menschen ihm dafür danken werden,- er möchte sein Licht leuchten lassen und durch die Glut seiner Begeisterung die Menschen an seine Person ketten. Die so denken, pflegen jämmerlich zurückzubeben, wenn sie die Folgen ihrer Tat begreifen,- das Feller, das sie angezündet, verzehrt sie selbst. Nur wer das Feuer will und nicht sich selbst, die heilige Sache und nicht seine Person, ist wert und fähig, Feuer anzuzünden. Jesus wußte, was er tat. Er weiß es in dieser Stunde: Maßlose Leiden werden über ihn herfluten, und über sein Haupt steigen. „Eine Taufe muß ich bestehen". Er weiß es, sie werden den „Brandstifter" unschädlich machen und aus ihrer Mitte stoßen. Aber ihn hat der Zwang und Drang eines heiligen Werkes gefaßt: „Wie drängt es mich, bis daß es vollendet sei." Allmächtiger Gott, himmlischer Vater, sende einen Funken vom Feuer Deines Geistes auch in unser Herz. Nur wenigen legst Du das schwere Werk auf, das Feuer anzufachen. Uns gib, daß wir Dein Feuer nicht fürchten, daß wir es lieben und uns von ihm durchglühen lassen.

(1902).

Selig sind, die das Wort Gottes hören und halten/

71

8. „Selig sind, die das Wort Gottes hören und halten." £uf. 11, 27. Wahrend er aber so redete, geschah es, daß eine Frau aus dem Volke ihre Stimme erhob und sprach: Selig der Leib, der Dich getragen, und die Brüste, die Dich genährt haben. Er aber sprach: Ja, doch - selig aber sind, die das Wort Gottes hören und halten. —

Eine Augenblicksszene aus dem Leben Jesu ist es, die uns der Evangelist Lukas hier getreulich aufbewahrt hat. Sie schaut uns so echt und charakteristisch an, wie eine glückliche Moment­ photographie. Sie scheint uns auf den ersten Blick nicht viel zu sagen,- doch sehen wir genauer hin, so beginnt das Bild zu sprechen. Noch ist es Maienzeit im Leben Jesu. Noch ahnt die Masse des Volkes nicht, daß dieser milde und freundliche Lehrer, dessen Worten sie lauschen, gekommen ist, ein Feuer unter ihnen anzuzünden, das Schwert, den Has; und die Zwietracht unter sie zu bringen. Noch sind die, die nicht wider ihn sind, für ihn. Jubelnd umdrängt ihn die Menge. Eine Frau aus dem Volke, getragen, fortgerissen von der Begeisterung, die sich um Jesus drängt, preist im überströmenden Gefühl die Mutter eines solchen Sohnes selig. Es ist eine Szene voll südlicher Lebendigkeit, die Aufgeregtheit und Leiden­ schaftlichkeit der Menschen eines heißeren Klimas spricht aus ihr. Doch, wenn wir auch etwas davon abziehen, so bleibt sie be­ deutungsvoll genug. Sie erweckt in uns eine Anschauung von der hinreißenden persönlichen Anziehungskraft, die Jesus gerade auf die Leute aus dem Volke ausübte. Wir ahnen hier etwas von einer wunderbaren Anmut Leibes und der Seele, die Jesu ganze Person umgab, von einem Sonnenglanz, der auf seinem Wesen ruhte und es vergoldete. Das Volk läßt sich in seiner Abneigung und Zuneigung, in Liebe und Haß nicht von klaren, bewußten Gründen und Reflexionen, sondern von seinem Instinkt leiten. Nur dem Allergrößten ist es gegeben, die echten und wahren Instinkte der Menge auf sich zu lenken. Ihnen schlägt unbewußt das Herz des Volkes entgegen. So gewinnt hier Jesus das Herz der Frau aus dem Volke.

72

»Selig sind, die das Wort Gottes Horen und halten/

Doch größer noch als in dem bewundernden Ruf dieser Frau erscheint Jesus uns in seinem Wort, mit dem er sanft die andrängende Begeisterung zurückdrängt. Das Weib hat ja seine Mutter gepriesen, der Sohn kann sie deshalb nicht tadeln. Aber fein und zart lenkt er die Gedanken ab von seiner Mutter und — von sich selbst. Ueber sich selbst hinaus weist er in die Höhe, erhebt die Seele seiner Hörer zu Gott. Er will die Menschen nicht an seine Person binden, er will ihr Führer sein — zu Gott, er will ihr Weg sein zum ewigen Leben. Er will der Strom sein, in welchem alle die kleineren Bäche der Liebe und Ver­ ehrung, der Begeisterung und Andacht, die zu ihm hinströmen, sicher und ruhig hingelenkt werden zu dem einen allmächtigen, unendlichen, lebendigen Gott, aus dem ja sein ganzes Leben quillt und strömt. Und indem er so die Gedanken des Weibes zu Gott er­ hebt, führt er sie aus der Sphäre der unklaren und verworrenen Stimmung, der augenblicklichen Begeisterung und Leidenschaft heraus. Vor dem unendlichen, ehrfurchtgebietenden Wesen Gottes sollen sich die Wogen der Menschenseele glätten. Gott will nicht Stimmung, die vergeht wie das Gras auf dem Felde, Be­ geisterung, die heute auffiammt und morgen in sich zusammen­ sinkt und verlodert. Gott verlangt ein völliges, dauerndes SichHingeben an sein Wort, an das, was er seinen Menschen zu sagen hat. Gott fordert das Wollen des Menschen, sein Tun und Handeln. Gott verlangt nicht vorübergehende Andacht, sondern das ganze Leben. „Selig sind, die das Wort Gottes hören und halten/

(1902).

S.

Gott ~ Vater. Mt. 6, 9

»Unser Vater, der Du bist im Himmel. "

Man hat wohl gesagt, daß das „Vater unser" ein Be­ kenntnis des christlichen Glaubens sei, auf das sich schließlich alle Christen einigen könnten, und kn dem doch der ganze tiefe Inhalt des christlichen Glaubens beschlossen sei. Das ist schön und richtig. Schon in den ersten Worten ist im Kern das ganze Evangelium enthalten, alles was Jesus an froher Bot­ schaft den Menschen ;u sagen hatte und noch hat. „Unser Vater im Himmel", so lehrte Jesus seine Jünger im täglichen Gebet sprechen. Neue Töne klangen in eine alt­ gewordene Welt. Wir kennen das tägliche Gebet, das jeder fromme Israelit seit dem ersten christlichen Jahrhundert betete. Dessen Anfang lautete: „Gelobest seist Du Herr, unser und unserer Väter Gott, großer, mächtiger und furchtbarer Gott, höchster Gott, Schöpfer Himmels unt) der Erden". — Jesus mit seinen Jüngern betete: „Unser Vater im Himmel." Wie anders lautet das! Und diesen frohen Glauben an Gott den Vater machte Jesus nun zur Grundlage seiner ganzen predigt. Aus jedem Wort seiner Botschaft, aus jedem Zug seines Lebens klingt es heraus: Unser Vater im Himmel! Und so sicher, selbstverständlich und einfach ist dieser Glaube bei Jesus. Er lehrte ihn nicht, er lebte ihn vor. Wie die Frühlingssonne ließ er ihn hineinstrahlen in die Herzen seiner Jünger. So selbstverständlich und einfach — und doch auch so groß und schwer. Schauen wir schärferen Auges hinein in die Ver­ kündigung und das Leben 3esu, so sehen wir auch das. Es klingt noch ein anderer ernster Grundton in der predigt 3esu: Der Gott, wie ihn 3esus verkündet, ist auch der allmächtige, himmelhohe Herr, der allgewaltige Schöpfer des Himmels und der Erde, der strenge Richter, der Leib und Seele verdammen kann. Der Gott, der sich in 3esu Leben offenbarte, ist ein Gott, voll von unheimlichen Rätseln. Er ließ seinen Sohn die dunkle Straße des Leidens ziehen, er ließ sein Werk dem äußeren Scheine nach mißlingen, er brachte Einsamkeit, Ver-

folgung, Verrat und Verleugnung seiner Getreuen, Schmach und Schande und den bitteren Tod kn fein Leben. Jesu Leben war bis zu seiner letzten Stunde in Gethsemane und am Kreuz ein Ringen und Kämpfen um den Glauben an Gott den Vater. Wenn wir uns das vergegenwärtigen, dann steht erst der Glaube Iefir an den väterlichen Gott in seiner ganzen Größe vor uns. Es ist ein Glaube, der an schwindelnden Klüften auf engem, schmalem Wege in die Höhe führt, ein Sichcntgegenwerfen allen äußeren Erfahrungen, eine Zuversicht, die es lernen muß, in und durch Enttäuschungen stark zu werden, ein großes fortwährendes: Und dennoch, Sonnenschein auf finsterer Wolkenwand. Daher ist Jesus auch nicht müde geworden, seinen Jüngern wieder und wieder in den verschiedensten Wendungen, unter den verschiedensten Bildern von der Vaterliebe ihres Gottes zu reden. In erster Linie lenkte er ihren Blick dabei auf die Zu­ kunft und das Jenseits. Hier war der feste Fels, auf den er feinen und ihren Glauben gründet. Die frohe Zuversicht, daß das Reich Gottes ganz gewiß komme, machte ihn sicher gegen alles Leid dieses Lebens. „Fürchte dich nicht, du kleine Herde, denn euer Vater hat beschlossen, euch das Reich zu geben." (Lk. 12, 32). Dann aber zeigt er ihnen, wie die Sonne der väterlichen, göttlichen Liebe auch in diese Welt hineinscheint, lehrt sie mit neuem Auge die leuchtenden Spuren ihrer Strahlen überall, auch im Unscheinbarsten und Alltäglichsten finden. Wie mit einem Zauberstabe verwandelt er durch diesen Glauben ihnen die Welt. Eben noch finster unt> grau und voll dunkler Todes­ schatten, liegt sie nun im goldenen Schein. Und die Vögel zwitschern, fingen und jubilieren von der Güte des himmlischen Vaters, der ihnen Wohnung und Nahrung gibt. Und die Lilien neigen ihr Haupt in ihrer Schönheit und Pracht und läuten mit ihren Glocken zum Preise der Vatergüte Gottes. Der Landmann säet sein Korn in freudigem Vertrauen. Denn der himmlische Vater läßt die Saat heranwachsen zur goldenen Aehre. Und noch eins: das Größte: die Kinder, die Kleinen, das immer nachwachsende junge Geschlecht, sie spielen um uns so froh und unbekümmert, fie jauchzen in das Leben hinein und schauen mit frohem, leuchtendem Blick in diese Welt, in Gottes Wett. Alles rings umher redet, jauchzt, singt dem Jünger Jesu von der Liebe und Güte des himmlischen Vaters. Jesus stellte einst ein Kind mitten unter seine Jünger und sprach: Wenn ihr nicht umkehrt unb werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen. Siehe mein Christ, das ist der Inhalt und die höchste Forderung des Evangeliums.

In allem Ernst des Lebens und seinen hohen Anforderungen, durch alle die Kräfte lähmenden und den Atem raubenden Rätsel, kn aller angespannten Arbeit, die das Leben auferlegt, durch Kampf und Feindschaft, Unglück, Mißerfolge, aber auch durch Glück und Erfolg, durch Gutes und Böses hindurch, sollst Du Dir den Sinn des Kindes wahren, den schlichten, einfachen, starken, frohen Glauben an die Güte des himmlischen Vaters. Wem das gelingt, der ist ein Jünger Jesu. (1902).

10. Gott - der Richter. Luk. 12, 4. Ich sage Euch aber, meine Freunde: Fürchtet Euch nicht vor denen, die den Leib töten und danach nichts mehr tun können. Ich will Euch zeigen, wen Ihr fürchten sollt. Fürchtet Euch vor dem, der nach dem Tode Macht hat, in die Hölle zu werfen. Ja, wahrlich, den fürchtet.

Die Furcht vor den Menschen, die über Tod und Leben ihrer Mitmenschen gebieten können, hatte Jesu Volk zu seiner Zeit in bitterem Maße kennen gelernt. Noch lebten Viele — es war die ganze ältere Generation — die einst in einer unerträg­ lichen Furcht und Angst vor einem Menschen gezittert hatten, dem gewaltigen „großen" Herodes, der mit absoluter Willkür in diesem Volk geschaltet hatte. Nun herrschte das kleinere Ge­ schlecht seiner Nachfolger, aber hinter denen standen die Römer, die eigentlichen Herren dieses Landes. Das Geschick von Tausenden, ihr Glück und Leben hing ost an den Entscheidungen des einen römischen Großen, des Prokurators in Cäsarea, an seiner Will­ kür und an seinen Launen. Immer verzweifelter wurde die Stimmung des Volkes, heftiger und heftiger begann schon die revolutionäre Stimmung zu gären. Sollte man nicht mit den Waffen in der Hand sich von jenen harten Herren und dieser Furcht befreien? Jesus will seine Jünger, seine Freunde von dieser Furcht lösen. Und er schlägt einen viel einfacheren und erfolgreicheren Weg zu diesem Ziele ein — einen Weg, den ein jeder sofort

betreten kann, ohne warten zu müssen auf äußere Verhältnisse und auf das, was die anderen tun. Er sagt ihnen: Ihr wollt frei werden von der Menschenfurcht? Furchtet Gott, und jene Furcht verschwindet wie Nebel vor der Sonne. Fürchtet Gott. Gott ist nicht nur der freundliche Vater, der weiß, wessen wir bedürfen, ehe wir beten,- er ist auch der allmächtige, furchtbare Gott, der Richter, der die Geschicke der Menschenkinder in seiner Hand trägt, und vor dem sie verantwort­ lich sind mit der Summe ihres Lebens. Den Glauben an Gott, den ewigen Richter, kannte zu Jesu Zeit das Volk rings umher, dem er predigte. Aber wie leichtfertig ging man an ihm vorüber. Ohne Ernst und tändelnd zog die Masse ihres Weges, die breite Straße zum Verderben, und schlug sich den Gedanken an das Gericht Gottes aus dem Sinn. Die es ernster nahmen mit ihm, hatten einen anderen Trost: Sie meinten, sie seien Abrahams Kinder, Gott werde es so genau mit ihnen nicht nehmen. Sie gehörten ja zu den Frommen: Ich danke Dir, Gott, daß ich nicht wie jener Zöllner bin. Alle diese künstlichen Mauern und Schranken, mit denen menschlicher Leichtsinn, Trägheit, Hochmut sich den Gedanken an das Gericht vom Leibe zu halten suchte, reißt Jesus nieder. Er stellte aus die eine Seite den heiligen, allmächtigen Gott, der nach dem Tode richtet: Ich will Euch zeigen, wen Ihr fürchten sollt. Und auf die andere Seite den einzelnen Menschen, nackt, frei von allen schützenden Hüllen, mutterseelenallein vor dem Gott, dem er verantwortlich ist für sein Leben: Za, wahrlich, den fürchtet. Mit seiner predigt hat Jesus eine starke Last auf unsere Schulter gelegt. Seit er gepredigt, wissen wir es: Es ruht auf dem Menschenleben, auf Deinem und meinem Leben eine ungeheuere Verantwortung. Ts hängt eine ganze Ewigkeit von dem ab, was du hier kn der Zeit vollbringst. Du trägst die Entscheidung über Himmel und Hölle in deinem Tun. Wir sind hier auf Erden die kurze Spanne Zeit, um für die Ewigkeit reif zu werden. Wir sollen Gott über alle Dinge lieben und ver­ trauen, wir sollen ihn aber auch über alle Dinge fürchten. Aber Lasten tragen macht stark und die Furcht Gottes macht frei. Jesus sagt uns zugleich, daß wir so und nur so frei werden von aller Menschenfurcht. Auch der Stärkste und Weiseste kann, auf sich allein gestellt, nie km innersten Sinn ganz frei werden von der Furcht vor seiner Umgebung, vor den Menschen. Das Ganze ist immer mächtiger als seine Teile, die Gesamtheit stärker als der einzelne. Die Last ist viel zu schwer, als daß wir sie abschütteln könnten aus eigner Kraft. Aber auch die

schwerste Last mutz sich bewegen und kn die Höhe schnellen, wenn der Hebel richtig angeseht wirb. Nimm Deine Stellung bei Gott, betrachte alles, was Du zu tun und zu lassen haft, von Gottes Seite her, mit Gottes Augen — und siehe, jene Last schwindet und wird federleicht emporgehoben. Und Du bist frei und stark und in Deiner Freiheit froh und sicher. Gott hat Dich von den Menschen befreit. — Wir wollen es wenigstens versuchen, diesem alten, vor nun bald zweitausend Jahren ge­ sprochenen Worte Jesu zu folgen. Es wird uns sicher führen durch das Labyrinth des Lebens. (1902).

11.

Der gute Gott. Mk. 10, 17 f. Und jemand warf sich ihm zu Füßen und fragte ihn: Guter Meister, was muß ich tun, um das ewige Leben zu ererben? Jesus aber sprach zu ihm: Was nennst Du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein.

Von autzerordentlicher Bedeutung ist diese kleine Szene aus dem Leben Jesu. Mit einer Deutlichkeit, die keine Wider­ rede übrig läßt, weigert Jesus sich hier, ein Prädikat anzunehmen, das Gott allein zukommt, und stellt mit starker Entschiedenheit Gott auf die eine Sekte und sich selbst auf die Seite der Menschen. Doch nicht auf das, was Jesus über sich selbst, sondern was er von Gott sagt, wollen wir unser Augenmerk richten. „Niemand ist gut als Gott allein." Gott ist gut. Offenbar ist das das Höchste, was Jesus sich bewußt ist, von seinem Gott sagen zu können. „Gott ist gut", die Ehre teilt er mit keinem Menschen. „Gott ist gut", in den drei Worten gipfelt die predigt des Evangeliums. Jesus hat Gott als den gütigen Vater gepredigt, er hat ihn aber auch als den strengen, furchtbaren Richter, der Leib und Seele verdammen kann, den Jüngern vor Augen gestellt. Beide Seiten seiner predigt finden in dem Satz: „Gott ist gut" ihre höhere Einheit, hier liegen beide Töne zur Harmonie zusammen.

Gott ist reine, freundliche, alles gewährende und schenkende, alles vergebende und verzeihende Vatergüte. Aber auch die unbeschränkte Güte Gottes hat ihre Grenze daran, daß Gott gut ist, daß er das Gute will und das Böse verwirft. Er kann sehr lange schenken und vergeben, locken und rufen. Er läßt seine Sonne aufgehen über Gute und Böse und regnen über Gerechte und Ungerechte. Aber seine Milde hat eine Grenze. Wo die Grundrichtung des menschlichen Willens sich von ihm abwendet, wo aller Regen und aller Sonnenschein göttlicher Güte nur Dornen und Disteln im Menschenherzen hervorbringt, da straft und verwirft Gott. Und wiederum: Gott ist gerecht, Gott ist heilig, Gott richtet über Leben und Tod, so verkündigt es Jesus. Aber Gott ist nicht nur gerecht und heilig, er ist mehr als das, er ist gut. Er will nicht die tote Sache, sondern die Person, er will nicht Gerechtigkeit, sondern Leben. Wo nur ein Funken des Guten im Menschenherzen aufgltmmt, wo sehnend und seufzend, reuig und hülfsbedürstkg ein Menschenherz sich ihm zuwendet, da richtet Gott nicht, da hilft er. Gott ist gut. Gott ist gut. Das ist das Höchste, was wir nach Jesu Vorgang von Gott sagen und glauben dürfen. — Für die griechischen Weisen und Gebildeten zur Zeit Jesu und seiner Jünger war Gott etwa das Allervollkommenste, das Aller­ schönste, die Harmonie allen Seins, die Fülle alles Lebens. Das war ein schöner Glaube, aber ihm fehlte das Lebensmark. Man berauschte sich an der Schönheit der göttlichen Wesenheit und der ewigen Harmonie ihrer Gedanken und Ideen, man wußte davon zu reden in schwärmerischer trunkener Begeisterung. Aber es fehlte bei alltzdem der stahlharte Wille, der eine widerstrebende Welt sich unterwirft. An der lebendigen Wirklichkeit ging man vorüber, man ließ sie, wo sie war. 3n der trüben Sphäre des alltäglichen wirklichen Lebens vermochte man die ewige Schön­ heit göttlicher Gedanken nicht wieder zu erkennen, aus ihr flüchtete sich der Weise heraus und überließ sie dem großen Haufen. Für andere war und ist Gott die höchste Wahrheit, die letzte Wirklichkeit. Für sie ist das Höchste, was sie im Leben kennen, Wissen und Wahrheit. Was darüber hinausliegt, ist für sie unklar, dunkel und verworren. Auch das ist ein schöner Glaube, daß Gott im letzten Grunde die Wahrheit sek. Aber Gott ist mehr als das. Gott ist gewiß auch letzte Wahrheit und höchste Schönhett, er will unser Denken, er will auch all unser Fühlen, unser sehnendes, nach höchster Schönheit dürstendes Herz. Aber ganz

nahe heran an sein Wesen dringen doch nur die, die im Geist Jesu sprechen: »Gott ist gut". Sittliche Güte ist das tiefste Geheimnis des Wesens Gottes, so weit wir es zu erkennen vermögen. Sittliche Güte ist die tiefste Wirklichkeit und die höchste Forderung auch unseres Lebens. Gott will vor allem und kn erster Linke unsern Willen, die Tat. Er spricht durch unser Gewissen zu uns: dieses ist gut und jenes ist böse, dieses soll sein und jenes soll nicht sein. Und Du sollst mit der Kraft, die Gott Dir verliehen hat, dahin wirken, daß des Guten kn Dir und um Dich etwas mehr, des Bösen etwas weniger werde. Du sollst Dich am Leben und seiner Schönheit nicht berauschen, Du sollst auch nicht meinen, daß du das Welt­ all logisch verdauen könntest,- wirken, handeln sollst Du in erster Linie nach Gottes Geboten und seinem Willen. Hier ist der feste Punkt Deines Lebens. Und als das Urbild sittlicher Voll­ kommenheit steht dem Jünger 3esu der allmächtige Gott vor Augen: »Niemand ist gut als Gott allein." Von uns aber gilt das andere Wort Jesu: »Ihr sollt vollkommen sein wie der Vater im Himmel." (1902).

12. Vergebung der Sünden. Lk. 18, 10—12. Zwei Menschen gingen hinauf zum Heiligtum zu beten, der eine ein Pharisäer und der andere ein Zöllner. Der Pharisäer trat hin und betete so bei sich: Gott, ich danke Dir, daß Ich nicht wie die übrigen Menschen bin, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner Der Zöllner aber blieb von weitem stehen und mochte seine Augen nicht zu Gott erheben, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott sei mir Sünder gnädig.

Jesus hat seinen Jüngern gesagt, daß sie vollkommen werden sollten, wie ihr himmlischer Vater, er hat auf die Frage: »Meister, was muß ich tun, daß ich das ewige Leben ererbe?" auf die Gebote verwiesen: »Tue das, so wirst Du leben". Er hat die Furcht vor dem allmächtigen Gott gepredigt, der Leib und Seele verdammen kann. Aber er hat keine unerträgliche Last auf die

Seele feiner Jünger gelegt. Seine predigt hat noch eine Kehr­ seite. Er predigt den Seinen den himmlischen Vater, dessen tiefstes Wesen sich dem verlorenen Sohn offenbart, dessen Innerstes stch erschließt in der Vergebung der Sünden. Und da, wo Jesus von diesem tiefsten Geheimnis des Glaubens redet, erhebt er sich auch schon in seiner Sprache zur höchsten und herrlichsten plastischen Kraft. Wenn wir seine Gleichnisse uns vergegenwärtigen, - stehen nicht vor fast allen anderen in unserem Gedächtnis die vom verlorenen Sohn, vom Hirten, der sein verlorenes Schaf sucht? Wie treue Freunde haben diese Gleichnisse, niemals vergessen, das Leben der Menschen begleitet und es mit hohem ewigen Trost erfüllt. Zu jenen beiden gesellt sich als drittes das vorliegende vom Pharisäer und Zöllner. Es enthält freilich einen doppelten Klang, einen ver­ urteilenden und einen tröstenden. — Heute wollen wir wesentlich nur den einen hören, nur die Lichtgestalt dieses Gleichnisses wollen wir ins Auge fassen, nicht ihre Folie.

Ein Zöllner naht sich dem Heiligtum zum Gebet. Es war eben ein Zöllner wie die anderen alle. Die Frommen haben ihm lange genug gesagt, daß er nicht fromm sei, in seinem Stand und Beruf nicht fromm sein könne. Da hat er denn auch seiner­ seits es aufgegeben, fromm zu sein. Er hat den Gedanken an den lebendigen Gott sich aus dem Sinn geschlagen. Der war nichts für seinesgleichen. Wenn er nun zum Tempel zum Beten hinaufgeht, so war das ein Rest von alter Gewohnheit, die sich einmal ausnahmsweise bei ihm regte. Er fühlt sich auch gar nicht heimisch in den heiligen Räumen unter den frommen Tempelbesuchern. Scheu und verlegen bleibt er im Winkel »von weitem" stehen. Da geschieht etwas Wunderbares. Vor seine Seele tritt der lebendige Gott. Die Sehnsucht nach ihm war in ihm nie ganz erstorben. Er hatte sie mit der Muttermilch eingesogen,- die Seele des Heranwachsenden Mannes hatte sich freilich gegen sie verschlossen, aber wie die Luft den atmenden Menschen umgibt, so hatte ihn auch die ganze Atmosphäre der Frömmigkeit seines Volkes umgeben. Auf dem Untergründe seiner Seele war etwas lebendig geblieben. Nun schlägt, lange unterdrückt, die Sehnsucht nach dem lebendigen Gott in Flammen empor. Und blitzartig fällt ein Licht über sein vergangenes Leben. Wie war alles, was er gelebt hatte, doch so schal, in­ haltsleer und nichtig gewesen. Ein Arbeiten und Mühen um totes Gut, ein Hasten und Treiben, er weiß selbst nicht wohin. Der Gedanke wirft ihn nieder: Gott sek mir Sünder gnädig.

Aber in demselben Moment findet er auch den Weg nach oben, zu Licht und Leben. Gott sei mir Sünder gnädig. Jesus verlangt nicht von uns, daß wir uns alle insgesamt und zu jeder Zeit dem Zöllner in diesem Evangelium gleichstellen sollen. Er hat die Menschen nicht mechanisch eingeteilt in Phari­ säer aus der einen, Zöllner auf der anderen Seite. Er kennt viele Mittelstufen zwischen diesen beiden äußersten Grenzfällen, der menschlichen Sicherheit und Selbstgefälligkeit auf der einen, der Gottesvergeffenheit und Verlorenheit auf der anderen Seite. Er kennt frohe Gotteskinder, die nicht fern vom Himmelreich sind, einfältige Fromme, die er selig preist. Und es steht zu hoffen, daß recht Viele unter uns ihr Leben näher bei Gott geführt haben, als dieser Zöllner vor jener Gebetstunde. Die Forderung, daß wir uns durchaus auf die Stufe des Zöllners stellen und ein gleich lebhaftes Bewußtsein unserer Sünde er­ zeugen sollen, kann sehr leicht zu einer künstlichen, verschrobenen, ungesunden Frömmigkeit, zur Unwahrhaftigkeit und zu jenem geistigen Hochmut führen, da der vermeintliche demütige Zöllner zu sprechen beginnt: „Ich danke Dir Gott, daß ich nicht bin wie jener Pharisäer/ Das hat Jesus nicht gewollt. Und doch ist sein Gleichnis zu jedem für uns gesprochen. Es kommen in jedem Leben un­ gesucht Stunden, in denen sich eine völlige geistige Zerschlagen­ heit unserer bemächtigt, in denen der gute Wille Gottes so un­ erreichbar hoch vor uns steht und wir uns noch so flügellahm fühlen, so träge und matt, so schwer belastet von unserer Ver­ gangenheit mit ihren Sünden und Schwächen, — so fern von Gott und seiner Liebe und Treue. Dann beginnt das Gleichnis vom Zöllner zu uns zu sprechen von einem Gott, dessen Gnade und Treue bis in das Dunkel unserer Sünde hinab reicht, von einem Vater im Himmel, der uns nicht läßt, wenn wir ihn nur nicht lassen, von unserm Gott, der uns will trotz unserer Sünden und Fehler, wenn wir sehnend und zagend immer aufs neue beginnen, unser Herz ihm zu öffnen und unfern Willen zu stählen an seinem allmächtigen Willen. (1902).

8 • *ff et

O

82

Liebet Eure Feinde.

13.

„Liebet Eure Feinde." Matth. 5, 43 — 45, 48. Ihr habt gehört, daß gesagt wurde: Du sollst Deinen Nächsten lieben und Deinen Feind Haffen. Ich aber sage Euch: Liebet Eure Feinde und betet für Eure Verfolger, damit Ihr Söhne Eures Vaters im Himmel werdet. Denn Er läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute, und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. — Ihr sollt nun voll­ kommen sein, wie Euer himmlischer Vater vollkommen ist.

Es ist eine ungeheure Anforderung, die Jesus hier an seine Jünger stellt. Sie sollen ihre Feinde lieben. Und zwar alle Feinde, nicht nur die Gegner, die ihnen in ihrem alltäglichen privaten Leben Unrecht getan haben, sondern die Feinde des öffentlichen Lebens, die sie um der Sache, um ihres Volkes und um Gottes willen hassen zu müssen glauben. Denn nur wenn Jesus dieses meinte, so hatte er recht, wenn er die in seinem Volke und seiner Zeit herrschende Stimmung in die Worte zu­ sammenfaßte: „Du sollst Deinen Nächsten lieben und Deinen Feind hassen." Es war in der Tat charakteristisch für die Durchschnittsfrömmigkeit des jüdischen Volkes in Jesu Tagen, daß sie den Haß um Gottes willen lehrte und pflegte. Der Jude haßte den Römer und den Samariter, der Pharisäer haßte den Sadducäer, die besonders Frommen haßten die Sünder und Zöllner und das gemeine Volk, das es mit der „Frömmigkeit nicht so genau" nahm, — das alles um Gottes willen. In dieser Welt des Haffes erblüht die Wunderblume des Evan­ geliums: Liebet eure Feinde. Liebet eure Feinde — das ist ein hohes und wunderbares Gebot, das nur dem Evangelium eigen ist, ein köstlicher Edelstein, den es allein besitzt. Dem jüdischen Frommen zu Jesu Zeit wird dieses Wort Jesu als törichte Utopie eines Schwärmers erschienen sein. Und nicht nur den, Geschlecht in Jesu Tagen. Jeder, der nicht im Glauben des Evangeliums steht, wird genau dasselbe Urteil fällen. Das Gebot, den Feind nicht zu hassen, wird man allenfalls noch begreiflich und verständlich finden. Es kann als ein Gebot der Klugheit verstanden werden, sich auch durch die erbittertsten Angriffe und Anfeindungen des Gegners nicht aus seiner Ruhe bringen lassen, das ist das Zeichen einer starken und überlegenen Persönlichkeit. Aber den Feind lieben, nicht nur den Feind, der uns in unserem Privatleben ungemütlich wird, nein, den Gegner, dessen Wirken wir als verderblich empfinden, den

wir um der Sache willen mit heiligem Zorn bekämpfen, der uns unsere Ideale vernichtet, der uns unser Volk zerstört, der uns unseren Glauben an Gott entreißen mochte, den Feind lieben, — das ist sinnlos oder übermenschlich. So wird man rings-umher urteilen. Aber Jesus sagt seinen Jüngern, weshalb sie Fetndesliebe üben müssen. Sie möchten ja dermaleinst, wenn das Fazit ihres Lebens gezogen wird, wenn sie vor Gottes durchdringendem Auge stehen, als Söhne Gottes anerkannt werden und einziehen ins ewige Leben. Wenn sie aber Söhne Gottes werden wollen, so müssen sie hier unten auf Erden anfangen, ihm innerlich ähnlich zu werden. Und nun zeigt Jesus seinen Jüngern diesen Gott, an den sie glauben, diesen unendlich reichen Gott, der seine Segnungen ausströmen läßt, ohne zu fragen, wie sie ausgenommen werden. Den Gott, der seinen Regen auch ins Meer schüttet wie auf dürre Steppen, den starken Gott, der gelassen den Menschen zuschaut, auch wenn sie sich gegen ihn empören, den Gott, der seines Zieles so sicher ist, daß er sich durch Widerstand nicht erbittern läßt, und die, welche meinen, seine Gegner zu sein, segnet. — Sursum corda: „Ihr sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist." Und Jesus sagt seinen Jüngern, weshalb sie Feindesliebe üben können. Er predigt ihnen den guten, allmächtigen Gott. Mags auch in dieser Wett wirr aussehen und das Böse an allen Ecken und Kanten scheinbar triumphieren, — Gott sitzt im Regiment und hat das Ziel dieser Welt, auch unseres Lebens und unserer Arbeit, in seinen starken Händen. Er bürgt dem Glaubenden den Sieg des Guten. Und in diesem frohen Glauben kann ein Jünger Jesu die Tapferkeit und Höhe der Gesinnung gewinnen, den Feind, auch wenn er mit ihm kämpfen muß auf Tod und Leben, um Gottes willen dennoch zu lieben. Er wird in ihm, wenn s ihm auch noch so schwer wird, unter allen Hüllen und durch alle Entstellungen hindurch das Kind Gottes sehen, das, wie er selbst, im letzten Grunde aus dem Willen des guten himmlischen Vaters stammt. „Liebet eure Feinde" — es bleibt trotz alledem ein Gebot, dessen Last uns fast allzuschwer dünken will, wenn wir uns ehrlich prüfen. Es zwingt uns auf die Knie und zeigt uns uns selbst in unserer zwerghaften sittlichen Kleinheit und Nichtigkeit. Jesus führt seine Jünger mit diesem Gebot auf eine Höhe, auf der uns schwindelt und uns der Atem auszugehen droht: „Ihr sollt vollkommen sein, wie Euer himmlischer Vater vollkommen ist." Und auf unsere bange Frage: „Herr, können wir das?" antwortet

er: »Ihr sollt vollkommen sein. Uns bleibt nichts übrig, als in Demut auch hier zu sprechen: „Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben/ (1902).

14.

„WLr sind Knechte". Luk. 17, 7—10. Wer von Euch, der einen Knecht beim pflügen oder auf der Weide hat, spräche zu ihm, wenn er vom Felde heim­ kommt: „Komm sofort her und sehe Dich zu Tischs. Wird er nicht vielmehr zu ihm sprechen: „Bereite meine Mahlzeit, gürte Dich und bediene mich, bis ich gegessen und getrunken habe, und danach iß und trink auch Du/" Dankt er etwa dem Knecht, daß er das Befohlene getan hat? So sprechet auch Ihr, wenn Ihr alle- Befohlene getan habt: „Wir sind Knechte, wir haben getan, was wir tun mußten/"

Es wird dem Evangelium, wie es Jesus predigt, oft zum Vorwurf gemacht, daß soviel darin vom Lohn der Frommen die Rede sei. Man müsse das Gute tun um seiner selbst willen und nicht um Lohnes, auch nicht um himmlischen Lohnes willen. Dabei vergißt man, daß Jesus in der Sprache seiner Zeit reden und mit den Gedanken seiner Umgebung sich verständlich machen mußte. Dies Gleichnis zeigt, wie innerlich frei Jesus von jedem Lohngedanken war. Es richtet sich gegen die anspruchsvolle Frömmigkeit und die eitle Selbstgefälligkeit derer, die als Führer und Lehrer der Frömmigkeit im Volke unverdientes Ansehen genossen. Deren Frömmigkeit ging allerdings ungefähr im Lohngedanken auf. Die schwersten und zwecklosesten Lasten luden sie sich willig auf die Schulter. Aber Gott sollte sie auch dafür lohnen und ihnen im Diesseits, jedenfalls aber im Jen­ seits mit reichen Gütern und ersten Ehrenplätzen vergelten. Und mit Hochmut schauten sie auf die Masse herab, die kein solches Kapital von Verdiensten im Himmel angelegt, wie sie, die Frommen, die Freunde Gottes. Mit wie einfachen Mitteln wirkt und streitet Jesus auch hier. Durch eine kleine und schlichte Erzählung vernichtet er jene schlechte, falsch berühmte Frömmigkeit. Er erinnert mit Nachdruck

an den Abstand zwischen Gott und Mensch, den jene Frommen, wenn sie ihn auch sonst genau kannten, in ihrer Selbstgefälligkeit vergessen hatten. Er sagt ihnen: Gott ist der Herr, und Ihr seid Knechte. Ja, viel größer als der Abstand zwischen Herr und Knecht ist der zwischen Gott und Euch. Gott ist der unend­ lich Reiche, und Ihr seid Bettler, Gott ist der Geber, er gibt Euch alles, Leben und Licht, Eltern und Heimat, Gaben und Güter. Ihr armseligen Menschenkinder, was wollt ihr ihm geben, daß er nicht schon hätte, wofür er Euch danken müßte! Ihr seid Knechte.

Wie einfach und überzeugend ist das alles! Wie hat der Apostel Paulus sich bemüht in demselben Kampf gegen die Frömmigkeit der Werke und des Verdienstes. Wie mühsame und unendlich scharfsinnige Ausführungen hat er es sich kosten lassen, die pharisäische Verkehrung der Religion abzuweisen. Und während Jesu Gleichnis für den schlichten Verstand deutlich ist, so können — wir dürfen uns darüber nicht täuschen — nur geschichts- und sprachkundige Bibelforscher die entsprechenden Aus­ führungen des Paulus in dessen Briefen an die Römer und Galater verstehen. Auch hier gilt es, der Meister ist über dem Schüler. Gerade, wenn wir Jesus mit dem Größten seiner Jünger vergleichen, zeigt sich erst, wie hoch rind frei er steht. — Man hat auch im Kreise der Jünger Jesu an dem Gleichnis zu ändern versucht. Ts schien zu wenig und zu einfach, was Jesus hier sagte. Man fügte noch ein Wort hinzu und schrieb: Sprechet, wir sind unnütze*) Knechte. Man wollte eine noch etwas stärkere Betonung der menschlichen Sündhaftigkeit und Unzulänglichkeit in das Bild hineinbringen, als Jesus hineingelegt hat. Man störte dadurch seine Klarheit und überzeugende Kraft. Nein, die Knechte, die alles getan haben, würden unwahr sein, wenn sie sprächen: wir sind unnütze Knechte,- sie dürfen sagen: wir sind Knechte. Aber sie sind nicht mehr als das, darauf kommt es an.

So bleiben wir bei den Worten Jesu noch einmal stehen: Wir sind Knechte. Die Gefahr, die einst zu Jesu und Pauli Zeit der Frömmigkeit drohte, gegen die unser Luther einst kämpfte, — daß die Frommen aus der Frömmigkeit einen Handel mit Gott machten und durch verdienstvolle Werke Gottes Gunst zu erzwingen suchten — diese Gefahr liegt unserer heutigen evangelischen Frömmigkeit ziemlich fern. Wir Kinder des gegenwärtigen Ge­ schlechts denken nicht daran, uns durch unsere Werke ein Verdienst

*) Dafür, daß diese- Wort eingeschoben ist, zeugen noch die Hand­ schriften des Neuen Testaments, die es an drei verschiedenen Stellen bieten.

vor Gott zu erwerben. Viel näher liegt uns die Gefahr, in Selbstzufriedenheit und Sicherheit, im Gefühl unserer Kraft und unseres Könnens, gleichgültig in unserem Leben an unserm Gott vorüberzugehen. Auch so gilt uns das Gleichnis Jesu: „Ihr seid Knechte." — Wir sind Knechte. Alles, was wir haben und besitzen, ist nicht unser, wir haben es empfangen aus den Händen des reichen Gottes, wir sind mit Leib und Seele sein Eigentum. Alles, was wir sollen und können, ist, daß wir seine Gebote halten und den Posten im Leben, an den er uns gestellt, nicht verlassen. Und wenn wir Berge versetzten, wenn wir mit unserem Tun die Wett um uns her verwandelten, was können wir mehr tun, als was wir schuldig sind und was unser Gott von uns fordert. Daher fort mit aller Selbstgefälligkeit aus unserem Leben und unserer Person, möge der Geist der Einfach­ heit und Anspmchslosigkeit, der über unserem Gleichnis ruht, etnzlehen auch in unsere Herzen I (1901).

15 Jesus und die Ehebrecherin. Ioh. 8, 7- Wer sich schuldlos fühlt, werfe den ersten Stein auf sie.

Man hat ein beim Ehebruch ergriffenes Weib vor Jesus gebracht. Die Menge ist nach altem rohem Volksbrauch in Begriff, an der Sünderin die Todesstrafe der Steinigung zu vollziehen. Zuvor aber will man Jesu Urteil über diesen Fall hören, denn man kennt die vernichtende Strenge des Propheten in der Beurteilung des Ehebruchs. Jesus sitzt in sich versunken und zeichnet mit dem Finger Figuren in den Sand. Und als man ihn drängt, sein Urteil abzugeben, spricht er dieses wunder­ bare Wort: „Wer sich schuldlos fühlt, werfe den ersten Stein auf sie." Dann kümmert er sich um niemanden mehr und fährt fort, im Sande zu zeichnen. Da beginnt aus der Menge einer nach dem andern sich fortzuschlcichen. Und zu dem Weibe, das allein mit ihm zurückgeblieben, spricht Jesus: „Dann verurteile

auch ich Dich nicht, gehe hin und sündige von nun an nicht mehr." Dies Verfahren Jesu hat von jeher viel Anstoß und Verwunderung erregt. Die praktischen, die weit- und rechts­ kundigen Leute schlagen verwundert die Hände über den Kopf zusammen und klagen: wenn dies Verfahren Jesu allgemein nachgeahmt würde, wo sollen dann Recht und Gerechtigkeit, Ehre und Sitte bleiben! Jesus greift hier willkürlich kn ein durch Sitten und Herkommen geschütztes Rechtsverfahren ein. Die so sprechen, mögen sich beruhigen. Es steht nicht zu fürchten, daß bei unsern in Recht, Regel, Sitte, gesellschaftliches Urteil ekngeschnürten Verhältnissen Jesu Verfahren allzuviel Nachahmer findet.

Aber auch da, wo man unter tieferen Gesichtspunkten diese wunderbare Geschichte zu beurteilen versucht, steht man ihr vielfach ratlos gegenüber. Es ist doch kein Zufall, daß uns die Er­ zählung, die zu den perlen evangelischer Ueberlieferung gehört, in unseren Evangelien, wenn wir es genau nehmen, nicht über­ liefert ist. Sie ist durch Zufall kn eine alte Abschrift des Iohannesevangeliums hineingeraten, das ursprüngliche Evan­ gelium kannte sie nicht. Auch in den andern Evangelien findet fie sich nicht, oder doch nur wiederum in einigen Handschriften des Lukasevangeliums. Die erste Gemeinde der Jünger Jesu scheint sich dieser Geschichte geschämt und sie nicht überliefert zu haben. Und auch wir fragen vielleicht: wie kommt Jesus, der selbst die Ehescheidung so entschieden verwarf, der nach den ältesten evangelischen Berichten (mit Ausnahme des Matthäus­ evangeliums) nicht einmal den Ehebruch als Grund der Ehe­ scheidung hat gelten lassen, resp, ihn nicht als solchen erwähnt hat, wie kommt Jesus zu dieser Milde des Urteils und Ver­ fahrens? Aber wenn wir genauer überlegen, begreifen wir bald und antworten: gerade weil er das sittliche Ideal in dieser Hinsicht so hoch spannte, weil er die Heiligkeit der Beziehung zwischen Mann und Weib so tief erfaßte, konnte er so milde verzeihen und vergeben. Unbarmherzig ist nur die satte und kn sich be­ grenzte und befriedigte Durchschnittsmoral. Gerade je weniger sie verlangt, je äußerlicher sie ist, desto mehr ermöglicht sie ihren Anhängern das Hochgefühl, innerhalb der Grenzen des Erlaubten und Anständigen sich zu bewegen,- und wehe denen, die diese deutlich markierte Grenzlinie überschreiten! Sie verfallen der schonungslosen Aechtung jener guten Gesellschaft.

Wer aber wie Jesus der Majestät des Sittlichen ins Ant­ litz geschaut hat, wer erfaßt ist von seiner uns ständig über uns selbst htnaustreibendenf auf die Höhe führenden Art,- wer mit tiefem Schmerz die immer hinter dem Ideal zurückbleibeyde Unvollkommenheit des ringenden und kämpfenden Menschen empfunden hat: Niemand ist gut als Gott allein — der ver­ steht sein Verfahren. 3