Wiener Dialoge: Der österreichische Weg der Waldorfpädagogik
 9783205791126, 9783205786214

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Elisabeth Gergely · Tobias Richter (Hg.)

wiener dialoge Der österreichische Weg der Waldorfpädagogik

Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http  ://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78621-4 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Über­setzung, des Nachdruckes, der Entnahme von ­Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf ­fotomechanischem oder ­ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Daten­ver­arbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2011 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln · Weimar http  ://www.boehlau.at http  ://www.boehlau.de Umschlaggestaltung: Michael Haderer Umschlagabbildung: Wolfram Weh „bewegte flächen“ (Bronze) Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck  : Generaldruckerei Szeged, 6726 Szeged

i n h a lt s v e r z e i c h n i s 13

EINSTIM M UNG Irene Bulasikis · Stefan Gergely · Raoul Kneucker · Irmtraud Moravansky · Tobias Richter

LEIT M OTIV 15 Elisabeth Gergely · Tobias Richter: Das Thema erscheint     19 Tobias Richter: Was meint Dialog?     23 Tobias Richter: Waldorfpädagogik als Pädagogik des Dialogs   GRAVE F UNDAM ENTALE Wiener Prägungen 29

Elisabeth Gergely · Tobias Richter: Klimatische Grundbedingungen, Vielfalt und Offenheit

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Raoul Kneucker: Wien und Österreich – Brückenbildung, Vielvölkerstaat und eine ungenützte Chance

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Elisabeth Gergely: Fragen zur österreichischen Wesensart

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Elisabeth Gergely · Tobias Richter: Rudolf Steiner, ein Österreicher

42 Tobias Richter: Die Ost-West-Grenze – ein Lebensmotiv bei Rudolf Steiner  

F UGATO West-Ost-Dialog

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Wolfgang Schad: Wien, seine Natur- und Seelenlandschaft und der West-Ost-­ Kongress 1922

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Inhaltsverzeichnis

  67 Alexander Strakosch: Die besondere Note des West-Ost-Kongresses   70 Elisabeth Gergely: Der West-östliche Divan – Goethe und der Islam

PR Ä L U DIU M MIT LANGER F ERMATE Das Vorspiel endet 1938   75 Elisabeth Gergely · Tobias Richter: Die erste Wiener Rudolf-Steiner-Schule 1927   75 Ruth Stiglechner: Privatvolksschule für Knaben und Mädchen, Wien 1927     77 Elisabeth Gergely · Tobias Richter: Die Verbindung Wien–Budapest   77 Tobias Richter: Waldorfpädagogik im Donauraum – die Schulgründerin Hannah Krämer-Steiner      82 Friedrich Hiebel: Erinnerungsbilder an die erste Rudolf-Steiner-Schule in Wien   83 Tobias Richter: „Der gute Doktor Wantschura“   86 Elisabeth Gergely · Tobias Richter: Prüfungen und Schließung   86 Gerhard Volz: Besetzung Österreichs und der Überlebenskampf der Rudolf-SteinerSchule 103 Elisabeth Gergely · Tobias Richter: Was zwischen 1945 und 1955 (nicht) geschah 105 Tobias Richter: Reimar Thetter – eine prägende Gestalt GRANDE VALSE Im 3er-Takt zur Wiener Schule 111 Elisabeth Gergely · Tobias Richter: Es begann mit Kindergarten     111 Elisabeth Gergely: Bronja Zahlingen, Leben und Wirken

Inhaltsverzeichnis

115 Elisabeth Gergely · Tobias Richter: Kongresse bereiten die Schule vor     116 Elisabeth Gergely: Geschenke aus warmer Hand – Erinnerungen an Kitty Wenckebach   119 Elisabeth Gergely · Tobias Richter: Schulgründung als Kulturimpuls 119 Elisabeth Gergely: Aus dem Leben von Eleonora Zimmermann   122 Tobias Kühne: Der Ruf aus dem Osten – von Kolumbien nach Wien   126 Elisabeth Gergely · Tobias Richter: Die drei Rudolfinen gründen 126 Sieglinde Wendt: 1966 – Beginn der Rudolf-Steiner-Schule 128 Elisabeth Gergely · Tobias Richter: Die neue Heimstatt – das Maurer Schlössl 129 Paul Schütz: Die Renovierung des Maurer Schlössls 134 Elisabeth Gergely · Tobias Richter: Schlossaktivitäten 134 Tobias Kühne: Abendmusik im Maurer Schlössl 136 Elisabeth Gergely · Tobias Richter: Weitere Entwicklung der Maurer Schule   136 Michael Stransky: 12. Klasse 1975 – ein Experiment geht zu Ende 138 Karl Sretenovic: Impressionen eines Schulaufsichtsbeamten

PENTATONISCHE VARIATIONEN Fünf Gestaltungsfelder der Schule

143 Elisabeth Gergely · Tobias Richter: Was bedeutet Gestalt? 143 Regula Hetzel: Sozialgestalt – Zusammenarbeit mit den Eltern 146 Irene Bulasikis: Selbstverwaltung – Qual oder Ideal?

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Inhaltsverzeichnis

147 Linda Kneucker: Rauchzeichen – oder: Wie verbessern wir die Eltern-Lehrer-Zusammenarbeit? 149 Raoul Kneucker: Die Rechtsgestalt der Waldorfschulen in Österreich 162 Tobias Richter: Die Lehrplangestalt 170 Elisabeth Gergely · Tobias Richter: Arbeit an der physischen Gestalt     171 Christian Hitsch: Das Werden der Innenraumgestalt 177 Elisabeth Gergely · Tobias Richter: Materielle Grundlage des Gestaltens     177 Elisabeth Gergely: Wirtschaftsgestalt – Geld als soziales Medium 180 Elisabeth Gergely · Tobias Richter: Hermes-Österreich und der Ostfonds 181 Theresia Bitzner: Profil von Hermes-Österreich 181 Elisabeth Gergely: Ostfonds

RONDO Entfaltung und Ausbreitung

185 Elisabeth Gergely · Tobias Richter: Die Wiederholung eines Motivs 186 Angelika Lütkenhorst: Waldorfschulen in Österreich 187 Elisabeth Gergely: Bundesweite Initiativen der Waldorfpädagogik 189 Elisabeth Gergely · Tobias Richter: Pädagogik und Kunst = Erziehungskunst

DIE K UNST DER F UGE : K ONTRAP UN KT US I –XI Impulse aus dem Dialog   193 Elisabeth Gergely · Tobias Richter: Dialogkultur

Inhaltsverzeichnis

194 Elisabeth Gergely: Die erste Dialog-Veranstaltung mit Rupert Sheldrake und Andreas Suchantke 198 Andreas Suchantke: Der Dialog „Morphische Felder – Bildekräfte und seine Fortsetzung“ 203 Elisabeth Gergely · Tobias Richter: Geistesgegenwart und Zeitgenossenschaft PR ÄL U DIU M II Aufbruch in die neue Welt   211 Carlo Willmann: Erziehung und Bildung im Dialog

227 F INALE Tobias Richter

PROGRAM MHINWEISE

DIE DIRIGENTIN 233 Irmtraud Moravansky: Die Dirigentin Elisabeth Gergely   DAS ORCHESTER 244 Irene Bulasikis: Die Ausbreitung der Waldorfschulen, der ­anthroposophischen ­Heilpädagogik und der Waldorfkindergärten in Österreich 269 Danksagung 271 Autorinnen und Autoren

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e i n s t i mmu n g

E i n s t i mmu n g Irene Bulasikis · Stefan Gergely · Raoul Kneucker · Irmtraud Moravansky · Tobias Richter

Ein bedeutendes Wiener Orchester, so erzählt die Sage, gastierte in China. Die Zuhörer waren von dem Konzert begeistert und erbaten Zugabe um Zugabe. Als das Repertoire erschöpft war, wurden sie gefragt, was sie denn noch hören wollten. „Das erste Stück, bitte sehr nochmals.“ Das wurde gespielt, doch die Zuhörer meinten freundlich, dieses nicht, denn das sei schon das zweite Stück gewesen. Schließlich stellte sich heraus: Sie wollten die Einstimmung des Orchesters hören … Die Einstimmung als gültiger Konzertbeitrag – das hatte das Redaktionsteam (Irene Bulasikis, Stefan Gergely, Raoul Kneucker, Irmtraud Moravansky, Tobias Richter), welches das vorliegende Buch konzipierte, bei seinen Besprechungen oft erlebt: Was hier im Nachdenken geschah oder im hoffnungsfrohen Stimmengewirr, aus dem schließlich das Konzept des Buches entstand, soll an dieser Stelle – zumindest in Auszügen – aufgeschrieben werden: Gibt es überhaupt ein österreichisches Spezifikum der Waldorfpädagogik und wie stellt es sich dar? Vielleicht liegt es in der besonderen Bedeutung, dem besonderen Rang, welcher der Kunst und einer Entwicklung der Pädagogik aus der Kunst heraus beigemessen wurde. Aber ist das wirklich „österreichisch“? Das Ausgangsmaterial – Biografien, Stimmungs­bilder zur Entwicklung der Rudolf-Steiner-Schule Wien/Mauer – reicht zunächst zumindest für eine Chronik … Wer aber soll, wer will diese lesen? Nochmals fragten wir uns: Wo ist das Besondere zu suchen? Etwa direkt bei Rudolf ­Steiner, der in Österreich Grenzgängertum, Begegnungen zwischen Ost und West, Technik, Natur- und Geisterfahrung erlebte? Daran knüpfte sich die Frage, ob und wie diese Erfahrungen in die durch ihn begründete Pädagogik eingeflossen sind. Ist aus Rudolf Steiners pädagogischem Werk der dem Wiener vertraute Umgang mit „Ober- und Untertönen“ herauszulesen? Liegt das Österreichische/speziell Wienerische in der besonderen Art der Auseinandersetzung – oder der Verweigerung dieser – mit Alt und Neu, mit kultureller Tradition und Zukunftsimpuls, und welche Rolle spielt dabei die Habsburger Prägung mit der daraus ererbten Rechtssituation? Und wenn wir über Prägung nachdenken: Gibt es außer einer historisch-kulturellen auch eine geografisch-geologische? Dann gälte es also auch darzustellen, was im Wiener Becken – und, weiter gefasst, im Donauraum – historisch-kulturell und geografisch-geologisch entstanden ist … Das waren Einstimmungsbemühungen. Daraus ergab sich eine erste Standortbestimmung der durch Elisabeth Gergely angeregten Publikation über die Entwicklung der Waldorfpädagogik in Österreich:

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Einstimmung

Ziel des vorliegendes Buches ist es, Wien als Ort darzustellen, an dem sich die Begegnung von West und Ost schon immer ereignet hat, und vor diesem Hintergrund eine Pädagogik zu beschreiben, welche sich der Entwicklung einer Begegnungskultur verpflichtet sieht. Das führte zum Arbeitstitel: Alles wirkliche Leben ist Begegnung. Dieses Zitat aus Martin ­Bubers „Das dialogische Prinzip“ veranlasste Elisabeth Gergely später, den geplanten Titel zu ändern in: Erziehung zur Freiheit – Erziehung zum Verbundensein – der Weg der Waldorfpädagogik ins 21. Jahrhundert. Dieser Titel ging uns aber zu wenig auf das Spezifische der Entwicklung im Donauraum ein. Neuer Versuch: Freiheit und Verbundensein – der Wiener Weg der Waldorfpädagogik. Das klang gut – und die Alliteration im Untertitel eröffnete einen vielfältigen Assoziationsraum. Andererseits griff dieser Titel zu kurz, denn in Wien ereignete sich nur der Anfang einer erstaunlichen Entwicklung, die heute ganz Österreich umfasst. In der weiteren Folge zeigte sich, dass die Publikation eine besondere Form nahelegte, eine, die einer musikalischen vergleichbar ist. Allerdings existiert keine klassisch-symphonische Form, in welche die österreichische Entwicklung der Waldorfpädagogik hätte gebracht werden können. Außerdem gab es zu viele Seiten- und Nebenthemen, bis schließlich der gemeinsame Weg, die „österreichische“ Gestalt, gefunden wurde: Der Kammerton A, auf den sich alle Instrumente beziehen, stand fest: die Waldorfpädagogik. Die einmalige Kompositionsform tauchte erst auf, als immer deutlicher wurde, was durch die Orientierung an Martin Buber als Oberton mitschwang: der Dialog. Der war mehr und mehr zu Elisabeth Gergelys Lebensthema als Autorin der „Dialoge in Wien“ geworden – worüber in diesem Buch ausführlich berichtet wird. Ebenso war es der Dialog zwischen West und Ost, dem sich Rudolf Steiner in dem großen anthroposophischen Kongress im Jahre 1922 in Wien widmete. Schließlich öffnete das Thema „Erziehung und Bildung im Dialog“ den Blick auf zukünftige Entwicklungs- und Gestaltungsaufgaben. Und all das ist letztlich die Frucht eines Gesprächs zwischen Elisabeth Gergely und Tobias Richter, das als Oral History das ganze Buch durchzieht …

Elisabeth Gergely beim Interview mit Tobias Richter; Bildnachweis: Archiv Linda Kneucker

da s t h e m a e r s c h e i n t

Tobias Richter: Beginnen wir mit dem Aufbau der Waldorfpädagogik in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg, an dem du in entscheidender Weise beteiligt warst. Das Zentrale wird dabei das Gespräch, der Dialog sein. Was sind für dich die Grundbedingungen eines guten Gesprächs? Elisabeth Gergely: Eine Biografie über Thomas von Aquin berichtet über die mittelalterliche Disputation – und diese Beschreibung hat mich sehr beeindruckt: Der erste Redner entwickelte seine Anschauung zum Thema der Disputation. Der Partner hatte zunächst das Dargestellte zu wiederholen, bevor er seine Entgegnung aufbauen durfte. Thomas von Aquin war jedenfalls ein Meister darin, die Anschauung des ersten Redners tiefer und besser darzustellen und für die Anwesenden verständlich zu machen. Dann erst erfolgte seine kraftvolle Widerlegung. TR: Warum ist dieser Vergleich als Charakteristikum für ein Gespräch für dich so wichtig? EG: An diesem Beispiel, das sich natürlich eher auf ein wissenschaftliches Streitgespräch bezieht, erlebte ich aber, wie ich selbst – oftmals schnell und ungeduldig – meine Meinung einbrachte, ohne mich um ein wirkliches Verstehen des Vorgebrachten zu bemühen. Darum geht es mir: Ohne ein solches Verstehen kann sich weder ein Gespräch noch ein Dialog entwickeln. Vor diesem Hintergrund wurde der Dialog für mich ein hohes Ideal und Ziel. TR: Was ist aber das Gespräch selbst? Was erwartest du von einem solchen? EG: Dass sich etwas entwickelt, dass ein Thema sich entfalten kann. TR: Oft zitiert wird die Passage aus Goethes Märchen von der Schlange und der schönen Lilie: „Was ist erquicklicher als Licht? Das ­Gespräch.“ Wenn man weiß, was erquicklich ist, dann wäre ein Gespräch noch eine Stufe erquicklicher … Mit Erstaunen und Ehrfurcht sah die Schlange in eine glänzende Nische hinauf, in welcher das Bildnis eines ehrwürdigen Königs in lauterem Gold aufgestellt war. Sein wohl gebildeter Körper war mit einem einfachen Mantel umgeben, und ein Eichenkranz hielt sein Haar zusammen. „Was ist herrlicher als Gold?“, fragte der König. „Das Licht“, antwortete die Schlange. „Was ist erquicklicher als Licht?“, fragte jener. „Das Gespräch“, antwortete diese.

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Leitmotiv

„Was hast du beschlossen?“ „Mich aufzuopfern, ehe ich geopfert werde.“ J. W. Goethe:  Das Märchen von der Schlange und der schönen Lilie

EG: Erquicklich ist nährend, etwas, das positives Echo oder positive Energie anregt. Das setzt aber Öffnung voraus. In einem Gespräch muss man sich öffnen können und dürfen. Dabei ist man dann aber auch ungeschützt und verletzlich. Bildet sich Vertrauen, kann das Gespräch tiefer werden, sodass eine echte Begegnung stattfindet. Auf keinen Fall ist es aber nur Diskussion oder Informationsaustausch. Letztere gehen rasch vonstatten und vermeiden eher die Begegnung, als dass sie diese fördern oder zulassen. Dazu fällt mir ein Gedicht von Goethe aus den chinesisch-deutschen Tages- und Jahreszeiten ein. Einen Teil kann ich auswendig. Ich glaube, er meint die Diskussion: Mich ängstigt das Verfängliche Im widrigen Geschwätz, Wo nichts verharret, alles flieht. Wo schon verschwunden, was man sieht; Und mich umfängt das bängliche, Das graugestrickte Netz …

Information und Diskussion sind schnell, setzen Punkte, gehen auf ein Ziel zu, erwarten dieses beziehungsweise haben ihr graugestricktes Netz nach diesem ausgeworfen. Bei einem Gespräch sollte man keine gezielten Erwartungen haben; es vermeidet oft den Punkt, schafft eher Doppelpunkte, und manchmal findet man Goldkörner am Grund … TR: Meinst du, dass diese auch Charakteristika für die Besonderheit der Waldorf-Schulentwicklung sind? EG: Das muss sich im weiteren Verlauf unseres Gesprächs zeigen …

Wa s m e i n t D i a l o g ? Tobias Richter

Dialog leitet sich her vom Altgriechischen διαλέγεσθαι (dialégesthai): „sich unterhalten“, „sich unterreden“ oder von διαλογείν (dialogeín): „einander zurechnen“. Das erste ist dynamisch, das zweite verweisend, festlegend, auch abgrenzend. Da geht es um Autorschaft. Jede Äußerung trägt eine Unterschrift. Betrachtet man die Wortwurzel διά“ (diá): „(hin-)durch“ in Verbindung mit λόγος (lógos): „Wort“, „Sinn“, „Bedeutung“, dann könnte Διάλογος (Dia-logos) auf den durch die Worte hindurchscheinenden Sinn oder auf deren Bedeutung verweisen. Es geht also um eine Kommunikationsform – oder besser: Mit Dialog ist die Grundform der Kommunikation angesprochen. Dabei kann es zu einer Intensivierung und Vertiefung des Gesprächs kommen, wobei Gefühle, Wertungen und Vorannahmen, die unser Handeln leiten, ins Bewusstsein gehoben werden. Klärung tritt ein – auch in Bezug auf die eigenen Erfahrungen und die Biografie. Das ist jedoch nie eine Einbahnstraße, wie man es im Inneren Monolog erlebt: Der Gesprächspartner offenbart sich, sodass er tiefer verstanden werden kann; durch dieses Verstehen, durch diese Begegnung wird die Möglichkeit geschaffen, auch den eigenen Standpunkt neu zu sehen, ihn und die damit verbundene Haltung zu verändern. David Blohm, der amerikanische Quantenphysiker und Philosoph (1917–1992), sah im Dialog einen Weg zur grundlegenden Transformation, nicht nur von einzelnen Menschen, sondern auch von Gruppen. Alles Lernen, sofern man dies nicht als reine Wissensanhäufung versteht, ermöglicht Transformation. Hierbei muss der Dialogpartner nicht unbedingt eine Person sein. Ein Wort, ein Gedanke, eine Naturerscheinung können diese Rolle übernehmen, wenn wir mit ihnen in ein inneres Gespräch eintreten, das manchmal meditativen Charakter hat. Im und durch den Dialog lernt man, lernt man anders oder neu zu sehen, zu hören, zu denken. Diese Sichtweise ist seit der klassischen Antike bekannt, wo sie nicht etwa anfänglich, sondern in einer Hochform von Platon in den Dialogen seines Lehrers Sokrates beschrieben wird. Wichtig für den Dialog ist die völlige Akzeptanz des Gegenübers als ebenbürtigen Partner – und das wird mit Hinblick auf die Waldorfpädagogik im nächsten Kapitel näher auszuführen sein. Hier ist das Kind gemeint. Es als unmündig, weil jünger, kleiner und in vielem unerfahrener zu sehen, geht von einem fragwürdigen Hierarchiedenken aus. Dasjenige, was das Kind zeigt bzw. momentan zeigen kann, ist die Spitze seiner Individualität. (Man könnte auch „die Spitze des Eisbergs“ sagen, jedoch ist die Individualität des Kindes viel

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Leitmotiv

größer, viel umfassender als das, was man als momentane Äußerung sehen kann, was sich also außen – „oberhalb der Wasserlinie“ – zeigt.) Martin Buber, der Großmeister des dialogischen Prinzips, beschreibt dies in einer Art und Weise, die spüren lässt, dass sie auf großer Erfahrung beruht: „… Im echten Gespräch geschieht die Hinwendung zum Partner in aller Wahrheit, als Hinwendung des Wesens also. Jeder Sprecher meint hier den Partner, den oder die Partner, an die er sich wendet, als diese personenhaften Existenzen … Der Sprecher nimmt aber den ihm so Gegenwärtigen nicht bloß wahr, er nimmt ihn zu seinem Partner an, und das heißt, er bestätigt, soweit bestätigen an ihm ist, dieses andere Sein. Die wahrhaftige Hinwendung seines Wesens zum andern schließt diese Bestätigung, diese Akzeptation ein. Selbstverständlich bedeutet solch eine Bestätigung keineswegs schon eine Billigung; aber worin immer ich wider den andern bin, ich habe damit, dass ich ihn als Partner echten Gesprächs annehme, zu ihm als Person Ja gesagt.“1

Diese Aussage ist eine „optimistische“ und eine pädagogisch bedeutsame. Ohne Zuwendung, ohne „Akzeptation“, entsteht keine Begegnung („Akzeptation“ bedeutet Annahme, Wahrnehmung und Zuwendung; im Gegensatz zu „Akzeptanz“, die nur die Bereitschaft, etwas zu akzeptieren, meint). Und Begegnung verlangt Offenheit, die nicht verletzt werden darf. Wenn das gelingt, entsteht Vertrauen – Vertrauen, dass der einzelne Beitrag wichtig ist, dass nur durch diesen und andere Beiträge etwas entsteht, was es vorher noch nicht gegeben hat; das vielleicht schon im Geiste vorhanden und geahnt war, das aber erst durch und im Gespräch geboren wurde. Deswegen sprach Sokrates von seiner Hebammenkunst („Mäeutik“), die er ausübte; es gelang ihm, durch das Gespräch, den Dialog etwas auf die Welt zu bringen. „Aber in der großen Treue, welche der Atemraum des echten Gesprächs ist, hat das, was ich jeweils zu sagen habe, schon in mir den Charakter des Gesprochenwerdenwollens, und ich darf es nicht davon ab-, darf es nicht in mir zurückhalten. Es trägt ja, mir unverkennbar, das Zeichen, das die Zugehörigkeit zum gemeinschaftlichen Leben des Wortes anzeigt. Wo das dialogische Wort echtbürtig besteht, muss ihm sein Recht durch Rückhaltlosigkeit werden. Rückhaltlosigkeit aber ist das genaue Gegenteil des Drauflosredens. Alles kommt auf die Legitimität des »Was ich zu sagen habe« an. Und freilich muss ich auch darauf bedacht sein, das, was ich eben jetzt zu sagen habe, aber noch nicht sprachlich besitze, ins innere Wort und sodann ins lautliche zu heben. Sagen ist Natur und Werk, Gespross und Gebild zugleich, und es hat, wo es dialogisch, im Atemraum der großen Treue erscheint, die Einheit beider stets neu zu vollenden. Dazu gesellt sich jene Überwindung des Scheins …“2

Authentizität, Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit – erwarten diese Haltungen nicht auch die Kinder, die Jugendlichen als unsere Dialogpartner von ihren Lehrern? Wenn diese Tugenden nicht

Was meint Dialog?

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als moralischer Forderungskatalog verstanden werden, sondern als Evidenzerlebnis eines echten Dialogs auftreten, dann hat das Überzeugenwollen als Versuch der Meinungsdurchsetzung, um damit Macht auszuüben, keinen Raum. „Wenn ich statt des zu Sagenden mich anschicke, ein zur Geltung kommendes Ich vernehmen zu lassen, habe ich unwiederbringlich verfehlt, was ich zu sagen gehabt hätte, fehlbehaftet tritt es ins Gespräch und das Gespräch wird fehlbehaftet. Weil das echte Gespräch eine ontologische Sphäre ist, die sich durch die Authentizität des Seins konstituiert, kann jeder Einbruch des Scheins es versehren. Wo aber das Gespräch sich in seinem Wesen erfüllt, zwischen Partnern, die sich einander in Wahrheit zugewandt haben, sich rückhaltlos äußern und vom Scheinenwollen frei sind, vollzieht sich eine denkwürdige, nirgendwo sonst sich einstellende gemeinschaftliche Fruchtbarkeit. Das Wort ersteht Mal um Mal substanziell zwischen den Menschen, die von der Dynamik eines elementaren Mitsammenseins in ihrer Tiefe ergriffen und erschlossen werden. Das Zwischenmenschliche erschließt das sonst Unerschlossene.“3

Und damit wären wir wieder beim Anfang: Das in Gemeinsamkeit gesprochene Wort enthüllt seinen tieferen oder höheren Sinn, lässt ihn durchleuchten. Das ist der Moment der Geburt eines Neuen. Das Debattieren, um Recht zu behalten, kann das genaue Gegenteil sein: die Zementierung des Alten. Und je bedrohter sich dieses fühlt, umso lauter werden dessen Verteidiger. Das Neue, das geboren werden will, schreit nie. Um es zu hören, braucht es mehrerer, denen es sich im Gespräch, oft kaum vernehmlich, schenkt. Es braucht zuhörende, abwartende Begleiter. Die können und müssen Hebammendienste bei seiner Geburt leisten: „Selbstverständlich brauchen nicht alle zu einem echten Gespräch Vereinten selber zu sprechen; schweigsam Bleibende können mitunter besonders wichtig werden. Jeder aber muss entschlossen sein, sich nicht zu entziehen, wenn es etwa dem Gang des Gesprächs nach an ihm sein wird zu sagen, was eben er zu sagen hat. Wobei natürlich keiner von vornherein wissen kann, was das etwa sein wird: Ein echtes Gespräch kann man nicht vordisponieren. Es hat zwar seine Grundordnung von Anbeginn in sich, aber nichts kann angeordnet werden, der Gang ist des Geistes und mancher entdeckt, was er zu sagen hatte, nicht eher, als da er den Ruf des Geistes vernimmt.“4

Und sobald Buber in seiner Beschreibung der umgebenden Grundbedingungen eines echten Gespräches hier angelangt ist, erhebt er seine Stimme und warnt davor, was geschehen kann, wenn die Sprechenden diejenigen, die sich äußerlich nicht vernehmbar am Gespräch beteiligen, nicht als Partner, sondern als Publikum erleben. Dann beginnt das, was wir vorher als Überzeugen- und Siegen-Wollen beschrieben – und damit endet das echte Gespräch. Die Intimität, die ein Gespräch braucht, weil die Sprechenden sich mit „offenem Visier“,

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also schutzlos begegnen, wird nicht etwa verletzt, sondern wandelt sich in ihr Gegenteil: Sie wird zur Öffentlichkeit. Eine solche „… vorgeführte Unterredung ist von dem echten Gespräch brückenlos geschieden.“5 Diese Charakterisierung des Dialogs sei erweitert um eine Frage, die unser Thema mit dem Ursprung der Welt verbindet: Warum erschuf Gott Adam? Um sich mit ihm zu unterreden. ER wollte einen, der mit IHM Zwiesprache führt, indem er die Namen von allem aus dem Wort Geschaffenen erlauscht und sie ausspricht. Nicht von ungefähr hat sich Martin Buber so gründlich mit der Genesis beschäftigt. Dass dieses Thema einem, der aus Wien kam – Martin Buber wurde 1878 in Wien geboren – zum Hauptthema seines philosophischen Schaffens wurde, mag mit dem Geburts- und späterem Studienort und seiner biografischen Situation zusammenhängen: Buber entstammte dem jüdischen Religions- und Kulturkreis und wuchs in einer kulturellen und geografischen Umgebung auf, in der Achtung, Toleranz und Austausch notwendig waren. Nach der Trennung seiner Eltern, 1881, nahmen sich die Großeltern im galizischen Lemberg (heute Lwiw, Ukraine) seiner an. Bubers Großvater war Privatgelehrter und zu seiner Zeit der wichtigste Forscher und Sammler auf dem Gebiet der chassidischen Tradition des osteuropäischen Judentums. Nach dem Besuch des polnischen Gymnasiums in Lemberg studierte Buber in Wien, Leipzig, Zürich und Berlin Philosophie, Germanistik, Kunstgeschichte, Psychiatrie und Psychologie, u. a. bei Wilhelm Dilthey und Georg Simmel. Auch die Wahl der Studienfächer lässt erkennen, was auf die diaphane Bedeutung des Dia-Logos hinweist: Was sich in Sprache ausdrückt, kann tiefer, umfassender verstanden werden, wenn man Beziehungen zu Psychologie, Kunst und Philosophie herstellt. Damit wird das Wort durchscheinend. Unter dem Aspekt des Dialogs ließe sich auch Bubers weitere Biografie untersuchen, seine Ehe mit der katholischen Paula Winkler, sein Lehrauftrag für Jüdische Religionslehre und Ethik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt/Main (bis 1933), dann 1938 seine „Einwanderung“ nach Palästina, wo er bis 1951 an der Hebräischen Universität von Jerusalem Anthropologie und Soziologie lehrte. Das ist aber hier nicht das Thema. „Was meint Dialog?“ In der Beantwortung dieser Frage habe ich mehrfach bei Martin Buber Zuflucht gesucht. Die Bemerkungen zu Bubers Biografie sollen zeigen, wie ihm dieses Thema aus seiner Umgebung zugewachsen ist und er es ergriffen hat. Anmerkungen 1 Buber, M., Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1984, S. 293 2 a.a.O., S. 294 3 a.a.O., S. 295 4 a.a.O., S. 296 5 a.a.O., S. 297

Wa l d o r fpä da g o g i k a l s Pä da g o g i k d e s D i a l o g s Tobias Richter

Waldorfpädagogik ist eine Pädagogik des Dialogs. Der Dialog zwischen den Kindern, den Jugendlichen und den Lehrerinnen und Lehrern bildet den Grundpfeiler ihres offenen Curriculums. Damit ist gemeint, dass ohne diesen Dialog Waldorfpädagogik nicht möglich ist. Nur in dem Maße, in dem die Unterrichtenden gewillt sind, mit den Kindern unmittelbar zu kommunizieren, und wenn diese Kommunikation nicht geprägt oder eingeengt wird durch Leistungsdruck, verordnete Unterrichtsziele, reine Informationsvermittlung, nur in diesem Maße ist die Voraussetzung für eine echte Begegnung geschaffen. Diese Begegnung ereignet sich auch Tag für Tag im Wechselspiel von Frage, Antwort und immer neuer Frage: Wer bist du? Was willst du? Wohin gehst du? Das sind Fragen, auf die das Kind zunächst vielleicht keine beschreibenden Antworten geben kann, auf die es aber durch seine Lebensäußerungen antwortet. Und diese Antworten – je nach Entwicklungssituation der Kinder und Jugendlichen – sind es, welche die Grundlage des Curriculums bilden. In dem Vorbereitungskurs für die ersten Waldorflehrer macht Rudolf Steiner deutlich, wie er das Zustandekommen eines Curriculums sieht: „Wir müssen uns dem Lehrplan so nähern, dass wir uns in die Lage versetzen, eigentlich in jedem Augenblick ihn uns selber zu bilden, dass wir ablesen lernen, dem 7., 8., 9., 10. Jahre usw., was wir in diesen Jahren zu treiben haben.“1 Dazu ist es wichtig, beobachten und verstehen zu lernen, was sich in der Individual­ begegnung zeigt, wobei immer der kulturelle und gesellschaftliche Kontext berücksichtigt werden müssen. Danach gilt es, den adäquaten, damit korrespondierenden Inhalt (den „Stoff“) zu suchen. Für diese „Jäger- und Sammlertätigkeit“ der Lehrerinnen und Lehrer bedarf es der Übung, da es immer notwendig ist, von der Erscheinung zum Wesen einer Sache durchzudringen. Damit ist gemeint, dass es nicht reicht, an der Außenseite einer Welt- oder Kulturerscheinung stehenzubleiben – z. B. beim Schneeglöckchen oder Bruchrechnen – und nur diese zu vermitteln (botanisches Wissen, mathematisches Können). Die Anforderung an die Waldorf­lehrerin, den Waldorflehrer, besteht darin, Schneeglöckchen und Brüche gleichsam zu befragen, worin ihre Einmaligkeit, ihr Einzigartigkeit besteht. Dann erst kann die Begegnung mit dem Stoff im Unterricht jene Fähigkeiten hervorrufen, die das Kind, der Jugendliche entwickeln will, und die Fragen beantworten, derentwegen sich ein Schulbesuch lohnt.

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Schließlich steht die gesamte Unterrichtsgestaltung unter dem Zeichen des Dialogs: situativ, individuell, geistesgegenwärtig und – das ist wichtig! – humorvoll soll sie sein. In mehrfacher Hinsicht ist es ferner wichtig, dass der Unterricht zeitgemäß, kulturgemäß und sozialgemäß gestaltet wird: Eigenes schöpferisches und fantasievolles Gestalten aus einem „Urhebertrieb“, wie ihn Martin Buber nennt, trägt in sich den Keim von Vereinsamung. „Nur wenn ihn jemand an der Hand fasst (…), um ihm jenseits der Künste Gefährte, Freund, Liebender zu sein, wird er der Gegenseitigkeit inne und teilhaftig. Eine auf der Ausbildung des Urhebertriebs allein begründete Erziehung würde eine neue, schmerzlichste Vereinsamung der Menschen bereiten.“2 Ein intensiv gespieltes Instrument sind schließlich die Konferenzen an Waldorfschulen: Sie finden wöchentlich statt und sind unverzichtbare Bestandteile, um die kollegiale Führung der Schule zu organisieren und sich über pädagogische Fragen auszutauschen; damit kann und soll eine entscheidende Hilfe in der Vermeidung eines Solisten- oder Monolog­ prinzips gegeben werden. Von allem Anfang an skizziert Rudolf Steiner diese Art der Zusammenarbeit in der Konferenz und ein Co-Teaching-Prinzip: „Der musikalisch Unterrichtende sollte dem rezitierend Unterrichtenden möglichst nahestehen (…) Es würde besonders gut sein, wenn der musikalisch Unterrichtende noch bei dem Rezitation Unterrichtenden dabei sein könnte und umgekehrt, sodass der eine noch immer auf die Zusammenhänge mit dem anderen Unterricht hinweisen könnte. (…) Es muss der Unterricht als ein ganzer gestaltet werden. Darüber muss in der Wochenkonferenz der Lehrerschaft gesprochen werden.“3 Diese Zusammenarbeit ist ein viertes, zur Realisierung des Waldorf-Curriculums notwendiges Dialogelement: I Beobachtung und Studium der Individualentwicklung II Beobachtung und Studium der Gesellschafts- und Kulturentwicklung

III Übung in Weltbegegnung Von der Erscheinung zum Wesen

IV Zusammenarbeit in der Gestaltung des Unterrichts lebendig, authentisch und verantwortungsvoll Ein weiteres Dialogfeld ist die Begegnung mit den Eltern bzw. Erziehungsberechtigten. Diese Begegnung und das gemeinsame Gespräch mit ihnen wollen entwickelt und gepflegt werden. Man muss den Dialog suchen, wäre hier die Beschreibung einer Pflichterfüllung

Was meint Dialog?

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– man will ihn vielmehr suchen, weil zu der Begegnung mit den Kindern auch die Wahrnehmung des Elternhauses, der dort gepflegten Erziehungsstile, der dort herrschenden Wertmaßstäbe und der kulturellen Orientierung gehören. Bei der Ansprache zur Eröffnung der Waldorfschule in Stuttgart am 7. September 1919 stellte Rudolf Steiner den lebendigen Dialog zwischen Wissenschaft, Kunst und Religion als dasjenige dar, was eigentlich Unterricht und Erziehung sei. Diese Kulturbereiche, die mit dem seelischen Wesen des Menschen – erkennen, fühlen, handeln – verbunden sind, führen kein Solisten- oder Fachgespräch, sondern begegnen einander in der Gesinnung der Unterrichtenden. Damit benennt Steiner den Kulturauftrag, dem er die Waldorfpädagogik verpflichtet: einen Beitrag zur notwendigen Erneuerung des sozialen Lebens zu leisten. Und das Konstitutivum, das bestimmende Wirkungselement des Sozialen ist der Dialog. „Was wäre schließlich alles Sichfühlen und Erkennen und Wirken in der Menschengemein­ schaft, wenn es sich nicht zusammenschließen könnte in der heiligen Verpflichtung, die sich gerade der Lehrer, der Erzieher auferlegt, indem er in seiner besonderen sozialen Gemeinschaft mit dem werdenden, dem aufwachsenden Menschen, mit dem kindlichen Menschen einen im allerhöchsten Sinne so zu nennenden Gemeinschaftsdienst einrichtete? Alles dasjenige, was wir schließlich vom Menschen und von der Welt wissen können, wird es erst recht fruchtbar, wenn wir es lebendig überführen können in diejenigen, welche die soziale Welt gestalten werden, wenn wir nicht mehr mit unserer physischen Arbeit dabei sein können.“4 Anmerkungen 1 Steiner, R., Erziehungskunst – Methodisch-Didaktisches, GA 294, Freiburg 1947, S. 229 2 Buber, M., Reden über Erziehung, Heidelberg 1969, S. 17 3 Steiner, R., Erziehungskunst – Methodisch-Didaktisches, GA 294, Freiburg 1947, S. 61 4 Steiner, R., Eröffnungsansprache vom 7. 9. 1919, GA 298, Dornach 1980

K l i m at i s c h e G r u n d b e d i n g u n g e n , V i e l fa lt u n d Off e n h e i t

TR: In welchem kulturellen Milieu bist du aufgewachsen? EG: Mein Vater war freiberuflicher Architekt, Bauingenieur und Möbelerzeuger, und unsere ­Mutter war eigentlich lebenslang immer ganz um ihn bemüht, da er trotz eines schweren Bein­ leidens voll und tief in seinem Berufsleben stand. In meiner Kindheit und Jugend wohnten wir im 4. Wiener Bezirk, in der Theresianumgasse 17. Gegenüber lag das später im Krieg zerbombte Palais von Alfons Rothschild mit seinem großen Park. In derselben Gasse wohnte die Familie Roth. Alix Roth, spätere Mitarbeiterin des bekannten Kinderarztes und Heilpädagogen Karl König, besuchte dieselbe Klasse wie meine um fünf Jahre ältere Schwester Friedl. Der Schulweg der beiden – später wurde es auch meiner – führte durch den Schwarzenberggarten, der an den Park des Belvedere anschloss. In unserem Haus befand sich im Hochparterre eine Präsentation der jeweiligen Raumausstattung der von unserem Vater entworfenen und gebauten Häuser. Im ersten Stock war das Büro der Firma, die damals „Schönthaler & Silva“ hieß, und im zweiten Stock wohnte die Familie. Das Kinderzimmer lag neben dem unserer Großmutter mütterlicherseits. Diese hatte sich in jungen Jahren mit einem wesentlich älteren hohen polnischen Offizier und Festungsbauer (also auch einem Architekten) verbunden. Da dieser eine Scheidung hinter sich hatte, konnte keine katholische Trauung stattfinden. Die fünf Kinder aus dieser sehr glücklichen Ehe – unsere Mutter war das jüngste Kind – trugen alle den Mädchennamen der Mutter, Tranquillini, was damals als „Schande“ erlebt wurde. Väterlicherseits hatten wir einen deutschen Großvater – da man damals einen Ariernachweis erbringen musste, war das also immerhin „ein bisschen was“ – aber der hat eine Tschechin geheiratet, und das war dann schon nicht mehr so ganz arisch. Von „Rassenreinheit“ konnte man also nichts finden – und das war typisch für Wien – eigentlich ein herrliches Ergebnis der Monarchie, eine solch bunte Melange. Und ich meine, dass diese Melange, unter manchem anderen, zu den positiven Möglichkeiten des Wieners und des Österreichers beiträgt: Wie konnte dieser von der Familienherkunft her Nationalist werden, wenn die leibliche Grundlage dazu nicht vorhanden war? Als unser Großvater starb, musste die Großmutter für den Unterhalt der Familie, das Studium der Söhne und die Ausbildung der Töchter alleine sorgen, was sie großartig gemeistert hat. Diese so geprüfte Frau war weitgehend unsere Erzieherin, unser Vorbild. TR: Zu diesem ganzen „Ambiente“ gehörte doch auch noch der Einzug der Anthroposophie in euer Haus?

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Leitmotiv

EG: Einzug ist nicht richtig. Die Begegnung mit der Anthroposophie fand über den vor allem meinen Vater und meine Schwester behandelnden anthroposophischen Arzt Ferdinand Wantschura statt. Insofern meine Schwester allerdings bald beschloss, Eurythmie und nicht – wie mein Vater es wollte – Architektur zu studieren, war diese Begegnung eine schicksalhafte; letztlich auch für mich – jedoch erst nach meinem Studium. TR: Wie ist dein Studium an der Technischen Universität verlaufen? EG: Sie hieß damals Technische Hochschule. Das Studium ging sehr schnell, weil es eine Trimestereinteilung gab und die Hochschulen schwach besucht waren. Man hatte mehr Platz, als man in den Labors gebraucht hätte – also gerade das Gegenteil von dem Zustand, der heute herrscht. Wir hatten auch mit den Professoren ein ganz persönliches Verhältnis. Nach dem dritten Semester war ich schon wissenschaftliche Hilfskraft – so nannte man das damals – und war damit anstelle eines eingerückten Assistenten an der Hochschule angestellt. Dissertiert habe ich über ein Thema aus der organischen Chemie: eine neue Synthese des Pyrens. Das Pyren ist ein vierfacher Benzolring. Diese Substanz habe ich mittels einer neuen Methode hergestellt. TR: Aber danach wusstest du nicht recht, was du damit anfangen solltest? EG: Ich bin nach der Promotion – damals war ich das einzige Mädchen und die achte weibliche Studentin, die seit dem Bestehen der Hochschule doktoriert hat – in einen großen Zwiespalt gekommen: Ich sah mich mit meinem eigenen Unvermögen konfrontiert, den Inhalt des natur­ wissenschaftlichen Studiums anthroposophisch aufzubereiten oder anders zu verstehen. Ich wollte einen Dialog führen: Naturwissenschaft im Gespräch mit der Anthroposophie. Das ist mir nicht gelungen und hat mich damals sehr gequält. Ich hatte dann das Gefühl, ich sollte eine künstlerische Phase einschalten, um vielleicht danach mit dieser Fragestellung besser um­ gehen zu können. TR: Wie lange dauerte diese künstlerische Phase? EG: Sehr lange. Begonnen habe ich mit dem Eurythmiestudium 1946, beendet habe ich es 1951 und war bis 1979 aktive Eurythmistin. TR: Wie siehst du das Dialogthema Naturwissenschaft – Anthroposophie im Rückblick? EG: Das Thema tauchte immer wieder auf und wurde zu einem neuen zentralen Thema meiner Biografie ab den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts …

Wien und Österreich – Brückenbildung, ­Vielvölkerstaat und eine ungenützte Chance

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TR: Die biografischen Schilderungen deiner Kindheitszeit machten das vielfältige und weltoffene Milieu oder Klima deutlich, in welchem du aufgewachsen bist. Auch die Wahl deines Studiums – zu der damaligen Zeit ein eher ungewöhnliches für eine Tochter aus besserem Hause – verrät Neugier, Forscherdrang und damit Offenheit, die sich auch in deinen dialogischen Bemühungen zeigt. EG: Ja, es ging mir immer um Brückenbildung. Darauf zielten und zielen meine Fragen.

Wien und Österreich – Brückenbildung, ­V i e lvö l k e r s ta at u n d e i n e u n g e n ü t z t e C h a n c e Raoul Kneucker

Kommentar zum Interview Das Interview mit Elisabeth Gergely nimmt auf eine allgemeine Fragestellung Bezug: Wie ­können Prägungen durch Geschichte und Raum – individuelle, kollektive und institutionelle Prägungen – erfasst und sichtbar gemacht werden, die offensichtlich geschichtliche Entwicklungen und politische Gestaltungen beeinflusst haben? Es verlockt daher, das Interview zu kommentieren, auch wenn die methodischen Herausforderungen der Fragestellung an dieser Stelle nicht behandelt werden können: die „Reichshauptstadt Wien“, das „größere Österreich“, die „bunte Melange“ als das „herrliche Ergebnis der Monarchie“. „Man konnte ja gar kein Nationalist“ werden; denn die „leibliche Grundlage“ wäre nicht gegeben gewesen. Das habsburgische Mitteleuropa, als ein vielfältiger Boden in einem gemäßigten Klima, war ein Durchzugs- und Migrationsland seit altersher, eine Nord-Südund Ost-West-Kreuzung mit vielen Brücken und vielen sanften Übergängen, ein staatsrecht­ liches Konglomerat, das sich dem Konzept des Nationalstaates des 19. Jahrhunderts entzog, von ihm aber schließlich zerstört wurde. Für Empfindungen und Aussagen dieser Art war es, und blieb es bis heute, nicht erforderlich, bestimmte parteipolitische Ideologien zu vertreten, etwa Monarchist zu sein (was in den Zwischenkriegsjahren immerhin noch Bedeutung hatte), auch nicht ein rückwärtsgewandter, nostalgisch gestimmter, konservativer Bildungsbürger oder gar jemand, der den Reichszusam­ menbruch politisch nicht verschmerzen konnte oder ein Verlierer des Zusammenbruchs war. Ähnliche Aussagen finden sich in allen sozialen Schichten; besonders deutlich aber und erwartungsgemäß im großbürgerlichen Netzwerk, dem Elisabeth Gergely angehörte, – einer

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TR: Die biografischen Schilderungen deiner Kindheitszeit machten das vielfältige und weltoffene Milieu oder Klima deutlich, in welchem du aufgewachsen bist. Auch die Wahl deines Studiums – zu der damaligen Zeit ein eher ungewöhnliches für eine Tochter aus besserem Hause – verrät Neugier, Forscherdrang und damit Offenheit, die sich auch in deinen dialogischen Bemühungen zeigt. EG: Ja, es ging mir immer um Brückenbildung. Darauf zielten und zielen meine Fragen.

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Kommentar zum Interview Das Interview mit Elisabeth Gergely nimmt auf eine allgemeine Fragestellung Bezug: Wie ­können Prägungen durch Geschichte und Raum – individuelle, kollektive und institutionelle Prägungen – erfasst und sichtbar gemacht werden, die offensichtlich geschichtliche Entwicklungen und politische Gestaltungen beeinflusst haben? Es verlockt daher, das Interview zu kommentieren, auch wenn die methodischen Herausforderungen der Fragestellung an dieser Stelle nicht behandelt werden können: die „Reichshauptstadt Wien“, das „größere Österreich“, die „bunte Melange“ als das „herrliche Ergebnis der Monarchie“. „Man konnte ja gar kein Nationalist“ werden; denn die „leibliche Grundlage“ wäre nicht gegeben gewesen. Das habsburgische Mitteleuropa, als ein vielfältiger Boden in einem gemäßigten Klima, war ein Durchzugs- und Migrationsland seit altersher, eine Nord-Südund Ost-West-Kreuzung mit vielen Brücken und vielen sanften Übergängen, ein staatsrecht­ liches Konglomerat, das sich dem Konzept des Nationalstaates des 19. Jahrhunderts entzog, von ihm aber schließlich zerstört wurde. Für Empfindungen und Aussagen dieser Art war es, und blieb es bis heute, nicht erforderlich, bestimmte parteipolitische Ideologien zu vertreten, etwa Monarchist zu sein (was in den Zwischenkriegsjahren immerhin noch Bedeutung hatte), auch nicht ein rückwärtsgewandter, nostalgisch gestimmter, konservativer Bildungsbürger oder gar jemand, der den Reichszusam­ menbruch politisch nicht verschmerzen konnte oder ein Verlierer des Zusammenbruchs war. Ähnliche Aussagen finden sich in allen sozialen Schichten; besonders deutlich aber und erwartungsgemäß im großbürgerlichen Netzwerk, dem Elisabeth Gergely angehörte, – einer

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frei­beruflichen, kunstsinnigen, der Moderne aufgeschlossenen, politisch mitbestimmenden Schicht.

Wien und Österreich – Brückenbildung, Vielvölkerstaat und eine ungenützte Chance Haben trotz des Zusammenbruches der Habsburger Monarchie Traditionen, Handlungs­ weisen und Atmosphären des „größeren Österreichs“ weiterhin Personen und Institutionen geprägt? Ich beginne meinen Kommentar zum Interview mit Elisabeth Gergely mit persönlichen Wahrnehmungen; denn für mich selbst überraschend betreffen sie Aspekte der Wirkungsgeschichte des Habsburgerreiches, die mir für den Kommentar passend erscheinen. Überspitzt formuliert, lassen sich für mich drei Betrachtungsweisen der Rezeption der Habsburger Monarchie unterscheiden: • Aufgewachsen bin ich mit der Fundamentalkritik des Reiches, das nicht ein „Vielvölkerreich“, sondern ein „Völkerkerker“ war, verantwortlich für „verzögerte Aufklärung“ und „verdrängten Humanismus“, ein Wort Michael Benedikts. In meiner mütterlichen Familie war Habsburg unbeliebt (zum Unterschied dazu war die väterliche von Anfang an geneigt, der zweiten Betrachtungsweise, die ich nachfolgend beschreibe, anzuhängen). Die Familie des mütterlichen Großvaters war staatstreu, optierte 1919 für Österreich, war aber nicht von der „notwendigen Existenz“ des Reiches überzeugt, wie die habsburgische Regierungspropaganda gelautet hatte. Die Befreiung der „unterdrückten Völker“ war nicht nur ein Teil der Gegenpropaganda, sondern ein erklärtes Kriegsziel der Entente. Die Haltung meines Großvaters stimmte am ehesten mit der Position der Sozialdemokratie in den Friedensverhandlungen 1919 überein, die trotz der ablehnenden Haltung gegenüber der Monarchie nicht von einer Unterdrückung der Völker sprechen wollte. • Im gymnasialen Geschichtsunterricht erlebte ich meinen ersten Sichtwechsel; dem Unter­richt lagen bereits die Ergebnisse der Geschichtsforschung in den Nachkriegsjahren des 2. Weltkrieges zugrunde. Eine meiner Maturafragen bezog sich sogar auf Frantisek Palacky und dessen Diktum zum Reich anlässlich seiner Absage an den Frankfurter Versammlungsausschuss 1848, „… wahrlich, existierte der österreichische Kaiserstaat nicht schon längst, man müsste im Interesse Europas, im Interesse der Humanität selbst, sich beeilen, ihn zu schaffen …“ Theodor Csokors „3. November 1918“ begriff ich als die Dramatisierung dieser zweiten historischen Betrachtungsweise; es war ein Pflichtstück für meine Freunde und mich. Robert Kann, der zum „Vielvölkerreich“ umfassend und umfangreich publizierte, prägte vor allem mit seinem Buch „The Multinational Empire“

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das Verständnis meiner Generation. Der Fokus der Beurteilung hatte von den Unzulänglichkeiten, Unzukömmlichkeiten, Unfähigkeiten und Missständen gewechselt zu einer Anerkennung der eben auch großen Leistungen der Monarchie, wie der rechtsstaatlichen öffentlichen Verwaltung, des Menschenrechtsschutzes durch Gerichtsverfahren, der Modernisierung der Infrastrukturen, des Beginns der Bildungs- und Sprachenpolitik, des gelungenen Versuches einer nach Minderheiten des Reiches proportional zusammengesetzten Bürokratie – um nur einige Aspekte zu nennen. • Als ich schließlich im Laufe meiner beruflichen Tätigkeit in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts mit den Vorbereitungen und Nachbereitungen des Beitritts Österreichs zur Europäischen Union – nota bene wie das Habsburgerreich eine „Einheit in Vielfalt“ – befasst war, wurde ich von den europäischen Kollegen oftmals als jemand aus einem Staat stammend apostrophiert, dem eine erste, aufgeklärte, friedliche, zulassende, teileuropäische Einigung grosso modo gelungen war. Das damalige Österreich habe, so der Tenor, immerhin geeignete Strukturen für die Integration geschaffen und eine weitgehende Integration zustande gebracht, die eine „Chance für Mitteleuropa“, so ein Buchtitel von Helmut Rumpler, eröffnet hätte, aber ungenützt blieb. Weder die zweite noch die dritte Betrachtungsweise erlebte ich je als restorativ. Wie vor allem die dritte Betrachtungsweise verdeutlicht, hatte sich das Bild des Habsburgerreiches auch in den anderen europäischen Ländern gewandelt. Die ausgeglichenere Beurteilung stellt keine erfolgreiche österreichische PR-Regierungsmaßnahme dar. Die dritte Betrachtungsweise hebt sogar hervor, dass Europa aus dem Scheitern der habsburgischen Integration Anregungen für das gegenwärtige europäische Inte­ grationslernen gewinnen könnte. Der Politik, den Verträgen und den Konventionen zum Minderheiten- und Menschenrechtsschutz nach dem 2. Weltkrieg liegen nicht nur die Erfahrungen Deutschlands und Frankreichs im 19. und 20. Jahrhundert zugrunde; in gleicher Weise sind die Versöhnungen in Mitteleuropa notwendige Teile des „europäischen Friedensprojektes“ durch die Europäische Union, etwa die Herausforderungen Südtirols, Sloweniens, die Vertreibungen und Konfiskationen in Tschechien. Es besteht kein Zweifel daran, dass die europäische Einigung diese nationalen und bilateralen Konflikte entspannt hat, ein größeres Europa einen neuen Kontext für alte, unlösbar scheinende Konflikte geschaffen und tatsächlich ausgleichend gewirkt hat. „Südtirol“ ist das klarste Beispiel. Jacques Delors Vorstellung eines „Europas der konzentrischen Kreise“ war eine der Rechtswirklichkeiten des Habsburgerreiches, insbesondere beim Schutz der Menschen- und Bürgerrechte. Es folgte daraus auch ein „Reich der verschiedenen Geschwindigkeiten“, für die Union geradezu verführerisch vorgezeichnet, weil viele Politiker den politischen Konflikt über die Strategie der weiteren europäischen Einigung mit diesem „Rezept“ gerne lösen würden.

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Von welchen Prägungen könnte gesprochen werden? 1. Die Geschichtswissenschaft hat das so genannte kulturelle „Erbe“ des Habsburgerreiches erst in Teilen, also nicht annähernd systematisch bearbeitet. Die Studien zum Fin de siècle, zur Exzellenz und Strahlkraft Wiens um 1900, sind Beispiele für Teilbearbeitungen. Gleichwohl sind die Prägungen des Reiches in vielen anderen Bereichen genauso erkennbar wie in Kunst und Architektur, zum Teil sind Prägungen bis heute wirksam, und zwar weniger museal als der Jugendstil. Das Reich als Raum der Intellektualität, der Kunst, der Reform­ ideen für Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur war mit der politischen Neugestaltung Österreichs und Mitteleuropas 1918–1920 nicht untergegangen; Philosophie und wissen­ schaftliche Innovationen haben über Österreich hinaus das 20. Jahrhundert allgemein beeinflusst. 2. Wien hütet nicht nur das bauliche Erbe des Reiches mit allen seinen Ausstattungen, und zwar keineswegs allein als Veranstaltungs- und Tourismusanlass. Wien als Bundeshauptstadt kennt und pflegt auch noch Reichstraditionen, insbesondere in den Mechanismen der Bundespolitik und den Formen der öffentlichen Verwaltung. Die Persönlichkeiten in Politik, Wirtschaft und Kultur, die aus den Traditionen des Reiches lebten, starben ja erst im oder nach dem 2. Weltkrieg – soweit sie nicht vertrieben oder ermordet wurden oder noch fliehen konnten. Trotz der Kontinuität waren die politischen Brüche der Jahre 1934 und 1938 eben auch kulturelle Brüche für Österreich. Der nächste große kulturelle Bruch ereignet sich in dieser Generation. Mit dem ersten Dezennium des neuen Jahrhunderts beginnen die historischen Prägungen insgesamt zu verblassen. Österreich ist etwas Neues geworden. Dennoch fühlt sich Österreich kollektiv als „Nachfolger“ des Reiches, nach wie vor, als ob die physischen, politischen und geopolitischen Zäsuren nicht eingetreten wären. 3. Einer der Grundkonflikte des Reiches bestand in politischen und kulturellen Orientierun­ gen von einerseits den internationalen, multinationalen, multikulturellen, urbanen und andererseits den regionalen, ethnisch bestimmten, nationalen, dann bodenständig natio­ nalistischen Bürgern und Bürgerinnen. Dieser Konflikt blieb in der Republik weiter geschichtsmächtig. Im Zuge des „Untergangs der Menschheit“, so Karl Kraus über das Ende des 1. Weltkriegs in Mitteleuropa, hat die bodenständige Orientierung, auch eine Art ­„Autriche qui reste“ (Georges Clemenceau über Österreich 1919), schließlich das Übergewicht erhalten. Wiederholt sich dieser Richtungsstreit nicht wieder, in einem prinzipiellen Sinn, im Zuge der Vereinigung Europas in allen Nachfolgestaaten des Reiches, nicht nur in Österreich? 4. Es ist Dreierlei in Erinnerung zu rufen:

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• Die Erste und selbst die Zweite Republik schöpfen aus Traditionen, die sie nicht geschaffen haben. Der nationale Konflikt über „Was ist Österreich?“ dauert seit 1848 an und stellt nicht nur eine politische Auseinandersetzung über die damalige politische Lage­einschätzung, die historische Ausrichtung auf die Welt und die Minderheiten des Reiches dar; die Frage nach der Identität des „Restes“ nach 1918 und 1945 ist ihre prägende Folge. Die Republik „erbt“ vieles und führt Ererbtes weiter. Ihren Friedensvertrag konnte sie aber nur als „kleinerer“ europäischer Staat, wie es politisch korrekt heißt, erhalten; Österreich wird innerhalb Europas „unbedeutend“. Oft benimmt sich Politik in Österreich, gerade auch heute innerhalb der Europäischen Union, als ob man einen Minderwertigkeitskomplex überkompensieren müsste: am falschen Ort auftrumpfend, am falschen Ort bescheiden seiend. • Die großen Anregungen zu einem Neubeginn nach 1918, soweit sie im republikanischen Österreich aufgegriffen und umgesetzt werden, sind u. a. im Kontext des Reiches und seines Erbes zu interpretieren. Insbesondere darf die Kontinuität von Strukturen und rechtlichen Rahmenbedingungen nicht außer Acht gelassen werden. Ein eindringliches Beispiel ist das Schicksal der Bildungsreformen nach dem 1. Weltkrieg, zu denen auch die Waldorfpädagogik zählt (siehe „Die Rechtsgestalt der Waldorfschulen in Österreich“). Ohne die Traditionen und fortgesetzten strukturellen Muster des Reiches zu kennen und zu berücksichtigen, sind selbst aktuelle politische Kämpfe um Bildung und Schule nicht verständlich. • Aus den erwähnten Prägungen des Reiches kann als These des Kommentars abgeleitet werden, dass die Nachfahren des Reiches, die politischen Akteure und Eliten, sozu­sagen „osmotisch“ die multikulturelle Tradition in sich integriert haben. Gemeint ist die Multikulturalität der das Reich tragenden Schichten: Beamtentum, Adel, Industrielle und Intellektuelle. Vielleicht kann mit dieser These erhellt werden, warum Österreicher zwar nie gegenüber ihren „verfreundeten“ Nachbarn und ihren Minderheiten mehr Respekt, Achtung oder Toleranz als andere Europäer empfanden, sich aber gleichwohl ein spezifisches Verständnis und eine beinahe professionelle Umgangsform für diese anderen erworben haben. Etwa, indem sie den richtigen Umgangston kennen, die Intelligenz des Alltag beherrschen, mehr Vertrauen genießen als andere, zur „Familie“ gehören, in der gestritten, aber immer wieder versöhnt wird? Diese gemeinsame Basis, das gemeinsame Verständnis setzte und setzt die österreichische Wirtschaft seit 1994 im Zuge der Osterweiterung der Europäischen Union eindrucksvoll in wirtschaftliche Erfolge um, in Partnerschaften, Joint Ventures, Industrieansiedlungen und Erwerbungen. Die Europäische Kommission hatte Österreich übrigens mit dem Beitritt zur Union eine politisch gestaltende Rolle für den osteuropäischen Erweiterungsprozess zugedacht; darauf hat die öster­reichische Außenpolitik, von Teilbereichen wie Bildung und Forschung abgesehen, zögerlich reagiert. Die österreichische Außenpolitik hatte darin zunächst keine

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Chance zu einer neuen strategischen außenpolitischen Ausrichtung Österreichs in Europa erblickt. Die verspätete positive Reaktion kam dann zu spät und blieb wirkungslos. Warum erwartete aber die Kommission überhaupt eine österreichische Aktivität? Auf die veränderte europäische Sichtweise zu Österreich ist nochmals hinzuweisen; nicht das Selbstbild, sondern das geänderte Fremdbild Österreichs stand zur Debatte. 5. Europa hatte bemerkt, dass Habsburg Mitteleuropa „kodiert“ hatte, so Moritz Csaky. Fühlen sich deshalb die meisten Ostösterreicher, die in der Regel nicht Tschechisch oder Ungarisch sprechen, in Prag oder Budapest genauso wohl wie zu Hause in Wien? Und umgekehrt die Ungarn und Tschechen, Norditaliener und Kroaten, die in der Regel noch oder wieder gut Deutsch verstehen, in Österreich und Wien? Man vergesse nicht die spöttische Erwähnung vom „Deutsch als gemeinsame slawische Sprache“ oder die Vulgarisierung des Spruches „Tu felix Austria nube“ im 19. Jahrhundert. Das Grundbuch, die Kanzleiordnung, die Bahnhöfe, Schulbauten, Kasernen, Theater, die Küche – ein Reich? Das „C+M+B“ über der Eingangstüre, die Tuchent, der Schnaps, der Strudel – die Geheimzeichen für Mittel­europa ohne politische Grenzen? Aus dieser Kodierung, aus dieser besonderen Prägung durch das Reich leitet sich das eigenartige spezifische Verständnis vieler Österreicher für Vielfalt und Offenheit gegenüber den (mittel)europäischen Ländern ab – trotz gleichzeitig ausgrenzender Heimatgefühle, Überheblichkeit und Xenophobie. Die Kodierung bewirkte zwar nicht die Akzeptanz der anderen und der anderen Kulturen, sondern nur deren besseres Verständnis; auch beförderte sie die Erkenntnis, dass Auseinandersetzungen auf friedlichem Wege stattfinden sollten und nicht alle Probleme sofort zu lösen sind. 6. Vor diesem Hintergrund steht auch die besondere Stellung Österreichs für das Kernthema dieses Buches: den Dialog. Die Kodierung durch das Habsburgerreich hat dafür m.E. Voraussetzungen geschaffen. Verbunden mit dem spezifischen kulturellen Verständnis tritt die eigenartige Dialogfähigkeit österreichischer Akteure in Erscheinung, eine Neigung und ein Geschick zum Kompromiss (freilich zuweilen auch eine ebenso eigenartige Kompromisssucht, die den Kompromiss bereits vor der Auseinandersetzung zwischen den Positionen und Gegenpositionen findet). „Dialog“ ist zurzeit eines der gebräuchlichsten Wörter der Medien- und Kultursprache in Österreich. Die These, Fähigkeiten zum angemessenen kulturellen Verständnis der anderen entwickelt zu haben, nämlich Fähigkeiten und Neigungen zum Dialog als habsburgisches Erbteil zu begreifen, kann an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden; vielleicht werden neue kulturwissenschaftliche Studien sie erhärten oder widerlegen. Die These zu formulieren, erscheint jedenfalls gerechtfertigt; sie gründet sich auf Erfahrungen, die immer wieder intersubjektiv bestätigt werden.

Fragen zur österreichischen Wesensart

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7. Die These meint aber nicht kollektive Eigenschaften „der Österreicher“. Sie darf nicht verwechselt werden mit oder missverstanden werden als (unzulässige) Generalisierung eines sogenannten nationalen Charakters. Das Klischee vom verbindlichen und charmanten Österreicher oder vom kompromisslerischen, opportunistischen und unverlässlichen Österreicher, jeweils mit den weiblichen Pendants, bleibt stets ein Klischee. Die These betrifft vielmehr kulturelle Handlungsweisen und Muster von handelnden Persönlichkeiten in Politik, Wirtschaft und Kultur, wie sie Verantwortung tragen, Konfliktlösungen finden und praktizieren, wie sie von unterschiedlichen Kulturen in dieser Rolle geschätzt werden. Diese Menschen reflektieren die Grundbedingungen des Dialogs. Pluralismus heißt im Grunde, den anderen bedingungslos gleichrangig anzuerkennen.

Literaturhinweise für Interessierte Österreichische Akademie der Wissenschaften, Die Habsburger Monarchie 1848–1918, im Auftrag der Kommission für die Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie herausgegeben von A. Wandruszka und P. Urbanitsch, Band II Verwaltung und Rechtswesen, Wien 1975 (Diese monumentale Unternehmung wird unter H. Rumpler fortgesetzt, neue Veröffentlichungen sind in Kürze zu erwarten) H. Rumpler, Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie. Österreichische Geschichte, herausgegeben von Herwig Wolfram, Wien 1997 M. Csaky/K. Zeyringer (Hg.), Pluralitäten, Religionen und kulturelle Codes, Innsbruck 2001 W. M. Johnston, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848–1938. Wien/Köln/Graz 1972 (vom selben Autor stammt eine Art Fortsetzung, Der österreichische Mensch: Kulturgeschichte der Eigenart Österreichs, Wien 2010) E. Brix/A.Janik, Kreatives Milieu. Wien um 1900, Wien 1993

Fr agen zur österreichischen Wesensart Elisabeth Gergely Im Aufbau und der Gestaltung der Europäischen Union stellt sich immer wieder die Frage nach der Eigenart der Völker, die in dieser zunächst wirtschaftlich zusammengeschlossen sind. Soll die europäische Gemeinschaft mehr werden als eine wirtschaftliche mit gemeinsamer Währung, ist es unerlässlich, diese Frage zu behandeln; um die jeweils eigene Wesensart der Mitglieder und deren spezifische Aufgabe im Haus Europa zu erkennen. Es geht also darum, sich ein besseres Verständnis für das Wesen und Wirken der Volksgeister zu erwerben, wofür Rudolf Steiner Grundlagen gegeben hat. Hinsichtlich der We-

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7. Die These meint aber nicht kollektive Eigenschaften „der Österreicher“. Sie darf nicht verwechselt werden mit oder missverstanden werden als (unzulässige) Generalisierung eines sogenannten nationalen Charakters. Das Klischee vom verbindlichen und charmanten Österreicher oder vom kompromisslerischen, opportunistischen und unverlässlichen Österreicher, jeweils mit den weiblichen Pendants, bleibt stets ein Klischee. Die These betrifft vielmehr kulturelle Handlungsweisen und Muster von handelnden Persönlichkeiten in Politik, Wirtschaft und Kultur, wie sie Verantwortung tragen, Konfliktlösungen finden und praktizieren, wie sie von unterschiedlichen Kulturen in dieser Rolle geschätzt werden. Diese Menschen reflektieren die Grundbedingungen des Dialogs. Pluralismus heißt im Grunde, den anderen bedingungslos gleichrangig anzuerkennen.

Literaturhinweise für Interessierte Österreichische Akademie der Wissenschaften, Die Habsburger Monarchie 1848–1918, im Auftrag der Kommission für die Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie herausgegeben von A. Wandruszka und P. Urbanitsch, Band II Verwaltung und Rechtswesen, Wien 1975 (Diese monumentale Unternehmung wird unter H. Rumpler fortgesetzt, neue Veröffentlichungen sind in Kürze zu erwarten) H. Rumpler, Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie. Österreichische Geschichte, herausgegeben von Herwig Wolfram, Wien 1997 M. Csaky/K. Zeyringer (Hg.), Pluralitäten, Religionen und kulturelle Codes, Innsbruck 2001 W. M. Johnston, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848–1938. Wien/Köln/Graz 1972 (vom selben Autor stammt eine Art Fortsetzung, Der österreichische Mensch: Kulturgeschichte der Eigenart Österreichs, Wien 2010) E. Brix/A.Janik, Kreatives Milieu. Wien um 1900, Wien 1993

Fr agen zur österreichischen Wesensart Elisabeth Gergely Im Aufbau und der Gestaltung der Europäischen Union stellt sich immer wieder die Frage nach der Eigenart der Völker, die in dieser zunächst wirtschaftlich zusammengeschlossen sind. Soll die europäische Gemeinschaft mehr werden als eine wirtschaftliche mit gemeinsamer Währung, ist es unerlässlich, diese Frage zu behandeln; um die jeweils eigene Wesensart der Mitglieder und deren spezifische Aufgabe im Haus Europa zu erkennen. Es geht also darum, sich ein besseres Verständnis für das Wesen und Wirken der Volksgeister zu erwerben, wofür Rudolf Steiner Grundlagen gegeben hat. Hinsichtlich der We-

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sensart des Österreichers weist Rudolf Steiner darauf hin, dass der Geist des Hauses Habsburg – in der beinahe 700-jährigen Geschichte dieses Herrschergeschlechtes – eine dem Volksgeist vergleichbare Wirkung ausgeübt hat. Die weiteren Ausführungen sind Versuche, diesen Hinweis zu verstehen und für die Aufgabe der österreichischen Wesensart fruchtbar zu machen. Die prägende Idee für das christlich werdende Europa war seit Karl dem Großen und durch ihn „das Heilige Römische Reich Deutscher Nation“ (der Zusatz „Deutscher Nation“ wurde nominell erst später hinzugefügt). Das Imperium Romanum sollte dem christlichen Reich seine Herrschafts- und Rechtsstruktur geben, überhöht durch die geistliche Macht der römisch-katholischen Kirche – als Großmacht der mittelalterlichen Geschichte –, verwirklichen sollte es sich in der Vielzahl der selbständigen geistlichen und weltlichen Fürstentümer nördlich und südlich der Alpen sowie der aufstrebenden freien Städte. Für das Denken der Verstandesseele, wie es sich vor allem im Westen Europas entwickelt hat und bezogen auf die tatsächlichen Verhältnisse in deutschen Landen schien die Reichsidee irrational; für ein aus der Gemütsseele sich entwickelndes Verständnis lässt sich die zukünftige Bedeutung in verwandelter Form erahnen. Rudolf Steiner spricht über den Ursprung der Reichsidee in den altorientalischen Reichen, Persien und in den Spätformen Ägyptens. In ihnen wurde der Herrscher als Gott in seiner Wirklichkeit erlebt. Im Mittelalter konnte durch die fortschreitende Entwicklung des Bewusstseins nur mehr eine Zeichenwirklichkeit erlebt werden. Der vom Papst in Rom in feierlichem Ritual zum Kaiser gekrönte deutsche König „bedeutete“ ein göttlich geführtes Wesen – dei gratia, von Gottes Gnaden. Dem menschheitlich-universalen Charakter des Christentums verlieh Augustinus Ausdruck in seinem „Gottesstaat“; auch Dante wurde in seiner Schrift „De monarchia“ zum Herold der Reichsidee, der Weltmonarchie, die allein den Absichten Gottes entspricht, denn im Einssein liegt die Wurzel alles Guten. Die Reformatoren hingegen legten Protest ein gegen die reale Bedeutung des gottgesandten Menschen – dei gratia – und seines Herrschaftsanspruches. – Die Reichsidee war zur Phrase geworden. Als solche fand sie 1806 ihr Ende. Zurück zu den Habsburgern, zu der Gestalt Rudolfs I. von Habsburg. Dieser wurde nach dem Interregnum 1273 von den Kurfürsten zum deutschen König gewählt und damit de facto zum Herrscher des Reiches. Er erfüllte die vordringliche Aufgabe, Recht und Ordnung wiederherzustellen, um eine Grundlage für den Landfrieden zu schaffen; denn alles das war in den chaotischen Wirren der Zeit nach der Herrschaft der Hohenstaufen verloren­ gegangen. Rudolf I. ging nicht nach Rom, um die Zeichenwirklichkeit der Kaiserkrönung zu erfahren; hingegen wandte er sich energisch der südöstlichen Grenze des Reiches zu, wo das Erbe der Babenberger von Ottokar II. dem Böhmischen Reich einverleibt worden war. Er gewann die Herzogtümer Österreich und Steiermark zurück und belehnte damit seinen Sohn Albrecht I. Damit bildete er den Grundstock der Habsburger Hausmacht im Osten des

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Reiches. Ein erster Schritt zu einem weit größeren Ziel: diese Hausmacht als Vielvölkergebilde mit den slawischen und magyarischen Nachbarvölkern auszubauen. Eineinhalb Jahrhunderte nach dem Tod Rudolfs I. nahm dieses Ziel konkrete Gestalt an, gefördert durch eine weitblickende Heiratspolitik. Diese nahm ihren glückhaften Verlauf – ein besonderes Kennzeichen für den Aufstieg dieser Dynastie zu ihrer beherrschenden Rolle in Europa: „Bella gerant alii, tu felix Austria nube!“ („Kriege mögen andere führen, du glückliches Österreich heirate!“). Nach dem Tod des Sigismund von Luxemburg im Jahre 1437 gewann Albrecht II., als dessen Schwiegersohn, die Krone Böhmens und Ungarns zu den österreichischen Herzogtümern dazu. Das Kerngebilde der österreichisch-ungarischen Monarchie trat ein in die historische Wirklichkeit und bestand als Vielvölkerstaat im Herzen Europas, während die Nationalstaatsidee – im europäischen Westen, in Frankreich und England geboren und sich weiter entwickelnd – längst zur staatsbildenden Kraft in Europa geworden war. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rüttelte die immer drängender werdende Nationalitätenfrage an den Grundfesten der österreichisch-ungarischen Monarchie. Die damaligen Repräsentanten des Herrscherhauses konnten diese Situation nicht befrieden. Das Attentat des serbischen Nationalisten Gavrile Princip, dem der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gattin in Sarajevo zum Opfer fielen, wurde zum auslösenden Ereignis für den Ausbruch des 1. Weltkrieges. Europa ging tiefgreifend verändert aus der Kriegskatastrophe hervor. Die Maxime des Siegers – Woodrow Wilsons „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ – schuf eine Vielzahl ethnischer Grenzen in dem multiethnischen Staatsgebilde der Habsburger Monarchie. Es fällt schwer, nach der völligen Zerstörung der Idee des Reiches durch Hitler und ihrer Pervertierung in das „Dritte Reich“ nach einem Zukunftsimpuls, der dieser Idee in verwandelter Form innewohnen könnte, zu fragen. Karl Christian Plank (1818–1880), Philosoph und Rechtsgelehrter, als Privatdozent in Tübingen lehrend, fasst in seinem posthum erschienenen Werk „Testament eines Deutschen“ das weitere Schicksal der Reichsidee in dem Satz zusammen: „Es gilt, jene universale Idee des mittelalterlichen Kaisertums zu erkennen als das unfreie Vorbild eines frei mensch­ lichen Zieles.“ Um weitere Fragen in Richtung Zukunft zu stellen, sei ein Blick auf die Aussage Rudolf Steiners gelenkt, dass der Impuls des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation auf die Habsburger Hausmacht übergegangen sei. Die Idee des Reiches umhüllt das Vielvölker­ gebilde der österreichisch-ungarischen Monarchie wie ein Mantel. In dem Altgewordenen der Herrschaftsverhältnisse, in dem eine geistige Wirklichkeit Phrase geworden war – lässt sich ein Zukunftskeim darin verborgen auffinden? Vielleicht liegt dieser Keim schon in der Übertragung der Reichsidee von der ursprünglichen Nord-Süd-Achse, Deutschland-Italien, in die Ost-West-Richtung des Donauraumes, in der Verbindung zwischen deutschem, slawischem und ungarischem Volkstum – eine Verbindung nicht aus einem Erbe, sondern mit ei-

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nem Auftrag für die Zukunft? Lässt sich aus diesem Zusammenhang eine Aufgabe erkennen für die echte österreichische Wesensart? Sind wir in der österreichischen Geschichte durch eine Schule gegangen, die uns eine Gesinnung vermitteln konnte, um die nationalistischen Wahnideen und alle fundamentalistischen Abgrenzungen in unserer Gegenwart zu erkennen und zu überwinden durch Kräfte eines erhellten und erstarkten Gemütes, in dessen Seelenraum diese Gegenkräfte ihre Macht verlieren? Können wir unsere innere Arbeit dahin lenken, einen solchen Seelenraum zu bilden? Wäre das ein Beitrag österreichischen Wesens für Europa, auf der Wegsuche nach menschlich-menschheitlichen Zielen?

Ru d o l f S t e i n e r , e i n Ö s t e r r e i c h e r TR: Rudolf Steiner hat in Ostösterreich seine Kindheits- und Jugendjahre verbracht. Welche Bedeutung ist dem beizumessen? EG: Dazu ist zunächst zu sagen, dass ich durch mein Sommerrefugium in Guntrams bei Schwarz­au am Steinfelde, zwischen Pottschach und Neudörfl gelegen, sehr mit den Kindheitsund Jugendstätten Steiners vertraut bin und die Landschaft kenne und liebe. So habe ich zum Beispiel bei der Rosalienkapelle, zu der Rudolf Steiner von Neudörfl oft hinaufgewandert ist, immer zwei starke Erlebnisse: einmal die Andachtsstimmung, welche die Rosalienkapelle umgibt, und dann der weite Blick sowohl nach Westen, zu Schneeberg, Raxalpe, Hohe Wand, als auch nach Osten, bis zum Neusiedler See und nach Ungarn. Dieser weite Blick nach West und Ost erscheint mir charakteristisch für Rudolf Steiners geistige Spannweite. Bedeutsam ist aber auch die Tatsache, dass Steiner, als er nach Wiener Neustadt auf die Real­ schule ging (heute heißt sie Naturwissenschaftliches Gymnasium), jeden Tag von Transleitha­ nien nach Cisleithanien wanderte, was mit der damaligen Grenze zu Ungarn zusammenhing; wobei diese Grenze nicht als etwas Trennendes erlebt wurde, sondern als Ort der Begegnung, als Aufforderung zur Begegnung. Die wichtigsten Gespräche finden ja immer gleichsam am Gartenzaun statt, dort entsteht das Bedürfnis nach Austausch und Kommunikation, dort existieren verschiedene kulturelle Besonderheiten neben- und ineinander. TR: Nun ist ja das Burgenland als das östlichste Bundesland Österreichs genau das, was du beschreibst. Es ist heute noch ein Ort der Multiethnizität, in dem es natürlich auch bedeutende geistig-kulturelle Strömungen gab. Tauchen diese in Steiners Schaffen auf? EG: Ich denke da insbesondere an die Burgen Bernstein, Schlaining und vor allem Lockenhaus, die man sich im 2. Mysteriendrama von Rudolf Steiner als Hintergrund der mittelalterlichen Szene denken kann, in Verbindung mit dem Templerorden, der nach seiner Vernichtung in Frankreich hier im pannonischen Raum weiterexistierte. Hier gab es also diese starke Geistesbruderschaft mit hohen christlichen Menschheitsidealen, die weit über das Mittelalter hinausweisen. Heute hat sich Lockenhaus einem ganz anderen kulturellen Impuls, dem der Musik, verpflichtet. Das Besondere daran ist, dass auch dieser Ort zu einem ganz einmaligen Begegnungsort wurde, wo sich Menschen über alles Trennende hinweg in der Sprache der Musik verstehen. Auch dies, eine menschheitliche Begegnungsgrundlage zu schaffen, scheint mir etwas zu sein, was das Besondere der von Rudolf Steiner begründeten Geisteswissenschaft ausmacht.

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D i e O s t- W e s t- G r e n z e – e i n L e b e n s m o t i v b e i Ru d o l f S t e i n e r Tobias Richter

„Ich selber bin in einer slawischen Gegend, in einer Gegend, die vollständig fremd war dem ganzen Milieu und der ganzen Eigentümlichkeit, aus der meine Vorfahren stammen, geboren.“1

Am 27. Februar 1861 wurde Rudolf Steiner als ältestes Kind eines Ehepaares, das aus dem Waldviertel kam, in Donji Kraljevec geboren. Wie kam es zu diesem Ortswechsel? Rudolf Steiners Eltern stammen aus dem nördlichen Teil von Niederösterreich. Der ­Vater, Johann Steiner, wurde am 23. Juni 1829 in Trabenreith geboren, wuchs im Umkreis des Prämonstratenser-Stiftes von Geras auf und wurde von dessen Mönchen einige Jahre lang unterrichtet. Danach stand er – wie schon sein Vater – bis 1860 als Jäger im Dienst des Grafen Hoyos in Horn. Dort lernte er seine spätere Ehefrau und die Mutter Rudolf Steiners, Franziska Blie, kennen; sie wurde am 8. Mai 1834 als Tochter eines Leinwandhändlers in Horn geboren. Graf Hoyos verweigerte die Eheschließung seines Jägers. Johann Steiner kündigte daher den Dienst und bewarb sich um eine Stelle als Bahntelegrafist bei der im Jahr 1859 gegründeten „Privilegierten Kaiserlichen und Königlichen Gesellschaft der Südbahnen“; dann heiratete er seine Franziska. Vom Wald zur Technik – ein mutiger Schritt! In der Bahnstation Prestranek, heute in Slowenien gelegen, wurde Johann Steiner mit seinen neuen Tätigkeiten vertraut gemacht und dann, wahrscheinlich im Januar 1861, auf die Station Donji Kraljevec versetzt. Sie lag an der gerade fertiggestellten ersten Eisenbahnstrecke Kroatiens. Johann Steiner war der erste „Technische Bahnaufseher“ am Bahnhof Donji Kraljevec – einem Bahnhof der Kategorie III. Es handelte sich um eine kleine Station und die Eltern Rudolf Steiners mussten im Dorf wohnen; in einem Dorf, das für sie fremd war und blieb. Hauptsächlich wurde Kroatisch gesprochen; alle Verwandten Steiners lebten in weiter Ferne. Die frisch vermählten Eheleute dürften sich dort sehr einsam gefühlt haben, als „echte Kinder des herrlichen niederösterreichischen Waldlandes nördlich der Donau (…) Und, wenn sie davon sprachen, empfand man instinktiv, wie sie mit ihrer Seele diese Heimat nicht verlassen hatten.“2 Die Lebensverhältnisse waren sehr einfach: Rudolf Steiner war das Kind armer Leute. „Der wärmende Herd, Bett, Tisch und Stühle und vielleicht ein Schrank und eine Truhe waren das einzige Mobiliar. Das Wasser musste selbstverständlich vom Brunnen geholt werden. Abends spendete eine Petroleumlampe spärliches Licht.“3

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Das war also das Umfeld, in das Rudolf Steiner im Februar 1861 hineingeboren wurde. Eine Situation, deren Signum des absolut Neuen für die Eltern nicht radikaler sein konnte: ein neuer Beruf, ein neuer Familienstand, ein fremdes Land mit fremder Sprache und eine gerade in Betrieb genommene Eisenbahnstrecke, die nicht nur für Donji Kraljevec, sondern für ganz Kroatien ein Novum darstellte. Drei Tage hintereinander hatte der Vater Dienst (allerdings nicht im heutigen Bahnhofsgebäude, das erst 1888 errichtet und 1912 erweitert und renoviert wurde4), dann erst kam er für einen Tag nach Hause. Der Dienst, den Rudolf Steiners Vater zu erfüllen hatte, war ihm nur Pflicht – wohl eine selbst gewählte, doch hing er nicht mit Liebe an ihr. Das Rudolf Steiner als Kind, 1867 war anders gewesen, als er noch Hoyos’scher ­Jäger gewesen war. Dort ein Leben mit und in der Natur, hier eine Tätigkeit, die ihm nichts Farbiges bot. Er war „ein durch und durch wohlwollender Mann, aber mit einem Temperament, das namentlich, als er noch jung war, leidenschaftlich aufbrausen konnte. (…) Gerne beschäftigte er sich damit, die politischen Verhältnisse zu verfolgen. Er nahm an ihnen den lebhaftesten Anteil.“5 Die Mutter wird von ihrem Sohn als stille, liebevolle Frau beschrieben, die, „da Glücksgüter nicht vorhanden waren, in der Besorgung der häuslichen Angelegenheiten“6 aufging. „Die Eltern haben – das muss ausdrücklich hervorgehoben werden, damit nicht ein Missverständnis entsteht – stets die Bereitschaft gezeigt, ihre letzten Kreuzer für das hinzugeben, was dem Wohle ihrer Kinder6 entsprach; aber es waren nicht sehr viele solcher letzten Kreuzer vorhanden.“7

Der Entschluss des Vaters zur Heirat und zu einem Beruf als kleiner Beamter bei der Eisenbahn bedeutete aber auch, sich immer dorthin versetzen zu lassen, wohin es die Bahndirektion für erforderlich hielt. So folgte schon 1862 der Umzug nach Mödling bei Wien, 1863 nach Pottschach, 1869 nach Neudörfl, schließlich 1879 nach Inzersdorf und kurz darauf nach Brunn am Gebirge (die beiden letzten Versetzungen erfolgten allerdings auf Ansuchen Johann Steiners, der damit seinem Sohn den Besuch der Technischen Hochschule in Wien ermöglichen wollte).

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Gleich nach der Pensionierung des Vaters zog die Familie zurück nach Horn, ins Waldviertel. Dort starb der Vater am 22. Januar 1910, die Mutter am 24. Dezember 1918. Eine Äußerung Rudolf Steiners hebt gerade das Besondere, in der Fremde geboren worden zu sein, hervor. „Für mich war es gewissermaßen, ich möchte sagen, symptomatisch bezeichnend, dass ich gerade in meinen Entwicklungsjahren eigentlich innerhalb eines Milieus aufwuchs, in dem mich selbst die signifikantesten Dinge im Grund genommen nichts angingen.“8 Niederösterreichisches Brauchtum, Traditionen, das Aufwachsen in einem Dorf oder einer kleinen Stadt wie Geras oder Horn mit starken Sozialstrukturen, aus denen die Eltern kamen, fehlten in Donji Kraljevec völlig. Die Tatsache, in einem zunächst slawisch-magyarischen Grenzgebiet auf die Welt zu kommen und in einem deutsch-magyarischen aufzuwachsen (während seiner Schulzeit in Wiener Neustadt wurde Steiner täglich zum Grenzgänger, da die Eltern im ungarischen Neudörfl wohnten), erscheint mit einem Blick auf Rudolf Steiners späteres Leben als bedeutsam: Immer und immer wieder bemühte er sich um einen Brückenschlag zwischen Ost und West. So hatte auch der große zweite internationale Kongress der anthroposophischen Bewegung (West-Ost-Kongress 1922 in Wien) die „Verständigung westlicher und östlicher Weltgegensätzlichkeit“ zum Thema. Dem Schicksal, einerseits in dörflicher Umgebung mit den vielfältigen Erlebnismöglichkeiten der Natur aufzuwachsen und andererseits der modernen Technik Tag für Tag zu begegnen, war Rudolf Steiner tief dankbar. In dem autobiografischen Vortrag 1913 in Berlin, in welchem er von sich in der dritten Person spricht, bringt er dies zum Ausdruck: „Wenn sich jemand zu einem ganz modernen Leben, zu einem Leben in den modernsten Errungenschaften der gegenwärtigen Zeit hätte anschicken wollen und sich dazu hätte aussuchen wollen die entsprechenden Daseinsbedingungen der gegenwärtigen Inkarnation, so scheint mir, hätte er in Bezug auf seine gegenwärtige Inkarnation diejenige Wahl treffen müssen, die Rudolf Steiner getroffen hat. Denn er war von allem Anfang an eigentlich umgeben von den allermodernsten Kulturerrungenschaften, war umgeben von der ersten Stunde seines physischen Daseins an vom Eisenbahn- und Telegrafenwesen.“9 Sieht man einmal von dem Geburtsort ab und fasst die Zeit, in welche Rudolf Steiner hineingeboren wurde, ins Auge, so kann man „fast die ganze Geschichte des 19. Jahrhunderts wie in einem Hohlspiegel in diesem Jahr 1861 konzentriert finden und von dort aus die Fäden verfolgen, die vergangenes und kommendes Geschehen verknüpfen“.10 Das Erwachen, das mit dem Revolutionsjahr 1848 begonnen hatte, führte dazu, dass z. B. der Vielvölkerstaat Österreich aufgelöst werden musste, dass Zar Alexander II Anfang 1861 für 46 Millionen Bauern die Leibeigenschaft aufhob und der Ende 1860 zum US-amerikanischen Präsidenten gewählte Abraham Lincoln begann, für die aus Schwarzafrika stammenden Sklaven Menschenrechte zu erkämpfen. Karl Marx und Friedrich Engels standen in ihrer Lebensmitte. Es wurde eine Generation geboren, die mit dem Rüstzeug des dialektischen

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und historischen Materialismus die Welt nicht nur interpretieren, sondern nachhaltig verändern sollte. Nur wenige Jahre vor Rudolf Steiner wurden „Revolutionäre“ geboren, die entscheidende Veränderungen auf wissenschaftlichen, technischen, medizinisch-psychologischen und letztlich staatsrechtlichen Gebieten bewirkten: Sigmund Freud (1856), Rudolf Diesel (1858), Pierre Curie (1859), Herman Hollerith (1860), Theodor Herzl (1860). Es scheint also Sinn zu ergeben, dass Golo Mann seine Darstellung zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts mit dem Jahr 1861 beginnt. „Knappe vier Jahrzehnte fehlen bis zur Jahrhundertwende. In dieser Zeit hat Steiner die geistigen Fundamente seiner Anthropo­ sophie zu legen. Damit verläuft der größte Teil seines Lebensganges durch das Jahrhundert, das Martin Heidegger in Anlehnung an Nietzsche „das dunkelste aller bisherigen Jahrhunderte“ nannte. Weitere – man muss sagen: kurze, zu kurze – 25 Jahre stehen dem Begründer der neuen Erkenntniswissenschaft zur Verfügung … In dieser Zeit – und seitdem – hatte das Steinersche Werk auf vielen Feldern menschlicher Verwirklichung seine Echtheitsprobe zu bestehen.“11 Worum geht es in dieser von Rudolf Steiner Anthroposophie12 genannten neuen Erkenntniswissenschaft? Anthroposophie ist eine Geisteswissenschaft. Sie unterscheidet sich allerdings von den traditionellen Geisteswissenschaften dadurch, dass sie die Erforschung und Untersuchung des Geistigen im Menschen, in der Natur, im Weltganzen zum Inhalt hat. Dieses Geistige ist nicht sinnlicher, sondern übersinnlicher Natur. Dasjenige, was wir sinnlich von der Welt wahrnehmen, wird mit Methoden der Sinneswissenschaften (Naturwissenschaften) untersucht und führt zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Mit Methoden der Geisteswissenschaft (Anthroposophie) lässt sich das Übersinnliche erforschen. Diese Methoden sind von Rudolf Steiner ebenso exakt beschrieben wie die der Naturwissenschaft – nur verlangen sie ein Bewusstsein, das sich nicht nur an sinnlichen Erfahrungen gebildet hat. Wie dieses Bewusstsein zu erarbeiten ist, wurde von Rudolf Steiner in schriftlicher Form und in einer Vielzahl von Vorträgen ausgeführt. Nicht das Stehenbleiben vor der Welt der Erscheinungen, sondern diese als Ausdruck eines Geistigen zu verstehen und zu erforschen, macht Anthroposophie zu einer holistischen oder integralen Wissenschaft. Mit der Entwicklung der modernen Naturwissenschaft ging auch eine Bewusstseinsentwicklung einher – jene zu Exaktheit und Objektivität. Daran knüpft die Anthroposophie Rudolf Steiners. Mensch, Natur, Weltganzes nicht dualistisch zu sehen (Subjekt-ObjektSpaltung), sondern die Welt der Erscheinungen durchdrungen vom Geistigen als Einheit zu erfassen, hat Konsequenzen für alle Lebensbereiche, für die Religion, die Ethik, die Kunst, die Pädagogik und Heilpädagogik, die Medizin, die Landwirtschaft und die Lösung der sozialen Frage. Alle diese haben wesentliche Impulse durch Rudolf Steiner und die Anthroposophie erhalten.

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Diese Impulse, die ein grundsätzliches Umdenken erfordern, riefen und rufen auch Gegner auf den Plan, die – unter anderem – die Anthroposophie in eine obskure Esoterik- oder sektenhafte Weltanschauungsecke schieben wollen. Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass es sich die Anthroposophie zur Aufgabe macht, einen entscheidenden Beitrag zur Erforschung der ganzen Wirklichkeit der Welt zu liefern, die nach ihrer Auffassung neben der sinnlichen auch die übersinnlich-geistige Wirklichkeit stellt.

Was im Osten begann . . . Stichworte zu Rudolf Steiners weiterem Lebensweg 1861–1879 Nach dem Wegzug aus Donji Kraljevec bleibt der Bahnhof ein zentrales Element in Rudolf Steiners Kindheitsjahren: zunächst in Mödling, dann in Pottschach, wo Steiner in die Volksschule ging. Sein Schulweg führt ihn dabei jeden Tag an der Werksschule der Baumwoll-Spinnereifabrik Bräunlich vorbei, die von den Kindern der Fabriksarbeiter besucht wird (1919 wird die erste Waldorfschule für Arbeiterkinder – allerdings einer Zigarettenfabrik – gegründet …). Nach einem Zerwürfnis mit dem Dorfschullehrer unterrichtet Vater Steiner seinen Sohn selbst bis zur Übersiedlung nach Neudörfl (1869), damals im ungarischen Teil der Monarchie gelegen. Dort besucht Rudolf Steiner dann wieder die Volksschule und leistet auch Ministrantendienst. Da er nach dem Wunsch des Vaters Eisenbahningenieur werden soll, tritt er 1872 in die Oberrealschule in Wiener Neustadt ein und maturiert dort 1879 mit Auszeichnung. Ab seinem 15. Lebensjahr beginnt Rudolf Steiner, sich mit Philosophie zu beschäftigen: zunächst mit Kant, später mit Fichte. Während seiner Schulzeit in Wiener Neustadt und auch während seines Studiums in Wien erteilt er Nachhilfeunterricht. 1879–1890 Vor dem Beginn seines Studiums in Wien versucht sich Rudolf Steiner daran, Fichtes Wissenschaftslehre umzuschreiben. Es folgt ein Studium an der Technischen Hochschule in Wien. Hauptfächer: Mathematik, Biologie, Physik, Chemie. Philosophie bei Robert Zimmermann und Franz Brentano. Freundschaft mit dem Sprach- und Literaturwissenschafter Karl Julius Schröer. Durch dessen Vermittlung wird Rudolf Steiner als 21-jähriger Student mit der Neuherausgabe der Naturwissenschaftlichen Schriften Goethes für Kürschners Nationalliteratur beauftragt. Zwei Jahre später übernimmt Rudolf Steiner die Stelle eines „Hofmeisters“ (Hauslehrer und Erzieher) bei der Familie Specht. Für deren jüngstes, behindertes Kind Otto entwickelt er eine besondere Unterrichtsmethode und Didaktik, welche die Entwicklungssituation die-

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Rudolf Steiner als Maturant

Rudolf Steiner in der Arbeiterbildungsschule 1901

ses Kindes berücksichtigen. Hierbei kommt Rudolf Steiner immer wieder in Kontakt mit dem Hausarzt der Familie, Josef Breuer, welcher Freund und Kollege Sigmund Freuds ist. Nach zwei Jahren kann Otto Specht das Gymnasium besuchen; später studiert er Medizin und wird Arzt. In dieser Zeit publiziert Rudolf Steiner Überlegungen zu einer modernen Lehrerbildung in der „Deutschen Wochenzeitschrift“, die er kurzzeitig redigiert. „Der künftige Lehrer muss zu zweierlei fähig sein: Studium der großen Entwicklungsprozesse der Menschheit und Beobachtung der individuellen Natur jedes Einzelmenschen. Nur mit dieser Verbindung ausgestattet, wird er zu seiner wahren Erziehungsaufgabe befähigt sein: Eingliederung des Individuums in den richtig verstandenen Totalentwicklungsprozess der Menschheit nach Maßgabe der in dem ersteren liegenden besonderen Anlagen.“14 Die Auseinandersetzung mit Goethe im Zusammenhang mit der Herausgebertätigkeit der Naturwissenschaftlichen Schriften Goethes legt Rudolf Steiner 1886 in Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung vor. 1890 Übersiedlung von Wien nach Weimar.

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1891–1913 Nach Rudolf Steiners Promotion im Jahre 1891 zum Doktor der Philosophie an der Universität Rostock (Die Grundfrage der Erkenntnistheorie mit besonderer Rücksicht auf Fichtes Wissenschaftslehre) bleibt er noch sechs Jahre in Weimar, am Goethe-Schiller-Archiv. Danach sind seine Aufenthaltsorte Berlin und später Dornach. In Berlin übernimmt Rudolf Steiner für etwa drei Jahre die Herausgabe des „Magazins für Literatur“ und pflegt regen Austausch mit der literarisch-künstlerischen Avantgarde. Dann unterrichtet er an der von W. Liebknecht begründeten Arbeiterbildungsschule (1899–1904). In die Berliner Zeit fällt sowohl das Wirken Rudolf Steiners in der Theosophischen Gesellschaft, 13 als auch der Beginn seines künstlerischen Schaffens. Dieses erreicht dann nach Rudolf Steiners Übersiedlung nach Dornach und der Begründung der Anthroposophischen Gesellschaft im Goetheanum-Bau seinen Höhepunkt. Resümee Die weitere Biografie Rudolf Steiners kann in einer der zahlreichen diesbezüglichen Darstellungen nachgelesen werden. Einiges, das sich motivisch in Steiners Kindheits- und Jugendbiografie zeigte, tritt vor allem in späteren Lebensabschnitten deutlich in Erscheinung; als ob Erstbegegnungen für zukünftige Arbeitsaufgaben und Kulturimpulse in diesem ostmitteleuropäischen Raum stattgefunden hätten: • Die Bedeutung der Erkenntnismethodik Goethes als Grundlage einer Wissenschaft des Lebendigen (siehe Schröers Vermittlung Steiners an Kürschner) • Die Promotion Die Grundfrage der Erkenntnistheorie mit besonderer Rücksicht auf Fichtes Wissenschaftslehre (siehe Steiners Beschäftigung 1879 mit Fichte vor dem Antritt seines Studiums) • 1919 Begründung der Waldorfpädagogik, welche ihre Didaktik und Methodik aus einer die seelische und geistige Entwicklung des Menschen berücksichtigenden Anthropo­ logie generiert (Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik). In seiner Autobiografie Mein Lebensgang beschreibt Rudolf Steiner sein autodidaktisches Pädagogikstudium, das er aufgrund seiner Hauslehrertätigkeit bei der Familie Specht absolvierte: „Diese Erziehungsaufgabe wurde für mich eine rechte Quelle des Lernens. Es eröffnete sich mir durch die Lehrpraxis, die ich anzuwenden hatte, ein Einblick in den Zusammenhang zwischen Seelischem und Körperlichem im Menschen. Da machte ich mein eigentliches Studium in Physiologie und Psychologie durch. Ich wurde gewahr, wie Erziehung und Unterricht zu einer Kunst werden müssen, die in wirklicher Menschenerkenntnis ihre Grundlage hat.“15

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Die erste Waldorfschule in Stuttgart war zunächst eine Werksschule (siehe Rudolf Steiners Schulweg in Pottschach) für die Kinder der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrikarbeiter. • 1922 Zweiter Internationaler Kongress der Anthroposophischen Bewegung „Zur Verständigung westlicher und östlicher Weltgegensätzlichkeit“ im Gebäude des Musikvereins in Wien. (Nicht nur Rudolf Steiners Geburtssituation ist hierfür charakteristisch, sondern auch die Zeit in Neudörfl, die ihn durch seinen Schulweg nach Wiener Neustadt täglich zum Grenzgänger zwischen Ost und West [Transleithanien/Cisleithanien] werden lässt.) • 1924 Begründung der anthroposophischen Heilpädagogik für seelenpflege-bedürftige Kinder. (Eine erste Begegnung mit Kindern, die einer besonderen Förderung bedürfen, hatte Rudolf Steiner durch seinen Bruder Gustav und später durch Otto Specht).

Anmerkungen   1 Steiner, R., GA 158, Dornach 1980, S. 202   2 Steiner, R., GA 28, Dornach 1949, S. 2   3 Lindenberg, C., Stuttgart 1997, S. 24   4 Das damalige Gebäude war wesentlich kleiner und etwas entfernt vom heutigen Bahnhof gelegen, an welchem eine Gedenktafel ist.   5 Steiner, R., GA 28, Dornach 1949, S. 2   6 In Pottschach, an der dortigen Bahnstation, versah Johann Steiner seine Dienste von 1863–1869; die beiden Geschwister Rudolf Steiners wurden dort geboren, 1864 Leopoldine, 1866 Gustav, das Sorgenkind der Familie; er war taubstumm.   7 Steiner, R., Briefe 1, Dornach 1985, S. 4f   8 Steiner, R., GA 185, Dornach 1962, S. 157   9 Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 1961ff, Heft 83/84 10 König, K., Geister unter dem Zeitgeist, Stuttgart 1973, S. 385 11 Wehr, G., Rudolf Steiner – Wirklichkeit, Erkenntnis und Kulturimpuls, Freiburg 1982, S.18 12 Der Begriff „Anthroposophie“ tritt in der Philosophie- und Geistesgeschichte verschiedentlich auf, ist also keine Bildung R. Steiners. So z. B. bei T. Vaugham (1650), I. P. V. Troxler, (1835), I. Fichte (1856), G. Spicker (1872), R. Zimmermann (1882). 13 In der Theosophischen Gesellschaft findet R. Steiner Menschen, die sich für das, was er als „Anthroposophie“ entwickelt, interessieren. Er wird dort Mitglied und bald Generalsekretär der deutschen Sektion (1902–13). 1913 kommt es zum Zerwürfnis mit A. Besant und R. Steiner wird aus der Theosophischen Gesellschaft ausgeschlossen. 14 Steiner, R., Gesammelte Aufsätze zur Kultur und Zeitgeschichte 1887–1901, GA 31, Dornach 1966, S. 624f 15 Steiner, R., Mein Lebensgang, GA 28, Dornach 1949, S. 97 Bildnachweis: Rudolf Steiner Archiv, Dornach

W i e n , s e i n e N at u r - u n d S e e l e n l a n d s c h a f t u n d d e r W i e n e r W e s t- O s t- Ko n g r e s s 1 9 2 2 Wolfgang Schad

Wien und das Wiener Becken Österreich war jahrtausendelang – und ist weiterhin – ein Vermittler zwischen dem Westen und Osten. Schon der Namen Austria = Ostreich spricht seine Rolle in einem dem frühen Mittelalter entsprungenen Kaiserreich an, dessen letzter Vertreter es bis 1918 war. In diesem „Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation“ gab es keineswegs nur eine Nation, denn es reichte von Sizilien bis Dänemark, von den Niederlanden bis Ungarn und umfasste in einem gemeinsamen Rechtsgebilde zahlreiche Nationen ohne Hauptstadt. Die Reichstage wanderten. Erst nach und nach trennten sich die einzelnen Nationalstaaten ab. Doch umfasste noch bis zum Ende des 1. Weltkrieges die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie auch Böhmen, Mähren, Schlesien, die Slowakei, Bukowina, Kroatien, Slowenien, Krain, Trient, Triest, Istrien und Dalmatien. Darin lebten mit ihren eigenen Sprachen dreizehn verschiedene Völkerschaften: Deutsche, Tschechen, Slowaken, Slowenen, Italiener, Kroaten, Serbokroaten, Serben, Magyaren, Rumänen, Ruthenen und Polen, bis unter der unseligen Wilson-Doktrin (sie statuiert das Recht auf Nationalstaaten nach Sprachräumen) sich die Sprachräume in nationalistische Staatengebilde auftrennten, worauf sich Adolf Hitler bei der Vereinnahmung Österreichs und des Sudetenlandes expressis verbis berief. Ab 1955 gewann das heutige Österreich ohne Ungarn seine staatliche Souveränität. Charakteristischerweise liegt Österreichs Hauptstadt nicht in der Mitte des Landes, sondern an dessen Ostrand. Wien spricht in seiner geografischen Lage selbst seine Mission aus: vom Westen aus offen für den Osten zu sein. Die Donaumetropole heißt aber keineswegs nach dem sie dominierenden, bis zum Schwarzen Meer reichenden großen osteuropäischen Strom, sondern nach dem winzigen Wienfluss, der vom Ostabbruch der Alpenausläufer herunter durch die Stadt fließt und über den Donaukanal später in die Donau mündet. Wien hat eine greifbare Stadtseele, die viel mit seiner Musikkultur zu tun hat. Wenn sich früher in Indien zwei Maharadschas einander bekannt machten, lautete die erste Frage oft: „Wie viele Tiger besitzen Sie (in Ihrem Herrschaftsbezirk)?“ Wenn sich hingegen zwei Wiener erstmals treffen, ist noch heute nicht selten die erste Frage: „Welches Instrument spielen Sie?“

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Fugato

Wien ist eine Stadt der Musik, die zahllose Komponisten angezogen hat: Haydn, ­Mozart, Beethoven, Brahms, Gluck, Schubert, Bruckner, Mahler, Strauß Vater und Sohn, Lehár, ­Bartók, Schönberg – und vieles aus dem reichen Boden der Volksmusik der ungarischen und böhmischen Musikanten, einschließlich der geigenden Roma, ist hier von vielen Großen aufgenommen worden; man denke nur an Haydn, Brahms und Bartók. Aber warum eignete sich gerade Wien für die „Wiener Klassik“, die „Wiener Romantik“, die „Wiener Operette“ und die „Wiener Moderne“? Musik ist die Sprache, die alle Menschen verstehen. Vor ihr schmelzen alle Nationalsprachen dahin. Haydn, Mozart und Beethoven werden überall auf der Erde gespielt und genossen. Ein Yehudi Menuhin, ein Gidon Kremer, ein Miha Pogacnik und ein Daniel Barenboim haben ihre Instrumente und Orchester, wo sie nur konnten, zur Völkerverständigung eingesetzt. Es gibt also eine gelebte Rechtssphäre der Musik, die Staats- und Sprachgrenzen flachlegt, weil sie allgemeine Menschenrechte zu begründen hilft. Wieso ging so viel davon gerade von Wien aus? Von den drei Seelenvermögen – Wollen, Fühlen, Denken – ist der Wille dann stark, wenn er einem einmal gefassten Entschluss, komme was wolle, treu bleibt. Im Denken suchen wir nach verlässlichen Regeln oder gar Gesetzen, die möglichst unveränderliche Gültigkeit besitzen sollten; darum gehen wir schwer von einmal gefassten Einsichten wieder ab. Gefühle aber bleiben nie, wie sie im Moment sind. Unentwegt wechseln wir zwischen Zuneigung und Abwehr. Gefühle schwingen hin und her zwischen Dur und Moll. Darin besteht jene Musik, die ihren Namen verdient. Der aktive, vorwärtsdrängende Zugriff ist das Harte = durus. Das Weiche = mollis, Empfindsam-Empfindliche greift noch tiefer ins Innerseelische. Die Vita activa und die Vita contemplativa, dieses Schwingen nach außen und innen mit der gesundenden Notwendigkeit des Wechsels, sind der Inhalt jeglicher Musik. Dissonanz und Konsonanz, Vorhalt und Auflösung lassen uns seelisch – und oft damit auch physisch – ein- und aus­ atmen. Das eine bringt der Westen ein: Zugriff und Gestaltungsmacht. Das andere bringt der weite Atem des Ostens her, der den Nachklang noch intensiver als den Klang hört. Die ganz großen Meister haben beides so ineinander geflochten, dass Dur und Moll austauschbar wurden. Der Schlusschoral des Weihnachtsoratoriums von Bach „Seid froh, dieweil …“ ist in strahlender Kraft voller Dur-Charakter und doch bei näherem Zusehen in Moll geschrieben. Der Höhepunkt des Abschiedsschmerzes von Orpheus, als er Eurydike erneut an die Unterwelt verliert, ist von Gluck in seiner Oper in einem umso ergreifenderen Dur komponiert, weil ein pures Moll offenbar zu sentimental gewesen wäre; der Schmerz war übergroß. Das Dur- oder Moll-Erlebnis ist keineswegs nur an die jeweiligen Intervalle gebunden, sondern auch vom Vorklang abhängig. Es gibt Akkorde, die – je nachdem, was zuvor erklang – dur-artig oder moll-artig empfunden werden. Es ist eben nicht der Akkord, der die Musik

Wien, seine Natur- und Seelenlandschaft und der Wiener West-Ost-Kongress 1922

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ausmacht, sondern mehr noch darüber hinaus die Polyphonie im Nacheinander, die ja erst die Melodie gebiert: als dasjenige ebenso, was zwischen den Tönen unhörbar aufklingt – der musikalische Wert der Pause. Der bedeutende Waldorfschulmusiker Christoph Peter hat, angeregt von Rudolf Steiner, darüber eine profunde Abhandlung geschrieben: „Die Pause in der Musik und ihre Analogie im Leben und in der Erziehung.“1 Darin kennzeichnet er sie für das musikalische Hören folgendermaßen: „Während gewöhnlich das äußere Geschehen sich mit dem inneren deckt und dieses allzu leicht verdeckt, wird in der Pause der äußere Strom zum Stillstand gebracht und lässt die innere Dynamik und Bewegtheit für Momente deutlicher hervortreten … Pausen sind Fenster, durch die das Wesen der Musik besonders rein in unsere Tonwelt scheint.“ Nochmals: Was hat das alles mit Wien zu tun? Hierzu gibt es einen rätselhaften Hinweis Rudolf Steiners über diese, seine eigene Kindheitslandschaft: Die Wiener Musikalität verdanke sich dem besonderen geologischen Bau des Wiener Beckens: „Das Wiener Becken, einfach der Boden, auf dem Wien steht, und die Umgebung, enthalten so viel an Zusammenfluss aller europäischen geologischen Verhältnisse, dass man im Wiener Becken fast die ganze europäische Geologie studieren kann. Nun, wenn Sie eine Ahnung haben, was das bedeutet, wie innig alles dasjenige, was im Geistigen ist, mit dem Boden zusammenhängt, wenn Sie bedenken, was das bedeutet, dass eigentlich ein Kompendium der ganzen europäischen Bodenverhältnisse in Wien ist, und wenn Sie das zusammenhalten damit, dass ja das Substantielle als solches, die Verhältnisse der Substanzen zueinander eigentlich die Tonleiter sind, wenn Sie das alles bedenken, so werden Sie sehen, dass man innerlich wirklich geradezu aus den kosmischen Verhältnissen heraus das Richtige trifft, wenn man sagt, dass in Wien auch ein solches seelisch-geistiges Milieu ist, in dem ganz besonders musikalische Genies sich ansässig machen und sich sympathisch berührt fühlen müssen.“2

Geologie und Musikalität zusammenzusehen – vom Fall Wien noch ganz abgesehen – mag von unserem kartesischen Bewusstsein (wonach räumliche und seelische Inhalte scharf zu trennen sind) als Zumutung empfunden werden. Darum baute Steiner seinen Zuhörern eine erste Brücke mit dem Hinweis, dass schon alle Erdenstoffe selbst in der natürlichen Ordnung des Periodensystems nach dem Oktavenprinzip musikalisch gebaut sind, jedenfalls, was die sieben Hauptgruppen desselben betrifft. Das haben schon die Entdecker als einen Pythagoräismus gesehen und die Begründer der chemischen Bindungslehre als „Oktettbestreben“ bemerkt. Aber das gilt ja nicht nur für die Gesteine des Wiener Beckens, sondern überall. Manches ist über diesen Hinweis Steiners gerätselt worden. Das Wiener Becken enthält Ablagerungen des späten Tethysmeeres, jenes viel größeren Mittelmeeres aus der Zeit des Erdmittelalters, das vor mehr als 200 Millionen Jahren begann. Insbesondere enthält es eine feine Gliederung jungtertiärer Sedimentgesteine mit einer reichen Fauna von charakteristi-

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Geologischer Schnitt durch das Wiener Becken von West nach Ost. W.S. Sandsteine des Wiener Waldes; kr. kristalline Schiefer des Leithagebirges; I Mediterrane Stufe des Mittleren Miozäns, marin: a Konglomerat der Küste, b Leithakalk des Flachwassers, c Sand und Ton (Tegel) der Beckentiefe; II Sarmatische Stufe des Oberen Miozäns, halbbrackisch; III Pontische Stufe des Untere Pliozäns, brackisch (Congerienstufe) im Untergrund von Wien; darüber weiß: Süßwasserablagerungen des obersten Pliozäns (Belvedere-Schotter) und des Pleistozäns (der Eiszeiten). (Nach v. Hoffstetter aus Credner, H.: Elemente der Geologie. Leipzig 18917)

Fossile Muscheln und Schnecken aus der Sarmatischen Stufe des Oberen Miozäns von Wien-Mauer

schen Leitfossilien, zuerst im Meer-, dann im Brack- und zuletzt im Süßwasser, was anzeigt, dass das Wiener Becken stufenweise den Kontakt zu den heutigen Restmeeren der Tethys, dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer, langsam verlor, aussüßte und zuletzt trockenfiel. Es sind insbesondere Schichten aus dem Miozän und Pliozän, den letzten geologischen Zeiten vor den Eiszeiten, in denen sich die mächtige Lebewelt des Urmittelmeeres, der Tethys, langsam zurückzog und sich das ursprüngliche Salzwasser wie von Moll zu Dur klärte. Meerwasser schmeckt „schmerzlich“, salzfreies Wasser „süß“. Diese Tethyssedimente wiederum ruhen auf uralten kristallinen Schiefern des Leitha­ gebirges, wie man sie besonders gut im Rosaliengebirge am Südrand des Wiener Beckens zu sehen bekommt. Oben um die Rosalienkapelle bei Forchenstein stehen wir auf dem letzten östlichen Ausläuferzipfel der gesamten Alpen und haben unter den Füßen ganz helle, lichthaft anmutende Glimmerschiefer, von hellweißen Quarzadern durchsetzt. Die starken Verfaltungen zeigen die Spuren der Alpenauffaltung, die vorher im Alttertiär stattgefunden hat. Jene Steine selbst stammen aus uralten Ablagerungen der Erdgeschichte und bilden nun die Ränder und den Untergrund des Wiener Beckens. Diese geologische Basis in der

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Tiefe des Beckens ist wie der Bass, über dem die Saiten der jungen Sedimentschichten gespannt sind. Aber auch das gibt es vielerorts in der Welt und ist nicht nur Wien-spezifisch. Das schließt nicht aus, darauf zu achten, ob und welche Musikalität sich sonstwo in ähnlichen klein- oder großräumigen Beckenlandschaften entwickelt hat: Im ungarischen Pußtabecken? Im Prager Becken? Was das eigentlich Charakteristische des kleinräumigen Wiener Beckens ausmacht, ist seine großräumige Lage im geologischen Kontext der so genannten alpiden Faltung während des Alttertiärs. Wir befinden uns am Ostrand des gesamten Alpenbogens, der hier jäh in breiter Front abbricht, um sich erst in deutlichem Abstand in den Karpatenbogen der Slowakei und weiter nach Rumänien fortzusetzen. Diese Zäsur lässt den weiten Atem der riesigen Pußtaebene in den überschaubaren Raum des relativ kleinen Wiener Beckens hereinwehen. In ihm verdichtet sich die Pause der Faltengebirge, die Zäsur, das Innehalten, die das Unhörbare hörbar macht. Hier klingt die Landschaft, wo sich die Gebirge zurückhalten, von innen auf. Das Wiener Becken ist in seiner besonderen Lage innerhalb des großräumigen Kontexts die landschaftliche Musik der Pause. Während die meisten der vorhin aufgezählten Wiener Musiker woanders geboren sind, stammt Josef Haydn (1732–1809) aus Rohrau bei Deutsch-Altenburg, einem kleinen Dorf zwischen Wien und Pressburg, und seine Hauptwirkensstätte waren die Konzerträume im Schloss des ungarischen Fürsten Esterházy in Eisenstadt, auf der Kante des kleinen Leithagebirges gelegen: mit Blick nach Osten auf die weiten Wasser des flachen Neusiedler Sees und nach Westen in das Wiener Becken. Er führte die viersätzige Sonaten-, Quartett- und Symphonieform ein und wurde damit im Jahre 1760 zum eigentlichen Begründer der Wiener Klassik in der Musik. Mozart und Beethoven waren kurzzeitig seine Schüler. Im ersten Satz wird das Hauptthema mit dem antwortenden, korrespondierenden Nebenthema zum musikalischen Dialog gebracht. Im langsamen zweiten Satz, dem Adagio, öffnen sich alle Quellen des musikalischen Gefühls. Der dritte Satz ist dann ein spielerisches Menuett, das später von Haydn durch ein Scherzo ersetzt wird. Im vierten Satz, dem Presto, bricht sich die Willenskraft ungehemmt in aller nur möglichen Virtuosität und Strahlkraft ihre Bahn. Der Mittelpunkt aber ist und bleibt der Schmelz des langsamen Satzes mit seinen vielen eingestreuten Zäsuren und Pausenelementen. Hier kommt die Wiener Musikalität zu ihrem vollen Ausdruck. Die Wiener Landschaft und die Wiener Kultur lassen durchatmen. Der eigene Atem öffnet im ausgleichenden Wechsel von außen und innen jene physiologische Versöhnlichkeit, die Gesundheit begründet. „Gesund“ – ein umstrittenes Wort, von dem bei genauer Rückfrage selbst die Ärzte nicht wissen, was es ist.3 Ob jemand sicherlich gesund oder ganz krank ist, lässt sich nämlich nicht scharf abgrenzen. Jeder trägt Krankheitsdispositionen in sich; und viele Krankheiten können uns gesünder machen, als wir vorher waren – etwa, wenn sie die Immunität stärken oder eine lebenswendende Veränderung auslösen. Und doch verwen-

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den wir fortwährend und ungeniert die Bezeichnungen gesund und krank. Da sie aber keine sicheren diagnostischen Begriffe sein können, meinen wir offensichtlich etwas anderes als einen feststellbaren Status: nämlich eine Option, eine Antizipation auf Zukunft. Sprechen wir von gesund, so schätzen wir eine längere Lebensfähigkeit im Voraus ein, als wenn wir die Krankheit als eine Einschränkung zumindest für die nächste Zeit erfahren. Das neue Wort dafür ist: positive oder negative Nachhaltigkeit, „sustainability“. Momentane Lösungen bringen nichts, wenn sie nicht auf Dauer halten. Dafür – und darauf ist hier der Blick gerichtet – besitzt Wien durch seine Natur und Kultur sogar einen regelrechten Überschuss. Der Wiener Landschaftsatem sorgt für eine unterschwellige große Gesundheitskraft. Dem widerspricht nun vieles. Aber an diesen Widersprüchen wird sich unsere Diagnose erweisen. Früher sprach man vom glücklichen Österreich: „Tu felix Austria nube“. Anfang des Jahres 2010 hingegen brachte die Frankfurter Allgemeine einen Beitrag von Dirk Schümer unter der Schlagzeile „Infelix Austria oder Ich hasse mich selbst“. Und: „Weltschmerz war gestern, heute ist Weltuntergang. In Österreich fällt die Diskrepanz zwischen einem recht konfliktfrei funktionierenden Wohlfahrtsstaat und der aggressiven Weltuntergangsstimmung besonders ins Auge.“4 Aber so war es eigentlich schon immer – irgendwie. Man vergnügte sich am eigenen Weltschmerz. Man kuschelte sich freudig in die eigene Melancholie. Auch sie kann schick sein. „Oh du lieber Augustin, alles ist hin“, wird hier als ein trautes, die Gemeinschaftlichkeit sicherndes Gefühl empfunden. War es doch im Pestjahr 1679, als der Landstreicher Augustin seine Schwermut fröhlich betrank, in die Grube der Pesttoten fiel, darin seinen Rausch ausschlief und wieder singend herauskletterte mit eben jenem Lied im Walzertakt „Alles ist hin“ – und ungehemmt weiterlebte. – Viele kennen die Anekdote über den Unterschied zwischen Deutschen und Österreichern: Konrad Adenauer gewann in der Nachkriegszeit seine Wahlen mit dem letzten Satz in jeder Wahlrede: „Die Lage ist ernst, aber nicht aussichtslos.“ – Der Österreicher hingegen weiß: „Die Lage ist aussichtslos, aber nicht ernst.“ Der Wiener Schriftsteller und Journalist Jörg Mauthe brachte es auf den Punkt: „Die angewandte Relativitätsphilosophie des Wieners kennt keine Unvereinbarkeit der Gegensätze.“5 Das lässt sich gut an der überbordenden Bürokratie exemplifizieren. Das Land wird überschüttet von Gesetzen, Verordnungen und Erlässen, die längst zum Ruin geführt hätten, wenn sich jeder an sie hielte. „Das hier ist zwar nicht erlaubt, aber wenn Sie sich nicht daran halten, macht’s auch nichts.“ So der für die Technik Verantwortliche beim Rundgang in der Wiener Hofburg zur Vorbereitung des Goetheanum-Kongresses 1979. Die Luft des Orients weht schon in balkanischer Stimmung herein. Das ist für den Österreicher aber nicht der Beginn von Korruption, sondern seine humorisierte Überlebenskunst, die Normalität herzustellen. „Das Ausfindigmachen der passenden ‚Hintertürln‘ kann man je nach Schwierigkeitsgrad als eine Art Nationalsport oder als eine Kunst bezeichnen“.6 So

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hängt in einer Behörde am Ende eines langen Ganges an der letzten Tür das Schild „Eintritt für jedermann strengstens verboten“ und darunter: „Vorsicht Stufe!“7 Jederzeit ans Skurrile grenzende Widersprüchlichkeit, kultivierte Schwermut und geliebte Hoffnungslosigkeit kann sich der Österreicher und speziell in gesteigertem Maße der Wiener nur leisten, weil er einen urgesunden Rückhalt in der eigenen Konstitution hat. Davon sind die Bücher seiner Selbstbeschreibung oder Fremdbeschreibung voll und selbst der hier Eingereiste verfällt dieser positiven Negativität leicht, weil es ihm hier so wohlgeht (James 19987, Mauthe 20065, Weigel 19708) – im Tagesbewusstsein liebt man das Moll, im eigenen Untergrund des Lebens aber herrscht ein strahlendes Dur. Kein Wunder, wenn hier in Wien mit Breuer, Freud und Adler die Tiefenpsychologie entstand, welche bemerkte, dass im Tiefenbewusstsein oft das Gegenteil von dem lebt, was im Oberstübchen kultiviert wird. Wobei es wiederum charakteristisch ist, dass man gerade im letzteren vorwiegend das Problematische und weniger das auch ebenso vorhandene Aufhelfende sucht und findet. Was soll das Oberstübchen denn auch in Wien sonst machen? Dem im Wiener Becken von Mödling, Pottschach über Neudörfl, Oberlaa bis nach Brunn am Gebirge aufgewachsenen Steiner fiel es viel weniger schwer als manchem Nichtösterreicher zu bemerken, dass hohe Idealisten in ihrer Tiefenpsyche oft harte Materialisten sind – und sich selbst im Tagesbewusstsein für überzeugte Materialisten haltende Köpfe in ihrer Tiefenhaltung idealistisch gebärden.9 Im Unterbewusstsein lebt die Tiefenpsyche mit der organisch gebundenen Lebensorganisation zusammen, was Steiner meist den Lebensleib oder – von Aristoteles übernommen – das „Ätherische“ nannte. Man könnte ihn auch den Gesundheitsleib nennen, denn er gibt uns ja in jedem Moment die Lebensfähigkeit im Leibe. Die Inhalte des Tagesbewusstseins hingegen leben von den Empfindungen des „Seelenleibes“ oder, was Steiner aus der Medizin des Paracelsus übernimmt, des „Astralleibes“. Nun können wir noch genauer beschreiben, was vorliegt. Die Lebenssphäre der Wiener Umgebung ist begabt mit einem von der östlichen Weite angebotenen Gesundheitsleib von nachhaltiger Fülle. Deswegen kann sich der Astralleib im Menschen hier ohne allzu große Gefährdung das Gegenteil erlauben. Das ist ja nicht nur in Niederösterreich so, sondern: Überall, wo sich die Wohlstandsgesellschaft etabliert, leistet sie sich als Tagesunterhaltung in Theater und Literatur die hochkultivierte Lust am Untergang, den kuscheligen Reiz der Negativität. Wem es hingegen existenziell wirklich schlecht, ja dreckig geht, dem bleibt zum Überleben nur die Positivität. Wer all das nicht glaubt, fahre nach Wien oder einfach ins östliche Österreich und genieße zum Beispiel im Sommertheater von Reichenau die Inszenierung „Die Macht der Gewohnheit“ von Thomas Bernhard, in der eine Probe des Forellenquintetts von Schubert nie beginnt, sondern schon im gespielten Vorlauf untergeht. Das Publikum genießt Kaffee und Kuchen und umso mehr beschwerdefrei des weiteren ein Nichts. Und das ist hier nicht erst modernes Theater, sondern hat Tradition.

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Als der junge Steiner in die literarischen Zirkel Wiens eintrat, traf er im Salon der Dichterin Eugenie della Grazie eine Hausherrin, die glutvoll die trostlosen Abgründe des Menschseins besang. Der aus Pressburg stammende große Idealist Karl Julius Schröer wandte sich mit Grausen davon ab. Der Student Steiner, der seinerseits Schröer hoch verehrte, sah ebenso die Berechtigung der düsteren Dichterin, weil es wohl in ihren Tiefen ganz anders aussah. Es war wohl eine besondere Konstitution des jungen Steiner, die eigene Tagespsyche im Einklang mit der eigenen Tiefenpsyche leben zu können. Das machte ihn zum Menschenkenner. Seine Kindheit verbrachte er hauptsächlich im südlichen Wiener Becken, in Pottschach an der Semmeringbahn und in Neudörfl am Fuß des Rosaliengebirges, von wo die Leitha des Leithagebirges entspringt (siehe Die Ost-West-Grenze – ein Lebensmotiv bei Rudolf Steiner). Diese Äthergeografie schenkte ihm einen außerordentlich belastbaren Gesundheitsleib, der ihm für eine überdimensionale Schaffenskraft den Rückhalt bot und ihm seine Lebensleistung kräftemäßig ermöglichte.

Der Wiener West-Ost-Kongress 1922 Steiner war es im Jahre 1922, drei Jahre vor seinem Tod, ein besonderes Anliegen, in Wien einen öffentlichen Kongress auszurichten, um die europäische Aufgabe gerade dieser Stadt zu betonen. Das kam schon im Titel zum Ausdruck: „West-Ost. Zur Verständigung west­ licher und östlicher Weltgegensätzlichkeit“ (1.–12. 6. 1922). Vor 2.000 Teilnehmern sprach er in zehn Vorträgen das Verständnis der Gegensätze und die damit erst mögliche zukunftsträchtige Verbindung derselben an. Damals herrschte, vier Jahre nach dem Ende des 1. Weltkrieges und dem dadurch erfolgten Zusammenbruch des Kaiserreiches, gerade auch in Wien nicht nur große äußere Not, sondern mehr noch die innere Not der verlorengegangenen Orientierungen. Alle damit bisher verbundenen Herrlichkeiten waren dahin. Umso mehr kam Steiners Anliegen an. Ging es doch darum, die eigene geopolitische und kulturelle Lage in den globalisierten Blick zu nehmen: Österreich als Teil Mitteleuropas, Mitteleuropa als Glied Europas, Europa zwischen Amerika und Asien, um aus den Froschperspektiven herauszukommen. Die dazugehörige menschliche Phänomenologie kennt im Grunde heute jeder. Wer heute in die USA reist, wird Tag für Tag überrascht von der unkonventionellen Gastfreundschaft und erfährt: „You made my day.“ Rasch heißt es: „Esst den Kühlschrank leer, bleibt so lange, wie ihr wollt, und werft zum Schluss den Hausschlüssel in den Briefkasten.“ Keine Ortschaft ohne Willkommensschilder und selbst die Verkehrshinweise sind die höflichsten der Welt. Das Ideal der allgemeinen Bruderschaft aller Menschen, das wörtliche „Phil-Adelphia“, wird ohne Pflichtgefühl spontan demonstriert. Standesunterschiede fallen weitgehend weg, Studenten reden ihre Hochschullehrer mit Vornamen an, der Tellerwäscher hat

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die Chance, Mister President zu werden. Alle scheinen glücklich, hat man doch laut Verfassung geradezu das Recht auf Glück. Bis man entdeckt, dass sich auch hier das Tagesbewusstsein durchaus nicht so durchgängig mit dem Existenzgefühl deckt. Wen einmal Ernst oder gar Trauer überkommen, der empfindet sich hier als abwegig und sucht rasch seinen Psychiater auf. Keine Gesellschaft hat so viele Psychiater pro Kopf der Bevölkerung wie die USA. Der Psychiater gibt vielfach die Anweisung zur permanenten Selbstüberredung: „Ich bin gar nicht traurig“ – bis man es nicht mehr ist. Nicht glücklich zu sein, ist für Durchschnittsamerikaner unanständig. Die meistgebrauchten Wörter sind: nice, pretty, wonderful, beautiful, glad, amazing, great, splendid, grand und besonders häufig fine auch im unbedeutendsten Falle. Das ist eine wunderbare Positivitätsübung für Nörgler aus Europa. Aber auch diese Tugend, totalisiert, schlägt in Verdrängung um. Nichts verdrängt die US-amerikanische Gesellschaft mehr als Krankheit und Tod. Noch der Verstorbene wird so lustig geschminkt, wie er sich im Leben gab, und so hübsch wie möglich im Sarg ausstaffiert. Schön muss die Leiche sein. Über diese Unfähigkeit, den Tod familiär und gesellschaftlich zu verkraften, ist viel geschrieben worden, bis hin zu Neil Postmans Longseller „Wir amüsieren uns zu Tode“. Im Unterbewusstsein steckt offensichtlich eine tiefe Furcht davor, die Maske des Strahlelächelns als eine solche zu entdecken. Was ich hier von heute her benenne, legte Rudolf Steiner offen, als er 1918 davon sprach, dass die Geister der Furcht, die ahrimanischen Kräfte, nirgends so dicht direkt unter dem Erdboden liegen wie in Amerika10. Als beide Amerikas noch von einer dort in Jahrtausenden gewachsenen, autochthonen Spiritualität besiedelt waren, wusste diese davon. Alle indianischen Kulte gehen mit schweren Schmerz- und Nahtod-Erfahrungen um – von den Kwakiutl West-Kanadas bis zu den Totenkulten der Andenindianer.11 In Mexiko ist der Tod so in die Folklore einbezogen, dass echte oder nachgebildete Totenköpfe jederzeit als Hausdekoration bis zur Herstellung aus essbarer Zuckermasse im Schokoladensarg firmieren.12, 13 Das Gerippe steht nicht für das Ende des Lebens, sondern für die Ewigkeit, und so fürchtet es niemand. Steiner beurteilte die Einweihungsriten der indianischen Kulturen als Weg in die geistige Welt durch die Mysterien des Todes.14 Die Amerika kolonisierenden Europäer konnten damit nichts anfangen, verdrängten sie und leiden nun unbewusst, weil unaufgearbeitet, daran. Die heute herrschenden amerikanischen Gesellschaften, insbesondere die USA, stehen auf einem abermillionenfachen Genozid und damit auf der Ausrottung einer hohen ernsten Geistigkeit. An ihrer Stelle wird eine durchgängige Spaßgesellschaft zelebriert, die jedoch tiefenpsychologisch von den kontinentgegebenen Kräften der Furcht vor Schmerz, Krankheit und des Todes geschüttelt ist. Im Oberbewusstsein aber treibt man einen fröhlichen Materialismus – wissenschaftlich und ökonomisch – und sieht noch mit Calvin im materiellen Reichtum den Beweis für Gottes Segen. Von dieser Schizothymie zu wissen und hier zu helfen, wird dort die spirituelle Aufgabe in der Zukunft sein.

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Anders ist es, wenn man über Osteuropa nach West-, Mittel-, Süd- und Ostasien kommt. In vielen Varianten stößt man hier auf ein tiefes innerseelisches Bedürfnis nach höherer Bindung, nach Religion. Äußere Armut wird vielfach um des inneren Reichtums willen ertragen. Die Erduldungsfähigkeit der Menschen schon im heutigen Russland und noch mehr jenseits des Urals und Kaukasus ist für den Mitteleuropäer oft unfassbar. Das orthodoxe Christentum ebenso wie Hinduismus, Buddhismus, Konfuzianismus und die verschiedenartigsten Naturreligionen bis hinein in den sibirischen Raum geben den Menschen die innere Kraft, unsägliches äußeres Elend durchzuhalten. Der Kommunismus hat zwar seinerseits in weiten Teilen davon die uralt gewachsenen Spiritualismen weggefegt oder gar gezielt ausgerottet, aber der Grundton ist geblieben: An die Stelle der theistischen Religionen trat die atheistische Religion, welche eine innere Bindung glühend versprach, wenn man nur bereit war, sich zu seinem imaginären Glück zwingen zu lassen. Mit innerer Inbrunst wurde und wird die Materie angebetet. Mit dieser Welt der sakralen und profanen Konfessionen hat jeder Mensch zu tun, wenn er in sein Inneres blickt, so wie sein Blick nach außen ihn gerne dazu verführt, die Welt positivistisch nur als Ressource zu sehen und auszunutzen. Eben das war im Ansatz schon die Analyse Rudolf Steiners 1922 auf dem West-Ost-Kongress in Wien: „Wir sehen also den wissenschaftlichen Gedanken als den treibenden Impuls der unmittelbaren Gegenwart – und umso mehr, je mehr wir nach Westen kommen. Und wir sehen im Osten einen Nachklang dessen, was Einheit von Religion, Kunst und Wissenschaft war. Dieses religiöse Grundelement, diese Nuance haben die Osteuropäer im Gemüt. Sie schauen mit dieser Grundnuance in die Welt hinein. Den Westen können sie nur auf dem Umweg über eine solche geistige Entwicklung verstehen, wie sie hier bei unserer geisteswissenschaftlichen Bewegung vorliegt; ein unmittelbares Verständnis für den Westen ­haben sie nicht, weil man gerade im Westen reinlich das Religiöse und das Künstlerische vom wissenschaftlichen Gedanken abgrenzen will. Und in der Mitte – wir können uns dem nicht verschließen –, da muss der Mensch die äußere Sinneswelt sich aufdrängen lassen und den Gedanken erleben, der sich für die äußere Sinneswelt eignet; er kann aber nicht anders, als zurückzublicken auf sich selber und sein inneres Erleben – und für das innere braucht er das religiöse Erleben. Ich möchte aber sagen: Tiefer verborgen in der menschlichen Natur als das religiöse Erleben, das man im Innern braucht, und das wissenschaftliche Erleben, das man für die Beobachtung der Außenwelt braucht, ist das Bindeglied zwischen beiden, das künstlerische Erleben. Dieses künstlerische Erleben ist daher auch etwas, was heute im Leben so dasteht, dass es nicht in erster Linie als Anforderung an das Leben geltend gemacht wird. Wir sehen, wie sich die westliche Kultur mit Wissenschaftsgedanken trägt und die östliche Kultur mit religiösen Gedanken. Wir sehen, wie wir in einer künstlerischen Kultur stehen, wie wir uns aber nicht voll in sie einleben können, wie die künstlerische Kultur vielfach nur Renaissance ist. Dennoch aber muss man sagen: Die Sehnsucht nach einem solchen Ausgleich ist in der

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Mitte zwischen Ost und West durchaus vorhanden. Und wir sehen sie, wenn wir etwa hinblicken, gerade auf Goethe. Wer ästhetisches Gewissen hat, der kommt auch zur wissenschaftlichen und religiösen Gewissenhaftigkeit. Und das kann uns zeigen, wo wir heute stehen. Heute – ich spreche nicht gern das oft angeführte Wort „Übergangszeit“ aus, jede Zeit ist eine Übergangszeit – aber heute, in einer Übergangszeit, kommt es eben darauf an, worin der Übergang in der Zeit besteht. In unserer Zeit erleben wir, bis zum höchsten Triumph entwickelt, die Trennung von Religion, Kunst und Wissenschaft. Das aber, was gesucht werden muss und erst eine Verständigung finden lassen kann zwischen Ost und West, das ist die Harmonisierung, die innere Einheit von Religion, Kunst und Wissenschaft. Und zu dieser inneren Einheit möchten die Weltauffassung und Lebensanschauung, von der hier gesprochen worden ist und weiter gesprochen werden wird, führen.“15 Rudolf Steiner fordert hier außer den vertrauten Begriffen der wissenschaftlichen und religiösen Gewissenhaftigkeit eine ästhetische Gewissenhaftigkeit als spezifische Aufgabe europäischer Kultur. Das ist bis heute vielerorts unverständlich geblieben, weil allein schon das Wort „Ästhetik“ seines ursprünglichen Inhaltes beraubt worden ist und man damit bloß benennt, was gefällt. Das sind folglich in einer Spaßgesellschaft: Verblüffung durch Verfremdung, Provokation durch exzessiven Subjektivismus, auf jeden Fall Beliebigkeit. Steiner hingegen wendet sich ad fontes und nimmt den Terminus im wörtlichen Sinne. Aisthesis heißt im Griechischen Wahrnehmung: Das Gegenüber, die Welt möge sich aussprechen – ebenso „der Gegenüber“, der Mensch. Nicht, was ich in die Welt und den Mitmenschen hineinprojiziere, ist maßgeblich, sondern was beide mir sagen können. In diesem ursprünglichen Sinne ist Ästhetik soziales Verhalten. Es geht Steiner hier um neue Künste: die sozialen Künste. Hierin konnte er direkt an Goethes Wahrnehmungskultur anschließen – so, wenn dieser aus Italien schrieb: „Ich lass’ mir nun alles entgegenkommen und zwinge mich nicht, dieses oder jenes in dem Gegenstand zu finden“ (an Charlotte von Stein, Rom, Dezember 1786). In seiner Würdigung des Kunstästhetikers Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) nannte Goethe dessen Zeitgenossen Alexander Gottfried Baumgarten (1714 –1762)16, welcher eine Ästhetik im ursprünglichen Sinne begründet hatte (s. Goethe, WA I 16,91), ­worin er diese als „die Frankfurter Ästhetik“ bezeichnete. Gemeint war damit Frankfurt an der Oder, wo Baumgarten gelebt hatte. Die Schweizer Philosophen Heinrich Barth (1890– 1965)17 und Rudolf Schweizer (* 1932)18 haben diese Neufassung des Baumgarten’schen und Goethe‘schen Ästhetikverständnisses im Sinne der Steiner’schen ästhetischen Gewissenhaftigkeit weiter ausgearbeitet. Was ist dieses „ästhetische Gewissen“? Schon die Wortverbindung lässt uns stutzen, weil sie Kunst und Religion einander näherbringt. Dieses Gewissen beinhaltet wohl, in der Kunst dem Spiel im Sinne Schillers freie Hand zu geben, ohne in die Spielerei bloßer Launen und flüchtiger Impressionen zu verfallen. Das ästhetische Gewissen bewahrheitet sich im Sozi-

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albezug, auch im Sozialbezug des Künstlers zu sich selbst. Diese Funktion zwischen Kunstschaffendem und Kunstempfänger in den ästhetischen Künsten sie steigert und verdichtet sich zur biografischen Lebenskunst, zur Erziehungskunst, der Heilkunst, der Staatskunst – um nur einige zu nennen. Die Architektur, Innenarchitektur, Malerei, Musik und Dichtung sind die Vorübungen jeglicher Kunst des Miteinanders – einschließlich der hohen Kunst, mit der sich der Künstler selbst erzieht, heilt und behaust, als Kunstempfänger seiner selbst. Darin ist jeder Mensch früher oder später ein Künstler (so auch Beuys� Kunstverständnis). Beides macht auch gerade einen großen Anteil der poetischen Werke Goethes aus. Vieles davon waren Konfessionen von sich selbst zur Herzenserleichterung in biografischen Nöten (Werther, Clavigo, Tasso, Faust I). So gestand Goethe in seiner Autobiografie: „Alles, was von mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Konfession, welche vollständig zu machen dieses Büchlein ein gewagter Versuch ist.“19 Vieles wurde ebenso mitmenschlich wirksam (Götz, Egmont, Iphigenie, Faust II und besonders Wilhelm Meister). Dabei lehnte er jedoch Schillers Konzept ab, die Kunst als Transportmittel von Ideen und/oder Moral zu verwenden. Er sah keineswegs, wie etwa Schiller, das „Theater als moralische Anstalt“. Dieser benutzte die Kunst dazu, um mit ihr, wenn irgendwie möglich, gezielt Ideen unters Volk zu bringen, wie er es mit der Idee der Freiheit mittels seiner Helden (Marquis Posa, Wilhelm Tell, Jungfrau von Orleans) praktizierte.20 Goethe sah sich verstanden, als ihm sein Jugendfreund Johann Heinrich Merck hingegen eines Tages auf den Kopf zusagte: „Dein Bestreben, deine unablenkbare Richtung ist, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben; die andern suchen, das so genannte Poetische, das Imaginative zu verwirklichen, und das gibt nichts wie dummes Zeug.“ Und Merck fährt fort: „Fasst man die ungeheure Differenz dieser beiden Handlungsweisen, hält man sie fest und wendet sie an, so erlangt man viel Aufschluss über tausend andere Dinge.“21 Diese schon von Merck erkannte Goethe’sche Kunstpraxis beschrieb der Student Steiner in seinem ersten Vortrag vor der Wiener Goethegesellschaft am 9. 11. 1888 in dem genialen Wurf „Goethe als Vater einer neue Ästhetik“. Indem er dessen Ästhetik von der naturalistischen Ästhetik (Kunst ist, was genossen wird) und von der idealistischen Ästhetik (Kunst hat das Wahre und Gute zu verbreiten, dann erst ist sie schön) absetzte und das Ergebnis in die These zusammenfasste: Kunst im Sinne Goethes, „das ist nicht die Idee in Form der sinnlichen Erscheinung, das ist gerade das Umgekehrte, das ist eine sinnliche Erscheinung in der Form der Idee. (…) Das Schöne ist ein sinnlich Wirkliches, das so erscheint, als wäre es Idee.“22 Das scheint recht philosophisch und so für viele Ohren abgehoben zu klingen, hat aber inhaltlich genommen, wie Merck schon bemerkte, eine außerordentliche Auswirkung auf die im herkömmlichen Sinne ästhetischen und sogar noch mehr für die sozialen Künste. Das hört sich bei Goethe so an: „Die Deutschen sind übrigens wunderliche Leute! (…) Da kommen sie und fragen: Welche Idee ich in meinem Faust zu verkörpern gesucht? – Als ob ich

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das selber wüsste und aussprechen könnte! – Vom Himmel durch die Welt zur Hölle [Schluss des „Vorspiels auf dem Theater“], das wäre zur Not etwas; aber das ist keine Idee, sondern Gang der Handlung.“ (Zu Eckermann, 6. 5. 1827) Echte Kunst besteht danach nicht in dem In-Szene-Setzen von noch so löblichen Ideen, sondern in einer eigenen Würde des Sinnlichen, das Genuss und Erschütterung so gewährt, wie es eine erfasste Idee auf ihrem Gebiet der Erkenntnis in sich haben kann. Sie kommt für alle überraschend und ist im Vollzug nicht eindeutig vorhersagbar – weder für den Kunstschaffenden noch für den Kunstempfangenden, sondern steht darin im Gegensatz zu jeder verallgemeinerbaren Idee. Das Kunstwerk ist nie zu verallgemeinern, sondern immer einmalig. In der Sprache des Philosophen Windelbands: Sie ist idiografisch, nie nomothetisch.23 Oder in der Sprache der Medizin: Sie ist Kasuistik und nicht Statistik. Damit kommen wir mit den sozialen Künsten an die Identität der ästhetisierenden Künste heran – und sie darf hier anhand der Pädagogik beschrieben werden. Erziehung wird inhuman, wenn sie nur nach noch so gut gemeinten verallgemeinernden Rezepten vollzogen wird. So sah auch Steiner bei genauem Hinsehen in der Waldorfpädagogik nicht ein angewandtes System eines typologisierten Menschenbildes: Weder nach den Jahrsiebten noch den vier Temperamenten müssen sich diese ideellen Hilfen letztlich erst bewähren, sondern vor der Unvorhersagbarkeit jedes individuellen Kindes. Steiner in seinem Vortrag am 25. März 192324 auf einer pädagogischen Tagung: Weder eine naturwissenschaftliche noch eine anthroposophische Anthropologie kann das konkrete einzelne Kind erfassen, weil alle Wissenschaft, auch die „Allgemeine Menschenkunde“ auf Verallgemeinerung ausgerichtet ist. Das konkrete Kind in der konkreten Begegnung zu erfassen, ist deshalb nie Wissenschaft, sondern es gelingt oder gelingt nicht – wie der fruchtbare Moment in der Kunst: Es ist die soziale Kunst, die vor Ort das entscheidende Wort hat. Das gilt in makrosozialem Ausmaß erst recht für die gesellschaftlichen Gestaltungsaufgaben. Nichts gegen die Theorien als Vorbereitungshilfen für das Handeln, aber in den entscheidenden Momenten haben gerade die Sozialtheoretiker – wenn auch noch so gut gemeint – zahlloses Elend verbreitet, weil jede Theorie von der Retrospektive lebt, soziales Handeln aber in jedem Augenblick neu prospektiv vorgehen muss. Das heißt, im Mikrosozialen wieder auf das Kind bezogen: Es ist nicht nach einer vorgegebenen Idee zu erziehen, sondern alle Erziehungswissenschaften müssen sich mit ihrer Rolle als Vorübung begnügen, um im konkreten Fall dem Kind und nicht der eigenen Idee entsprechen zu können. Menschengemäße Erziehung ist wie jede soziale Kunst der Ansatz, dem Kind so aufzuhelfen, dass seine eigene Idee in ihm aufscheinen kann. Nur dann ist seine Würde gewahrt. Was Goethe mit seiner Kunstpraxis biografisch lebte, versuchte Steiner auf dem Wiener West-Ost-Kongress als Goetheanismus für das gesellschaftliche Leben in die Wirren der damaligen Nachkriegszeit einzubringen: die Kunstästhetik durch ein „ästhetisches Gewissen“

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in eine praktizierbare Sozial­ästhetik umzusetzen. Es geht nicht um Theoriengebäude, sondern um die Wahrnehmung, was jetzt human gefragt und gefordert ist. Es geht nicht um eine Rekapitulation des gedruckten Goethes, sondern der Ausweitung dessen, was an den bisherigen ästhetischen Künsten an Fähigkeiten der Flexibilität und Geistesgegenwart für die praktischen sozialen Künste gelernt werden kann. Das ist dasjenige, was Steiner damals 1922 in Wien mit „Goetheanismus“ im Blick hatte, seitdem vielfach schon verwirklicht und die Zukunft ist.

Anmerkungen   1 Peter, C., Die Pause in der Musik und ihre Analogie im Leben und in der Erziehung. In: Zum Phänomen der Pause und der Wiederholung in der Musik. Manuskriptdruck der Päd. Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen, Stuttgart 1986   2 Steiner, R., Das Tonerlebnis im Menschen (7. Vortrag), GA 283, Dornach 1989   3 Schad, W., Gesundheit und Krankheit in Medizin und Ökologie. Der Merkurstab 51 (4): 193–197, Berlin 1998   4 Schümer, D., Infelix Austria oder Ich hasse mich selbst, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 30, S. 31, 5.2. 2010   5 Mauthe, J., Wien für Anfänger (Magnus), Essen 2006 6,7 James, L., Die Österreicher pauschal (Fischer tb), Frankfurt a. M. 19985   8 Weigel, H., O du mein Österreich, München 19703   9 Steiner, R, Die Polarität von Dauer und Entwicklung im Menschenleben (22.9. 1918), GA 184, Vortrag, Dornach 2002 10 Steiner, R., Soziale und antisoziale Triebe im Menschen (12. 12. 1918). In: Die soziale Grundforderung unserer Zeit – In geänderter Zeitlage, GA 186, S. 181, Dornach 1990 11 Rohner, R.P. u. E.C., The Kwakiutl Indians of British Columbia, New York 1970 12 Ganslmayr, H. (Hg.), Lebende Tote. Totenkult in Mexico – Ausstellungskatalog des Übersee Museums Bremen. Frankfurt a. M. 1986. – Siehe auch: Picknick auf Mexikos Gräbern. Illustrierte Wissenschaft Nr.9, S.40–43 u. 80, Oktober 1992 13 Westheim, P., Der Tod in Mexiko, Hanau 1986 14 Steiner, R., Soziale und antisoziale Triebe im Menschen (12. 12. 1918). In: Die soziale Grundforderung unserer Zeit – In geänderter Zeitlage. GA 186, S. 181, Dornach 1990 15 Steiner, R., Westliche und östliche Weltgegensätzlichkeit. (Wien 1.–12.6.1922), GA 83, Dornach 1981. 16 Baumgarten, A. G., Aesthetica, 2 Bde., Frankfurt a. O. 1750, 1758 17 Barth, H., Philosophie der Erscheinung, 2 Bde. 1947/59 18 Schweizer, H.R., Vom ursprünglichen Sinn der Ästhetik, Oberwil-Zug 1976 19 Goethe, J. W., Dichtung und Wahrheit II, 7 20 Schad, W., Schiller im Blick Goethes. In Schad, W.: Goethes Weltkultur. S. 163–181, Stuttgart 2007. 21 Goehthe, J. W., Dichtung und Wahrheit IV, 18 22 Steiner, R., Goethe als Vater einer neuen Ästhetik. In: Methodische Grundlagen der Anthroposophie, S. 23–46, GA 30, Dornach 19893, Einzelausgabe Dornach 1987 23 Windelband, W., Geschichte und Naturwissenschaft. Rektoratsrede, Straßburg 1904 24 Steiner, R., Pädagogik und Kunst (25.3.1923).In: Anthroposophische Menschenkunde und Pädagogik, GA 304a, Dornach 1979 Abbildungsnachweis: Sammlung u. Fotos: W. Schad

E i n e b e s o n d e r e N o t e d e s W e s t- O s t- Ko n g r e s s e s 1 Alexander Strakosch

Zu Pfingsten 1922 fand in Wien der „WestOst-Kongress“ statt, der zweite internationale Kongress der anthroposophischen Bewegung. Damit sollte der Beitrag geleistet werden zur Verständigung westlicher und östlicher Weltgegensätzlichkeit. Heute ist dies die Frage, welche die ganze Welt bewegt, es zeugt für Rudolf Steiners Weitblick, dass er sie schon damals ins Auge fasste und auf die Richtung hinwies, in welcher die Lösung zu suchen sei. Das alte Österreich war der Boden, wo einander das nationale Problem des Ostens und das wirtschaftlich-soziale des Westens begegneten. Im tatsächlichen Zusammenleben so verschiedener Völker innerhalb dieses Staates haben sich solche Fähigkeiten entwickelt, welche geeignet sind, im rechten Geiste der Titelseite des Programms Menschheitsentwicklung mitzuwirken. An diese Kräfte wollte sich Rudolf Steiner mit diesem Kongress wenden und gab in seinen beiden Vortragsreihen aus der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft die grundlegenden Gesichtspunkte auf den wichtigen Gebieten: Naturwissenschaft, Psychologie, Weltorientierung (Ost-West in der Geschichte), Weltentwicklung (vom geografischen Standpunkt) und Kosmologie. Die zweite Vortragsreihe, ebenfalls fünf Abendvorträge umfassend, war der sozialen Frage unter dem Gesichtspunkt West-Ost gewidmet. Die Vormittage waren den verschiedenen Betätigungsgebieten der Anthroposophie vorbehalten, einer davon der an der Waldorfschule geübten Erziehungskunst. Am Nachmittag gab es fachwissenschaftliche Besprechungen über Chemie, Pädagogik, Medizin und Sprachwissenschaft …

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Übersicht über die Veranstaltungen des West-OstKongresses Rudolf Steiners Vorträge beim West-Ost-Kongress

Eine besondere, echt wienerische Note gaben dem Kongress die künstlerischen Veranstaltungen. Selbstverständlich fehlte die Eurythmie nicht (zwei Aufführungen in der Volksoper). Bei der Bruckner-Feier wurde unter Mitwirkung der „Wiener Philharmoniker“ die große Messe in F-Moll, das Streichquintett und das Te Deum aufgeführt. An zwei Abenden, einer der klassischen, einer der modernen Musik gewidmet, wurde von den ersten Künstlern auf von Franz Thomastik2 nach besonderen Prinzipien gebauten Geigen musiziert und Albert Steffen3 gestaltete

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Eine besondere Note des West-Ost-Kongresses

ganz aus dem Thema des Kongresses seinen Vortrag: „Die Stellung des Künstlers zwischen West und Ost“. Die Beteiligung an dieser Veranstaltung war äußerst rege. Der Große Musikvereinssaal war überfüllt und die Aufnahme, besonders der Vorträge Rudolf Steiners, eine überaus herzliche. Rudolf Steiner beim West-Ost-Kongress

Anmerkungen 1

Aus Strakosch, A., Lebenswege mit Rudolf Steiner, Zweiter Teil, Dornach (im Selbstverlag) 1952, S. 137f

2 Thomastik, Franz, Musikinstrumentenbauer in Wien, der mit Rudolf Steiner in wiederholtem Austausch über eine Erneuerung der Musikinstrumente stand. 3 Steffen, Albert, Schweizer Dichter, Schriftsteller und nach Rudolf Steiners Tod Vorsitzender der Anthroposophischen Gesellschaft. Bildnachweis: Programm West-Ost-Kongress, Archiv des Herausgebers, Rudolf Steiner beim West-Ost-Kongress, www.rsarchive.org/RelAuthors/Davy John

D e r W e s t- ö s t l i c h e D i va n – G o e t h e u n d d e r I s l a m Elisabeth Gergely

Toleranz sollte nur eine vorübergehende Gesinnung sein, sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt Beleidigen. J. W. Goethe

Goethes Eindringen in den Islam geht weit darüber hinaus, was in der Zeit der Aufklärung als tolerante Haltung demselben gegenüber gesucht wurde – nach einem Jahrtausend vehe­menter Ablehnung und Entstellung dieser Religion durch die christliche Kirche. Schon als Kind war Goethe erfüllt von tiefer Ehrfurcht für und Hingabe an den Schöpfergott. Dieser religiösen Anlage konnten weder die evangelische Unterweisung Wesentliches vermitteln noch die weiteren Erfahrungen mit dem kirchlich geprägten Christentum, von dem er sich in seiner Leipziger Studentenzeit lossagte. Nach Überwindung einer schweren Krankheit setzte er seine Studien in Straßburg fort. Dort begegnete er Herder, der ihn eindringlich auf den Propheten Mohammed und den Koran hinwies. Diese erste intensive Begegnung mit dem Islam erscheint wie eine Anknüpfung an das religiöse Grundempfinden in Goethes Seele; die Hingabe an den einen Gott. Als dichterisches Zeugnis des 23-Jährigen entsteht das Preislied „Mahomets Gesang“: „Seht den Felsenquell, Freudehell, wie ein Sternenblick.“ Auf seinem weiteren Lauf nimmt er die Bäche von den Bergen, die Flüsse von der Ebene auf und führt sie zum Ozean. Und so trägt er seine Brüder, Seine Schätze, seine Kinder, Dem erwartenden Erzeuger Freudebrausend an das Herz

Goethe studierte alle ihm zugängliche Literatur und erlebte die feindselige, von Vorurteilen bestimmte Haltung der meisten Autoren. Erst im 20. Jahrhundert wurde die Islamforschung in freier offener Haltung vorgenommen. Sie ist im deutschen Sprachraum durch zwei Frauen hauptsächlich repräsentiert, Annemarie Schimmel und Katharina Mommsen. Die Lebensarbeit der letzteren „Goethe und die arabische Welt“, liegt diesem Beitrag zugrunde. Es ist wahrhaft ein Rätsel, wie in

Der West-östliche Divan – Goethe und der Islam

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der umfassenden Literatur zu Goethes Leben und Werk ein bedeutendes lnteressens- und Schaffensgebiet – verdrängt und totgeschwiegen – ein Jahrhundert lang keine Beachtung gefunden hat. Vergleichbares widerfuhr seinen naturwissenschaftlichen Schriften und vor allem ­seinem originären Forschungsansatz darin. Für die Erstausgabe von Goethes Gesamtwerk wurde Rudolf Steiner die Bearbeitung und Einleitung der gesamten naturwissenschaftlicher Arbeiten übertragen. Darüber hinaus hat Steiner den phänomenologischen Ansatz erkenntnismäßig aufgeschlossen, weiterentwickelt und zur methodischen Grundlage seiner eigenen geisteswissenschaftlichen Forschung gemacht. In steigendem Maß beschäftigen sich heute auch Naturwissenschaftler, welche die Reduktion der Forschung auf ihren materiell-stofflichen Anteil in Frage stellen und Wege zu deren Überwindung suchen, mit der goetheanistischen Methode als der adäquaten für die Lebensprozesse, die Formentstehung, für den Zugang zu einer ganzheitlichen Weltbetrachtung und Erforschung. Jedoch für Goethes Beschäftigung mit dem Islam ist diese Erkenntnisaufgabe erst noch zu leisten. Gottes ist der Orient! Gottes ist der Occident! Nord und südliches Gelände Ruht in Frieden seiner Hände

Dieser Vierzeiler, den Goethe in seinem West-östlichen Divan als ersten Talisman dem Buch des Sängers voranstellt, ist in seinen beiden ersten Zeilen dem Koran entnommen (zweite Sure) und wurde mit des Dichters eigenen Worten zu dem Weltenkreuz vereinigt, indem der Norden und der Süden aufgenommen werden in den Frieden Allahs, des einen Gottes. Erfährt darin nicht der Lebensgang Goethes zur Nord-Süd-Achse seiner ersten Lebenshälfte die Ausweitung in den orientalischen Osten in seiner Alterszeit und damit seine Vollendung in das Universale? Die Werke, die der jugendlich-nordische Goethe in seiner Sturm-und-Drang-Zeit schrieb – in diese fällt auch „Mahomets Gesang“ (1772/73) –, erheben ihn bereits zum größten Dichter seiner Zeit. Die Nachwelt, insbesondere die im Bismarck’schen Reich, vereinnahmt den Dichter des „Werther“ und des „Götz von Berlichingen“ zum deutschen Nationaldichter. Die italienische Reise, der Zug nach dem Süden, erweitert Inhalt und Form seines dichterischen Schaffens aus dem griechischen Ursprung der abendländischen Kultur: Der klassische Goethe tritt in Erscheinung. Diese beiden Lebens- und Schaffensperioden prägen das Bild Goethes bis in die Gegenwart. Die dritte Schaffensperiode seines Alters kann als innere Morgenlandfahrt – die Reise vollzieht sich nicht physisch tatsächlich, wie die nach Italien – bezeichnet werden. Sie führt Goethe zum poetischen Werk von Hafis.

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Schemseddin Mohamed Hafis lebte als persischer Dichter im 14. Jahrhundert am Hof in Schiraz. Sein Divan erschien 1812 erstmals in der deutschen Übersetzung des Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall und wurde von Goethe intensiv aufgenommen. Hafis wird als Geistverwandter erlebt, mit dem ihn tiefe Religiosität, geistoffene Beweglichkeit, durchdrungen von weltzugewandter Lebensfreude, elementar verbinden und ihn aufrufen zu schöpferischem Widerhall. Mit neuentzündeter poetischer Ausdruckskraft trat Goethe mit 62 Jahren in die Schaffensperiode seines Alters ein. Im Atemholen sind zweierlei Gnaden; Die Luft einziehen, sich ihrer entladen. Jenes bedrängt, dieses erfrischt; So wunderbar ist das Leben gemischt. Du danke Gott, wenn er dich presst, Und dank ihm, wenn er dich wieder entlässt.

In diesem von Hafis inspirierten Schaffen entwickelt Goethe die schöpferische Polarität zwischen der Aufgabe des Poeten und der Aufgabe des Propheten. Was durch den Religionsstifter zur religiösen Ordnung für die Gläubigen gegeben wird, führt – einseitig aufgefasst und gelebt – in den unfruchtbaren Gegensatz von GlaubenUnglauben, Bekenner-Leugner, Gebot-Verbot und kann im religiösen Fundamentalismus enden. Dieser Systole der Verdichtung, der Konzentration steht die Diastole der Weitung, der Expansion gegenüber. Sie führt den Poeten durch die künstlerische Fantasie in das Reich des vielgestaltigen Schönen. Das weltliche Evangelium setzt andere innere Kräfte in Bewegung als die Lehre des Religionsstifters. Systole und Diastole bedingen einander, sie sind der Herzschlag der natürlichen Existenz des Menschen, wie auch der seiner seelisch-geistigen Existenz. In der Liebe zu Gott als Zentrum und in der Weite seiner Schöpfung, in der Weisheit und Schönheit der Naturerscheinungen und des Menschen ersteht Weltfrommheit, gleichsam als Atembewegung zwischen den Polaritäten. So fügt sich zur Aufgabe, die innere Nähe Goethes zum Islam zu entschlüsseln, eine weitere hinzu, die Schaffenszeit des „West-östlichen Divan“, diesen durch manche Schicksals­ zeichen gekennzeichneten Zug nach Osten, zu erhellen. Bedeutende Zukunftsimpulse bergen diese Aufgaben – am Beginn des dritten Jahrtausends uns gestellt.

D i e e r s t e W i e n e r Ru d o l f - S t e i n e r - S c h u l e 1 9 27

TR: Welche Verbindung hattest du zur ersten Rudolf-Steiner-Schule in Wien? EG: Im Grunde keine. Ich kannte zwar Gritli Eckinger gut, die dort Eurythmie gab, auch Trude Thetter und die Schwester Johanna, die Heileurythmistin war. Auch einige Lehrer der Schule kannte ich. Aber ich glaube, dass ich nur ein einziges Mal in der Schule in der Habsburgergasse war, bei einem Faschingsfest. Ich habe eine dunkle Erinnerung, dass ich in den Räumen war, aber sonst hatte ich keine Verbindung.

P r i vat Vo l k s s c h u l e f ü r K n a b e n u n d M ä d c h e n , Wien 1927 Ruth Stiglechner-Halla

Mitte der 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts zeigte sich in Wien ein reges anthroposophisches Leben. Aus dem Enthusiasmus für Anthroposophie und für die Neugestaltung der Erziehungskunst entstanden ein Kindergarten in der Siebensterngasse und eine erste RudolfSteiner-Schule: Im Jahre 1927 wurden eine erste und zweite Schulstufe mit gemeinsamem Unterricht in der Buchfeldgasse im 8. Wiener Gemeindebezirk begonnen. Nach einem Jahr übersiedelte die Schule in die Innenstadt. Die älteste Klasse bestand nur bis zur vierten Schulstufe und wurde dann aufgelöst. Die nachfolgende Klasse dagegen konnte durchgehend von der ersten bis zur zehnten Klasse geführt werden. Es folgten weitere Jahrgänge mit durchschnittlich 15 Schülern und Schülerinnen. Mit Schulschluss 1938 wurde die Schule geschlossen (siehe Die Besetzung Österreichs – Überlebenskampf der Rudolf-Steiner-Schule). Die Schule war in der Habsburgergasse an der Ecke zum Graben untergebracht. Im obersten Stock waren zwei geräumige Wohnungen zusammengelegt worden. Man konnte die Räume durch zwei breite Stiegenhäuser erreichen. Das Pausenzeichen wurde mit der Türklingel gegeben. Es gab eine Küche für den Kochunterricht, die Küche der zweiten Wohnung diente als Werkstatt zum Modellieren, für Metallarbeit (so wurde beispielsweise ­Kupfer am Gasherd geglüht) und als Holzwerkstatt; weitere Räume standen für Eurythmie und Musik zur Verfügung.

D i e e r s t e W i e n e r Ru d o l f - S t e i n e r - S c h u l e 1 9 27

TR: Welche Verbindung hattest du zur ersten Rudolf-Steiner-Schule in Wien? EG: Im Grunde keine. Ich kannte zwar Gritli Eckinger gut, die dort Eurythmie gab, auch Trude Thetter und die Schwester Johanna, die Heileurythmistin war. Auch einige Lehrer der Schule kannte ich. Aber ich glaube, dass ich nur ein einziges Mal in der Schule in der Habsburgergasse war, bei einem Faschingsfest. Ich habe eine dunkle Erinnerung, dass ich in den Räumen war, aber sonst hatte ich keine Verbindung.

P r i vat Vo l k s s c h u l e f ü r K n a b e n u n d M ä d c h e n , Wien 1927 Ruth Stiglechner-Halla

Mitte der 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts zeigte sich in Wien ein reges anthroposophisches Leben. Aus dem Enthusiasmus für Anthroposophie und für die Neugestaltung der Erziehungskunst entstanden ein Kindergarten in der Siebensterngasse und eine erste RudolfSteiner-Schule: Im Jahre 1927 wurden eine erste und zweite Schulstufe mit gemeinsamem Unterricht in der Buchfeldgasse im 8. Wiener Gemeindebezirk begonnen. Nach einem Jahr übersiedelte die Schule in die Innenstadt. Die älteste Klasse bestand nur bis zur vierten Schulstufe und wurde dann aufgelöst. Die nachfolgende Klasse dagegen konnte durchgehend von der ersten bis zur zehnten Klasse geführt werden. Es folgten weitere Jahrgänge mit durchschnittlich 15 Schülern und Schülerinnen. Mit Schulschluss 1938 wurde die Schule geschlossen (siehe Die Besetzung Österreichs – Überlebenskampf der Rudolf-Steiner-Schule). Die Schule war in der Habsburgergasse an der Ecke zum Graben untergebracht. Im obersten Stock waren zwei geräumige Wohnungen zusammengelegt worden. Man konnte die Räume durch zwei breite Stiegenhäuser erreichen. Das Pausenzeichen wurde mit der Türklingel gegeben. Es gab eine Küche für den Kochunterricht, die Küche der zweiten Wohnung diente als Werkstatt zum Modellieren, für Metallarbeit (so wurde beispielsweise ­Kupfer am Gasherd geglüht) und als Holzwerkstatt; weitere Räume standen für Eurythmie und Musik zur Verfügung.

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Präludium mit langer Fermate

3. und 4. Klasse, Mai 1931, Lehrer: Helmut Alscher, Hermine Schmidt

Es gab Elternabende, Feste (Faschingsfest, Rudolf Steiners Geburts- und Todestag) und einen Basar zu Weihnachten. Abends wurde die Schule für die Eurythmieausbildung genutzt. Größere Aufführungen, Lesungen, Monatsfeiern und Konzerte fanden nicht in der Schule statt, sondern im so genannten „Blauen Saal“ in der Mariahilferstraße 22, dem Raum der Anthroposophischen Gesellschaft. Der Schulverein litt unter Geldnöten. Es gab Kinder, deren Eltern kein Schulgeld zahlen konnten. Einige wenige Familien trugen das Budget großzügig und übernahmen Patenschaften für andere Kinder. Bedingt durch die schwierige politische Situation nach der deutschen Besetzung Österreichs erforderte es großen Einsatz durch die Lehrerinnen und Lehrer, im Jahre 1938 noch einen geordneten Schuljahresabschluss für 150 Schülerinnen und Schüler zu ermöglichen. Die meisten Dokumente über die Aktivitäten der Schule wurden im Vorfeld beseitigt, um den Behörden des Hitler-Regimes kein belastendes Material zu liefern – deshalb hatte der Umstand, an der Schule gearbeitet zu haben, für niemanden direkte nachteilige Folgen. Aber aus demselben Grund sind auch kaum Dokumente mehr vorhanden, die Zeugnis für die Nachwelt ablegen könnten. Bildnachweis: Archiv Ruth Stiglechner-Halla

D i e V e r b i n d u n g W i e n – Bu da p e s t TR: Beinahe zeitgleich mit Wien wurde auch in Budapest eine Waldorfschule gegründet; sie wurde von der Wienerin Hannah Krämer-Steiner unterstützt. Warum hat sie sich in Budapest und nicht in Wien engagiert? EG: Ich kannte Hannah Krämer-Steiner sehr gut, es verband sie ein besonderes Schicksal mit den Schulen in Budapest und Wien. Sie war ja dann auch in Pressburg und hat dort eine Schule gegründet … Vieles erscheint mir heute, was ihre Biografie und die Verbindung mit der Waldorf­pädagogik betrifft, ganz rätselhaft.

Wa l d o r fpä da g o g i k i m D o n a u r a um – D i e S c h u l g r ü n d e r i n H a n n a h K r äm e r - S t e i n e r Tobias Richter Österreich, Ungarn und die Slowakei sind Länder des Donauraumes und erzählen, so unterschiedlich sie sind, doch eine gemeinsame Waldorfgeschichte: Die Gründungen der Waldorfschulen Budapest (1926), ein Jahr später Wien und schließlich Pressburg (1930) sind eng mit der Persönlichkeit Hannah Krämer-Steiner verbunden. Sie stammte aus Wien, war dort 1917 Volksschullehrerin geworden und hatte in der ­Anthroposophie ihre Lebensorientierung gefunden. Zum Österreich ihrer Kindheit und Jugend gehörten ­Ungarn, Böhmen und Mähren. In diesen östlichen Ländern den Impuls der Waldorfpädagogik zu realisieren, hatte sich Hannah Krämer-Steiner vorgenommen. Im Rückblick erscheint ihr ­Wirken für den West-Ost-Dialog, der in diesem Buch eine bedeutende Rolle spielt, ein wichtiges Bindeglied zwischen dem traditionellen, historisch gewachsenen Verständnis des Donauraumes und einer zukünftigen Bestimmung desselben für neue, sozial bedeutsame Impulse zu sein. Dafür gewährte ihr das Schicksal allerdings nur die kurze Zeitspanne von den Schulgründungen bis zum Verbot anthroposophisch-pädagogischer Betätigung nach dem Anschluss Österreichs an das Dritte Reich 1938 und der Abspaltung der Slowakei 1939. Hannah Steiner wurde 1895 als Tochter einer gut situierten jüdischen Bürgerfamilie in Wien geboren. Mit Rudolf Steiner ist sie nicht verwandt. Bereits während der Schulzeit entschloss sie sich zum Lehrerberuf. Noch in der Schulzeit lernte sie die Anthroposophie kennen. Erste Begegnungen mit Rudolf Steiner vermochten ihre Skepsis angesichts der ihn umschwärmenden Verehrer nicht

D i e V e r b i n d u n g W i e n – Bu da p e s t TR: Beinahe zeitgleich mit Wien wurde auch in Budapest eine Waldorfschule gegründet; sie wurde von der Wienerin Hannah Krämer-Steiner unterstützt. Warum hat sie sich in Budapest und nicht in Wien engagiert? EG: Ich kannte Hannah Krämer-Steiner sehr gut, es verband sie ein besonderes Schicksal mit den Schulen in Budapest und Wien. Sie war ja dann auch in Pressburg und hat dort eine Schule gegründet … Vieles erscheint mir heute, was ihre Biografie und die Verbindung mit der Waldorf­pädagogik betrifft, ganz rätselhaft.

Wa l d o r fpä da g o g i k i m D o n a u r a um – D i e S c h u l g r ü n d e r i n H a n n a h K r äm e r - S t e i n e r Tobias Richter Österreich, Ungarn und die Slowakei sind Länder des Donauraumes und erzählen, so unterschiedlich sie sind, doch eine gemeinsame Waldorfgeschichte: Die Gründungen der Waldorfschulen Budapest (1926), ein Jahr später Wien und schließlich Pressburg (1930) sind eng mit der Persönlichkeit Hannah Krämer-Steiner verbunden. Sie stammte aus Wien, war dort 1917 Volksschullehrerin geworden und hatte in der ­Anthroposophie ihre Lebensorientierung gefunden. Zum Österreich ihrer Kindheit und Jugend gehörten ­Ungarn, Böhmen und Mähren. In diesen östlichen Ländern den Impuls der Waldorfpädagogik zu realisieren, hatte sich Hannah Krämer-Steiner vorgenommen. Im Rückblick erscheint ihr ­Wirken für den West-Ost-Dialog, der in diesem Buch eine bedeutende Rolle spielt, ein wichtiges Bindeglied zwischen dem traditionellen, historisch gewachsenen Verständnis des Donauraumes und einer zukünftigen Bestimmung desselben für neue, sozial bedeutsame Impulse zu sein. Dafür gewährte ihr das Schicksal allerdings nur die kurze Zeitspanne von den Schulgründungen bis zum Verbot anthroposophisch-pädagogischer Betätigung nach dem Anschluss Österreichs an das Dritte Reich 1938 und der Abspaltung der Slowakei 1939. Hannah Steiner wurde 1895 als Tochter einer gut situierten jüdischen Bürgerfamilie in Wien geboren. Mit Rudolf Steiner ist sie nicht verwandt. Bereits während der Schulzeit entschloss sie sich zum Lehrerberuf. Noch in der Schulzeit lernte sie die Anthroposophie kennen. Erste Begegnungen mit Rudolf Steiner vermochten ihre Skepsis angesichts der ihn umschwärmenden Verehrer nicht

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Präludium mit langer Fermate

zu verdrängen. Erst nach dem Studium der „Philosophie der Freiheit“ und von „Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten?“ fasste sie Ende des Jahres 1917 den Entschluss, Mitglied in der Anthroposophischen Gesellschaft – und bald auch Schülerin Rudolf Steiners – zu werden. Neben einer „provisorischen“ Lehrtätigkeit an einer Wiener Volksschule studierte Hannah Steiner an der Wiener Universität Waldorfschule Budapest Philosophie, hörte aber auch Naturgeschichte, Anatomie und Botanik. Nach dem Abschluss des Studiums wurde sie Lehrerin an einer mosaischen Schule in Wien. 1922 nahm Hannah Steiner am so genannten „Pädagogischen Jugendkurs“ in Stuttgart teil, der vor allem auf Initiative einer großen Gruppe von Studenten zustande kam. In 13 Vorträgen über „Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation“ – so der Buchtitel der Vortragsnachschriften – sprach Rudolf Steiner zu den jungen, mit der Anthroposophie großteils kaum vertrauten Menschen. Ausgehend von der Kluft zwischen der alten und jungen Generation beschrieb er die seelischen und geistigen Herausforderungen, welche das 20. Jahrhundert an den Menschen – besonders den jungen Menschen – stellt. Indem er die verschiedenen Strömungen der Jugendbewegung, der philosophischen und pädagogischen Systeme charakterisierte, umriss er eine Pädagogik als Grundlage einer sozialen Zukunft, die auf der Würde und der Freiheit in jedem Menschen beruht. Für Hannah Steiner war dieser Kurs in doppelter Hinsicht richtungsweisend: Sie begegnete dem Kreis ihrer Schicksalsgefährten, die nach der Verwirklichung ihrer Jugendimpulse durch Anthroposophie strebten, und sie entschloss sich, für die Entfaltung der Waldorfpäda­ gogik in Österreich zu arbeiten. Rudolf Steiner gab ihr die Erlaubnis, Nachschriften seiner pädagogischen Vorträge zu studieren, die damals lediglich den Stuttgarter Waldorflehrern zugänglich waren, und an den Lehrerkursen teilzunehmen. Hannah Steiner war von Geburt an gehbehindert. So erlebte sie die Weihnachtstagung 1923/24 zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft in Dornach im Liegestuhl, wegen ihres Beinleidens ganz vorne beim Rednerpult. Diese räumliche Nähe zu Steiner erscheint im Rückblick wie ein Sinnbild für die unbeirrbare Treue und Sicherheit, aus der sie sich ganz mit der Neuordnung der anthroposophischen Bewegung verband. Aufgrund einer Empfehlung Rudolf Steiners berief die Frau des ungarischen Innenministers, Maria von Nagy, Hannah Steiner im Jahre 1926 als Gründungslehrerin an die Kissvábhegyi Waldorf Iskola (Waldorfschule am Kleinen Schwabenberg) in Budapest.

Waldorfpädagogik im Donauraum – die Schulgründerin Hannah Krämer-Steiner

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Ein Jahr später begann auch in Wien die Rudolf-Steiner-Schule, der jedoch bald mangels öffentlicher Lehrbefugnis ihrer Leiterin die Schließung drohte. In dieser Situation wandte man sich an Hannah Steiner: Sie möge nach Wien kommen und die Leitung der Schule übernehmen. Nach einem Jahr inständigen Drängens folgte Hannah Steiner dem Ruf, die Schule in Budapest unter der Obhut Maria von Nagys zurücklassend, wohl wissend, dass sie dadurch die Freundschaft mit jener zerstörte. Am Tag vor Schulbeginn wurde ihr jedoch völlig unerwartet mitgeteilt, der Vorstand des Schulvereins habe ihre Einstellung abgelehnt. – Diese tiefe Erschütterung betrachtete sie rückblickend als Wendepunkt in ihrem Leben. Nach diesem doppelten Verlust – Verlust der Freundschaft zu Maria von Nagy und des Lebenszieles, Kinder in ihrer Heimatstadt nach der Pädagogik Rudolf Steiners zu unterrichten (wie jener es ihr angeraten hatte) –, nahmen sie Freunde in Pressburg bei sich auf. Indem sie dort eine rege Vortragstätigkeit entfaltete, konnte sie sich von diesem Schicksalsschlag erholen. Im Herbst 1930 eröffnete sie in Pressburg eine kleine Waldorfschule, die von dem dort entstandenen Rudolf-Steiner-Schulverein getragen wurde. Dank der wohlwollenden Unterstützung des tschechischen Unterrichtsministers, der sogar die Lehrer anderer Pressburger Schulen zu den pädagogischen Einführungsvorträgen von Frau Steiner schickte, konnte die Schule einige Jahre ungestört arbeiten – trotz der damals zunehmenden Deutschenfeindlichkeit in der Slowakei. Als später der Minister abgelöst wurde, verfügte jedoch sein Nachfolger die Schließung dieser letzten deutschsprachigen Schule in der Slowakei … Der Nationalismus, das schwere Erbe des Ersten Weltkrieges, vergiftete zunehmend das Kulturleben der Völker Mitteleuropas und bereitete den Boden für die Ausbreitung der „Hitlerei“, wie Hannah Krämer-Steiner die sich über Mitteleuropa ausbreitende Finsternis nannte. Im April 1939 heiratete sie den ehemaligen k. u. k. Offizier Paul Krämer und konnte dadurch ihre drohende Verschleppung noch eine Zeitlang hinausschieben. Dennoch bewahrte diese Ehe Hannah Krämer-Steiner im Herbst 1944 nicht vor der Deportation in das KZ Theresienstadt. Vielen dort Inhaftierten wurden die Gespräche mit ihr und auch ihre in aller Heimlichkeit gehaltenen Vorträge zu einem inneren Kraftquell. Wie durch ein Wunder blieb sie immer wieder vor der drohenden Abschiebung nach Auschwitz verschont, und ihre aufrechte innere Haltung erweckte selbst bei den SS-Aufsehern Achtung. Nach der Befreiung durch die Rote Armee am 8. Mai 1945 zog sie mit ihrem Mann nach Brünn, wo sie gemeinsam die anthroposophische Arbeit halb im Verborgenen mit Studienkreisen, Kursen und Vorträgen fortsetzten. Unter der kommunistischen Herrschaft war an öffentliche Aktivitäten oder gar eine Waldorfschulgründung nicht zu denken. Nach dem Tode ihres Mannes konnte sie 1959 als geborene Österreicherin und Verfolgte des NaziRegimes die Ausreise nach Wien erreichen, was einen völligen Neuanfang bedeutete, da

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Präludium mit langer Fermate

Hannah Krämer-Steiner und ihr Ehemann Paul, Pressburg 1941

ihre gesamte Familie umgekommen war und viele ihrer Freunde inzwischen emigriert oder verstorben waren. Sehr bald begann sie, in Wien wiederum Einführungskurse in die Anthroposophie zu halten. Unzählige junge Menschen lernten durch sie die Anthroposophie kennen, angezogen von Hannah Krämer-Steiners liebevoller Nüchternheit und ihrer pädagogischen Fähigkeit, in eigenständiger Form und zugleich freilassender Weise philosophische, anthroposophische und andere wissenschaftliche Inhalte darzustellen. Konsequent war sie bemüht, die Urteilsfähigkeit der Kursteilnehmer zu schärfen. Dieser Wesenszug war bedeutsam, lehnte sie doch jede subjektive Parteilichkeit entschieden ab. Immer wurde sie selbst wieder zur Fragenden, die durch die Teilnehmer ihrer Kurse die Anthroposophie neu entdeckte. Sie blieb also ihrem Lehrerberuf treu, obgleich die Inhalte andere geworden und ihre Schüler keine Kinder mehr waren. Fast zwanzig Jahre lang reiste sie – trotz ihrer Gebrechlichkeit – als Vortragsrednerin durch halb Europa. Daneben veröffentlichte sie ein Buch über Karl IV. und das tschechische Volk („Geistimpuls in der Geschichte des tschechischen Volkes“, Stuttgart 1971), arbeitete über „Das Wort bei Aristoteles, Thomas von Aquin und Rudolf Steiner“, beschäftigte sich später intensiv mit dem griechischen Philosophen Empedokles und bereitete in langjährigem Quellen-

Waldorfpädagogik im Donauraum – die Schulgründerin Hannah Krämer-Steiner

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studium eine fundierte Würdigung Johann Amos Comenius vor. Erst im Jahr 1971 erinnerte man sich an der Rudolf-Steiner-Schule Wien-Mauer, als eine Klasse verwaist war, dass Hannah Krämer-Steiner Waldorflehrerin war und bat sie, die Klasse so lange zu führen, bis ein neuer Klassenlehrer gefunden sei.1 Aus Liebe zu den Kindern und zur Pädagogik Rudolf Steiners willigte sie ein. Hannah Krämer Steiner Ende 1979 erkrankte sie schwer und rang wochenlang mit dem Tod. Wieder genesen, musste sie allerdings in ein Pflegeheim übersiedeln. Dies hielt sie nicht ab, noch im 87. Lebensjahr ihre Erfahrungen und Anregungen zu einem lebendigen und zugleich systematischen Aufbau des deutschen Sprachlehre-Unterrichts, der ihr besonders am Herzen lag, in einer Ausarbeitung zusammenzufassen. Über der Fertigstellung des Manuskriptes ließen jedoch ihre Kräfte nach, und sie verstarb am 20. März 1984. Das Schicksal des jüdischen Volkes und seine innige Verknüpfung mit dem deutschen Kulturraum bildeten den Boden ihrer Biografie, dem sie sich Zeit ihres Lebens verbunden wusste und den sie in unermüdlichem Ringen durch Anthroposophie zu verstehen und in fruchtbare Wirksamkeit zugunsten einer Kultur der Menschlichkeit umzuwandeln strebte. „Erziehung zur Freiheit“ war ihr Lebensziel.2

Anmerkungen 1 So lernte ich sie 1972 kennen, als ich nach Wien an die Rudolf-Steiner-Schule kam, um als junger Lehrer diese von ihr interimistisch geführte Klasse zu übernehmen. Ihr verdanke ich wertvolle pädagogische Hilfen und entscheidende methodisch-didaktische Anregungen. Die Begegnung mit Hannah Krämer-Steiner war für mich eine Begegnung mit dem Ursprungsimpuls der Waldorfpädagogik in diesem ost-mitteleuropäischen Raum, der ihr ­Lebensblut war. 2 Wertvolle Hilfen bei der Zusammenfassung dieser Biografie erhielt ich von Ruth Stiglechner-Halla und Andreas Worel, der den schriftlichen Nachlass Hannah Krämer-Steiners verwaltet. Bildnachweis: Waldorfschule Budapest, Archiv Kulcsar Gabor Fotos Hannah Krämer-Steiner, Archiv Ruth Stiglechner-Halla

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Präludium mit langer Fermate

Erinnerungsbilder an die erste Ru d o l f - S t e i n e r - S c h u l e i n W i e n Friedrich Hiebel

Im Jahr 1934 bin ich von der Stuttgarter Waldorfschule gekommen und habe mich dem Aufbau der ersten Wiener Rudolf-Steiner-Schule zur Verfügung gestellt. Die politischen Verhältnisse, die seit 1933 wie bedrohliche Wolken über der Stuttgarter Waldorfschule aufzogen, hatten auch in Österreich stürmische Entwicklungen bewirkt, die im Juli 1934 mit der Ermordung des Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß einen Höhepunkt erreichten. Die folgenden Jahre bis zur Besetzung Österreichs 1938 durch Adolf Hitler forderten für uns Lehrer eine dauernde Probe des Mutes und der Durchhaltekraft. Dennoch mussten die Freie Waldorfschule in Stuttgart und die Wiener Rudolf-Steiner-Schule fast gleichzeitig ihre Unterrichtstätigkeit beenden. Dies geschah weder hier noch dort aus pädagogischem Versagen oder aus Nachlassen der Opferkräfte, die von Seiten der Elternschaft und des Schulvereins bis zuletzt aufgebracht worden waren. Friedrich Wickenhauser und ich zählten zu den letzten von zahlreichen Österreichern, die an der Stuttgarter Waldorfschule tätig waren. So erscheint es begreiflich, dass auch die Wiener das Bestreben hatten, im Heimatland Rudolf Steiners eine Erziehungsstätte zu begründen. Die Bedingungen, unter denen damals eine freie Schule ins Leben gerufen werden konnte, waren aufgrund der behördlichen Vorschriften in Österreich äußerst einengend. Der Rudolf-Steiner-Schulverein wurde unter der Führung des Arztes Ferdinand Wantschura und seiner Mitarbeiter zu einem opferwilligen und tragfähigen Instrument entwickelt. Dabei sind die allgemeine Wirtschaftslage im damaligen Österreich zu bedenken, die Geldentwertung und die daraus entspringende Verarmung der Bevölkerung. Die Schule hatte keinen Pausenhof, keinen Turnsaal, keine Festhalle zur Abhaltung von Monatsfeiern und Schulversammlungen. Und doch hatte sie etwas, das sie zu einer Schule im Sinne der Pädagogik Rudolf Steiners machen durfte: Sie besaß durch ihre Lehrer Hingabekraft und Enthusiasmus, durch ihre Elternschaft Vertrauen und Dankbarkeit und durch ihren Schulverein Opfermut und Selbstlosigkeit. Die Schüler liebten ihre Lehrer. Gerade, als wir mitten in den Plänen für den weiteren Ausbau der Schule und auf der Suche nach einem geeigneteren Schulhaus waren, kurz vor dem vollen Aufbau einer zwölfklassigen Schule, wurde die Wiener Schule, fast gleichzeitig mit der Stuttgarter Mutterschule, durch äußere Ereignisse zur Schließung gezwungen (siehe dazu den nachfolgenden Beitrag von G. Volz). Was die einzelnen Lehrer dabei innerlich erlebten und äußerlich erfuhren, gehörte zu den Proben und Prüfungen des Geistesweges. Im Rückblick erlebten wir umso

„Der gute Doktor Wantschura“

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Friedrich Hiebel im Kollegium, 3. Reihe Mitte, 1938

stärker Schicksalsgewissheit und Werktreue. Äußerlich wurden wir zerstreut, innerlich blieben wir zusammen im Geiste der neuen Menschenkunde und Erziehungskunst. Es erscheint uns wie ein schönes Sinnbild des Schicksals, dass Bronja Hüttner-Zahlingen, die bereits im Keime der ersten Wiener Schule mitgewirkt hatte, nach Jahren, die sie nach England geführt hatten, sich nach dem Zweiten Weltkrieg wiederum mit der zweiten Schule in ihrer Kindergartentätigkeit verbunden hat (siehe Bronja Zahlingen – Leben und Wirken.) Bildnachweis: Archiv Ruth Stiglechner-Halla

„ D e r g u t e D o k to r Wa n t s c h u r a“ Tobias Richter Ferdinand Wantschura, 1887 in Bruck an der Leitha geboren, 1966 in Wien gestorben, war praktischer Arzt in Wien. Der Aufbau der Rudolf-Steiner-Schule vor dem Zweiten Weltkrieg ist eng mit seinem Namen verbunden: Er war Vorsitzender des Schulvereins, setzte sich unermüdlich für die Entwicklung der Schule ein und kämpfte für deren Überleben bis 1938.

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Friedrich Hiebel im Kollegium, 3. Reihe Mitte, 1938

stärker Schicksalsgewissheit und Werktreue. Äußerlich wurden wir zerstreut, innerlich blieben wir zusammen im Geiste der neuen Menschenkunde und Erziehungskunst. Es erscheint uns wie ein schönes Sinnbild des Schicksals, dass Bronja Hüttner-Zahlingen, die bereits im Keime der ersten Wiener Schule mitgewirkt hatte, nach Jahren, die sie nach England geführt hatten, sich nach dem Zweiten Weltkrieg wiederum mit der zweiten Schule in ihrer Kindergartentätigkeit verbunden hat (siehe Bronja Zahlingen – Leben und Wirken.) Bildnachweis: Archiv Ruth Stiglechner-Halla

„ D e r g u t e D o k to r Wa n t s c h u r a“ Tobias Richter Ferdinand Wantschura, 1887 in Bruck an der Leitha geboren, 1966 in Wien gestorben, war praktischer Arzt in Wien. Der Aufbau der Rudolf-Steiner-Schule vor dem Zweiten Weltkrieg ist eng mit seinem Namen verbunden: Er war Vorsitzender des Schulvereins, setzte sich unermüdlich für die Entwicklung der Schule ein und kämpfte für deren Überleben bis 1938.

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Sein Vater war Postmeister und wollte, dass sein Sohn studiert. Ferdinands Schulzeit verlief in mehreren Etappen: mit zehn Jahren nach Linz in ein katholisches Internat, dann vier Jahre an mehreren Gymnasien in Wien und schließlich Matura – mit Auszeichnung – in Prachatitz/Südböhmen. Ein Militärstipendium ermöglichte ihm das Medizinstudium in Wien. Dort kam er in Kontakt mit dem um 31 Jahre älteren Sigmund Freud und gehörte einige Zeit dessen engstem Schülerkreis an. Aufgrund seiner psychiatrischen Kenntnisse erhielt er nach Abschluss seines Studiums eine Stelle an einem Sanatorium für Nerven- und Geisteskranke in Wien unter der Leitung von Julius Wagner-Jauregg. 1914, im Jahr des Kriegsausbruches, heiratete Ferdinand Wantschura und war während des Krieges Kommandant eines Spitalszuges, der die Verwundeten von den Fronten in Heimlazarette brachte. Hierbei begleitete ihn oft seine Frau als freiwillige Rot-KreuzSchwester. 1917 kam er zu einer mobilen Chirurgengruppe, die an allen Kriegsschauplätzen der Mittelmächte eingesetzt wurde. Nach dem Kriegsende eröffnete Ferdinand Wantschura in Wien eine Allgemeinpraxis und wurde zudem städtischer Armenarzt. Seine Menschlichkeit und sein medizinisches Können bewirkten, dass er sich bald der Patientenflut kaum erwehren konnte. Doch nicht nur die Praxis, auch seine Familie wuchs: Eine Tochter (1921) und zwei Söhne (1923 und 1928) wurden geboren. (Elisabeth und Michael ergriffen später den Beruf des Vaters, Peter starb 19-jährig beim Russlandfeldzug.) 1919 kam Ferdinand Wantschura durch eine Jugendfreundin in Kontakt mit der Anthroposophie. 1922 erlebte er Rudolf Steiner beim West-Ost-Kongress in Wien, und es wurde ihm zur Lebensaufgabe, die Angaben Rudolf Steiners zu einer Erweiterung der Heilkunst praktisch umzusetzen. So half er tatkräftig mit beim Aufbau des anthroposophischen pharmazeutischen Betriebes Weleda in Wien, zunächst als österreichische Vertretung der Weleda-Arlesheim und -Schwäbisch Gmünd. (Heute ist Weleda-Österreich ein eigenständiges Unternehmen für Naturkosmetik und Arzneimittel der Komplementärmedizin.) Für gleichgesinnte Ärzte und Medizinstudenten richtete er Ärztekurse ein, um die Heilkunst durch anthroposophische Impulse zu erweitern. So wurde Ferdinand Wantschura zum wichtigsten Wegbereiter der anthroposophischen Medizin in Österreich. Auf Drängen von Freunden schrieb er ein Vademekum für Ärzte („Therapeutische Erfahrungen“). Als die Rudolf-Steiner-Schule 1927 begründet wurde, übernahm er den Vorsitz im RudolfSteiner-Schulverein. Dieses Amt, das eine Fülle zusätzlicher Verpflichtungen und Aufgaben bedeutete – auch im Beschaffen von finanziellen Mitteln für die unter arger Geldnot leidende Schule – führte er mit der ihm eigenen Verantwortung und Tatkraft aus. Es wird die Anekdote erzählt, dass, wenn ihn ein Bekannter von Weitem auf der Straße erblickte, dieser auf die andere Straßenseite wechselte, damit ihn Ferdinand Wantschura nicht um eine

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Spende für die Schule bitten konnte … Er selbst hatte immer für alle ein offenes Herz und eine offene Hand, wie Elisabeth und Michael Wantschura in Erinnerungen an ihren Vater berichteten. Es war ein schwerer Schicksalsschlag für Ferdinand Wantschura, als die Schule, für deren Existenz und Wohlergehen er sich unermüdlich eingesetzt hatte, 1938 von den Nationalsozialisten geschlossen und der Schulverein aufgelöst wurde (siehe Besetzung Österreichs und Überlebenskampf der Rudolf-Steiner-Schule). Während des Zweiten Weltkrieges – Wantschura war damals Chef einer Heeres­ entlassungsstelle – ließ er vielen Invaliden seine ärztliche und menschliche Hilfe angedeihen, betreute abends seine Patienten und führte im Verborgenen die anthropoFerdinand Wantschura sophischen Ärztekurse weiter. Dass viele seiner jüdischen Freunde und Patienten oft im letzten Moment Österreich verlassen konnten, verdankten sie der entschlossenen Hilfe Ferdinand Wantschuras. Sofort nach Kriegsende nahm er seine Praxisarbeit wieder auf und organisierte überdies die Lebensmittelbeschaffung für die Wiener Krankenhäuser. Die Jahre bis zu seinem Lebensende waren erfüllt von intensiver ärztlicher Arbeit. Ein Schlaganfall im Jahre 1964 beendete sein Wirken. Ferdinand Wantschura starb im Jahre 1966; als „der gute Doktor Wantschura“, den man konsultierte, wenn anderswo kein Rat mehr zu bekommen war, lebt er noch heute in der Erinnerung vieler Menschen fort. Und diese liebevolle und bedingungslos-selbstverständliche Hilfswilligkeit hat auch die erste Rudolf-Steiner-Schule in Wien durch ihn erfahren.   Bildnachweis: Archiv Verlag am Goetheanum

P r ü fu n g e n u n d S c h l i e SSu n g

TR: Wie hattet ihr den Anschluss Österreichs 1938 erlebt? EG: Dazu will ich von meiner Großmutter und ihrer Gesinnung erzählen: Als sie von der Ermordung Dollfuß’ hörte, ging sie in den Hungerstreik und sagte, mit dieser Welt wolle sie nichts zu tun haben. Das wiederholte sie im März 1938. Wir wohnten damals am Opernring 6 und hatten das ganze Panorama des Einmarsches der Nationalsozialisten vor uns. Hitler und Goebbels und alle, die da kamen, zogen an unseren Fenstern vorbei. Die Großmutter – sie hatte ihr Zimmer auch auf die Ringstraße – hatte die Läden zugezogen. Sie kam nicht zum Frühstück am 13. März – nach dieser wüsten Nacht – und sagte neuerlich, sie bleibe im Hungerstreik, weil sie sich von allem entschieden abwenden wolle. Diese klare Haltung war für mich sehr wichtig, denn viele junge Menschen wie ich liefen damals Gefahr, sich von dem bombastisch inszenierten Schauspiel mit Fahnen und Aufmärschen fesseln zu lassen. Ich wurde von ihr immer wieder „zurückgeholt“. So war sie für mich ein orientierendes moralisches Vorbild.

Besetzung Österreichs und der ­Ü b e r l e b e n s k a mpf d e r Ru d o l f - S t e i n e r - S c h u l e Gerhard Volz

Der folgende Beitrag geht näher auf das Schicksal der jungen Rudolf-Steiner-Schule nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im März 1938 ein. Auf das stete Wachsen der Schule in der Wiener Habsburggasse folgte innerhalb weniger Wochen die vollständige Zerstörung dessen, was in mehr als zehn Jahren mühsamer Arbeit aufgebaut worden war. Dabei scheinen zwei Dinge für die Entwicklungen in Österreich bedeutsam gewesen zu sein: zum einen der sich beständig verstärkende Zugriff der Nationalsozialisten auf die Waldorfschulen einerseits in Deutschland und andererseits die Zerstörung des bis dahin sehr liberal gestalteten österreichischen Vereinswesens durch die neuen Machthaber.

P r ü fu n g e n u n d S c h l i e SSu n g

TR: Wie hattet ihr den Anschluss Österreichs 1938 erlebt? EG: Dazu will ich von meiner Großmutter und ihrer Gesinnung erzählen: Als sie von der Ermordung Dollfuß’ hörte, ging sie in den Hungerstreik und sagte, mit dieser Welt wolle sie nichts zu tun haben. Das wiederholte sie im März 1938. Wir wohnten damals am Opernring 6 und hatten das ganze Panorama des Einmarsches der Nationalsozialisten vor uns. Hitler und Goebbels und alle, die da kamen, zogen an unseren Fenstern vorbei. Die Großmutter – sie hatte ihr Zimmer auch auf die Ringstraße – hatte die Läden zugezogen. Sie kam nicht zum Frühstück am 13. März – nach dieser wüsten Nacht – und sagte neuerlich, sie bleibe im Hungerstreik, weil sie sich von allem entschieden abwenden wolle. Diese klare Haltung war für mich sehr wichtig, denn viele junge Menschen wie ich liefen damals Gefahr, sich von dem bombastisch inszenierten Schauspiel mit Fahnen und Aufmärschen fesseln zu lassen. Ich wurde von ihr immer wieder „zurückgeholt“. So war sie für mich ein orientierendes moralisches Vorbild.

Besetzung Österreichs und der ­Ü b e r l e b e n s k a mpf d e r Ru d o l f - S t e i n e r - S c h u l e Gerhard Volz

Der folgende Beitrag geht näher auf das Schicksal der jungen Rudolf-Steiner-Schule nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im März 1938 ein. Auf das stete Wachsen der Schule in der Wiener Habsburggasse folgte innerhalb weniger Wochen die vollständige Zerstörung dessen, was in mehr als zehn Jahren mühsamer Arbeit aufgebaut worden war. Dabei scheinen zwei Dinge für die Entwicklungen in Österreich bedeutsam gewesen zu sein: zum einen der sich beständig verstärkende Zugriff der Nationalsozialisten auf die Waldorfschulen einerseits in Deutschland und andererseits die Zerstörung des bis dahin sehr liberal gestalteten österreichischen Vereinswesens durch die neuen Machthaber.

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Der Schulverein als Träger der Rudolf-Steiner-Schule Der Rudolf-Steiner-Schulverein wurde 1927 gegründet und hatte seinen Sitz in der Habsburgergasse 1 im 1. Bezirk, wo auch die Schule untergebracht war. Die Grundlage zum Bestand des Vereins bildete das österreichische Vereinsgesetz, das seit dem Jahr 1867 die Schaffung und Existenz von Vereinen regelte und bis 2002 fast unverändert gültig blieb. Das Gesetz bildete ein Grundrecht auf Vereinsgründung und ermöglichte so den freiwilligen Zusammenschluss von Interessensgruppen; es ermöglichte ferner den Mitgliedern dieser Gruppen, Statuten und Satzungen selbst zu formulieren. Unter Beachtung gewisser Regeln konnten Ziele und Zweck eines Vereins sowie Rechte und Pflichten seiner Mitglieder eigenständig definiert und ausgestaltet werden. Mit der Genehmigung der Statuten des Rudolf-Steiner-Schulvereins am 17. April 1927 konnte die Arbeit an der Schule aufgenommen werden. Als Zweck des Schulvereins wurde „die Begründung, Erhaltung und spezielle Förderung von Schulen und Kindergärten“ festgelegt, „die im Sinne der von Rudolf Steiner begründeten und in der ‚Freien Waldorfschule’ in Stuttgart gepflegten Pädagogik geführt werden sollen“.1 Der Vereinsvorstand musste als Erhalter der privaten Volksschule jegliche Kommunikation mit den österreichischen Behörden wahrnehmen. Die Tätigkeit von Privatschulen war seit dem (für damalige Verhältnisse sehr liberal gestalteten) Reichsvolksschulgesetz von 1869 gestattet, solange den dort vorgesehenen Bedingungen entsprochen wurde (siehe Die Rechtsgestalt der Waldorfschulen in Österreich). Dass die Aktivitäten des Vereins – und damit der Wiener Rudolf-Steiner-Schule – zunächst durchaus wohlwollend zur Kenntnis genommen wurden, zeigen die Schriftwechsel der folgenden Jahre, insbesondere mit dem österreichischen Unterrichtsministerium. Wie alle Privatschulen dieser Zeit, hatte auch die Rudolf-Steiner-Schule eine Reihe von behördlichen Auflagen zu erfüllen. Jede Veränderung an der Schule musste gemeldet werden, für jeden neuen Lehrer bedurfte es einer eigenen Genehmigung durch das Ministerium. Eine besondere Herausforderung stellte der gemeinsame Unterricht von Mädchen und Buben dar, der damals nicht selbstverständlich war. Dennoch gelang es jedes Schuljahr, die „Koedukation“ durchzusetzen, oft unter Hinweis auf die geringen Klassengrößen. Das österreichische Schulsystem sah schon damals nur vierklassige Volksschulen vor und daher musste, als im Schuljahr 1932/33 die fünfte Schulstufe eröffnet werden sollte, die Gründung einer privaten Hauptschule beantragt werden. Die Genehmigung wurde erteilt und im Herbst 1932 konnte die erste Klasse der Hauptschule ihre Pforten öffnen. Im Juni 1933 wurde zunächst der privaten Volksschule des Rudolf-Steiner-Schulvereins das Öffentlichkeitsrecht für zwei Jahre auf Probe verliehen. Die kleine Schule wuchs indes beständig: 1932/33 unterrichtete sie 40 Schüler in der Volksschule (Klassen 1 bis 4), zwei Jahre später bereits 61. Im März 1933 erhielt auch die Hauptschule das Öffentlichkeitsrecht,

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diesmal gemeinsam mit der Volksschule gleich „auf die Dauer der Erfüllung der gesetz­lichen Bestimmungen“. Die positive Haltung, die der kleinen Schule damals von den Behörden entgegenkam, zeigt sich im Akt des Unterrichtsministeriums, mit dem im Juni 1933 über die Verleihung des Öffentlichkeitsrechts befunden wurde. Dort heißt es: „Das Erziehungsziel wird vom Lehrer in der Verwirklichung eines Ideals gesucht, das in dem einzelnen Kinde selbst veranlagt ist als Urbild seines höheren Menschentums. Dass dieses Urbild später in einer Persönlichkeit in dem Maße, als sie die innere Freiheit erlangt, in Erscheinung treten könne, dazu dem Kinde den Weg bereitet zu haben, sehe die Pädagogik R. Steiners als ihr Erziehungsziel an (…) Aufgenommen werden Kinder aus allen Ständen und aus allen Konfessionen, auch konfessionslose. Die Schule betrachtet als ihre Aufgabe, eine religiöse Vertiefung der Kinderseele in allgemein menschlichem Sinn. Sie wolle keine Weltanschauungsschule sein. (…) Der Unterricht wird so erteilt, dass die Hauptunterrichtsgebiete epochenweise vorgebracht werden.“ In den folgenden Jahren konnten Volks- und Hauptschule weitgehend unbehelligt von den Behörden arbeiten, mussten sich aber natürlich an die strikten Vorgaben des Schulgesetzes halten. Dringlich wurde bald aber die Frage der Schulräume, da die Räume in der Habsburgergasse aus allen Nähten platzten. Ab etwa 1937 begann man daher, gezielt nach einem geeigneten größeren Schulhaus Ausschau zu halten. In den Unterlagen des Unterrichtsministeriums finden sich aus dieser Zeit zahlreiche Ansuchen zur Beschäftigung von Lehrern, für die, wie erwähnt, in jedem einzelnen Fall eine Genehmigung notwendig war. Waldorflehrer aus Deutschland, die es an die Wiener Schule zog, wurden nach den geltenden Gesetzen oft nur als „teilgeprüft“ eingestuft.2 Ein Beispiel dafür ist die Einstellung von Werner Lamerdin, der im Herbst 1937 aus Hannover nach Wien kam und ab November in der Wiener Rudolf-Steiner-Schule als Klassenlehrer und Fachlehrer für Turnen und Sport tätig wurde. Die Genehmigung zur Beschäftigung von Lamerdin wurde mit Verweis auf das Fehlen eines „geeigneten inländischen Lehrers“ begründet. Dies drückt einerseits aus, dass die Unterrichtsbehörden die spezielle Ausrichtung der Rudolf-Steiner-Schule als gegeben ansahen und damit auch akzeptierten, dass ein mit den pädagogischen Grundsätzen der Schule vertrauter Lehrer in Österreich nicht zu finden war. Andererseits kann man den Passus aus dem Bescheid des Ministeriums, mit aller gebotenen Vorsicht, auch als Ausdruck der sich im Ständestaat verstärkenden Abgrenzung gegen nicht-österreichische Einflüsse jeglicher Art verstehen. Lamerdin erhielt eine Bewilligung zur Arbeit an der Wiener Schule bis zum 31. Oktober 1940. Dass die Schule dieses Datum nicht mehr erleben sollte, wussten damals weder er selbst noch die Schulgemeinschaft.

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Ein Blick über die Grenze – die Situation der Waldorfschulen in Deutschland Anders als dies fünf Jahre später in Österreich der Fall sein sollte, führte die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 in Deutschland nicht überall sofort zu massiver Einflussnahme auf den Betrieb der Waldorfschulen. Zwar wurde rasch deutlich, dass die pädagogischen Ansätze der Waldorfschulbewegung in zahlreichen Punkten der NS-Ideologie zuwider liefen, doch war die Anzahl der Schulen klein und daher wurde die „Problematik“ seitens der Machthaber zunächst nicht als vordringlich wahrgenommen. 1933 existierten in Deutschland acht Waldorfschulen, die von insgesamt 3.200 Schülerinnen und Schülern besucht wurden. Ihr Anteil fiel bei rund 190.000 deutschen Privatschülern zu dieser Zeit also kaum ins Gewicht. Die umfangreichen Untersuchungen von Uwe Werner3 haben gezeigt, dass die Reaktionen auf Hitlers Machtergreifung in den einzelnen Waldorfschulen und Lehrerkollegien recht unterschiedlich ausfielen. Der Zwang zur Anpassung an die gegebenen Machtstrukturen stand im Widerspruch zum Bestreben, die Identität zu wahren und den pädagogischen Weg fortzusetzen. Die Reaktionen der Betroffenen waren in dieser Situation zwiespältig. Dies galt neben den Waldorfschulen auch für eine Reihe weiterer pädagogischer Initiativen und Bildungsstätten. Die Situation der deutschen Waldorfschulen muss auch im Lichte der Tatsache gesehen werden, dass die nationalsozialistischen Machthaber die Tätigkeit von Privatschulen aller Art einzuschränken bzw. der durchgehenden staatlichen Kontrolle zu unterwerfen suchten. Reichserziehungsminister Bernhard Rust verordnete 1936 ganz allgemein den Abbau von privaten Vorschulklassen und Volksschulen und ordnete die Überprüfung der privaten Höheren Schulen an. Am 12. März 1936 wurde eine Aufnahmesperre für die deutschen Waldorfschulen verhängt.4 Das Jahr 1936 bezeichnet Uwe Werner als Entscheidungsjahr in Bezug auf das Schicksal der deutschen Schulen, da sich die politische Situation für die Schulen verschärfte und es zu verschiedenartigen Vorstellungen und mitunter Differenzen unter den Lehrern und im Bund der Waldorfschulen kam, wie mit den Machthabern umzugehen sei. Zugleich gab es unterschiedliche Ansichten zu Fragen der Schulführung in einzelnen Kollegien, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang zur politischen Situation standen, durch den äußeren Druck der Verhältnisse aber sicherlich begünstigt wurden. In besonderem Maße galt dies für die ‚Mutterschule’ in Stuttgart, deren Schließung bereits 1934 verfügt worden war, die aber kurz darauf vorübergehend wieder arbeiten durfte. Reichserziehungsminister Bernhard Rust schien ein persönliches Interesse am Verschwinden der Waldorfschulen zu haben. Er betrieb deren Auflösung, noch bevor ein Runderlass im Jahre 1939 die Bedingungen regelte, unter denen private Schulen in Deutschland weiterarbeiten durften. Zum Zeitpunkt dieses Erlasses waren von den ursprünglich acht deutschen Waldorfschulen bereits fünf geschlossen.

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Für die österreichische Situation besonders bedeutsam waren Bestrebungen in den Jahren 1937 und 1938 zur Weiterführung einiger deutscher Waldorfschulen als staatlich anerkannte Versuchsschulen und außerhalb der Bedingungen des genannten Erlasses. Insbesondere konzentrierten sich diese Bemühungen auf die beiden Schulen in HamburgWandsbek und Dresden – in beiden Fällen letztlich ohne Erfolg. Eine nicht unbedeutende Rolle bei den Bemühungen spielte Rudolf Heß, der ab 1934 als Fürsprecher des biologisch-dynamischen Landbaus aufgetreten war und in den auch vonseiten der Waldorfschulbewegung Hoffnungen gesetzt wurden. Heß hatte Reichserziehungsminister Rust am 14. Jänner 1938 den Vorschlag unterbreitet, zwei bis drei Waldorfschulen „als staatliche Versuchsschulen“ weiterzuführen. In einem entsprechenden Schreiben an Rust betonte Heß, dass zwar „auch in diesen Schulen die nationalsozialistische Weltanschauung Grundlage der Erziehung und des Unterrichts“ sein müsse, jedoch auch „abgesehen von der weltanschaulichen Grundlage der Schule zweifellos gewisse begrüßenswerte pädagogische Grundsätze verfolgt werden“. Bernhard Rust, bis zu seinem Selbstmord 1945 fanatischer Verfechter der nationalsozialistischen Erziehungsideologie, sah nach Befragung mehrerer lokaler Unterrichtsverwaltungen die Schulen in Wandsbek und Dresden für den Status als „Versuchsschulen“ vor. Da das Schreiben von Heß jedoch zwei bis drei Schulen nannte, setzte sich René Maikowski, Leiter des Bundes der deutschen Waldorfschulen, nach der Besetzung Österreichs am 13. März 1938 dafür ein, die Wiener Rudolf-Steiner-Schule als dritte staatliche Waldorfversuchsschule zu genehmigen.

Die Besetzung Österreichs und die Rolle des Stillhaltekommissars Am 12. März 1938 ließ Adolf Hitler deutsche SS-, Armee- und Polizeitruppen in Österreich einmarschieren und beauftragte den österreichischen Nationalsozialisten Arthur SeyßInquart mit der Führung der Regierung, nachdem Bundeskanzler Schuschnigg zuvor unter Zwang abgedankt hatte. Tags darauf verabschiedete die Regierung in aller Eile das nur zwanzig Zeilen lange ‚Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich‘, womit der „Anschluss“ an das Deutsche Reich formal vollzogen wurde. Die nationalsozialistischen Machthaber gingen in der Folge mit beispielloser Akribie und Geschwindigkeit daran, Einfluss auf alle Gesellschafts- und Lebensbereiche in Österreich zu gewinnen. An dieser Stelle soll das anhand des bis dahin blühenden Vereinswesens gezeigt werden, da diese Entwicklungen den Trägerverein der Rudolf-Steiner-Schule unmittelbar betrafen. Zum Zeitpunkt der Besetzung Österreichs durch Hitler-Deutschland dürften in Österreich rund 70.000 Vereine bestanden haben. Pläne zur Gleichschaltung des österreichischen Vereinswesens nach dem deutschen Einmarsch scheinen schon vor dem 12. März 1938 existiert

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zu haben, auch wenn dies durch die verfügbaren Unterlagen nicht unmittelbar nachweisbar ist. Bereits am 16. März, also nur drei Tage nach dem „Anschluss“, verordnete Josef Bürckel, zu diesem Zeitpunkt kommissarischer Leiter der NSDAP für Österreich, die Stilllegung jeg­licher organisatorischer Tätigkeit von Vereinen und Verbänden bis zu der für den 10. April anberaumten Volksabstimmung über die „Wiedervereinigung Österreichs mit dem deutschen Reich“. Nur zwei Tage später, am 18. März, wurde der erst 30-jährige Albert Hoffmann zum „Stillhaltekommissar für Vereine, Organisationen und Verbände“ ernannt. Hoffmann und seine Mitarbeiter nahmen ihre Tätigkeit unverzüglich auf – binnen kürzester Zeit war damit die Möglichkeit eröffnet, Millionen Österreicher aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsgruppen zu erfassen und viele Orte eigenständigen Lebens und Denkens zu kontrollieren.5 Erst am 17. Mai 1938 wurde auch die rechtliche Grundlage für die Tätigkeit des Stillhaltekommissars geschaffen, das „Gesetz über die Überleitung und Eingliederung von Vereinen, Organisationen und Verbänden“. Die in der Folge einsetzende Neuregelung des österreichischen Vereinswesens im Sinne der nationalsozialistischen Interessen geschah in atemberaubendem Tempo und mit deutscher Gründlichkeit. Mit der Gleichschaltung verbunden war, wie Pawlowsky im Abschlussbericht der österreichischen Historikerkommission aufzeigt5, auch die gezielte Aneignung großer Vermögenswerte. Bezeichnend ist, dass – wie in vielen anderen Bereichen der NSVerwaltung Österreichs – auch die Führungsfiguren des Stillhaltekommissars fast durchwegs aus dem „Altreich“ stammten. Erwähnung finden sollte neben Albert Hoffmann auch der für Fragen der Finanzabwicklung zuständige Egon Ludwig Meiler. Am 30. November 1939 wurde die Tätigkeit des Stillhaltekommissars bereits wieder offiziell beendet. Vereine, die sich bis dahin nicht gemeldet hatten oder aus anderen Gründen nicht abgewickelt waren, wurden aus dem Verzeichnis gestrichen. Von zuvor ca. 70.000 Vereinen existierten, Schätzungen von Pawlowsky zufolge, nach Abschluss der Arbeit des Stillhaltekommissars noch etwa 28.000. Diese standen unter Aufsicht der NSDAP.

Konsequenzen für die Wiener Waldorfschule Durch die Besetzung Österreichs war die Wiener Waldorfschule von einem Tag auf den anderen mit der Situation konfrontiert, sich in einem totalitären Erziehungssystem zurechtfinden zu müssen. Der Kampf um die Eigenständigkeit der Waldorfschulen in Deutschland hatte bereits gezeigt, dass die Machthaber nicht bereit waren, für die Schulbewegung akzeptable Kompromisse einzugehen. Auch wenn die Schließung der letzten deutschen Waldorfschule erst 1941 erfolgen sollte, ist die ablehnende Haltung des Nationalsozialismus zur Pädagogik Rudolf Steiners umfassend belegt. Dies schloss vereinzelte Anbiederungen aus Kreisen der Waldorfschulbewegung an die NS-Ideologie nicht aus. Die Moti-

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vationen dafür mögen unterschiedlich gewesen sein. Ebenso kann angenommen werden, dass es unter den Wortführern des nationalsozialistischen Systems auch Sympathien für die Waldorfpäda­gogik oder für Teile davon gegeben hat. In Wien scheint die Bekämpfung des Weiterbestehens der Schule vor allem vom Wiener Stadtschulrat ausgegangen zu sein, möglicherweise sogar von einem einzigen einflussreichen Beamten. Aber sehen wir uns die Entwicklungen der Reihe nach an. Der erste Schlag traf die Schule in Form eines Erlasses, der am 15. März 1938 die Neuvereidigung von Beamten in Österreich regelte. Kern des Erlasses waren ein unbedingter Treueschwur auf den „Führer des deutschen Reiches und Volkes Adolf Hitler“ sowie der Ausschluss von Juden aus dem öffentlichen Dienst. Am Tag nach Veröffentlichung des Erlasses hielt der Rudolf-Steiner-Schulverein eine erweiterte Vorstandssitzung ab, in welcher der bis dahin amtierende Vorstand seinen Rücktritt erklärte und über die Konsequenzen der am Vortag erlassenen Bestimmungen beraten wurde. Der Arzt Ferdinand Wantschura übernahm die Leitung des Vereins. Wantschura war zu diesem Zeitpunkt 51 Jahre alt und galt als Pionier der anthroposophischen Medizin in Österreich (siehe „Der gute Doktor Wantschura“). Wantschura sah sich genötigt, ein Schreiben an die Mitglieder des Schulvereins zu verfassen, in welchem er zunächst den Rücktritt des Vorstandes mitteilte. In der Folge musste er den jüdischen Vereinsmitgliedern den Austritt aus dem Schulverein nahelegen: „Der Unterzeichnete hat die Leitung dieses Schulvereines übernommen und musste verfügen: Alle nach dem Gesetz nicht-arischen Mitglieder werden aus der Mitgliederliste des Schulvereins gestrichen. Ich ersuche daher alle jene, welche von dieser Verfügung betroffen werden, umgehend (…) ihren Austritt aus dem Rudolf Steiner Schulverein bekanntzugeben. Der weitere Schulbesuch der Kinder, auch der nicht-arischen, wird dadurch in keiner Weise berührt, da die Schule im Einklang mit den neuen gesetzlichen Bestimmungen weitergeführt wird.“6 An der Wiener Rudolf-Steiner-Schule wurden zu dieser Zeit auch jüdische Schüler unterrichtet. Es gab katholischen, evangelischen und mosaischen Religionsunterricht. Doch nur wenige Wochen nach dem „Anschluss“ Österreichs wurden in Wien bereits Tausende von jüdischen Mittelschülern in so genannten jüdischen Sammelschulen zusammengefasst und damit in der gesamten Stadt von einem Tag auf den anderen aus dem Klassenverband herausgerissen. Dies traf auch die Rudolf-Steiner-Schule.7 Im vorher genannten Protokoll der Schulvereinszusammenkunft wurde auch festgehalten, dass Friedrich Hiebel (siehe Erinnerungsbilder an die erste Rudolf-Steiner-Schule in Wien) an der Schule verbleiben durfte, „da er nach diesem Gesetz nicht als Jude gilt.“ Hiebel, seit 1930 Lehrer an der Stuttgarter Waldorfschule, war mit seinem Wechsel nach Wien ab 1934 zu einem der Träger der Arbeit an der Schule geworden. Seine Mutter stammte aus einer zum Christentum konvertierten jüdischen Industriellenfamilie.8

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Dem Druck der neuen Umstände folgend, traten die verbliebenen Lehrer der Schule am 26. März geschlossen in den Nationalsozialistischen Lehrerbund ein. Der nächste Zugriff auf das Wirken der Schule erfolgte durch den Stillhaltekommissar für Vereine, Organisationen und Verbände. Am 28. März 1938, also nur 16 Tage nach dem Einmarsch Adolf Hitlers in Wien, hatte der Rudolf-Steiner-Schulverein auf einen Aufruf zu antworten, der zwei Tage zuvor in der Wiener Zeitung veröffentlicht worden war. Dem bereits erwähnten „Bevollmächtigten für das Finanzwesen der Organisationen und Verbände“ Egon Ludwig Meiler, wurde „zur Orientierung“ mitgeteilt, dass der Schulverein über einen finanziellen Saldo von 960,71 Schilling verfüge. Es wurde in dem Schreiben an Meiler weiter ausgeführt, dass der Verein damit über keinerlei Vermögen verfüge, da der genannte Überschuss „aus voraus bezahlten Schulgeldern für Januar und aus Weihnachtsspenden resultiert.“ Abschließend hieß es: „Unsere Ausgaben sind ständig höher als unsere Einnahmen an Schulgelder und Mitgliedsbeiträge und wird das jeweilige Defizit durch Spenden und Veranstaltungen gedeckt.“

Zusammenarbeit mit dem deutschen Bund der Waldorfschulen Die geschilderten Entwicklungen trafen die Schule innerhalb von Tagen aus unterschiedlichen Richtungen. Es war deutlich geworden, dass neben der freien Tätigkeit der Lehrerschaft und der Existenz des Schulvereins nun auch das Überleben der Schule selbst auf dem Spiel stand. In den einleitenden Bemerkungen zu diesem Beitrag wurde geschildert, dass im zuständigen österreichischen Ministerium das Wirken der Rudolf-Steiner-Schule bislang durchaus positiv gesehen wurde. Wenn die Schule auch keine besonderen Förderungen erhielt, so wurde der Unterrichtsbetrieb zumindest geduldet. Die Gleichschaltung der Privat­ schulen im Deutschen Reich war zur selben Zeit weit vorangetrieben worden und es war nur eine Frage von Tagen oder Wochen, bis auch auf österreichischem Boden kein Platz mehr für Schulen sein würde, die sich einer durchgehenden Einflussnahme durch die neuen Machthaber entziehen könnten. In dieser Situation scheint es, dass Wantschura, Hiebel und das Kollegium der Schule sich gleichsam zur Flucht nach vorne entschlossen: Friedrich Hiebel war erfahrener Waldorflehrer aus Stuttgart und auch Werner Lamerdin hatte einige Jahre in Hannover an der Waldorfschule unterrichtet. Mehrere Lehrer hatten also zum Teil durch ihren Werdegang steten Kontakt zu den Waldorfschulen in Deutschland. Sie wussten um die schwierige Situation Bescheid, in der sich die Schulen zu diesem Zeitpunkt befanden. Dennoch sahen sie nach dem „Anschluss“ Österreichs ans Deutsche Reich die Chance zum weiteren Bestehen der Wiener Rudolf-Steiner-Schule nur in einer Eingliederung in den Bund der deutschen Waldorfschulen.

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In diesem Sinne hatte Lamerdin bereits am 14. März 1938 einen Brief an René Maikowski, den Leiter des deutschen Waldorfbundes, gerichtet. Die Wortwahl in dem Schreiben ist auffallend „deutschlandfreundlich“ und steht aus Sicht des Autors dieser Zeilen in gewissem Kontrast zur bis dahin offenkundigen Eigenständigkeit der Wiener Rudolf-Steiner-Schule. Lamerdin bezog sich in seinem Brief auf Gespräche, die er zu Weihnachten 1937 – also nur wenige Wochen nach Beginn seiner Tätigkeit in Wien – mit Maikowski geführt hatte. Aus diesen Besprechungen müsse Maikowski wissen, „wie gerade unsere Schule unter dem Druck der Verhältnisse (…) zu leiden hatte. Wir konnten nur zum geringen Teil die Waldorfschulpädagogik an unserer Schule durchführen.“ Maikowski möge sich dafür einsetzen, „eine Weiterführung in gleicher Weise wie im Reich“ zu ermöglichen. Maikowski beantwortete das Schreiben an Lamerdin zwei Wochen später und schrieb: „Ich rechne mit einer baldigen positiven Entscheidung über die Weiterführung einiger Waldorfschulen im Reiche als staatlich anerkannte Versuchsschulen und hoffe, dass auch die Wiener Rudolf-Steiner-Schule in die Neuregelung mit einbezogen wird.“ Er kündigte an, spätestens Anfang April selbst nach Wien reisen zu wollen. Im Weiteren erwähnte Maikowski in seinem Brief an Lamerdin, dass er am 23. März den Adjutanten von Rudolf Heß darum gebeten habe, „auch der Wiener Schulverwaltung die positive Entscheidung über die Waldorfschulen durch den Stellvertreter des Führers“ mitteilen zu lassen. Maikowski bezog sich dabei auf die eingangs geschilderten Bemühungen deutscher Waldorfschulen im Zeitraum 1937–1938. Am 25. März richtete Maikowski ein Schreiben an Reichserziehungsminister Rust, in welchem er einen detaillierten Vorschlag zu Weiterführung der beiden Schulen in Dresden und Hamburg unterbreitete und auch für die Wiener Schule ausdrücklich auf „eine ähnliche Regelung, wie sie hier für die anderen Schulen vorgeschlagen wird“ drängte. Maikowski versuchte in seinem Vorschlag den Spagat zwischen Anpassung an die rigiden Vorgaben des Systems einerseits (so wäre für die Schulen die „Führung im nationalsozialistischen Geiste“ vorgesehen gewesen) und dem Erhalt von pädagogischen Grundwerten andererseits, wie etwa Epochenunterricht oder die besondere Pflege praktischer und künstlerischer Fächer. Er verwies gegenüber Rust auch darauf, dass Rudolf Heß „die Erhaltung der z. T. wertvollen pädagogischen Grundsätze der Waldorfschulen empfohlen“ habe und dass auf Grundlage der Stellungnahmen lokaler Unterrichtsverwaltungen „mit der baldigen Entscheidung über die Weiterführung einiger Waldorfschulen zu rechnen“ sei. Abschließend teilte Maikowski Reichsminister Rust mit, dass ihn die Elternschaft der Wiener Rudolf-Steiner-Schule gebeten habe, „in den nächsten Monaten nach Wien zu kommen und die Eingliederung und Umgestaltung dieser Schule in die Hand zu nehmen.“ Am 4. April richtete nun Ferdinand Wantschura als Leiter des Schulvereins eine Eingabe an den Stadtschulrat für Wien, in welcher er darum bat, die Schule „nach dem System der Waldorfschulen im Altreich führen zu dürfen. Mit der Umstellung des Schulbetriebes hätte

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gleich nach Ostern begonnen werden sollen.“ Begleitet wurde das Gesuch von einem weiteren Schrei­ben René Maikowskis, in dem dieser auch namens des deutschen Bundes der Waldorfschulen den Stadtschulrat um Genehmigung der Umstellung ersuchte. Als seinen Stellvertreter für die Wiener Angelegenheiten des Bundes ernannte Maikowski Werner Lamerdin. Am Tag darauf fand im Wiener Stadtschulrat eine Besprechung zwischen Lamerdin und Vertretern der Wiener Schulbehörde statt. Zur Besprechung selbst sind keine Unterlagen auffindbar, allerdings kann vermutet werden, dass maßgebliche Vertreter des Stadtschulrats sich bei diesem Anlass ein Urteil über die Schule gebildet haben, das vielleicht entscheidend für das endgültige Aus der Initiative werden sollte. Am Ende derselben Woche legte Lamerdin dem Stadtschulrat schriftlich eine Reihe von Unterlagen vor, die das Ansuchen der Schule unterstützen sollten. Die Hoffnung auf Genehmigung der Weiterführung ihrer Tätigkeit als Waldorfschule schien zu diesem Zeitpunkt der Strohhalm zu sein, an den Lamer­din und das Kollegium sich klammern konnten. Dieser Hoffnung verlieh Lamerdin Ausdruck, indem er schrieb: „Dankbar begrüßen wir Lehrer der Rudolf-Steiner-Schule Wien die Tatsache, dass nun auch hier eine solche staatlich anerkannte Versuchsschule aus der kleinen Keimzelle der seit 1927 bestehenden Rudolf-Steiner-Schule geschaffen werden kann. Gerade die Wiener Schule hatte ja die größten Schwierigkeiten zu überwinden. Unter dem Druck der (…) ihr auferlegten Einschränkungen hinsichtlich des Lehrplans konnte sie sich nicht entfalten wie die Schulen im Reich.“ Lamerdin bat den Stadtschulrat, „der Rudolf-Steiner-Schule Wien nunmehr die Möglichkeit zu ungehinderter Entfaltung zu geben. Nur durch die Aufhebung der bisherigen Beschränkungen wäre es möglich, auch hier im Sinne der Waldorfpädagogik zu arbeiten wie an den Waldorfschulen im Reich.“ Dem Ersuchen der Rudolf-Steiner-Schule lagen ein siebenseitiger Auszug aus dem Lehrplan der Waldorfschule, detaillierte Ausführungen zu den pädagogischen Grundsätzen und zu den „Grundlinien für die Organisation der Waldorfschulen“ sowie eine Liste jener Lehrerinnen und Lehrer bei, die für die umgewandelte Waldorfschule vorgesehen waren. Der Wiener Stadtschulrat leitete das Gesuch am 13. April 1938 an das zu diesem Zeitpunkt bereits faktisch der reichsdeutschen Verwaltung unterstellte Unterrichtsministerium weiter. Im Ministerium wurde das Gesuch geprüft und intern weiterbearbeitet. In einer kurzen Bewertung des Antrags hieß es unter anderem: „In den Gesuchsbeilagen wurden die nötigen Aufklärungen über Zweck, Methode, Lehrplan und Lehrkräfte gegeben. Wie aus diesen Unterlagen ersehen werden konnte, bezweckt die Waldorfschule eine individuelle Behandlung der Schüler unter sorgfältiger Berücksichtigung der psychologischen Einstellung der Jugendlichen in den einzelnen Altersstufen und der künstlerischen Fähigkeiten der Zöglinge. Nach den Gesuchsangaben zu schließen, dürfte der Lehrplan den Anforderungen entsprechen, die an eine öffentliche Schule in Österreich [„in Österreich“ wurde handschriftlich hinzugefügt, Anm. des Verfassers] gestellt werden, sodass in diesem Punkte der

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Präludium mit langer Fermate

Anerkennung der Schule als private Volksschule nach § 70 RVG wohl keine Schwierigkeiten erwachsen könnten. Ob die Schule jedoch nach ihrer Umstellung das Öffentlichkeitsrecht genießen kann, ist (…) zu verneinen, da es sich wohl um die Neuerrichtung einer Schule handelt, die mit der Organisation der öffentlichen Volksschulen nicht ganz übereinstimmt.“ Zum Abschluss hieß noch: „Zu bemerken wäre noch, dass lt. einer Notiz in den Gesuchsbeilagen die Stuttgarter Waldorfschule kürzlich gesperrt worden ist.“ Unterzeichnet wurde der Ministeriumsakt am 4. Mai 1938 von Abteilungsleiter Hansel, den Maikowski in Bezug auf die „Umwandlung“ der Schule eine Woche später auch persönlich aufsuchte. Am 11. Mai 1938 schloss sich eine weitere Abteilung des Unterrichtsministeriums der negativen Einschätzung hinsichtlich der weiteren Erteilung des Öffentlichkeitsrechts an, zumal „die Schule als Versuchsschule gedacht ist, über die erst nach längeren Beobachtungen durch die Schulaufsicht ein eingehendes Urteil abgegeben werden kann“. Aus den Angaben in den Unterlagen des Ministeriums wird ersichtlich, dass etwa zu Ostern 1938 das Öffentlichkeitsrecht für die Rudolf-Steiner-Schule aufgehoben worden war, offenbar aufgrund der gesetzlichen Gleichschaltung im Volksschulbereich. Das Gespräch, das René Maikowski am 12. Mai 1938 mit Abteilungsleiter Hansel im Ministerium führte, dürfte im Allgemeinen positiv verlaufen sein. Nur so ist es zu erklären, dass Maikowski in einem Schreiben an Hansel noch am selben Tag „für Ihr freundliches Interesse und Ihre Bemühung herzlich“ dankte. Da man im (vormaligen) Ministerium aber offenbar nicht sicher war, wie man mit dem Ansuchen umgehen bzw. die Angaben von Maikowski und Lamerdin hinsichtlich der Schaffung von waldorfpädagogischen Versuchsschulen bewerten sollte, wandte man sich am 14. Juni mit der Bitte um entsprechende Weisung an das Reichserziehungsministerium in Berlin. Es scheint allerdings, dass Abteilungsleiter Hansel nicht den Wunsch verspürte, die Schule in der Habsburgergasse schließen zu lassen. Auch ist weiterhin aus keinem der bis zu diesem Datum aufgefundenen Unterlagen zur Schule eine inhaltlich negative Bewertung zu erkennen. Noch bevor eine Antwort aus Berlin eintraf, verschärfte sich jedoch der Ton in Wien radikal. Am 12. Juli 1938 erreichte das „Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten“, wie es mittlerweile als Zweigstelle des Zentralministeriums in Berlin genannt wurde, ein neuerliches Schreiben des Wiener Stadtschulrats. Der Verfasser, ein leitender Beamter, stellte darin in wenigen Zeilen „den Antrag, das gegenständliche Ansuchen des Rudolf-Steiner-Schulvereins abzuweisen, da es sich in diesem Falle um Anthroposophen und Rosen­ kreuzer handelt, die beide dem Freimaurerbunde angehören“. Die – völlig unvermittelt und in den Akten quasi aus dem Nichts auftauchende – Ausdrucksweise kann kaum mit einer tatsächlichen Beurteilung durch den Stadtschulrat erklärt werden. Es war hier offenbar nach einer personellen Neubesetzung zu einem Griff in das Vokabular der nationalsozialistischen Propagandasprache gekommen.

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Das Ministerium reagierte irritiert, aber äußerst sachlich auf das Papier aus dem Stadtschulrat. Abteilungsleiter Hansel, offenbar nicht gewillt, die ohne Fakten vorgebrachten Anwürfe zu akzeptieren, ersuchte den Stadtschulrat in seiner Antwort, „es wolle anher mitgeteilt werden, aufgrund welcher Daten die do. Feststellung gemacht werden konnte (…)“. Im rasch folgenden Rückschreiben aus dem Stadtschulrat fanden sich zwar keine Antworten auf Hansels Frage, dafür jedoch eine nochmalige Verschärfung der Wortwahl. Der kommissarische zweite Präsident des Stadtschulrates erstellte in wenigen Zeilen eine Ansammlung von haarsträubenden Anschuldigungen gegen die Schule. Augenscheinlich hatte sich der Beamte die Auslöschung der Rudolf-Steiner-Schule zu seinem persönlichen Anliegen gemacht: „Dr. Rudolf Steiner ist der Begründer der anthroposophischen Lehre. Ein schulerhaltender Verein, der sich nach ihm benennt, ist also offenbar eine Anthroposophensache. Anthroposophen und Rosenkreuzer stehen erfahrungsgemäß in innigem Zusammenhang.“ Und, um nicht in Gefahr zu geraten, dass die Argumentation für ein Ausmerzen der Schule vielleicht nicht reichen könnte, wurde nachgelegt: „In Ergänzung (…) stelle ich noch fest: Die Rudolf-Steiner-Schule war eine Ansammlung von Judenkindern, die weit über das übliche Maß der Entartung dieser Rasse hinausragten. Die Schule zeigt jene wüste Disziplinlosigkeit, die mit allen freimaurerischen Erziehungssystemen verbunden ist.“ Die beiden Schriftstücke des Stadtschulrats entstanden vermutlich als Reaktion darauf, dass der Rudolf-Steiner-Schulverein sein Gesuch um Bewilligung der Waldorfschule Anfang Juli 1938 urgiert hatte. Sie leiteten aber auch die entscheidende Wende im Schicksal der Schule ein. Eine positive Beurteilung durch den Stadtschulrat (und nachfolgend durch das Ministerium) wäre jedenfalls wichtige Voraussetzung für die Genehmigung des Status als staatliche Versuchsschule im Deutschen Reich gewesen, analog zu den Bedingungen für die Hamburger und Dresdner Waldorfschule. Daran war jetzt nicht mehr zu denken. Festgehalten muss aber auch werden, dass zu diesem Zeitpunkt (Mitte 1938) noch nicht klar zu erkennen war, wohin sich die Initiative der Waldorfschulen als „staatliche Versuchsschulen“ in Deutschland entwickeln würde. Da aus Berlin noch keine Entscheidung zum weiteren Bestand der Schule eingelangt war, sah sich Abteilungsleiter Hansel genötigt, das Reichserziehungsministerium über den neuen „Sachverhalt“ zu informieren. Am 8. August formulierte er daher ein Schreiben, in welchem der ‚Bericht’ des Stadtschulrates wiedergegeben und mitgeteilt wurde: „Das Ministerium ist aufgrund dieses Berichtes (…) gleichfalls der Meinung, dass die Vornahme von Versuchen auf pädagogischem Gebiet in dieser Schule nicht gestattet werden sollte.“ Neuerlich wurde das Reichserziehungsministerium um rasche Entscheidung gebeten. Die Antwort aus Berlin traf am 12. September 1938 in Österreich ein und besiegelte das Schicksal der Schule. Der neu bei Reichsminister Rust in den Dienst getretene Abteilungsleiter Holfelder informierte das Wiener Ministerium über den seit März 1936 bestehenden Schüleraufnahmestopp und teilte mit, dass „die meisten“ deutschen Waldorfschulen ge-

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Präludium mit langer Fermate

Schließungsmitteilung an die Eltern, Herbst 1938

schlossen seien. „Nur in Dresden und Hamburg ist ein weiterer Versuch gestattet worden. Mit einer Ausdehnung des Versuchs ist jedoch nicht zu rechnen. Ich ersuche daher, Maßnahmen zu treffen, die die Auflösung der Rudolf-Steiner-Schulen (Waldorfschulen) zum Ziel haben.“ Nun ging es einigermaßen rasch. Nach einer weiteren Rückfrage im Berliner Reichs­ ministerium – das Ministerium in Berlin hatte den Erlass zum Schüleraufnahmestopp nicht mitgesendet und Hansel forderte als sorgfältiger Beamter eine Abschrift nach – wurde der Wiener Stadtschulrat am 24. Oktober 1938 gebeten sicherzustellen, „dass in die ‚RudolfSteiner-Schulen’ (Waldorfschulen) in Wien keine Schüler mehr aufgenommen und die Schulen – soweit dies nicht schon erfolgt sein sollte – ehestens geschlossen werden“. Unterlagen zu den unmittelbaren Folgen der Schließung konnten nicht aufgefunden werden. Auch kann in diesem Beitrag nicht geschildert werden, in welche anderen Schulen die Schüler ab Herbst 1938 gehen mussten und welche Wege die Schicksale der Lehrer nahmen. Genannt werden sollte jedenfalls Friedrich Hiebel, der in seinen Erinnerungen an die Schließung der Schule schrieb: „Was die einzelnen Lehrer dabei innerlich erlebten und äußerlich erfuhren, gehörte zu den Proben und Prüfungen des Geistesweges. Im Rück-

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Auflösungsbescheid, 30. Dezember 1938

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Auflösungsbescheid, 30. Dezember 1938, Fortsetzung

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blick darauf erlebten wir umso stärker Schicksalsgewissheit und Werktreue. Äußerlich wurden wir zerstreut, innerlich blieben wir zusammen im Geiste der neuen Menschenkunde und Erziehungskunst.“8 Hiebel emigrierte 1939 nach New York und konnte sich erst nach Kriegsende wieder dem weiteren Aufbau der anthroposophischen Arbeit in Europa widmen. Noch nicht abgeschlossen war zu diesem Zeitpunkt das formale Verfahren des Stillhaltekommissars gegen den Schulverein. Aber auch hier fielen die wesentlichen Entscheidungen im Oktober 1938, denn aus diesem Zeitraum liegt der Schlussbericht des Stillhaltekommissars vor. Die endgültige Auflösung des Vereins wurde am 30. Dezember 1938 vom Wiener Magistrat verfügt. Ferdinand Wantschura wurde mitgeteilt, es sei „unstatthaft, den organisatorischen Zusammenhang zwischen den Mitgliedern (…) weiterhin aufrechtzuerhalten“. Auch jegliche sonstige Vereinstätigkeit wurde bei Strafandrohung untersagt. Die erste und einzige österreichische Waldorfschule hatte die Machtübernahme der Nationalsozialisten damit nur wenige Monate überlebt. Aber auch im „Altreich“ kam es nicht mehr zur Einrichtung der Waldorfschulen als staatliche Versuchsschulen. Zwar hob das Reichsministerium zwischenzeitlich die Aufnahmesperre für Schüler an den verbliebenen Schulen auf, doch war letztlich auch den Schulen in Hamburg-Wandsbek und Dresden eine weitere Arbeit unmöglich geworden. Im Fall von Hamburg trugen dazu wesentlich, und offenbar in gewisser Parallelität zu Wien, die Schikanen der lokalen Schulverwaltung bei. Die Schule in Dresden wurde als letzte Waldorfschule im Juli 1941 auf Geheiß von Martin Bormann geschlossen, der nach dem Englandflug von Rudolf Heß dessen Nachfolge als „Partei-Kanzler“ Adolf Hitlers übernommen hatte.

Anmerkungen 1

Alle Quellen aus den behördlichen Schriftwechseln zwischen der Rudolf-Steiner-Schule und dem österreichischen Unterrichtsministerium sowie dem Wiener Stadtschulrat stammen aus dem Österreichischen Staatsarchiv, Unterricht-Allgemein, Faszikel 2510. In der Folge werden genaue Quellenangaben nur dort angeführt, wo sie für den Zusammenhang unbedingt erforderlich sind.

2 Im § 70 Absatz 1 Reichsvolksschulgesetz (Gesetz vom 14. Mai 1869, RGBl. 62/1869) hieß es: „Vorsteher und Lehrer haben jene Lehrbefähigung nachzuweisen, welche von Lehrern öffentlicher Schulen gleicher Kategorie gefordert wird. Ausnahmen kann der Minister für Cultus und Unterricht in Fällen bewilligen, wo die erforderliche Lehrbefähigung in anderer Weise vollkommen nachgewiesen ist.“ 3 Werner, Uwe, Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus (1933–1945). R. Oldenbourg Verlag, München 1999. Bei diesem Werk handelt es sich um die umfassendste Darstellung des Schicksals anthroposophischer Einrichtungen zur Zeit des Nationalsozialismus. Von einigen wenigen Nennungen abgesehen, werden allerdings zu dieser Zeit existierende Initiativen außerhalb Deutschlands ausgeklammert. Aus diesem Grund fehlen auch Verweise auf Querverbindungen zur Wiener Rudolf-Steiner-Schule fast völlig. Im Text finden sich mehrere Zitate aus diesem Werk. 4 Erlass des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 12. März 1936. BAD Z/B 904. Vgl. zur

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Entwicklung der deutschen Waldorfschulen zwischen 1933 und 1936, insbesondere die detaillierte Darstellung in Werner a.a.O., Seiten 94–139. Eine Abschrift des Erlasses findet sich auch im Akt zur Schließung der Wiener Schule. 5 Umfassende Forschungsergebnisse zur Gleichschaltung der österreichischen Vereine finden sich im Schlussbericht der österreichischen Historikerkommission: Verena Pawlowsky/Edith Leisch-Prost/Christian Klösch, Vereine im Nationalsozialismus. Vermögensentzug durch den Stillhaltekommissar für Vereine, Organisationen und Verbände und Aspekte der Restitution in Österreich nach 1945. Vereine, Stiftungen und Fonds im Nationalsozialismus, 1. Oldenbourg Wissenschaftsverlag, Wien 2004. Der Rudolf-Steiner-Schulverein findet im zitierten Werk der österreichischen Historikerkommission bedauerlicherweise keine Erwähnung. Mehrere Zitate aus diesem umfangreichen Band finden sich im Text.

Die Historikerkommission beschäftigte sich im Auftrag der österreichischen Bundesregierung ab 1998 damit, „den gesamten Komplex‚Vermögensentzug auf dem Gebiet der Republik Österreich während der NS-Zeit sowie Rückstellungen bzw. Entschädigungen (sowie wirtschaftliche und soziale Leistungen) der Republik Österreich ab 1945’ zu erforschen und darüber zu berichten“. Die Kommission bestand aus sechs Mitgliedern und stand unter dem Vorsitz des Präsidenten des Verwaltungsgerichtshofes Clemens Jabloner. Vgl. www.historikerkommission.gv.at.

6 Aus dem Beschlussprotokoll der Sitzung des erweiterten Vorstandes vom 16. März 1938, Punkt 2. Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, 02/Stillhaltekommissar Wien, Zl. 29-B/3/3. Weitere Zitate aus diesem Akt des Staatsarchivs zum Rudolf-Steiner-Schulverein wurden in den Beitrag übernommen. 7 Genaue Darstellungen zum Schicksal der Wiener jüdischen Mittelschüler finden sich in einem Beitrag der jüdischen Kulturzeitschrift „DAVID“ (Heft Nr. 37 vom Juni 2007), nachzulesen unter www.david.juden.at/kultur zeitschrift/70–75/73-millian.htm. Weiters beschäftigt sich ein Projekt der Stadt Wien mit diesem Thema: „Zur Geschichte der Vertreibung und Verfolgung an Wiener Mittelschulen: Der Ausschluss jüdischer Schülerinnen und Schüler 1938.“ 8 Siehe Friedrich Hiebel: Erinnerungsbilder an die erste Rudolf-Steiner-Schule Bildnachweis: Archiv des Herausgebers

Wa s z w i s c h e n 1 9 4 5 u n d 1 9 5 5 (n i c h t) g e s c h a h

TR: Warum wurde nicht – ähnlich, wie in Deutschland – gleich nach dem Krieg mit der waldorfpädagogischen Arbeit begonnen? EG: Die erste Schule und auch der Trägerverein dieser Schule sind 1938 aufgelöst worden. Dann gab es 1945 eine Frist, innerhalb der „verbotene Vereine“ ohne großen bürokratischen Aufwand wieder ins Leben gerufen werden konnten. Da war Dr. Wantschura einer der Tragenden, die diesen Schulverein wieder anmeldeten. Aber offenbar gab es niemanden von der ersten Schule, der als Gründungslehrer für eine neue Schule infrage gekommen wäre. Das war in Deutschland anders, da gab es eine ganze Reihe von Lehrern in Stuttgart, die immer wieder zusammen kamen, und so konnten schon sehr bald in Stuttgart, aber auch in anderen deutschen Städten die Waldorfschulen von Neuem mit ihrer Arbeit beginnen. In Wien blieb dieser Schulverein mehr oder minder eine „akademische Sache“. Er gab kleine Büchlein für Eltern heraus, wie „Die pädagogische Provinz“ von Goethe, ein Heft über Waldorfpädagogik, eines über ein menschenkundliches Thema und dann Hefte für Kinder zu den Jahreszeiten. Diese Aufgabe hatten einige Menschen übernommen, ebenso wie die so genannten Ausgleichskurse für Schüler, die in öffentliche Schulen gingen. Diese Kurse fanden in den Räumen der Anthroposophischen Gesellschaft in der Tilgnerstraße statt. Dann gab es noch hin und wieder Vorträge und Seminare über Waldorfpädagogik. Mehr brachten wir zunächst nicht zustande. TR: Wie verlief der Neuanfang in der Anthroposophischen Gesellschaft? EG: In Bezug auf die anthroposophische Arbeit in Österreich meinte Emil Bock, einer der Gründungspriester der Christengemeinschaft, dass hier andere Bedingungen wie in Deutschland vorlägen, vor allem sei hier wahrscheinlich die öffentliche Arbeit nicht so bedeutungsvoll. Es gäbe im österreichischen Volkstum und Wesen Anlagen, die stark darauf hinweisen, der inneren Arbeit den Vorrang zu geben. Weiters gälte es herauszufinden, in welcher Weise man in Gemeinsamkeit das, was anlagemäßig vorhanden ist, so pflegt, dass es auch fruchtbar werden wird. TR: Wie hat sich das in der anthroposophischen Arbeit gezeigt?

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Präludium mit langer Fermate

EG: Das Besondere war, dass wir immer die Themen, die uns im Zweig – ich meine damit die Arbeitsgruppe der Anthroposophischen Gesellschaft – beschäftigt haben, einfach – wie selbstverständlich – eurythmisch bearbeitet haben. Das hing natürlich mit der engen Verbindung zur Eurythmieschule zusammen. Man musste sich da gar nicht viel vornehmen, das Leben hat es einfach so gefügt: Erkenntnisarbeit mündete in künstlerische Arbeit und diese befruchtete rückwirkend wieder die geistige Erkenntnisarbeit. Das andere ist eben diese besondere Qualität, die wir der Zweigarbeit zugemessen haben und die, wie alles, was man sich so vornimmt, zunächst Idealcharakter hat. Im Rückblick kann ich sagen: Ja, da ist uns dann und wann etwas gelungen in der Realisierung des Ideals. Wenn sich Menschen zu einer gemeinsamen Studienarbeit zusammenfinden, wird eine andere, eine gesteigerte Qualität der Erkenntnisbemühung erlebt, ganz anders als in der eigenen Studienarbeit. Da wird eine andere Stufe erreicht, wenn es in Gemeinsamkeit geschieht. Die anthroposophische Arbeit vor dem Hintergrund der zeitgeschichtlichen Situation zu pflegen, danach haben wir ganz stark gestrebt, das war für uns die Zweigarbeit. Unser zweites Anliegen war, dass wir durch die Themen, die wir bearbeiteten, zu einem Organismus wurden. Wenn wir uns mit einem Jahresthema befassten, war das immer vierfach gegliedert und stand so in einem direkten Bezug zum Erleben des Jahreskreislaufes. Durch diese Arbeit in Verbindung mit dem Jahresgeschehen als eine Art Atmungsprozess der Natur, an dem auch die Seele ihren Anteil hat, bildet sich etwas wie eine Art zweiter Leib, also etwas ganz lebendiges. Ja, und das dritte Anliegen war, wie ich schon eingangs sagte, die „Durchkunstung.“ Wir sind eigentlich von Anfang an durchatmet gewesen von Kunst. Das war eigentlich unser Keimzustand, diese Gemeinsamkeit mit der Eurythmie, auch räumlich, die ja auch ein Signum für ein Schicksal ist. Das traf auch auf die Menschen zu: Die Träger der Zweigarbeit waren die Träger der Eurythmiearbeit TR: Wie würdest du den damaligen Stil der Zweigarbeit beschreiben? EG: Wenn man sich jahrelang um eine gepflegte Studienarbeit im Gespräch bemüht, lernt man dabei – indem man wirklich anschließt an den Vorredner –, dass man nicht das Eigene, das man schon in sich hatte, hinausposaunt. Die Persönlichkeit von Reimar Thetter prägte unsere Arbeit in zweierlei Hinsicht. Einmal dadurch, dass Thetter sehr viel beizutragen hatte und immer in Fluss war, seine Gedanken auf die Welt zu bringen. Dieses lang dauernde Gebären bei ihm brachte ein schöpferisches Element hinein. Das Zweite war eine andere Qualität, die er aber auch vollendet handhaben konnte: am Ende eines Zweigabends mit der Pluralität der Stimmen, die da eben dieses Gesprächsorchester gebildet hatten, eine solche Zusammenfassung zu geben, in der sich jeder, der sich beteiligt hatte – der vielleicht auch ein bisschen danebengelegen war mit seinem

Was zwischen 1945 und 1955 (nicht) geschah

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Beitrag – in einer Art Überhöhung wiedergefunden hat. Man konnte dann wirklich die Woche über neben der anderen zu leistenden Arbeit innerlich mit den im Zweig besprochenen Themen umgehen. Es war eines der obersten Gebote, dass man innerhalb des Gespräches, wenn man sich etwa kritisch einer Äußerung gegenüber fühlte, dass man nicht unmittelbar diese Kritik – auch nicht in noch so wohlwollender Form – anbringt, sondern sich sozusagen dem Strom des Ganzen anvertraut und sieht, ob nicht die Sache selber diese Abirrung, diese Abweichung oder diesen Umweg korrigiert. Das ist eine Sache der Kultur, dass man das, ohne sich zu ärgern, zurückhält. Es korrigieren sich dann viele Dinge. Ich meine auch, dass es für denjenigen, der diese kleine Unstimmigkeit oder nicht reine Farbkomponente hereingegeben hat, auch eine vielleicht heilsamere Bedeutung hat, als wenn er direkt konfrontiert würde mit seiner Unzulänglichkeit. Das gehörte eben zu diesem, was ich vorhin von der Zusammenfassung, dieser Oktave am Ende des Zweiges sagte. TR: Wo wurde dann ein Thema wie Waldorfpädagogik in Österreich besprochen? EG: Jeden Freitag nach dem Zweig um Neun abends saßen wir noch in der Bibliothek beisammen. Wir, das waren neben Reimar Thetter als Zweigleiter, Mitglieder, die aktiv in der anthroposophischen Gesellschaft standen und aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen kamen. Und dieses Beisammensein hatte eigentlich zwei Motive gehabt; das eine war immer ein Nacharbeiten dessen, was der Zweig erbracht oder nicht erbracht hatte und ein Überlegen, wie man es durch die Woche tragen könnte, um am nächsten Freitag wieder sinnvoll anzuknüpfen. Also eine auf den Zweigabend orientierte thematische Arbeit. Das andere war, dass wir uns im engen Kreis über neue Entwicklungen ausgetauscht haben. Dazu gehörte auch alles, was sich im Vorfeld der Schulgründung vollzogen hat. TR: Also wurde doch bereits eine neue Schulgründung vorbereitet? EG: Eigentlich schon, doch der Zweigleiter Reimar Thetter war ein Verhinderer dieser Gründungsidee. Ich habe mir selber dann immer gesagt, wenn du das aushältst, die ewigen Einwände und das Retardierende, das von Thetter ausgeht, was ja nicht böser Wille war – er hatte immer Argumente in der Richtung, dass du aus der Erkenntnis kommend immer lieber zuwartest – wenn du das bestehst und wenn du dennoch deiner Tat, die du vollführen willst, treu bleibst, dann ist es echt. Ich habe dieses „Am Widerstand gewinne“ in stärkster Weise an Reimar Thetter erlebt. Nur dadurch, dass ich das als eine Prüfung ansah, konnte ich es aushalten, sonst wäre es zum Verzweifeln gewesen, dieses ständige „Noch nicht!“.

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R e i m a r T h e t t e r – e i n e p r ä g e n d e G e s ta lt Tobias Richter

Reimar Thetter wurde 1908 in Baden bei Wien geboren. Reimars Vater war Maler und Kunsterzieher an einem Gymnasium in Baden. In diesem Kurort südlich von Wien wuchsen Reimar und seine um ein Jahr ältere Schwester Trude auf. In den nahegelegen Bergen und Hügeln begegnete Reimar einer reichen Pflanzen- und Tierwelt. Die Liebe zu den Pflanzen und Gesteinen begleitete Reimar sein ganzes Leben hindurch. Später, als er Arzt geworden war, übte er sich an der durch Goethe intendierten Pflanzen- und Natur­beobachtung, um so im Sinne eines Paracelsus zu Wesensbilder der verschiedenen Heilsubstanzen und pharmaReimar Thetter zeutischen Umwandlungsprozessen zu gelangen. Jedoch ganz anders als jener, schrieb er diese nicht nieder, lehnte auch jedes ärztliche Vademecum ab, da es ihm darum ging, die Therapie ganz auf den individuellen Patienten hin zu orientieren. Durch den Bruder seines Vaters, einem bekannten Heilpraktiker und Magnetiseur, wurde die Familie Thetter mit der Anthroposophie bekannt. Reimar Thetter eröffnete nach seinem Medizinstudium 1939 in Wien eine Praxis als anthroposophischer Arzt, die er über fünfzig Jahre ohne Krankenkassen-Anerkennung führte. Aus der Ehe mit der Kinderärztin Hedwig Vogel gingen drei Kinder hervor. Neben seiner Tätigkeit als Arzt – er gehörte auch dem Gründungsvorstand der österreichischen Arbeitsgruppe für anthroposophisch erweitere Medizin an (1971) und wurde deren Vorsitzender – widmete er sich intensiv dem Aufbau der anthroposophischen Arbeit in Wien und Österreich. Seit dem Entstehen des Zweiges „Anthroposophische Gesellschaft in Wien“ (1949) hatte Reimar Thetter die Funktion des Zweigleiters inne und ab der Neubegründung der Österreichischen Landesgesellschaft 1950 war er bis 1991 deren Vorsitzender sowie der Vertreter Österreichs unter den Generalsekretären der Anthroposophischen Gesellschaft. Der durch ihn und seine Weggenossen intendierte Arbeitsstil, in der Vertiefung einer Fragestellung immer wieder neu und oft mühevoll die Quellen aufzusuchen, die zum geistigen Forschen führen, gaben dieser anthroposophischen Arbeitsgruppe ihr besonderes Signum.

Reimar Thetter – eine prägende Gestalt

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Reimar Thetters Schwester Trude gründete zusammen mit Gritli Eckinger 1935 die Eurythmieschule in Wien, an welcher später Friedl Meangya, die Schwester Elisabeth Gergelys, maßgeblich mitarbeitete. Neben ihrer hohen künstlerischen Begabung charakterisierten auch Trude – ähnlich wie ihren Bruder Reimar – ein diagnostischer Blick und therapeutische Fähigkeiten, die 1952 zum Aufbau der Heileurythmieausbildung führten. 1994 starb Reimar Thetter in Rekawinkel bei Wien. Bildnachweis: Archiv Angelika Thetter

Es begann mit Kindergarten

TR: Es wurde also sehr lange auf den rechten Zeitpunkt zur Gründung einer neuen Waldorfschule gewartet? EG: Ich kann jetzt im Rückblick gar nicht sagen, inwieweit wir als Gruppe gewartet haben. Ich habe darauf gewartet! Konkreter wurden die Bemühungen zur Realisierung der Waldorfpädagogik dadurch, dass Bronja Zahlingen, die schon vor dem Krieg als Waldorfkindergärtnerin gearbeitet hatte, aus England zurückkam. Sie war Jüdin und im letzten Moment emigriert. Auch in England hatte sie während des Krieges als Kindergärtnerin gearbeitet. In den 50er-Jahren war das immerhin einmal ein Ansatzpunkt zur Weiterentwicklung der waldorfpädagogischen Arbeit mit einer erfahrenen Kindergärtnerin.

Bronja Z ahlingen – Leben und Wirken Elisabeth Gergely Ihr Leben war den Kindern gewidmet, ihrer Entwicklung und Pflege im ersten Jahrsiebt. „Die Kinder brauchen ein gesundes und nahrhaftes Frühstück für ihren weiteren Lebensweg“, so drückte sie es aus, und das wollte sie ihnen bereiten und hat es durch 60 Jahre auch getan. Als jüngstes Kind einer jüdischen Familie auf einem Landgut in Polen geboren, musste die Familie mit Ausbruch des ersten Weltkrieges Polen verlassen und kam nach Wien. Schon in ihrer Schulzeit im Wasa-Gymnasium kam Bronja durch Klassenkameraden mit der Anthroposophie in Berührung. Auch ihr späterer Mann gehörte zu diesem jugendlichen Freundeskreis. Ein Studium der Psychologie brach sie bald ab, weil sie es nicht als geeignet empfand, und begann stattdessen mit einer Ausbildung für Kindergärtnerinnen. 1932, im Alter von 20 Jahren, wurde sie Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft und begann, den Kindergarten der Rudolf-Steiner-Schule Wien aufzubauen, der sich bald regen Zustroms erfreute. Mit dem Einmarsch der Hitler-Truppen 1938 wurde dieser Arbeit, sowie auch jener der Schule und der Anthroposophischen Gesellschaft, ein jähes Ende gesetzt. Der Besuch einer Tagung in England leitete die elfjährige Lebensspanne ihrer Emigration ein. Deutsch und alte Sprachen konnte sie in der Waldorfschule Michael Hall in Forest Row

Es begann mit Kindergarten

TR: Es wurde also sehr lange auf den rechten Zeitpunkt zur Gründung einer neuen Waldorfschule gewartet? EG: Ich kann jetzt im Rückblick gar nicht sagen, inwieweit wir als Gruppe gewartet haben. Ich habe darauf gewartet! Konkreter wurden die Bemühungen zur Realisierung der Waldorfpädagogik dadurch, dass Bronja Zahlingen, die schon vor dem Krieg als Waldorfkindergärtnerin gearbeitet hatte, aus England zurückkam. Sie war Jüdin und im letzten Moment emigriert. Auch in England hatte sie während des Krieges als Kindergärtnerin gearbeitet. In den 50er-Jahren war das immerhin einmal ein Ansatzpunkt zur Weiterentwicklung der waldorfpädagogischen Arbeit mit einer erfahrenen Kindergärtnerin.

Bronja Z ahlingen – Leben und Wirken Elisabeth Gergely Ihr Leben war den Kindern gewidmet, ihrer Entwicklung und Pflege im ersten Jahrsiebt. „Die Kinder brauchen ein gesundes und nahrhaftes Frühstück für ihren weiteren Lebensweg“, so drückte sie es aus, und das wollte sie ihnen bereiten und hat es durch 60 Jahre auch getan. Als jüngstes Kind einer jüdischen Familie auf einem Landgut in Polen geboren, musste die Familie mit Ausbruch des ersten Weltkrieges Polen verlassen und kam nach Wien. Schon in ihrer Schulzeit im Wasa-Gymnasium kam Bronja durch Klassenkameraden mit der Anthroposophie in Berührung. Auch ihr späterer Mann gehörte zu diesem jugendlichen Freundeskreis. Ein Studium der Psychologie brach sie bald ab, weil sie es nicht als geeignet empfand, und begann stattdessen mit einer Ausbildung für Kindergärtnerinnen. 1932, im Alter von 20 Jahren, wurde sie Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft und begann, den Kindergarten der Rudolf-Steiner-Schule Wien aufzubauen, der sich bald regen Zustroms erfreute. Mit dem Einmarsch der Hitler-Truppen 1938 wurde dieser Arbeit, sowie auch jener der Schule und der Anthroposophischen Gesellschaft, ein jähes Ende gesetzt. Der Besuch einer Tagung in England leitete die elfjährige Lebensspanne ihrer Emigration ein. Deutsch und alte Sprachen konnte sie in der Waldorfschule Michael Hall in Forest Row

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Bronja Zahlingen

Grande Valse

Bronja Zahlingen – Leben und Wirken

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unterrichten und im Kindergarten helfen, bis sie – wie viele Flüchtlinge – eine Zeitlang interniert wurde. In dieser äußerst schweren Zeit wurde sie körperlich sehr geschwächt, doch es reifte die innere Kraft und Sicherheit für den weiteren Lebensweg. Nach zehn Jahren der Trennung wurde der Schicksalsfaden mit ihrem Jugendfreund Hans Zahlingen wieder geknüpft, die Heirat in England vollzogen. Bronja wurde zur tragenden Gestalt in den Bemühungen, einen Waldorfkindergarten in Wien zu begründen. 1955 war es soweit, dass sie mit einer Kindergartengruppe im 3. Bezirk beginnen konnte. Später fand die Arbeit in der Reisnerstraße eine Heimstatt. Mit dem Einzug der Rudolf-Steiner-Schule in das Maurer Schlössl im 23. Wiener Gemeindebezirk (siehe Die neue Heimstatt – das Maurer Schlössl) begann auch die Planung für einen Kindergarten nahe der Schule – auf einem von der Stadt Wien gepachteten Gartenbaugrund. Dort entstand ein Kindergartenbau, der von einem Kindergartenvater-Architekten entworfen wurde. Finanziert wurde der Bau durch den Erlös aus dem Verkauf eines kleinen BreughelBildes aus dem Besitz von Kitty Wenckebach (siehe Geschenke aus warmer Hand, Erinnerungen an Kitty Wenckebach) und durch viele kleine und größere Spenden der Elternschaft. Der öffentliche Anteil bestand in der Überlassung des Gartens als Baugrund. 1971 fand die Grundsteinlegung statt, 1973 die Eröffnung des neuen Kindergartens – ein Höhepunkt im Wirken von Bronja Zahlingen. Von Anfang an mit dem Aufbau und der Entwicklung der ersten Schule in Wien verbunden, lebte und arbeitete Zahlingen nun in räumlicher Nähe und enger Verbindung mit der Schule, in der sie in den unteren Klassen frei-christlichen Unterricht gab und die Schulhandlungen betreute. Bronjas sprachliche Schöpfungen – Verse und Reigenspiele, Gedichte und Geschichten – flossen immer von Neuem in den Kindergartenalltag ein, ebenso eine Fülle von Puppenspielen, poetische und heitere, mit einfachsten Mitteln hervorgebracht. Vielleicht war es gerade das Schlichte, das Echte, womit sie Kinder und Erwachsene verzaubern und ganz und gar in das Reich der Fantasie hineinführen konnte. Mit leichter Hand entstanden die wechselnden Wolle-Bilder an den Wänden und viele, viele Generationen von Puppen in jeder Größe, Engel und Tiere, Zwerge und Elfen sowie Gestalten der Weihnachtsgeschichte. Auf der Bühne des Festsaales der Maurer Schule hatten diese ihren Ehrenplatz bei den Adventbasaren, immer öfter ergänzt durch Erzeugnisse von Müttern und Helfern aus ihren Puppennähkursen. In der letzten Epoche von Bronjas Arbeitsleben erweiterte sich ihr Wirken durch Kurse und Beratung der wachsenden Kindergartenbewegung in den USA, wie überhaupt ihre Beziehung zu Menschen des englischen Sprachraums und zur englischen Sprache selbst sehr stark ausgeprägt war. Den Aufbau der internationalen Vereinigung der Waldorfkindergärten hat Bronja Zahlingen von Anfang an mitgestaltet, schon 1957 und 1958 nahm sie an den ersten Tagungen

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Grande Valse

in Hannover teil, bis 1990 war sie im Vorstand der Vereinigung tätig. So weitete sich der Umkreis, in dem sich ihre Lebensaufgabe entfaltete: dem Kindsein Raum zu geben in dieser Welt, dass sich aus ihm Menschsein erbilde. Dieser Aufgabe diente Bronja Zahlingen aus dem Born ihres eigenen Kindseins ein Leben lang. Bildnachweis: Archiv Karl Hruza

Ko n g r e s s e b e r e i t e n d i e S c h u l e vo r

TR: Der Gründung des Waldorfkindergartens stellte gewissermaßen einen Auftakt dar. Wie gestaltete sich aber die Öffentlichkeitsarbeit in Vorbereitung der Schulgründung und danach? EG: Da gab es pädagogische Kurse und Seminare, dann aber war ein allgemeiner Kongress bedeutsam, im Jahre 1961, zum 100. Geburtstag Rudolf Steiners. In der Vorbereitung dieses Kongresses war ich stark engagiert. Es ist Kitty Wenckebach zu danken, dass zu der großen Ausstellung „Rudolf Steiner – Leben und Werk“ zusätzlich Räume in der Secession angemietet werden konnten für eine Sonderausstellung über die Waldorfpädagogik, die von Georg Dönges, einem Waldorflehrer aus Wuppertal, arrangiert wurde. Diese Ausstellung innerhalb des Kongresses war ein entscheidendes Vorbereitungsereignis zur Schulgründung. Vormittags fanden in der Secession – und sie war voll! – Referate zu den Lebensgebieten statt, die durch Anthroposophie impulsiert wurden. Abends standen Vorträge zum Lebenswerk Rudolf Steiners im Mozartsaal des Konzerthauses am Programm; viele Redner waren Vorstandsmitglieder am Goetheanum. Das war vielleicht das größte Öffentlichkeitsereignis nach dem Krieg. TR: Gab es davor oder danach noch andere öffentliche anthroposophische Kongresse? EG: Natürlich – im Jahre 1955, 33 Jahre nach dem Wiener West-Ost-Kongress, gab es eine erste große öffentliche Tagung nach 1945, im Musikverein und im Apollotheater, mit dem Thema „Der künstlerisch-therapeutische Impuls der Mitte“. 1972 fand eine Pfingsttagung statt zum Thema „Anthroposophie – befeuernd gestalten, gestaltend befeuernd; 50 Jahre West-OstKongress“. 1979 ging es bei dem Goetheanum-Kongress „Anthroposophie und die Menschheitsaufgabe Europas“ in der Hofburg um das Motiv: Wie kann der künstlerisch-therapeutische Impuls der Mitte entwickelt werden und wo ist er gefährdet? Und 1991, also nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs im Jahre 1989, fand eine öffentliche Goetheanum-Tagung in Lockenhaus statt.

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K i t t y W e n c k e b ac h – G e s c h e n k e a u s wa r m e r H a n d Elisabeth Gergely Kitty Wenckebach war die Geburtshelferin der Waldorfschule in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg. Selbst kinderlos, umfasste ihre Liebe viele, viele Kinder, die sie durch Kindergarten und Schulzeit und weiterhin durch ihr Lebensschicksal anteilnehmend begleitete. Im Jahre 1899 in Utrecht geboren, wuchs Kitty Wenckebach in einem weitherzigen Eltern­haus heran. Den Berufswegen des Vaters folgend – er war Arzt und eine weithin anerkannte Kapazität, übersiedelte die Familie nach Straßburg, später nach Wien. Hier wurde Professor Karel Frederik Wenckebach 1916 in das Konzilium um den greisen Kaiser Franz Josef berufen; der Arzt zählt heute zu den Wegbereitern der Wiener Medizinischen Schule. Kitty Wenckebach fühlte sich ihrem Vater zeitlebens verbunden und verdankte ihm wohl auch manche Anregung für die eigene Neigung zur Naturwissenschaft, die zunächst in einem Botanikstudium ihren Ausdruck fand. Weite Interessen und weite Geselligkeit prägten den Lebensstil von Kitty Wenckebach auch in der Zeit ihrer Ehe. Erst zu Beginn des siebten Lebensjahrsiebts fand eine sie lebenswendende Menschenbegegnung statt, die ihr den Zugang zur Anthroposophie eröffnete. Der Rudolf-Steiner-Schulverein war wohl 1945 wieder angemeldet worden, doch fehlte damals offenbar die Kraft, konkret auf eine Schulgründung hinzuarbeiten. Man darf im Rückblick auch nicht vergessen, dass Österreich von 1945 bis zur Unterzeichnung des Staatsvertrages im Jahre 1955 von den Siegermächten besetzt war. Wien und der Osten Österreichs zählten damals zur sowjetischen Besatzungszone. Aber immerhin wurden verschiedene Ausgleichskurse für Kinder eingerichtet, die öffentliche Schulen besuchten. Ein kleines Kollegium um den schon in der ersten Rudolf-SteinerSchule beliebten Josef Dworschak bot künstlerische und kunsthandwerkliche Tätigkeiten in reicher Auswahl an. Dafür stellte die Anthroposophische Gesellschaft Räume in der Tilgnerstraße im 4. Bezirk zur Verfügung. Erst als Kitty Wenckebach gemeinsam mit der Autorin dieses Beitrages eine Tagung am Goetheanum besuchte und dort – tief beeindruckt durch eine große pädagogische Ausstellung – sich der weiteren Arbeit zur Verfügung stellte, wurde das Ziel der Schulgründung konkret. Zunächst wurden in dem 1955 gegründeten Kindergarten die notwendigen Räume errichtet (siehe Bronja Zahlingen – Leben und Wirken). Als Vorsitzende des Rudolf-Steiner-Schulvereines bemühte sich Kitty Wenckebach um eine groß angelegte Öffentlichkeitsarbeit. Der Boden war also gut vorbereitet, auf dem das Ehepaar Agnes und Tobias Kühne im Verein mit weiteren Familien im Jahre 1963 für ihre schulreif gewordenen Kinder die Keimle-

Kitty Wenckebach – Geschenke aus warmer Hand

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gung mit häuslichem Waldorfunterricht vollzogen (siehe Der Ruf aus dem Osten – von Kolumbien nach Wien). Der im verborgenen gepflanzte Keim trat im Jahr 1966 durch die offizielle Schulgründung ans Licht: In einem Flügel eines öffentlichen Schulhauses in Wien-Meidling wurde der Unterricht in vier Klassen aufgenommen. Die Klassenräume waren von der Stadt Wien für zwei Jahre zur Verfügung gestellt, der recht­liche Status des „Häuslichen Unterrichts“ blieb bestehen, sodass am Ende jedes Schuljahres Prüfungen an einer öffentlichen Schule abgelegt werden mussten (was für Schüler und Lehrer eine starke Belastung darstellte). Drei Frauen (Wenckebach, Zimmermann (siehe Kitty Wenckebach Aus dem Leben von Eleonora Zimmermann), Gergely) rodeten unerschütterlich und trotz heftiger Widerstände und Widrigkeiten die schulbehörd­lichen Wege und machten sie allmählich gangbar. Schließlich erreichten sie im Jahre 1968 die Überlassung des renovierungsbedürftigen „Maurer Schlössl“ im 23. Wiener Gemeindebezirk als neue Heimstätte für die Schule. In einem überwältigenden Einsatz von Eltern, Lehrern und Freunden wurde das Maurer Schlössl instand gesetzt und den Bedürfnissen der Schule entsprechend verändert und eingerichtet. Kitty Wenckebach fand sich fast täglich auf der Baustelle ein und bereitete mit einer improvisierten Feldküche im Hof des Bauwerks für die vielen freiwilligen Helfer Mahlzeiten zu. Mit einem großen Fest wurde der Beginn einer neuen Lebensepoche eingeleitet, als im Herbst 1969 die Schule mit damals sieben Klassen das „eigene“ Schulhaus – von der Stadt Wien „zu Lehen“ – ergreifen konnte. Die Schule wuchs und Jahr um Jahr vermehrte sich auch das Kollegium um neue Lehrer. Nachdem die Schule nun dauerhaft in Wien-Mauer angesiedelt war, galt es, einen schulnahen Kindergarten zu errichten. Wieder war es Kitty Wenckebach, die ein kostbares Bild aus ihrem Privatbesitz verkaufte und mit dem erzielten Erlös den Grundstock für den Bau des Kindergartens legte. Als später noch einmal Hilfe für die Schule Not tat, verkaufte Wenckebach ihr geliebtes Gärtchen in Grinzing – sie hatte es jahrelang mit Sorgfalt und stets erneuerter Freude an allem, was da wuchs und lebte, betreut. Das Geschenk aus der warmen Hand ist doch das ­eigentliche Geschenk – das war Kitty Wenckebachs Überzeugung. Danach handelte sie, ohne viel Aufhebens davon zu machen.

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Joos de Momper, Landschaft (ursprünglich im Besitz von K. Wenckebach)

Als sich Kitty Wenckebach mehr und mehr von der aktiven Schulvereinsarbeit zurückzog, entdeckte sie neue Fähigkeiten und auch neue Freuden an allen schönen Dingen, die sie mit großem Fleiß für den Maurer Adventbasar hervorbrachte. So war sie bis zuletzt für die Schule tätig und mit nimmermüdem Interesse dem Schul- und Kindergartenleben in Mauer und später in der zweiten Schule in Pötzleinsdorf verbunden. Im Jahre 1988 starb Kitty Wenckebach. Ihre letzte Schenkung, die „Schenkung auf den Todesfall“, erlaubte es, den letzten noch möglichen Ausbau des Maurer Schlössl zu vollziehen, den Ausbau des Dachbodens. Und wieder war es eine Landschaft, ein niederländisches Bild von Joos de Momper, dessen Verkauf die entscheidende Finanzierungshilfe einbrachte. Auch eine Aufbauhilfe für eine neue werdende Schule, damals in Mödling (heute: RudolfSteiner-Landschule Schönau) konnte aus dieser Schenkung weitergegeben werden. So ist das Werden der Rudolf-Steiner-Schule Wien-Mauer und ihrer Raumgestalt und darüber hinaus das Werden der österreichischen Waldorfschulbewegung auf das innigste verwoben mit dem Wesen von Kitty Wenckebach, ihrer Opferbereitschaft und ihrer schenkenden Güte. Bildnachweis: Archiv Karl Hruza

S c h u l g r ü n d u n g a l s K u lt u r i mpu l s

TR: Du hast in diesem Lebensbild über Kitty Wenckebach weit ausgeholt und den Beginn der Schule mit dem Ehepaar Kühne geschildert. Inwieweit war die Gründung eine Elterngründung? EG: Wir haben es als anthroposophischen Kulturimpuls empfunden, eine Schule zu gründen. Tobias Kühne war natürlich ganz entscheidend, er vereinigte seinen Impuls mit dem, was aus und auf dem Boden der anthroposophischen Arbeit inzwischen gewachsen war. Die Schule war auch keine Lehrergründung. Denn Nora Zimmermann war noch nicht Lehrerin, Kitty Wencke­ bach hatte keine Kinder und war auch nicht Lehrerin, ich hatte zu große Kinder und war ebenfalls nicht Lehrerin.

Au s d e m L e b e n vo n E l e o n o r a Z i mm e r m a n n Elisabeth Gergely Noch war Österreich ein Kaiserreich, weithin über die Völker gespannt – Böhmen und Mähren, Ungarn, große Teile des Balkans und der Norden Italiens zählten dazu, inmitten der kleine deutschsprachige Teil, das eigentliche Österreich, und darin als Zentrum die Residenzhauptstadt Wien. Hier wurde am 3. März 1916 Eleonora Zimmermann geboren. In diesem Jahr – dem Todes­ jahr des greisen Kaisers – zeichnete sich für viele bereits ab, dass die Mittelmächte gegen die Übermacht der Gegner in Ost und West nicht standhalten könnten, dass der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn zerfallen könnte. Eleonora Zimmermann wuchs in großbürgerlichem Milieu heran – ihr Großvater mütterlicherseits war der bedeutende Geologe Eduard Sueß. Sie studierte Sprachen, von Jugend an erfüllt von Weltinteresse. Das Kriegsende und die erste Nachkriegszeit erlebte Eleonora Zimmermann mit ihren drei Kindern in Oberösterreich, in unmittelbarer Nähe des Gutes von Graf Ludwig PolzerHoditz – eine Schicksalsrune, die ihr erst Jahre später bewusst wurde: Denn Ludwig PolzerHoditz war ein bedeutender Mitarbeiter Rudolf Steiners gewesen. Er übergab 1917 seinem Bruder, der Kabinettschef bei Kaiser Karl, dem letzten Kaiser war, Rudolf Steiners Manifest zur Neuordnung Österreichs nach dem Zerfall der Monarchie.

S c h u l g r ü n d u n g a l s K u lt u r i mpu l s

TR: Du hast in diesem Lebensbild über Kitty Wenckebach weit ausgeholt und den Beginn der Schule mit dem Ehepaar Kühne geschildert. Inwieweit war die Gründung eine Elterngründung? EG: Wir haben es als anthroposophischen Kulturimpuls empfunden, eine Schule zu gründen. Tobias Kühne war natürlich ganz entscheidend, er vereinigte seinen Impuls mit dem, was aus und auf dem Boden der anthroposophischen Arbeit inzwischen gewachsen war. Die Schule war auch keine Lehrergründung. Denn Nora Zimmermann war noch nicht Lehrerin, Kitty Wencke­ bach hatte keine Kinder und war auch nicht Lehrerin, ich hatte zu große Kinder und war ebenfalls nicht Lehrerin.

Au s d e m L e b e n vo n E l e o n o r a Z i mm e r m a n n Elisabeth Gergely Noch war Österreich ein Kaiserreich, weithin über die Völker gespannt – Böhmen und Mähren, Ungarn, große Teile des Balkans und der Norden Italiens zählten dazu, inmitten der kleine deutschsprachige Teil, das eigentliche Österreich, und darin als Zentrum die Residenzhauptstadt Wien. Hier wurde am 3. März 1916 Eleonora Zimmermann geboren. In diesem Jahr – dem Todes­ jahr des greisen Kaisers – zeichnete sich für viele bereits ab, dass die Mittelmächte gegen die Übermacht der Gegner in Ost und West nicht standhalten könnten, dass der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn zerfallen könnte. Eleonora Zimmermann wuchs in großbürgerlichem Milieu heran – ihr Großvater mütterlicherseits war der bedeutende Geologe Eduard Sueß. Sie studierte Sprachen, von Jugend an erfüllt von Weltinteresse. Das Kriegsende und die erste Nachkriegszeit erlebte Eleonora Zimmermann mit ihren drei Kindern in Oberösterreich, in unmittelbarer Nähe des Gutes von Graf Ludwig PolzerHoditz – eine Schicksalsrune, die ihr erst Jahre später bewusst wurde: Denn Ludwig PolzerHoditz war ein bedeutender Mitarbeiter Rudolf Steiners gewesen. Er übergab 1917 seinem Bruder, der Kabinettschef bei Kaiser Karl, dem letzten Kaiser war, Rudolf Steiners Manifest zur Neuordnung Österreichs nach dem Zerfall der Monarchie.

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Hier reifte in Eleonora Zimmermann ein Entschluss in ihrer suchenden Seele. Angesichts der tiefgreifenden Zerstörung der mitteleuropäischen Kultur wollte sie fortan nicht mehr nur für einen persönlichen Umkreis leben. Ihr Leben sollte einer menschlichen Aufgabe dienen, einem mensch­ lichen Ziele gewidmet sein. Jahre intensiven Suchens in den Geistesströmungen der Gegenwart folgten. Wo war der Geisteslehrer, der ihr das ersehnte Lebensziel weisen konnte? Die innere Suche führte Zimmermann auch auf ausgedehnte Reisen – nach Griechenland und Ägypten. Dort, im Land am Nil, in Assuan – es war der letzte Tag ihrer Reise – begegnete Eleonora Zimmermann einem Menschen – selbst im Freundeskreis erwähnte sie seinen Namen nicht –, der ihr Nora Zimmermann auf ihre brennenden Fragen Anworten geben konnte und ihr deshalb Rudolf Steiner als den Geisteslehrer nannte, den sie in Wahrheit suche. Nach einer schweren, aus Ägypten mitgebrachten Krankheit, begann Eleonora Zimmermann Ende der Fünfzigerjahre mit der anthroposophischen Studienarbeit und nahm an den Einführungskursen von Kitty Wenckebach teil. Eine Gruppe von Menschen arbeitete damals intensiv auf die Gründung einer RudolfSteiner-Schule in Wien hin. 1961 weilte der Stuttgarter Waldorflehrer und Vorsitzende des Deutschen Bundes der Waldorfschulen, Ernst Weißert, zu einem Vortrag in Wien. Ein Gespräch zwischen ihm und Zimmermann führte zu ihrem Entschluss, Waldorflehrerin zu werden. In ihrem 46. Lebensjahr folgte eine Studienzeit am Waldorfseminar in Dornach und Stuttgart, erste Sprachlehrerpraxis an der Münchner Schule und 1966 die Rückkehr nach Wien. Hier absolvierte sie die zweijährige staatliche Lehrerausbildung an der Pädagogischen Akademie, um von der Schulbehörde als Repräsentantin der Rudolf-Steiner-Schule Wien anerkannt zu werden. 1968 begann Eleonora Zimmermann ihren ersten Klassenzug, den sie 1976 mit einem selbstverfassten Klassenspiel abschloss, das den Bau des Gotthardtunnels als Wirksamkeit des Zeitgeistes zum Thema hatte. Ohne sich eine Pause zu gönnen, begann sie im Herbst – in ihrem 61. Lebensjahr – mit einer neuen ersten Klasse. Ihr Wirken erweiterte sich über ihre Tätigkeit an der Wiener Schule hinaus. Sie war mit großem Einsatz innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft tätig und betreute junge Schulen in den Bundesländern. Mitten aus ihrer engagierten pädagogischen Tätigkeit – am Vorabend hatte sie noch im berufsbegleitenden Lehrerseminar unterrichtet – wurde sie aus

Aus dem Leben von Eleonora Zimmermann

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dem Leben gerissen. So plötzlich und unerwartet, dass es Kinder, Eltern und Kollegen kaum glauben konnten. Vielen Kindern, vielen Kollegen blieb und bleibt sie großes Vorbild. Bildnachweis: Archiv Karl Hruza

D e r Ruf a u s d e m O s t e n – vo n Ko l um b i e n nach Wien Tobias Kühne

„Ein Einzelner hilft nicht, sondern wer sich mit vielen zur rechten Stunde vereinigt“ J. W. Goethe

Mein Bezug zur Rudolf-Steiner-Schule fing schon in allerfrühester Kindheit an: Als einjähriges Kind musste ich die paradiesische Umgebung des kleinen Dorfes in der Niederlausitz, in dem ich geboren wurde, verlassen, weil mein ältester Bruder ins Schulalter kam und meine Mutter fand, dass er unbedingt eine Rudolf-Steiner-Schule besuchen sollte. Durch ihre beiden Brüder, die ihr Leben lang als Schauspieler am Dornacher Goetheanum tätig waren, hatte sie schon in ihrer Jugend die Anthroposophie kennengelernt. Um das Jahr 1930 zogen wir nach Berlin um, die dortige Schule war kurz vorher gegründet worden. Die beginnenden Dreißigerjahre waren eine schwere Zeit, es gab viel Arbeitslosigkeit und soziale Spannungen. Die Nationalsozialisten traten immer deutlicher in Erscheinung, und es war vielen klar, dass im Falle einer Machtübernahme dieser Partei die junge Waldorfschulbewegung kaum Chancen haben würde weiterzubestehen. 1935 kam ich als jüngster von drei Brüdern auch in die Schule. Ich hatte von Pankow aus, wo wir damals wohnten, mit der S-Bahn einen weiten Schulweg. Unsere erste Klasse war die letzte, die vom nationalsozialistischen Regime noch erlaubt wurde. Nach einigen Wochen wurde unser Klassenlehrer unheilbar krank – wir waren plötzlich verwaist. Es ging ein Notruf nach Stuttgart und Charlotte Brög machte sich auf den Weg, um sich unserer anzunehmen. Ich betrachte es als ein besonderes Geschenk des Schicksals, dass ich ihr vor einigen Jahren wieder begegnen konnte. Sie erzählte mir recht drastisch von ihrem ersten Zusammentreffen mit unserer schon reichlich verwilderten Klasse. Wir liebten sie. Allerdings währte die Freude nur drei Jahre, denn der politische Horizont verfinsterte sich zusehends und die Waldorfschulen wurden verboten (siehe Die Besetzung Österreichs, Überlebenskampf der Rudolf-Steiner-Schule). Um den Anschluss an die Höhere Schule zu erleichtern, wurde unserer Klasse ein einjähriger Umschulungskurs zugestanden, den Ernst Weißert leitete (siehe Aus dem Leben von Eleonora Zimmermann). Die Umschulung ging problemlos vonstatten. Im 2. Weltkrieg wurde die Familie in den Strudel der Ereignisse gerissen, die Brüder wurden Soldaten, die Wohnung brannte aus, wir mussten Berlin verlassen. Im letzten Kriegsjahr

Der Ruf aus dem Osten – von Kolumbien nach Wien

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wurde ich als Luftwaffenhelfer eingesetzt (mit 15 Jahren!), wir sollten unter anderem auch den Stuttgarter Flugplatz gegen Fliegerangriffe verteidigen. Ich ahnte nicht, wie nahe ich mich dem Herzen der Waldorfbewegung befand, geschweige denn, wie bald ich dort wieder zur Schule gehen würde. Nach dem Kriegsende fanden wir uns in Oberbayern wieder und es wurde beraten, wo ich meine zwei letzten Schuljahre verbringen sollte. Eine Anfrage an die Stuttgarter Waldorfschule wurde positiv beantwortet. Da großer Andrang herrschte, kam ich in die eben errichtete B-Klasse. Welch freudige Überraschung – sie wurde von Ernst Weißert betreut. Der Beginn war für den sich als müden Krieger empfindenden Jüngling gar nicht so einfach. Wieder Eurythmie! Das dafür geeignete Schuhwerk gab es ja nicht, viele erschienen mit ihren Nagelstiefeln und das ABC mit den Armen darzustellen, schien uns sehr merkwürdig. Über den unmittelbaren Nachkriegsjahren – in einer äußerlich sehr tristen Zeit – lag auch der Glanz des neuen Erwachens, des tatkräftigen Einsatzes. Die 11. und 12. Klasse gingen schnell vorbei. In der A-Klasse – die Stuttgarter Waldorfschule war doppelzügig – hatte ich meine zukünftige Frau Agnes wahrgenommen. Ihr Vater war einer der Gründungspriester der Christengemeinschaft gewesen. Es folgte das Musikstudium, verbunden mit einem dreijährigen Aufenthalt in Paris. Wir heirateten und gingen für drei Jahre als Musiklehrer nach Südamerika, unser Sohn Markus kam dort zur Welt. Da wir beides kennengelernt hatten, sowohl die Waldorfschule als auch die öffent­liche Schule, war es für uns keine Frage, wie wir unsere Kinder erzogen haben wollten. Der Schwager meiner Frau sowie mein Bruder waren Waldorflehrer, sodass wir auch dadurch mit dieser Bewegung verbunden waren. Wir verlängerten daher unsere Verträge in Südamerika nicht und kehrten nach Stuttgart zurück.

Neue Heimat, schon wieder ohne Waldorfschule Im Herbst 1959 kam die Anfrage, ob ich nicht im folgenden Jahre an der Wiener Musikakademie eine Celloklasse übernehmen wollte. Schnell wurde „gerechnet“: In Wien gab es rege anthroposophische Arbeit, eine florierende Eurythmieschule, Christengemeinschaft, zwar keine Waldorfschule, aber doch einen Kindergarten und einen Schulverein. Markus war noch nicht drei Jahre alt – eine Schulgründung würde bis 1963, bis zu seiner Schulreife, schon zu schaffen sein. Im Herbst 1960 begann ich die Arbeit an meiner neuen Wirkungsstätte. Bald fand ein Besuch bei Kitty Wenckebach, der Vorsitzenden des Schulvereins, statt, bei welchem ich meine Dienste anbot. Im Jahre 1962 wurde ich in den Vorstand kooptiert und lernte auf

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diese Weise die besonderen Wiener Umstände kennen. Der Schulverein bot damals Kindern, die die öffentlichen Schulen besuchten, an Nachmittagen Kurse in Eurythmie, Malen, Handarbeiten usw. an. An die Gründung einer Schule wurde noch nicht konkret gedacht. Sehr wichtig erschien nun das Ausschauhalten nach Lehrern, die sich einer künftigen Schule verbinden würden. Obgleich damals das Wachstum der Waldorfschulen in keiner Weise mit der heutigen Expansion vergleichbar ist, gab es gleichwohl viel zu wenige Lehrer. Wir nahmen Kontakt auf mit Österreichern, die als Lehrer an deutschen Waldorfschulen tätig waren. Ebenso wichtig war das Schaffen von Verbindungen zu jungen Menschen, die bereits auf dem Weg waren, den Lehrerberuf zu ergreifen, oder solchen, die sich vorstellen Tobias Kühne, 1960 konnten, einmal in einer Waldorfschule zu unterrichten. So wurden seminaristische Wochenenden zur Einführung in die Waldorfpädagogik veranstaltet. Gleichzeitig wurden bedeutende Waldorfpädagogen eingeladen, öffentliche Vorträge zu halten, so z. B. auch Herbert Hahn, einer der Gründungslehrer der Stuttgarter Waldorfschule. Die Vorträge fanden teilweise in der Albertina, teilweise in der Urania statt. Trotz dieser vielversprechenden Vorarbeiten mussten wir zur Kenntnis nehmen, dass mit einer Schulgründung bis zu dem von uns erhofften Termin nicht gerechnet werden konnte. Das bedeutete für unsere Familie die Konfrontation mit weitreichenden Entscheidungen. Da ich meine Tätigkeit an der Wiener Musikhochschule (damals hieß sie noch „die Akademie“) nicht aufgeben und daher Wien nicht verlassen wollte, mussten wir nach anderen Lösungen für den Schulbesuch unseres Sohnes suchen. Wir verfielen auf den Gedanken ­eines Privatunterrichts und es fanden sich sieben Elternpaare, die in einer ähnlichen Situation waren und glaubten, dass es für die Kinder in jedem Fall gut sei, ein oder zwei Jahre einen Waldorfunterricht zu bekommen. Es war ja noch ganz ungewiss, ob es in Wien in abseh­ barer Zeit zu einer Schulgründung kommen würde. Nun musste ein Lehrer gefunden werden, der diese kleine Gruppe betreuen würde. Wir suchten Ernst Weißert in Stuttgart auf, aber der zeigte sich gar nicht begeistert von unserer Initiative – der akute Lehrermangel lastete schwer auf der Schulbewegung. Er ließ aber durchblicken, wie sehr man eine Wiederbegründung der Rudolf-Steiner-Schule gerade in Wien begrüßen würde.

Der Ruf aus dem Osten – von Kolumbien nach Wien

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Das Jahr 1963 nahm seinen Lauf, ohne dass eine geeignete Lehrerpersönlichkeit gefunden werden konnte. Diese sollte „alles“ können und möglichst „preiswert“ sein, das heißt, wir stellten uns jemanden vor, der den Schuldienst schon verlassen hatte, eine Pension bezog und die Aufgabe eines häuslichen Unterrichts gerne übernommen hätte. Das schien denn doch zu viel vom Schicksal verlangt gewesen zu sein, denn der Sommer kam und einige der interessierten Eltern resignierten. Endlich, mitten in den Ferien, kam das erlösende Telegramm: Wir hatten unseren Schulmeister (und was für einen!) gefunden. Helmut Gurlitt wollte Helmut Gurlitt, 1895–1973 sich gerade aus dem aktiven Leben zurückziehen, als ihn unser Ruf erreichte. Gurlitt war Waldorflehrer in Dresden gewesen und bezog eine kleine Rente, er hatte ferner eine Ausbildung als akademischer Maler und sprach fließend Englisch und Französisch. Jetzt musste alles schnell gehen, denn der Herbst nahte. Eine der drei noch übriggebliebenen Familien stellte im 2. Bezirk eine kleine Wohnung für Herrn Gurlitt zur Verfügung. Dort fand auch der Unterricht statt. Der „Klassenraum“ prangte bald in den vorgesehenen Farben, der Schulverein stellte die nötigen Schulmöbel zur Verfügung und es bildete sich ein kleines Kollegium. Herbert Klose gab Musik, Sigrid Kudlik Handarbeit und Eurythmie. So konnte der für die erste Klasse vorgesehene Lehrplan in allen Fächern erfüllt werden. Die ersten Schüler waren Martina Schirmer, Johannes Steinbach und unser Sohn Markus, die im Herbst 1963 zum ersten Mal in die Schule gehen konnten. Schon nach einem Jahr meldeten Geschwister ihre Ansprüche an. Herr Gurlitt betreute nun, ähnlich wie früher manche Dorfschullehrer, zwei Altersstufen. Nach dem zweiten Jahr wurde eine weitere Lehrkraft gefunden, Sieglinde Muß, jetzt Wendt, übernahm nun die 1. und 2. Klasse und die Küche wurde als Unterrichtsraum für die dritte Klasse eingerichtet. Als nach drei Jahren die Rudolf-Steiner-Schule in Meidling ihre Tore öffnete, kamen elf der dreiunddreißig Kinder aus unserem Privatunterricht. Rückschauend kann man voll Erstaunen erkennen, wie sich Stein an Stein fügte und, um auf das eingangs erwähnte Zitat zurückzukommen: „Es hatten sich viele zur rechten Stunde vereinigt zu gemeinsamem Handeln“. Bildnachweis: Archiv Tobias Kühne

D i e d r e i Ru d o l f i n e n g r ü n d e n

TR: Nach dem ersten „Taktschlag“ des häuslichen Unterrichts sind wir also im Jahr 1966 angelangt, dem Jahr der zweiten Schulgründung, fast 40 Jahre nach der Eröffnung der ersten Rudolf-Steiner-Schule in Wien. Wie wurde diese Neugründung in der Öffentlichkeit wahrgenommen? EG: Die Schulgründung in Meidling war zunächst ein von der Presse überhaupt nicht beachteter Beginn, eine ganz stille Sache – obwohl es die erste nichtkonfessionelle freie Schule war. Unbeachtet blieb auch die Mühsal der „Rodungsarbeit in den Bürokratiezentren“. Wir drei, also Nora Zimmermann, Kitty Wenckebach und ich, später mehr und mehr ich allein – waren bei unseren Besuchen im Stadtschulrat und im für das Bildungswesen zuständigen Ministerium immer wieder konfrontiert mit völliger oder fast völliger Unkenntnis in Bezug auf Waldorfpädagogik und Rudolf Steiner. Wir mussten Basisarbeit leisten. Der früh verstorbene Dr. Seeger, Jurist des Stadtschulrates, gab uns Dreien den Ehrennamen „die Rudolfinen“. Die „Ursulinen“ gab es ja schon als konfessionelle Schulen – und wir wurden nun als die „Rudolfinen“ eingeordnet.

Au s h äu s l i c h e m U n t e r r i c h t g e b o r e n – d e r B e g i n n d e r Ru d o l f - S t e i n e r - S c h u l e W i e n 1 9 6 6 Sieglinde Wendt

Wie die Familien Kühne, Schirmer und Steinbach es zuwege gebracht haben, den Vortakt für eine große Waldorfschule zu schaffen, ist im Beitrag von Tobias Kühne nachzulesen. Im Sommer 1965 bekniete mich Frau Kühne, in Anbetracht der baldigen Schulgründung Herrn Gurlitt zu helfen und eine neue erste Klasse gemeinsam mit der bestehenden zweiten Klasse einzurichten. Ich verzichtete schweren Herzens auf meine Eurythmieausbildung, die ich gerade begonnen hatte, und betreute die kleine Kinderschar ein Jahr lang in einem Zimmer der uns zur Verfügung gestellten Wohnung, während Gurlitt mit seiner jetzt schon dritten Klasse in die winzige Küche übersiedelte. Neun Kinder in den kleinen Räumen! Es war oft wie in einem Bienenstock, eine fröhlich-bewegte Schar. Aber es wurde tüchtig gelernt, gesungen, gemalt, geschrieben, gespielt und gelesen.

D i e d r e i Ru d o l f i n e n g r ü n d e n

TR: Nach dem ersten „Taktschlag“ des häuslichen Unterrichts sind wir also im Jahr 1966 angelangt, dem Jahr der zweiten Schulgründung, fast 40 Jahre nach der Eröffnung der ersten Rudolf-Steiner-Schule in Wien. Wie wurde diese Neugründung in der Öffentlichkeit wahrgenommen? EG: Die Schulgründung in Meidling war zunächst ein von der Presse überhaupt nicht beachteter Beginn, eine ganz stille Sache – obwohl es die erste nichtkonfessionelle freie Schule war. Unbeachtet blieb auch die Mühsal der „Rodungsarbeit in den Bürokratiezentren“. Wir drei, also Nora Zimmermann, Kitty Wenckebach und ich, später mehr und mehr ich allein – waren bei unseren Besuchen im Stadtschulrat und im für das Bildungswesen zuständigen Ministerium immer wieder konfrontiert mit völliger oder fast völliger Unkenntnis in Bezug auf Waldorfpädagogik und Rudolf Steiner. Wir mussten Basisarbeit leisten. Der früh verstorbene Dr. Seeger, Jurist des Stadtschulrates, gab uns Dreien den Ehrennamen „die Rudolfinen“. Die „Ursulinen“ gab es ja schon als konfessionelle Schulen – und wir wurden nun als die „Rudolfinen“ eingeordnet.

Au s h äu s l i c h e m U n t e r r i c h t g e b o r e n – d e r B e g i n n d e r Ru d o l f - S t e i n e r - S c h u l e W i e n 1 9 6 6 Sieglinde Wendt

Wie die Familien Kühne, Schirmer und Steinbach es zuwege gebracht haben, den Vortakt für eine große Waldorfschule zu schaffen, ist im Beitrag von Tobias Kühne nachzulesen. Im Sommer 1965 bekniete mich Frau Kühne, in Anbetracht der baldigen Schulgründung Herrn Gurlitt zu helfen und eine neue erste Klasse gemeinsam mit der bestehenden zweiten Klasse einzurichten. Ich verzichtete schweren Herzens auf meine Eurythmieausbildung, die ich gerade begonnen hatte, und betreute die kleine Kinderschar ein Jahr lang in einem Zimmer der uns zur Verfügung gestellten Wohnung, während Gurlitt mit seiner jetzt schon dritten Klasse in die winzige Küche übersiedelte. Neun Kinder in den kleinen Räumen! Es war oft wie in einem Bienenstock, eine fröhlich-bewegte Schar. Aber es wurde tüchtig gelernt, gesungen, gemalt, geschrieben, gespielt und gelesen.

Aus häuslichem Unterricht geboren

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Die Eltern wurden immer wieder zu kleinen Schulfeiern eingeladen, bei denen die Kinder ihr Können zeigten. Besonders bewunderten wir alle die kunstvollen Tafelbilder, die Helmut Gurlitt immer wieder geschaffen hatte. Auch sein kindlicher Humor ergötzte uns. Gerne lauschten wir seinen Geschichten. Gurlitt und ich, wir waren ein ungleiches Gespann: Er ein lebens- und welterfahrener alter Lehrer und ich eine junge Lehrerin aus dem Salzburger Gebirgsland, mit gerade fünfjähriger Staatsschulvergangenheit. Die Waldorfpädagogik hatte ich mit tiefer Sehnsucht und großem Ernst in vielen Sommerkursen in Stuttgart schon seit meinem 16. Lebensjahr aufgenommen und wollte nun weiter in sie hineinwachsen. Als im Erdgeschoß der Meidlinger Volksschule große Klassenräume angemietet werden konnten, waren viele Freunde zur Stelle, die halfen, die Räume für die vier Klassen in Waldorfklassenzimmer zu verwandeln. Im Herbst 1966 war es soweit. Das kleine Schulgrüppchen erweiterte sich, neue Kinder kamen hinzu. Lisbeth Ammeter übernahm die neue erste Klasse, ich die zweite, Helmut Gurlitt die dritte und Regine Kloiber (heute Tremmel) die vierte Klasse. Ab jetzt hatte jede Klasse ihren eigenen Lehrer. Eine Begebenheit aus meiner Klasse soll hier noch berichtet werden: Es standen gerade die Allerheiligentage bevor und ich teilte den Kindern mit, dass sie nun einige Tage schulfrei hätten – großer Protest! „Wir wollen aber in die Schule gehen“, erklärten die Kinder. Ich antwortete: „Das geht nicht, das Schulhaus ist geschlossen, der Schulwart wird uns nicht hereinlassen.“ Darauf ein Schulkind: „Dann lassen wir halt heimlich einen Fensterspalt offen und steigen durch das Fenster in die Klasse!“ ,,Ja!“, ertönte es freudig. In den ersten Jahren mussten wir zum Schulschluss noch Prüfungen ablegen; es kamen Lehrerinnen aus der Volksschule vom ersten Stock und forderten die Kinder auf, ihr Können zu zeigen. Schließlich sollten sie den sonnigen Schulhof in der Pause zeichnen, jedoch mit Bleistift. Die Kinder waren ratlos, so etwas hatte noch niemand von ihnen verlangt. Eines der Kinder, Andreas, schüttelte verwundert den Kopf: „A schwarze Sonn‘ – so was!“ Zu guter Letzt hatten alle bestanden. Abends waren wir mit viel Eifer in den Konferenzen. Doch um Punkt 21 Uhr ging jedes Mal die Türe auf und der Hausmeister stand wie ein Riese da und rasselte mit seinem großen Schlüsselbund: „Schluss für heute!“ Frau Senta Uebelacker, die Gründerin der Hamburger und Münchner Waldorfschule, besuchte uns mehrmals im Jahr, begleitete und beriet uns in den Klassen und baute ein geistiges Fundament für die neue Schule mit uns auf. Es war jedes Mal eine Festzeit für uns, wenn sie hier war.

Maurer Schlössl, Innenhof 1969

D i e n e u e H e i m s tat t – da s M a u r e r S c h l ö s s l TR: Wie verlief der Übergang zum Maurer Schlössl? EG: Als sich das Schuljahr 1967/68 dem Ende zuneigte und damit auch die Frist, die uns in dem öffentlichen Schulhaus gesetzt war, hatten wir immer noch keine neue Heimstatt gefunden. Eine neue Klasse wurde aufgenommen, obwohl niemand sagen konnte, wo nun wirklich im neuen Schuljahr – also in etwa fünf Monaten – der Unterricht stattfinden werde. Erst Mitte Juli stand eine kleine Menschengruppe vor dem Tor des Maurer Schlössls, das dem Schulverein von der Stadt Wien angeboten worden war, um das Gebäude zu besichtigen. Fünf Jahre lang war das Haus unbewohnt gewesen, Nässe, Witterung und Verwüstungen hatten schwere Schäden an der Bausubstanz dieses spätbarocken Gebäudes hervorgerufen. Die Stadt Wien plante damals eine Ju­gendherberge, es lag ein Kostenvoranschlag für den Umbau vor, der über 7 Millionen Schilling ausmachte. Der Schulverein verfügte zu dieser Zeit über ein Legat von 500.000 Schilling (ca. EUR 36.000). Dennoch wurde der Entschluss gefasst, die Rudolf-Steiner-Schule in diesem Haus anzusiedeln.

Die Renovierung des Maurer Schlössls

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Das Gebäude befand sich ursprünglich in kirchlichem Besitz, wurde im Jahre 1791 adeliger Herrschaftssitz und gewann damals seine heutige Gestalt: ein dreiflügeliger Bau, ­einen Ehren­ hof umschließend, sich zum Park öffnend. Auch der angrenzende Meierhof stammt aus dieser Zeit. 1937 wurde die Liegenschaft von der Gemeinde Mauer erworben. Der Park war öffentlich zugänglich und das Gebäude diente bis 1963 als öffentliche Volksschule. 1968 erwarb der Rudolf-Steiner-Schulverein das Mietrecht. Instandsetzung und räumliche Umgestaltung dauerten ein Jahr, sie wurden fast ausschließlich von freiwilligen Helfern durch­geführt. TR: Damit war der 3er-Takt erfüllt. EG: Du hast recht, ein Auftakt zu unserem „Walzer“ war die Kindergartengründung, dann begann der häusliche Unterricht, als nächstes kam die Meidlinger-Schule und als drittes das Maurer Schlössl. Bildnachweis: Archiv Karl Hruza

Die Renovierung des Maurer Schlössl s Paul Schütz Das Gebäude wurde von der Stadt Wien für einen symbolischen Schilling an den RudolfSteiner-Schulverein vermietet, jedoch mit der Auflage, dass die Sanierung, der Umbau und die weitere Gebäudeerhaltung vom Schulverein getragen und ausgeführt werden mussten. Die Sanierungsarbeiten wurden von Beamten der Magistratsabteilung 26 mit etwa 4,5 Millionen Schilling (ca. EUR 321.000) und einer Bauzeit von eineinhalb Jahren geschätzt. Nach der Schlüsselübergabe im November 1968 stand fest, dass die verbleibende Renovierungszeit bis zum folgenden Schulbeginn mit neun Monaten äußerst knapp bemessen war. Auch die Geldreserven waren mit 500.000 Schilling (ca. EUR 36.000) sehr bescheiden. Das Dach war an vielen Stellen undicht, die Schornsteine waren teils abbruchreif, die Fassade wies starke Mängel auf, viele Fenster und Türen waren zerbrochen. Am Ostflügel war, vermutlich durch einen Brand, die Außenmauer eingestürzt und der darüber befind­ liche Dachstuhl hatte sich abgesenkt. In allen Räumen lagen haufenweise Schutt und Unrat herum, der Keller war mit Bauschutt angefüllt. Es gab keinen Strom, kein Wasser, keine benutzbaren Toiletten – das ganze Haus war längere Zeit vollkommen offen, für jedermann frei zugänglich und voll der Witterung ausgesetzt gewesen.

Die Renovierung des Maurer Schlössls

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Das Gebäude befand sich ursprünglich in kirchlichem Besitz, wurde im Jahre 1791 adeliger Herrschaftssitz und gewann damals seine heutige Gestalt: ein dreiflügeliger Bau, ­einen Ehren­ hof umschließend, sich zum Park öffnend. Auch der angrenzende Meierhof stammt aus dieser Zeit. 1937 wurde die Liegenschaft von der Gemeinde Mauer erworben. Der Park war öffentlich zugänglich und das Gebäude diente bis 1963 als öffentliche Volksschule. 1968 erwarb der Rudolf-Steiner-Schulverein das Mietrecht. Instandsetzung und räumliche Umgestaltung dauerten ein Jahr, sie wurden fast ausschließlich von freiwilligen Helfern durch­geführt. TR: Damit war der 3er-Takt erfüllt. EG: Du hast recht, ein Auftakt zu unserem „Walzer“ war die Kindergartengründung, dann begann der häusliche Unterricht, als nächstes kam die Meidlinger-Schule und als drittes das Maurer Schlössl. Bildnachweis: Archiv Karl Hruza

Die Renovierung des Maurer Schlössl s Paul Schütz Das Gebäude wurde von der Stadt Wien für einen symbolischen Schilling an den RudolfSteiner-Schulverein vermietet, jedoch mit der Auflage, dass die Sanierung, der Umbau und die weitere Gebäudeerhaltung vom Schulverein getragen und ausgeführt werden mussten. Die Sanierungsarbeiten wurden von Beamten der Magistratsabteilung 26 mit etwa 4,5 Millionen Schilling (ca. EUR 321.000) und einer Bauzeit von eineinhalb Jahren geschätzt. Nach der Schlüsselübergabe im November 1968 stand fest, dass die verbleibende Renovierungszeit bis zum folgenden Schulbeginn mit neun Monaten äußerst knapp bemessen war. Auch die Geldreserven waren mit 500.000 Schilling (ca. EUR 36.000) sehr bescheiden. Das Dach war an vielen Stellen undicht, die Schornsteine waren teils abbruchreif, die Fassade wies starke Mängel auf, viele Fenster und Türen waren zerbrochen. Am Ostflügel war, vermutlich durch einen Brand, die Außenmauer eingestürzt und der darüber befind­ liche Dachstuhl hatte sich abgesenkt. In allen Räumen lagen haufenweise Schutt und Unrat herum, der Keller war mit Bauschutt angefüllt. Es gab keinen Strom, kein Wasser, keine benutzbaren Toiletten – das ganze Haus war längere Zeit vollkommen offen, für jedermann frei zugänglich und voll der Witterung ausgesetzt gewesen.

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Grande Valse

Die Männertruppe bekommt Essen (von Kitty Wenckebach)

In dieser trostlosen Situation entstand – fast wie ein Wunder – innerhalb der Generalversammlung des Schulvereins ein mächtiger Impuls zum Wiederaufbau des „Maurer Schlössls“. Begeistert erklärten zahlreiche Menschen spontan, mitmachen zu wollen – es waren Schul- und Kindergarteneltern, Angehörige aus ihrem Umkreis, Mitglieder und Sympathisanten, alles Menschen, die von der Idee der Gründung einer Waldorfschule in Wien, der Heimat Rudolf Steiners, ergriffen worden waren. Eine erste Arbeitsplanung wurde erstellt: In der kalten Jahreszeit, von November bis Ende Februar, mussten die Abbruchs- und Aufräumungsarbeiten ausgeführt werden. Und es war einsichtig, dass alle diese Arbeiten im Sinne einer Kostenminimierung in Eigenregie bewältigt werden mussten, mit Menschen, die unentgeltlich zur händischen Mithilfe bereit waren. Sobald eine Abschätzung der Maßnahmen für den weiteren Auf- und Ausbau möglich war, sollte dieser, nach sorgfältiger Planung, bis zum August so weit sein, dass dann noch knappe Zeit verbliebe zur Einrichtung der Schulräume. Die freiwilligen Hilfskräfte fanden sich spontan in drei „Arbeitsgruppen“ zusammen. Für die Aufräumungsarbeiten war die „Starke Männertruppe“ verantwortlich, die von November bis Juni jeden Samstag und Sonntag tätig war. Danach fand sich die zweite Gruppe, die „Damenrunde“, zu ihrem Einsatz ein – es waren Mütter von Schul- und Kindergartenkindern, auch ältere Damen aus dem anthroposophi-

Die Renovierung des Maurer Schlössls

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Mütter und Kinder bei der Fenstersanierung

schen Umfeld. Sie begannen mit staunenswerter Geduld und Ausdauer die Sanierung von Fenstern und Türen und dem schmiedeeisernen Stiegengeländer. In einer dritten Gruppe von „Individualisten“ übernahm jeder für sich eine Arbeit. Glücklicherweise meldeten sich dazu begabte Fachkräfte, wie Schlosser, Tischler, Portalbauer, Installateure und Maurer, die natürlich über ihre Arbeitszeit frei entschieden, jedoch in Abstimmung mit dem Ablauf des allgemeinen Programms. Die Arbeiten gestalteten sich wegen einer ungewöhnlichen Kältewelle von Dezember bis Februar schwieriger als angenommen. Aus Sorge um die Gesundheit der Helfer wurde ein eigener Arbeits-Turnus eingerichtet, der die Versorgung mit heißen Getränken möglich machte. Siehe da: Schon im Februar war das Schlössl, wie vorgesehen, von Schutt gereinigt, schadhafte Bauteile waren abgetragen. In der Erinnerung blieben zwei tatsächlich schwierig zu lösende Aufgaben: Um einen Festsaal mit entsprechender Größe gestalten zu können, musste eine fast einen Meter dicke Quermauer händisch, nur mit Hammer, Meißel und Spitzhacke abgetragen und der Dachstuhl um fast 30 Zentimeter mit einfachsten Mitteln gehoben werden. Unterdessen waren die Vorarbeiten an Türen und Fenstern so weit fertig, dass mit der Grundierung und Verglasung begonnen werden konnte. Die Lackierungsarbeiten erfolgten in den ersten „sauberen“ Räumen.

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o.: Die Rudolf-Steiner-Schule im Maurer Schlössl u.: Das Maurer Schlössl, Innenhof

Grande Valse

Die Renovierung des Maurer Schlössls

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Anfang März wurden die für den weiteren Ausbau notwendigen konzessionierten Unternehmen zur Besichtigung eingeladen, um ihre Kostenvoranschläge einbringen zu können. Bei den Verhandlungen ereigneten sich dann Situationen, die für Baufachleute eher unerwartet waren: Nicht nur die engen Terminvorstellungen wurden akzeptiert, sondern auch, dass Zusatzarbeiten in Eigenregie durchgeführt würden. Die wesentlichen Sanierungsarbeiten konnten im Laufe des Monats Juni abgeschlossen werden. Zeitgerecht begannen dann die Komplettierungen – Ausmalen, Montage aller Schalter und Steckdosen, die Reparatur der Parkettböden, Anbringung der Sanitärgeräte, Gestaltung der Bühne usw., sodass nun das Lehrerkollegium zu einer Besichtigung eingeladen werden konnte. Durch einen Glücksfall wurden gebrauchte Schulmöbel zur Verfügung gestellt. Damit war die Schuleröffnung im September gesichert. Über der gesamten Sanierungsarbeit waltete ein guter Stern – es gab während der Bauzeit keine Verletzung. Die Zusammenarbeit in einer Atmosphäre gegenseitigen Helfens und Unterstützens bildete einen soliden sozialen Grundstock für das weitere Waldorfschul­ leben im „Maurer Schlössl“. Bildnachweis: Archiv Karl Hruza

S c h l o s s - Ak t i v i tät e n

TR: Eine freie Schule in einem Schloss – regte das zu besonderen Aktivitäten an? EG: Ja, es gab sie – obwohl es nicht so passend erscheint, dass eine Waldorfschule, die ursprünglich von Rudolf Steiner für die Kinder von Arbeitern der Stuttgarter Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik gegründet worden war, in einem Schlösschen residiert. Wir hatten Ausstellungen von unseren Künstlereltern und dann vor allem die Konzerte, die Tobias Kühne zugunsten der Schule organisierte.

A b e n d mu s i k i m M a u r e r S c h l ö s s l Tobias Kühne

Zu einem kleinen Schloss gehört ein schöner Festsaal – sobald ein Musiker diesen betritt, prüft er ganz unbewusst die Akustik, überlegt, wo er am besten sitzen könnte, wie viele Leute der Saal fasst – natürlich hört er sich dabei auch schon spielen. Das ging im Maurer Schlössl nicht anders. Am 12. Februar 1972 fand das erste Konzert statt. Der junge Cellist Heinrich Schiff, der damals noch bei mir studierte, brachte Kollegen mit, den Geiger Rainer Küchl, später Konzertmeister der Wiener Philharmoniker, und die Flötistin Barbara Müller-Haase. Johann Sonnleitner war auch dabei – er wurde später ein bekannter Cembalist. So konnte man schon bei diesem ersten Konzert lauter hochkarätige junge Musiker hören. Daraus sollte eine ganze Konzertreihe entstehen. Den Titel dazu schlug Heinrich Schiff vor: Abendmusik im Maurer Schlössl. Durch Verbindungen zu vielen Musikern der Wiener „Musikszene“ konnte bei den Konzerten ein hohes Niveau beibehalten werden. Alle Musiker spielten zugunsten der Schule – was bei dem heutigen Musikbetrieb und dem dazu gehörigen Management nicht selbstverständlich ist. In der intimen Atmosphäre des Kleinen Festsaales, wie er heute heißt, fanden in den ersten zehn Jahren 23 Konzerte statt, darunter waren Auftritte des bekannten Gambisten August Wenzinger, des französischen Cellisten Andre Navarra, des Kontrabassisten Ludwig Streicher, ferner Konzerte mit Jörg Demus und dem Wiener Kammerensemble, dem Geiger Ernst Kovacic, dem Schubert-Quartett und auch dem Alban-Berg-Quartett.

S c h l o s s - Ak t i v i tät e n

TR: Eine freie Schule in einem Schloss – regte das zu besonderen Aktivitäten an? EG: Ja, es gab sie – obwohl es nicht so passend erscheint, dass eine Waldorfschule, die ursprünglich von Rudolf Steiner für die Kinder von Arbeitern der Stuttgarter Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik gegründet worden war, in einem Schlösschen residiert. Wir hatten Ausstellungen von unseren Künstlereltern und dann vor allem die Konzerte, die Tobias Kühne zugunsten der Schule organisierte.

A b e n d mu s i k i m M a u r e r S c h l ö s s l Tobias Kühne

Zu einem kleinen Schloss gehört ein schöner Festsaal – sobald ein Musiker diesen betritt, prüft er ganz unbewusst die Akustik, überlegt, wo er am besten sitzen könnte, wie viele Leute der Saal fasst – natürlich hört er sich dabei auch schon spielen. Das ging im Maurer Schlössl nicht anders. Am 12. Februar 1972 fand das erste Konzert statt. Der junge Cellist Heinrich Schiff, der damals noch bei mir studierte, brachte Kollegen mit, den Geiger Rainer Küchl, später Konzertmeister der Wiener Philharmoniker, und die Flötistin Barbara Müller-Haase. Johann Sonnleitner war auch dabei – er wurde später ein bekannter Cembalist. So konnte man schon bei diesem ersten Konzert lauter hochkarätige junge Musiker hören. Daraus sollte eine ganze Konzertreihe entstehen. Den Titel dazu schlug Heinrich Schiff vor: Abendmusik im Maurer Schlössl. Durch Verbindungen zu vielen Musikern der Wiener „Musikszene“ konnte bei den Konzerten ein hohes Niveau beibehalten werden. Alle Musiker spielten zugunsten der Schule – was bei dem heutigen Musikbetrieb und dem dazu gehörigen Management nicht selbstverständlich ist. In der intimen Atmosphäre des Kleinen Festsaales, wie er heute heißt, fanden in den ersten zehn Jahren 23 Konzerte statt, darunter waren Auftritte des bekannten Gambisten August Wenzinger, des französischen Cellisten Andre Navarra, des Kontrabassisten Ludwig Streicher, ferner Konzerte mit Jörg Demus und dem Wiener Kammerensemble, dem Geiger Ernst Kovacic, dem Schubert-Quartett und auch dem Alban-Berg-Quartett.

Abendmusik im Maurer Schlössl

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Till Fellner (Mitte) im Gespräch mit Agnes und Tobias Kühne

Mit der Fertigstellung des neuen Großen Festsaales konnten wir den Künstlern einen größeren Raum und ein größeres Podium bieten. Wir hofften natürlich auch auf ein zahlreicheres Publikum. Allerdings war es selten möglich, mit den 300 Plätzen ein „ausverkauftes Haus“ zu erreichen. In einem „Dorf“ wie Mauer wohnten doch nicht so viele musikinteressierte Menschen und für viele unserer Schuleltern war eine zusätzliche abendliche Belastung manchmal nicht mehr zu verkraften. Vor jedem Konzert lautete also die bange Frage: Wie viele Gäste werden wir wohl heute haben? Nach dem Konzert war man noch etwas mit den Künstlern zusammen, ein schöner Brauch, denn es wurden natürlich Fragen über das Besondere der Schule gestellt, andererseits wissen auch Musiker viel Interessantes und Amüsantes zu erzählen. Am 14. November 1981 fand das erste Konzert im Großen Festsaal statt. Es ist nicht möglich, an dieser Stelle alle – oft großartigen – Veranstaltungen aufzuzählen, nur drei davon seien erwähnt: Unvergesslich der Abend mit der russischen Pianistin Elisabeth Leonskaja und dem – leider viel zu früh verstorbenen – Geiger Gerhart Hetzel. Auch der Trio-Abend mit der Mozartspielerin Ingrid Haebler, mit Gerhart Hetzel und dem Cellisten Peter Dauelsberg war ein großes Ereignis. Der damals noch sehr junge Till Fellner, ehemaliger Schüler, jetzt ein weltbekannter Pianist, war mit einem bunten Programm zu hören. Am 28. April 1991 fand das 52. und letzte Konzert dieser von mir ins Leben gerufenen Reihe statt. Bildnachweis: Archiv Karl Hruza

Die weitere Ent wicklung der Maurer Schule

TR: Wie hast du die weitere Schulentwicklung, die „Grande Valse“, vom anthroposophischen Blickwinkel erlebt? EG: Meine Hauptaufgaben lagen in sachlichen Aufgabenbereichen. Natürlich war die pädagogische Arbeit, so wie ich sie in diesen ersten Jahren und auch in der Vorbereitung der Schul­ gründung erlebt hatte, ganz aus dem anthroposophischen Gedankengut entwickelt. Aber das ging nicht ewig so weiter angesichts der heranströmenden Eltern – aber auch der Lehrer – aus allen möglichen Gegenden dieser Welt. Wir hatten manchmal ein unglaublich internationales Kollegium. Das war nicht mehr zusammenzufassen wie im Zweigleben der 50er-Jahre, wo die Eurythmieschule noch in der inneren Gemeinsamkeit der Gruppe eingebettet war. Die Schule machte einen Schritt nach außen und sehr viele andere Menschen kamen dazu. TR: Wann hatte die Maurer Schule das Stadium erreicht, das bei Kindern mit dem Zahnwechsel einsetzt? Wann wurde sie „schulreif“? EG: Die Schülerinnen und Schüler, die 1963 bei Gurlitt im häuslichen Unterricht begonnen hatten, schlossen ihre Schulzeit im Jahr 1975 ab. Aus diesem Jahr kann ich den Bericht des ehemaligen Schülers Michael Stransky nennen, der nicht nach sieben, sondern nach neun Jahren in der Rudolf-Steiner-Schule geschrieben wurde. Schließlich ist auch das neunte Lebensjahr menschenkundlich interessant, da vollzieht das Kind eine deutliche Trennung von dem, was früher „Mitwelt“ war. Dann steht es der Welt gegenüber, die zur Umwelt geworden ist. Als Ergänzung passt dazu die Schilderung unserer Schule aus der Feder des ehemaligen Stadtschulratspräsidenten Sretenovic. Er hat, solange wir noch kein Öffentlichkeitsrecht ­hatten, oft die Schule inspiziert. Allerdings erlebten wir seine Inspektionen nie als solche, es waren vielmehr Besuche eines pädagogisch hochmotivierten Begleiters, der einmal sagte: „Ihr seid eine pädagogische Provinz mit glücklichen Kühen auf der Waldorfalm …“

1 2 . K l a s s e , 1 9 7 5 : E i n Exp e r i m e n t g e h t z u E n d e Michael Stransky Das Experiment der „ältesten“ Klasse der Wiener Rudolf-Steiner-Schule läuft nun seinem Ende entgegen. Wie ist es abgelaufen? Ist es geglückt oder ist es ein Fehlschlag? Was sind

Die weitere Ent wicklung der Maurer Schule

TR: Wie hast du die weitere Schulentwicklung, die „Grande Valse“, vom anthroposophischen Blickwinkel erlebt? EG: Meine Hauptaufgaben lagen in sachlichen Aufgabenbereichen. Natürlich war die pädagogische Arbeit, so wie ich sie in diesen ersten Jahren und auch in der Vorbereitung der Schul­ gründung erlebt hatte, ganz aus dem anthroposophischen Gedankengut entwickelt. Aber das ging nicht ewig so weiter angesichts der heranströmenden Eltern – aber auch der Lehrer – aus allen möglichen Gegenden dieser Welt. Wir hatten manchmal ein unglaublich internationales Kollegium. Das war nicht mehr zusammenzufassen wie im Zweigleben der 50er-Jahre, wo die Eurythmieschule noch in der inneren Gemeinsamkeit der Gruppe eingebettet war. Die Schule machte einen Schritt nach außen und sehr viele andere Menschen kamen dazu. TR: Wann hatte die Maurer Schule das Stadium erreicht, das bei Kindern mit dem Zahnwechsel einsetzt? Wann wurde sie „schulreif“? EG: Die Schülerinnen und Schüler, die 1963 bei Gurlitt im häuslichen Unterricht begonnen hatten, schlossen ihre Schulzeit im Jahr 1975 ab. Aus diesem Jahr kann ich den Bericht des ehemaligen Schülers Michael Stransky nennen, der nicht nach sieben, sondern nach neun Jahren in der Rudolf-Steiner-Schule geschrieben wurde. Schließlich ist auch das neunte Lebensjahr menschenkundlich interessant, da vollzieht das Kind eine deutliche Trennung von dem, was früher „Mitwelt“ war. Dann steht es der Welt gegenüber, die zur Umwelt geworden ist. Als Ergänzung passt dazu die Schilderung unserer Schule aus der Feder des ehemaligen Stadtschulratspräsidenten Sretenovic. Er hat, solange wir noch kein Öffentlichkeitsrecht ­hatten, oft die Schule inspiziert. Allerdings erlebten wir seine Inspektionen nie als solche, es waren vielmehr Besuche eines pädagogisch hochmotivierten Begleiters, der einmal sagte: „Ihr seid eine pädagogische Provinz mit glücklichen Kühen auf der Waldorfalm …“

1 2 . K l a s s e , 1 9 7 5 : E i n Exp e r i m e n t g e h t z u E n d e Michael Stransky Das Experiment der „ältesten“ Klasse der Wiener Rudolf-Steiner-Schule läuft nun seinem Ende entgegen. Wie ist es abgelaufen? Ist es geglückt oder ist es ein Fehlschlag? Was sind

12. Klasse, 1975: ein Experiment geht zu Ende

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die Ergebnisse? Für mich „Versuchskaninchen“ wird es, jetzt noch drinstehend, schwer möglich sein, das zu beurteilen. Doch kann ich versuchen, durch eine Beschreibung von meiner Seite aus einen Eindruck zu erwecken, besonders von unseren letzten Aktivitäten, den Jahresarbeiten. Unsere Klasse ist, wie es bei jungen Schulen – leider (manchmal auch Gott sei Dank) – oftmals vorkommt, gezeichnet durch den starken Wechsel der Menschen, die an ihr beteiligt sind. Im Hauptunterricht der Unterstufe und auch besonders im Sprachunterricht mussten wir uns in fast regelmäßigen Abständen wieder an ein neues „Lehrergesicht“ gewöhnen. Aber auch die Zusammensetzung der Klasse war nie lange gleich bleibend. Drei Schüler begannen in der 1. Klasse, in der 4. wurden es neun und jetzt sind es fünfzehn. Die Gesamtzahl der Schüler, die jemals unserer Klasse angehört haben, beträgt jedoch 35. Als oberste Klasse hatten wir die schöne, aber nicht immer leichte Aufgabe, stets die Ersten zu sein. Wir hatten nie die Gelegenheit, zu höheren Schülern aufzublicken. Ich glaube, dass uns besonders in unserer 11. Klasse-Zeit eine 12. Klasse als Vorbild sehr gefehlt hat. Dadurch und auch durch die Krise unserer Schule zu dieser Zeit war es uns damals nicht ganz möglich, das Ziel zu erreichen, was meiner Meinung nach spätestens eine 11. Klasse erreicht haben sollte, nämlich innere und äußere Aktivitäten, vor allem in sozialer Hinsicht, zu entwickeln. Umso mehr donnerten dann mit den Jahresarbeiten die Anforderungen der 12. Klasse auf uns ein. Anfangs herrschte bei uns einige Abwehrstimmung gegen diese „zusätzliche Belastung“, doch im Laufe der Arbeit, im ständigen Sich-wieder-Aufraffen und Weiterbemühen, kam mit dem Interesse auch die Freude am Werk. Schön war es zu sehen, dass die Themenwahl der Arbeiten und umso mehr auch die Durchführung sehr charakteristisch für jeden Einzelnen und noch dazu so breit gefächert waren. Es ging vom Bau einer Dampfmaschine über Zentralheizungsinstallation, Kontrabassbau, Farbenlehre bis zur Einstudierung eines Violinstückes oder zu einer Abhandlung über die Weltreligionen. Sicher hat hier jeder etwas für sich ganz Spezifisches geschaffen und ich denke doch, dass durch die Arbeiten jeder einen Schritt näher zu sich selbst gefunden hat. Sie hätten nicht fehlen dürfen. Was die Folgen unseres Experimentes sein werden, wird sich erst im weiteren Lebenslauf eines jeden von uns zeigen. Fest steht jedoch, dass es zu einem Abschluss gekommen und dieser gleichzeitig der Beginn einer neuen Phase der Schule ist, zu deren Gemeinschaft nun nicht mehr nur Lehrer, Schüler, Eltern und Freunde, sondern auch ehemalige Schüler gehören werden.

Imp r e s s i o n e n e i n e s S c h u l a uf s i c h t s b e a m t e n Karl Sretenovic

Als zuständiger Landesschulinspektor hatte ich die Aufgabe, Entstehung und Gestaltung der ersten Waldorfschule in Wien zu beobachten, zu begleiten und zu helfen, in ständigem Dialog mit der Schulgemeinschaft auftretende Fragen beantworten. Wer das Konzept der Waldorfpädagogik kennt, weiß, dass sich für den pädagogisch und schulrechtlich auf das österreichische Schulsystem „geeichten“ Schulinspektor immer wieder der Vergleich mit der Regelschule aufdrängt und man dabei versucht ist, gewisse, aus der eigenen Erfahrung gewonnene Beurteilungsnormen des Unterrichts in die Waldorfschule hineinzutragen. Genau das wäre aber falsch. Je früher man dies erkennt, desto zielführender kann die durch die Schulaufsicht zu leistende Beratung werden. Zunächst einmal sehe ich die Menschen, die in dieser Schule arbeiten: Sie sind äußerst engagiert und vom bestem pädagogischen Wollen beseelt. Als praktizierende Anthroposophen bewähren sie sich täglich in der Hinwendung zum Kind, zum jungen Menschen. Wo solche Eigenschaften vorherrschen, kann und soll sich bürokratisches Denken nicht ent­ wickeln. Für ein Mindestmaß an schulrechtlichen Notwendigkeiten zu werben, ist dennoch ein lohnendes Unterfangen. Die Lehrer der Waldorfschule lernen, ihre eigene Position im Schulwesen eines Landes nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv zu sehen, der Schulaufsichtsbeamte hingegen, neu infrage zu stellen, was in der Routine seiner Alltagsarbeit längst fragwürdig geworden sein könnte. Die Eindrücke von der Arbeit mit den Schülern bestätigen die Intentionen der Waldorfpädagogik. Die jungen Menschen sind angstfrei, in ihrem Benehmen natürlich und unbelastet von Drill jeder Form. Der Prozess des Entstehens der Schulleistungen vollzieht sich gewissermaßen entlang der individuellen Entwicklung des Schülers. Vorrang hat eigenes, schöpferisches Denken, Fühlen, Wollen und Tun; Vorrang hat aber auch das Prinzip des Wartenkönnens im inneren Werdegang eines jungen Menschen, das jeden Leistungsdruck verhindert. Dadurch, dass – etwa, wie im Projektunterricht, der längst zum festen Bestandteil des Unterrichtsbetriebes gehört – die Schülergruppe in einem anderen funktionalen Verhältnis zum Klassenverband steht, gewinnt man den Eindruck, es werde in verhältnismäßig großen Klassen und vorwiegend frontalunterrichtlich gearbeitet. Das mag äußerlich mitunter zutreffen, ist aber aus den eben genannten Gründen nicht mit den sonst üblichen negativen Begleiterscheinungen des sozialen Lebens in einer Klasse verbunden. Ebenso erfährt man als Schulaufsichtsbeamter mit sonst nicht gegebener Deutlichkeit, dass bei aller Würdigung des Grundsatzes der Anschaulichkeit äußere Anschauungsmittel

Impressionen eines Schulaufsichtsbeamten

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nur die halbe Wahrheit darstellen und dass dem inneren Schauen – im Sinne von Erkennen – mindestens ebenso große Bedeutung zukommt, wenn es sich dabei nicht ausschließlich um abstrakte Denkvorgänge handelt, die sehr wohl einer Verdeutlichung von außen bedürfen. Der Weg der Rudolf-Steiner-Schule in Wien von der Idee zur Wirklichkeit war lang und mühevoll. Er begann mit der Schaffung elementarer materieller Vorraussetzungen und führte zur Anerkennung als Privatschule, mit deren Besuch auch die Schulpflicht erfüllt werden kann und deren Oberstufe nunmehr ebenfalls voll ausgebaut ist. Der Weg war erfolgreich, weil die Vertreter des Rudolf-Steiner-Schulvereins mit Elisabeth Gergely an der Spitze durch Überzeugungskraft, Konsequenz und – offenbar im Umgang mit österreichischen Menschen geschult – psychologisch kluger Taktik die zuständigen Behörden- und Verwaltungsstellen immer wieder für ihr Anliegen einzunehmen vermochten. Dass auf diese Weise Unterstützung durch den Bund, vor allem auch durch das Land Wien, nicht ausblieb, ist einsichtig. Es war auch ein Weg, dem insofern exemplarische Bedeutung zukommt, als er beweist, dass Alternativschulen in Österreich sehr wohl ihren Platz haben. Hier ist es die Rudolf-Steiner-Schule, die als Gesamtschule im anthroposophischen Sinne geführt wird und der man weiterhin viel Erfolg auf dem Weg einer Schule zum Menschen hin wünschen sollte!

P ENTATONISCHE VARIATIONEN Fünf Gestaltungsfelder der Schule

Wa s b e d e u t e t G e s ta lt ?

TR: Der Begriff „Gestalt“ hat im folgenden Teil wesentliche Bedeutung. Was meint der Titel „Gestalt im Zentrum“? EG: Natürlich denkt man sogleich an die physische Gestalt, bei einer Schule also an den Schulbau. Doch denke ich auch an das Werden und Herausarbeiten einer Sozialgestalt, wie beispielsweise die Zusammenarbeit mit den Eltern aufzubauen ist. Ich verwende eher nicht das Wort „organisieren“. Die Sozialgestalt ist etwas Lebendiges, das sich in der Begegnung mit den Menschen webt. Und ein Gewebe hat ja schließlich eine Gestalt … Ich habe erkannt, dass auch die Art und Weise, wie man mit Geld umgeht, wie man wirtschaftet, zu einer ganz eigenen Gestalt führen kann. Dann gibt es die Rechtssphäre: Wie ist die Schule darin verankert? Welche Gestalt muss die Schule annehmen, dass ihr das Öffentlichkeitsrecht verliehen wird und sie aber nicht bloß als eine Einrichtung akzeptiert wird, die zur Erfüllung der Schulpflicht anerkannt ist? Hierbei geht es auch um Vergleichbarkeit. Damit ist ferner die Lehrplanfrage verbunden. Lässt sich der Waldorflehrplan vergleichen mit dem Lehrplan der öffentlichen Schule? Durch diese – mehr von außen angeregte – Forderung hat in Wien eine intensive interne Lehrplanarbeit begonnen, bei der es darum ging, die besondere Gestalt, die Komposition des Waldorflehrplanes beschreibbar zu machen. Schließlich ging es um Haus und Hof. Das ist ein großes Kapitel, weil sich das Werden der Schulraumgestalt über viele Jahre erstreckte.

D i e S o z i a l g e s ta lt – Zu s a mm e n a r b e i t m i t d e n E lt e r n Regula Hetzel

Die Mitarbeit der Eltern war in der Rudolf-Steiner-Schule von Beginn an ein wesentlicher Bestandteil des Schulganzen. Sie schafft die äußere Hülle für die Waldorfpädagogik. Gerade in der Pionierzeit einer Schule ist diese Arbeit ebenso intensiv wie gemeinschaftsbildend. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl entsteht aus der gemeinsamen Zielsetzung, Waldorfpäda­ gogik zu ermöglichen, ihr Heimat zu schaffen.

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Pentatonische Variationen

Dieser ersten Phase war die Rudolf-Steiner-Schule Wien-Mauer in den 70er-Jahren schon entwachsen. Die innere Arbeit an den Strukturen musste dagegen auch in den Jahren bis etwa 1984 zugunsten der gemeinsamen Leistungen im Umbau und Ausbau der Schule zurückstehen, alle zur Verfügung stehenden Kräfte wurden dafür gebraucht. Gleichwohl gab es damals ein sehr intensives Angebot an Elternabenden, Tagungen, Vorträgen und Seminaren zur Waldorfpädagogik, die Einblicke in die Arbeitsweise und Zielsetzung der Lehrer sowie Verständnis für die Besonderheit des Lehrplanes ermöglichte. Wesentliche Merkmale der Strukturen der Rudolf-Steiner-Schulen sind die Verantwortlichkeit des Schulvereines, bestehend aus Eltern und Lehrern, für das wirtschaftliche Bestehen und die autarke pädagogische Verantwortung durch die Lehrerkonferenz, die beide unabhängig und frei arbeiten sollen. Dies setzt ein hohes Maß an Vertrauen und gegenseitiger Achtung voraus, denn die weitreichenden Entscheidungen einzelner Entscheidungsträgergruppen sollen und müssen ja von der Gesamtheit der Schule, Lehrern, Eltern und Kindern, mitgetragen werden. Wenn Eltern für ihr Kind oder ihre Kinder eine Waldorfschule wählen, so haben sie sich in der Regel mit der pädagogischen Landschaft auseinandergesetzt, oftmals schwierige eigene Erfahrungen gemacht und suchen einen idealen Ort, in dem an ihren Kindern alles ausgeglichen wird, was sie entbehrt haben, sich wünschten und erhofften – auch, wenn sie selbst diesen pädagogischen Erwartungen zu Hause oftmals nicht gerecht werden können. Sie treten mit großen, oft unerfüllbaren Erwartungen in die Schule ein. Dieser Erwartungshaltung stehen Waldorflehrer gegenüber, die sich mit dem besonderen Lehrplan Rudolf-Steiners vertraut gemacht und oftmals erfahren haben, dass guter Unterricht nur gelingt, wenn der Lehrer oder die Lehrerin mit ganzem Herzen und ganzer Überzeugung dahinterstehen. „Er (der Lehrer) muss ein Sensorium für die Kinder haben. Die daraus resultierende Empfindlichkeit ist zugleich auch häufig seine (oder ihre) große Schwierigkeit im Umgang mit Eltern, vor allem im Umgang mit Kritik.“1 Die Eltern einer bereits herangewachsenen Schule wollen nicht nur mitarbeiten, ­Basar, Feste und Konzerte organisieren, Geld beschaffen und die Räumlichkeiten bauen und renovieren, sondern auch in die Entscheidungen einbezogen werden. Dies haben sie auch eingefordert. Sie haben ihrerseits für das Bestehen der Schule viele Initiativen gesetzt. Neben vielen anderen Aktivitäten der Eltern sei hier die Gründung einer Schulzeitung als kommunikativer Plattform zu erwähnen, ferner eines Waldorfwirtschaftskreises zu finanzieller Unterstützung der Schule, die Neugründung eines Elterninitiativkreises sowie einer Elternbeitragsgruppe, die auf soziale Gerechtigkeit in den Schulbeiträgen hinarbeitete. Bei den Lehrern entwickelte sich andererseits ein Bewusstsein dafür, dass auch ein Waldorflehrer nicht alle Schwierigkeiten, die in einer Klasse auftreten, alleine bewältigen kann und muss.

Die Sozialgestalt – Zusammenarbeit mit den Eltern

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War man in der Gründungszeit noch gewiss, dass Waldorfpädagogik an sich schon heilsam und mehr als allenfalls Heileurythmie nicht notwendig sei, machten die Zeitentwicklungen dennoch vor unseren Toren nicht halt: Diebstähle, Rauchen, Alkohol- und Drogenkonsum mussten bewältigt werden. Natürlich bestand auch die Angst, einen guten Ruf zu verlieren. Erst als die Beteiligten – Eltern und Lehrer – lernten, sich einzugestehen, dass auch – trotz allen guten Willens – pädagogische Bemühungen allein manchmal nicht ausreichen, suchten sie professionelle Unterstützung in schwierigen Gesprächen und therapeutische Hilfestellung. Einen wesentlichen Impuls erhielt die geistige Gemeinsamkeit der Lehrer und Eltern durch Seminare mit dem Ehepaar Mieke und Erwin van Asbeck, Betriebsberater vom Nieder­ländischen Institut für Organisationsentwicklung im Jahre 1993. Die Asbecks stellten die Leitbildarbeit in den Mittelpunkt und machten die Toleranz für die verschiedenen Wege eines jeden Einzelnen im Schulorganismus als Folge einer gemeinsamen geistigen Zielsetzung verständlich. Es wurden „Mandatsgruppen“ aufgestellt, darunter eine für die Zusammenarbeit Eltern-Lehrer. Heute gibt es, vielleicht mehr denn je, ein grundsätzliches Bedürfnis jedes Menschen, in seiner Eigenart und Besonderheit gesehen zu werden. In einer Schulform, welche die Eltern als integrale Gruppe des Gesamtorganismus versteht, dürfen deshalb weder die Anerkennung des Elternwillens noch die Wahrung der Integrität der Lehrer oder der Schüler aus dem Auge verloren werden. Wir sind heute kritischer und wohl auch anspruchsvoller geworden. Das Vertrauen wächst mit diesen Anforderungen nicht von selbst mit, es muss immer wieder neu geschaffen werden. Rückblickend lässt sich dankbar wahrnehmen, dass trotz der mannigfaltigen Hürden, die sich der Verwirklichung eines demokratisch geführten Schulorganismus entgegenstellen, sehr viel gelungen ist. Das gemeinsame Bekenntnis zu gerade dieser Schulform und die gemeinsame Liebe zu unseren Kindern führen uns zu gegenseitiger Anerkennung. Das ist ein zutiefst menschenwürdiger Weg – auch, wenn dieser sicher nicht der einfachste ist.

Anmerkung 1 Leist, Manfred, in: „Flensburger Hefte“ Nr. 38, S. 137–139, Flensburg, 1992

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S e l b s t v e r wa lt u n g – Q ua l o d e r I d e a l ? Irene Bulasikis Waldorfschulen verwalten sich selbst. Aufgaben, die normalerweise an eine externe Schulverwaltung ausgelagert oder eine Direktion delegiert werden, nehmen Lehrerkollegium und Elternschaft gemeinsam war – von der Schulfinanzierung bis zur Vertretung gegenüber Behörden. Das klingt zunächst einmal zeitgemäß. Das Prinzip der Selbstverwaltung entspricht uns als freien Menschen. Die Verantwortung für den Impuls, den wir in der Welt verwirklicht sehen möchten, wollen, sollen wir auch selbst übernehmen. In der Pionierphase einer Schule gelingt die Selbstverwaltung meist problemlos. Alle machen alles. Der Wille, eine Schule zu gründen, ist stark und trägt über viele Schwierigkeiten hinweg. Doch dann ist das Notwendigste erreicht, die Schule läuft. Strukturen, die sich einmal spontan gebildet haben, drohen zu verhärten. Neue Mitglieder der Schulgemeinschaft verstehen Gesetzmäßigkeiten nicht, die ihnen nicht vermittelt werden und von denen auch nicht klar ist, wie sie wieder geändert werden können. Viele Schulmitglieder fühlen sich daher ausgeschlossen – dabei sind doch eigentlich alle eingeladen mitzumachen. Der Ruf der Selbstverwaltung leidet – übrigens: nicht nur in Öster­ reich, sondern überall in der Waldorfwelt. Wenn Selbstverwaltung misslingt, zeigt sich das an: langwierige, ineffiziente Gremienarbeit, verschlungene Wege, mangelnde Konfliktfähigkeit, verdeckte Hierarchien – und jede Menge Frustration bei allen Beteiligten. In den 1990er-Jahren begann daher europaweit die Arbeit an anthroposophisch inspirierten Qualitätsmanagementkonzepten. Eines davon ist „Wege zur Qualität“. Das Verfahren zeigt Prinzipien der Gestaltung auf, verzichtet aber auf das Ausstellen von allgemeingültigen „Rezepten“. Prozesse, die gewohnheitsmäßig unbewusst ablaufen, werden wieder ins Bewusstsein gehoben. Menschen, die Freiraum zum Arbeiten brauchen, sollen diesen durch ein Umfeld bekommen, das klar und transparent gestaltet ist und in dem alle Aufgaben eindeutig verteilt und die Verantwortung für Entscheidungsprozesse festgelegt ist. In der Rudolf-Steiner-Schule Wien-Mauer arbeiten wir seit 2002 lose, seit 2005 immer verbindlicher mit „Wege zur Qualität“. 2010 wurde die Rudolf-Steiner-Schule Wien-Mauer als erste Waldorfschule in Österreich nach „Wege zur Qualität“ zertifiziert. Wir haben sehr gute Erfahrungen gemacht. Das Verfahren hat uns dabei geholfen, Selbstverwaltung wieder als das zu entdecken, was es ist: die Zukunft der Zusammenarbeit. Im Waldorfbund Österreich gibt es einen Arbeitskreis „Qualität“, der das Ziel verfolgt, einheitliche Qualitätsstandards der Verwaltung für alle österreichischen Waldorfschulen zu setzen. Fünf Schulen arbeiten aktuell mit „Wege zur Qualität“, die anderen haben eigene Verfahren gewählt, die aber zu vergleichbaren Ergebnissen führen: nämlich effizient und transparent selbstverwaltete Organisationen.

R auchzeichen – oder: Wie verbessern wir die E lt e r n - L e h r e r -Zu s a mm e n a r b e i t ? Linda Kneucker

30 Jahre ist es her, seit die erste Zeitung für Eltern, Lehrer und Freunde der Schule verteilt wurde. Und obwohl es mehr als 20 Jahre her ist, seit unser jüngstes Kind die Schule verlassen hat, so scheint es doch, als wäre es gestern gewesen, dass eine kleine Gruppe Eltern das Experiment „Rauchzeichen“ gewagt hat. Der Wunsch, die Kommunikation zwischen Eltern und Lehrern zu verbessern, war die Motivation, die uns elf Mal im Jahr vier bis sechs Seiten tippen, auf Matrizen vervielfältigen und zur Post bringen ließ. Der Wunsch, der hinter diesem Projekt stand: bessere Kommunikation. Dieser Wunsch hat uns auch bei der Namensgebung der Zeitung geleitet. Wir nannten sie „Rauchzeichen“, ein Begriff aus der Sprache der nordamerikanischen Ureinwohner für das Senden von Si­ gnalen. Wir hatten die Hoffnung, die Beziehungen, die für das Gelingen der Schule so wichtig waren, unterstützen zu können, wenn wir möglichst viel Information sammeln und verbreiten würden – Information nicht nur über Termine und Ereignisse, sondern auch über die Hintergründe der Pädagogik. Viele von uns hatten von Rudolf Steiner noch nichts gehört und wussten wenig über waldorfpädagogische Konzepte; daher war es manchmal schwierig, der komplizierten Ausdrucksweise der „Profis“ zu folgen; nicht selten hat sie uns eher verwirrt denn aufgeklärt. Wir waren aber stets dankbar für die Einführung in die Waldorfpädagogik, die es uns später ermöglichte, Neueinsteigern die Hintergründe näherzubringen. Außerdem bemühten wir uns, Artikel zu verfassen, die jede/r verstehen konnte. Diese Haltung wurde von den konservativeren Vertretern des Kollegiums und Vorstandes als Rebellion ausgelegt, was sicher teilweise der Fall war. Was uns im Eltern-Lehrer-Kreis am meisten fehlte, war der Humor. Warum sollten Eltern und Lehrer nicht gemeinsam über sich selbst lachen? Deshalb gaben wir jedes Jahr eine Faschingsnummer der Schulzeitung heraus. Die Reaktionen reichten von Empörung (wir hatten ein siebenstöckiges Haus entworfen, das keinen Lift hatte und in dem die jüngsten Familien in den obersten Stockwerken, dem Himmel am nächsten, wohnten – „Wie kann man sich nur so etwas Unpraktisches für Familien ausdenken?!?!“) bis zu „blindem“ Glauben (wir hatten ein besonders gesundes Getreide erfunden, das im Bioladen verkauft wurde und großen Anklang fand – in Wirklichkeit war es Konfetti).

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Je länger ich mit der Zeitung und dem Eltern-Lehrer-Kreis zu tun hatte, desto besser verstand ich das Positive an der Arbeitsaufteilung innerhalb einer Waldorfschule. Das Kollegium ist für die Pädagogik verantwortlich; die Aufgabe der Eltern besteht darin, die Mittel bereitzustellen, damit die Schule bestehen und sich entwickeln kann. Das heißt natürlich weder, dass Eltern keine Vorschläge in puncto Pädagogik machen dürfen, noch, dass Lehrer nicht nachfragen können, was die Eltern so tun. Aber die Verantwortung für die jeweiligen Bereiche wird getrennt getragen – zu wissen, wie weit die eigene Verantwortung reicht, ist eine Erleichterung; so muss man sich keine Sorgen um die Angelegenheiten der anderen machen. Die Jahre, in denen wir mit einem kleinen Kreis loyaler Helfer die Zeitung gemacht ­haben, waren interessant, wenn auch manchmal frustrierend. Ein wahres Spiegelbild des Lebens, innerhalb und außerhalb der Schule Trotz der schwierigen Zeiten war der Versuch, die Kommunikation innerhalb der Schule zu verbessern, immer eine spannende Lern- und Herzensaufgabe. Ich hätte sie nicht missen wollen.

D i e R e c h t s g e s ta lt d e r Wa l d o r f s c h u l e n in Österreich Raoul Kneucker

Rechtsform – Rechtsgestalt – Sozialgestalt Die Rechtsform der österreichischen Waldorfschulen wurde in den Jahren 1972 bis 1990 entwickelt. Die Rudolf-Steiner-Schule in Wien-Mauer, die österreichische Pionierschule, war auch dabei der Vorreiter; sie erledigte die erforderlichen Schritte der Entwicklung und mit jeder neuen Waldorfschule wurde die Rechtsform im Bewusstsein der staatlichen Behörden und der Waldorfschulen selbst gefestigt.1 Die einzelnen Schritte betrafen – die Errichtung der Schule (dieser Schritt war für die Schule in Wien-Mauer bereits 10 Jahre vorher gesetzt worden); – die Einschulung rund um das 7. Lebensjahr, damit verbunden die „Vorschulpflicht“ und der Charakter des Waldorfkindergartens; – die Erfüllung der (allgemeinen) Schulpflicht (1972 war durch eine Verordnung die Erfüllung der Schulpflicht nach einem „ausländischen Lehrplan“ für die Maurer Schule ausgesprochen worden); – die sogenannte Jahres(feststellungs)prüfung; – die Genehmigung des Organisationsstatuts mit dem Lehrplan der Waldorfschule (als „österreichischer“ Lehrplan); – die Verleihung des Öffentlichkeitsrechtes; – die Verleihung des Öffentlichkeitsrechtes auf Dauer; – die Subventionierung der Waldorfschule als nichtkonfessionelle Privatschule durch den Staat, d.i. für Privatschulen die Bundesebene, weil die Regelungszuständigkeit über das Privatschulwesen Bundessache ist; – der Abschluss der Sekundarstufe II (Matura)2. Aus diesen Elementen ergibt sich die vollständige Rechtsform einer zwölfjährigen Privatschule aus staatlicher Sicht; aus diesen Elementen kann aber auch das Ganze der Rechtsgestalt der österreichischen Waldorfschule sichtbar gemacht werden. Die Rechtsgestalt weicht deutlich von der Rechtsgestalt der Waldorfschulen in anderen europäischen Ländern, vor allem auch in den deutschsprachigen Ländern, ab. Das Nach-

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wirken des Habsburger Erbes, also des spezifischen historischen Kontextes mit seinen besonderen rechtlichen Rahmenbedingungen, musste notwendigerweise zu einer eigenen Prägung der Rechtsgestalt der österreichischen Waldorfschulen führen. Die traditionelle Sozialgestalt der Waldorfschulkommunität bleibt davon unberührt: Geformt aus der pädagogischen Anthropologie Rudolf Steiners, d.h. dem Menschenbild und der daraus abgeleiteten Erziehungsphilosophie für Schulen, bleibt die Sozialgestalt in den Hunderten Waldorfschulen in aller Welt, die in überaus unterschiedlichen Kulturräumen tätig werden, ohne Weiteres erhalten und erkennbar. Ob in Graz, Forest Row, Straßburg, Stuttgart, Mannheim, St. Petersburg oder in Great Barrington, Sacramento, Tokio, Toronto oder Oslo – die Art der Kooperationen zwischen Eltern und Lehrkörper, die in Konferenzen üblichen Entscheidungsprozesse können überall gleichermaßen erlebt werden, ebenso die Durchführung des Erziehungsauftrages in einer dem Lehrplan entnommenen, gestalteten Umgebung für Schüler und Schülerinnen, ausgedrückt etwa in der farblichen und künstlerischen Ausstattung der Klassenzimmer, oft in der Schularchitektur als Ganzes.

Die Rechtselemente Die einzelnen rechtlichen Schritte bedürfen zum besseren Verständnis des Ganzen einer Erläuterung. Zuvor jedoch soll das Grundproblem der Einbettung einer Waldorfschule in das österreichische Rechtssystem angesprochen werden, am besten durch ein persönliches Erlebnis aus dem Jahre 1975. Damals beriet das Lehrerkollegium der Schule in Wien-Mauer darüber, ob es sich überhaupt bereitfinden sollte, die Arbeit am Lehrplan, der damals noch in keiner vollständigen systematischen Formulierung vorlag, zu beginnen und dann alle weiteren Unterlagen für die geforderten Anträge an das zuständige Bundesministerium zu schaffen. Diskutiert wurde auch, ob eine solche Formulierung vorgenommen werden dürfe, weil durch eine Festlegung im Lehrplan die pädagogische Freiheit der Lehrenden berührt, u.U. verletzt sei. Die Debatte war nicht nur „grundsätzlich“, sie war auch hitzig: Sollte den Vorgaben des österreichischen Schulrechts entsprochen werden und sollten die Kriterien der staatlichen Anerkennung wiederum aus der Sicht der Waldorfpädagogik anerkannt werden? In der Diskussion ergriff ein junger Lehrer3 das Wort und fragte, ob denn die „Unterwerfung“ angebracht sei, handle es sich doch um zwar verschiedene, aber auf einem gleichen Rang stehende Bildungsphilosophien, die Waldorfpädagogik und jene des öffentlichen Schulwesens – von der Überzeugung einmal abgesehen, dass die Waldorfpädagogik die menschengerechtere Erziehung ermögliche. Dem Lehrerkollegium wurde in diesem Dialogprozess klar, dass in den nächsten Jahren eine Art „Schulrechtserfüllung“ zu leisten sein würde. Wäre aber die Anerkennung der Wal-

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dorfschule als Schule im System des österreichischen Schulrechts wünschenswert, sinnvoll und legitim? Legitim und sinnvoll doch nur dann, wenn rechtlich ein genügend großer Freiraum gesichert und tatsächlich durchsetzbar wäre, um die Eigenart der Waldorfschule ohne (wesentliche) Abstriche oder Kompromisse zu gewährleisten. Dies könnte nach der Rechtslage erwartet werden. Der Sprung ins Ungewisse könnte gewagt werden. Die Anerkennung durch das staatliche Schulsystem würde endlich als Abkehr von der bildungsphilosophischen Ausgrenzung der Waldorfpädagogik angesehen werden können. Ein Qualitätsvergleich dürfte nicht gescheut werden. Der notwendig einstimmige Beschluss fiel zugunsten des Projektes „Anerkennung“ aus. Die Lehrplandiskussion wurde als Chance betrachtet, die eigene pädagogische Entwicklung zu reflektieren und voranzubringen4. Das Profil der Waldorfschule systematisch geschlossen darzustellen, sei für erziehungswissenschaftliche Studien und Vergleiche, ja für den längst fälligen Dialog mit den staatlichen Stellen und anderen Bildungsstätten über die Reform des Schulsystems, gut zu nützen. Schließlich würde mit der staatlichen Anerkennung die Möglichkeit eröffnet, Subventionen zum Schuletat zu erhalten. Bis in die 90er-Jahre waren die Waldorfschulen mit den einzelnen rechtlichen Schritten beschäftigt; beschäftigt auch in dem Sinne, dass mit der Erfüllung der staatlichen Anforderungen die Klärung vieler offener pädagogischer und organisatorischer Fragen verbunden war und wohl auch verbunden sein musste (z.B. die Qualifikation der Lehrer und Lehrerinnen im Vergleich zu den staatlichen Lehramtskategorien, die Fort- und Weiterbildung der Waldorflehrkörper). Ein zaghafter Dialog mit öffentlichen Bildungseinrichtungen, insbesondere auf der Ebene der Pädagogischen Akademien/Hochschulen, setzte ein. Einen Dialog auf Dauer zu etablieren, gelang jedoch nicht. Allerdings wurde „Waldorfpädagogik“ als Gegenstand der erweiterten Ausbildung in das Lehrangebot verschiedener pädagogischer Hochschulen aufgenommen. Zum Verständnis der rechtlichen Elemente mögen die folgenden Erläuterungen beitragen: – Für die Errichtung einer Privatschule wird vorausgesetzt, dass die gesetzlichen Bedingungen hinsichtlich des Schulerhalters, des Leiter, der Leiterin und der Lehrer, Lehrerinnen, der Schulräume und Lehrmittel erfüllt werden. Schulerhalter zu sein, ist an die Staatsbürgerschaft/Unionsbürgerschaft gebunden; seine Aufgabe ist die finanzielle, personelle und räumliche Vorsorge für die Führung der Schule. Er hat die pädagogische Autonomie des Lehrkörpers zu achten. Leiter oder Leiterinnen, Lehrer und Lehrerinnen haben die Eignung in sittlicher und gesundheitlicher Hinsicht sowie die jeweils erforderliche Lehrbefähigung (im Fach) nachzuweisen; es dürfen bei ihnen keine Umstände vorliegen, die nachteilige Auswirkungen auf das österreichische Schulwesen erwarten ließen. Schulräume und Lehrmittel müssen dem Zweck und der Organisation der Schule,

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den Grundsätzen der Pädagogik und Hygiene entsprechen. Die Errichtung der Schule ist rechtzeitig anzuzeigen, sie kann von der jeweils zuständigen Schulbehörde, wenn die Bedingungen nicht erfüllt werden, innerhalb von zwei Monaten untersagt werden. Die allgemeine staatliche Schulpflicht beginnt mit dem auf die Vollendung des 6. Lebensjahres folgenden Schuljahresbeginn. (Mögliche Ausnahmen werden hier nicht berücksichtigt.) Eine Vorschulstufe im Rahmen der Volksschule ist pflichtgemäß zu absolvieren, wenn schulpflichtige Kinder noch nicht schulreif geworden sind; an Waldorfkindergärten wurden, um diese Pflicht zu erfüllen, Sondergruppen (neben den Kindergartengruppen) eingerichtet. Die allgemeine Schulpflicht dauert neun Schuljahre. Ihre Erfüllung ist im Abschlusszeugnis gesondert festzustellen. Der Besuch von Privatschulen ohne Öffentlichkeitsrecht oder von Privatschulen, die keiner gesetzlich geregelten Schulart entsprechen, aber über ein genehmigtes Organisationsstatut verfügen, oder die Erteilung eines häuslichen Unterrichts ist für die Erfüllung der Schulpflicht dann geeignet, wenn er dem Unterricht an öffentlichen Schulen mindestens gleichwertig ist. Dies behördlich festzustellen, ist der Zweck der Jahresprüfung an einer öffentlichen Schule unter Mitwirkung der Bezirks- bzw. Landesschulbehörde; es sind dafür mehrere Richtlinien und Verordnungen des Bundesministeriums zu beachten, die den Stoff der Prüfung und das Verfahren näher regeln. Der zuständige Bundesminister kann für eine Privatschule, die keiner öffentlichen Schulart entspricht, d.h. keinen Lehrplan einer gesetzlich geregelten Schulart praktiziert, das Öffentlichkeitsrecht, wenn die allgemeinen Voraussetzungen für eine Privatschule und ihre Bewährung im Unterricht nachgewiesen wird, dadurch verleihen, dass … die Organisation, der Lehrplan und die Ausstattung der Schule sowie die Lehrbefähigung des Leiters und der Leiterin, der Lehrer und Lehrerinnen der Schule mit einem vom Bundesminister erlassenen und genehmigten Organisationsstatut übereinstimmen. Ob der Lehrplan einer Privatschule „ausländisch“ ist oder nicht, macht keinen rechtlichen Unterschied für die Erfüllung der Schulpflicht. Der Bundesminister hat insbesondere die Gleichwertigkeit zu prüfen und darf nur genehmigen, wenn die allgemeinen Voraussetzungen nachgewiesen werden. Er würde sich sonst in einem gesetzesfreien Raum befinden und gegen das Legalitätsprinzip der Bundesverfassung verstoßen. Auf Dauer ist das Öffentlichkeitsrecht erst nach langjähriger Bewährung der Privatschule zu verleihen; oft wird der Abschluss eines ersten Zyklus des Unterrichts abgewartet, im Falle der Waldorfschulen z.B. die ersten 12 Jahre. Für die Subventionierung von Privatschulen, eine Zuständigkeit des Bundes(ministeriums für Unterricht), wird zwischen konfessionellen und nicht konfessionellen Schulen unter­ schieden. Erstere sind Bildungsstätten, die von gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften oder von ihren Einrichtungen (nach Anerkennung durch die

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zuständige religionsgesellschaftliche Oberbehörde) errichtet und geführt werden; letztere sind jene Bildungseinrichtungen, die das Öffentlichkeitsrecht erhalten haben; und nur diese. Ihnen können auf Grund des jeweiligen Budgetgesetzes des Bundes und nach Maßgabe der zur Verfügung stehenden Mittel Subventionen zum Lehrpersonalaufwand gewährt werden. Den konfessionellen Schulen hat der Bund diese Lehrpersonalkosten zu ersetzen. – Die Frage des freiwilligen Weiterbesuches einer Schule, also über die Schulpflicht hinaus, betrifft vor allem die Bewertung des Abschlusses der 12 Jahre Waldorfschule im Vergleich zu den 12jährigen höheren Schulen. In den ersten Jahren war die Reifeprüfung (Matura) an einer öffentlichen Schule abzulegen, was de facto zu einem 13. Schuljahr führte, oder ein weiteres Jahr war auch anzuschließen, wenn der Schüler, die Schülerin sich entschlossen hatte, die Maturaklasse einer öffentlichen Schule zu besuchen und mit den anderen Schülern die Prüfung abzulegen. Schrittweise wurde in den 90er-Jahren des vorigen Jahrhunderts die Reifeprüfung an einigen Waldorfschulen in die Schule hereingezogen; zusätzliche, meist Lehrkräfte aus öffentlichen Schulen waren dafür nötig. Die ohnedies externe Prüfungskommission kam an die Schule, wie an anderen Schulen auch, und hielt die Reifeprüfung im Rahmen der Waldorfschule ab.

Zur Rechtsgestalt Allgemeines Die Elemente der Rechtsform begrenzen von außen die Rechtsgestalt einer Privatschule in zweierlei Hinsicht: – die Dominanz der Lehrpläne für öffentliche Schulen und – die geforderte Erfüllung wesentlicher rechtlicher und organisatorischer Vorgaben. Diese beiden Elemente treffen für Schulen mit eigenem Organisationsstatut, wie eben die Waldorfschulen, – rechtlich gesehen – nicht so umfassend zu wie für andere Privatschulen; de facto ist der Unterschied gering. Die Dominanz zeigt sich nicht nur in den Genehmigungsvorgängen für Lehrpläne und in der Gewährung des Öffentlichkeitsrechtes an Privatschulen; das Schulrecht geht schlicht davon aus, dass die öffentlichen Lehrpläne den Standard bilden, eben das „Maß aller Dinge“ sein sollen. Der Begriff „gleichwertiger Unterricht“ wird in diesem Verständnis interpretiert. Darin liegt weniger staatliche Überheblichkeit als es zunächst scheinen mag; denn mit Bezug auf Bildungsinhalte und Lehrplangestaltungen war das staatliche Schulwesen nie einem Wettbewerb ausgesetzt gewesen, der eine andere Attitude staatlicher Behörden

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erzwungen hätte. Man hielt daher auch die österreichische Schule bis in die jüngste Zeit für in Europa vorbildlich; erst die Schulvergleiche der OECD und der EU rückten das geschönte Selbstbild zurecht. Die staatlichen Genehmigungen und Überprüfungen – von der Eignung der ­Schul­gebäude, der Qualifikation des Lehrkörpers, der Erfüllung des Jahresbildungszieles bis zum gewählten Lehrplan, der Verleihung des Öffentlichkeitsrechtes und der allfälligen Subven­tionierung der Privatschule – stellen administrative Vorgänge in operationeller Hinsicht dar, die über die Wahrnehmung eines durchaus verständlichen staatlichen Aufsichtsrechtes signifikant hinausgehen. Der Gestus des Schulrechts gegenüber nicht konfessionellen Privat­schulen ist eine Geste „von oben herab“ – wohlwollend gewährend, aber stets kontrollierend. Letzteres gilt genauso für die konfessionellen Schulen. Der Schlüssel zum Verständnis der aktuellen Rechtsgestalt liegt in einem unscheinbaren Nebensatz des Privatschulgesetzes: Privatschulen, die keiner öffentlichen Schulart entsprechen, ist das Öffentlichkeitsrecht zu verleihen, wenn (neben der Erfüllung zweier anderer Bedingungen) „die Organisation, der Lehrplan und die Ausstattung der Schule sowie die Lehrbefähigung des Leiters und der Lehrer mit einem vom Bundesministerium … erlassenen und genehmigten Organisationsstatut übereinstimmen“ und sie sich hinsichtlich ihres (!) Unterrichtserfolges bewährt haben (§ 14 Abs. 2 lit. b und c Privatschulgesetz 1961). Der Satz ist als der Rest der großen, liberalen Verfassungsfreiheit, Schulen zu gründen, übrig geblieben; mit den Grund- und Freiheitsrechten im Jahre 1867 verankert, lautete sie: „Unterrichts- und Erziehungsanstalten zu gründen und an solchen Unterricht zu erteilen, ist jeder Staatsbürger berechtigt, der seine Befähigung hiezu in gesetzlicher Weise nachgewiesen hat. Der häusliche Unterricht unterliegt keiner solchen Beschränkung … Dem Staat steht rücksichtlich des gesamten Unterrichts- und Erziehungswesens das Recht der obersten Leitung und Aufsicht zu“ (Art 17, Abs. 2, 3 und 5, Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867). Die Freiheit, die der politische Liberalismus zur Mitte des 19. Jahrhunderts meinte und verwirklichen wollte, bezog sich nie allein auf das formale, individuelle Grundrecht, gegen Kirchen und Staat gerichtet, Schulen zu errichten; die Freiheit bezog sich stets auch auf den Erziehungsauftrag, nämlich: frei, eigeninitiativ, nach eigenen bildungsphilosophischen Ansichten den Lehrplan zu erstellen und Unterricht zu erteilen; er schloss Unterrichtsziele und -methoden mit ein. Schulfreiheit war umfassend gedacht, sollte sie doch Bildungsmöglichkeiten neben den Schulen der Kirchen und des Staates eröffnen. Sie betraf sogar m.E. in erster Linie den Inhalt und die Bewährung nach eigenen Kriterien, nicht die organisatorische Existenz oder die Form und Struktur der Schule. In den nachfolgenden Schulgesetzen des Habsburgerreiches und der Ersten Republik verengte sich der Blick schnell. Vom Gesetzesvorbehalt, bezogen auf die Lehrbefähigung (siehe Art. 17 Abs. 2 Staatsgrundgesetz 1867), wurde mehr und mehr und dann ganz allge-

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mein durch viele Gesetze, die nicht nur die Lehrbefähigung, sondern potentiell alle Aspekte der Schulführung betrafen, Gebrauch gemacht. Nicht nur die liberale Politik selbst hatte bald geendet; gegen Ende des 19. Jahrhunderts und in den Folgejahren bis in die Zweite Republik standen der Aufbau und die Sicherung der staatlichen Schule gegen die konfessionellen Schulen im Vordergrund. Die Kontinuität des „Obrigkeitsstaates“ im Schulwesen der Republik mag durch die politische Blockade und Trägheit erklärt werden können. Für die Monarchie war der staatliche Einfluss positiv motiviert, er diente der Sicherung der Elitenmobilität.

Bezüge zur Waldorfschule Die Reduktion auf das formale Recht bleibt bis heute der Kernpunkt der Auseinandersetzung mit Privatschulen, die keiner öffentlichen Schulart entsprechen. Der eingeengte Blickwinkel bestimmte ja die Schulgesetze der Zweiten Republik. Es gab, wie noch zu erläutern sein wird, keinen Anlass, dieses Verfassungsverständnis vor den Höchstgerichten zu testen. Es kann kein Fall ausgemacht werden, der vor dem Reichsgericht (1869 – 1918) oder dann vor dem ihm nachfolgenden Verfassungsgerichtshof der Republik die Reduktion der Freiheit relativiert hätte, um den Anspruch auf eine inhaltlich andere Pädagogik durchzusetzen und zu schützen. Es fehlte bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts an Privatschulen, die aufgrund einer anderen Bildungsphilosophie eine Gegenposition vertreten hätten (können). Die Waldorfschule hätte historisch der erste Anlassfall sein können, wenn die Ereignisse in den 30er-Jahren, insbesondere im Jahre 1938, eine solche subtile pädagogische Auseinandersetzung nicht obsolet gemacht hätten. Es ist auch nirgends ersichtlich, ob damals erkannt worden war, welche Rechtsfragen mit der ersten Schulgründung tatsächlich verbunden waren. Bei gleichbleibender Verfassungsrechtslage, von den Unterbrechungen 1934–1938, 1938–1945 abgesehen, bestand die Privatschulfreiheit in dem verengten Sinne weiter, Schulen aufgrund bestehender Gesetze organisatorisch zu errichten. Die allfällig abweichenden Lehrpläne hatten ohne Diskussion daher im Sinne der staatlichen Standards nachgebessert zu werden; bestimmte Ausnahmen konnten mit Dispensen erwirkt werden. Die eigentlich pädagogische Diskussion wich der rechtlichen Betrachtungsweise und der Erledigung durch ministeriellen Bescheid. In der ministeriellen Interpretation nach dem Zweiten Weltkrieg galt der „Rest der großen Freiheit“ in § 14 Abs. 2 Privatschulgesetz nicht einmal mehr den allgemeinbildenden Schulen; die Vorschrift wurde zur Regelung (von Sonderfällen) der berufsbildenden Schulen angewendet. Als nach rund 10 Jahren ihrer Existenz die Rudolf-Steiner-Schule in Wien-Mauer den Antrag auf Verleihung des Öffentlichkeitsrechtes (in rechtlich nicht einwandfreier Form)

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stellte und ihr diese Anerkennung rundweg verweigert wurde, kam es zu einer politischen ­Demarche. Der damalige Bundesminister für Unterricht5 wurde unter Verweis auf die weltweit tätigen und anerkannten Waldorfschulen informiert, dass bei Ablehnung eines ergänzten und rechtlich verbesserten Antrages auf Genehmigung des Organisationsstatuts, des Lehrplanes und auf Gewährung des Öffentlichkeitsrechtes Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof erhoben werden würde. Es sei Zeit zu prüfen, ob und wie das Höchstgericht die Freiheitsreduktion beurteilen würde. Nicht, dass der Bundesminister die Ankündigung als bösartige Intervention angesehen hätte – er war da Lehrer genug um zuzugeben, dass der Vorstoß gerechtfertigt war. Ein neuer Antrag sollte gestellt werden. Der Verfassungs­ gerichtshof wurde nicht mehr bemüht (und der Anlass für ein Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof entfiel). Der neue Antrag war erfolgreich. Dem politischen Ereignis war ein persönliches Erlebnis vorausgegangen. Die Leiterin der Waldorfkindergärten besuchte, so wie es üblich ist, die Eltern eines ihrer Kindergarten­ kinder.6 Sie erzählte von der ministeriellen Ablehnung und beklagte sich. Sie merkte etwas hintergründig an, dass der Vater des Kindes, wie sie wisse, doch mit Anerkennungsproblemen in Europa beruflich zu tun hätte. Ob er nicht den Bescheid des Bundesministeriums prüfen wolle? Vielleicht einen Ausweg wüsste? Der Vater, der später für lange Zeit der Rechtsberater der Waldorfbildungseinrichtungen in Österreich war, nahm sich des Falles tatsächlich an, und zwar mit dem ausdrücklichen Hinweis auf die Verfassungsfreiheit; endlich läge der Anlassfall vor, in einem Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof den Umfang der Schulgründungsfreiheit zu bestimmen. Der historische Kontext Es lässt sich begründen, warum die Entwicklung des Privatschulwesens in der beschriebenen Art verlaufen ist. Im 19. Jahrhundert wurde im österreichischen Teil des Habsburger­ reiches oder „Cisleithanien“ die „Verstaatlichung“ des Schulwesens endgültig vollzogen. Das hieß, neben den kirchlichen Schulen waren öffentliche Schulen in neuen territorialen Lagen aufzubauen, um im Grunde die Vormacht der konfessionellen Schulen zu brechen; denn letztere sicherten damals das Bildungssystem in einem überwiegendem Ausmaß. Dabei spielte auch das politisch-liberale Motiv eine Rolle, sie zurückzudrängen, weil die konfessionellen Schulen die nationale Erziehung forcierten. Gerafft, ohne Details, sei das Ergebnis dieses langen politischen, konfessionellen und pädagogischen Konfliktes nachgezeichnet. Der Katholischen Kirche wurde das Recht zugestanden, weiterhin kirchliche Bildungseinrichtungen zu gründen und zu führen. An den öffentlichen Schulen war das „Unterrichtsprinzip Religion“ zwar aufzugeben, aber „Religion“ wurde ein Unterrichtsgegenstand der Lehrpläne, wie andere auch, und zwar ein Pflichtgegenstand für die Konfessionsangehörigen. Religionsunterricht war als „innere Angele-

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genheit“ der Kirche von ihr selbst und unter ihrer Aufsicht zu besorgen (missio canonica, Priester und Ordensleute als Lehrkräfte, Schaffung eines eigenverantworteten Unterrichtsmaterials, kirchliche Fachinspektionen für Religion). Die anderen gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften folgten nach und wurden nach dem gleichen Muster tätig. Die Konkordate 1855 und 1933 und die sie dann durchführenden Schulgesetze ent­ halten die Details der heftig umstrittenen Einigung7. Das Ergebnis blieb für die Zweite Republik aufrecht. Was heute kaum mehr nachvollziehbar erscheint, ist die Atmosphäre des „Kulturkampfes“, betreffend vor allem die Bildungsangelegenheiten, eingebettet in den allgemeinen politischen Streit über die Rolle der Kirche und der Religion im öffentlichen Raum des 19. Jahrhunderts. Er hatte nicht nur die politischen Parteien erfasst, sondern die Zivilgesellschaft im gesamten und die mächtige staatliche Bürokratie. Der „Kulturkampf“ bewirkte, dass noch 1918 – 1920 keine Einigung über einen neuen Grundrechtekatalog gelang (und der „alte“ im Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger 1867, etwas ergänzt, fortgeschrieben wurde) und keine Einigung über die Verfassungsartikel zum öffentlichen und privaten Schul- und Erziehungswesen zustande kam, vielmehr die Gesetze des Reiches, schrittweise immer mehr adaptiert, in struktureller und inhaltlicher Hinsicht weiterbestanden und weiterhin angewendet wurden. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg gelang eine Art „Aussöhnung der Lager“. In der „glorreichen“ Zeit der Großen Koalition, um das Jahr 1962, war es möglich geworden, den „Kultur­kampf“ mit einer neuen Schulverfassung, mit neuen grundlegenden Schulgesetzen und einer Ergänzung des Konkordates zu beenden. Ermöglicht haben die Beilegung des „Kulturkampfes“ im Vergleich zur Monarchie sicherlich die grundlegend andere soziale Struktur der Republik, wohl auch die fortschreitende Säkularisierung und Entpolitisierung. Mit der politischen Lösung war zugleich ein finanzieller Ausgleich verbunden – für den Beitrag der konfessionellen Schulen zum österreichischen Bildungssystem im Allgemeinen, der das Schulwesen ergänzt, bereichert und auch kostenmäßig entlastet. Die konfessionellen Schulen erhielten den Aufwand der Personalkosten ersetzt, primär, soweit es faktisch möglich war, durch die Zuweisung von Planstellen aus dem Kontingent der Landes- und Bundes­ lehrer. In der österreichischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie des 19. Jahrhunderts und in der nachfolgenden österreichischen Republik spielte das Privatschulwesen, abgesehen von den konfessionellen Schulen, eine untergeordnete Rolle, jedenfalls in qualitativer Hinsicht. Was Erziehungsauftrag und Lehrplan anlangt, unterschieden sich die konfessionellen Schulen, wenn man ihr religiöses Profil und die daraus folgenden Unterrichtselemente ­außer Betracht lässt, nicht von den öffentlichen Schulen. Sie waren von Anfang an Erneuerer des Schulwesens (z.B. die Realschulen und Berufsschulen) gewesen und konnten daher in der Republik die Lehrpläne übernehmen. Sie praktizierten also deren Lehrpläne, seit 1962

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auch die Grundprinzipien der Schulorganisation (wie z.B. die Aufgabenstellung der Schule, die Aufnahme von Schülern und Schülerinnen anderer Konfessionen – das Gleichheitsgebot). Erst die allgemeinbildenden, nicht konfessionellen Privatschulen in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts stemmten sich gegen die Dominanz der öffentlichen Lehrpläne und gegen die Art der Subventionierung von Privatschulen. Versuche, das System der Subventionierung zu ändern, waren nicht erfolgreich. Verwaltungs- und Verfassungsgerichtshof bestätigten in mehreren Urteilen die Verfassungsgemäßheit der bestehenden Regelungen. Die Subventionierung von Privatschulen blieb allerdings ein durchgängiges Thema der Bildungspolitik, Änderungen wurden bis heute aber nicht realisiert. Übrigens betrafen alle Reformen des öffentlichen Schulwesens, so tiefgreifend sie auch waren, nie das Privatschulgesetz in einer strukturverändernden Weise. Erst in jüngster Zeit erklärten Vertreter verschiedener Parlamentsparteien ihre Bereitschaft, die Vorschriften ändern zu wollen, vor allem eine „Gleichstellung“ der konfessionellen und nicht konfessionellen Privatschulen anzustreben. Dies bedeutet wohl, die Kriterien der Förderung neu zu formulieren, etwa auf die Verleihung des Öffentlichkeitsrechtes abzustellen oder die Bildungsleistungen der öffentlichen und privaten Schulen zu definieren, zu vergleichen und zu messen. In einigen Fällen hat die Unterrichtsverwaltung begonnen, „Leistungsverträge“ abzuschließen, statt Subventionen zu gewähren; diese Neuerung gestattet einen Leistungsaustausch auf gleicher Augenhöhe, denn das Instrument der Förderung der Privatschulen ist ein Vertrag, der die Leistungen beider Seiten bestimmt, nicht mehr das hoheitliche Instru­ ment der Subventionsgewährung in Durchführung des Privatschulgesetzes 1961. Diese Systemänderung ist (noch) nicht generell akzeptiert und durchgeführt.

Die Rechtsgestalt der österreichischen Waldorfschulen Wie ließe sich die Rechtsgestalt der österreichischen Waldorfschulen im Kontext des österreichischen Schulrechts formulieren? Sie sind in organisatorischer Hinsicht ein Teil des österreichischen Schulsystems; denn sie erfüllen alle wesentlichen rechtlichen und organisatorischen Anforderungen – wie eben andere Schulen auch. Sind sie es in anderer als organisatorischer Hinsicht? Dazu nochmals ein Blick in die Vergangenheit: Wenn bis zur Schulreform 1962 (und in manchen Punkten darüber hinaus) eine historische Kontinuität seit dem Habsburgerreich besteht, kann gefragt werden, worauf sich denn die politische Einigung zwischen dem christlich-sozialen und dem sozialistischen „Lager“ eigentlich bezog, zumal sie außerdem von divergierenden Interessen zwischen Bund und Ländern überlagert war. Alle „großen“ Bildungsreformen der Ersten Republik waren ja an der Unfähigkeit der „Lager“ zur Einigung gescheitert. Allein die Lösung des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen und

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die Existenzsicherung der konfessionellen Privatschulen, bereits im 19. Jahrhundert erreicht, blieben unangetastet. Was gelang dann in der Zweiten Republik, um von der politischen Aussöhnung und Reform des Schulwesens zu sprechen? Mit den Kompromissen des Jahres 1962 gelang die föderale Zuordnung des Schulwesens, einschließlich der Regelung der Schulverwaltung auf Länderebene, die Klärung der Förderung der konfessionellen Schulen sowie die Regelung der Schul- und Unterrichtsorganisation, eingebettet in eine neue Schulverfassung und Kompetenzverteilung. Aber so gut wie nie waren durch diese Reformgesetze die Bildungsinhalte betroffen. Sie hätten zum Teil die alten Konflikte erneuert, alte Gräben wieder aufgerissen! Darüber hätte es keinen Kompromiss gegeben. Die kommenden Lehrplanreformen wurden daher an die ministerielle Ebene ohne besondere inhaltliche Vorgaben delegiert; sie wurden unter Partizipation erfahrener und etablierter Lehrer und Lehrerinnen beraten. Bildungsphilosophische Auseinandersetzungen und Neuerungen, insbesondere die Internationalisierung des Schulwesens, kamen langsam voran; oft nur als Initiativen von „unten“, also von den einzelnen Schulen selbst. Wenig ist aus den Beratungen der Lehrplankommissionen publiziert. In der spannungsreichen politischen Lage war Pragmatismus angebracht, personalpolitische und dienstrechtliche Interessen begannen in den Vordergrund zu treten und die Reformdiskussionen zu überlagern. Für die Rechtsgestalt der Waldorfschulen hatte diese rechtlich-politische Situation eine gewisse Bedeutung. Ausschlaggebend war, ob die Dokumente zur Rechtsform nach staatlichen Kriterien erstellt werden konnten und wurden, das Wie, d. h., die inhaltliche, pädagogische Diskussion, blieb den Waldorfschulen weitgehend selbst überlassen. Wenn also die formalen, äußerlichen, messbaren Vorgaben, wie Schul- und Unterrichtsordnung, Unterrichtszeit, Stundenausmaß (Stundentafel), Schuljahrgliederung, Vergleichbarkeit der Ergebnisse auf bestimmten Schulstufen (Bildungsniveaus), nachweisbar erfüllt waren, konnten die Waldorfschulen ihren Lehrplan ohne enge Schranken umsetzen, wie eben die Fachebenen an öffentlichen Schulen in Durchführung der ministeriellen Lehrpläne auch eine gewisse Autonomie besaßen; daraus folgte, dass selbst die im öffentlichen Schulwesen nicht üblichen Fächer und Praktika (wie z.B. Gartenbau, Technologie, Schultheater, Sozialund Industriepraktika) akzeptiert wurden. Die besonderen Unterrichtsmethoden standen ohnedies nie infrage (wie z.B. Teamarbeiten, Projekte, Epochen-/Blockunterricht, Beachtung des Biorhythmus im Unterricht). Die Schulinspektoren bewunderten oft die didaktische Art, Ergebnisse zu erzielen, z.B. die Lesefreudigkeit in den Kindern bleibend zu verankern – trotz neuer Medien und Fernsehen. Viele Pädagogen erinnerten an die Konzepte der „Bundeserziehungsanstalten“, die seinerzeit praktische und handwerkliche Fächer in den Lehrplan der kognitiven Fächer einbezogen hatten; davon besteht nur mehr eine Schule im Land Salzburg. Die Einführung von Projektarbeiten an öffentlichen Schulen erscheint sogar von der Arbeit der Waldorfschulen mitinspiriert worden zu sein. Die künstlerische und praktische Durchdringung des Lehr­

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stoffes mag im Vergleich zu öffentlichen Sekundarschulen dagegen ein Defizit an Fachwissen nach sich ziehen, die Zusammensetzung der Klassen mit verschiedenen Begabungen und körperlichen Fähigkeiten mag wegen der unterschiedlichen Leistungsgruppen einheitliche Ergebnisse vermissen lassen. Unbeachtet sollte aber nicht bleiben, dass Waldorfschüler und -schülerinnen auch andere als kognitive Fähigkeiten erwerben und als tatsächlich erzielt und erworben nachweisen müssen. Der Abschluss der Sekundarstufe II, der nach allgemeinen öffentlichen Kriterien gestaltet ist und externe Prüfer in die Schule bringt, zeigt im Durchschnitt, dass vergleichbare Ergebnisse erzielt werden (können). Zusammenfassend: Der Waldorflehrplan blieb trotz der Beachtung der zahlreichen Rechtselemente staatlicher Prägung vollgültig erhalten – wie das ungetrübte Wasser eines Baches, der um Begrenzungen und Steine im Bachbett herum seinen Wiesenweg findet.

Nachwort Es ist kein Paradoxon, dass gerade in Österreich eine hier entwickelte Reformpädagogik, in Grundzügen aus guten Elementen des Habsburger Erbes erwachsen, lange verdrängt und spät beachtet wurde. Aus dem „Kulturkampf“, zu dem auch die Ablehnung Rudolf Steiners und seiner Initiativen, wie z.B. der Waldorfschule, durch die Katholische Kirche gehört, lassen sich Ausgrenzung und Nichtbeachtung der Waldorfschulen in Österreich nicht ableiten. Die Etablierung der Waldorfschulen in Österreich, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, war aus anderen als bildungsphilosophischen Gründen schwierig und erst verspätet möglich. Dennoch ist die Anerkennung der Waldorfpädagogik durch das öffentliche österreichische Schulwesen eine späte Respektierung der Bildungsphilosophie Rudolf Steiners und ihrer Weiterentwicklung. Heute wird die Reformpädagogik wiederum studiert und geachtet, die alternativen Päda­gogiken sind willkommen, die Atmosphäre ist freier geworden, die Diskussionen über Bildung und Schulen sind internationalisiert. Innerhalb dieses Prozesses spielten die Waldorfschulen eine anregende Rolle. Bildungsreformen übernahmen und übernehmen dennoch kaum Elemente der Reformpädagogik, genauso wenig, wie sie in der Regel erziehungswissenschaftliche Ergebnisse umsetzen; inhaltliche Dialoge im öffentlichen Raum fehlen, organisatorische und personalpolitische Auseinandersetzungen überwiegen. Bildungsreformen entstehen eben eher durch (innen)politische Mechanismen als durch die fachpädagogischen Argumente und Anregungen. Den staatlichen Mechanismen widerspricht und widersteht die Waldorfpädagogik prinzipiell; Erziehung und Bildung sind im autonomen Schulbereich pädagogische Aufgaben der Lehrer und Lehrerinnen, möglichst freizuhalten von gesellschaftlichem Druck und politischen Vorgaben.

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Anmerkungen 1 Nota bene: Der Beitrag versucht, in allgemein verständlicher Weise die Rechtslage der österreichischen Waldorfschulen darzustellen. Er handelt zwar von Rechtsfragen, ist aber keine rechtliche, rechtswissenschaftliche Abhandlung; daher fehlen umfassende Rechtsquellenangaben und Hinweise auf die wissenschaftliche Literatur – mit wenigen Ausnahmen, die für den interessierten Leser gedacht sind. Die Interpretation der geschichtlichen Kontexte in der Entwicklung des Schulwesens, bezogen auf die Waldorfschulen, wird hier erstmals vorgestellt; sie könnte also ohnedies nicht mit Literaturhinweisen unterstützt werden.

Zu den Gründungsjahren der österreichischen Waldorfschulen siehe Schulberichte, das Orchester

2 Für Interessierte: F. Jonak/L. Kövesi, Das österreichische Schulrecht, zuletzt in 11. Auflage, Wien. 2007. 3 Georg Barkhoff 4 In der Folge entstand daraus die im Auftrag des Haager Kreises unternommene Arbeit: T. Richter (Hg.). Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele – vom Lehrplan der Waldorfschule. Stuttgart. 2003, jetzt in 3. Auflage 2010. 5 Fred Sinowatz, Bundesminister für Unterricht und Kunst 1975 bis 1983. 6 Bronja Zahlingen (siehe Bronja Zahlingen, Leben und Wirken), Linda und Raoul Kneucker. 7 Für Interessierte: A. Rinnerthaler (Hg.), Das kirchliche Privatschulwesen – historische, pastorale, rechtliche und ökonomische Aspekte. Frankfurt/Wien. 2007. H. Kalb/R. Potz/B. Schinkele. Religionsrecht, Wien. 2003. H. Engel­ brecht, Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht auf dem Boden Österreichs, Wien 1988

D i e L e h r p l a n g e s ta lt Tobias Richter

In meinem Bücherregal gibt es eine Abteilung „Lehrplan“. Bevor ich mit dem Schreiben dieser Abhandlung begann, schaute ich nach, was ich von diesem Bestand verwenden würde. Die Sammlung reicht vom Waldorfklassiker Caroline von Heydebrand („Vom Lehrplan der Freien Waldorfschule“ 1925) über „den Stockmeyer“ („Rudolf Steiners Lehrplan für die Waldorfschulen“, interner Manuskriptdruck für Waldorflehrer, 1955), verschiedene Ausarbeitungen deutscher, dänischer, norwegischer und kroatischer Waldorfschulen, Kompendien zum Waldorfcurriculum bis zum voluminösen, mehr als 600-seitigen Opus „Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele – vom Lehrplan der Waldorfschule“. Dazwischen stehen noch eine englische und ungarische Übersetzung des letztgenannten Titels und – ganz klein und schmal – einige Lehrplanheftchen aus der Anfangszeit der Waldorfschule in Wien. Mit diesen Heftchen ausgestattet, die sich allesamt auf die 52 Seiten umfassende Arbeit Caroline von Heydebrands bezogen, arbeiteten wir Lehrer bis in die 70er-Jahre. Natürlich stand uns der vorhin genannte Stockmeyer zur Verfügung und wir benutzten alle im pädagogischen Werk Rudolf Steiners zu findenden (aber oft erst zu suchenden) Lehrplanhinweise. Um bildlich auszudrücken: Wir errichteten aus einzelnen Bauelementen oft sehr individuelle Häuser, Bungalows, Villen – je nach Fähigkeiten der Architekten und nach den Bedürfnissen der Bewohner. Oft gab es Mauerlücken, schlossen die Türen nicht richtig, war das Fundament zu wackelig oder das Dach löchrig. Dass dies den in einem solchen Gebäude lebenden Bewohnern – gemeint sind hier natürlich die Schülerinnen und Schüler – nichts ausmachte oder immer gut bekam, wäre fahrlässig zu behaupten; lebendig und bunt ging es ganz sicher zu – aber manchmal doch auch zu lebendig und kunterbunt … Immerhin reichte dieser Lehrplan aus, um 1971 die Anerkennung der Rudolf-SteinerSchule in Wien-Mauer als „zur Erfüllung der Schulpflicht geeignet“ zu erhalten. Dann ging es um die Erlangung des Öffentlichkeitsrechtes auf Dauer für die 12-klassige Rudolf-Steiner-Schule. Dazu mussten ein umfangreiches und detailliert ausgearbeitetes Organisationsstatut erstellt und ein konkreter und strukturierter Lehrplan ausgearbeitet werden. Diese Lehrplanarbeit wurde vom gesamten Kollegium der Rudolf-Steiner-Schule durchgeführt. Es gab eine kleine Koordinationsgruppe von Lehrern, der ich angehörte, die zusammen mit dem Rechtsberater der Schule, Raoul Kneucker, die Richtlinien besprachen und diese dann dem Kollegium kommunizieren mussten. Letzteres war nicht immer leicht. Elisabeth

Die Lehrplangestalt

Skizze zum Lehrplan

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Gergely nahm an diesen Besprechungen nicht nur teil, sondern half uns, einen Waldorflehrplan mit österreichischer Note zu konzipieren. Es entstand ein Rahmenlehrplan, der aber nicht mehr dem Rechtstopos „Schule mit ausländischem Lehrplan“ entsprach. Die „Architektur“ war wohl auf der Menschenkunde Rudolf Steiners und den dazugehörenden Lehrplanvorträgen gegründet, der „Baustil“ aber war einer, der sich auf die österreichische Kultur und die darin aufwachsenden Kinder und Jugendlichen bezog. Dieser Lehrplan wurde bei der Schulbehörde eingereicht und mit dem dazugehörenden Organisationsstatut auch genehmigt. Mit der Verleihung des Öffentlichkeitsrechtes auf Dauer im Jahr 1983 war ein wesentliches Etappenziel erreicht. Christian Hitsch als Kollege und Künstler, der sich an Goethes Metamorphosenlehre immerfort schulte, wurde in dieser Phase – sie fiel in die Zeit des Festsaalbaues – nicht müde, plastische Formen zusammen mit den Schülern und dem Kollegium zu suchen, welche in Beziehung zur menschlichen Entwicklungsdynamik gebracht werden konnten. Diese künstlerischen Übungen beeinflussten – besser wäre es zu sagen: befruchteten – auch die zeitgleich stattfindende Arbeit am Lehrplan. Eine damals entstandene Lehrplanskizze, welche die auf die Entwicklungsmotive oder -fragen antwortenden Schuljahresthemen benennen möchte, verdeutlicht diese gemeinsame Suche: Freilich, es ist eine Skizze – ohne jeden Anspruch auf Verbindlichkeit. Damals begleitete sie uns jedoch und zeigt, dass Hauptmotive der Klassenstufen als „entwicklungsdynamischer Wirbel“ gelesen werden können: Aus der aperspektivischen Weite der Kindheit zur „Engführung“ in der Zeit der Erdenreife und von dort, in zunehmender Selbständigkeit, zur verantwortungsvollen Realisierung frei gewählter Aufgaben (was in der vorangehenden Skizze mit „Pflicht“ gemeint ist). Weiterhin waren wir jedoch mit der Tatsache konfrontiert, dass nach der 9. Schulstufe die Schüler eine Externistenhauptschulprüfung zu absolvieren hatten und später diejenigen, die eine Reifeprüfung anstrebten, zahlreiche Vorprüfungen zu bewältigen hatten, bevor sie zur Matura antreten durften. Wir wollten das ändern und aus diesem Grunde galt es, zwei Lehrplanvergleiche durchzuführen, für Hauptschulen und Gymnasien. Diese Arbeit begann bald nach der Verleihung des Öffentlichkeitsrechtes und zog sich über mehrere Jahre hin. In diesem Zusammenhang ist vor allem der damalige Oberstufenkollege Klaus Podirsky zu nennen, der mit einem kühnen Entwurf einen Lehrplan der Oberstufe entwarf, in welchem partiturgleich die Abgestimmtheit der einzelnen Unterrichtsthemen für die jeweilige Schulstufen in Erscheinung traten. Einen dementsprechenden Lehrplan für die Schulstufen 1 bis 8 auszuarbeiten, fiel dann mir zu. Diesem überblicksartigen „horizontalen“ Lehrplan schloss sich ein „vertikaler“ an, in welchem die anthropologisch-entwicklungsdynamisch begründeten Unterrichtsziele

Die Lehrplangestalt

Brief an das Unterrichtsministerium

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Brief an das Unterrichtsministerium, Fortsetzung

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jedes Faches von der ersten bis zur zwölften Schulstufe beschrieben und die möglichen Lehrinhalte benannt waren. Dann mussten die Lehrpläne der österreichischen Hauptschulen und Gymnasien studiert werden, da es galt, Übereinstimmungen, Ähnlichkeiten und Unterschiede sichtbar zu machen und diese in zusätzlichen Ausarbeitungen der Schulbehörde vorzulegen. Um einen solchen Vergleich bis in alle Einzelheiten durchführen zu können, war es nötig, Stunden­ tafeln zu erstellen und Epochenzeiten in Lehreinheiten (Unterrichtsstunden pro Jahr) umzurechnen. Durch die Vernetzung der künstlerischen und praktischen Fächer mit den theoretischen, stellte dies ein aufwendiges Unterfangen dar, das in souveräner Weise von dem Kollegen Karl Hruza bewältigt wurde. In diese intensive und lang andauernde Lehrplanarbeit waren Kolleginnen und Kollegen aus allen Waldorf-/Rudolf-Steiner-Schulen Österreichs eingebunden, ging es doch darum, einen bundesweit gültigen Erlass zur Regulierung der Abschlussfragen für alle nach der Pädagogik Rudolf Steiners arbeitenden Schulen mit Öffentlichkeitsrecht zu erwirken. Im Jahre 1992 war die Arbeit abgeschlossen und konnte dem Bundesministerium für Unterricht und Kunst übergeben werden: In der Folge wurden 9 von 12 Vorprüfungen zur Externisten-Matura aufgehoben und das öffentliche Hauptschulzeugnis – als Abschluss der Pflichtschule – von den Lehrern der Waldorf-/Rudolf-Steiner-Schulen selbst ausgestellt. Somit war die Gleichwertigkeit der Waldorfpädagogik voll anerkannt. „… in deutscher Sprache liegt kein anderer vollständiger Lehrplan der Waldorfpädagogik vor.“

Dieser Satz steht in unserem Schreiben vom 18. November 1992 an das österreichische Unterrichtsministerium. Bei der Internationalen Konferenz der Waldorf-/Rudolf-Steiner-Schulen („Haager-Kreis“) im darauffolgenden Jahr legte ich den österreichischen Waldorflehrplan vor. Er wurde eingesehen, fand Zustimmung und ich erhielt den Auftrag, diesen für eine Buchveröffentlichung vorzubereiten – der ersten nach dem 1925 erschienen Bändchen von Caroline von Heydebrand. Die seit den Siebzigerjahren bestehende curriculare Diskussion ließ das von Heydebrand knapp und prägnant gezeichnete Bild als zu „durchlässig“ erscheinen. Darüber hinaus kritisierten zahlreiche Autoren, dass manche Lehrer Angaben zum Lehrplan zitierten, die nicht nachprüfbar seien, da sie nicht allgemein zugänglich vorlägen. Der neu zu erstellende Rahmenlehrplan sollte darüber Auskunft geben, welche fundierte pädagogische Arbeit an Waldorfschulen geleistet wird. Als dieser Lehrplan der deutschsprachigen Waldorflehrerschaft in einem Vorabdruck zur Kenntnis gebracht wurde, gab es zahlreiche heftige Reaktionen, die dreierlei deutlich machten:

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1. Jeder Waldorflehrer muss die Freiheit zur individuellen Lehrplangestaltung haben. Ein solches Buch könne als Vorschreibung verstanden werden. 2. Lehrfreiheit und Methodenfreiheit seien die oberste Gebote: Anders formuliert: „Wir Waldorflehrer wollen keinen öffentlich zugänglichen Lehrplan.“ Was darin als Unterrichtsinhalte beschrieben ist, könnte morgen womöglich von Eltern und Behörden eingefordert werden. 3. Was von „den Österreichern“ erarbeitet wurde, bezieht nicht in allen Punkten die Leistungen derjenigen Kolleginnen und Kollegen ein, die inzwischen (vor allem in Deutschland) als Fachbeiträge zu einzelnen Unterrichtsgebieten ausgearbeitet, publiziert und teilweise schon kanonisiert waren. Es gab jedoch auch andere Reaktionen, solche, die den Vorabdruck als Orientierungshilfe, als Material zur Öffentlichkeitsarbeit und für Genehmigungsverfahren dankbar begrüßten, doch gingen sie in den Turbulenzen der folgenden Diskussionen unter … Landauf, landab begann eine – teilweise sehr emotional geführte – Lehrplandebatte in den Waldorfkollegien. Wo diese zu echten, auch diskursiven Gesprächen über das, was mit einem Waldorflehrplan gemeint sein kann, führte, regte sie die didaktische Arbeit an. Dennoch stellte sich die Frage, ob das Projekt wieder eingestellt oder anders fortgesetzt werden sollte. Die Entscheidung der internationalen Konferenz der Waldorf-/Rudolf-SteinerSchulen lautete, kurz zusammengefasst: Neuer Anlauf! Die Pädagogische Forschungsstelle beim Bund der Waldorfschulen, Stuttgart, sagte ihre Mithilfe und Patronanz zu und es wurde darüber hinaus ein international besetztes Gremium von Waldorflehrern zur Mitarbeit eingeladen. Auf diese Weise konnten Einwände und Veränderungsvorschläge berücksichtigt und, wo notwendig, in neuen Fachgremien weiterbearbeitet werden. Auch daran zeigte sich, dass die Arbeit am Waldorflehrplan nur dann gedeihlich sein kann, wenn der Dialog gepflegt wird. Das war in Wien, dann in ganz Österreich so gewesen und musste notwendigerweise den weiteren Weg des Waldorflehrplanes begleiten. Im Jahre 1995 erschien als Manuskriptdruck eine Ausgabe, die – man war vorsichtig geworden – grundsätzlich orientierenden und beispielhaften Charakter hatte, ohne ausgewiesenermaßen im Einzelnen verpflichtendes Curriculum zu sein. Sie verdeutlichte aber, was im anthroposophischen Bildungs- und Erziehungskonzept als pädagogische Praxis veranlagt und zu entwickeln möglich ist. Sieben Jahre später folgte schließlich die erste, gegenüber dem Manuskriptdruck nochmals gründlich erweiterte und überarbeitete Buchveröffentlichung unter dem Titel Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele – vom Lehrplan der Waldorfschulen. Dieser Titel knüpfte bewusst an den Lehrplan Caroline von Heydebrands an und verband ihn mit seinem Vor­ läufer.

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Damit war und ist jedoch die Arbeit am Lehrplan nicht als abgeschlossen zu betrachten. Vor jeder Neuauflage – die inzwischen dritte Buchveröffentlichung erschien im Oktober 2010 – erging jeweils die Bitte an alle Kolleginnen und Kollegen, Änderungs- und Ergänzungsvorschläge einzusenden, um sie dann in die Bearbeitung einzubeziehen. So wächst der Lehrplan, doch dieses Wachstum ist nicht ein rein additives. Vieles kann besser, präziser formuliert werden und vor allem ergeben sich neue Bezüge bzw. diese sind im Dialog mit den Zeitfragen und der sich verändernden Situation der Kinder und Jugendlichen herzustellen. Daran zeigt sich, dass die Waldorfpädagogik eine dynamische Pädagogik ist. Und auch dafür soll diese Lehrplanarbeit stehen, die, wie könnte es anders sein, als „work in progress“ zu verstehen ist oder – um das Gestaltthema nochmals zu benennen – als „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“ (Goethe). Bildnachweis: Archiv des Herausgebers

A r b e i t a n d e r p h y s i s c h e n G e s ta lt

TR: Kehren wir zum Thema der Gestalt von „Haus und Hof“ zurück: Wie hast du den Schulausbau, das Schaffen von Räumen erlebt? EG: Der Einzug ins Maurer Schlössl bedeutete nicht das Ende der Bauarbeiten, ganz im Gegenteil: Es folgten Sanierungsarbeiten, Verschönerung, Umbau, Dachbodenausbau, Ergreifen des Wirtschaftstraktes, auch hier Umbau, Ausbau, alles blieb im Rahmen der Vorgaben, dieses bestmöglich zu nutzen, jedoch noch nicht zu gestalten. Dazu war die Zeit noch nicht reif, die innere Möglichkeit noch nicht gegeben. 1972 kam die Grundsteinlegung für einen Kindergartenbau. Aus der gemeinsamen Planung eines Schulvater-Architekten und einer erfahrenen Kindergärtnerin entstand ein ansprechender Bau, der 1973 von fröhlichen Kinderscharen ergriffen wurde und sich als Lebensraum für drei Kindergartengruppen bestens bewährt hat. Später wurde auch dieses Gebäude zu klein, musste umgebaut und erweitert werden, sodass auch eine Kleinkindgruppe Platz fand. Nach diesen Bauleistungen – und den damit verknüpften Finanzierungsproblemen – wünsch­ten sich viele eine Baupause, um neue Kräfte zu sammeln, denn stets war es unser Anliegen, die nach außen sichtbar werdenden Schritte im Einklang, im Gleichgewicht zu halten mit der inneren Entwicklung. 1974 wurde uns das dem Maurer Schlössl gegenüberliegende Haus zum Kauf angeboten; da in unmittelbarer Umgebung kaum jemals eine Liegenschaft angeboten wird, griffen wir zu und konnten in einem Jahr den vollen Kaufpreis von 4,5 Millionen Schilling aufbringen. Damit war nun auch ein Garten mit altem Baumbestand als Bewegungsraum für die Schüler unser Eigen. Die nächsten Jahre waren wir mit diesem Haus beschäftigt, in nicht ganz so altem Gemäuer wie im Maurer Schlössl, doch auch hier instandsetzend, umbauend, ausbauend. Im Jahre 1980 schließlich übernahmen wir in unmittelbarer Nähe ein zweites, leerstehendes Schulhaus von der Stadt Wien. Das war eine glückliche Fügung, denn die Schüleranmeldungen nahmen fast explosionsartig zu. Damals wurde dann eine zweite Wiener Schule geplant und dieses Projekt galt als Vorstufe für die vollständige Loslösung von der Mutterschule. Damit konnten wir den heranwachsenden so genannten A-Klassen den nötigen Schulraum geben und eine gewisse Eigenständigkeit ermöglichen. Es fehlte aber noch ein Festsaal, der groß genug für die ganze Schulgemeinschaft war. Das Schlössl selbst musste in seiner wohlproportionierten Gestalt erhalten bleiben, der straßenseitige Anblick des Ensembles durfte aus Gründen des Denkmalschutzes nicht verändert werden, der öffentliche Park gestattete auch keine nennenswerte Vergrößerung der zur Verfügung stehenden Grundfläche, einzig der Hof innerhalb des Nebengebäudes bot sich als

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„freies“ Gelände an. Nach reiflichem Erwägen und Prüfen verschiedener Möglichkeiten wurde mit der Planung durch Architekt Manfred Kobel und unseren Werk- und Kunstlehrer Christian Hitsch begonnen.

Da s W e r d e n d e r I n n e n g e s ta lt Christian Hitsch Bevor der Ausbau des Festsaales und eines Oberstufentraktes begann, entstanden im Werkunterricht der Klassen zehn bis zwölf größere Gemeinschaftsarbeiten, die sich um das Thema der Metamorphose im Plastischen bewegten: Die eine Form entspringt dabei immer aus der vorangegangenen bzw. ein und dasselbe „Motiv“ erscheint, sich verwandelnd, durch alle Stufen hindurch. Die Schüler hatten also die Aufgabe, nicht nur in unmittelbarer Tätigkeit aufeinander Rücksicht zu nehmen, sondern ihre Schnitzarbeit in das Ganze so einzufügen, wie sich etwa die Blätter einer Pflanze in deren ganzen Bau und deren Verwandlungen eingliedern. Damit waren Arbeiten entstanden, die über das hinausreichen, was ein Einzelner zu leisten vermag. Wenn es sich da auch um Übungen des Plastizier- und Werkunterrichtes handelte, so wurde doch im Keime dasjenige sichtbar, was im Folgenden beschrieben werden soll. In Zusammenarbeit mit Manfred Kobel als bauführendem Architekten ergaben sich dann immer mehr Ansätze, am Entwerfen der Innengestalt aus eigenen Kräften der Schule heraus mitzuwirken. Modelle wurden entwickelt, die ein stufenweises Sich-Hinein-Fühlen in das Gegebene möglich machten. Während der Arbeit an den Modellen lebte neben dem „Gespräch“ mit dem Vorhandenen immer die Frage: Wie wirken die Formen und Proportionen auf den Menschen? In unserem Falle ging es um den werdenden Menschen, der zwölf Jahre in diesen Räumen leben, aus- und eingehen wird. Ein zweites Gestaltungsmotiv hing mit dem „Altbau“ zusammen – schließlich galt es, auch diesen zu würdigen: Über jedem Fenster und Tor des Altbaues befindet sich eine Art Schlussstein. Es scheint dieser ein „Ausdrucksrest“ einer ursprünglichen Bauempfindung zu sein, welche im „An-den-Schluss-Stellen“ eines Steines einen besonderen Kraftpunkt sah. So haben wir versucht, diese Gestaltungsidee in verwandelter Form und organisch in den Neubau aufzunehmen – heute ist sie beim Eingang in den Saal und bei der Bühnenöffnung sichtbar. Zugleich wollten wir dem „Geschehen“ an den jeweiligen Stellen des Baus Rechnung tragen. Wir orientierten uns am Goetheanum-Bauimpuls Rudolf Steiners, um in den neuen

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Schluss-Stein Altbau

Schluss-Stein Eingang Festsaal

Räumen der Schule sichtbar zu machen, was ohne eine jahrelange Auseinandersetzung mit diesem Impuls nicht sichtbar geworden wäre. An dieser Stelle sei im Besonderen auf die Tätigkeit des „Goetheanistischen Arbeitskreises“ um Wilhelm Reichert in Wuppertal hingewiesen (aus diesem Arbeitskreis kamen im Sommer 1982 viele freiwillige Helfer zu uns). Das Suchen in Bezug auf das Plastisch-Architektonische sollte die Formen immer aus einem inneren Prinzip selber herausholen und erfassen und nicht einfach nur die Formen, etwa des Goetheanums in Dornach, äußerlich nachahmen. Als der Bau noch im Rohzustand war, schnitzten Schülerinnen und Schüler die Rahmen von acht Türen, welche zwar je nach Ort und Situation verschieden, jedoch aus ein- und demselben Prinzip heraus gebildet worden waren. Wir stellten uns die Frage: Was können wir aus unserer Arbeit mit den Schülern und mit Helfern (Eltern, Lehrern und Freunden) selber leisten? Das schien aus der „Not der Mittel“ ebenso zu entspringen wie aus dem Wollen, nicht einfach einen „schlüsselfertigen Bau“ vollendet erstellen zu lassen (der es einer Schule später schwermachen könnte, ihn auch innerlich zu ergreifen). Mit jedem Stück wuchsen der Mut und die Zuversicht, auch jene größeren Arbeiten, die der Innenbau mit sich brachte, selber meistern zu wollen. Durch die Schüler und ihre unvoreingenommene „Willenshaltung“ war es allein möglich, in dieses Wagnis einzutreten,

Das Werden der Innengestalt

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Festsaal, Bühne mit Rednerpult

das Zusammenarbeiten von Fachleuten mit Laien, Eltern, Lehrern, Schülern und Freunden auf größere künstlerische Aufgaben auszuweiten. Im Sommer und Herbst 1982 wurden in diesem Sinne die meisten Räume des Altbaues und alle Räume des Neubaues lasiert und gefärbt und auch die nötigen Schnitzarbeiten geleistet. Die Freude am künstlerischen Tun war groß, als die Späne von dem aus 13 Kubikmetern Rüsternholz verleimten Bühnenportal unter emsigen Hammerschlägen flogen. In neun Wochen täglichen Schnitzens konnte man die Formen herauswachsen sehen. Bald war das Modell vergessen und an Ort und Stelle die Gestalt gefunden. Ein dazupassendes Rednerpult und Heizkörpervorsätze entstanden. Die Reliefformen-Pilaster und der Träger zwischen den Saaltüren begannen, sich gleichsam zu bewegen, indem sie durch Betonmörtel aus den Wänden herausplastiziert wurden. Jetzt konnte man schon sehen, wie Formen, von jedem Mittelpfeiler ausgehend, links und rechts verschieden, an den Saalwänden sich zum Bühnenportal vorarbeiteten, um in der Mitte desselben über dem Rednerpult wieder zusammenzuwachsen. Immer dort, wo auf den Wänden ein Dachträger ruht, „antwortet“ die Wand – wo der Saal enger ist, weniger deutlich, wo er breiter wird, kräftiger und bewegter. Die vier Relief-Pilaster der linken Wand zeigen, wie ein Oberes, Lastendes stufenweise aufgenommen wird von einem Tragenden. Die der rechten Seite machen es umgekehrt, indem das Tragende sich aktiv in ein Lastendes hineinarbeitet.

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Kapitelle links

Kapitelle rechts

Der Pfeiler in der Mitte der Rückwand bildet den Ausgangspunkt. In fünf Stufen wird ein Oberes (links) bzw. ein Unteres (rechts) verinnerlicht – „abgetrennt und aufgenommen“. Die 6. Stufe (Bühnenportal) zeigt dann ein Aufbrechen des Inneren, um sich im 7. Motiv, das die beiden Seiten zusammenführt, wiederzufinden (Bühnenportal, mittleres Motiv über der Bühne und unten am Bühnensockel).

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Das Werden der Innengestalt

So sind 12 Motive entstanden. Die 1. und 12. Form erscheinen als Ausgangspunkt bzw. Endpunkt der Formverwandlungen, deren es zwei mal sieben gibt, da ja eins und sieben beiden Metamorphosenreihen angehören. Da der Saal ein Mehrzweckraum sein musste und zudem die Maße in der Höhe, Breite und Länge vorgegeben waren, versuchten wir, durch die Gliederung und die Drehung der Dachflächen den Eindruck zu erwecken, dass der Raum sich nicht nur nach vorne, zur Bühne hin weitet, sondern auch höher erscheint. Als im Herbst die vielen Helfer abreisen mussten, weil die Schule wieder begann und alle Arbeit nun dem Ziele der Eröffnung

Metamorphosen-Rosette

12 Kapitell-Motive

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zugewandt war, kamen die Schüler mit frischen Kräften aus den Ferien. In wenigen Wochen schälten sie (mit großen Eisen und Hämmern) die Türformen des Saales aus dem massiven Holz und ebenso den fahrbaren Bühnenvorsatz. Nicht weniger als 30 m2 Oberfläche waren da fein schnitzend zu spannen und zum Leben zu erwecken. Im Rückblick erscheint ganz gewiss, dass überall dort, wo der Versuch gewagt wurde, sich auf neuen Boden zu stellen, die Kräfte wie von selbst sich einstellten und organisierten. Die vielen Helfer – auch aus der Bundesrepublik Deutschland – kamen letztlich nicht nur, um der armen Wiener Schule zu helfen, sondern aus Liebe an künstlerischer Tätigkeit. Je mehr eine Arbeit liebevoll getan wird, umso mehr wird sie den Menschen dienen. Wo künstlerisch gearbeitet wird, werden diese Hingabekräfte geweckt; sie führen uns in den Zustand, der uns auf der Suche nach der Freiheit wird begleiten müssen: „Die Kunst ist die Frucht der freien Menschennatur. Man muss die Kunst lieben, wenn man ihre Notwendigkeit für das volle Menschenwesen einsehen will. Zur Liebe zwingt das Leben nicht. Es gedeiht aber nur in der Liebe. Es will sein Dasein in dem zwanglosen Elemente.“ (Rudolf Steiner, Pädagogik und Kunst, GA 36, Vortrag vom 1. April 1923)

Bildnachweis: Archiv Christian Hitsch

M at e r i e l l e G r u n d l a g e d e s G e s ta lt e n s

TR: Wie gelang die Finanzierung der zahlreichen Bauvorhaben? EG: Wir hatten für die Schulgründung 500.000 Schilling (ca. 36.000 Euro) vom weltbekannten Wiener Erzeuger von Musiksaiten, Otto Infeld, erhalten; das war unser Startvermögen. Den Pachtvertrag für das Maurer Schlössl verdanken wir der damaligen Vizebürgermeisterin Gertrud Fröhlich-Sandner. Ich hatte menschlich eine sehr gute Beziehung zu ihr und sie hat wirklich viel für die Schulbewegung getan. Ursprünglich hatte Fröhlich-Sandner für das Maurer Schlössl ein Offert für den Umbau in eine Jugendherberge in der Höhe von sieben Millionen Schilling vorliegen. Wir dagegen hatten nur eine halbe Million. Da habe ich ihr gesagt: „Frau Vizebürgermeisterin, natürlich machen wir das, wir müssen halt sehen, wie weit wir mit der halben Million kommen.“ Mit großer Anteilnahme, sie war ja auch Lehrerin gewesen, hat sie dann immer unsere Berichte über den Fortgang der Arbeit gelesen. Nun berichte ich eine Episode, die – glaube ich – typisch ist für Österreich: Wir waren gerade ins Maurer Schlössl eingezogen und eine große feierliche Eröffnung mit Vizebürgermeisterin Fröhlich-Sandner hatte stattgefunden. Dann kam Nikolo. An diesem Tag erhielt ich einen Anruf aus dem Rathaus vom Büro der Vizebürgermeisterin: „Wissen S�, Frau Doktor, ich muss Ihnen das unbedingt jetzt sagen, ich komm’ direkt aus dem Gemeinderat, Sie kriegen eine Million Schilling (ca. 72.000 Euro), einfach geschenkt! Aber sagen Sie es net ­weiter!“ Das war der schönste Nikolo, an den ich mich erinnere. Ich empfand es als Anerkennung der Leistung, das Schlösschen in einen sehr respektablen Zustand versetzt zu haben. Spätestens seit diesem Erlebnis beschäftigte mich die Frage nach den unterschiedlichen Qualitäten von Schenkgeld, Leihgeld und Zahlgeld. Wichtige Impulse gingen für mich diesbezüglich von Wilhelm Ernst Barkhoff aus.

D i e W i r t sch a f t sg e sta lt – G e l d a l s sozi a l e s Me d i um Elisabeth Gergely Die erste Begegnung mit Wilhelm Ernst Barkhoff, dem Begründer des anthroposophisch orientierten Bankwesens, fand in den 70er-Jahren anlässlich der jährlichen Schulvereinstagung in Stuttgart statt. Sie wurde für mich zu einem tiefgreifenden Erlebnis: Es sprach hier ein Mensch von einer neuen Sicht in die Natur des Geldes: Dieses sozialwirtschaftlich

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verbindende Medium – vielfältig verkannt und missbraucht – sollte neu erkannt werden in den drei Prozessen von Zahlen, Leihen und Schenken. In drei Bochumer Einrichtungen – der Gemeinnützigen Treuhandstelle, der Kreditgarantie­ genossenschaft und der GLS Gemeinschaftsbank – wurden neue Wirtschaftsformen entwickelt. Die Erfahrungen aus der Lebenspraxis dieser neuen Wirtschaftsformen sollten ein neues Bewusstsein schaffen für den Umgang mit Geld. Was Barkhoff aussprach, war einleuchtend, dennoch klang es wie ein Märchen. Ein Märchen, das nicht beginnt mit: „Es war einmal“, sondern mit: „Es wird einmal sein und ist schon jetzt.“ Nicht soziale Theorien sind zu entwerfen, sondern individuelle Methoden und Handhabungen am jeweils konkreten Problem sind zu entwickeln. Denn nur eine wirklichkeitsgerechte geisteswissenschaftliche Forschung auf sozialem Gebiet kann zur Grundlage werden für die Pflege eines sozialen Lebens in die Zukunft hinein. Wieder zurückgekehrt in den Tätigkeitsfeldern der Maurer Schule, erschienen die wirtschaftlichen Fragen in einem völlig neuen Licht, doch war klar, dass dieses Licht erst individuell zu erarbeiten sein würde, sodass es wirksam werde im weiteren Schulaufbau, in der bevorstehenden Schulraumerweiterung, dem die ganze Schulgemeinschaft fassenden Festsaal und für die gesamte Raumgestalt der Wiener Rudolf-Steiner-Schule. Das Interesse in der Elternschaft und im Umkreis der Schule an den schöpferischen Impulsen von Barkhoff und seiner ersten Verwirklichung in den genannten Bochumer Einrichtungen war groß. So wurde es bald unser gemeinsames Ziel, die Raumgestalt der Wiener Rudolf-Steiner-Schule auf neuem Wege der Baufinanzierung zu errichten. Der geschätzte Finanzbedarf belief sich auf 12,5 Millionen Schilling (ca. 893.000 Euro). Für den Rohbau sollte ein Kredit von 6 Millionen Schilling (ca. 428.500 Euro) von der Raiffeisenbank zur Verfügung gestellt werden – leider zu dem damals hohen Zinssatz von 10%. Als Sicherung für die Bank sollten 300 Menschen aus dem Eltern- und Freundeskreis gefunden werden, von denen jeder eine Bürgschaft von je 20.000 Schilling (ca. 1.400 Euro) hätte übernehmen müssen. Aus diesem Anlass wurden Hunderte Gespräche von Menschen geführt, die bereits von den neuen Wegen der Geldgebarung überzeugt waren und die verbindende Kraft des Leihens erkannt hatten. Als die 300 Bürgen gefunden waren, veranstalteten wir einen „Bürgenabend“, um ein gemeinsames Bewusstsein für den Vorgang zu schaffen. Nach der Begrüßung und Einleitung meldete sich ein Bürge zu Wort: „Wenn ich eine Bürgschaft von 20.000 Schilling übernehme, muss ich diese Summe ja zur Verfügung haben. Ich möchte dieses Geld lieber der Schule direkt zur Verfügung stellen.“ Der Funke zündete! Die Idee des Gemeinschaftssparbuches war geboren. Die praktische Durchführung wurde gemeinsam mit dem Filialleiter der Raiffeisenbank Wien-Hietzing festgelegt. Verzichtete der Leihgeber auf Verzinsung seiner Einlage auf dem Gemeinschaftssparbuch, dann würde der Betrag als Zinsenbonus der Schule gutgeschrieben.

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Die Wirtschaftsgestalt

Das auf diesem Weg in zwei Jahren Erreichte ermöglichte uns, auf den Bürgschaftskredit völlig zu verzichten und die benötigten Leihgelder ausschließlich aus dem Gemeinschaftssparbuch zu beziehen. Sich von 300 Menschen bei einer Initiative in dieser konkreten Form getragen zu wissen, erhöhte das Verantwortungsbewusstsein, stärkte den Mut und regte neue schöpferische Möglichkeiten an. Bildnachweis: Archiv des Herausgebers

Gemeinschaftssparbuch, Brief Raiffeisenbank

Hermes- Österreich und der Ostfonds

TR: Wie kam es in der Folge zur Gründung einer bankähnlichen Einrichtung HERMES-Österreich? EG: Wilhelm Ernst Barkhoff als Pionier auf diesem Gebiet in Deutschland hat Entscheidendes für mich bewirkt. Bereits Ende der 70er-Jahre hatte sich auf meine Anregung in der Anthropo­ sophischen Gesellschaft eine Arbeitsgruppe gebildet mit dem langen Titel: „Initiativkreis zur Bildung wirtschaftlicher Gemeinschaftsformen auf anthroposophischer Grundlage.“ So entstand die Keimgruppe für eine Treuhandstelle, für HERMES eben, und für alles, was in Richtung einer Bank oder bankähnlichen Einrichtungen später entstanden ist. Zu dem Kreis von Menschen aus der Schule und der Anthroposophischen Gesellschaft, denen dieses Thema ein Anliegen war, kam später auch Margaret Hacker, langjährige Mitarbeiterin in einem Wiener Bankinstitut, die viel Erfahrung in Firmengründungen einbrachte, in die Leitung dieser Initiativ­gruppe dazu. TR: HERMES-Österreich hat also nicht nur Bestand bis heute, sondern entwickelt sich weiter, was dich als Mutter sicher mit Freude erfüllt … EG: … Mutter ist nicht ganz richtig, denn es gab viele Mütter und Väter. „Geburtshelferin“ wäre treffender. Die Bezeichnung Mutter könnte ich für die Einrichtung des „Ostfonds“ bei HERMES akzeptieren. Und wenn wir im Bild bleiben, so war das eine Art Notgeburt – eine Geburt aus der Not, denjenigen Menschen im Osten zu helfen, die nach der politischen Öffnung der Länder „hinter dem Eisernen Vorhang“ im Jahre 1989 eine waldorfpädagogische Ausbildung beginnen wollten, um in ihren Ländern anthroposophische Initiativen aufzubauen. Ich kann hier einen Beitrag anfügen, den ich zwölf Jahre nach der Begründung dieses Hilfsfonds geschrieben habe.

Ostfonds

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P r o f i l vo n HER M ES - Ö s t e r r e i c h Theresia Bitzner HERMES-Österreich ist 1982 als bankähnliches Institut durch den Einsatz von Margaret ­Hacker gegründet worden, die in Zusammenarbeit mit anderen Proponenten die Vereinsstatuten ausarbeitete und Vorgespräche für das bankähnliche Institut führte. Seither verwaltet HERMES-Österreich Leihgelder von Menschen und Einrichtungen treuhänderisch und vergibt Kredite in Zusammenarbeit mit dem Bankhaus Spängler, zum großen Teil an Waldorfschulen und -kindergärten, heilpädagogische und sozialtherapeutische Einrichtungen, an die biologische und biologisch-dynamische Landwirtschaft, an den Biohandel, an Unternehmen im Umweltbereich, anthroposophische Arztpraxen und Heilmittelherstellung, Ausbildungsstätten und Kunstwerkstätten. Damit konnte der Auf- und Ausbau der Waldorfpädagogik in Österreich finanziert werden. Durch Zinsspenden wurden Schenkgeldfonds eingerichtet, zum Beispiel der Studienfonds, der vielen Studierenden an anthroposophischen Ausbildungsstätten seit fast dreißig Jahren das Studiengeld vorfinanziert. Studiendarlehen an die Studierenden aus dem erweiterten Europa wurden durch Spenden der Anthroposophischen Gesellschaft, der GTS-Treuhand und HERMES-Österreich ermöglicht. Ebenso konnten aus der Sozialhilfe, der Altershilfe, aus dem Eurythmiefonds, dem Fonds für Landwirtschaft und Saatgut und dem Fonds für Initiativen Menschen und Projekte unterstützt werden. Die steigende Nachfrage nach einer solchen, nicht auf Gewinn gerichteten Art des transparenten, solidarischen Geldumgangs kann in Zukunft eine Weiterentwicklung zur Bank ermöglichen.

Ostfonds Elisabeth Gergely Mit der Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ im Jahr 1989 wurde der Ostfonds ins Leben gerufen, um den nun möglich gewordenen Aufbau der Anthroposophischen Gesellschaft und der Waldorfschulbewegung im östlichen Europa zu unterstützen. Die „Anthroposophische Gesellschaft, Landesgesellschaft Österreich“ und die Vereinigung „Freie Bildungsstätten auf anthroposophischer Grundlage in Österreich“ übernahmen es gemeinsam, die finanzielle Basis für diese Aufgabe zu schaffen. Ein Legat, das von der Treuhandstelle der Landes­ gesellschaft eingebracht wurde, bildete die Basis. Von der GLS-Bank in Bochum und von HERMES-Österreich erfolgten Zuwendungen und auch ein Spendenfluss von Seiten der

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Pentatonische Variationen

österreichischen Schulbewegung und der Anthroposophischen Gesellschaft sowie vieler einzelner Menschen setzte ein. Wichtige Aufbauarbeit in den Ländern des ehemaligen Ostblocks konnte mit diesen Mitteln geleistet werden. Es wurden Studenten aus osteuropäischen Ländern an der Eurythmieschule und der „Goetheanistischen Studienstätte“ durch Stipendien unterstützt. Pädagogische Intensivkurse des periodischen Seminars in Kroatien und Slowenien wurden in Wien, Zagreb und Ljubljana durchgeführt. Die so ausgebildeten Waldorflehrer arbeiten heute an den Schulen in Ljubljana (gegründet 1992) und Zagreb (gegründet 1993). Tobias Richter als ein Verantwortlicher der Ausbildung für die slowenischen und kroatischen Waldorflehrer, welche 1991 begann, setzte als Mentor der Zagreber Schule dieses Aufbauwerk in Kroatien und Bosnien fort. Im Herbst 2000 konnte so eine staatlich anerkannte studien- und berufsbegleitende Ausbildung an der Universität Zagreb mit 30 Studentinnen und Studenten beginnen. Durch die Bereitschaft von Hermes-Österreich und der GLS Gemeinschaftsbank Bochum, nochmals für das Arbeitsjahr 2000/2001 ihre Zuwendungen an den Ostfonds zu leisten, konnte den Studenten, denen ein Stipendium zugesagt worden war, dieses bis zum Abschluss ihrer Ausbildung gegeben werden.

Ein Blick in die Zukunft Der ursprüngliche Impuls von 1989 zur Schaffung des Ostfonds lebt ab 2001 in neuer Form weiter durch die Gründung des Zentrums für Kultur und Pädagogik-Wien, dessen Lehrgang Waldorfpädagogik parallel zu dem in Kroatien geführt wird. Es besteht der ernste Vorsatz der Verantwortlichen für beide Lehrgänge, Tobias Richter vom Zentrum und Slavica Bašić von der Pedagoško ućilište/Zagreb, in den jährlichen mehrwöchigen Intensivkursen die Teilnehmer von Zagreb und Wien zu gemeinsamem Studium, künstlerischen Aktivitäten, persönlichem Austausch zusammenzuführen und so einen, wenn auch bescheidenen Beitrag zu leisten zu einer gedeihlichen Entwicklung eines erweiterten Europas und im besonderen seiner südost-mitteleuropäischen Region. Für diese von Wien ausgegangenen Ostaktivitäten engagierten sich später auch ausländische Stiftungen, wie z. B. die IONA-STICHTING aus Holland, die Stuttgarter HAUSSER-STIFTUNG und dann vor allem die deutsche SOFTWARE AG-STIFTUNG. Diese Unterstützungen, sei es durch Stipendien, Beiträge zum Studenten und Dozentenaustausch usw., wurden nicht zuletzt in Anerkennung der österreichischen Bemühungen zur Schaffung des Ostfonds geleistet.

RONDO Entfaltung und Ausbreitung

Die Wiederholung eines Motivs

TR: Nach der Schule in Wien-Mauer wurden in Österreich zahlreiche weitere Schulen und Kindergärten gegründet. Welche Rolle spielten die Wiener dabei? EG: „Der Wasserkopf Wien“ wird für viele in den Bundesländern als ein gewisses Problem gesehen. Wenn man an die Schulgründungen in Linz, Klagenfurt, Graz, Salzburg, Wien-Pötzleinsdorf usw. denkt, überall sind Wiener Kollegen Pate gestanden (siehe Das Orchester – Schulberichte). TR: Als die Waldorflehrerausbildung in Wien begann, reiste regelmäßig eine Gruppe aus Graz zu den berufsbegleitenden Kursen an, um sich auf die Arbeit an der geplanten Schule in Graz vorzubereiten. EG: Ähnliches gilt für die Ausbreitung der Waldorfkindergärten. Bronja Zahlingen (siehe Bronja Zahlingen, Leben und Wirken) hatte in der Kindergärtnerin Brigitte Goldmann eine kongeniale Kraft gefunden, die von Wien aus die Kindergärten betreute und eine bis heute sehr erfolgreiche Kindergärtnerinnenausbildung ins Leben rief. TR: Wie ist die Gründung der Karl-Schubert-Schule für seelenpflege-bedürftige Kinder zustande gekommen? EG: Hier hat das Ehepaar Agnes und Tobias Kühne Entscheidendes geleistet (siehe Der Ruf aus dem Osten). Sie hatten eine behinderte Tochter, für die sie nach einer entsprechenden Bildungseinrichtung suchten. Da es eine solche auf Grundlage der Waldorfpädagogik noch nicht gab, bemühten sie sich, eine solche zu gründen. Begonnen hat die Karl-Schubert-Schule in ­Kühnes Haus, mit den beiden Heilpädagoginnen Elisabeth Erdmenger und Geneviève Bachelet. TR: Gründungen sind einmalige Ereignisse – wiederholen sich gewisse Motive, Freuden und Schwierigkeiten, ähnlich einer musikalischen Rondoform? EG: Das ist natürlich so, die Motive zur Gründung von Waldorfschulen sind oft ähnliche … Immer ist aber ein Zentralmotiv wahrnehmbar: einen Beitrag zur Bildungserneuerung aus der Menschenkunde Rudolf Steiners leisten zu wollen. Natürlich bleiben die Schwierigkeiten nicht aus und sind wohl auch notwendig, um daran zu reifen oder sich immer wieder zu prüfen, wie ernst man es meint. Doch wollten wir Wiener, die wir ja eine gewisse Vorreiterrolle spielten,

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Rondo

den anderen Schulen, so gut es ging, beistehen. So wurde dann schließlich die „Österreichische Vereinigung Freier Bildungsstätten auf Anthroposophischer Grundlage“ ins Leben gerufen, in deren Gründungsvorstand auch Freunde aus Graz und Linz dabei waren.

Wa l d o r f s c h u l e n i n Ö s t e r r e i c h Angelika Lütkenhorst Im Jahr 2011 besuchen rund 2.400 SchülerInnen 13 österreichische Waldorfschulen, die eine enge Zusammenarbeit im „Waldorfbund Österreich“ pflegen. Der Bund vertritt die Interessen der Waldorfschulen und 30 Waldorfkindergärten gegenüber allen überregio­na­len Institutionen. Nach der Schulgründung in Wien-Mauer folgten ab dem Ende der 70er-Jahre weitere Schulgründungen der Reihe nach in Linz, Klagenfurt, Graz, Salzburg, Wien-Pötzleinsdorf, Innsbruck, Schönau (vormals Mödling), Wien West und Kufstein. 1972 wurde die erste heilpädagogische Schule in Wien eröffnet, es folgten Schulen in Graz und Salzburg. Gegenwärtig scheint ein nächster Gründungsschub bevorzustehen, da einige kleine Schulgründungsinitiativen in den Bundesländern (Niederösterreich, Burgenland, Vorarlberg, Oberösterreich und Salzburg) ihre Arbeit aufgenommen haben. Seit dem ersten Abschlussjahrgang im Schuljahr 1974/75 haben rund 3.000 SchülerInnen in Österreich die Waldorfschule absolviert. Jedes Jahr kommen 150 weitere hinzu. Rund 80 Prozent der WaldorfschülerInnen legen nach ihrer Waldorfschulzeit die Matura ab. Waldorfschulen finanzieren sich heute großteils über Elternbeiträge, werden jedoch von Land und Bund – im Gegensatz zu konfessionellen Privatschulen – nur vergleichsweise bescheiden unterstützt. Vor diesem Hintergrund ist es eine beachtliche Leistung, dass Waldorfschulen in Österreich seit über vier Jahrzehnten existieren. Der Waldorfbund Österreich ist auf einem guten Weg, mit den anderen österreichischen Schulen in freier Trägerschaft im Rahmen von EFFE (Europäisches Forum für Freiheit im Bildungswesen) in Zukunft eine substanzielle Verbesserung zu erreichen.

Bundesweite Initiativen der Waldorfpädagogik

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Bu n d e s w e i t e I n i t i at i v e n d e r Wa l d o r fpä da g o g i k Elisabeth Gergely Aus der Hilfestellung der Wiener Schule für die späteren Waldorfschulgründungen entwickelte sich allmählich das Bedürfnis nach einer alle Schulen umfassenden Vereinigung. Nora Zimmermann, Tobias Richter, Georg Friedrich Schulz, Raoul Kneucker und die Autorin dieses Beitrages bildeten die Kerngruppe, um das ideelle Bild des geplanten Zusammenschlusses zu entwerfen. Nach etwa dreijähriger Vorbereitungsarbeit wurde im Herbst 1981 die Österreichische Vereinigung freier Bildungsstätten auf Anthroposophischer Grundlage gegründet; sie umfasste nicht nur Schulen und Kindergärten, sondern auch heilpädagogische und sozialtherapeutische Einrichtungen sowie die beiden anthroposophischen Ausbildungsstätten – die „Bildungsstätte für Eurythmie“ und die „Goetheanistische Studienstätte“. Dazu sei aus den Statuten zitiert: „Aufgabe der Vereinigung ist das Schaffen von Planungs-, Organisations- und Rechtsgrundlagen für ein freies Bildungswesen auf Anthroposophischer Grundlage in Österreich; ferner dessen Abstimmung mit den Rechtsformen des österreichischen Schul- und Bildungswesen. Das Gestalten geeigneter Formen wird für alle Bildungsstufen im pädagogischen und heilpädagogischen Bereich angestrebt und betrifft daher Waldorfkindergärten, Waldorfschulen, Einrichtungen für Heilpädagogik und Sozialtherapie, Einrichtungen der Erwachsenenbildung, der Berufsaus- und Berufsfortbildung.“ (Statuten, § 2.) Die Österreichische Vereinigung Freier Bildungsstätten auf Anthroposophischer Grundlage, kurz Waldorf-Bund, berät und vertritt alle Bildungsstätten in Österreich, die auf der Basis der von Rudolf Steiner entwickelten Geisteswissenschaft arbeiten, in rechtlichen und wirtschaftlichen Fragen, vor allem gegenüber den österreichischen Behörden, er fühlt sich als Stimme der Waldorfpädagogik und trägt in der weltweiten Waldorfbewegung Verantwortung für die österreichischen Einrichtungen. Der Bund arbeitet mit dem „Haager Kreis“ (internationale Konferenz der Waldorf- und Rudolf-Steiner-Schulen), der pädagogischen und medizinischen Sektion des Goetheanums, der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, dem „European Council of Rudolf-Steiner/ Waldorfschools“, dem „Europäischen Forum für Freiheit im Bildungswesen“ und der „Inter­ nationalen Vereinigung der Waldorfkindergärten“, der „European Cooperation for Curative Education“ sowie der „Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation“ zusammen. Neben der Planungs-, Organisations- und Rechtshilfe durch den Vorstand findet in regelmäßigen Mitarbeiterzusammenkünften – wobei die Mitarbeiter aus Kollegien und Schulvereinen kommen – ein Gedanken- und Erfahrungsaustausch über alle gemeinschaftlich interessierenden Fragen statt.

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Rondo

1985 eröffnete die Vereinigung mit dem „Wagnis Erziehung“ (hg. v. H. Ganser, E. Gergely, T. Richter), eine im Böhlau-Verlag erscheinende Buchreihe mit dem Titel: „Waldorfpäda­ gogik – Beiträge zur Bildungserneuerung.“ Damit ergriff der Vorstand der Vereinigung die Aufgabe, zu aktuellen Themen des Schulwesens Seminare zu veranstalten und zu veröffentlichen. So wurde beispielsweise in fünf Wochenendseminaren die Computertechnik behandelt. Grundlagen, Fragen der Technologien, der Auswirkungen auf den Menschen und das gesellschaftliche Leben wurden jeweils mit erstrangigen Wissenschaftlern erarbeitet, um dieser gewaltigen Herausforderung, die gerade an das Schulwesen gestellt ist, als Waldorfschule mit soliden Kenntnissen und Urteilsgrundlagen in rechter Weise zu begegnen. So konnte 1988 „Mensch – Computer – Erziehung“ (hg. v. E. Gergely, H. Goldmann) als zweiter Band der vorhin genannten Reihe erscheinen.

Ergänzungen Angelika Lütkenhorst In den Jahren ab 2003 zeichnete sich bereits ab, dass durch den Anstieg der Institutionen im Bereich der Erwachsenenbildung und der Sozialtherapie eine neue Organisation des Dachverbands vonnöten war. So entstand als eigener Dachverband die „Akademie anthroposophische Erwachsenenbildung“ und in weiterer Folge „PlatO“, die Plattform der anthroposophischen sozialtherapeutischen Einrichtungen in Österreich. Zu Beginn des Jahres 2009 wurde der ehemalige Dachverband „Österreichische Vereinigung Freier Bildungsstätten auf Anthroposophischer Grundlage“ umbenannt in „Waldorfbund Österreich“, der sich nunmehr um die Belange der 13 österreichischen Waldorfschulen und inzwischen 30 Waldorfkindergärten in Österreich kümmert.

Pä da g o g i k u n d K u n s t = E r z i e h u n g s ku n s t

TR: In unserer „Symphonie“ schien im Rondo die Wiederkehr des Schulgründungsthemas in Variationen bis hin zu einer zusammenfassenden Schlussfigur auf. Diese stellt gewissermaßen eine Überleitung zum nächsten Satz, „Dialog in Variationen“ dar: Durch die Gründung eines Dachverbands wurden mit den darin vertretenen österreichischen Bildungseinrichtungen auf anthroposophischer Grundlage – nicht nur mit den Waldorfschulen, auch mit den Institutionen der Erwachsenenbildung – der Kontakt, der Dialog intensiviert. Wenden wir uns also wieder diesem Kernthema zu. EG: In diesem Zusammenhang ist es mir noch wichtig, auf die besondere Waldorflehrerbildung in Österreich zu blicken, weniger auf deren Anfänge als berufsbegleitende Ausbildung, als vielmehr auf die Vollzeitausbildung, welche an der Goetheanistischen Studienstätte stattfand. Dort wurde ja über viele Jahre, ich denke, es war von 1983 bis 2000, der Dialog Pädagogik und Kunst sehr erfolgreich gepflegt. Die Goetheanistische Studienstätte war aus der Initiative Christian Hitschs, der als Künstler und Werklehrer an der Maurer Rudolf-Steiner-Schule arbeitete, und seinem Schwiegervater und einstigem Lehrer im goetheanistischen Arbeitskreis, Wilhelm Reichert aus Wuppertal, entstanden. Das Besondere der Goetheanistischen Studienstätte bestand darin, dass sie nicht nur eine Kunstschule war, sondern auch eine dreijährige grundständige Ausbildung zum Waldorfpädagogen anbot. Für diesen Dialog der Pädagogik mit der Kunst hast du dich ja besonders eingesetzt und engagiert und lange Jahre den pädagogischen Zweig dort verantwortet. Tragischerweise verstarb Wilhelm Reichert im Jahr 1982, also noch vor der Gründung der Studienstätte. Durch den unerwarteten Tod war zunächst alles infrage gestellt. Der Sohn Wilhelm Reicherts, Mathias, ebenfalls bildender Künstler und Kunsttherapeut, wurde dazugebeten und man fasste nochmals neu den Mut zur Gründung. In der Folge hat sich manches anders entwickelt, als es ursprünglich intendiert war, was unter anderem mit Christian Hitschs Berufung nach Dornach als Leiter der Sektion für Bildende Kunst und deinem Engagement an den Seminaren für Waldorfpädagogik in Hamburg und Zagreb zusammenhing. Ab der Jahrtausendwende wurde dann diese dialogische Ausbildung Kunst und Pädagogik an der Goetheanistischen Studienstätte nicht mehr angeboten. TR: Es gab immer weniger Studenten, die sich zu diesem dreijährigen Waldorfpädagogikstudium meldeten.

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Rondo

EG: Was auch letztlich der Grund dafür war, möchte ich dahingestellt sein lassen … Allerdings hatte inzwischen in Wien die berufsbegleitende Ausbildung zum Waldorflehrer bei waldorf_ wien begonnen. Auch in Graz, Linz und später in Salzburg gibt es ähnliche berufsbegleitende Ausbildungen. Doch das Besondere, um nochmals darauf zu kommen, war der an der Goetheanistischen Studienstätte gepflegte Dialog zwischen Kunst und Pädagogik. TR: Du hast das Zentrum für Kultur und Pädagogik, das 2001 mit seinem Lehrgang Waldorfpädagogik begann, nicht erwähnt. EG: Ganz bewusst, weil dieser Neugründung, die ja bereits ins 21. Jahrhundert fiel, ein eigener Beitrag gewidmet sein soll (siehe Bildung im Dialog).

DIE K U NST DER F U GE : KONTRA P U N K T U S I –X I Impulse aus dem Dialog

D i a l o g ku lt u r – D i a l o g v e r a n s ta lt u n g e n

TR: Nach den im letzten Abschnitt des vorherigen Kapitels besprochenen Initiativen zur Lehrerbildung tritt das Werden der Dialogreihe in den Mittelpunkt, gemeint ist eine Reihe von Veranstaltungen. Dazu taucht in meiner Erinnerung das „Gedächtnis der Natur“, ein Buch des britischen Biologen Rupert Sheldrake auf, das ich dir geschenkt habe. Kurz darauf lädst du Sheldrake ein. Warst du innerlich damals schon auf so einer Spur oder beschließt du – irgendwie aus dem Nichts heraus – die Dialoge zur Welt zu bringen? EG: Es war bei mir seit Längerem eine Offenheit für diese Thematik vorhanden. In meiner Jugend habe ich es nicht geschafft, den Vergleich von Rudolf Steiner ernst zu nehmen, dass man ein so genanntes doppeltes Kollegheft führt, wie er den Jungmedizinern sagte … Hingegen habe ich, statt mit meinem naturwissenschaftlichen Studium in einen entsprechenden Beruf einzusteigen, Eurythmie studiert und bin dabei über Jahrzehnte geblieben. Das hat mich mehr von der Chemie weg geführt, als dass ich dadurch das Naturwissenschaftliche anders erlebt hätte. TR: Wien an der Donau – eine der Besonderheiten der Donau ist die Donauversickerung in der Nähe von Tuttlingen. Danach tritt plötzlich die Donau als Fluss wieder in Erscheinung. Könnte es so ähnlich auch bei dir gewesen sein? EG: Wenn du mit dem Anlass des Buches „Gedächtnis der Natur“ das Erscheinen MEINER Donau meinst – vielleicht war das so. Auf jeden Fall habe ich Sheldrake eingeladen, dazu Suchantke als goetheanistischen Biologen, und so wurde ein Symposion veranstaltet. Sheldrake ist ein sehr höflicher Engländer, das muss man vorausschicken. Aber es war doch für mich sehr beeindruckend, wie er sich bedankt hat für diese kleinen Öffnungen zum Goetheanismus. Heute wird zu wenig beachtet, was Johann Wolfgang von Goethe als Naturforscher damals schon geleistet und was Rudolf Steiner in vertiefter und neuer Form weiterentwickelt hat.

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Die Kunst der Fuge

D i e e r s t e D i a l o g V e r a n s ta lt u n g m i t Rup e r t S h e l d r a k e u n d A n d r e a s Su c h a n t k e Elisabeth Gergely Die Gegenwart ist auf Wissenschaft hin orientiert Das Wissen aber muss sich entwickeln Der Geist muss durch die Wissenschaft erreicht werden können R. Steiner (Notiz 1922)

Wer mit wachem Interesse die Entwicklungen in verschiedenen naturwissenschaftlichen Disziplinen verfolgt, erfährt von Aufbrüchen und Durchbrüchen, die das durch Jahrhunderte gefestigte reduktionistische Weltbild radikal infrage stellen. Die Grundlage für diese Entwicklung wurde bereits Ende des 19. Jahrhunderts erarbeitet, doch in ihren Konsequenzen auf breiter Front wurde diese für den interessierten Laien erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sichtbar und nachvollziehbar. Natürlich waren es zunächst wenige, die diesen Aufbruch vollzogen, und sie hatten durchaus mit Ablehnung, Spott, Missachtung durch Vertreter des konservativen Wissenschaftsbetriebes zu rechnen. So wurde Rupert Sheldrakes erstes Buch „Das schöpferische Universum“ in einer angesehenen wissenschaftlichen Zeitschrift als Kandidat für eine Bücherverbrennungsliste bezeichnet, wenn es eine solche Einrichtung heute noch gäbe. Rudolf Steiners Entwicklung des Erkenntnisweges der Anthroposophie war auch im Sinne einer methodischen Erweiterung und Weiterführung der Naturwissenschaft gedacht. Steiner setzte beim Evolutionsgedanken Ernst Haeckels und Charles Darwins an und entwickelte daraus eine „Abstammungslehre“ des geistig-seelischen Menschen: Der Zusammenschluss der leiblich-physiologischen Evolution des Menschen durch die Tierreihe hindurch (die zum Gattungsmenschen führt) mit der Involution des geistigen Menschen in das Seelische (die zum individuellen, seiner selbst bewussten Menschen führt) – erst dieser Zusammenschluss ergibt die volle Wirklichkeit des Menschen auf Erden. Auf verschiedenen Wissenschaftsgebieten gab Steiner – aufbauend auf der Goetheschen Methode der „anschauenden Urteilskraft“ – die Grundlagen, diesen Zusammenschluss zu vollziehen und Erde und Mensch in ihrer geistig-seelisch-leiblichen Ganzheit zu erfassen und aus dieser Gesinnung zu handeln in der Lebenspraxis der Biologie und Medizin, der Psychologie und Pädagogik, der Ökologie und Ökonomie usw. Das Wahrnehmen und Erleben dieser Situation, das Aufbrechen der kausal deterministi­ schen, mechanistischen Begrenzung einerseits und der weitgehend unerkannte Wissenschaftsansatz des durch Rudolf Steiner weitergeführten Goetheanismus andererseits,

Die erste Dialogveranstaltung mit Rupert Sheldrake und Andreas Suchantke

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Dialog 1993, Rupert Sheldrake – Andreas Suchantke

wurde für die Autorin zum Willensimpuls, Möglichkeiten des Gesprächs zu schaffen ­zwischen pionierhaft forschenden Wissenschaftlern und anthroposophisch-goetheanistisch Forschenden. Eine erste Verwirklichung fand diese Intention in dem Dialog zwischen Rupert Sheldrake und Andreas Suchantke zum Thema „Morphische Felder – Bildekräfte“, Forschungen auf dem Gebiet überstofflicher Felder. Die Exposition der Veranstaltung wurde durch die Präsentation der Forschungen beider Gesprächspartner, deren Methode und Ergebnisse gebildet. In den Ausführungen Shel­ drakes stand das Rätsel der Formentstehung in den Naturreichen und ihrer Weitergabe im Zentrum. Durch seine Forschungen und experimentellen Erfahrungen kam er zu der Annahme, dass die Ausgestaltung des Formenreichtums, das Bilden von Verhaltensweisen und Gewohnheiten, die Gedächtnisfunktionen sich in einem übersinnlichen Bereich morphischer Felder vollziehen, wo diese Vorgänge durch „morphische Resonanz“ übermittelt, verstärkt und konsolidiert werden. Er stellte sich mit dieser Anschauung in Widerspruch zu der vorherrschenden Meinung, dass alle diese Vorgänge durch einen im Stofflichen ablaufenden Mechanismus hervorge-

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Die Kunst der Fuge

rufen oder, wenn nicht hervorgerufen, so doch gesteuert werden. Vergleichbar dem kollektiven Unbewussten, wie es Carl Gustav Jung entwickelt hat, denkt Rupert Sheldrake an ein gemeinsames morphisches Feld, das sich in viele einzelne Felder zu verschiedenen Wirkungsweisen gliedert, die sich auflösen und wieder bilden können. Andreas Suchantke suchte das Wesen dieser wirkenden Bildekräfte durch eine über Goethes Forschungen hinausgehende Beobachtung der Blattentwicklung bei der Pflanze anschaubar zu machen. Die Teilnehmer konnten zunächst das Rätsel erleben, wie Blattformen, am Stängel aufsteigend, sich „verjugendlichen“, ihre ausgeprägte gegliederte, gespreizte Form aufgeben und dann wieder die junge, einfach sprießende, lanzettartige Form annehmen. Das Rätsel beginnt, durchsichtig zu werden, wenn man diesen Vorgang als von der Blüte – der noch nicht in der Sichtbarkeit entstandenen – hervorgerufen erlebt: zurücknehmen und Stauen des Blattformimpulses, Sammeln der Formbildekraft für die neue Erscheinungsform der Blüte. Eine an diesem Phänomen beweglich werdende Auffassungsgabe erlebt zwei Zeitrichtungen – eine aus der Vergangenheit kommende des „Älterwerdens“ (der uns gewohnte Zeitablauf) und eine aus der Zeitlosigkeit durch die Zukunft hereinwirkende des „Jüngerwerdens“. Der Mensch ist gegenüber den spezialisiert ausgeformten Tierarten charakterisiert durch seine „Jugendlichkeit“, welche die Voraussetzung bildet für seine allseitigen Möglichkeiten und die Grundlage seiner spezifisch menschlichen Entwicklung: Die Vergangenheitsbedingungen des Gattungsmenschen werden von der ewigen Entelechie – dem aus der Zukunft wirkenden, sich individualisierenden Ich – ergriffen, umgestaltet, weitergebildet. Ein reiches Feld für das Gespräch war durch die beiden Vorträge geschaffen; es wurde versucht, dieses Feld in offenem, freilassenden Austausch umzupflügen, zu wenden, zu ergründen. Die Frage nach der formschaffenden Kraft, der eigentlichen Kreativität innerhalb der Evolution stand im Raum, ebenso der „Punkt Omega“ Teilhard de Chardins als Zielpunkt der Evolution, für den sich das Verständnis vielleicht durch den aus der Zukunft wirkenden Zeitstrom erschließen lässt bzw. der als „Attraktor“ die Wirkung dieses Zeitstromes hervor­ ruft. An den großen Fragen von Ursprung und Ziel erschien unsere Bewusstseinssituation in neuem Licht und die Notwendigkeit ihrer Erweiterung wurde deutlich. Rudolf Steiners Weg erweist sich gegenüber anderen Wegen, die in der Gegenwart begangen werden, als ein Weg, nach naturwissenschaftlicher Methode zu seelisch-geistigen Beobachtungsresultaten zu kommen: Dabei soll das durch naturwissenschaftliche Forschung an der Sinneswelt zu seiner derzeitigen Schärfe und Exaktheit geschulte Denken nicht verlassen oder gar verleugnet werden. Das individuell errungene Denken ist Werkzeug und Stoff zugleich – Umwandler und Umzuwandelndes in einem. Dieses Denken kann und soll sich an der werdenden Natur – der

Die erste Dialogveranstaltung mit Rupert Sheldrake und Andreas Suchantke

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natura naturans – schulen; so kann der Mensch, was er an ihr zerstört hat, wieder zu heilen und sie ihrem Wesen gemäß wieder zu pflegen lernen. Auf diese Weise entwickelte sich die Frage nach dem „neuen Denken“, die sich gerade bei den Problemen unserer Zeit herausstellt, zum Motiv und Impuls für weitere Dialogveranstaltungen, die in ernsthafter Erkenntnisbemühung gemeinsam mit Pionieren naturwissenschaftlicher Forschung zentrale Themata bewegen und übend durchdringen sollen, um in der Lebenspraxis zu „neuem Handeln“ fähig zu werden. Bildnachweis: Archiv Karl Hruza

D e r D i a l o g „ M o r p h i s c h e F e l d e r – B i l d e k r äf t e und dessen Fortsetzung“ Andreas Suchantke

Ein genialer Griff Elisabeth Gergelys und ihrer Freunde war die Einrichtung jährlicher Symposien: Unter Beteiligung eines interessierten und in den Diskussionen aktiv einbezogenen Publikums vertraten Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen offene Fragen von allgemeinem Interesse. Dazu gehörte auch die Diskussion des britischen Naturwissenschaftlers Rupert Sheldrake mit dem Autor über die von Sheldrake beschriebene so genannte „morphische Resonanz“(1), einem Phänomen, das bisher wohl vor allem deshalb völlig ignoriert worden war, weil es sich nicht in das herrschende wissenschaftliche Weltbild einfügte. Darüber sei im Folgenden berichtet, ergänzt durch weitere Beispiele, die während des Symposiums nicht erwähnt wurden, die jedoch geeignet sind, die angesprochene Thematik stärker zu verdeutlichen. Allgemein bekannt wurde das Phänomen „morphischer Felder“ bzw. „morphischer Resonanz“ erstmalig in England in der Nachkriegszeit, und involviert war ein in der Umgebung des Menschen überall häufig vorkommender Vogel, die Blaumeise. Irgendwann entdeckte eine von ihnen, dass sie, wenn sie die silbernen Aluminiumdeckel der Milch­flaschen, die morgens vor die Haustüren geliefert werden, mit dem Schnabel punktierte, problemlos an den schmackhaften Rahm gelangen konnte, der sich an der Oberfläche abgesetzt hatte! In kürzester Zeit breitete sich diese (Un-)Sitte über die ganze Insel aus und – höchst erstaunlich – tauchte alsbald überall und zunehmend weitverbreitet auch in Holland auf! Erstaunlich ist das deshalb, weil Blaumeisen strikte Standvögel sind, also im Winter nicht ziehen und schon gar nicht über das Meer nach Holland fliegen. Wie aber konnte die neue Gewohnheit dann auf den Kontinent zu den dortigen Blaumeisen gelangen, unter denen sie sich dann rasch weiter auszubreiten begann? Ein anderes Beispiel betrifft die mitteleuropäischen Mönchsgrasmücken, die – anders als die Blaumeisen – echte Zugvögel sind. Früher flogen sie zur Überwinterung in die milden Mittelmeerländer. Seit dem Ende des 2. Weltkrieges zogen zuerst einige und inzwischen längst alle mitteleuropäischen „Mönche“ nach Südengland, wo sie im Winter intensiv von der Bevölkerung hindurch gefüttert werden. Wie es zu dieser Entwicklung kommen konnte, ist völlig rätselhaft: Mönchsgrasmücken ziehen nachts, sich erwiesenermaßen nach den Sternbildern orientierend, und, wie die (zur Beringung nötigen) Kontrollfänge ergaben, völlig allein und ohne Kontakt mit Artgenossen, also auch die zum ersten Mal ziehenden und von den (angeborenen!) Mustern der Sternkreisbilder geleiteten diesjährigen Jungvögel. (2)

Der Dialog „Morphische Felder – Bildekräfte und dessen Fortsetzung“

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Sheldrake, der sich mit diesen Fragen auch experimentell beschäftigt hat (aus seinen übersetzten Schriften sei lediglich erwähnt: „Das Gedächtnis der Natur“ (5. Aufl. 1990) (1), spricht von der Existenz „morphischer Felder“, deren – bisher unbekannte – Kräfte in unseren Fällen alle Individuen einer Art betreffen, so isoliert oder zerstreut sie auch leben mögen. Vor der Frage nach der Natur dieser „Wirksamkeiten“ sei noch ein ähnlich gelagertes Beispiel, diesmal aus menschlichen Zusammenhängen erwähnt, und zwar aus dem eigenen Erleben und den Erfahrungen des Verfassers. Während wiederholter Aufenthalte in Waldgebieten des Tief- wie des Berglandes im tropischen Afrika zeigte sich, dass in den verschiedenen Landschaftsmosaiken (Lichtungen, untere und obere Kronenregion usw.) die jeweils sehr artenreich vertretene Schmetterlingswelt von geradezu enttäuschender Gleichförmigkeit in der Farbgebung und Musterung erschien, gleichzeitig aber eine erstaunliche Übereinstimmung mit den Lichtern und Schatten und den Farben ihres jeweiligen spezifischen Flugbiotops aufwies. Genauere Beobachtung ergab, dass es sich in jedem Biotop um zahlreiche ganz verschiedene Arten handelte, die dann, wenn sie im selben Höhenbereich der Bäume oder nahe über dem Boden flogen, untereinander und vor allem mit dem Verhältnis von Hell und Dunkel ihres Flugraumes so übereinstimmten, dass sie schon auf kurze Distanz nicht mehr zu sehen waren und sich visuell in ihrer Umgebung auflösten! Als ich dieses bisher unbeachtete bzw. unter den nichtssagenden bis irreführenden Bezeichnungen „Mimi­ kry“, „Anpassung“ im darwinistischen Sinne interpretierte Phänomen unter der Bezeichnung „Biotoptracht“ beschrieb (3), stieß ich zu meiner Überraschung auf die Arbeit einer US-amerikanischen Forscherin, in der sie dasselbe Phänomen gleichzeitig aufgrund eigener Beobachtungen in den verschiedenen Höhenschichten des südamerikanischen Regenwaldes dokumentierte (4), der noch erheblich artenreicher als sein afrikanisches Pendant ist, sodass sich die Erscheinung auch quantitativ belegen ließ. Ich selber besuchte in den folgenden Jahren das gleiche Gebiet und konnte das Phänomen staunend bestätigen (5). Warum diese etwas ausführliche Schilderung? Wegen der Koinzidenz, der Gleichzeitigkeit ohne jede Verabredung: Zwei Schmetterlingsforscher sind, ohne voneinander zu wissen, zur gleichen Zeit auf unterschiedlichen Kontinenten dabei, ein- und dasselbe, bisher völlig unbeachtete Phänomen zu beschreiben – unbeachtet deshalb, weil bis heute morphologische Untersuchungen kaum je im Freiland, sondern stets anhand von Museumssammlungen erfolgten! Vor allem aber: Im Rahmen gegenwärtig herrschender neodarwinistischer Methoden sind Fragestellungen dieser Art absolut ungehörig, weil sie nicht der herrschenden Doktrin entsprechen und deswegen nirgendwo auf der Welt durchgeführt werden – mit Ausnahme von zwei einander völlig unbekannten Forschern. Vergleichbare, noch unerforschte Phänomene könnten viel häufiger anzutreffen sein, als bisher beachtet: etwa eine Gruppe Eurythmisten, die so harmoniert, dass eine zwar differenzierte, aber doch „ganzheitliche“ Bewegungsgestalt entsteht. Oder ein Orchester,

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das aus dem Zusammenklang etwas Neues, Übergreifendes und Differenziertes entstehen lässt, das etwas ganz anderes und viel mehr ist als der bloße Zusammenklang der Einzelstimmen – überall morphische Felder! Anthroposophisch würde man wohl von einem gemeinsamen, alle Beteiligten übergreifenden ätherischen Feld sprechen, das bei Blaumeisen oder Mönchsgrasmücken spontan vorhanden ist, vom Menschen jedoch erst geschaffen werden will – wenn es nicht bereits als etwas gruppenhaft Unterbewusstes und damit eher Tier- als Menschengemäßes und zu Überwindendes – beispielsweise als Rassismus – von Anfang an bereits vorhanden ist. Und ein Weiteres ist in diesem Zusammenhang zu betrachten, das bisher im allgemeinen Bewusstsein weitgehend unbeachtet blieb, obwohl es von beträchtlichem geistes- und ideengeschichtlichen Interesse ist: der Begriff – und seine reale Verwirklichung – der von Rudolf Steiner erstmals formulierten Dreigliederung, zunächst in ihrer differenzierten seelischen Ausprägung in Denken, Fühlen und Wollen (6). Sie dürfte ein echtes kulturgeschichtliches Novum darstellen (und wäre damit einer ideengeschichtlichen Bearbeitung bedürftig); bis anhin wurde sie nur in den höchsten kosmisch-geistigen Höhen (= Trinität) im Rahmen der christlichen Religion, aber nicht in den Niederungen der physisch-sinnlichen Welt vermutet. Unmittelbar nachvollziehbar jedenfalls ist die in ihr vollzogene Überwindung des unfruchtbaren Schwarz-Weiß-Dualismus von Materie und Geist, Körper und Seele und anderer Formen des Entweder-Oder durch die Dreigliederung in Polaritäten und verbindende Mitte, in der sich die Extreme in abgemilderter Form durchdringen und auf höherer Ebene steigern, wie etwa in der seelischen Dreiheit von Denken, Fühlen und Wollen. Im Bereich der physisch-organischen Leiblichkeit entspräche dem die Gliederung in Sinnesnerven-, rhythmisches und Stoffwechsel-Gliedmaßensystem. Natürlich ist die Dreigliederung erheblich umfassender und vielschichtiger in ihrer Gültigkeit als nur für die hier angesprochene Thematik, aber sie liefert uns gerade in unserem Falle ein besonders aufschlussreiches Beispiel „morphischer Resonanz“: Steiner entwickelte den Begriff der Dreigliederung ja Anfang des 20. Jahrhunderts zunächst für den dreifach differenzierten Organismus des Menschen und ebenso auf der psychischen Ebene für die einander ergänzenden und ineinander spielenden und bereits erwähnten Seelenkräfte von Denken, Fühlen und Wollen. Gleichzeitig skizzierte er die analogen, dem menschlichen Zusammenleben gemäßen Tätigkeitsbereiche des Geistesleben, Rechtslebens und Wirtschaftslebens, die sich gegenseitig ergänzen und in die jeder Mensch in irgendeiner Weise einbezogen ist (7). Das kann und muss hier nicht weiter ausgeführt werden, darüber existiert eine reiche Literatur; was uns hier bewegt, ist diese radikal neue Auffassung von Welt und Mensch. Die Dreigliederung interessiert uns an dieser Stelle deshalb, weil sie annähernd gleichzeitig und gänzlich unabhängig von Vertretern völlig anderer Bereiche der Wissenschaft eben-

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falls entdeckt wird, in einer gänzlich anderen Sphäre als der menschlichen und einer so umfassenden, dass letztlich auch der Mensch (in einem bestimmten Bereich seines Wesens) als Teilglied mit dazugehört: in der ökologischen Wissenschaft, wie sie ebenfalls Anfang des 20. Jahrhunderts von engagierten, praxisorientierten, in der freien Natur forschenden Biologen entwickelt wurde – von solchen, die sich für das Zusammenleben der Organismen interessierten und dabei entdeckten, dass die einzelnen beteiligten Pflanzen- und Tierarten in jedem Lebensraum einen dreigliedrigen Organismus bilden. Seine Glieder sind die Produzenten, also die grünen Pflanzen, die mithilfe der Sonnenergie lebende Substanz aufbauen, von der wiederum die Konsumenten leben und ihre Energie beziehen (Mensch und Tier), während die Destruenten (Bakterien, Pilze) die Reste abbauen und die Grundstoffe wieder in den Kreislauf zurückführen. Dieses Wissen und das tiefergehende Verständnis der Verbundenheit aller Lebewesen zu gemeinsamen „ökologischen Organismen“ ist neu, so neu wie die Entdeckung und Erforschung anderer menschlicher Gemeinschaften als bluts- oder glaubensbedingter (8). Für uns Heutige sind das keine Neuigkeiten, jedenfalls, solange man jeden Bereich für sich betrachtet. Neu hingegen ist die Übereinstimmung der grundlegenden Ordnung, der Dreigliederung als der dem Lebendigen und allen lebendigen Prozessen innewohnenden Struktur. Erstaunlicherweise wird sie zeitgleich entdeckt durch Forschungen sehr unterschiedlicher Voraussetzung und Methodik, deren Vertreter untereinander in keinerlei Verbindung standen: Geistesforschung auf der einen und gewissenhafte und dogmatisch unvoreingenommene, saubere Naturforschung auf der anderen Seite. Offensichtlich erneut ein Fall morphischer Resonanz, dieses Mal jedoch von einschneidender kulturgeschichtlicher Bedeutung – des sozialen Impulses auf allen Ebenen, diesem zentralen Lebens- und Zusammenlebensmotiv des 20. Jahrhunderts: der Mensch in seiner eigenen Sphäre und pflegend verantwortlich für die ihn tragende lebende Natur. Eine wahrhaft erstaunliche Koinzidenz! Ganz offensichtlich ist die Sphäre, um die es sich hier handelt, jenseits aller räumlicher Bedingungen, die für rein physische Abläufe gelten; sie wirken überräumlich, überindividuell (hier allerdings unter Voraussetzung individueller mentaler Offenheit und Bereitschaft). Es ist zweifellos die bis heute im allgemeinen Wissenschaftsbetrieb ignorierte Sphäre des Ätherischen, das von den Makromolekülen der Gene bis hinauf zur Vielfalt komplexer und grundverschiedener Organismen schaffend tätig ist – der Bereich der von Steiner so bezeichneten ätherischen „Bildekräfte“. Bedeutsam bleibt die gleichzeitige, unabhängig voneinander auftretende Entdeckung der Dreigliederung bei Steiner und bei den Forschern der Ökologie. Offensichtlich gilt, dass ein einmal gedachter Gedanke in der Folge auch für andere im Sinn der „morphischen Resonanz“ zugänglich ist – er ist im Ätherfeld der Erde vorhanden und damit erreichbar! Vertiefende Literatur zu den einzelnen Themenkomplexen in der Reihenfolge ihrer Erwähnung:

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Anmerkungen 1 Sheldrake, R. (1991), Das Gedächtnis der Natur, 5. Aufl, Bern u. München 2 Sauer, E.G.F. (1957), Die Sternenorientierung nächtlich ziehender Grasmücken (Sylvia atricapilla, borin und curruca). Zeitschr. f. Tierpsychologie 14, 29–70 3 Suchantke, A. (1974), Biotoptracht und Mimikry bei afrikanischen Tagfaltern – Elemente der Naturwissenschaft 21, 1–21 4 Papageorgis, G. (1974), Mimicry in Neotropical butterflies – why are there so many complexes in one place? American Scientist 63, 5, 522–533 5 Suchantke, A. (1983), Biotoptracht bei südamerikanischen Schmetterlingen, in W. Schad (Hrs.): Goetheanistische Naturwissenschaft Bd. 3, 91–117 6 Steiner, R. (1919, seitdem zahlreiche Neuauflagen), Allgemeine Menschenkunde. Dornach 7 Steiner, R. (1919), Die Kernpunkte der sozialen Frage. Zahlr. Neuauflagen. Dornach 8 Gängige Lehrbücher der Ökologie, besonders klar formuliert bei einem der Pioniere ökologischer Forschung: Thienemann, A. F., Leben und Umwelt. Vom Gesamthaushalt der Natur, Hamburg 1956 (immer noch aktuell und nach wie vor erhältlich)

G e i s t e s g e g e n wa r t u n d Z e i tg e n o s s e n s c h a f t

TR: In den 70er-Jahren gab es in den Konferenzen der Maurer Schule eine so genannte Zeitschiene, wo aktuelle Fragen besprochen wurden. Könnte auch das so etwas wie eine Impfung für diese Dialoge gewesen sein? EG: Es lag natürlich auf der Linie, die ich als ganz wichtig empfunden habe, aber ich wage es nicht, dies direkt als Anlass zu sehen. TR: Auch das erste von uns gemeinsam veranlasste Buch „Wagnis Erziehung“ ist in diesem Kontext zu sehen. Die damit eröffnete Reihe ist zwar im Vergleich zu den Dialogveranstaltungen klein geblieben. Kann man die Reihe „Beiträge zur Bildungserneuerung“ als Vorform zu den Dialogveranstaltungen sehen? EG: So kann man es sehen, denn die zweite Folge, die dann zum Thema „Mensch – Computer – Erziehung“ entstand, war ein Versuch in dieselbe Richtung. TR: Wenn man von deinem biografischen Anfangsmotiv ausgeht, dann ist das die Verbindung der Naturwissenschaft mit der Anthroposophie. Sie tritt in den Dialogveranstaltungen voll in Erscheinung. Innerhalb der Schulkonferenzen steht deine wache Auseinandersetzung mit aktuellen Zeitfragen im Vordergrund. Ein dritter Aspekt wäre die Österreichische Vereinigung Freier Bildungsstätten, die mit einer Buchreihe aktuelle Zeitfragen aufgreift. Wie kann man diese Impulse gedanklich verbinden? EG: Mit der Gründung der Österreichischen Vereinigung Freier Bildungsstätten sollte das Interesse an unserem Zeitgeschehen am Leben erhalten werden. Dieser Impuls war natürlich auch gespeist von den Erfahrungen, die ich mit den Ministerien und den Leuten vom Stadtschulrat hatte. Ich war ja durch viele Jahre so etwas wie eine Außenbedienstete … TR: … sagen wir besser „Außenministerin der Maurer Schule und für Waldorfpädagogik“ … EG: Na gut, wenn du das so sagst … Hinzu kamen dann die Veranstaltungen an der Wiener Universität, einmal die zum zehnjährigen Bestehen der Maurer Schule und dann eine weitere im Jahr 1989, bei der drei Anlässe zusammenkamen: das aktuellen Wendejahr für den europäischen Osten, das Gedenken an 200 Jahre Französische Revolution und das Thema „70 Jahre

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Die Kunst der Fuge

Raoul Kneucker mit den Dialogpartnern Neil Postman und Tobias Richter (von li. nach re.)

Waldorfpädagogik“. Dann wurde auch unser letztes Büchlein „Waldorfpädagogik – Beiträge zur Bildungserneuerung“ in andere Sprachen übersetzt. TR: War bei der ersten Dialogveranstaltung mit Sheldrake und Suchantke auch schon klar, dass daraus eine Reihe werden könnte? EG: Nicht unmittelbar – aber sehr bald danach. Sheldrake hatte damals gerade eine Beziehung zu dem britischen Wissenschaftler James Lovelock aufgebaut und mir zwei Dinge empfohlen, die er von der Thematik her an der Zeit gefunden hätte aufzugreifen. Das eine war der Lovelock mit seinem Gaia-Thema – dieser Dialog musste leider aus Gesundheitsgründen von Lovelock abgesagt werden – und das zweite war der Hinweis auf seinen US-amerikanischen Freund, den Mathematiker Ralph Abraham mit seiner Chaosforschung. Die zweite Dialog-Veranstaltung fand dann mit Ralph Abraham statt. Aber ein Konzept hatte ich nicht, es war eher dem Zufall, oder besser, dem Zeitgeist überlassen, welche Themen sich stellten. TR: Waren alle Dialogveranstaltungen im Rückblick ein Erfolg? EG: Es gab vieles, was nicht so herrlich war – etwa, wie sich Ralph Abrahams anthroposophi-

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Geistesgegenwart und Zeitgenossenschaft

Peter Sitte

Wolfgang Schad

scher Dialogpartner Bodo Hamprecht verhalten hat. Mit Ralph Abraham – er ist ja bloßfüßig gekommen – hätte man ganz anders umgehen müssen. Bodo Hamprecht war entweder fantasie­los oder ein wenig überheblich – er hat sich später nicht einmal mehr aufs Podium gesetzt, sodass ihn Jochen Kirchhoff vertreten musste. Das war sicher nicht im Sinne unserer Dialogidee. Archiati war auch alles andere als einfach in der ganzen Abwicklung. Postman erregte großes öffentliches Interesse und die deutsche Zeitschrift „die Drei“ besprach diesen Dialog sehr positiv. Im Rückblick waren es bunte Reihen, die nicht immer Ideales gebracht haben. Karner war geistreich und vor allem witzig – auch die Kombination mit Stöckli war gut. Sehr beeindruckt war ich von Peter Sitte und Wolfgang Schad mit dem Thema „Evolutionsverständnis als Grundlage unserer Weltsicht heute“ – da hatte ich zunächst gedacht, das sei ein wenig zu hoch gegriffen. Aber die Beteiligung des Publikums hat jedenfalls gezeigt, wie wichtig diese Frage­ stellung war. TR: Wenn du jetzt zurückblickst auf die erste Dialogveranstaltung mit Sheldrake und Suchantke und die letzte mit Abouleish, Levi und Willmann – wo ist die geistige Klammer? EG: Eine Klammer? Ich erkenne sie nicht direkt – wenn man vom Grundmotiv des Dialoges absieht. Doch bei der Dialogveranstaltung mit Suckau gab es einen künstlerischen Abendbeitrag

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im Festsaal der Schule. Da hatten wir dieses köstliche Ein-Mann-Stück „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“. Vielleicht war das die eine Hälfte der Klammer. Beim letzten Dialog hatte ich die Hammer-Purgstall-Gesellschaft als Mitorganisator einbezogen und das Zentrum für Kultur und Pädagogik als Veranstalter. Da war es eine großartige Sache, dass wir während des Dialogs zwei Künstlerinnen mit vokalen und bildnerischen Beiträgen zu den drei Weltreligionen finden konnten. Dass es möglich war, das Besondere der Weltreligionen künstlerisch durch diese beiden Frauen einzufangen, war für mich eine große Wohltat. Die Veranstaltung hat dadurch einen eigenen Charakter bekommen. TR: Ibrahim Abouleish, der bei diesem Dialog den Islam vertreten hat, spielt ja später noch eine bedeutende Rolle in deinem Leben. Wie bist du mit ihm bekanntgeworden? EG: Das war bei einer Religionstagung 1994 oder 1995 in Dornach. Ich traf mich im Foyer des Goetheanums mit einem Freund, dem Pädagogen Helmut von Kügelgen, und es waren alle Listen für die verschiedenen Arbeitsgruppen ausgebreitet, fürs Christentum, für den Islam, den Buddhismus usw. Und der Kügelgen sagte zu mir: „Gehen wir doch zum Islam, der Abouleish macht das eine ganze Woche lang und wir brauchen das. Wir müssen vom Islam mehr wissen.“ Also gingen wir hin. Am Ende der Tagung und des Seminars stand Abouleish an der Türe und gab jedem die Hand. Das war sozusagen meine erste persönliche Begegnung. Ich habe ihn dann nach Wien eingeladen und er kam auch bald in die Maurer Schule zu einem Vortrag. So hat diese Freundschaft begonnen. Und da gehört jetzt meine Verbindung mit Sekem dazu, diesem großartigen Kulturimpuls von Abouleish in der Wüste nahe Kairo. Da gab es zum 70. Geburtstag von Ibrahim Abouleish ein Geburtstagsbuch, in das man etwas schreiben sollte. Alle Eingeladenen machten das ganz verschieden – mal heiter, mal ernst. Und darin steht von mir etwas, das sich unterscheidet von den anderen, glaube ich, etwas in Richtung der Goetheschen Wahlverwandtschaften. TR: Der Dialog zu den Weltreligionen war deine letzte Dialogveranstaltung. Wer führt diese weiter? EG: Sehr viele haben die Dialoge gelobt und gesagt, es muss weitergehen. Es hat aber keiner auch nur eine Idee gehabt, wer es weitermachen könnte, bis auf das Zentrum – in gewisser Weise geht das Zentrum für Kultur und Pädagogik in diese Richtung und setzt die Dialoge fort. Das Zentrum rettet uns somit aus der Tatsache, dass es zunächst nicht recht weiterging. Ich habe immer wieder darauf hingewiesen, dass man sich konstruktiv auseinandersetzen muss mit den nicht-anthroposophischen Partnern. Und das erlebe ich jetzt bei den Bemühungen des Zentrums, mit der akademischen Welt in Kontakt zu kommen, dort Akzeptanz zu finden und

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letztlich auch Freundschaft zu pflegen – ohne dabei freilich die waldorfpädagogische Grund­ orientierung zu verleugnen. Bildnachweis: Dialog Schad/Sitte, Archiv Karl Hruza Dialog Postman/Richter, Archiv des Herausgebers

Übersicht über die Dialogveranstaltungen 1993 Rupert Sheldrake – Andreas Suchantke: „Morphische Felder – Bildekräfte“ – Forschungen auf dem Gebiet überstofflicher Felder 1995 Ralph Abraham – Bodo Hamprecht: „Chaosforschung – Wege zu einem spirituellen Weltverständnis?“ 1997 Ernst Steinkellner – Pietro Archiati: „Wiedergeburt – Wiederverkörperung aus buddhistischer und aus christlich-anthroposophischer Sicht“ 1997 Yonassan Gershom: „Reinkarnation und Chassidismus“ (Vortrag) 1997 Neil Postman – Tobias Richter: „Der Auftrag der Schule heute“ (1998 als Buch erschienen im J. M. Mayer-Verlag) 1998 Hans-Peter Martin, Raoul Kneucker, Michael Pfaffermayr, Tobias Richter: „Die Folgen der Globalisierungsfalle – für eine europäische Bürgergesellschaft“ (im Rahmen des 6. Österreichischen Waldorftages) 1998 Caspar Einem – Hans-Peter Martin – Tobias Richter: „Unterwegs zu einer neuen europäischen Bürgergesellschaft“ (Podiumsgespräch) 2000 Helmut F. Karner, Thomas Stöckli: „Persönlichkeit als Bildungsziel – Schule und Wirtschaft im Gespräch“ 2001 Peter Sitte, Wolfgang Schad: „Evolutionsverständnis als Grundlage unserer Weitsicht heute“ 2003 Arnold Suckau: „Die Welt des Islam“ (Seminar) 2004 Ibrahim Abouleish – Udi Levy – Carlo Willmann: „Judentum, Christentum und Islam – die Zukunft der monotheistischen Religionen“

P R Ä L U DI U m II Aufbruch in die neue Welt

Erziehung und Bildung im Dialog Carlo Willmann

Waldorflehrerausbildung im europäischen Bildungsraum Im Kapitel „Rondo“ haben Elisabeth Gergely und Tobias Richter auf die besondere Beziehung zwischen Kunst und Pädagogik hingewiesen, wie sie in der Lehrerausbildung an der Goetheanistischen Studienstätte in Wien gepflegt wurde. Diese Zentrierung auf die Erübung künstlerischer Fähigkeiten im Lehrerberuf ist gut begründet und kann durch nichts ersetzt, wohl aber ergänzt werden: durch die Ausbildung zu wissenschaftlicher Arbeit und wissenschaftlicher Beschäftigung mit den Inhalten, Methoden und Zielen der Waldorfpädagogik. Die wissenschaftliche Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit den Stärken und Schwächen der Waldorfpädagogik bedeutete auch, in einen konstruktiven und kontinuierlichen Diskurs mit der Erziehungswissenschaft und ihren verwandten wissenschaftlichen Disziplinen zu treten und innerhalb dieser die Waldorfpädagogik zu vertreten. Überblickt man das Ausbildungsprogramm vieler anthroposophischer Ausbildungs­ institute der vergangenen Jahrzehnte, so nahm die künstlerische Arbeit stets den ihr gebührenden Platz ein, ungeachtet dessen, welchen Fokus jedes Institut für sich wählte, sei es denjenigen auf die Anthropologie und Menschenkunde, auf die spezifische Ausformung methodisch-didaktischer Elemente oder auf die Berücksichtigung der Bedeutung des sozialen Raumes für Bildung und Lernen. Eine eher marginale Rolle spielte die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Waldorfpädagogik wie mit der allgemeinen Pädagogik: Der Diskurs1 mit der Erziehungswissenschaft kam nur schleppend in Gang und wenn, dann wurde er oft von außen angeregt – durch mehr oder meist weniger gerechtfertigte Kritik aus den Reihen der Erziehungswissenschafter, die durch den Erfolg und die Ausbreitung der Waldorfschulen auf die Waldorfpädagogik aufmerksam wurden. Hier haben dann einzelne Autoren (Stefan Leber, Ernst-Michael Kranich, Wolfgang Schad, Peter Schneider und andere) durchaus gezielt reagiert. Eine Veränderung in der Konzeption der Lehrerausbildung im Sinne einer grundlegenden Befähigung zum wissenschaftlichen Diskurs hat sich jedoch erst in den vergangenen Jahren entwickelt und nur allmählich profiliert. Hier ist die Waldorfbewegung als Ganzes hinter der Notwendigkeit, aber auch hinter ihren Möglichkeiten der Positionierung ihres Bildungsbegriffes und ihrer Bildungsziele zurückgeblieben. Eine solche Positionierung ist aber unumgänglich, will sich die Waldorfpädagogik den vielfachen Veränderungen – etwa

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auch im bildungspolitischen Raum, man denke an die gewichtige Rolle von PISA – stellen und als echte Alternative präsentieren. Ein in der akademischen Landschaft anerkannter Diskursraum innerhalb der anthroposophischen Ausbildungsstätten für Waldorfpädagogik kann dieser nur nutzen, niemals schaden. Geht es doch nicht darum, in das Horn des allgemeinen pädagogischen und wissenschaftlichen Mainstreams zu stoßen, sondern seine eigenen Erkenntnisse und Erfahrungen durch nachvollziehbare Formulierung, präzise Argumentation und empirische Belegbarkeit kommunizierbar zu machen. Ohne die Komplexität dieser Aufgabe und die möglichen Differenzen auf dem Weg zu ihrer Verwirklichung und Lösung hier unterschlagen zu wollen, sei festgehalten: Anthroposophische Geisteswissenschaft und allgemeine Wissenschaft ergänzend aufeinander zu beziehen, ist und bleibt eine der großen Herausforderungen, die auch von Lehrerausbildungsstätten in dem ihnen möglichen Rahmen aufgegriffen werden muss. Der Beitrag der Waldorfpädagogik zu den Erziehungsaufgaben der Gegenwart muss auch in den Köpfen und Haltungen derjenigen präsent werden, welche die Debatten um eine zukünftige Gestaltung der Bildungslandschaft vor- und mitbestimmen. Und diese befinden sich nach wir vor an den Lehrstühlen von Universitäten und Hochschulen. Wenn man diese allgemeinen Bemerkungen zu den Arbeitsfeldern an Lehrerbildungsinstitutionen und in das Gebiet von Wissenschaft und Forschung hinein erweitert, muss auch der Blick auf die konkrete Entwicklung des europäischen Bildungsraumes geworfen ­werden, denn die Ausbildungsinstitute zur Waldorfpädagogik stehen nicht isoliert in diesem Raum, sondern sind Teil von ihm und werden von diesem – nolens volens – mitbestimmt. Auch hier haben sich in den vergangenen beiden Dekaden spürbare Veränderungen ergeben und die von der Europäischen Union intendierten Vorhaben zur Umstrukturierung des Bildungssektors werden auch an den Ausbildungseinrichtungen für Waldorflehrer nicht spurlos vorübergehen. Auch wenn die Entscheidungssouveränität im Bildungsbereich den Einzelstaaten unterliegt, so ist die bildungspolitische Ausrichtung doch am gesamteuropäischen Prozess orientiert. Hauptanliegen dieses Prozesses ist der uneingeschränkte und barrierefreie Arbeitsmarkt in einer Wissens- und Informationsgesellschaft der Zukunft. Um diesem Ziel näherzukommen, sollen die verschiedenen Berufsausbildungen sowie die jeweils zu erwerbenden Abschlüsse in Studium und Ausbildung staatenübergreifend gleichwertig gestaltet werden. In der europäischen Bildungslandschaft sind davon zunächst die Universitäten und Hochschulen sowie Fort- und Weiterbildungseinrichtungen betroffen. Ein markantes Beispiel hierfür ist der überraschend schnell und inhaltlich vorangeschrittene Bologna-Prozess, der eine nachhaltige Umstrukturierung vieler Studiengänge nach sich zieht bzw. schon nach sich gezogen hat. Es darf dabei nicht verschwiegen werden, dass gerade die – vielfach überstürzt erscheinende – Einführung der Bologna-Kriterien und die damit verbundenen strukturellen Ver-

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änderung von Studiengängen zu gewaltiger – und auch berechtigter – Unzufriedenheit in der Studentenschaft und zu spürbarer Unsicherheit an den Lehrstühlen geführt haben. Dennoch muss gesagt werden, dass die vielfach schweren – hier nicht im Einzelnen zu nennenden – Mängel des Bologna-Prozesses an vielen Universitäten und in vielen Studienrichtungen nicht auf die Idee des Bologna-Prozesses zu übertragen sind und auch nicht auf alle damit arbeitenden Einrichtungen. Es gilt vielmehr, durch die Erkenntnis dieser Schwächen die Paradigmen zu wechseln: Bildung nicht als kurz gehaltene, verschulte Belehrung zu verstehen, sondern als einen die Menschen bildenden und Menschen verbindenden Prozess, der Zukunft schaffen kann. Das finge etwa bei einem neuen Verständnis dessen an, was ein Grundstudium bis zum Bachelor wirklich sein könnte, nämlich eine Art fachgebietsbezogenes Studium Universale, dem dann ein Masterstudium in Form von einer spezialisierten Erweiterung und Vertiefung des Gelernten folgen könnte. Wie heftig und kontrovers das von der Europäischen Union intendierte Vorhaben zur Umstrukturierung des Bildungssektors derzeit auch diskutiert wird und wie die von Studenten und Dozenten geforderten Veränderungen auch umgesetzt werden mögen, die Folgen betreffen, wenn nicht unmittelbar, so doch auf lange Sicht auch die Ausbildungseinrichtungen für Waldorfpädagogik, denn auch sie stehen in Zusammenhang mit dem allgemeinen bildungspolitischen Prozess im neuen Bildungsraum Europa. Für die europäische Waldorfbewegung entstehen durch diese Entwicklung im Bereich der Lehrerausbildung neue Anforderungen. Einerseits: Da Waldorfpädagogik in ihren philosophischen, anthropologischen und pädagogischen bzw. erziehungswissenschaftlichen Intentionen international angelegt und global ausgerichtet ist und somit m. E. die einzige europaweite und internationale pädagogische Bewegung von Format darstellt, muss gerade die Waldorfbewegung ein starkes Interesse an einer europäischen Formulierung ihrer grundlegenden Bedürfnisse, Erwartungen, Werte und Ziele haben. Andererseits: Sie muss selbst dafür sorgen, innerhalb der neuen europäischen Bildungslandschaft präsent zu sein und wahrgenommen zu werden, also nicht nur den Anschluss zu halten, sondern – mehr noch – diesen Prozess auf ihre spezifische Weise für sich selbst aktiv voranzutreiben und mitzugestalten. Für den Bereich der Lehrerausbildung bedeutet das, dass dieses Ziel nur durch eine staatenübergreifende Vernetzung der entsprechenden Waldorfeinrichtungen erreicht werden kann. Sollte diese Vernetzung für den europäischen Prozess als kompetent und zukunftsorientiert wirksam werden, setzt eine solche Vernetzung eine international akkreditierte Form voraus – und das ist in diesem Falle die Anerkennung ihrer Ausbildung in der Form international vergleichbarer Bildungsabschlüsse auf akademischem Niveau. Womit wir wieder am Ausgangspunkt unserer Überlegungen angelangt sind: Der Aufbau einer wissenschaftsorientierten Ausbildung wird unausweichlich sein. Aus ihr kann sich dann ein europaweit wahrnehmbares Forschungsforum mit wissenschaftlichen Publikationen, Konferenzen und Kongressen herausbilden.

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Aus diesen sich abzeichnenden Entwicklungen heraus hat das Zentrum für Kultur und ­Pädagogik (im Folgenden, verkürzt: das Zentrum) erstmals im Januar 2007 zu dem Symposium „Europäische Vernetzung der Waldorflehrerausbildung“ eingeladen. Ein neuer Fahrplan für die zukünftige Gestaltung einer europaweiten Zusammenarbeit von Ausbildungen sollte geschaffen werden: Kooperation statt Konkurrenz sollte das ideelle Motiv und der wirksame Faktor der Ausbildungen im Raum europäischer Bildungspolitik werden. Vor allem stand das Zentrum vor der essenziellen Frage der Akademisierung seiner Ausbildung und suchte den Erfahrungsaustausch bei denjenigen Instituten, die darin schon vorangeschritten waren. Hier waren es vor allem die Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter, die Hogeschool Helicon in Zeist, die Rudolf Steinerhoyskolen in Oslo und das Institut für Praxisforschung (IPF) in Solothurn in Kooperation mit der Universität Plymouth. Hinzu kamen die Einrichtungen, die selbst den Prozess der Akademisierung ins Auge gefasst hatten: das Waldorf Pedagogiai Inézet aus Solymar, die Freie Hochschule Stuttgart, die Freie Hochschule für anthroposophische Pädagogik in Mannheim, die Rudolf Steinerhögskolan in Järna, das Seminar für Waldorfpädagogik in St. Petersburg, die Pedagoško ućilšite Zagreb und das Institut für Waldorfpädagogik Witten-Annen. In späteren Sitzungen nahmen auch Vertreter des Lehrerseminars Graz und von Waldorf-Salzburg teil. 2008 und 2009 folgten weitere Symposien in Wien und Krems, in denen sich der Austausch intensivierte, die Fragestellungen verdichteten und die gemeinsamen Aufgaben präzisierten. Schwerpunkte der Arbeit waren die Formulierung der jeweiligen Ausbildungsprofile, die Fragen nach den universitären Akkreditierungsverfahren, nach der Prüfung der rechtlichen Grundlagen einer gesamteuropäischen Waldorflehrerausbildung, die Diskussion um den Wissenschaftsbegriff der Anthroposophie und die Wissenschaftlichkeit der Waldorfpädagogik, um nur die wesentlichsten Punkte zu nennen. Bald wurde deutlich, dass es konkret darum gehen muss, auf europäischer Ebene eine Hochschulbewegung zu etablieren, die neue Kooperationsformen zu entwickeln vermag, den Austausch von Studenten und Dozenten ermöglicht, die Akademisierung der Waldorfpädagogik voranbringt und ein Sprachrohr innerhalb der europäischen Bildungspolitik auf Hochschulebene darstellt. Unter der Leitung von Raoul Kneucker kam es im Januar 2009 an der Donau-Universität in Krems zur Formulierung der „Krems-Erklärung“, die von den VertreterInnen der Ausbildungseinrichtungen in Alfter, Graz, Mannheim, Oslo, Plymouth, Sankt Petersburg, Solymar, Stuttgart, Wien, Witten-Annen, Zagreb und Zeist unterzeichnet wurde. In der Erklärung wurden in präzisierter Form weitere Ziele und Absichten formuliert. Dazu gehören die Aufgaben, Waldorfpädagogik in den Kontexten des 21. Jahrhunderts weiter zu entfalten, wissenschaftliche Standards zu sichern, einen Kernbereich für ein gemeinsames europäisches Curriculum für Waldorfpädagogik zu formulieren und die Bedingungen für ein europäisches Waldorfdiplom zu schaffen. Dazu sollte eine ständige Konferenz

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der Hochschulen geschaffen werden, die diese Aufgaben wahrnimmt und die Zukunft der Lehrer­ausbildung auf europäischer Ebene gestalten sollte. Im September 2009 und Januar 2010 trat die in der Erklärung anvisierte „Ständige Konferenz der akademischen Waldorflehrerbildung“ in Wien zusammen, um weitere Schritte zu beraten und zu beschließen. Im März 2010 kam es schließlich zur Konstituierung der „Europäischen Hochschulkonferenz für Waldorfpädagogik“, welche die Nachfolge der ständigen Konferenz angetreten hat. Die Leitung der Hochschulkonferenz für Waldorfpädagogik wird zunächst für zwei Jahre vom Zentrum für Kultur und Pädagogik übernommen. Drei Sitzungen pro Jahr werden einberufen. Die Agenda sieht die weitere Integration in den BolognaProzess vor, die Unterstützung und Beratung bei weiteren Akkreditierunsvorhaben und die gegenseitige Anerkennung der Abschlüsse, die Förderung von Austauschprogrammen, die Bereitstellung von Informationsportalen, die Veröffentlichung von Publikationen sowie die Vorbereitung und Durchführung von Kongressen. Erste Projekte konnten bereits in Angriff genommen werden: Eine Publikation mit dem Titel „Waldorfpädagogik studieren“ ist in Vorbereitung und soll im Frühjahr 2011 erscheinen. In fortgeschrittener Planung ist ein europäischer Kongress mit dem Tagungstitel „2020 – The Future of Teacher Education“, der im März 2011 in Wien stattfinden wird und ein Forum für erziehungswissenschaftliche Fragestellungen zu neuen und zukunftsweisenden Formen der Lehrerausbildung darstellen soll. Mit diesen Schritten erweist sich die Konferenz als tatkräftige und zukunftsorientierte Einrichtung, die den Forderungen der Zeit gerecht werden will.

Entstehung und Entwicklung des Zentrums für Kultur und Pädagogik in Wien Im Jahr 2001 wurde das Zentrum für Kultur und Pädagogik als gemeinnütziger Verein anerkannt und als solcher tätig. Hauptaugenmerk ist die Ausbildung zum Waldorflehrer. In der Vorphase der Gründung dieses Zentrums haben Tobias Richter und Karl Garnitschnig in Zusammenarbeit mit Slavica Bašić und Juliane Grohe sowie Elisabeth Gergely (letztere als Vorstandsmitglied des Zentrums und in beratender Funktion) die Weichen für die Gründung des Zentrums in Wien gestellt. Der Verein ist derzeit gegliedert in den Vorstand, einen erweiterten Vorstand und einen wissenschaftlichen Beirat. Die dreijährige berufsbegleitende Ausbildung zum Waldorflehrer wird von einem engeren Kreis von zehn ehrenamtlichen Mitarbeitern sowie Gastdozenten durchgeführt. Im Herbst 2001 begann der erste Kurs. Bis Herbst 2007 hat das Zentrum vier Ausbildungsgänge in Waldorfpädagogik durchgeführt und dabei insgesamt 99 Studentinnen und Studen­

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Präludium II

StudentInnen und DozentInnen des Masterkurses Waldorfpädagogik auf dem Campus der Donau-Universität Krems

ten betreut, 61 haben mit einem von der Pädagogischen Sektion Dornach anerkannten Waldorfdiplom abgeschlossen. Ein besonders wichtiges Element war in den ersten Jahren des Zentrums die Kooperation mit der von Tobias Richter und Slavica Basic geschaffenen postgraduierten Spezialisierung in Waldorfpädagogik am Erziehungswissenschaftlichen Institut der Philosophischen Fakultät an der Universität Zagreb, die zu jährlich wiederkehrenden gemeinsamen Intensivseminaren an verschiedenen Orten in Kroatien und in Wien führte. Von Anfang an stand das Anliegen einer Akademisierung – also einer Arbeit des Zen­ trums im Rahmen einer wissenschaftlichen Institution und einer damit einhergehenden wissen­schaftlichen Anerkennung der Waldorfpädagogik – im Raum. Durch Karl Garnitschnig kam es 2001 in einem ersten Schritt zur Implementierung des vom Zentrum betriebenen Lehrganges „Waldorfpädagogik – Bildung im Dialog“ am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien. StudentInnen, die dort ihr Studium der Erziehungswissenschaft bzw. der Pädagogik absolvierten, sollten die Möglichkeit haben, auf Modulbasis Seminare im Zentrum zu besuchen und dies als Leistungsnachweis für ihr Studium an der Universität angerechnet zu bekommen. Auch Studenten der Pädagogischen Akademie Wien nahmen an diesen Seminaren zur Waldorfpädagogik teil. Diese sowohl für Dozenten als auch Studenten lehrreiche Zusammenarbeit dauerte jedoch nur zwei Jahre. Eine wesentliche Veränderung ergab sich, als in Kontakten mit der

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Erster Masterkurs Waldorfpädagogik an der Donau-Universität Krems

­ onau-Universität Krems die volle Anerkennung des Lehrganges als akademischer LehrD gang im Rahmen eines Masterstudiums in Aussicht gestellt wurde. Die 1994 als Universitätszentrum für Weiterbildung gegründete und im Jahr 2004 in eine öffentlich-staatliche Universität für Weiterbildung übergeführte Donau-Universität ist die erste in Europa anerkannte Weiterbildungsuniversität, die durch zumeist postgraduale Studiengänge akademische Profilierung und Spezialisierung im Sinne eines „lebenslangen Lernens“ anbietet. Nach intensiven Gesprächen mit der damaligen Vizerektorin, Ada Pellert, und einem aufwendigen Akkreditierungsvorgang konnte das Zentrum für Kultur und Pädagogik im Jahr 2007 den Universitätslehrgang „Bildung im Dialog – Pädagogik mit Schwerpunkt Waldorf“ etablieren. Der Lehrgang ist im Department „Bildungsmanagement und Weiterbildungsforschung“ angesiedelt. Mit der Donau-Universität Krems hat das Zentrum einen wichtigen Partner zur Verwirklichung seiner Bildungsaufgabe gefunden, der stringent, aber offen ist für die Entwicklung neuer Konzepte, die akademische Sicherung der Waldorflehrerausbildung begleitet und ­vorantreibt. Im Herbstsemester 2007 wurde der erste Lehrgang, der mit dem akademischen Grad „Master of Arts in Waldorfpädagogik“ abschließt, eröffnet. Auf institutioneller Ebene ergab sich im Herbst 2009 – angestoßen durch die vorhin skizzierte Zusammenarbeit der europäischen Waldorfausbildungen – eine besonders wich-

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Präludium II

tige und wirksame Möglichkeit in Richtung einer universitären Profilierung des Zentrums. Zwischen dem Zentrum und der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter bei Bonn wurde ein Kooperationsvertrag geschlossen, der das Zentrum zu einem Außen­ institut der Alanus Hochschule erklärte und somit selbst zu einem universitären Institut mit weitestgehend autonomem administrativen und wirtschaftlichen Status machte. An der ­Alanus Hochschule ist das Zentrum angegliedert an das Institut Schulpädagogik und Lehrer­bildung im Fachbereich Bildungswissenschaft, dessen Leiter Jost Schieren ist und der auch, zusammen mit Rektor Marcello da Veiga, diesen Kooperationsvertrag unterzeichnet hat. Die gemeinsamen Ziele dieser Kooperation liegen in der Durchführung gemeinsamer Forschungsprojekte und wissenschaftlicher Veranstaltungen, in der Entwicklung und Festlegung gemeinsamer Standards für Lehre und Abschlussprüfungen, in der Einrichtung eines Austauschprogramms für Studierende und Lehrende, in der Leistung von Beiträgen zur Personalentwicklung der Waldorfeinrichtungen in Europa und der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern auf Grundlage anerkannter akademischer Standards und akkreditierter Studiengänge in Europa. Hinzu kommt die Möglichkeit der Berufung akademischen Personals durch die Alanus Hochschule. So wurde im Herbst 2010 eine Juniorprofessur für Religionspädagogik und Ethik eingerichtet. Als Außeninstitut der Alanus Hochschule verbleibt das primäre Tätigkeitsfeld des Zentrums an der Donau-Universität Krems und ist in diesem Rahmen mit der Ausbildung des österreichischen Waldorflehrernachwuchses betraut.

Der Studiengang „Bildung im Dialog – Pädagogik mit Schwerpunkt Waldorf“ Der Lehrgang ist dreigeteilt und bietet nach jedem zweisemestrigen Studienjahr einen eigenen Abschluss: Nach einem Jahr wird ein Certificate, nach zwei Jahren ein Diploma ver­geben, das dritte Jahr schließt mit dem Mastergrad ab. Insgesamt müssen 120 ECTS (Anrechnungseinheiten in Form von Leistungspunkten, die zum Transfer von Studienleistungen an europäischen Universitäten genutzt werden können) erreicht werden, um das Studium erfolgreich abzuschließen. Das erste Studienjahr ist als ein Einführungsjahr angelegt, das in das wissenschaftliche Arbeiten, insbesondere auf dem Gebiet der Praxisreflexion, einführt und Wissenschaftstheorien zur Diskussion stellt. Inhaltlich stehen Grundkenntnisse der Pädagogik(en) und ihrer Geschichte, Entwicklungspsychologie der frühen Kindheit und allgemeine kulturanthropologische Fragestellungen im Vordergrund. Methodik und Didaktik sind auf das Kleinkind ausgerichtet. Hospitationen an Schulen werden durchgeführt und sind ein wichtiger Faktor im Studienzusammenhang. Dieser Studienabschnitt schließt mit einer Zertifikatsarbeit ab.

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Das zweite Ausbildungsjahr gilt philosophischen Fragestellungen, vor allem der Frage nach der Freiheit und deren Bedeutung für die Pädagogik. Die Auseinandersetzung mit ­Rudolf Steiners „Philosophie der Freiheit“ kann als Leitmotiv des Studienjahres angesehen werden. Im Zentrum der anthropologischen Betrachtung stehen weiters die in der anthroposophischen Menschenkunde formulierte Dreigliederung des Menschen, sowie die Bedeutung von Religion und Religiosität für die Entwicklung des Menschen. Entwicklungspsychologische und methodisch-didaktische Fragestellungen richten sich auf das Schulkind und den jugendlichen Menschen. Die Hospitationen werden durch Praktika ergänzt. Eine Diplomarbeit, zumeist in Form eines praxisorientierten Forschungsprojektes, schließt das Studienjahr ab. Das dritte Studienjahr ist vorwiegend der Fachdidaktik und den verschiedenen Formen der Unterrichtsgestaltung gewidmet, deren Schwerpunkte auf Muttersprache und Rechnen, Geschichte und Geografie, Naturkunde und Naturwissenschaften liegen. Damit einher geht eine Intensivierung der Schulpraktika begleitet von einer verstärkten Praxis- und Selbstreflexion, die auch anhand des Einübens in die Kinderbesprechung gefördert wird. Schließlich werden die Sozialgestalt der Waldorfschule und ihre Bedeutung für die Entwicklung eines neuen Bildungswesens diskutiert. Am Ende der Ausbildung steht das Verfassen einer Master-Thesis, einer wissenschaftlich fundierten Studie, in der der/die Studierende seine Fähigkeit der Zielformulierung, der Problemdefinition, der Methodenwahl und der systematischen Durchführung seines Themas unter Beweis stellt und sich einer Defensio seiner Thesis stellt. Eine gewichtige Rolle in der Bewertung der Studienleistungen ist neben der MasterThesis auch die Präsentation des Portfolios eines Studierenden. Die Anerkennung der Port­ folioarbeit als Instrumentarium der Überprüfung von Studienprozessen und Studienleistungen ist ein bedeutsamer Indikator für das offene Studienverständnis der Donau-Universität Krems. Die Portfolioarbeit trägt sowohl Prozessen als auch Ergebnissen des Studiums Rechnung; an ihr lässt sich der „Bildungsweg“ des/der Studierenden ablesen, die Vielfältigkeit seiner Studien genauso wie seine jeweils individuellen Zugänge zu den Anforderungen und Inhalten des Studiums. Bemerkenswert sind dabei die zu jedem Modul eingeforderten Reflexionen, die eine inhaltliche Bearbeitung der Studienthemen, aber auch eine persönliche Verarbeitung unter dem Aspekt der Selbstreflexion sowohl gegenüber dem Gelernten als auch dem Lernprozess verlangen. Besonders aufschlussreich sind hierin vor allem die Portfolioinhalte, die sich auf den künstlerischen Prozess beziehen: Sie zeigen oft auch den ungemein beeindruckenden biografisch-persönlichen Weg des/der Studierenden hin zu einer möglichst reifen Lehrerpersönlichkeit. Es braucht nicht eigens erwähnt zu werden, dass ein bedeutender Anteil der Ausbildung der künstlerischen Arbeit zukommt. Durch Übungen in Zeichnen und Malen, in Bewegungskunst von Eurythmie und Living Movement, in Singen, Musizieren und Theaterarbeit bildet

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sich der angehende Lehrer/die angehende Lehrerin zu einem fantasievollen, initiativen und verantwortungsvollen Menschen heran. In gemeinsamen Projekten, wie etwa bei Segelkursen, werden Teamfähigkeit, Geschick und Handlungsbereitschaft gemeinsam erprobt. Da der Lehrgang modular konzipiert ist, sind Anrechnungen von anderen Lehrgängen an anderen Universitäten erleichtert. Für bereits tätige WaldorflehrerInnen ist auch die pädagogische Praxis anrechenbar. Die Seminare, künstlerischen Übungen, Kolloquien, Workshops und Projekte finden in Wochenendseminaren und Intensivwochen statt, was für eine berufsbegleitende und überregional wirkende Ausbildung die adäquate Form bildet. Über diese Studiengänge an der Donau-Universität hinaus vertritt das Zentrum auch weitere nicht-akademische Aufgaben im Bildungsbereich. So organisiert und leitet das Insti­ tut auch Fortbildungsveranstaltungen zu pädagogischen Themen, die von Experten ihres Faches über einen Tag oder ein Wochenende angeboten und von Eltern, Lehrern und Studenten besucht werden. Hier haben sich vor allem Themen zum Sprachunterricht, Musik­ unterricht, zu erzieherischen Fragen in Bezug auf die unterschiedlichen Altersstufen, zu heilpädagogischen Fragestellungen, zu einer angemessenen Pädagogik bei verhaltensauffälligen Kindern, zu Kommunikationsformen und -strategien im Schulleben, zu Methodik in Didaktik in einzelnen Fachgebieten u.a.m. als gefragt erwiesen. Das Zentrum unterstützt auch weitere pädagogische Initiativen: So sind Schulneugründungen in Niederösterreich und im Burgenland aus dem Wirkungsfeld des Zentrums hervorgegangen und erhalten, soweit wie möglich, Rat und Unterstützung, wie auch die Initiative FRAM, die sich der Förderung verhaltensauffälliger Kinder widmet. Auch findet eine konti­ nuierliche Zusammenarbeit mit der Waldorf & Co. Familienakademie in Baden bei Wien statt. Grundlegend und zukunftsorientiert ist ferner die Neuformierung der Anthroposophischen Akademie für Erwachsenenbildung in Österreich, deren Mitglied das Zentrum ist und wo sich aus der Zusammenarbeit mit anderen Instituten der Akademie neue Impulse für Anthroposophie und Waldorfpädagogik ergeben.

Intentionen Der Kern des Zentrums liegt gleichwohl in einer spirituellen Aufgabe: Geht man davon aus, dass auch ein Kern eine Schale besitzt, dann ließe sich sagen, dass zu diesem Bereich die in diesem Buch beschriebene Intention des Dialogs gehört. Das Zentrum hat von Beginn an den sinnstiftenden Diskurs mit den bedeutenden Kulturfunktionen Wissenschaft und Wirtschaft, Kunst und Religion gesucht, um diese innerhalb der Lehrerausbildung und Fortbildung wiederum für die Pädagogik fruchtbar zu machen. So trägt das Curriculum der Aufgabe des Dialogs Rechnung, indem es Anthroposophie und Waldorfpädagogik in ernsthafte

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Beziehung setzt zu Theorie und Praxis anderer Wissenschaftler, Pädagogen, Philosophen, Theologen und Psychologen. Erst der Diskurs lässt den Wert eines jeden erkennen und – sei es in Übereinstimmung, Ergänzung oder Abgrenzung – die eigene Position befragen und überprüfen. Der innerste Kern des Zentrums, der Wesenskern, liegt in der Entfaltung all jener Fähig­ keiten und Möglichkeiten, die eine Pädagogik der Gegenwart und Zukunft von einem Lehrer verlangt: über ein freies und kritisches Denken zu verfügen, die eigenen emotionalen Kompetenzen erweitern und die eigene Handlungs- und Verantwortungsbereitschaft stärken zu können. Diese drei wichtigen und entscheidenden Kompetenzen sind im Zentrum unter drei Begriffen versammelt, die gleichsam als Leitmotive der Ausbildung gelten können: Dialogkultur, Erziehungskunst, Gestaltungssinn. Dialogkultur ist zu verstehen als das bewusste Erlernen und Ausüben der Möglichkeit, sich dem anderen und auch sich selbst gegenüber zu öffnen, das Gespräch im Sinne einer unvoreingenommenen Begegnung und auf das Ergebnis hin offen zu führen und sich vom Gedanken der Gemeinsamkeit des Menschlichen leiten zu lassen. Es muss zu Bewusstsein kommen, dass die beträchtlichen Herausforderungen der Gegenwart und, mehr noch, der Zukunft an die Erziehung, denen wir in einer Zeit der Technisierung und Ökonomisierung – auch in der Welt des Kindes – ausgesetzt sind, nur gemeinsam von allen Kräften, die sich dieser Erziehungsaufgabe widmen, gemeistert werden können. Wie anders als durch den Dialog können diese Kräfte miteinander verbunden und gestärkt werden? Kritische Selbstreflexion und kritisches Wahrnehmen der Positionen anderer bedeuten Klärung sowohl der eigenen Defizite wie jener der anderen und die Anerkennung und Förderung der eigenen Anstrengungen und Erkenntnisse sowie jener der anderen in Theorie und Praxis. „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“, schreibt Martin Buber und nirgends mehr ist diese Begegnung verlangt als in der Begegnung mit dem Kind und dem Jugendlichen in der erzieherischen Praxis. Soll das Kind in das wirkliche Leben eintauchen können, sich als lebendiges Wesen erfahren dürfen, dem eine Zukunft in Würde gegeben ist, dann muss auch der Erzieher diese Erfahrung der Begegnung gemacht haben. Dialogkultur ist also Begegnungskultur. Sie wird erlernt durch unvoreingenommene Achtsamkeit gegenüber den Erscheinungen der Welt, im aufmerksamen Zuhören und nicht zuletzt in der Fähigkeit, sich selbst aussprechen zu können. Dies sind zugleich auch die Fähigkeiten, die wir dem Kind und Jugendlichen mitzugeben wünschen auf seinem Weg der Selbstwerdung. In engstem Verhältnis dazu steht das Ziel der Erziehungskunst. Alles künstlerische Tun ist ebenfalls auf dem Prinzip der Begegnung aufgebaut. Geht es in der Kunst doch um das Wesen einer Sache: Je deutlicher und klarer das Wesen einer Erscheinung, sei dieses von ideellem, sozialem oder materiellem Gehalt, durch das Kunstwerk aufscheint, umso wertvoller, aussagekräftiger und ideenleitender wirkt es auf uns. Der Künstler zeigt uns seine Begegnungsweise mit der Welt und lässt uns an ihr teilhaben. Diesen schöpferischen Pro-

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zess im Üben von Musik, Tanz, Bildhauerei und Malen an sich selbst zu erfahren – oft genug schmerzlich, am Ende aber befriedigend –, ist eine Grundvoraussetzung für den Unterrichtenden und Lehrenden. Denn ein schöpferischer Prozess ist es auch, durch die Kunst der Erziehung das Wesen eines Kindes zum Vorschein zu bringen und es selbst entfalten zu lassen. Da dies nicht in einem freien und ungestört ideellen Raum geschehen kann, sondern an die Realität von Gesellschaft, Kultur, Religion, Familie und Medien gebunden ist, kommt es darauf an, im potenziellen Raum von Konflikt und Enttäuschung, von Überforderung und Abwehr eine Lebensform zu generieren, die sich den Aufgaben nicht ohnmächtig, sondern produktiv gegenüberstellen kann. Hier kommt es darauf an, Gestaltungssinn zu entwickeln. Finde ich zu einer Gestaltung meiner Handlungen, die Sinn geben und Sinn ergeben, lebe ich bei mir selbst, finde Antworten und lasse neue Fragen zu. Ich kann offen für Entwicklungen sein, lerne abzuwägen und zu argumentieren, meine Entscheidungen zu vertreten und das Angemessene zu tun. Aus dieser Erfahrung von der Möglichkeit, sinnhafte Lebensformen zu verwirklichen, ist es ein geringer Schritt, zu einer sinnvoll gestalteten Unterrichtsweise zu kommen oder den Lebensprozessen einer Schulgemeinschaft tragende Impulse zu geben. Dialogkultur, Erziehungskunst und Gestaltungssinn sind nicht bloße Kategorien einer akademischen Theorie, sondern entsprechen dem Wesen des Menschen in seinem Denken, Fühlen und Wollen. Wenn diese Seelenfähigkeiten auch in allen dreien zugleich tätig sind, so wird doch in der Dialogkultur das freie und unvoreingenommene Wahrnehmen und Denken geschult, in der Erziehungskunst das Einfühlen und fantasievolle Umgehen von Erziehern und Lehrern mit den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen, im Gestaltungssinn die sozialen Willenskräfte für das gemeinsame Wirken in einer Schulgemeinschaft. Diese drei Übungsfelder stehen auch in einem deutlichen Zusammenhang mit dem, was Rudolf Steiner von den Lehrern der ersten Waldorfschule forderte: Initiative zu entwickeln, Achtsamkeit gegenüber dem Großen und Kleinen zu pflegen und Wahrhaftigkeit anzustreben. Jeder Dialog ist einer bewussten Initiative aller Beteiligten zu verdanken, jede Kunst berücksichtigt das kleinste Detail und zielt zugleich auf die große Aussage, jeder Wille zur Gestaltung kann an der Wirklichkeit und den sie bedingenden Faktoren nicht vorbeigehen, sondern muss sie in ihrem Sosein erkennen und ihr in adäquaten realistischen Schritten begegnen, um sie zum Positiven hin zu verändern. Dieser innere „Bewusstseinskern“ der Ausbildung am Zentrum für Kultur und Pädagogik muss immer wieder von den Lehrenden und Studierenden neu erarbeitet und mit immer neuen Gehalten belebt und formuliert werden. Es ist dies eine besonders anspruchsvolle, aber unumgängliche Aufgabe, die zu immer neuen Impulsen und Anregungen führen kann. Dialogkultur, Erziehungskunst und Gestaltungssinn sind dann gleichsam Lebenselixiere für den Einzelnen wie für die Einrichtung selbst. Es ist für mich bemerkenswert, dass in den

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zehn Jahren des Bestehens nahezu alle auf den verschiedensten Ebenen Mitarbeitenden dem Zentrum trotz vieler Herausforderungen treu geblieben sind. Es mag das Geistverbindende sein, das in dieser Arbeit liegt, sofern sie eben dem Geistigen verpflichtet ist. Und so glauben und spüren wir, dass Elisabeth Gergely auch nach ihrem Übertritt in die geistige Welt mit uns verbunden ist und wir es mit ihr sind.

Anmerkung 1

In diesem Text ist die Rede von Diskurs und Dialog. Diskurs wird hier verstanden als eine disziplinäre oder interdiszi­plinäre Form der rationalen Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Forschungsmethoden und Forschungs­ergebnissen; Dialog als eine darüber hinausgehende Form transdisziplinärer Verständigung hin zur Gewinnung neuer gemeinsamer Sinnhorizonte.

Bildnachweis: Archiv des Herausgebers

F INALE

Finale Tobias Richter

Was erwartet man von einem Finale, von einem Schlusssatz? Vielleicht einen raschen, fröhlichen Ausklang, einen Kehraus? Oder eine hymnische Steigerung als Feier der gesamten Komposition? Aber auch das gibt es: Die oft ganz unerwartete Rückkehr zum Ausgangsthema, wenn der Komponist sich an die Regel hielt: „Am ­Anfang musst du nicht das Ende kennen, doch am Ende bedenke den Anfang.“ Das durchgängige Thema der aufgefunden Waldorfkomposition war das des Dialogs – und im Präludium klang es nochmals an –, aber bereits in einer neuen Tonart. Mit dem Untertitel „Aufbruch in eine neue Welt“ wurde ganz bewusst der große böhmische Komponist Antonín Dvořák hereingerufen. Auch er entstammte der Donaumonarchie, von der wir zeigen wollten, wie dort eine Kultur des Dialogs gewachsen war. Zwischen 1892 und 1895 übernahm er die Aufgabe, das New Yorker Konservatorium zu leiten und eine junge Musikergeneration heranzubilden, die einen national-amerikanischen Musikstil entwickeln sollte. Dort schrieb Dvořák seine berühmte 9. Symphonie in e-Moll, op. 95 Aus der Neuen Welt. Er kam in ein Amerika des Aufbruchs, aber auch in ein Amerika, das zu einem gemeinsamen Leben mit den indianischen Ureinwohnern nicht fähig war und diese in Reservate verbannte … Das Schicksal der autochthonen Gruppen in Amerika bewegte Antonín Dvořák zutiefst, und er wies ihnen in seinem Werk einen prominenten Platz zu – allerdings, ohne dabei folkloristisch zu werden. Er selbst äußerte sich dazu folgendermaßen: „Aber den Unsinn, dass ich indianische oder amerikanische Motive verwendet hätte, lassen Sie aus, weil das eine Lüge ist. Ich habe nur im Geiste dieser amerikanischen Volkslieder geschrieben.“1 In unserer Beschreibung der Waldorfkomposition in Österreich haben wir versucht, das aufzuzeigen, was von ihr und ihrem Geist erkennbar ist. Dazu gehört auch der Aufbruch in eine neue Welt. Antonín Dvořák war in der neuen Welt räumlich angekommen, als er die Symphonie schrieb – den offenen Horizont vielfältiger Möglichkeiten verspürend.2 Doch im Wesen der Zukunft liegt es, dass sie allenfalls vorausgeahnt, aber nie erreicht wird. Und somit bricht man stets neu in diese auf, wie es bis zuletzt Elisabeth Gergely immer und immer wieder konnte – und wie es auch bei einem Kind zu erleben ist. Noch einmal sei an Martin Buber erinnert, dem wir das Erkennen des Dialogmotives verdanken. Für ihn bedeutet die „Wirklichkeit Kind“, dass „in die Schichtung des Vorhandenen

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Finale

das noch Ungewesene einbricht, mit zehntausend Antlitzen, von denen keines bisher erschaut worden war, mit zehntausend noch ungewordenen, werdebereiten Seelen – urgewaltige Potentia.“3 Dem will sich eh und je eine Pädagogik aussetzen, deren Ziel es ist, das Werden der Kinder und jungen Menschen zu begleiten. Diese Gnade des Immer-wieder-anfangen-Dürfens, die einem im Kind, auf das man zugehen will, begegnet, stellt auch die Frage nach dem, wovon man ausgegangen und wohin man gelangt ist … Damit sind wir dort angekommen, wo unsere Darstellung des österreichischen Weges der Waldorfpädagogik endet. Das Woher und Wohin ließen sich beschreiben. Das Zukünftige, der weitere Weg, muss notwendig offen und damit die Komposition unvollendet bleiben: Andere Dirigenten, neue Orchester – und traditionsreiche mit neuen Instrumenten – sind bereits da und haben schon mit ihrer Arbeit begonnen. Anmerkungen 1

Wikipedia, 20. September 2010

2 Bevor die Astronauten der „Apollo 11“ 1969 zum ersten Mal den Mond betraten, hörten sie während des Fluges genau diese Symphonie, die von Sehnsucht und gleichzeitig von Abenteuerlust kündet und somit den Moment des Betretens einer neuen Welt vorbereitete. 3 Buber, M., Reden über Erziehung, Heidelberg 1969, S. 11f Bildnachweis: Mittelstufen-Chor und -Orchester der Rudolf-Steiner-Schule Wien/Mauer unter Leitung einer ehemaligen Schülerin: Archiv Karl Hruza

Finale

Junge Musiker mit junger Leitung

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P ROGRA M M HINWEISE

D i e D i r i g e n t i n E l i s a b e t h G e r g e ly Irmtraud Moravansky

„Wer von einer Idee als seinem Werk ergriffen ist, möge am eigenen Schicksal prüfen, ob er damit einer Wahrheit oder einem Wahne dient. Er betrachte die Prüfung als bestanden, wenn sein Schicksal ihn mit dieser Idee trägt. Dazu aber muss er in das Risiko seines Konzeptes mit allem, was er hat, eintreten. Wenn er vorher andere Sicherheiten sucht und damit ja der Tragkraft seiner Idee selbst nicht ganz glaubt, dann wird ihn auch die äußere und innere Tragkraft seiner Idee auch wirklich verlassen. Man muss sich ganz in das Risiko einer Idee begeben, muss sie zu seinem Schicksal machen, erst dann verwachsen sie miteinander: die Idee, ihr Träger und sein Schicksal.“ Gerhard Kienle Die ungeschriebene Philosophie Jesu, Stuttgart 1983, S. 100

Elisabeth Gergely stand im Herbst 2009 im 90. Lebensjahr. Ihr größtes Anliegen war: Die Geschichte der Waldorfbewegung in Österreich soll, ja muss niedergeschrieben werden, solange es noch ZeitzeugInnen gibt. Elisabeth ließ nicht locker, bis der Redaktionskreis und das Konzept gefunden waren. Die Arbeit begann. Dabei dachte die Impulsgeberin an alles, nur nicht an ihr eigenes Wirken. Die eigene Lebensgeschichte zu erzählen und dokumentieren zu lassen, fiel ihr sichtlich schwer. Ihr Schicksal und Lebensweg waren so eng mit der Entwicklung der Waldorfbewegung in Österreich verwoben, dass eines ohne das andere kaum denkbar erscheint. Am 27. August 1920 wurde Elisabeth in Wien geboren, als zweite Tochter von Emma und Rüdiger Walter. Es war Zwischenkriegszeit in Österreich, doch der Familie ging es gut. Sie lebte, wie Elisabeth sagte, in „großbürgerlichem Ambiente“. Die Familie wohnte in bester Lage, zunächst in der Theresianumgasse 17, gegenüber dem Palais Rothschild im 4. Wiener Gemeindebezirk. Das Bauunternehmen des Vaters plante und errichtete für adelige Kundschaft Häuser und richtete sie „schlüsselfertig“ ein. „Der Vater stellte Einzelanfertigungen für die Häuser, die er gebaut hat, her. Diese hat er ja voll eingerichtet. Das kann man sich heute überhaupt nicht mehr vorstellen. Diese Jagdhäuser seiner meist adeligen Kundschaften wurden bis zum Kastl, wo das Klopapier drinnen war, ausgestattet“, erzählte Elisabeth Gergely. Elisabeths Kindheit war behütet. Ihr Vater war allerdings nicht gesund und brauchte viel Pflege. Elisabeth und ihre ältere Schwester Friedl wurden daher hauptsächlich von der Großmutter, der „Königin-Mutter“, wie sie die Kinder nannten, betreut. Diese Großmutter, Irene Tranquillini, eine charakterstarke Italienerin, hatte schon an der Jahrhundertwende fünf

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Programmhinweise

Kinder – darunter die Mutter Elisabeths – großgezogen; ­deren Vater, einen polnischen Offizier und Festungsbauer, konnte sie nach der damaligen Gesetzeslage nicht heiraten, da er zuvor bereits verheiratet und geschieden gewesen war, sodass auch die Kinder den Mädchennamen ihrer Mutter führten. Nach dem Tod ihres Mannes blieb die Großmutter mit fünf Kindern völlig mittellos zurück und machte sich mit einer Wäscherei selbständig. In dieser typisch wienerischen, multikulturellen Familie gab es wenig Verständnis für den aufkeimenden Nationalsozialismus der 30er-Jahre. Als Elisabeth 12 Jahre alt war, kam sie zum ersten Mal mit Elisabeth Gergely der Anthroposophie in Berührung. Da für den leidenden Vater die Möglichkeiten der Schulmedizin ausgeschöpft erschienen, wurde auf Empfehlung von Freunden der anthroposophische Arzt Ferdinand Wantschura zu einem Hausbesuch gebeten. Es traf sich, dass er Elisabeth, die an Lungenentzündung erkrankt war, gleich mitbehandelte. Für Elisabeths Schwester Friedl, die an ­einem nervösen Zucken im Gesicht litt, empfahl der Arzt Heileurythmie. So kam „Schwester Johanna“ zur Heileurythmie ins Haus, eine würdige Dame, in ­einem langen violetten Kleid mit violetter Stola, deren Erscheinung Elisabeth auf den ersten Blick merkwürdig fand, fremd für ihr Gefühl, wie diese sich kleidete und gab: „Ich war ein sehr freches Mädchen und leicht zu Spott und Kritik geneigt.“ Und was sie dann durch das Schlüsselloch wahrnahm, verstärkte diesen ersten Eindruck. Blockflöte und Bruchstücke von Sprachgestaltung, wie „Baldur, mein Buhle, wo bist du verborgen …“ Ganz anders erlebte ihre Schwester diese erste Heileurythmiestunde, denn sie verkündete, unmittelbar danach, dass sie nun wüsste, wo ihr Leben hingehen sollte, dass sie entschlossen sei, die Eurythmieausbildung zu machen. Das war für die Eltern eine große Überraschung und Enttäuschung, da Friedl zuvor die Absicht gehabt hatte, Architektur zu studieren. Die Eltern waren allerdings offen und weitherzig und legten Friedl in der Folge nichts in den Weg. Der Vater stellte nur die Bedingung, dass Friedl die Schule mit der Matura abschließen sollte. So geschah es und 1934 begann Friedl in Wien, wo es eine Eurythmieschule gab, mit der Ausbildung. Elisabeth nahm von der Eurythmie nichts wahr. Aber sie bemerkte, wie sehr ihre Schwester darin eingetaucht war. Viele neue Bekannte ihrer Schwester kamen ins Haus; es waren junge, anthroposophisch orientierte Menschen, mit denen sich Elisabeth im Einzelnen gut unterhielt, eine kritische Distanz war dennoch nicht zu leugnen. 1938, nach dem Einmarsch der deutschen Truppen, nahm Elisabeths Schwester zum Abschluss ihrer Ausbildung an ­einem sogenannten „Meisterkurs“ in Dornach teil und kam mit dem Eurythmiediplom nach Wien zurück.

Die Dirigentin Elisabeth Gergely

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In Österreich spitzte sich die Lage nach der Machtergreifung Hitlers zu, die Zeichen standen auf Krieg. Als im März 1938 der gigantische Aufmarsch der deutschen Truppen über den Ring zog, unmittelbar an der neuen Wohnung der Familie am Opernring 6 vorbei, versuchten sie, sich zu distanzieren, so gut es ging. Die Fensterläden wurden geschlossen und die Großmutter trat in den Hungerstreik … Wenige Tage nach dem Einmarsch musste Elisabeth mit ihrer Schulklasse an der Anschlusskundgebung auf dem Heldenplatz teilnehmen. Elisabeth besuchte die Maturaklasse des „Mädchengymnasiums für höhere Frauenbildung“ in der Beatrixgasse. Die Mädchen waren angewiesen worden, in dunklen Röcken zur Schule zu kommen, dazu wurden sie mit weißen „BdM-Blusen“ (BdM bedeutete: Bund deutscher Mädchen) ausgestattet und dann machten sie sich im dichten Gedränge eines Menschenstroms auf den Weg zum Heldenplatz. Als sie dort ankamen, war der Platz bereits prallvoll mit Menschen und unzählige NSFahnen wehten vor der Hofburg. Die Menge jubelte, als Hitler auf den Balkon der Hofburg trat und seine Rede eröffnete: „Ich verkünde vor der Geschichte den Eintritt meiner Heimat in das großdeutsche Reich …“ Worte, die Elisabeth mit Fassungslosigkeit erfüllten und die sie nie vergessen würde. Im Sommer 1939, knapp vor Kriegsbeginn, unternahmen die Schwestern eine fünf­ wöchige Reise durch Italien. Friedl wollte im Anschluss daran direkt zur Gesamtaufführung des „Faust“ in die Schweiz, nach Dornach, fahren, während Elisabeth geplant hatte, nach Hause zurückzukehren. Aber da sie so lange mitsammen gereist waren, wollten sie sich nun nicht trennen. So erbat Elisabeth noch etwas Reisegeld vom Vater, das dieser gewährte. Die Faust-Inszenierung mit hervorragenden Einführungsvorträgen war ein äußerst beindruckendes Erlebnis für Elisabeth; sie änderte aber dennoch kaum etwas an ihrem reservierten Verhältnis zur Anthroposophie. Die Rückreise nach Österreich gestaltete sich schwierig, da bereits riesige Truppentransporte unterwegs waren. Es herrschte Hochspannung. Am Tag nach der Rückkehr der Schwestern, am 25. August 1939, starb der Vater mit 48 Jahren. Sein Tod war ein großer, überraschender Einschnitt, denn obwohl der Vater chronisch krank gewesen war, stand er doch noch voll im Berufsleben als freiberuflicher Architekt, Bauingenieur und Möbelerzeuger. An Elisabeths Geburtstag, dem 27. August, fand das große Begräbnis im niederösterreichischen Schwarzau, nahe Guntrams statt, wo die Familie ein Anwesen besitzt. Elisabeth hatte bis dahin nicht geweint, auch nicht, als sie eine Nacht am Totenbett des Vaters verbracht hatte. Doch als der Werkmeister des Unternehmens weinend am Grab niederkniete, brach auch sie in Tränen aus. Am 1. September marschierten deutsche Truppen in Polen ein, der Zweite Weltkrieg hatte begonnen. Der Tod des Vaters, der Ausbruch des Krieges – das war für Elisabeth eine sehr komprimierte Zeit, die sich als lebenswendend erwies und in der sich für Elisa-

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Programmhinweise

beth der spirituelle Weg der Anthroposophie eröffnete. Als inneren Impuls nannte Elisabeth den tiefgehenden Eindruck, der sich einstellte, als sie viele Stunden am Totenbett des Vaters verbrachte und die Veränderungen in seinem Antlitz betrachtete; Elisabeth konnte dabei das Ewigkeitswesen des Menschen erahnen. Diese Eindrücke waren absolut neu für sie. Zu Kriegsausbruch stand Elisabeth im ersten Jahr ihres Chemiestudiums an der Technischen Hochschule. Die Hochschule wurde vorübergehend geschlossen, da die Burschen ihres Jahrgangs an die Front nach Polen geschickt wurden. Zu dieElisabeth Gergely 1945 sem Zeitpunkt dachte man noch, dass es ein kurzer Krieg sein würde und sich die Lebensumstände bald wieder normalisierten. Gemäß den neuen Kriegsbestimmungen wurde Elisabeth als Praktikantin zum Fabriksdienst in ein Semperit-Werk in die Slowakei geschickt, wo es jedoch für sie als Laborpraktikantin nichts zu tun gab, da das Unternehmen auf Kriegsproduktion umgestellt wurde. Nach einem Ansuchen, diesen sinnlosen Dienst beenden zu dürfen, konnte Elisabeth nach Wien zurückzukehren. Dort setzte sie ihr Chemiestudium bis zur Wiedereröffnung der Technischen Hochschule an der Universität Wien fort. In Wien wurden indessen Galgen aufgestellt, zur Hinrichtung von Deserteuren. Elisabeth empfand diese Zeit als finster und schrecklich. Als Gegengewicht dazu erlangte die anthro­ posophische Arbeit für sie existenzielle Bedeutung: „Wir haben in der Dunkelheit dieser Zeit ein Lichtlein angezündet.“ Die anthroposophische Arbeit musste allerdings im Verborgenen stattfinden, in kleinen Gruppierungen. Die Anthroposophische Gesellschaft war verboten, die Bücher Rudolf Steiners waren es ebenfalls. Man musste immer darauf gefasst sein, von der Gestapo entdeckt zu werden, doch diese äußere Gefährdung, so Elisabeth, verstärkte die innere Präsenz. Da Elisabeths Schwester Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft und somit ­aktenkundig war, wurde sie von der Gestapo verhört und ihre Wohnung durchsucht; die ­Bücher von Rudolf Steiner wurden bis auf den „Nationalökonomischen Kurs“ konfisziert; die Männer der Gestapo hatten aufgrund des Namens wohl nationalsozialistisches Gedankengut dahinter vermutet. Zu dieser Zeit wohnte Elisabeths Familie in einem Haus am Franz-Josefs-Kai, das der Vater noch vor seinem Tod gekauft hatte: Friedl mit ihrem Mann im Mezzanin, Elisabeth mit der Mutter im oberen Stock. Die Großmutter hatte Wien verlassen und war zu einer ihrer Töchter an den Attersee gezogen. Elisabeth und ihre Mutter waren nicht Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft und blieben unbehelligt, sodass sie auch die Bücher behielten, die sie vorsorglich bereits in ihre Wohnung „ausgelagert“ hatten.

Die Dirigentin Elisabeth Gergely

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Elisabeth war bereits während ihres Studiums als wissenschaftliche Hilfskraft an der Technischen Hochschule beschäftigt und promovierte 1943 als einzige Frau ihres Jahrgangs. Nach dem Abschluss ihres Studiums blieb sie als Angestellte an der Hochschule, wo sie Ihren zukünftigen Mann als Dissertanten kennenlernte. Im Mai 1945 wurde geheiratet, in den letzten Kriegstagen. Das Paar war aus Wien zu Elisabeths Tante an den Attersee geflohen, wo die Hochzeit in einer politischen Ausnahmesituation stattfand. Das Haus in Wien wurde am 15. Januar 1945 von einer Bombe getroffen. Elisabeth hatte wegen der häufigen Fliegerangriffe im letzten Kriegsjahr auf einem Matratzenlager in der Hochschule übernachtet. Als sie am Morgen nach Hause kam, brannte das Haus lichterloh, die Feuerwehr war im Einsatz. Wider Erwarten hielt die Decke der Wohnung im Mezzanin. Als der Brand gelöscht war, war die Familie tagelang damit beschäftigt, die Wohnung der Schwester unter abenteuerlichen Umständen zu räumen. Ein Bösendorfer-Flügel wurde durch das Fenster abgeseilt. Die verbleibende Habe der Schwester brachten sie mit Leiter­ wägen durch hohen Schnee und über Bombentrichter zum noch vorhandenen Büro des verstorbenen Vaters am Lobkowitzplatz, das zum Zufluchtsort der Familie wurde. Die Wohnung von Elisabeth und der Mutter war vollkommen zerstört worden. Die Ruine am Franz-Josefs-Kai verkaufte die Mutter an die ÖMV, da sie sich die Grundsteuer nicht mehr leisten konnten. Elisabeth blieb nur ein angekohltes Büchlein, das später, mit ihrem Namen versehen, jenseits des Donaukanals gefunden wurde. Doch Elisabeth kann der Besitzlosigkeit Positives abgewinnen, sie beschreibt ein Gefühl der „unglaublichen Freiheit des Nichts-Besitzens“. Dieses Freiseins von Besitz eröffnet Elisabeth ein neues Verhältnis zum Materiellen; sie zählt es zur Segensseite dieser dunklen Zeit. Die Empfindung: „Ich möchte nur das haben, was ich wirklich brauche“, bestimmte fortan ihr Leben. „Wenn ich zwei Töpfe habe, muss ich keinen dritten Topf besitzen.“ („Ich staune nur darüber, wie viele Dinge es gibt, deren ich nicht bedarf“, soll Sokrates gesagt haben, als er über den Markt ging). In diesem Sinne war Elisabeth eine glückliche Frau. Im Ausnahmezustand nach dem Krieg, angesichts der Zerstörung und des menschlichen Leids, entschloss sich Elisabeth, ihre wissenschaftlichen Berufspläne aufzugeben. Sie gab sich das Versprechen, am Kulturaufbau mitzuwirken. Sie wollte mithelfen, das Zusammenleben wieder menschenwürdig zu gestalten und das Leben auf ein geistiges Fundament zu stellen. Wie sie ihren Vorsatz konkret realisieren würde, wusste sie damals allerdings noch nicht. Die anthroposophische Arbeit vereinigte in dieser Trümmerzeit Menschen mit genau ­diesem Ziel. Elisabeth konzentrierte sich vorerst auf ihre anthroposophische Weiterbildung, verbunden mit dem Anliegen, ihr naturwissenschaftliches Weltbild mit der Anthroposophie in Einklang zu bringen.

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Programmhinweise

Im Landhaus in Guntrams 1953

Im Herbst 1946 begann sie mit dem Eurythmiestudium. Dieses wurde von der Geburt ihrer beiden Söhne, Thomas und Stefan, unterbrochen. Thomas kam 1947, Stefan 1950 auf die Welt. Die Familie hatte bei einer befreundeten Familie in der Margarethenstraße eine Wohnung gefunden. Die Sommermonate verbrachten sie in Guntrams, dem Landsitz, den der Vater hinterlassen hatte. 1951 machte Elisabeth ihren Eurythmieabschluss in Dornach. Bereits während des Studiums hatte sie begonnen, bei Eurythmieaufführungen mitzuwirken, teilweise im kleinen, internen Kreis, aber auch bei großen öffentlichen Aufführungen, etwa im Theater an der Wien, mit denen das Ensemble auch auf Tournee ging. In ihrer Zeit als Mutter widmete sich Elisabeth auch der erkenntnismäßigen anthroposophischen Arbeit, die eng verwoben war mit der künstlerisch-eurythmischen Arbeit. Die Erkenntnisarbeit dort wurde durch eurythmische Studien ergänzt; über Jahre war man mit Ost-West-Themen beschäftigt. Eine der letzten Ausarbeitungen, die zu einer großen Aufführung heranreiften, mit der das Eurythmieensemble auch auf Tournee ging, waren die Mithras-Liturgie und das westliche Druidenlied. Das Ensemble konnte danach nicht mehr weiterarbeiten, weil die beiden „Meisterinnen“, Elisabeths Schwester Friedl Meangya und Trude Thetter, schwer erkrankten. (Friedl starb 1984 nach sieben Jahren schweren Leidens, ein Jahr nach Trude Thetter.)

Die Dirigentin Elisabeth Gergely

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Elisabeths Vorsatz, am Kulturaufbau mitzuwirken, nahm konkrete Gestalt an, als Bronja Zahlingen zu Beginn der 50er-Jahre aus der Emigration aus England zurückkam. Zahlingen war eine erfahrene, leidenschaftliche Kindergärtnerin, die bereits in der ersten Waldorfschule, die 1938 geschlossen werden musste, den Kindergarten geführt hatte (siehe Bronja Zahlingen, Leben und Wirken). Nach ihrer Rückkehr konnte der Waldorfkindergarten 1955 seine Tore wieder öffnen. Die finanzielle Grundlage wurde durch Kitty Wenckebach, eine großherzige und vermögende, in Wien lebende Holländerin, bereitgestellt (siehe Geschenke aus warmer Hand – Erinnerungen an Kitty Wenckebach). Wenckebach übernahm die Arbeit im Schulverein mit dem Ziel einer Schulgründung und wurde eine tragende und anregende Persönlichkeit für die ganze Gründungszeit, stets großzügig, wenn finanzielle Hilfe gebraucht wurde. Nora Zimmermann kam dazu, die sich mit 49 Jahren noch einmal auf die Schulbank setzte, die Lehrerseminare in Dornach und Stuttgart besuchte und danach die Pädagogische Akademie in Wien absolvierte, um als Direktorin die zukünftige Schule vor den Schulbehörden vertreten zu können (siehe Aus dem Leben von Eleonora Zimmermann). Elisabeth übernahm den „Außendienst“ für die zu gründende Schule. Das bedeutete, dass sie sich ganz dem Aufbau und der Pflege der Kontakte zu den zuständigen Behörden widmete. Damit hatten sich drei starke Persönlichkeiten (Gergely, Wenckebach, Zimmermann), die „Rudolfinen“, in einem gemeinsamen Ziel gefunden: eine konkrete Schule aufzubauen, in welcher der ganze Mensch gebildet werden sollte. Eine „Erziehung zur Freiheit und zur Verbundenheit“ war das Ziel, im Sinne der Worte von Pestalozzi: „Der Segen der Welt ist gebildete Menschlichkeit.“ Der Name „Rudolfinen“ wurde ihnen scherzhaft von einem Juristen namens Seeger beim Stadtschulrat, quasi als Ehrenname verliehen. Es gab ja die „Ursulinen“ und die „Konfessionellen“ und so, fand Seeger, hätten die drei Vertreterinnen des Rudolf-Steiner-Schulvereins den Namen „Rudolfinen“ verdient … Nach dem keimhaften Beginn mit häuslichem Unterricht 1963, der durch die Initiative von Agnes und Tobias Kühne ermöglicht wurde, konnte 1966 die erste österreichische Waldorfschule nach dem Krieg mit vier Klassen in einem öffentlichen Schulhaus in Wien-Meidling beginnen. Die Kinderzahl wuchs rasch und nach zwei Jahren endete das Gastrecht in der öffentlichen Schule. Um diese Zeit wurde auch Elisabeths Ehe geschieden. Im Juli 1968 standen dann die „Rudolfinen“ im Zuge einer äußerst dramatisch verlaufenden Suche nach einem Schulhaus, gemeinsam mit der damaligen Vizebürgermeisterin ­Gertrude Fröhlich-Sandner, vor dem schönen, doch sehr vernachlässigten Gebäude des Maurer Schlössls. Trotzdem fiel spontan die Entscheidung: „Das wird unser Schulhaus.“ Aus einem Legat von Otto Infeld waren 500.000 Schilling vorhanden – außerdem der unerschütterliche Wille, innerhalb eines Jahres vor allem durch Eigenleistung das Unmög-

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Programmhinweise

liche möglich zu machen und im Herbst 1969 mit sieben Klassen in das eigene Schulhaus einzuziehen. Und tatsächlich war das Wunder unter schier übermenschlichem Einsatz von vielen Hilfswilligen vollbracht: Im Herbst 1969 gab es eine freudig-festliche Eröffnung in ­einem überfüllten Festsaal. Als „Nikologeschenk“ bekam Elisabeth die Nachricht, dass der Altstadterhaltungsfonds als Anerkennung für die großartige Revitalisierung eine Million Schilling zur Verfügung stellte. Der Weg zur Anerkennung einer Schule, in der nach eigenem Lehrplan unterrichtet wird, war lang und mühevoll. Er musste erst „gerodet“ und gangbar gemacht werden, gegen viele Widerstände, viel Unverständnis und Zweifel. Es war schwere Pionierarbeit. Elisabeth Gergely sah ihre vordringliche Aufgabe darin, eine Vertrauensbasis für die weiteren Anerkennungsschritte mit den jeweiligen Partnern im Stadtschulrat und Unterrichtsministerium herzustellen. Durch ihr konsequentes, klares Auftreten, in Verbindung mit ihrer respektvollen Haltung und ihrem Verständnis für Menschen, nicht zu vergessen ihr „Wiener Charme“, gelang es ihr, die zuständigen Behörden zu überzeugen und manche Sympathien für die Schulbewegung zu gewinnen. Sehr positiv gestaltete sich die Kommunikation mit dem damaligen Landesschulinspektor Karl Sretenovic, der sich durch Hospitationen und eingehende Gespräche ein konkretes Bild von der Schule verschaffen konnte. Seine anerkennenden Berichte halfen weiter zur Erlangung des Öffentlichkeitsrechtes, zunächst nur jährlich verliehen, nach acht Klassenstufen dann auf Dauer. Somit wurde das Öffentlichkeitsrecht erstmals einer Pflichtschule mit eigenem Lehrplan zugesprochen. Andererseits pflegte Elisabeth Gergely intensive Kontakte mit Dornach und besonders mit dem Bund der Waldorfschulen in Stuttgart, der auch die erste Adresse war, wenn neue Lehrer gebraucht wurden. Einladungen von Gastlehrern nahm sie zum Anlass, um persönliche Verbindungen aufzubauen, aus denen sich langjährige freundschaftliche Beziehungen entwickelten. Ihre Weltoffenheit und ihr Interesse für aktuelle Zeitfragen führten dazu, dass sie sich auch in gesellschaftlichen Bereichen außerhalb des Schulwesens engagierte. Die Begegnung mit Wilhelm Ernst Barkhoff, dem Begründer der gemeinnützigen Treuhandstelle in Bochum und der daraus hervorgehenden GLS Gemeinschaftsbank, inspirierte sie, gemeinsam mit Margaret Hacker erste Schritte für ein anthroposophisch orientiertes Bankwesen in Österreich zu setzen. So entstand Hermes-Österreich, das im Begriff steht, zu einer eigenständigen Bank zu werden. Im Hinblick auf die bevorstehende Schulraumerweiterung der Maurer Schule, den großen Festsaal und den Raumbedarf für die Oberstufe betreffend, wurde sie durch die Begegnung mit Wilhelm Ernst Barkhoff zu neuen Wegen für die Baufinanzierung ermutigt. Dessen schöpferische Impulse wurden von der Elternschaft und von Menschen im Umfeld der Schule aufgegriffen und waren somit der zündende Funke für eine Bürgengemeinschaft und das Gemeinschaftssparbuch, sodass mit diesem „Leihgeld“ der Schulgemeinschaft der Bau ohne Inanspruchnahme eines teuren Bankkredites finanziert werden konnte.

Die Dirigentin Elisabeth Gergely

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Über ihre Tätigkeit in der Schulverwaltung der Maurer Schule hinaus war sie führend an der Weiterentwicklung der österreichischen Waldorfschulbewegung beteiligt. Erst mehr als 10 Jahre nach der ersten Schulgründung in Wien wurde 1977 die Waldorfschule in Linz eröffnet. 1979 folgten Klagenfurt, kurz danach Salzburg und Graz; auch in anderen Bundesländern kam es zur Elisabeth Gergely bei einer Grundsteinlegung Bildung von Gründungsinitiativen. Im Vorausblick auf die Ausweitung der Schulbewegung auf ganz Österreich entstand das Bedürfnis nach einer alle Schulen umfassenden Vereinigung. Während der dreijährigen Vorbereitungszeit für den geplanten Zusammenschluss war Elisabeth wesentlich am Entwurf des ideellen Bildes beteiligt. Im Herbst 1981 wurde die „Österreichischen Vereinigung freier Bildungsstätten auf anthroposophischer Grundlage“ ins Leben gerufen, in der Elisabeth zusammen mit Elisabeth Erdmenger, Raoul Kneucker, Amadeo Piantino, Dr. Gerlind Pillwein und Tobias Richter im Vorstand tätig war. Neben der Planungs-, Organisations- und Rechtshilfe seitens des Vorstandes fand in regelmäßigen Mitarbeiterzusammenkünften ein Gedanken- und Erfahrungsaustausch über alle gemeinschaftlich interessanten Fragen statt – wobei die Mitarbeiter aus den Kollegien und den Schulvereinen kamen. Außerdem veranstaltete die Vereinigung Seminare zu aktuellen pädagogischen Fragestellungen, um den Herausforderungen an das Schulwesen mit soliden Kenntnissen und Urteilsgrundlagen begegnen zu können. So wurde von der Österreichischen Vereinigung freier Bildungsstätten eine Buchreihe initiiert unter dem Titel: „Waldorfpädagogik – Beiträge zur Bildungserneuerung“. In Elisabeth erwachte ihr seit dem Studium bestehendes Anliegen, naturwissenschaftliche Erkenntnisse in Verbindung zur Anthroposophie zu bringen. Daraus entwickelte sie die Idee der Dialogveranstaltungen zu aktuellen Themen und neuen Erkenntnissen aus den Bereichen Naturwissenschaften, Bildung, Religion, Philosophie. Die Vereinigung trat offiziell als Veranstalterin auf, alles Übrige war alleine Elisabeths Werk. Sie erforschte „Was gibt es Neues in der Welt?“, arbeitete die Themen aus, knüpfte die Kontakte zu interessanten Dialogpartnern, pflegte die Kommunikation, sprach Einladungen aus, entwarf das Programm und trieb Sponsoren auf. Nach langer Tätigkeit in der Schulverwaltung und im Vorstand des Schulvereins legte sie bei der Generalversammlung im Mai 1992 ihr Mandat zurück. Das Schuljahr 1993/94 war das letzte, in dem Elisabeth aktiv in der Verwaltung der Maurer Schule mitarbeitete.

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Programmhinweise

Im Vorstand der Vereinigung freier Bildungsstätten war sie darüber hinaus bis 2000 tätig. Was nicht bedeutete, dass sie jemals nicht aktiv war. Auch weiterhin begleitete sie das Schulgeschehen und die Entwicklung der Waldorfschulbewegung mit großer Anteilnahme. Die von Elisabeth initiierten „Dialoge“ hatten gezeigt, wie fruchtbar und notwendig die Begegnung mit Vertretern aus den unterschiedlichsten Wirtschafts-, Wissenschafts-, Sozial- und Bildungsbereichen und Vertretern des durch Anthroposophie angeregten Kulturerneuerungsimpulses im weitesten Sinne ist. Elisabeth Gergely 2000 Dieser Impuls wurde 2001 von den Gründern des Zentrums für Kultur und Pädagogik aufgegriffen, welche ein Waldorfpäda­ gogikstudium ins Leben riefen unter dem Motto: Erziehung und Bildung im Dialog mit Wissenschaft, Wirtschaft, Kunst und Religion. Dieser Lehrgang wollte auch den Dialog mit den staatlichen Bildungseinrichtungen aufnehmen und fand so zunächst am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Wien statt. Heute wird er als Masterstudium an der Donau-Universität Krems in Kooperation mit der Alanus Hochschule durchgeführt. Es ist kein Wunder, dass Elisabeth sich im Vorstand des Zentrums wiederfand und bis ins Jahr 2010 an dessen weiterer Entwicklung beratend und gestaltend tätig war. Elisabeths weiterer Lebensweg führte sie bis nach Ägypten, wo sie sich bei ihren Besuchen in Sekem bald „zu Hause“ fühlte und wo sie auch an ihrem Lebensabend in warmer, von Spiritualität erfüllter Atmosphäre Kraft schöpfen konnte. Den Begründer von Sekem, Ibrahim Abouleish, hatte sie 1994 bei einer Religionstagung in Dornach kennengelernt, als sie sein Seminar über den Islam besuchte. Spontan ersuchte sie ihn damals um einen Vortrag in der Maurer Schule und er sagte ebenso spontan zu. Diese Begegnung führte zu einer tiefen Freundschaft zwischen den beiden Menschen, die ein gemeinsames hohes Ziel verbindet – ihr Einsatz für Menschlichkeit und Frieden. Im Hinblick darauf widmete Elisabeth ihre letzte Dialogveranstaltung den drei großen Weltreligionen – Judentum, Christentum und Islam – mit Ibrahim Abouleish als Vortragendem und Dialogpartner für den Islam. Diese Veranstaltung in der Diplomatischen Akademie in Wien, mit hervorragenden künstlerischen Beiträgen zu den drei Weltreligionen, organisierte sie mit dem Zentrum als Trägerverein. Aus Anlass des Wienbesuches von Abouleish und aus Interesse an den von ihm in Sekem realisierten bahnbrechenden Ideen für neue, soziale Formen der Wirtschaftsgestaltung wurde von der Industriellenvereinigung in ihren Räumen ein zusätzlicher Abend zu dieser Thematik veranstaltet. In jeder Etappe ihres Weges fand sich Elisabeth in Schicksalsgemeinschaften mit Menschen verbunden, die einander stärkten, ergänzten und mit ihren individuellen Fähigkeiten zur Realisierung eines gemeinsamen Zieles beitrugen. In der Verwirklichung ihrer Vision von

Die Dirigentin Elisabeth Gergely

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Elisabeth Gergely, Konstanze und Ibrahim Abouleish 2009

„Erziehung zur Freiheit – Erziehung zum Verbundensein“ wurde sie selbst zur Meisterin in der Kunst, Harmonie in das Spannungsfeld der Polarität von Individualität und Gemeinschaft zu bringen – im Sinne des geheimnisvollen Wortes von Novalis: „Im Ich, im Freiheitspunkt, sind wir alle in der Tat identisch.“ Am 27. Februar 2010 starb Elisabeth Gergely in Sekem. Bei ihrer Bestattung am 12. März in Wien wurde eine Grußbotschaft von Dr. Ibrahim Abouleish übermittelt: „Die Sekem-Stiftung hat beschlossen, an der Heliopolis Universität eine Abteilung für Ost-West-Beziehungen aufzubauen, die mit dem Namen Elisabeth Gergely benannt wird. So soll ihr Impuls des Ost-West-Dialogs, der ihr sehr am Herzen lag, auch in Zukunft mit ihrem Namen verbunden sein. Studierenden aus dem Westen soll die Möglichkeit geboten werden, die Kultur des Ostens kennenzulernen und ebenso sollen Studierende aus dem Osten die Kultur des Westens erfahren können. In diesem Sinne zitierte Elisabeth oft den Satz von Goethe: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein, sie muss zur Anerkennung führen: dulden heißt beleidigen.“ Bildnachweis: Archiv Stefan Gergely

D i e Au s b r e i t u n g d e r Wa l d o r f s c h u l e n , d e r a n t h r o p o s o p h i s c h e n ­H e i l pä da g o g i k u n d d e r Wa l d o r fk i n d e r g ä r t e n i n Ö s t e r r e i c h Irene Bulasikis1

Karl-Schubert-Schule – Bildungsstätte für Seelenpflege-bedürftige Kinder und Jugendliche in Wien Die Karl-Schubert-Schule ist eine heilpädagogische Bildungsstätte, die sich am anthroposophischen Menschenbild und der Pädagogik Rudolf Steiners orientiert. Sie bietet Kindern und Jugendlichen mit besonderen physischen und psychischen Schwierigkeiten Entwicklungshilfe. Die Pflichtschulzeit umfasst die Klassen 1–9. Die Werkstufenzeit in den Klassen 10–12 bereitet eine Eingliederung in das Berufs- und Erwachsenenleben vor. Die Kinder und Jugendlichen werden in Klassengemeinschaften entsprechend ihrem Alter unterrichtet, wobei besonders in den Klassen 1–9 Kinder mit verschiedenartigsten Behinderungen miteinander und voneinander lernen. In den Klassen 10–12, den Werkstufenklassen, trennt man meist Therapiegruppen und Werkgruppen, wobei aber in dieser Zeit dann mancher Unterricht auch klassenübergreifend durchgeführt wird. LehrerInnen, HeilpädagogInnen und TherapeutInnen erarbeiten mithilfe des Schularztes individuelle Bildungskonzepte für jedes Kind. Den Anstoß für eine Sonderschule mit Waldorfpädagogik hatte die Familie Kühne gegeben. Eines ihrer Kinder hatte „sonderpädagogischen Förderbedarf“. Da das Ehepaar Kühne schon maßgeblich an der Gründung der ersten Wiener Rudolf-Steiner-Schule mitgewirkt hatte, dachte es, dass es doch möglich sein müsste, dieser Schule eine Sonderklasse anzuschließen – etwa so, wie Karl Schubert sie in der ersten Stuttgarter Waldorfschule geführt hatte. Sie stellten in ihrem Haus Räume zur Verfügung. 1971 wurde der Verein Karl-Schubert-Schule gegründet. Im Vorstand arbeiteten einige Menschen mit, die schon an der Gründung der Rudolf-Steiner-Schule fünf Jahre zuvor beteiligt gewesen waren. Im Oktober 1972 begann die Karl-Schubert-Schule. Solch eine Schule gab es bis dahin in Österreich noch nicht, es war ein völlig neuer unkonventioneller Schulversuch und dementsprechend lange dauerte die offizielle Anerkennung: Status ab 1973 „nicht untersagt“ Ab 1975 Unterstützung für Schülertransport und Schulgeld vom Sozialamt

Die Ausbreitung der Waldorfschulen, der ­anthroposophischen ­Heilpädagogik und der Waldorfkindergärten

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Karl-Schubert-Schule in Wien

Ab 1983 Öffentlichkeitsrecht und zur „Schulpflichterfüllung geeignet“ anerkannt Bis 1989 musste jährlich darum angesucht werden 1981 – nach 10 Jahren in einer Kindergartengruppe und acht Klassen 54 Kinder und etwa 32 MitarbeiterInnen 1991 – nach 20 Jahren 100 Kinder und etwa 55 MitarbeiterInnen (zwei Kindergartengruppen und 12 Klassen; Ende der 90er-Jahre gab es durch die stetig wachsende Zahl von Integrationsklassen in Wiener Schulen einen Rückgang der Schülerzahlen 2009 sind es 90 Kinder und 54 MitarbeiterInnen in einer Kindergartengruppe und 13 Klassen (eine integriert geführte Kindergartengruppe musste 2004 aus Kostengründen aufgegeben werden) Seit 1977 wird die Schule ganztägig geführt; in der schuleigenen Küche wird für gesundes Essen und bei Bedarf für Diätkost gesorgt

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Programmhinweise

Im Laufe der Jahre sind aus der Karl-Schubert-Schule und dem Kreis ihrer MitarbeiterInnen mehrere sozialtherapeutische Einrichtungen hervorgegangen: 1981 Karl Schubert Haus Mariensee, Gesellschaft für Sozialtherapie und Lebensgemeinschaft 1986 Sozialtherapeutische Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Ab 1987 mit Wohngruppen und Werkstätten, derzeit an vier Standorten in Wien und Niederösterreich 1992 der Himmelschlüsselhof bei Texing 1997 die Dorfgemeinschaft Breitenfurt, derzeit mit 8 Wohngruppen und 9 Werkstätten Um dieselbe Zeit entstand das „Rudolf-Steiner-Seminar für Heilpädagogik und Sozialtherapie“, aus dem mittlerweile schon viele SozialtherapeutInnen hervorgegangen sind. www.karl-schubert-schule.at

Die Entwicklung der Waldorfschule Linz Die Linzer Waldorfschule war nach der Rudolf-Steiner-Schule Wien-Mauer und der Karl Schubert-Schule Wien die nächste Waldorfgründung in Österreich. Blickt man von der heutigen Schule im großen Haus, Baumbachstraße 11, mit ihren zwölf Klassen und der Maturavorbereitungsklasse mit dem nun ausgebauten dritten Stockwerk und mit einem weitläufigen Gartengrundstück zurück auf den Beginn, gelangt man in eine Wohnung eines kleinen Hauses in Linz-Urfahr. Hier fand 1977 die Gründung der Schule statt. Für 24 Kinder war der 12. September 1977 der erste Schultag. Am 4. Juli 1978 erhielt die Schule die Genehmigung für das eingereichte Organisations­ statut mit dem Lehrplan der Freien Waldorfschule Linz durch das Unterrichtsministerium und den Landesschulrat. Trotzdem veranlasste die Schulbehörde die Überprüfung der Schüler nach dem Lehrplan der öffentlichen Schule. Von zwölf Lehrern, Direktoren und Inspektoren und in Anwesenheit der Waldorflehrer wurden in sieben Fächern die Externistenprüfungen abgenommen. Die Gründungseltern nahmen gelassen ein Waldorf- und ein Notenzeugnis entgegen. Für das nächste Schuljahr wurde das Teistlergut umgebaut und renoviert. Das zweite Schuljahr konnte dort absolviert werden. Im Laufe des Jahres begann die Schulbauplanung am Gelände des Teistlergutes. Im dritten Jahr war die Schülerzahl in den nun vier Klassen gegen 60 angestiegen. An den Baufragen wurde weitergearbeitet. Doch im Frühjahr 1980 zog die Besitzerin des Teistlergutes ihre Zustimmung zurück. Nach einem dritten und vierten Schuljahr in diesem Hause konnte letztlich nur der Kindergarten bleiben. Für die Schule begann eine langwierige Suche nach der nächsten Bleibe. Dutzende Projekte wurden geprüft, bis die ehemalige Stifterschule in Linz auserkoren wurde.

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Waldorfschule Linz

Auch die Behördenarbeit ging weiter. Den bestehenden vier Klassen wurde die Schulpflichterfüllung ausgesprochen, womit die Prüfungen ab diesem Zeitpunkt entfielen. Die oberste Klasse musste aber noch bis zur achten Schulstufe jährlich die Genehmigung für alle nachfolgenden Klassen erwerben. Die erste 12. Klasse an der Linzer Waldorfschule gab es im Schuljahr 1987/1988; sie umfasste nur sieben Schüler. Für die Entwicklung der Oberstufe wurde die Frage wichtig: Wie kann es nach der 12. Klasse für unsere Absolventen weitergehen? Es wurden Wege gesucht, um eine 13. Klasse einzurichten, in der entweder ein Maturalehrgang oder eine Lehrlingsausbildung absolviert werden könnten. Im Schuljahr 1994/1995 fand erstmals ein einjähriger Maturalehrgang statt, der von elf Schülern besucht und am Ende mit der Maturaprüfung (in musischer Richtung) abgeschlossen wurde. Die unterrichtenden Lehrer in diesem bis heute bestehenden Maturalehrgang sind Lehrer an verschiedenen Linzer Allgemeinbildenden Höheren Schulen. Jahr für Jahr besucht der größte Teil der ehemaligen Zwölftklässler diesen Lehrgang. Im Schuljahr 1997/98 gab es an der Linzer Schule erstmalig für einen Schüler die Möglichkeit, nach einer einjährigen Vorbereitungszeit (im Anschluss an die 12. Klasse) die Tischlerlehre durch die Gesellenprüfung abzuschließen. Seither besteht jedes Jahr diese Möglich-

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Programmhinweise

keit; viele Schüler sind bisher diesen Weg gegangen, manche erst in einem 14. Jahr, nach Abschluss des Maturalehrgangs. Durch entsprechende Vereinbarungen mit der Wirtschaftskammer und der Arbeiterkammer wurden einjährige – voneinander unabhängige – Lehrgänge eingerichtet, die zur Ablegung der Gesellenprüfungen in den Bereichen „Damenschneiderei“, „Schlosser“ und „Landwirtschaft und Gartenbau“ führen. Oberstufenschüler, die planen, die Lehre in ­einem dieser Fachbereiche zu machen (für das Fach „Schlosser“ dauert die Lehre nach der 12.  Klasse etwa eineinhalb Jahre), müssen bereits in den Oberstufenklassen verstärkt im gewählten Fach arbeiten; auch müssen sie über dieses Fach in der 12. Klasse eine Abschluss­ arbeit schreiben. Diese Möglichkeit der Lehrausbildung wird – vergleichbar dem Maturalehrgang – an der Schule allseits gewollt, anerkannt und geschätzt. In den 90er-Jahren musste von den Schülern am Ende der 9. Klasse noch eine Hauptschulprüfung abgelegt werden. Die Schulbehörde hob dann diese Regelung auf; jeder Neuntklässler bekam am Ende der neunten Klasse ohne Prüfung durch externe Lehrer das Hauptschulabschlusszeugnis. Seit einigen Jahren ist der Hauptschulabschluss bereits nach der achten Klasse erreicht. www.waldorfschule-linz.at

Waldorfschule Klagenfurt Das Gründungsjahr der Waldorfschule Klagenfurt ist 1979. Die Grundimpulse war: Erziehung zur Freiheit, der Freiheit des Geistes einen Weg zu bahnen, die Kinder zu unterstützen, damit sie zu selbstbewussten, autarken, (gesellschafts-)kritischen Persönlichkeiten heranwachsen. Dieses sind die Ideale der Gründergeneration mit der Vorstellung, die Welt verändern zu können. Mit einer Klasse und 10 Schülern begann das riskante, aber hoffnungsvolle Unternehmen. Schon im zweiten Jahr gab es vier Klassen und 35 Schüler, und im Laufe der Jahre wuchsen die Schülerzahl, die Klassenzahl und auch das Gebäude. 1983 übersiedelte die kleine Schule mit sechs Klassen an den jetzigen Standort in der Wilsonstraße, in der Nähe der Universität und des Wörthersees. Schon 1987 war das Schulhaus zu klein, der erste Zubau entstand, in dem sich heute die Unterstufe befindet. 1992 war auch dieser zu klein und der zweite Zubau wurde errichtet, in dem sich heute die Mittel­stufe befindet. 2006 erfolgte dann ein Meilenstein: Der Waldorfschulverein erwarb die Liegenschaft. In den ersten Jahren galt es, jährlich um das Öffentlichkeitsrecht zu kämpfen. 1993/94 erhielt die Schule dann endlich auf Dauer das Öffentlichkeitsrecht für die Schulstufen 1 bis 12. Bis zum Jahr 1995 mussten die SchülerInnen der neunten Klasse noch eine externe Haupt-

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Waldorfschule Klagenfurt

schulprüfung in allen Fächern ablegen. Die Befreiung davon war eine große Entlastung. 2003 begann wieder eine neue Etappe: das erste Maturajahr. Auch in den Strukturen der Schule änderte sich so manches. Schon sehr früh, als dies gesellschaftlich noch gar kein Thema war, lud man ExpertInnen ein, um den Blick auf die Sozialgestalt der Schule zu lenken. Bereits 1986 waren Vertreter des Niederländischen Pädago­ gischen Institutes in Klagenfurt. Biografiearbeit und Auseinandersetzungen mit gruppen­ dynamischen Prozessen folgten. 10 Jahre später, wiederum begleitet von ExpertInnen, führte dies u. a. zu einer neuen Form der Schulführung: dem „Triorat“. Das Triorat besteht aus drei Personen (zwei PädagogInnen, eine Person aus Verwaltung/Vorstand) und wird jährlich von den MitarbeiterInnen gewählt. Eine zweijährige Fortbildung, an der das gesamte Kollegium teilnahm, führte zur intensiven Beschäftigung mit sozialem Lernen und schlussendlich zum Unterrichtsfach „Soziales Lernen“, das inzwischen ein unerlässlicher Bestandteil unseres Lehrauftrages ist. Unsere Schulbiografie charakterisiert weiters das Bestreben, immer in Bewegung zu bleiben und über den eigenen Tellerrand zu schauen: Eine innere Beweglichkeit durch Hereinnahme von neuen pädagogischen Impulsen; die äußere Beweglichkeit zeigt sich in Form des bewegten Klassenzimmers, das 2005 in der Unterstufe eingeführt wurde. In der Oberstufe zeigen sich drei Schwerpunke: Zusammenarbeit mit der Arbeitswelt, Theater, internationale und interkulturelle Erfahrungen.

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Die Zusammenarbeit mit ProjektpartnerInnen der Arbeitswelt hat sich in Form vieler Praktika über die Jahre intensiviert. Heute verbringen die OberstufenschülerInnen insgesamt 102 Tage ihrer Schulzeit in Praktika im In- und Ausland, über 100 Betriebe sind Partner geworden, die SchülerInnen der 11. Klasse verbringen vier Tage pro Woche in der Schule und einen Tag pro Woche an einem Arbeitsplatz. Was wir als Waldorfschule damit beweisen, ist, dass die kritisch beäugte Wirtschaftstauglichkeit als ein Leitziel der Schulbildung nicht notwendigerweise im Widerspruch zur Menschenbildung stehen muss. Die Praktika vermitteln den SchülerInnen tätige Einblicke in Lebens- und Arbeitszusammenhänge in einer Vielzahl von Kontexten und stellen die Frage: Wer bin ich? Was will ich? Was kann ich? Wesentlich dabei ist, bei den Jugendlichen die Erkenntnis zu wecken, dass sowohl die Ich-Findung wie auch die Berufsfindung keine einmaligen Angelegenheit, sondern Prozesse sind, die im Wechsel von Selbstwahrnehmung und Berufserkundung pendeln. Internationale und interkulturelle Erfahrungen zu sammeln, ist uns wichtig! Vor 20 Jahren ging der erste Schüler auf Schüleraustausch, seitdem sind viele gefolgt. Seit dem Jahr 1999 nehmen wir an den EU-Bildungsprogrammen teil. Viele Klassenaustausche ermöglichten den SchülerInnen, über den eigenen Tellerrand zu schauen und ihre Fremdsprachenkenntnisse zu vertiefen. Im Rahmen des EU-Programms Leonardo da Vinci können die SchülerInnen ihr Sozialpraktikum mit finanzieller Unterstützung der EU in ganz Europa absolvieren. Aber nicht nur die SchülerInnen arbeiten grenzüberschreitend, sondern auch die Lehrer­ Innen. Seit mehr als 10 Jahren finden die Alpen-Adria-Konferenzen zwischen den Waldorfschulen Norditaliens, Sloweniens und Kärntens statt. Aus dieser Zusammenarbeit sind viele gemeinsame SchülerInnenprojekte entstanden. 2006 wurde die Waldorfschule Klagenfurt aus 3.734 Schulen Europas von EuroNews als die Schule Europas ausgewählt, die sich am intensivsten mit Europa beschäftigt – eine hohe Auszeichnung! Der Film begann mit den Worten: „Gäbe es Meisterschaften für EU-Projekte an Schulen, dann wäre die Waldorfschule Klagenfurt so etwas wie ein Europameister.“ Im Schuljahr 2009/2010 feierten wir unser 30-jähriges Jubiläum. Das Motto des Jubiläumsjahrs lautet: Rhythmus. Was bedeutet Rhythmus für unser Leben? Befinden wir uns im Rhythmus des Lebens? Passt unser Schulrhythmus noch in die heutige Zeit? Wir sind also wieder in Bewegung und schauen in den Spiegel. www.waldorfschule-klagenfurt.at

Chronik der Freien Waldorfschule Graz Die Waldorfschulbewegung in Graz hat über die Architektur begonnen. Es war ein Bau­ impuls, der zu einem Schulbauseminar der Technischen Hochschule Graz in Järna/Schwe-

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Freie Waldorfschule Graz

den geführt hat. Kurz darauf, 1970, wurde der Waldorfschulverein Steiermark gegründet. Viele Vorträge wurden veranstaltet, Mitglieder gesammelt, Informationsmaterial verteilt und mögliche Orte für eine Waldorfschule gesucht. 1977 wurde der erste Waldorfkindergartens eröffnet. 1979/80: Diskussion bezüglich einer Schulgründung, da die ersten Kindergartenkinder schulreif werden. Im September 1980 beginnt die Freie Waldorfschule Graz mit einer ersten Klasse im ehemaligen Gasthaus „Zum grünen Baum“. Um die ehemalige Gasthausküche mit dem großen, gemütlichen Herd gruppieren sich die Klassen, weiters stehen ein einfacher „Festsaal“ und ein Raum für einen liebevoll eingerichteten Kindergarten zur Verfügung. Jahr für Jahr muss ein neuer Klassenraum gebaut werden, um die neuen Klassen, die immer größer werden, unterzubringen. Niederländische Bauordensgruppen leisten gemeinsam mit den Eltern die umfangreichen Bauarbeiten. Da die Möglichkeiten, dort eine ganze Schule unterzubringen, begrenzt sind, beginnt eine Odyssee durch Graz und Umgebung, um mögliche Objekte zu finden. 1985 erhält der Schulverein vom Land Steiermark das „Messendorfer Schlössl“ mit etwa zwei Hektar Grund auf 50 Jahre zur Pacht. Ein guter Platz, groß genug, relativ ruhig, gut

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erreichbar. Im Sommer 1985: Teilsanierung des Schlössls. Vier Klassen werden in einer ehemaligen Baubaracke untergebracht. Im September 1986: Einzug in Messendorf mit sieben Klassen. 1986/87 bekommt die Waldorfschule Graz das Öffentlichkeitsrecht. Ab diesem Zeitpunkt erfüllen alle SchülerInnen die Schulpflicht und brauchen am Jahresende keine Prüfungen mehr abzulegen. 1988 beginnt die erste Etappe des Neubaus. Die farbliche Gestaltung erfolgt nach einem Konzept von Fritz Fuchs aus Järna, Schweden. 1990: Wir haben eine Schulküche! 1991/92: Abschluss der ersten 12. Klasse. Der Neubau wächst weiter. 1997: Grundstein­ legung für den Turnsaalbau, 1999 Eröffnung des Turnsaales. 2001 erhält der Waldorfschulverein Steiermark den „Josef-Krainer-Heimatpreis“ in Würdigung der Leistungen im Bereich „Innovative Schülerausbildung“. 2005 Gründung von „Styrrion“, eine Regionalgeld-Gutscheininitiative der SchülerInnen zur Belebung der regionalen Wirtschaft. In Graz gibt es fünf Waldorfkindergartengruppen und einen Integrationskindergarten neben der Karl-Schubert-Schule. Was noch fehlt: der Gesamtausbau. Gebraucht werden noch zwei große Klassenzimmer, einige Nebenräume und ein ordentlicher Festsaal. www.waldorf-graz.at

Chronik der Rudolf-Steiner-Schule Salzburg 1975 entstand die Initiative zur Gründung eines Waldorfkindergartens, ebenso eine Spielgruppe mit fünf Kindern. 1977 wurde ein Waldorfkindergarten gegründet. Als Rechts­träger wurde der „Verein zur Förderung der Waldorfpädagogik“ ins Leben gerufen. 1979 traf sich erstmals ein Kreis von Interessenten für eine Schulgründung. Damals begann für fünf Kinder in einem Kellerraum des Waldorfkindergartens das „Kellerschülchen“, das offiziell ­einen „häuslichen Unterricht“ darstellte. Im September 1980 wurde die Rudolf-Steiner-Schule Salzburg in einem Einfamilienhaus eröffnet. Der Unterricht begann mit 29 Kindern in drei Schulstufen.   1981 erhielt die Schule durch das Bundesministerium für Unterricht und Kunst das Öffent­lichkeitsrecht und die Eignung zur Erfüllung der Schulpflicht, sodass zusätzliche externe Prüfungen entfielen. Schon im nächsten Schuljahr übersiedelte die Schule in ein wesentlich größeres Zweifamilienhaus unweit des jetzigen Schulbaus. Neben den vier Klassen konnte dort auch noch eine Kindergartengruppe untergebracht werden. Bis 1984 blieb die Schule an diesem Ort. 1983 mussten die ersten zwei Klassen in eine Volksschule ausgelagert werden. Die intensive Suche nach einem neuen Schulgebäude bzw. nach einem Baugrundstück begann.

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Rudolf-Steiner-Schule Salzburg

Dabei wurde erstmals bei der Stadtgemeinde bezüglich des aktuellen Schulgrundstücks angefragt; die Gemeinde reagierte ablehnend. 1983 wurde der Trägerverein in „Waldorfschulverein Salzburg. Verein zur Förderung der Pädagogik Rudolf Steiners“ umbenannt. 1984/85 übersiedelte die Schule in das ehemalige Bayerhamergut. 1986/87 begannen die erste neunte Klasse und damit der Aufbau der Oberstufe. Ein neu gebildeter Baukreis verstärkte die Vorarbeiten für einen Schulneubau. Ein Ansuchen an die Stadt bezüglich des aktuellen Grundstücks führte 1988 zum Erfolg. Die Bauplanung beginnt. 1990: Abschluss der ersten 12. Klasse. Der Schule wurde für alle zwölf Schulstufen das Öffentlichkeitsrecht auf Dauer verliehen. Nach einigen Inspektionen der Schulbehörde im Unterricht und bei Prüfungen erhielt die Schule die Genehmigung, den Schülern der 8. Schulstufe ein Hauptschulzeugnis auszustellen. 1991/92: Ein Erlass des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst befreite SchülerInnen von einem großen Teil der Zulassungsprüfungen zur Matura. Das erleichterte den Weg der Externistenmatura wesentlich. Die Schulbauplanung, die durch Änderungsvorschläge des Gestaltungsbeirates der Stadt Salzburg verzögert worden war, trat in die entscheidende Phase. Die Aufgabe der weiteren Planung wurde an den Architekten Jens Peters (Stuttgart) übertragen. Mit seinem überzeugenden Entwurf konnten Verhandlungen über die Baufinanzierung mit den zuständigen Politikern aufgenommen werden. Je ein Viertel der Baukosten wurden von Stadt, Land und Bund finanziert, sodass vom Waldorfschulverein noch ein Viertel an Eigenmitteln aufzubringen war.

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Programmhinweise

1992 konnte mit dem Bau begonnen werden, am 27. Februar 1993 fand das Fest der Grundsteinlegung statt. Die Bauarbeiten standen unter großem Zeitdruck. Zu Michaeli 1994 erfolgte die Einweihung des Schulneubaus. Mit einem Erlass des Bundesministeriums für wirtschaftliche Angelegenheiten vom Mai 1993 erhielten die Absolventen der Waldorfschulen die Berechtigung, alle Lehrberufe in einer um ein Jahr verkürzten Lehrzeit zu erlernen. 1995 sind die Verhandlungen mit dem Landesschulrat über die Einrichtung eines Maturalehrganges erfolgreich; für den Unterricht konnten Gymnasiallehrer gewonnen werden. 1997 wird der erste Maturalehrgang erfolgreich durchgeführt. Seit dem Jahr 2000 wird das Schulkonzept laufend weiterentwickelt. Ein neues Stundenplanmodell wird entwickelt, das auf der Ausweitung des Epochenunterrichts vor allem in der Oberstufe auf fast alle Fächer, einer gleichbleibenden rhythmischen Struktur des Tagesablaufs und der von Eltern und Schülern eingeforderten Fünf-Tage-Woche beruht. Außerdem wird an der Sozialgestalt der Schule laufend weitergearbeitet. www.waldorf-salzburg.info

Rudolf-Steiner-Schule Pötzleinsdorf Nachdem über viele Jahre ein großer Andrang in der ersten Klasse der Rudolf-SteinerSchule in Wien-Mauer herrschte, entschloss man sich 1979, eine zweite erste Klasse zu eröffnen. Sie sollte der Keim für eine neue Schule sein. Als dann im Herbst 1980 bereits zwei Klassen dieser neuen Schule existierten, war klar, dass für diese auch ein Schulgebäude gefunden werden musste. Vorerst konnte man in der Nähe der „Mutterschule“ in Mauer unterkommen. Es war ein altes Schulgebäude, in dem die junge Schule Jahr für Jahr einen Raum nach dem anderen eroberte. Das Raumangebot war jedoch begrenzt, vier Klassen waren die maximale Ausdehnungsmöglichkeit. Die Gebäudesuche begann. Es war eine lange Reise durch leerstehende, große, kleine, baufällige, verfallene, teure, laute, schöne, bereits vergebene Gebäude. Durch eine Zeitungsnotiz wurde bekannt, dass das Jugendgästehaus im Schloss Pötzleinsdorf kurz vor der Schließung stand, da eine Renovierung des alten Gebäudes teurer als ein Neubau war. So wurde auch Pötzleinsdorf besichtigt. Drei Lehrer des „Urkollegiums“ (viel mehr waren es damals nicht) und eine Mutter aus Mauer, die sich mit ihrem zweiten Kind dieser neuen Initiative angeschlossen hatte, fuhren nach Pötzleinsdorf, um das hoffentlich bald leerstehende Gebäude auf seine Tauglichkeit als Schule zu prüfen. Es war deutlich, dass der Umbau der Jugendherberge mit ihren Duschanlagen und kleinen Zimmern zu einer Schule mit großen Klassenräumen sehr aufwendig sein würde. Das noch größere Problem war aber der allgemein schlechte Zustand der Gebäude. Das umlie-

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Rudolf-Steiner-Schule Pötzleinsdorf

gende Gelände bezauberte aber: hohe, alte Bäume, von Hecken gesäumte Wege, lauschige Nischen. Das Gebäude schien viel zu groß für eine 12-klassige Schule. Aus allen Plänen, die geschmiedet wurden, sollte vorerst aber nichts werden, denn eine Anfrage bei der Gemeinde Wien ergab, dass sie das Schloss Pötzleinsdorf zu einem Museum umbauen wollte und es daher für uns als Schule nicht zur Verfügung stünde. Ein Jahr intensivster Suche nach einem geeigneten Objekt begann. Es führte durch diverse Magistratsabteilungen, Ministerien, Gebäudeverwaltungen, durch alle Bezirke Wiens, alte Schulen, Schlösser, Spitäler, Wohnhäuser. An die 60 Gebäude wurden besichtigt. Dann wurde bekannt, dass der Gemeinderat den Beschluss, Schloss Pötzleinsdorf in ein Feuerwehrmuseum umzugestalten, noch nicht gefasst hatte. Da war es nun Max Böhm, ein bekannter Volksschauspieler und Schülergroßvater, der uns durch seine Freundschaft mit dem damaligen Kulturstadtrat Helmut Zilk, in dessen Verwaltungsbereich das Schloss Pötzleinsdorf lag, das für die Verhandlungen nötige wohlwollende Gesprächsklima schuf. Im November 1981 fanden die ersten Kontaktgespräche statt und bereits im März 1982 konnte der Mietvertrag zwischen der Gemeinde Wien und dem Schulverein unterzeichnet werden. Die Gemeinde Wien überließ dem Schulverein das

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Programmhinweise

Schloss Pötzleinsdorf um einen Anerkennungszins, jedoch mit der Auflage, es zu renovieren und zu erhalten. 1982 begann die erste Gruppe im Kindergarten, 1983 übersiedelten vier Klassen aus Mauer nach Pötzleinsdorf. Von Anfang an war auch an diesem Standort die Nachfrage nach Schulplätzen groß. Die Größe der Gebäude und des Geländes bot ausreichend Platz für den notwendigen Ausbau. Es bedurfte jedoch großer Anstrengung und Opferbereitschaft der gesamten Schulgemeinde, die nötigen finanziellen Mittel für dieses Unternehmen aufzubringen. Dass das Gebäude unter Denkmalschutz stand, war hilfreich. Dadurch bot sich die Möglichkeit, Mittel aus dem Altstadterhaltungsfonds der Gemeinde Wien zu erhalten. In den bisherigen vier großen Bauphasen (erste: Adaptierung für 8 Klassen plus Festsaal, zweite: Erweiterung/Zubau und Renovierung der Fassade, dritte: Kindergartenausbau, vierte: Errichtung des Oberstufentraktes) wurden fünf Millionen Euro verbaut (die Eigenleistungen nicht einbezogen). Die Hälfte davon kam von der Gemeinde Wien (ein Viertel aus Mitteln des Unterrichtsministeriums, das verbleibende Viertel wurde durch Spenden und über Kredite von Hermes-Österreich finanziert). Ein weiterer Bauabschnitt steht noch bevor. Da der Festsaal sehr klein ist, es keinen Turnsaal gibt und ein Gebäude des SchlossEnsembles noch nicht renoviert wurde, soll dort ein Turnsaal mit möglicher Festsaalnutzung und einem Zubau für vier Unterrichtsräume entstehen. Die Rudolf-Steiner-Schule Pötzleinsdorf ist eine traditionelle Waldorfschule mit dem dazugehörigen Fächerangebot. 1987 begann der Aufbau der Oberstufe. Da jedoch die geeigneten LehrerInnen nicht gewonnen werden konnten, wurden die zwei Oberstufenklassen im Juni 1989 wieder geschlossen. Im September 1989 startete jedoch die Oberstufe von Neuem. 1995 wurde in einem 13. Schuljahr ein Vorbereitungslehrgang auf die Matura eingerichtet. Seither maturieren 95% der SchülerInnen erfolgreich im eigenen Haus. Derzeit finden 82 Kinder in vier Gruppen im Kindergarten Platz. In der Schule arbeiten 310 SchülerInnen in 13 Klassen, begleitet von 35 LehrerInnen. Im Hort sind 50 SchülerInnen in zwei Gruppen am Nachmittag betreut. www.waldorfschule-poetzleinsdorf.at

Aus der Geschichte der freien Waldorfschule Innsbruck 1978 veranstaltete die Anthroposophische Gesellschaft, Zweig Innsbruck, einen Vortrag über Waldorfpädagogik. Einige junge Leute standen auf und sagten: „Wir wollen eine Waldorfschule gründen!“ Das Schulsystem in Österreich war damals noch sehr autoritär organisiert, das Bedürfnis, vom hierarchischen Prinzip wegzukommen, daher groß. Eltern sollten am erzieherischen Prozess innerhalb der Schule beteiligt werden. „Erziehung zur Freiheit“, war die Parole.

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Freie Waldorfschule Innsbruck

Zwischen 1980 und 1983 wurden drei Waldorfkindergärten ins Leben gerufen. Vier Kinder brauchten dann 1985 eine Schule. Für sie wurde die so genannte „Vorbereitungsklasse“ gegründet, in der fünf Lehrer vier Schüler betreuten. 1986 sollte der reguläre Schulbetrieb mit drei Klassen beginnen. Es galt vor allem, Klassenlehrer dafür zu gewinnen. Als sehr schwierig entpuppte sich während der Vorbereitungszeit das Finden von finanziell erschwinglichen Räumlichkeiten für die Schule. Erst im allerletzten Moment wurde das Objekt der Firma Gösserbräu ausfindig gemacht. Die Zeit drängte, sodass noch vor Vertragsabschluss Mauern eingerissen und Wände lasiert wurden, um wenigstens einen großen Raum zu gewinnen. Mit nur einer Woche Verspätung konnte 1986 der Unterricht begonnen werden. Nach den ersten Jahren wurden die Räumlichkeiten für die wachsende Schule zu eng, die Miete war zu teuer. Es gelang, Räumlichkeiten in dem Schulgebäude in der Jahnstraße zu bekommen. 1989 wurden sechs Klassen dorthin, an unseren aktuellen Standort, übersiedelt. 1990 begann eine Oberstufeninitiative (OSI), 1992 startete die erste neunte Klasse in die Oberstufe. 1993 war die Schulpflichterfüllung für die neun Pflichtschuljahre erreicht, ebenso das Öffentlichkeitsrecht. 1995 erfolgte der Dachbodenausbau für die Oberstufe.

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Programmhinweise

1996 schloss die erste 12. Klasse die Schule ab. 1998 bekam die Schule das Öffentlichkeitsrecht auf Dauer. 2001 wird das „Bewegte Klassenzimmer“ in der 1. und 2. Klasse eingeführt. www.waldorf-innsbruck.at

Die Entwicklung der Paracelsus-Schule Salzburg Nach der Gründung der Rudolf-Steiner-Schule Salzburg trafen sich einige Waldorflehrer regelmäßig in einem pädagogischen Arbeitskreis, da in den ersten Jahren auch viele „Sorgenkinder“ in den Klassen betreut wurden. Der Bedarf nach einer heilpädagogischen Klasse war gegeben, es fanden sich schnell fünf Kinder. Im Nachbarhaus des damaligen Gebäudes der Rudolf-Steiner-Schule fand die kleine Klasse Unterschlupf. Auf Empfehlung des Bezirksschulinspektors wurden die Kinder zum „häuslichen Unterricht“ angemeldet und mussten am Ende des Schuljahres eine Prüfung ablegen. Schon im Herbst 1988 war der Wunsch der Eltern laut geworden, diese Kindergruppe in eine Schule einzubinden. Im Winter wurden Vereinsstatuten ausgearbeitet. Im Mai 1989 wurde der „Verein zur Förderung von Einrichtungen für Erziehungshilfe nach der Pädagogik und Heilpädagogik Rudolf Steiners, Salzburg“ gegründet. Diese Vereinsgründung ermöglichte das Ansuchen zur Schulgründung. In den Sommerferien kam der positive Bescheid. Der Bürgermeister stellte uns für die nächsten zwei Jahre zuerst zwei, dann drei Klassenräume in der Volksschule, Lehen 2, zur Verfügung. Die neugeborene Schule benannten wir nach dem Arzt Paracelsus, der ja einige Zeit in Salzburg gewirkt hatte. Im zweiten Jahr hielten wir Ausschau nach einem geeigneten Schulhaus, das wir in Nieder­alm fanden. Das Haus war in Privatbesitz gewesen und hatte Betriebe beherbergt. Zug um Zug wurden immer neue Räume ausgebaut. Die Betriebshalle wurde für zwei Klassen und einen Turnsaal adaptiert. Die Kinderzahl bewegte sich zwischen siebzehn und 30 Kindern. 1993 wurde ein Hort für sechs bis zehn Kinder eingerichtet. 1990 wurde der Schule vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur das Öffentlichkeitsrecht für die vorhandenen Klassen verliehen. Außerdem erhielt die Schule die Anerkennung als Einrichtung der schulischen Eingliederungshilfe gemäß § 12 Salzburger Behindertengesetz. Der Trägerverein wurde 1993 in „Verein Paracelsus-Schule Salzburg“ umbenannt. 2003 fragte Daniell Porsche an, ob er sein Praktikum in Musiktherapie bei uns machen könnte. Da er auch ausgebildeter Waldorflehrer war, übernahm er eine junge Kindergruppe. In dieser Zeit verband er sich innig mit dem heilpädagogischen Impuls. Er entschloss sich,

Die Ausbreitung der Waldorfschulen, der ­anthroposophischen ­Heilpädagogik und der Waldorfkindergärten

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Paracelsus-Schule Salzburg

die Gebäude für eine wachsende Schule bereitzustellen. Der „Schützenwirt“ in St. Jakob wurde als Objekt ausgewählt und in eineinhalb Jahren umgebaut. Im September 2005 konnte die Schule einziehen. In der Nähe fand sich noch ein alter Bauernhof. Dieser wurde 2007 erweitert, damit nicht nur Räume für die Landwirtschaft und den Bauern, sondern auch für die Hortbetreuung und für ein kleines Internat Platz hatten. Die Entwicklungsprozesse sind noch immer voll im Gange. www.paracelsusschule.at

Karl-Schubert-Schule Graz Unsere Einrichtung wurde als heilpädagogische Schule auf Initiative des Ehepaars Hammer für ihre autistische Tochter gegründet. Der erste Unterricht fand in einer Privatwohnung statt. Nachdem noch einige weitere Schüler dazugekommen waren und nach einer Übersiedlung in eine größere Stadtwohnung, erfolgte 1989 der Ankauf des Hauses Riesstraße 351. Einige Jahre hatten sich Eltern und Lehrer bereits mit dem Gedanken der Integration befasst und an der Realisierung einer Integrationsschule gearbeitet. Es sollte ein Ort geschaffen werden, an dem das Recht jedes Kindes auf Gemeinschaft mit anderen Kindern verwirklicht werden kann, an dem alle Kinder voneinander lernen dürften.

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Programmhinweise

Karl-Schubert-Schule Graz

1990/91 eröffnete die Karl-Schubert-Schule die erste integrative Kleinklasse. 1993 erfolgte dann die feierliche Grundsteinlegung für das neue Schulgebäude, das bis heute 8 Klassen und die dazugehörigen Förderräume, die Werkoberstufe, Werk- und Handarbeitsräume, einen Musiksaal und diverse Therapieräume beherbergt. Im Jahr 2001 entstand unsere Werkoberstufe, in der Jugendliche mit speziellen Bedürfnissen bis zum 21. Lebensjahr in einem „Gesamtunterricht“ unterwiesen werden, wobei die kulturellen Fähigkeiten je nach individuellem Stand auch in vielen handwerklichen und künstlerischen Tätigkeiten geübt werden. Kinder der Unter- und Mittelstufe mit erhöhtem Förderbedarf (bis zur gezielten Einzelförderung), die selbst in einem kleinen Klassenverband nicht geführt werden könnten, haben die Möglichkeit, eine der beiden kleinen heilpädagogischen Extraklassen mit besonders intensiver Betreuung und Förderung zu besuchen. 2002 wurde der integrativ geführte Hort genehmigt, daneben wird auch noch eine Nachmittagsbetreuung für SchülerInnen mit größerem Ruhe- und Förderbedarf angeboten. 2003 wurde der erste „Österreichische Integrative Waldorfkindergarten“ eröffnet; mittlerweile wurde für eine zweite Gruppe ein Anbau geschaffen. 2006/2007 entstand der Eurythmiesaal.

Die Ausbreitung der Waldorfschulen, der ­anthroposophischen ­Heilpädagogik und der Waldorfkindergärten

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Etwa 160 Kinder und Jugendliche, davon knapp ein Drittel mit heilpädagogischem Förderbedarf, sowie rund 60 MitabeiterInnen sind heute an der Karl-Schubert-Schule Graz. www.kss-graz.at

Rudolf-Steiner-Landschule Schönau

Rudolf-Steiner-Landschule Schönau

Die Rudolf-Steiner-Landschule Schönau hat im Jahr 1991 mit dem Hausunterricht begonnen und 1992 den Schritt zur Gründung einer Freien Waldorfschule – zunächst in Mödling – vollzogen. Als Schulträger fungiert seither der bereits 1985 im Triestingtal entstandene „Rudolf Steiner Schulverein im Raum Baden“. Nach Schönau an der Triesting übersiedelte die Schule Anfang 1996. Die Weihnachtstage wurden damit verbracht, in dem alten Paradehof, der zuvor der Polizeieinheit Cobra als Domizil gedient hatte, Schulräume zu schaffen. Sechs Klassen und 73 Kinder konnten nach den Weihnachtsferien einziehen. Im Schuljahr 1999/2000 wurde das sog. Bochumer Modell des Bewegten Klassenzimmers in der Unterstufe eingeführt und weiterentwickelt. Im 10. Jahr des Bestehens der Schule wurden die Bemühungen um lebendigen Unterricht auf besondere Weise gewürdigt. Die Landesakademie Niederösterreich und die Tages­ zeitung Kurier initiierten den Bewerb TOP SCHULE 2001. Der Rudolf-Steiner-Landschule Schönau wurde ein Sonderpreis zuteil, als Anerkennung der zahlreichen Projekte, die den schulischen Alltag bereicherten. Diese Auszeichnung war Ansporn, weiterhin Vielfalt und lebendige pädagogische Projekte zu verwirklichen, wie z.B. die Einrichtung einer Schul­ imkerei im Jahr 2008. Mit einer ersten 10. Klasse wurde im Jahr 2000 der Oberstufenaufbau in Angriff genommen. Inspiriert durch das Beispiel der arbeitsweltorientierten Oberstufe der Schweizer

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Programmhinweise

Waldorfschule Jura-Südfuß wurden neben den klassischen Praktika einer Waldorfoberstufe individuelle Arbeitsweltpraktika eingeführt, die im Rahmen des EU-Bildungsprogramms ­Leonardo da Vinci auch auf das europäische Ausland ausgeweitet wurden. Von einer winzigen Schule, die 23 Kindern in Privaträumen waldorfpädagogischen Unterricht bot, ist die Rudolf-Steiner-Landschule Schönau zu einer Waldorfschule herangewachsen, der heute rund 180 SchülerInnen, 32 MitarbeiterInnen, ein zweigruppiger Kindergarten und ein Hort angehören. www.waldorf-schoenau.at

Die Entstehung der Freien Waldorfschule Wien-West Am 18. März 1993 kam es zu einer Zusammenkunft von ca. 30 Menschen: Eltern, Lehrer, Kindergärtnerinnen. Es wurde in einer Urabstimmung beschlossen, eine Freie Waldorfschule sowie einen Kindergarten nach den Grundsätzen von Rudolf Steiner gründen zu wollen. Die Eröffnung dieser Bildungseinrichtung sollte im September 1993 stattfinden. In den fünf Monaten bis dahin geschah Unglaubliches: Gründung des „Rudolf-Steiner-Vereins 1993“, das Suchen und Finden eines geeigneten Standortes, Ausarbeiten von Lehrplan und Schulstatuten, Sekretariatsarbeit, Kontakt zum Waldorfbund, Transport einer kompletten Schuleinrichtung inklusive Schultafeln aus einer Volksschule der Stadt Wien, Präsentation der Schulinitiative in der Goetheanistischen Studienstätte Wien Mauer. In den Sommerferien wurde das bestehende Gebäude von Eltern, Lehrern, Kindergärtnerinnen und Schülern komplett umgebaut. Am 4. September 1993 war es soweit: Der Schul- und Kindergartenbetrieb für 120 SchülerInnen sowie 20 Kindergartenkinder konnte aufgenommen werden. Eine Woche später – am 11. September 1993 – erfolgte die feierliche Eröffnung. Vom Gründungsjahr 1993 bis 2000 wuchs Wien-West zu einer Schule mit neun Klassen und zwei Kindergartengruppen. Die sehr hohe Miete und die Enge des Objekts Schrutkagasse – es gab nur einen kleinen Schulgarten – ließ die Gemeinschaft nach anderen Standortmöglichkeiten umsehen. Diese Gelegenheit bot sich, als uns die Stadt Wien im Jahre 2000 anbot, in ein Gebäude in der Seuttergasse umzuziehen. Für diesen Umzug war eine gewaltige, auch finanzielle, Kraftanstrengung notwendig: Ein Gebäude aus dem Altbestand wurde umgebaut, Kindergarten, Festsaal und Foyer neu errichtet. Im September 2001 konnte das neue Schuljahr in den neuen Gebäuden begonnen werden. Wien-West hat nun einen Standort gefunden, an dem ein Wachstum bis in die Oberstufe möglich ist. Die Kinder lieben den riesigen Park mit dem alten Baumbestand, in dem die Schul- und Kindergartengebäude stehen. Der Kindergarten besteht aus zwei Kindergartengruppen und einer Kleinkindgruppe. Um der großen Nachfrage nach Kindergartenplätzen

Die Ausbreitung der Waldorfschulen, der ­anthroposophischen ­Heilpädagogik und der Waldorfkindergärten

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Freie Waldorfschule Wien-West

nachzukommen, ist mit dem Ausbau auf eine dritte Kindergartengruppe und eine zweite Kleinkindgruppe begonnen worden. www.waldorf-wien-west.at

Michaelischule Kufstein 1980 entstand der „Initiativkreis Waldorfpädagogik Kufstein“. Mit Vorträgen und Veranstaltungen wurde der Boden für die Gründungsinitiative bereitet. 1991 wurde ein Kindergarten gegründet, 2002 – nach jahrelanger Vorbereitung – die Schule in freier Trägerschaft. In ­einer relativ ländlichen Umgebung am Stadtrand von Kufstein fanden wir Raum und Garten für unsere Schule nach den Richtlinien Rudolf Steiners. Die Freie Waldorfschule Innsbruck übernahm die Patenschaft für unsere Kleinschule und steht uns in vielen pädagogischen und administrativen Fragen bei. Im September 2002 eröffnete die „Freie Schule Regenbogen“ eine erste Schulklasse mit sieben Schulkindern in den Räumen einer adaptierten Wohnung mit 75 m2 in der Stuttgarterstraße 17. Ab 2003 wurde die erste und zweite Schulstufe als „Doppelklasse“ gemeinsam geführt. Die Schule wurde offiziell eröffnet. 2005 folgte der Aufbau bis zur 4. Schulstufe,

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Programmhinweise

Michaelischule Kufstein

unterrichtet wurde im „Doppelklassensystem“: 1./2. und 3./4. Schulstufe. 2007 wird der Michaelischule Kufstein auf Dauer das Öffentlichkeitsrechts zuerkannt. Es taten sich neue, größere Räumlichkeiten für die Schule auf. In Kufstein werden die Kinder in der vierten Schulstufe auf den Übertritt in die staatlichen Schulen vorbereitet. In den ersten drei Schulstufen orientieren sich Lehrstoff und Lehrmethode an der ganzheitlichen Menschenkunde Rudolf Steiners. Die Mittel- und Oberstufe einer Waldorfschule können unsere SchülerInnen in Rosenheim oder Innsbruck besuchen. www.waldorf-kufstein.at

Neue Schulinitiativen: Die Familienschule Rheinthal Spezielle Umgebungsbedingungen fordern auch spezielle Lösungen. Eine Antwort auf dieses Land Vorarlberg, das so klein ist, dass es von vielen liebevoll „Ländle“ genannt wird, ist der klassenübergreifende Unterricht, der das Familiäre dieses kleinen Landes in unserer „Familienschule“ widerspiegelt. Ein weiterer mitgestaltender Umgebungsfaktor ist die spezielle Lage dieses Landes, umgeben von Liechtenstein, der Schweiz und Deutschland. Mit unserem „Verein Familien­

Die Ausbreitung der Waldorfschulen, der ­anthroposophischen ­Heilpädagogik und der Waldorfkindergärten

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Die Familienschule Rheinthal

schule Rheintal“ ist dieser so bereichernde Brückenschlag über den Rhein gelungen. Menschen aus der Schweiz und aus Österreich besuchen und verwalten gemeinsam diese Schule. In den ersten Jahren waren es mehr Menschen aus der Schweiz, seit einigen Jahren sind es mehr Menschen aus Österreich. An der Churerstraße 24 in Götzis, versteckt hinter dem ehemaligen Waldorfkindergarten, steht ein viereckiges Schulhaus aus Holz. Es ist die Familienschule, in der Waldorfpädagogik in einer Gesamtklasse angeboten wird. Kinder der 1. bis 4. Klasse werden von einer Klassenlehrerin gemeinsam unterrichtet. Für Fremdsprachen, Handarbeit, Englisch, Französisch, Gartenbau und Eurythmie wird die Klasse, je nach Bedürfnis, geteilt und von verschiedenen Fachlehrern übernommen. Die Familienschule liegt fünf Fußminuten vom Bahnhof Götzis entfernt und ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut erreichbar. Mehr als die Hälfte der Kinder fährt mit Bus oder Zug zur Schule. In der Familienschule haben wir für 20 Kinder Platz, rund um das im Winter knisternde Holzfeuer im Ofen. Im Schuljahr 2010/11 sind es 17 Kinder, die sich am Kaminfeuer erwärmen und an unserer Schule erfreuen können. [email protected]

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Programmhinweise

Die Waldorfschule Dreiklang

Die Waldorfschule Dreiklang Die Waldorfschulbewegung nördlich der Donau begann – nicht wie sonst üblich – mit einem Kindergarten, sondern mit einer Kreativwerkstatt. Von 2002 bis 2008 gab es in Wolkersdorf einen Raum, wo Kinder ihrer Entwicklung gemäß (Um-)Welt begreifen, erfahren und erforschen durften. Auf Grundlage der Waldorfpädagogik wurde mit Heranwachsenden im Alter von 5 bis 14 Jahren an Projekten gearbeitet, die sie in ihrer Entwicklung unterstützen sollten. Aus diesem Impuls heraus entstanden ab 2006 wöchentliche Schulgründungstreffen. 2007 begann der häusliche Unterricht für zwei Kinder. Im Jahr darauf wuchs die Schüleranzahl auf sechs Kinder an. Auf der Suche nach einem geeigneten Schulgebäude wurde man 2008 fündig. Umgeben von Wäldern und Äckern, liegt die Schule am Ortsrand von Unter­ olberndorf. Im Schuljahr 2009 wurde sie als Privatschule anerkannt; das Öffentlichkeitsrecht bekommen wir immer rückwirkend verliehen. Die Schülerzahl beträgt inzwischen 19 Kinder, die in Doppelklassen unterrichtet werden. Jedes Kind ist einmalig und bringt Bedeutsames mit. Auch „besondere“ Kinder finden ihren Platz bei uns. Um ihnen gerecht zu werden, unterstützt uns eine Waldorflehrerin mit heilpädagogischer Berufserfahrung und wahlweise TherapeutInnen. Wir sind bereits wieder auf der Suche nach einem geeigneten Schulgebäude für die wachsende Schülerschar. www.dreiklangschule.at

Die Ausbreitung der Waldorfschulen, der ­anthroposophischen ­Heilpädagogik und der Waldorfkindergärten

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Die Sonnenlandschule

Die Sonnenlandschule Die noch junge Geschichte der Sonnenlandschule begann 2003 in Neufeld/Leitha. Eine Mütterrunde und eine Waldorfkindergärtnerin trafen einander regelmäßig, um gemeinsam Spielmaterialien herzustellen. Nach und nach nahm die Pädagogik Rudolf Steiners Einzug in das Bewusstsein der jungen Mütter, sodass schließlich 2005 die Idee aufkam, einen Kindergarten zu gründen. Der Verein „Waldorfkindergarten Sonnenland“ entstand. Leider ließ sich dieser Traum aufgrund des fehlenden Kindergruppengesetzes im Burgenland nicht umsetzen. Den Wunsch, die Philosophie von der „Erziehung zur Freiheit“ im Burgenland zu verbreiten, trug man aber weiter. 2007 war der Wendepunkt. Es kam die Idee auf, eine Waldorfschule für die ersten acht Schulstufen zu gründen. Der Interessentenkreis wuchs rasch, sodass es bereits im folgenden Schuljahr losgehen sollte. Die Gründungsidee wurde niedergeschrieben, Broschüren gestaltet und Informationsabende gehalten. Am 3. September 2007 war es dann soweit. Die Sonnenland Schule startete im häuslichen Unterricht mit einer Klasse mit sechs Schülern im Einfamilienhaus einer Elternfamilie. Die folgenden Jahre sollten davon bestimmt sein, ein geeignetes Schulhaus zu finden, das auch den behördlichen Vorschriften genügte. Mehrere Gebäude wurden ins Auge gefasst; doch letztlich konnte keine Genehmigung erteilt werden.

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Programmhinweise

2010 begann die Sonnenlandschule mit 17 Kindern und einem siebenköpfigen Kollegium, mit dem Status einer Privatschule das vierte Schuljahr ihres Bestehens – endlich in einem ­eigenen Schulhaus, das allen Vorschriften genügt. Der Unterricht findet weiterhin jahrgangsübergreifend statt. Da eine unserer Klassenlehrerinnen und auch Schüler aus Ungarn kommen, fließt die ungarische Sprache in den täglichen Unterricht ein. Künftig wird Kroatisch als zweite Fremdsprache gelehrt, ganz im Sinne einer grenznahen und somit kultur­ übergreifenden Einrichtung im Burgenland. www.sonnenlandschule.at Neben diesen Waldorf-/Rudolf-Steiner-Schulen seien noch zwei weitere nach der Pädagogik Rudolf Steiners arbeitende Schulen in Wien genannt: die Friedrich Eymann Waldorfschule (1982) und das Oberstufenrealgymnasium Rudolf Steiner (1992). Beide sind Gründungen von Elisabeth und Karl Rössl-Majdan. Rechtsträger ist das Kuratorium für künstlerische und heilende Pädagogik. www.waldorf-hietzing.at

Waldorfkindergärten in Österreich Aktuell gibt es 30 Kindergärten in fast allen Bundesländern, die meisten davon mit mehr als einer Gruppe. Jede der hier vorgestellten Schulen hat in ihrem Umfeld auch einen Kindergarten. In Österreich gibt es zwei Ausbildungsstätten für angehende Kindergarten-PädagogInnen: eine in Wien, eine in Salzburg. Nähere Info: www.waldorf.at/hauptseiten/kindergarten.htm

Anmerkung 1

Redaktion der von den einzelnen Schulen zur Verfügung gestellten Texte

Da n k s a g u n g

Als Herausgeber möchte ich mich bei allen, die am Zustandekommen dieses Buches mitgearbeitet haben, aufs Herzlichste bedanken. Das sind die AutorInnen sowie alle, die bei der Beschaffung von Informationen und Bildern behilflich waren. Dazu gehören auch die KollegInnen der Waldorf-/Rudolf-Steiner-Schulen mit den Darstellungen ihrer Schulgeschichte. Aus Platzgründen mussten diese stark verdichtet werden, weshalb den Texten auch keine eindeutige AutorInnenschaft mehr zugewiesen werden kann. Dann ist Irene Bulasikis, Raoul Kneucker und Irmtraud Moravansky Dank zu sagen, die nicht nur wesentliche Beiträge verfassten, sondern beratend, Texte sichtend und korrigierend sowie immer wieder neu mitdenkend mich bei meiner Arbeit unterstützen. Ein besonderer Dank geht an Stefan Gergely, der nach dem Tod seiner Mutter im Redaktionsteam mitarbeitete und vor allem bei der Lektorierung des Manuskripts eine unschätzbare Hilfe war. Weiters ist Herrn Dr. P. Rauch vom Böhlau-Verlag zu danken, dass er sich der Publikation annahm, Frau Dr. E. Reinhold-Weisz für die Koordination und Herrn M. Rauscher für die umsichtige Gestaltung des Buches. Tobias Richter

Au to r i n n e n u n d Au to r e n (in alphabetischer Reihenfolge)

Theresia Bitzner, geb. 1949, Mag. phil., AHS-Lehrerin Französisch/Italienisch, 1979 bis 1996 Aufbau bzw. Geschäftsführung der Rudolf Steiner Schule Salzburg, seit 1986 Vorstandsmitglied HERMES-Österreich. Irene Bulasikis, geb. 1968; Studium der Handelswissenschaft in Wien (sowie Montreal und Santa Cruz, USA); journalistische Tätigkeit, Trainerin in der Erwachsenenbildung, Verlagslektorat, Geschäftsführung Bellaprint Verlag; ehrenamtliche Tätigkeit im Vorstand des Waldorfkindergartens Mödling, später im Vorstand der Rudolf Steiner-Schule Wien-Mauer; Mitarbeit im Elternkreis des Waldorfbundes Österreich Regula Hetzel, geb. 1947, Wien; Psychotherapeutin, 12 Jahre Waldorfschülerin in München, von 1976 bis 1985 aktive Elternarbeit und von 1985 bis 1996 Vorstandsmitglied in der Rudolf Steiner-Schule Wien-Mauer Friedrich Hiebel, geb. 1903 in Wien, Dr. Phil, Studium der deutschen Literatur, Sprachwissenschaft und Geschichte 1929–38 Waldorflehrer in Essen, Stuttgart und Wien. Emigration in die USA, dort Hochschullehrer. Ab 1963 Vorstandsmitglied der der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft in Dornach. 1989 in Dornach gestorben. Christian Hitsch, geb. 1951 in Salzburg, freischaffender Bildhauer in Feldkirchen/O.Ö. Von 1975 -1982 Werklehrer in der Rudolf-Steiner Schule Wien/Mauer Linda Kneucker, geb. 1937, USA; BA Anthropologie und Soziologie, Brandeis University; übersiedelt aus Liebe nach Österreich 1967, verheiratet mit Raoul Kneucker, 3 Waldorfkinder; Ausbildung zur Lebensberaterin; Mitgründerin von K.i.d.s. Forum für Kinderschutz und von Or Chadasch (Progressive Jüdische Gemeinde), Sekretärin der IIASA Society (Internationales Insititut für Angewandte Systemanalyse, Laxenburg). Raoul Kneucker, geb. 1938, Wien; Dr. jur; Honorarprofessor an den Universitäten Innsbruck (Politische Wissenschaften) und Wien (Religionsrecht); Sektionschef i.R. (wissenschaftliche Forschung und internationale Angelegenheiten), davor verschiedene Positionen in der Wissenschaftsadministration. Rechtsberater der österreichischen Waldorfbewegung 1976–1996. Verheiratet mit Linda Kneucker.

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Autorinnen und Autoren

Tobias Kühne, geb. 1928 in Deutschland. 1935 bis zu ihrem Verbot besuch der Rudolf Steiner Schule in Berlin, nach dem Krieg 11. Und 12. Klasse der Waldorfschule Stuttgart-Uhlandshöhe. Cello-Studium in Stuttgart und Paris. Dreijährige Unterrichts- und Konzerttätigkeit in Südamerika. 1960 Berufung als Lehrer an die Musikakademie in Wien. 1972 Ordinarius. Angelika Lütkenhorst, geb. 1954, Duisburg; Studium der Sonderpädagogik in Köln; 1985–1991 ehrenamtliche Mitarbeit bei amnesty international; ab 1988 Mitarbeit an der Gründung einer Waldorfschule in Mödling (heute: Rudolf Steiner Landschule Schönau); 1992–1995 Ausbildung zur Waldorflehrerin an der Goetheanistischen Studienstätte in Wien-Mauer; seit 1995 Lehrerin und geschäftsführende Mitarbeiterin des Vorstands an der Rudolf Steiner Landschule Schönau; langjährige Mitarbeit im Vorstand des Waldorfbundes Österreich. Irmtraud Moravansky, geb. 1945, Mariazell; Dkfm; langjährige Schülermutter der Rudolf Steiner-Schule Wien-Mauer, ehrenamtliche Mitarbeit im Rahmen der Schulbewegung. Wolfgang Schad, Prof. Dr. rer. Nat., geb. 1935. Ab 1955 Studium der Biologie, Chemie und Physik in Marburg und München, der Pädagogik in Göttingen. 1962 Waldorflehrer in Pforzheim, 1975 Dozent für Waldorfpädagogik in Stuttgart, 1992 Lehrstuhl für Evolutionsbiologie und Morphologie an der Universität Witten/Herdecke. Seit 2005 Emeritus. Paul Schütz, geb. 1930, Wien, Studium an der der Technischen Universität in Graz und Wien; 1961 Promotion zum Dr. tech. Leiter der Versuchs-und Forschungsanstalt der Stadt Wien, MA 39. Gründer des Ludwig Boltzmann-Institutes für biologischen Landbau. 1966–1978 Vorstandsmitglied des Rudolf Steiner-Schulvereins. Karl Sretenovic, geb. 1923, Studium an der Universität Wien, Dr. phil., Landesschulinspektor im Bereich des Pflichtschulwesens Wien. 2009 verstorben. Ruth Stiglechner-Halla, Dr. med., geb. 1952 in Wien; Ärztin für Allgemeinmedizin, Praxis für Anthroposophische Medizin in Wien; seit 1995 Schulärztin der Rudolf Steiner-Schule Wien-Pötzleinsdorf; Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Anthroposophische Medizin in Österreich. Alexander Strakosch, geb. 1879 in Brünn; Studium an der Technischen Hochschule München, Dipl.-Ing., ab 1920 Lehrer an der Waldorfschule in Stuttgart. 1938 bis zu seinem Tod 1958 in Dornach.

Autorinnen und Autoren

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Michael Stransky, geb. 1957, Wien; Besuch der Rudolf Steiner-Schule Wien von 1966–1975; Lehrer an der Freien Waldorfschule Graz seit 1989 (Klassenlehrer, Geschäftsführung, Gartenbaulehrer); davor Gärtner in verschiedenen Betrieben in Graz; einige Jahre Mitarbeit im Waldorfbund. Andreas Suchantke, geb. 1933, Basel/Schweiz. 20 Jahre Lehrer für naturwissenschaftliche Fächer an der Rudolf Steiner-Schule Zürich, anschließend langjährige Dozentur für Lehrerbildung an Waldorfschulen und Seminaren weltweit. Im eigenen Fachbereich Ökologie mehrmalige Forschungsreisen in die Tropen Afrikas und Südamerikas. Zahlreiche Buch- und Zeitschriften-Publikationen. Gerhard Volz, geb. 1969, Wien; Studium der Politikwissenschaften, Geschichte und Päda­ gogik an der Universität Wien; Arbeiten zu zeitgeschichtlichen Fragen, insbesondere in Mittel- und Osteuropa, sowie zur Rolle „freier“ Schulen in der österreichischen Bildungslandschaft. Tätig im Bereich der internationalen Bildungs- und Wissenschaftskooperation. Sieglinde Wendt, geb. 1939, Salzburg. Volksschullehrerausbildung. Beteiligt an der Gründung der Rudolf Steiner-Schule In Wien/Mauer (1966), an der Rudolf Steiner-Schule in Salzburg (1988) und an der Paracelsus-Schule/Salzburg (1988). Derzeit noch an Letzterer im kunsttherapeutisch-handwerklichen Bereich tätig, wie auch am Seminar für Waldorfpädagogik in Salzburg. Carlo Willmann, Dr. theol., geb. 1956, Theologiestudium in Freiburg, Frankfurt und Wien. Dissertation: Waldorfpädagogik – Theologische und religionspädagogische Befunde. Waldorflehrer für Kunstgeschichte, Deutsch, Geschichte und Religion. Dozent am Zentrum für Kultur und Pädagogik in Wien, seit 2009 Junior-Professor für Religionspädagogik und Ethik an der Alanus Hochschule/Alfter.

RupeRt VieRlingeR

SteckbRief geSamtSchule

Mit dem Begriff der Gesamtschule wird seit der Schulreform in den 1970er Jahren in Österreich, in Deutschland in Form der Integrierten Gesamtschule (IGS), Schindluder getrieben. Es werden Kinder begabungsmäßig sortiert, statt Varianten der Unterrichtsmethoden entwickelt. Die echte Gesamtschule korrigiert einen der Kardinalfehler des gegliederten Schulsystems, das den schwachen und erst gar den schwächsten Schülern die Möglichkeit zum Lernen am Vorbild raubt. Im Ghetto der Schwachen spiegelt sich nur der desinteressierte Blick des Einen im desinteressierten Auge des Anderen – und das Ergebnis ist „null Bock“! Die echte Gesamtschule saniert das psycho-soziale Klima in der Schulklasse. Keiner wird ausgegrenzt. Die Schüler sind nicht mehr Rivalen innerhalb ihres Leistungsniveaus, sondern Partner im gemeinsamen Lernziel! 2009. 292 S. Br. 120 x 185 mm. iSBn 978-3-205-78324-4

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Wa s b e d e u t e t G e s ta lt ?

TR: Der Begriff „Gestalt“ hat im folgenden Teil wesentliche Bedeutung. Was meint der Titel „Gestalt im Zentrum“? EG: Natürlich denkt man sogleich an die physische Gestalt, bei einer Schule also an den Schulbau. Doch denke ich auch an das Werden und Herausarbeiten einer Sozialgestalt, wie beispielsweise die Zusammenarbeit mit den Eltern aufzubauen ist. Ich verwende eher nicht das Wort „organisieren“. Die Sozialgestalt ist etwas Lebendiges, das sich in der Begegnung mit den Menschen webt. Und ein Gewebe hat ja schließlich eine Gestalt … Ich habe erkannt, dass auch die Art und Weise, wie man mit Geld umgeht, wie man wirtschaftet, zu einer ganz eigenen Gestalt führen kann. Dann gibt es die Rechtssphäre: Wie ist die Schule darin verankert? Welche Gestalt muss die Schule annehmen, dass ihr das Öffentlichkeitsrecht verliehen wird und sie aber nicht bloß als eine Einrichtung akzeptiert wird, die zur Erfüllung der Schulpflicht anerkannt ist? Hierbei geht es auch um Vergleichbarkeit. Damit ist ferner die Lehrplanfrage verbunden. Lässt sich der Waldorflehrplan vergleichen mit dem Lehrplan der öffentlichen Schule? Durch diese – mehr von außen angeregte – Forderung hat in Wien eine intensive interne Lehrplanarbeit begonnen, bei der es darum ging, die besondere Gestalt, die Komposition des Waldorflehrplanes beschreibbar zu machen. Schließlich ging es um Haus und Hof. Das ist ein großes Kapitel, weil sich das Werden der Schulraumgestalt über viele Jahre erstreckte.

D i e S o z i a l g e s ta lt – Zu s a mm e n a r b e i t m i t d e n E lt e r n Regula Hetzel

Die Mitarbeit der Eltern war in der Rudolf-Steiner-Schule von Beginn an ein wesentlicher Bestandteil des Schulganzen. Sie schafft die äußere Hülle für die Waldorfpädagogik. Gerade in der Pionierzeit einer Schule ist diese Arbeit ebenso intensiv wie gemeinschaftsbildend. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl entsteht aus der gemeinsamen Zielsetzung, Waldorfpäda­ gogik zu ermöglichen, ihr Heimat zu schaffen.

Wa s b e d e u t e t G e s ta lt ?

TR: Der Begriff „Gestalt“ hat im folgenden Teil wesentliche Bedeutung. Was meint der Titel „Gestalt im Zentrum“? EG: Natürlich denkt man sogleich an die physische Gestalt, bei einer Schule also an den Schulbau. Doch denke ich auch an das Werden und Herausarbeiten einer Sozialgestalt, wie beispielsweise die Zusammenarbeit mit den Eltern aufzubauen ist. Ich verwende eher nicht das Wort „organisieren“. Die Sozialgestalt ist etwas Lebendiges, das sich in der Begegnung mit den Menschen webt. Und ein Gewebe hat ja schließlich eine Gestalt … Ich habe erkannt, dass auch die Art und Weise, wie man mit Geld umgeht, wie man wirtschaftet, zu einer ganz eigenen Gestalt führen kann. Dann gibt es die Rechtssphäre: Wie ist die Schule darin verankert? Welche Gestalt muss die Schule annehmen, dass ihr das Öffentlichkeitsrecht verliehen wird und sie aber nicht bloß als eine Einrichtung akzeptiert wird, die zur Erfüllung der Schulpflicht anerkannt ist? Hierbei geht es auch um Vergleichbarkeit. Damit ist ferner die Lehrplanfrage verbunden. Lässt sich der Waldorflehrplan vergleichen mit dem Lehrplan der öffentlichen Schule? Durch diese – mehr von außen angeregte – Forderung hat in Wien eine intensive interne Lehrplanarbeit begonnen, bei der es darum ging, die besondere Gestalt, die Komposition des Waldorflehrplanes beschreibbar zu machen. Schließlich ging es um Haus und Hof. Das ist ein großes Kapitel, weil sich das Werden der Schulraumgestalt über viele Jahre erstreckte.

D i e S o z i a l g e s ta lt – Zu s a mm e n a r b e i t m i t d e n E lt e r n Regula Hetzel

Die Mitarbeit der Eltern war in der Rudolf-Steiner-Schule von Beginn an ein wesentlicher Bestandteil des Schulganzen. Sie schafft die äußere Hülle für die Waldorfpädagogik. Gerade in der Pionierzeit einer Schule ist diese Arbeit ebenso intensiv wie gemeinschaftsbildend. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl entsteht aus der gemeinsamen Zielsetzung, Waldorfpäda­ gogik zu ermöglichen, ihr Heimat zu schaffen.

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Dieser ersten Phase war die Rudolf-Steiner-Schule Wien-Mauer in den 70er-Jahren schon entwachsen. Die innere Arbeit an den Strukturen musste dagegen auch in den Jahren bis etwa 1984 zugunsten der gemeinsamen Leistungen im Umbau und Ausbau der Schule zurückstehen, alle zur Verfügung stehenden Kräfte wurden dafür gebraucht. Gleichwohl gab es damals ein sehr intensives Angebot an Elternabenden, Tagungen, Vorträgen und Seminaren zur Waldorfpädagogik, die Einblicke in die Arbeitsweise und Zielsetzung der Lehrer sowie Verständnis für die Besonderheit des Lehrplanes ermöglichte. Wesentliche Merkmale der Strukturen der Rudolf-Steiner-Schulen sind die Verantwortlichkeit des Schulvereines, bestehend aus Eltern und Lehrern, für das wirtschaftliche Bestehen und die autarke pädagogische Verantwortung durch die Lehrerkonferenz, die beide unabhängig und frei arbeiten sollen. Dies setzt ein hohes Maß an Vertrauen und gegenseitiger Achtung voraus, denn die weitreichenden Entscheidungen einzelner Entscheidungsträgergruppen sollen und müssen ja von der Gesamtheit der Schule, Lehrern, Eltern und Kindern, mitgetragen werden. Wenn Eltern für ihr Kind oder ihre Kinder eine Waldorfschule wählen, so haben sie sich in der Regel mit der pädagogischen Landschaft auseinandergesetzt, oftmals schwierige eigene Erfahrungen gemacht und suchen einen idealen Ort, in dem an ihren Kindern alles ausgeglichen wird, was sie entbehrt haben, sich wünschten und erhofften – auch, wenn sie selbst diesen pädagogischen Erwartungen zu Hause oftmals nicht gerecht werden können. Sie treten mit großen, oft unerfüllbaren Erwartungen in die Schule ein. Dieser Erwartungshaltung stehen Waldorflehrer gegenüber, die sich mit dem besonderen Lehrplan Rudolf-Steiners vertraut gemacht und oftmals erfahren haben, dass guter Unterricht nur gelingt, wenn der Lehrer oder die Lehrerin mit ganzem Herzen und ganzer Überzeugung dahinterstehen. „Er (der Lehrer) muss ein Sensorium für die Kinder haben. Die daraus resultierende Empfindlichkeit ist zugleich auch häufig seine (oder ihre) große Schwierigkeit im Umgang mit Eltern, vor allem im Umgang mit Kritik.“1 Die Eltern einer bereits herangewachsenen Schule wollen nicht nur mitarbeiten, ­Basar, Feste und Konzerte organisieren, Geld beschaffen und die Räumlichkeiten bauen und renovieren, sondern auch in die Entscheidungen einbezogen werden. Dies haben sie auch eingefordert. Sie haben ihrerseits für das Bestehen der Schule viele Initiativen gesetzt. Neben vielen anderen Aktivitäten der Eltern sei hier die Gründung einer Schulzeitung als kommunikativer Plattform zu erwähnen, ferner eines Waldorfwirtschaftskreises zu finanzieller Unterstützung der Schule, die Neugründung eines Elterninitiativkreises sowie einer Elternbeitragsgruppe, die auf soziale Gerechtigkeit in den Schulbeiträgen hinarbeitete. Bei den Lehrern entwickelte sich andererseits ein Bewusstsein dafür, dass auch ein Waldorflehrer nicht alle Schwierigkeiten, die in einer Klasse auftreten, alleine bewältigen kann und muss.

Die Sozialgestalt – Zusammenarbeit mit den Eltern

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War man in der Gründungszeit noch gewiss, dass Waldorfpädagogik an sich schon heilsam und mehr als allenfalls Heileurythmie nicht notwendig sei, machten die Zeitentwicklungen dennoch vor unseren Toren nicht halt: Diebstähle, Rauchen, Alkohol- und Drogenkonsum mussten bewältigt werden. Natürlich bestand auch die Angst, einen guten Ruf zu verlieren. Erst als die Beteiligten – Eltern und Lehrer – lernten, sich einzugestehen, dass auch – trotz allen guten Willens – pädagogische Bemühungen allein manchmal nicht ausreichen, suchten sie professionelle Unterstützung in schwierigen Gesprächen und therapeutische Hilfestellung. Einen wesentlichen Impuls erhielt die geistige Gemeinsamkeit der Lehrer und Eltern durch Seminare mit dem Ehepaar Mieke und Erwin van Asbeck, Betriebsberater vom Nieder­ländischen Institut für Organisationsentwicklung im Jahre 1993. Die Asbecks stellten die Leitbildarbeit in den Mittelpunkt und machten die Toleranz für die verschiedenen Wege eines jeden Einzelnen im Schulorganismus als Folge einer gemeinsamen geistigen Zielsetzung verständlich. Es wurden „Mandatsgruppen“ aufgestellt, darunter eine für die Zusammenarbeit Eltern-Lehrer. Heute gibt es, vielleicht mehr denn je, ein grundsätzliches Bedürfnis jedes Menschen, in seiner Eigenart und Besonderheit gesehen zu werden. In einer Schulform, welche die Eltern als integrale Gruppe des Gesamtorganismus versteht, dürfen deshalb weder die Anerkennung des Elternwillens noch die Wahrung der Integrität der Lehrer oder der Schüler aus dem Auge verloren werden. Wir sind heute kritischer und wohl auch anspruchsvoller geworden. Das Vertrauen wächst mit diesen Anforderungen nicht von selbst mit, es muss immer wieder neu geschaffen werden. Rückblickend lässt sich dankbar wahrnehmen, dass trotz der mannigfaltigen Hürden, die sich der Verwirklichung eines demokratisch geführten Schulorganismus entgegenstellen, sehr viel gelungen ist. Das gemeinsame Bekenntnis zu gerade dieser Schulform und die gemeinsame Liebe zu unseren Kindern führen uns zu gegenseitiger Anerkennung. Das ist ein zutiefst menschenwürdiger Weg – auch, wenn dieser sicher nicht der einfachste ist.

Anmerkung 1 Leist, Manfred, in: „Flensburger Hefte“ Nr. 38, S. 137–139, Flensburg, 1992

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S e l b s t v e r wa lt u n g – Q ua l o d e r I d e a l ? Irene Bulasikis Waldorfschulen verwalten sich selbst. Aufgaben, die normalerweise an eine externe Schulverwaltung ausgelagert oder eine Direktion delegiert werden, nehmen Lehrerkollegium und Elternschaft gemeinsam war – von der Schulfinanzierung bis zur Vertretung gegenüber Behörden. Das klingt zunächst einmal zeitgemäß. Das Prinzip der Selbstverwaltung entspricht uns als freien Menschen. Die Verantwortung für den Impuls, den wir in der Welt verwirklicht sehen möchten, wollen, sollen wir auch selbst übernehmen. In der Pionierphase einer Schule gelingt die Selbstverwaltung meist problemlos. Alle machen alles. Der Wille, eine Schule zu gründen, ist stark und trägt über viele Schwierigkeiten hinweg. Doch dann ist das Notwendigste erreicht, die Schule läuft. Strukturen, die sich einmal spontan gebildet haben, drohen zu verhärten. Neue Mitglieder der Schulgemeinschaft verstehen Gesetzmäßigkeiten nicht, die ihnen nicht vermittelt werden und von denen auch nicht klar ist, wie sie wieder geändert werden können. Viele Schulmitglieder fühlen sich daher ausgeschlossen – dabei sind doch eigentlich alle eingeladen mitzumachen. Der Ruf der Selbstverwaltung leidet – übrigens: nicht nur in Öster­ reich, sondern überall in der Waldorfwelt. Wenn Selbstverwaltung misslingt, zeigt sich das an: langwierige, ineffiziente Gremienarbeit, verschlungene Wege, mangelnde Konfliktfähigkeit, verdeckte Hierarchien – und jede Menge Frustration bei allen Beteiligten. In den 1990er-Jahren begann daher europaweit die Arbeit an anthroposophisch inspirierten Qualitätsmanagementkonzepten. Eines davon ist „Wege zur Qualität“. Das Verfahren zeigt Prinzipien der Gestaltung auf, verzichtet aber auf das Ausstellen von allgemeingültigen „Rezepten“. Prozesse, die gewohnheitsmäßig unbewusst ablaufen, werden wieder ins Bewusstsein gehoben. Menschen, die Freiraum zum Arbeiten brauchen, sollen diesen durch ein Umfeld bekommen, das klar und transparent gestaltet ist und in dem alle Aufgaben eindeutig verteilt und die Verantwortung für Entscheidungsprozesse festgelegt ist. In der Rudolf-Steiner-Schule Wien-Mauer arbeiten wir seit 2002 lose, seit 2005 immer verbindlicher mit „Wege zur Qualität“. 2010 wurde die Rudolf-Steiner-Schule Wien-Mauer als erste Waldorfschule in Österreich nach „Wege zur Qualität“ zertifiziert. Wir haben sehr gute Erfahrungen gemacht. Das Verfahren hat uns dabei geholfen, Selbstverwaltung wieder als das zu entdecken, was es ist: die Zukunft der Zusammenarbeit. Im Waldorfbund Österreich gibt es einen Arbeitskreis „Qualität“, der das Ziel verfolgt, einheitliche Qualitätsstandards der Verwaltung für alle österreichischen Waldorfschulen zu setzen. Fünf Schulen arbeiten aktuell mit „Wege zur Qualität“, die anderen haben eigene Verfahren gewählt, die aber zu vergleichbaren Ergebnissen führen: nämlich effizient und transparent selbstverwaltete Organisationen.

R auchzeichen – oder: Wie verbessern wir die E lt e r n - L e h r e r -Zu s a mm e n a r b e i t ? Linda Kneucker

30 Jahre ist es her, seit die erste Zeitung für Eltern, Lehrer und Freunde der Schule verteilt wurde. Und obwohl es mehr als 20 Jahre her ist, seit unser jüngstes Kind die Schule verlassen hat, so scheint es doch, als wäre es gestern gewesen, dass eine kleine Gruppe Eltern das Experiment „Rauchzeichen“ gewagt hat. Der Wunsch, die Kommunikation zwischen Eltern und Lehrern zu verbessern, war die Motivation, die uns elf Mal im Jahr vier bis sechs Seiten tippen, auf Matrizen vervielfältigen und zur Post bringen ließ. Der Wunsch, der hinter diesem Projekt stand: bessere Kommunikation. Dieser Wunsch hat uns auch bei der Namensgebung der Zeitung geleitet. Wir nannten sie „Rauchzeichen“, ein Begriff aus der Sprache der nordamerikanischen Ureinwohner für das Senden von Si­ gnalen. Wir hatten die Hoffnung, die Beziehungen, die für das Gelingen der Schule so wichtig waren, unterstützen zu können, wenn wir möglichst viel Information sammeln und verbreiten würden – Information nicht nur über Termine und Ereignisse, sondern auch über die Hintergründe der Pädagogik. Viele von uns hatten von Rudolf Steiner noch nichts gehört und wussten wenig über waldorfpädagogische Konzepte; daher war es manchmal schwierig, der komplizierten Ausdrucksweise der „Profis“ zu folgen; nicht selten hat sie uns eher verwirrt denn aufgeklärt. Wir waren aber stets dankbar für die Einführung in die Waldorfpädagogik, die es uns später ermöglichte, Neueinsteigern die Hintergründe näherzubringen. Außerdem bemühten wir uns, Artikel zu verfassen, die jede/r verstehen konnte. Diese Haltung wurde von den konservativeren Vertretern des Kollegiums und Vorstandes als Rebellion ausgelegt, was sicher teilweise der Fall war. Was uns im Eltern-Lehrer-Kreis am meisten fehlte, war der Humor. Warum sollten Eltern und Lehrer nicht gemeinsam über sich selbst lachen? Deshalb gaben wir jedes Jahr eine Faschingsnummer der Schulzeitung heraus. Die Reaktionen reichten von Empörung (wir hatten ein siebenstöckiges Haus entworfen, das keinen Lift hatte und in dem die jüngsten Familien in den obersten Stockwerken, dem Himmel am nächsten, wohnten – „Wie kann man sich nur so etwas Unpraktisches für Familien ausdenken?!?!“) bis zu „blindem“ Glauben (wir hatten ein besonders gesundes Getreide erfunden, das im Bioladen verkauft wurde und großen Anklang fand – in Wirklichkeit war es Konfetti).

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Je länger ich mit der Zeitung und dem Eltern-Lehrer-Kreis zu tun hatte, desto besser verstand ich das Positive an der Arbeitsaufteilung innerhalb einer Waldorfschule. Das Kollegium ist für die Pädagogik verantwortlich; die Aufgabe der Eltern besteht darin, die Mittel bereitzustellen, damit die Schule bestehen und sich entwickeln kann. Das heißt natürlich weder, dass Eltern keine Vorschläge in puncto Pädagogik machen dürfen, noch, dass Lehrer nicht nachfragen können, was die Eltern so tun. Aber die Verantwortung für die jeweiligen Bereiche wird getrennt getragen – zu wissen, wie weit die eigene Verantwortung reicht, ist eine Erleichterung; so muss man sich keine Sorgen um die Angelegenheiten der anderen machen. Die Jahre, in denen wir mit einem kleinen Kreis loyaler Helfer die Zeitung gemacht ­haben, waren interessant, wenn auch manchmal frustrierend. Ein wahres Spiegelbild des Lebens, innerhalb und außerhalb der Schule Trotz der schwierigen Zeiten war der Versuch, die Kommunikation innerhalb der Schule zu verbessern, immer eine spannende Lern- und Herzensaufgabe. Ich hätte sie nicht missen wollen.

D i e R e c h t s g e s ta lt d e r Wa l d o r f s c h u l e n in Österreich Raoul Kneucker

Rechtsform – Rechtsgestalt – Sozialgestalt Die Rechtsform der österreichischen Waldorfschulen wurde in den Jahren 1972 bis 1990 entwickelt. Die Rudolf-Steiner-Schule in Wien-Mauer, die österreichische Pionierschule, war auch dabei der Vorreiter; sie erledigte die erforderlichen Schritte der Entwicklung und mit jeder neuen Waldorfschule wurde die Rechtsform im Bewusstsein der staatlichen Behörden und der Waldorfschulen selbst gefestigt.1 Die einzelnen Schritte betrafen – die Errichtung der Schule (dieser Schritt war für die Schule in Wien-Mauer bereits 10 Jahre vorher gesetzt worden); – die Einschulung rund um das 7. Lebensjahr, damit verbunden die „Vorschulpflicht“ und der Charakter des Waldorfkindergartens; – die Erfüllung der (allgemeinen) Schulpflicht (1972 war durch eine Verordnung die Erfüllung der Schulpflicht nach einem „ausländischen Lehrplan“ für die Maurer Schule ausgesprochen worden); – die sogenannte Jahres(feststellungs)prüfung; – die Genehmigung des Organisationsstatuts mit dem Lehrplan der Waldorfschule (als „österreichischer“ Lehrplan); – die Verleihung des Öffentlichkeitsrechtes; – die Verleihung des Öffentlichkeitsrechtes auf Dauer; – die Subventionierung der Waldorfschule als nichtkonfessionelle Privatschule durch den Staat, d.i. für Privatschulen die Bundesebene, weil die Regelungszuständigkeit über das Privatschulwesen Bundessache ist; – der Abschluss der Sekundarstufe II (Matura)2. Aus diesen Elementen ergibt sich die vollständige Rechtsform einer zwölfjährigen Privatschule aus staatlicher Sicht; aus diesen Elementen kann aber auch das Ganze der Rechtsgestalt der österreichischen Waldorfschule sichtbar gemacht werden. Die Rechtsgestalt weicht deutlich von der Rechtsgestalt der Waldorfschulen in anderen europäischen Ländern, vor allem auch in den deutschsprachigen Ländern, ab. Das Nach-

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wirken des Habsburger Erbes, also des spezifischen historischen Kontextes mit seinen besonderen rechtlichen Rahmenbedingungen, musste notwendigerweise zu einer eigenen Prägung der Rechtsgestalt der österreichischen Waldorfschulen führen. Die traditionelle Sozialgestalt der Waldorfschulkommunität bleibt davon unberührt: Geformt aus der pädagogischen Anthropologie Rudolf Steiners, d.h. dem Menschenbild und der daraus abgeleiteten Erziehungsphilosophie für Schulen, bleibt die Sozialgestalt in den Hunderten Waldorfschulen in aller Welt, die in überaus unterschiedlichen Kulturräumen tätig werden, ohne Weiteres erhalten und erkennbar. Ob in Graz, Forest Row, Straßburg, Stuttgart, Mannheim, St. Petersburg oder in Great Barrington, Sacramento, Tokio, Toronto oder Oslo – die Art der Kooperationen zwischen Eltern und Lehrkörper, die in Konferenzen üblichen Entscheidungsprozesse können überall gleichermaßen erlebt werden, ebenso die Durchführung des Erziehungsauftrages in einer dem Lehrplan entnommenen, gestalteten Umgebung für Schüler und Schülerinnen, ausgedrückt etwa in der farblichen und künstlerischen Ausstattung der Klassenzimmer, oft in der Schularchitektur als Ganzes.

Die Rechtselemente Die einzelnen rechtlichen Schritte bedürfen zum besseren Verständnis des Ganzen einer Erläuterung. Zuvor jedoch soll das Grundproblem der Einbettung einer Waldorfschule in das österreichische Rechtssystem angesprochen werden, am besten durch ein persönliches Erlebnis aus dem Jahre 1975. Damals beriet das Lehrerkollegium der Schule in Wien-Mauer darüber, ob es sich überhaupt bereitfinden sollte, die Arbeit am Lehrplan, der damals noch in keiner vollständigen systematischen Formulierung vorlag, zu beginnen und dann alle weiteren Unterlagen für die geforderten Anträge an das zuständige Bundesministerium zu schaffen. Diskutiert wurde auch, ob eine solche Formulierung vorgenommen werden dürfe, weil durch eine Festlegung im Lehrplan die pädagogische Freiheit der Lehrenden berührt, u.U. verletzt sei. Die Debatte war nicht nur „grundsätzlich“, sie war auch hitzig: Sollte den Vorgaben des österreichischen Schulrechts entsprochen werden und sollten die Kriterien der staatlichen Anerkennung wiederum aus der Sicht der Waldorfpädagogik anerkannt werden? In der Diskussion ergriff ein junger Lehrer3 das Wort und fragte, ob denn die „Unterwerfung“ angebracht sei, handle es sich doch um zwar verschiedene, aber auf einem gleichen Rang stehende Bildungsphilosophien, die Waldorfpädagogik und jene des öffentlichen Schulwesens – von der Überzeugung einmal abgesehen, dass die Waldorfpädagogik die menschengerechtere Erziehung ermögliche. Dem Lehrerkollegium wurde in diesem Dialogprozess klar, dass in den nächsten Jahren eine Art „Schulrechtserfüllung“ zu leisten sein würde. Wäre aber die Anerkennung der Wal-

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dorfschule als Schule im System des österreichischen Schulrechts wünschenswert, sinnvoll und legitim? Legitim und sinnvoll doch nur dann, wenn rechtlich ein genügend großer Freiraum gesichert und tatsächlich durchsetzbar wäre, um die Eigenart der Waldorfschule ohne (wesentliche) Abstriche oder Kompromisse zu gewährleisten. Dies könnte nach der Rechtslage erwartet werden. Der Sprung ins Ungewisse könnte gewagt werden. Die Anerkennung durch das staatliche Schulsystem würde endlich als Abkehr von der bildungsphilosophischen Ausgrenzung der Waldorfpädagogik angesehen werden können. Ein Qualitätsvergleich dürfte nicht gescheut werden. Der notwendig einstimmige Beschluss fiel zugunsten des Projektes „Anerkennung“ aus. Die Lehrplandiskussion wurde als Chance betrachtet, die eigene pädagogische Entwicklung zu reflektieren und voranzubringen4. Das Profil der Waldorfschule systematisch geschlossen darzustellen, sei für erziehungswissenschaftliche Studien und Vergleiche, ja für den längst fälligen Dialog mit den staatlichen Stellen und anderen Bildungsstätten über die Reform des Schulsystems, gut zu nützen. Schließlich würde mit der staatlichen Anerkennung die Möglichkeit eröffnet, Subventionen zum Schuletat zu erhalten. Bis in die 90er-Jahre waren die Waldorfschulen mit den einzelnen rechtlichen Schritten beschäftigt; beschäftigt auch in dem Sinne, dass mit der Erfüllung der staatlichen Anforderungen die Klärung vieler offener pädagogischer und organisatorischer Fragen verbunden war und wohl auch verbunden sein musste (z.B. die Qualifikation der Lehrer und Lehrerinnen im Vergleich zu den staatlichen Lehramtskategorien, die Fort- und Weiterbildung der Waldorflehrkörper). Ein zaghafter Dialog mit öffentlichen Bildungseinrichtungen, insbesondere auf der Ebene der Pädagogischen Akademien/Hochschulen, setzte ein. Einen Dialog auf Dauer zu etablieren, gelang jedoch nicht. Allerdings wurde „Waldorfpädagogik“ als Gegenstand der erweiterten Ausbildung in das Lehrangebot verschiedener pädagogischer Hochschulen aufgenommen. Zum Verständnis der rechtlichen Elemente mögen die folgenden Erläuterungen beitragen: – Für die Errichtung einer Privatschule wird vorausgesetzt, dass die gesetzlichen Bedingungen hinsichtlich des Schulerhalters, des Leiter, der Leiterin und der Lehrer, Lehrerinnen, der Schulräume und Lehrmittel erfüllt werden. Schulerhalter zu sein, ist an die Staatsbürgerschaft/Unionsbürgerschaft gebunden; seine Aufgabe ist die finanzielle, personelle und räumliche Vorsorge für die Führung der Schule. Er hat die pädagogische Autonomie des Lehrkörpers zu achten. Leiter oder Leiterinnen, Lehrer und Lehrerinnen haben die Eignung in sittlicher und gesundheitlicher Hinsicht sowie die jeweils erforderliche Lehrbefähigung (im Fach) nachzuweisen; es dürfen bei ihnen keine Umstände vorliegen, die nachteilige Auswirkungen auf das österreichische Schulwesen erwarten ließen. Schulräume und Lehrmittel müssen dem Zweck und der Organisation der Schule,

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den Grundsätzen der Pädagogik und Hygiene entsprechen. Die Errichtung der Schule ist rechtzeitig anzuzeigen, sie kann von der jeweils zuständigen Schulbehörde, wenn die Bedingungen nicht erfüllt werden, innerhalb von zwei Monaten untersagt werden. Die allgemeine staatliche Schulpflicht beginnt mit dem auf die Vollendung des 6. Lebensjahres folgenden Schuljahresbeginn. (Mögliche Ausnahmen werden hier nicht berücksichtigt.) Eine Vorschulstufe im Rahmen der Volksschule ist pflichtgemäß zu absolvieren, wenn schulpflichtige Kinder noch nicht schulreif geworden sind; an Waldorfkindergärten wurden, um diese Pflicht zu erfüllen, Sondergruppen (neben den Kindergartengruppen) eingerichtet. Die allgemeine Schulpflicht dauert neun Schuljahre. Ihre Erfüllung ist im Abschlusszeugnis gesondert festzustellen. Der Besuch von Privatschulen ohne Öffentlichkeitsrecht oder von Privatschulen, die keiner gesetzlich geregelten Schulart entsprechen, aber über ein genehmigtes Organisationsstatut verfügen, oder die Erteilung eines häuslichen Unterrichts ist für die Erfüllung der Schulpflicht dann geeignet, wenn er dem Unterricht an öffentlichen Schulen mindestens gleichwertig ist. Dies behördlich festzustellen, ist der Zweck der Jahresprüfung an einer öffentlichen Schule unter Mitwirkung der Bezirks- bzw. Landesschulbehörde; es sind dafür mehrere Richtlinien und Verordnungen des Bundesministeriums zu beachten, die den Stoff der Prüfung und das Verfahren näher regeln. Der zuständige Bundesminister kann für eine Privatschule, die keiner öffentlichen Schulart entspricht, d.h. keinen Lehrplan einer gesetzlich geregelten Schulart praktiziert, das Öffentlichkeitsrecht, wenn die allgemeinen Voraussetzungen für eine Privatschule und ihre Bewährung im Unterricht nachgewiesen wird, dadurch verleihen, dass … die Organisation, der Lehrplan und die Ausstattung der Schule sowie die Lehrbefähigung des Leiters und der Leiterin, der Lehrer und Lehrerinnen der Schule mit einem vom Bundesminister erlassenen und genehmigten Organisationsstatut übereinstimmen. Ob der Lehrplan einer Privatschule „ausländisch“ ist oder nicht, macht keinen rechtlichen Unterschied für die Erfüllung der Schulpflicht. Der Bundesminister hat insbesondere die Gleichwertigkeit zu prüfen und darf nur genehmigen, wenn die allgemeinen Voraussetzungen nachgewiesen werden. Er würde sich sonst in einem gesetzesfreien Raum befinden und gegen das Legalitätsprinzip der Bundesverfassung verstoßen. Auf Dauer ist das Öffentlichkeitsrecht erst nach langjähriger Bewährung der Privatschule zu verleihen; oft wird der Abschluss eines ersten Zyklus des Unterrichts abgewartet, im Falle der Waldorfschulen z.B. die ersten 12 Jahre. Für die Subventionierung von Privatschulen, eine Zuständigkeit des Bundes(ministeriums für Unterricht), wird zwischen konfessionellen und nicht konfessionellen Schulen unter­ schieden. Erstere sind Bildungsstätten, die von gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften oder von ihren Einrichtungen (nach Anerkennung durch die

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zuständige religionsgesellschaftliche Oberbehörde) errichtet und geführt werden; letztere sind jene Bildungseinrichtungen, die das Öffentlichkeitsrecht erhalten haben; und nur diese. Ihnen können auf Grund des jeweiligen Budgetgesetzes des Bundes und nach Maßgabe der zur Verfügung stehenden Mittel Subventionen zum Lehrpersonalaufwand gewährt werden. Den konfessionellen Schulen hat der Bund diese Lehrpersonalkosten zu ersetzen. – Die Frage des freiwilligen Weiterbesuches einer Schule, also über die Schulpflicht hinaus, betrifft vor allem die Bewertung des Abschlusses der 12 Jahre Waldorfschule im Vergleich zu den 12jährigen höheren Schulen. In den ersten Jahren war die Reifeprüfung (Matura) an einer öffentlichen Schule abzulegen, was de facto zu einem 13. Schuljahr führte, oder ein weiteres Jahr war auch anzuschließen, wenn der Schüler, die Schülerin sich entschlossen hatte, die Maturaklasse einer öffentlichen Schule zu besuchen und mit den anderen Schülern die Prüfung abzulegen. Schrittweise wurde in den 90er-Jahren des vorigen Jahrhunderts die Reifeprüfung an einigen Waldorfschulen in die Schule hereingezogen; zusätzliche, meist Lehrkräfte aus öffentlichen Schulen waren dafür nötig. Die ohnedies externe Prüfungskommission kam an die Schule, wie an anderen Schulen auch, und hielt die Reifeprüfung im Rahmen der Waldorfschule ab.

Zur Rechtsgestalt Allgemeines Die Elemente der Rechtsform begrenzen von außen die Rechtsgestalt einer Privatschule in zweierlei Hinsicht: – die Dominanz der Lehrpläne für öffentliche Schulen und – die geforderte Erfüllung wesentlicher rechtlicher und organisatorischer Vorgaben. Diese beiden Elemente treffen für Schulen mit eigenem Organisationsstatut, wie eben die Waldorfschulen, – rechtlich gesehen – nicht so umfassend zu wie für andere Privatschulen; de facto ist der Unterschied gering. Die Dominanz zeigt sich nicht nur in den Genehmigungsvorgängen für Lehrpläne und in der Gewährung des Öffentlichkeitsrechtes an Privatschulen; das Schulrecht geht schlicht davon aus, dass die öffentlichen Lehrpläne den Standard bilden, eben das „Maß aller Dinge“ sein sollen. Der Begriff „gleichwertiger Unterricht“ wird in diesem Verständnis interpretiert. Darin liegt weniger staatliche Überheblichkeit als es zunächst scheinen mag; denn mit Bezug auf Bildungsinhalte und Lehrplangestaltungen war das staatliche Schulwesen nie einem Wettbewerb ausgesetzt gewesen, der eine andere Attitude staatlicher Behörden

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erzwungen hätte. Man hielt daher auch die österreichische Schule bis in die jüngste Zeit für in Europa vorbildlich; erst die Schulvergleiche der OECD und der EU rückten das geschönte Selbstbild zurecht. Die staatlichen Genehmigungen und Überprüfungen – von der Eignung der ­Schul­gebäude, der Qualifikation des Lehrkörpers, der Erfüllung des Jahresbildungszieles bis zum gewählten Lehrplan, der Verleihung des Öffentlichkeitsrechtes und der allfälligen Subven­tionierung der Privatschule – stellen administrative Vorgänge in operationeller Hinsicht dar, die über die Wahrnehmung eines durchaus verständlichen staatlichen Aufsichtsrechtes signifikant hinausgehen. Der Gestus des Schulrechts gegenüber nicht konfessionellen Privat­schulen ist eine Geste „von oben herab“ – wohlwollend gewährend, aber stets kontrollierend. Letzteres gilt genauso für die konfessionellen Schulen. Der Schlüssel zum Verständnis der aktuellen Rechtsgestalt liegt in einem unscheinbaren Nebensatz des Privatschulgesetzes: Privatschulen, die keiner öffentlichen Schulart entsprechen, ist das Öffentlichkeitsrecht zu verleihen, wenn (neben der Erfüllung zweier anderer Bedingungen) „die Organisation, der Lehrplan und die Ausstattung der Schule sowie die Lehrbefähigung des Leiters und der Lehrer mit einem vom Bundesministerium … erlassenen und genehmigten Organisationsstatut übereinstimmen“ und sie sich hinsichtlich ihres (!) Unterrichtserfolges bewährt haben (§ 14 Abs. 2 lit. b und c Privatschulgesetz 1961). Der Satz ist als der Rest der großen, liberalen Verfassungsfreiheit, Schulen zu gründen, übrig geblieben; mit den Grund- und Freiheitsrechten im Jahre 1867 verankert, lautete sie: „Unterrichts- und Erziehungsanstalten zu gründen und an solchen Unterricht zu erteilen, ist jeder Staatsbürger berechtigt, der seine Befähigung hiezu in gesetzlicher Weise nachgewiesen hat. Der häusliche Unterricht unterliegt keiner solchen Beschränkung … Dem Staat steht rücksichtlich des gesamten Unterrichts- und Erziehungswesens das Recht der obersten Leitung und Aufsicht zu“ (Art 17, Abs. 2, 3 und 5, Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867). Die Freiheit, die der politische Liberalismus zur Mitte des 19. Jahrhunderts meinte und verwirklichen wollte, bezog sich nie allein auf das formale, individuelle Grundrecht, gegen Kirchen und Staat gerichtet, Schulen zu errichten; die Freiheit bezog sich stets auch auf den Erziehungsauftrag, nämlich: frei, eigeninitiativ, nach eigenen bildungsphilosophischen Ansichten den Lehrplan zu erstellen und Unterricht zu erteilen; er schloss Unterrichtsziele und -methoden mit ein. Schulfreiheit war umfassend gedacht, sollte sie doch Bildungsmöglichkeiten neben den Schulen der Kirchen und des Staates eröffnen. Sie betraf sogar m.E. in erster Linie den Inhalt und die Bewährung nach eigenen Kriterien, nicht die organisatorische Existenz oder die Form und Struktur der Schule. In den nachfolgenden Schulgesetzen des Habsburgerreiches und der Ersten Republik verengte sich der Blick schnell. Vom Gesetzesvorbehalt, bezogen auf die Lehrbefähigung (siehe Art. 17 Abs. 2 Staatsgrundgesetz 1867), wurde mehr und mehr und dann ganz allge-

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mein durch viele Gesetze, die nicht nur die Lehrbefähigung, sondern potentiell alle Aspekte der Schulführung betrafen, Gebrauch gemacht. Nicht nur die liberale Politik selbst hatte bald geendet; gegen Ende des 19. Jahrhunderts und in den Folgejahren bis in die Zweite Republik standen der Aufbau und die Sicherung der staatlichen Schule gegen die konfessionellen Schulen im Vordergrund. Die Kontinuität des „Obrigkeitsstaates“ im Schulwesen der Republik mag durch die politische Blockade und Trägheit erklärt werden können. Für die Monarchie war der staatliche Einfluss positiv motiviert, er diente der Sicherung der Elitenmobilität.

Bezüge zur Waldorfschule Die Reduktion auf das formale Recht bleibt bis heute der Kernpunkt der Auseinandersetzung mit Privatschulen, die keiner öffentlichen Schulart entsprechen. Der eingeengte Blickwinkel bestimmte ja die Schulgesetze der Zweiten Republik. Es gab, wie noch zu erläutern sein wird, keinen Anlass, dieses Verfassungsverständnis vor den Höchstgerichten zu testen. Es kann kein Fall ausgemacht werden, der vor dem Reichsgericht (1869 – 1918) oder dann vor dem ihm nachfolgenden Verfassungsgerichtshof der Republik die Reduktion der Freiheit relativiert hätte, um den Anspruch auf eine inhaltlich andere Pädagogik durchzusetzen und zu schützen. Es fehlte bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts an Privatschulen, die aufgrund einer anderen Bildungsphilosophie eine Gegenposition vertreten hätten (können). Die Waldorfschule hätte historisch der erste Anlassfall sein können, wenn die Ereignisse in den 30er-Jahren, insbesondere im Jahre 1938, eine solche subtile pädagogische Auseinandersetzung nicht obsolet gemacht hätten. Es ist auch nirgends ersichtlich, ob damals erkannt worden war, welche Rechtsfragen mit der ersten Schulgründung tatsächlich verbunden waren. Bei gleichbleibender Verfassungsrechtslage, von den Unterbrechungen 1934–1938, 1938–1945 abgesehen, bestand die Privatschulfreiheit in dem verengten Sinne weiter, Schulen aufgrund bestehender Gesetze organisatorisch zu errichten. Die allfällig abweichenden Lehrpläne hatten ohne Diskussion daher im Sinne der staatlichen Standards nachgebessert zu werden; bestimmte Ausnahmen konnten mit Dispensen erwirkt werden. Die eigentlich pädagogische Diskussion wich der rechtlichen Betrachtungsweise und der Erledigung durch ministeriellen Bescheid. In der ministeriellen Interpretation nach dem Zweiten Weltkrieg galt der „Rest der großen Freiheit“ in § 14 Abs. 2 Privatschulgesetz nicht einmal mehr den allgemeinbildenden Schulen; die Vorschrift wurde zur Regelung (von Sonderfällen) der berufsbildenden Schulen angewendet. Als nach rund 10 Jahren ihrer Existenz die Rudolf-Steiner-Schule in Wien-Mauer den Antrag auf Verleihung des Öffentlichkeitsrechtes (in rechtlich nicht einwandfreier Form)

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stellte und ihr diese Anerkennung rundweg verweigert wurde, kam es zu einer politischen ­Demarche. Der damalige Bundesminister für Unterricht5 wurde unter Verweis auf die weltweit tätigen und anerkannten Waldorfschulen informiert, dass bei Ablehnung eines ergänzten und rechtlich verbesserten Antrages auf Genehmigung des Organisationsstatuts, des Lehrplanes und auf Gewährung des Öffentlichkeitsrechtes Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof erhoben werden würde. Es sei Zeit zu prüfen, ob und wie das Höchstgericht die Freiheitsreduktion beurteilen würde. Nicht, dass der Bundesminister die Ankündigung als bösartige Intervention angesehen hätte – er war da Lehrer genug um zuzugeben, dass der Vorstoß gerechtfertigt war. Ein neuer Antrag sollte gestellt werden. Der Verfassungs­ gerichtshof wurde nicht mehr bemüht (und der Anlass für ein Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof entfiel). Der neue Antrag war erfolgreich. Dem politischen Ereignis war ein persönliches Erlebnis vorausgegangen. Die Leiterin der Waldorfkindergärten besuchte, so wie es üblich ist, die Eltern eines ihrer Kindergarten­ kinder.6 Sie erzählte von der ministeriellen Ablehnung und beklagte sich. Sie merkte etwas hintergründig an, dass der Vater des Kindes, wie sie wisse, doch mit Anerkennungsproblemen in Europa beruflich zu tun hätte. Ob er nicht den Bescheid des Bundesministeriums prüfen wolle? Vielleicht einen Ausweg wüsste? Der Vater, der später für lange Zeit der Rechtsberater der Waldorfbildungseinrichtungen in Österreich war, nahm sich des Falles tatsächlich an, und zwar mit dem ausdrücklichen Hinweis auf die Verfassungsfreiheit; endlich läge der Anlassfall vor, in einem Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof den Umfang der Schulgründungsfreiheit zu bestimmen. Der historische Kontext Es lässt sich begründen, warum die Entwicklung des Privatschulwesens in der beschriebenen Art verlaufen ist. Im 19. Jahrhundert wurde im österreichischen Teil des Habsburger­ reiches oder „Cisleithanien“ die „Verstaatlichung“ des Schulwesens endgültig vollzogen. Das hieß, neben den kirchlichen Schulen waren öffentliche Schulen in neuen territorialen Lagen aufzubauen, um im Grunde die Vormacht der konfessionellen Schulen zu brechen; denn letztere sicherten damals das Bildungssystem in einem überwiegendem Ausmaß. Dabei spielte auch das politisch-liberale Motiv eine Rolle, sie zurückzudrängen, weil die konfessionellen Schulen die nationale Erziehung forcierten. Gerafft, ohne Details, sei das Ergebnis dieses langen politischen, konfessionellen und pädagogischen Konfliktes nachgezeichnet. Der Katholischen Kirche wurde das Recht zugestanden, weiterhin kirchliche Bildungseinrichtungen zu gründen und zu führen. An den öffentlichen Schulen war das „Unterrichtsprinzip Religion“ zwar aufzugeben, aber „Religion“ wurde ein Unterrichtsgegenstand der Lehrpläne, wie andere auch, und zwar ein Pflichtgegenstand für die Konfessionsangehörigen. Religionsunterricht war als „innere Angele-

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genheit“ der Kirche von ihr selbst und unter ihrer Aufsicht zu besorgen (missio canonica, Priester und Ordensleute als Lehrkräfte, Schaffung eines eigenverantworteten Unterrichtsmaterials, kirchliche Fachinspektionen für Religion). Die anderen gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften folgten nach und wurden nach dem gleichen Muster tätig. Die Konkordate 1855 und 1933 und die sie dann durchführenden Schulgesetze ent­ halten die Details der heftig umstrittenen Einigung7. Das Ergebnis blieb für die Zweite Republik aufrecht. Was heute kaum mehr nachvollziehbar erscheint, ist die Atmosphäre des „Kulturkampfes“, betreffend vor allem die Bildungsangelegenheiten, eingebettet in den allgemeinen politischen Streit über die Rolle der Kirche und der Religion im öffentlichen Raum des 19. Jahrhunderts. Er hatte nicht nur die politischen Parteien erfasst, sondern die Zivilgesellschaft im gesamten und die mächtige staatliche Bürokratie. Der „Kulturkampf“ bewirkte, dass noch 1918 – 1920 keine Einigung über einen neuen Grundrechtekatalog gelang (und der „alte“ im Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger 1867, etwas ergänzt, fortgeschrieben wurde) und keine Einigung über die Verfassungsartikel zum öffentlichen und privaten Schul- und Erziehungswesen zustande kam, vielmehr die Gesetze des Reiches, schrittweise immer mehr adaptiert, in struktureller und inhaltlicher Hinsicht weiterbestanden und weiterhin angewendet wurden. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg gelang eine Art „Aussöhnung der Lager“. In der „glorreichen“ Zeit der Großen Koalition, um das Jahr 1962, war es möglich geworden, den „Kultur­kampf“ mit einer neuen Schulverfassung, mit neuen grundlegenden Schulgesetzen und einer Ergänzung des Konkordates zu beenden. Ermöglicht haben die Beilegung des „Kulturkampfes“ im Vergleich zur Monarchie sicherlich die grundlegend andere soziale Struktur der Republik, wohl auch die fortschreitende Säkularisierung und Entpolitisierung. Mit der politischen Lösung war zugleich ein finanzieller Ausgleich verbunden – für den Beitrag der konfessionellen Schulen zum österreichischen Bildungssystem im Allgemeinen, der das Schulwesen ergänzt, bereichert und auch kostenmäßig entlastet. Die konfessionellen Schulen erhielten den Aufwand der Personalkosten ersetzt, primär, soweit es faktisch möglich war, durch die Zuweisung von Planstellen aus dem Kontingent der Landes- und Bundes­ lehrer. In der österreichischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie des 19. Jahrhunderts und in der nachfolgenden österreichischen Republik spielte das Privatschulwesen, abgesehen von den konfessionellen Schulen, eine untergeordnete Rolle, jedenfalls in qualitativer Hinsicht. Was Erziehungsauftrag und Lehrplan anlangt, unterschieden sich die konfessionellen Schulen, wenn man ihr religiöses Profil und die daraus folgenden Unterrichtselemente ­außer Betracht lässt, nicht von den öffentlichen Schulen. Sie waren von Anfang an Erneuerer des Schulwesens (z.B. die Realschulen und Berufsschulen) gewesen und konnten daher in der Republik die Lehrpläne übernehmen. Sie praktizierten also deren Lehrpläne, seit 1962

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auch die Grundprinzipien der Schulorganisation (wie z.B. die Aufgabenstellung der Schule, die Aufnahme von Schülern und Schülerinnen anderer Konfessionen – das Gleichheitsgebot). Erst die allgemeinbildenden, nicht konfessionellen Privatschulen in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts stemmten sich gegen die Dominanz der öffentlichen Lehrpläne und gegen die Art der Subventionierung von Privatschulen. Versuche, das System der Subventionierung zu ändern, waren nicht erfolgreich. Verwaltungs- und Verfassungsgerichtshof bestätigten in mehreren Urteilen die Verfassungsgemäßheit der bestehenden Regelungen. Die Subventionierung von Privatschulen blieb allerdings ein durchgängiges Thema der Bildungspolitik, Änderungen wurden bis heute aber nicht realisiert. Übrigens betrafen alle Reformen des öffentlichen Schulwesens, so tiefgreifend sie auch waren, nie das Privatschulgesetz in einer strukturverändernden Weise. Erst in jüngster Zeit erklärten Vertreter verschiedener Parlamentsparteien ihre Bereitschaft, die Vorschriften ändern zu wollen, vor allem eine „Gleichstellung“ der konfessionellen und nicht konfessionellen Privatschulen anzustreben. Dies bedeutet wohl, die Kriterien der Förderung neu zu formulieren, etwa auf die Verleihung des Öffentlichkeitsrechtes abzustellen oder die Bildungsleistungen der öffentlichen und privaten Schulen zu definieren, zu vergleichen und zu messen. In einigen Fällen hat die Unterrichtsverwaltung begonnen, „Leistungsverträge“ abzuschließen, statt Subventionen zu gewähren; diese Neuerung gestattet einen Leistungsaustausch auf gleicher Augenhöhe, denn das Instrument der Förderung der Privatschulen ist ein Vertrag, der die Leistungen beider Seiten bestimmt, nicht mehr das hoheitliche Instru­ ment der Subventionsgewährung in Durchführung des Privatschulgesetzes 1961. Diese Systemänderung ist (noch) nicht generell akzeptiert und durchgeführt.

Die Rechtsgestalt der österreichischen Waldorfschulen Wie ließe sich die Rechtsgestalt der österreichischen Waldorfschulen im Kontext des österreichischen Schulrechts formulieren? Sie sind in organisatorischer Hinsicht ein Teil des österreichischen Schulsystems; denn sie erfüllen alle wesentlichen rechtlichen und organisatorischen Anforderungen – wie eben andere Schulen auch. Sind sie es in anderer als organisatorischer Hinsicht? Dazu nochmals ein Blick in die Vergangenheit: Wenn bis zur Schulreform 1962 (und in manchen Punkten darüber hinaus) eine historische Kontinuität seit dem Habsburgerreich besteht, kann gefragt werden, worauf sich denn die politische Einigung zwischen dem christlich-sozialen und dem sozialistischen „Lager“ eigentlich bezog, zumal sie außerdem von divergierenden Interessen zwischen Bund und Ländern überlagert war. Alle „großen“ Bildungsreformen der Ersten Republik waren ja an der Unfähigkeit der „Lager“ zur Einigung gescheitert. Allein die Lösung des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen und

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die Existenzsicherung der konfessionellen Privatschulen, bereits im 19. Jahrhundert erreicht, blieben unangetastet. Was gelang dann in der Zweiten Republik, um von der politischen Aussöhnung und Reform des Schulwesens zu sprechen? Mit den Kompromissen des Jahres 1962 gelang die föderale Zuordnung des Schulwesens, einschließlich der Regelung der Schulverwaltung auf Länderebene, die Klärung der Förderung der konfessionellen Schulen sowie die Regelung der Schul- und Unterrichtsorganisation, eingebettet in eine neue Schulverfassung und Kompetenzverteilung. Aber so gut wie nie waren durch diese Reformgesetze die Bildungsinhalte betroffen. Sie hätten zum Teil die alten Konflikte erneuert, alte Gräben wieder aufgerissen! Darüber hätte es keinen Kompromiss gegeben. Die kommenden Lehrplanreformen wurden daher an die ministerielle Ebene ohne besondere inhaltliche Vorgaben delegiert; sie wurden unter Partizipation erfahrener und etablierter Lehrer und Lehrerinnen beraten. Bildungsphilosophische Auseinandersetzungen und Neuerungen, insbesondere die Internationalisierung des Schulwesens, kamen langsam voran; oft nur als Initiativen von „unten“, also von den einzelnen Schulen selbst. Wenig ist aus den Beratungen der Lehrplankommissionen publiziert. In der spannungsreichen politischen Lage war Pragmatismus angebracht, personalpolitische und dienstrechtliche Interessen begannen in den Vordergrund zu treten und die Reformdiskussionen zu überlagern. Für die Rechtsgestalt der Waldorfschulen hatte diese rechtlich-politische Situation eine gewisse Bedeutung. Ausschlaggebend war, ob die Dokumente zur Rechtsform nach staatlichen Kriterien erstellt werden konnten und wurden, das Wie, d. h., die inhaltliche, pädagogische Diskussion, blieb den Waldorfschulen weitgehend selbst überlassen. Wenn also die formalen, äußerlichen, messbaren Vorgaben, wie Schul- und Unterrichtsordnung, Unterrichtszeit, Stundenausmaß (Stundentafel), Schuljahrgliederung, Vergleichbarkeit der Ergebnisse auf bestimmten Schulstufen (Bildungsniveaus), nachweisbar erfüllt waren, konnten die Waldorfschulen ihren Lehrplan ohne enge Schranken umsetzen, wie eben die Fachebenen an öffentlichen Schulen in Durchführung der ministeriellen Lehrpläne auch eine gewisse Autonomie besaßen; daraus folgte, dass selbst die im öffentlichen Schulwesen nicht üblichen Fächer und Praktika (wie z.B. Gartenbau, Technologie, Schultheater, Sozialund Industriepraktika) akzeptiert wurden. Die besonderen Unterrichtsmethoden standen ohnedies nie infrage (wie z.B. Teamarbeiten, Projekte, Epochen-/Blockunterricht, Beachtung des Biorhythmus im Unterricht). Die Schulinspektoren bewunderten oft die didaktische Art, Ergebnisse zu erzielen, z.B. die Lesefreudigkeit in den Kindern bleibend zu verankern – trotz neuer Medien und Fernsehen. Viele Pädagogen erinnerten an die Konzepte der „Bundeserziehungsanstalten“, die seinerzeit praktische und handwerkliche Fächer in den Lehrplan der kognitiven Fächer einbezogen hatten; davon besteht nur mehr eine Schule im Land Salzburg. Die Einführung von Projektarbeiten an öffentlichen Schulen erscheint sogar von der Arbeit der Waldorfschulen mitinspiriert worden zu sein. Die künstlerische und praktische Durchdringung des Lehr­

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stoffes mag im Vergleich zu öffentlichen Sekundarschulen dagegen ein Defizit an Fachwissen nach sich ziehen, die Zusammensetzung der Klassen mit verschiedenen Begabungen und körperlichen Fähigkeiten mag wegen der unterschiedlichen Leistungsgruppen einheitliche Ergebnisse vermissen lassen. Unbeachtet sollte aber nicht bleiben, dass Waldorfschüler und -schülerinnen auch andere als kognitive Fähigkeiten erwerben und als tatsächlich erzielt und erworben nachweisen müssen. Der Abschluss der Sekundarstufe II, der nach allgemeinen öffentlichen Kriterien gestaltet ist und externe Prüfer in die Schule bringt, zeigt im Durchschnitt, dass vergleichbare Ergebnisse erzielt werden (können). Zusammenfassend: Der Waldorflehrplan blieb trotz der Beachtung der zahlreichen Rechtselemente staatlicher Prägung vollgültig erhalten – wie das ungetrübte Wasser eines Baches, der um Begrenzungen und Steine im Bachbett herum seinen Wiesenweg findet.

Nachwort Es ist kein Paradoxon, dass gerade in Österreich eine hier entwickelte Reformpädagogik, in Grundzügen aus guten Elementen des Habsburger Erbes erwachsen, lange verdrängt und spät beachtet wurde. Aus dem „Kulturkampf“, zu dem auch die Ablehnung Rudolf Steiners und seiner Initiativen, wie z.B. der Waldorfschule, durch die Katholische Kirche gehört, lassen sich Ausgrenzung und Nichtbeachtung der Waldorfschulen in Österreich nicht ableiten. Die Etablierung der Waldorfschulen in Österreich, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, war aus anderen als bildungsphilosophischen Gründen schwierig und erst verspätet möglich. Dennoch ist die Anerkennung der Waldorfpädagogik durch das öffentliche österreichische Schulwesen eine späte Respektierung der Bildungsphilosophie Rudolf Steiners und ihrer Weiterentwicklung. Heute wird die Reformpädagogik wiederum studiert und geachtet, die alternativen Päda­gogiken sind willkommen, die Atmosphäre ist freier geworden, die Diskussionen über Bildung und Schulen sind internationalisiert. Innerhalb dieses Prozesses spielten die Waldorfschulen eine anregende Rolle. Bildungsreformen übernahmen und übernehmen dennoch kaum Elemente der Reformpädagogik, genauso wenig, wie sie in der Regel erziehungswissenschaftliche Ergebnisse umsetzen; inhaltliche Dialoge im öffentlichen Raum fehlen, organisatorische und personalpolitische Auseinandersetzungen überwiegen. Bildungsreformen entstehen eben eher durch (innen)politische Mechanismen als durch die fachpädagogischen Argumente und Anregungen. Den staatlichen Mechanismen widerspricht und widersteht die Waldorfpädagogik prinzipiell; Erziehung und Bildung sind im autonomen Schulbereich pädagogische Aufgaben der Lehrer und Lehrerinnen, möglichst freizuhalten von gesellschaftlichem Druck und politischen Vorgaben.

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Anmerkungen 1 Nota bene: Der Beitrag versucht, in allgemein verständlicher Weise die Rechtslage der österreichischen Waldorfschulen darzustellen. Er handelt zwar von Rechtsfragen, ist aber keine rechtliche, rechtswissenschaftliche Abhandlung; daher fehlen umfassende Rechtsquellenangaben und Hinweise auf die wissenschaftliche Literatur – mit wenigen Ausnahmen, die für den interessierten Leser gedacht sind. Die Interpretation der geschichtlichen Kontexte in der Entwicklung des Schulwesens, bezogen auf die Waldorfschulen, wird hier erstmals vorgestellt; sie könnte also ohnedies nicht mit Literaturhinweisen unterstützt werden.

Zu den Gründungsjahren der österreichischen Waldorfschulen siehe Schulberichte, das Orchester

2 Für Interessierte: F. Jonak/L. Kövesi, Das österreichische Schulrecht, zuletzt in 11. Auflage, Wien. 2007. 3 Georg Barkhoff 4 In der Folge entstand daraus die im Auftrag des Haager Kreises unternommene Arbeit: T. Richter (Hg.). Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele – vom Lehrplan der Waldorfschule. Stuttgart. 2003, jetzt in 3. Auflage 2010. 5 Fred Sinowatz, Bundesminister für Unterricht und Kunst 1975 bis 1983. 6 Bronja Zahlingen (siehe Bronja Zahlingen, Leben und Wirken), Linda und Raoul Kneucker. 7 Für Interessierte: A. Rinnerthaler (Hg.), Das kirchliche Privatschulwesen – historische, pastorale, rechtliche und ökonomische Aspekte. Frankfurt/Wien. 2007. H. Kalb/R. Potz/B. Schinkele. Religionsrecht, Wien. 2003. H. Engel­ brecht, Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht auf dem Boden Österreichs, Wien 1988

D i e L e h r p l a n g e s ta lt Tobias Richter

In meinem Bücherregal gibt es eine Abteilung „Lehrplan“. Bevor ich mit dem Schreiben dieser Abhandlung begann, schaute ich nach, was ich von diesem Bestand verwenden würde. Die Sammlung reicht vom Waldorfklassiker Caroline von Heydebrand („Vom Lehrplan der Freien Waldorfschule“ 1925) über „den Stockmeyer“ („Rudolf Steiners Lehrplan für die Waldorfschulen“, interner Manuskriptdruck für Waldorflehrer, 1955), verschiedene Ausarbeitungen deutscher, dänischer, norwegischer und kroatischer Waldorfschulen, Kompendien zum Waldorfcurriculum bis zum voluminösen, mehr als 600-seitigen Opus „Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele – vom Lehrplan der Waldorfschule“. Dazwischen stehen noch eine englische und ungarische Übersetzung des letztgenannten Titels und – ganz klein und schmal – einige Lehrplanheftchen aus der Anfangszeit der Waldorfschule in Wien. Mit diesen Heftchen ausgestattet, die sich allesamt auf die 52 Seiten umfassende Arbeit Caroline von Heydebrands bezogen, arbeiteten wir Lehrer bis in die 70er-Jahre. Natürlich stand uns der vorhin genannte Stockmeyer zur Verfügung und wir benutzten alle im pädagogischen Werk Rudolf Steiners zu findenden (aber oft erst zu suchenden) Lehrplanhinweise. Um bildlich auszudrücken: Wir errichteten aus einzelnen Bauelementen oft sehr individuelle Häuser, Bungalows, Villen – je nach Fähigkeiten der Architekten und nach den Bedürfnissen der Bewohner. Oft gab es Mauerlücken, schlossen die Türen nicht richtig, war das Fundament zu wackelig oder das Dach löchrig. Dass dies den in einem solchen Gebäude lebenden Bewohnern – gemeint sind hier natürlich die Schülerinnen und Schüler – nichts ausmachte oder immer gut bekam, wäre fahrlässig zu behaupten; lebendig und bunt ging es ganz sicher zu – aber manchmal doch auch zu lebendig und kunterbunt … Immerhin reichte dieser Lehrplan aus, um 1971 die Anerkennung der Rudolf-SteinerSchule in Wien-Mauer als „zur Erfüllung der Schulpflicht geeignet“ zu erhalten. Dann ging es um die Erlangung des Öffentlichkeitsrechtes auf Dauer für die 12-klassige Rudolf-Steiner-Schule. Dazu mussten ein umfangreiches und detailliert ausgearbeitetes Organisationsstatut erstellt und ein konkreter und strukturierter Lehrplan ausgearbeitet werden. Diese Lehrplanarbeit wurde vom gesamten Kollegium der Rudolf-Steiner-Schule durchgeführt. Es gab eine kleine Koordinationsgruppe von Lehrern, der ich angehörte, die zusammen mit dem Rechtsberater der Schule, Raoul Kneucker, die Richtlinien besprachen und diese dann dem Kollegium kommunizieren mussten. Letzteres war nicht immer leicht. Elisabeth

Die Lehrplangestalt

Skizze zum Lehrplan

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Gergely nahm an diesen Besprechungen nicht nur teil, sondern half uns, einen Waldorflehrplan mit österreichischer Note zu konzipieren. Es entstand ein Rahmenlehrplan, der aber nicht mehr dem Rechtstopos „Schule mit ausländischem Lehrplan“ entsprach. Die „Architektur“ war wohl auf der Menschenkunde Rudolf Steiners und den dazugehörenden Lehrplanvorträgen gegründet, der „Baustil“ aber war einer, der sich auf die österreichische Kultur und die darin aufwachsenden Kinder und Jugendlichen bezog. Dieser Lehrplan wurde bei der Schulbehörde eingereicht und mit dem dazugehörenden Organisationsstatut auch genehmigt. Mit der Verleihung des Öffentlichkeitsrechtes auf Dauer im Jahr 1983 war ein wesentliches Etappenziel erreicht. Christian Hitsch als Kollege und Künstler, der sich an Goethes Metamorphosenlehre immerfort schulte, wurde in dieser Phase – sie fiel in die Zeit des Festsaalbaues – nicht müde, plastische Formen zusammen mit den Schülern und dem Kollegium zu suchen, welche in Beziehung zur menschlichen Entwicklungsdynamik gebracht werden konnten. Diese künstlerischen Übungen beeinflussten – besser wäre es zu sagen: befruchteten – auch die zeitgleich stattfindende Arbeit am Lehrplan. Eine damals entstandene Lehrplanskizze, welche die auf die Entwicklungsmotive oder -fragen antwortenden Schuljahresthemen benennen möchte, verdeutlicht diese gemeinsame Suche: Freilich, es ist eine Skizze – ohne jeden Anspruch auf Verbindlichkeit. Damals begleitete sie uns jedoch und zeigt, dass Hauptmotive der Klassenstufen als „entwicklungsdynamischer Wirbel“ gelesen werden können: Aus der aperspektivischen Weite der Kindheit zur „Engführung“ in der Zeit der Erdenreife und von dort, in zunehmender Selbständigkeit, zur verantwortungsvollen Realisierung frei gewählter Aufgaben (was in der vorangehenden Skizze mit „Pflicht“ gemeint ist). Weiterhin waren wir jedoch mit der Tatsache konfrontiert, dass nach der 9. Schulstufe die Schüler eine Externistenhauptschulprüfung zu absolvieren hatten und später diejenigen, die eine Reifeprüfung anstrebten, zahlreiche Vorprüfungen zu bewältigen hatten, bevor sie zur Matura antreten durften. Wir wollten das ändern und aus diesem Grunde galt es, zwei Lehrplanvergleiche durchzuführen, für Hauptschulen und Gymnasien. Diese Arbeit begann bald nach der Verleihung des Öffentlichkeitsrechtes und zog sich über mehrere Jahre hin. In diesem Zusammenhang ist vor allem der damalige Oberstufenkollege Klaus Podirsky zu nennen, der mit einem kühnen Entwurf einen Lehrplan der Oberstufe entwarf, in welchem partiturgleich die Abgestimmtheit der einzelnen Unterrichtsthemen für die jeweilige Schulstufen in Erscheinung traten. Einen dementsprechenden Lehrplan für die Schulstufen 1 bis 8 auszuarbeiten, fiel dann mir zu. Diesem überblicksartigen „horizontalen“ Lehrplan schloss sich ein „vertikaler“ an, in welchem die anthropologisch-entwicklungsdynamisch begründeten Unterrichtsziele

Die Lehrplangestalt

Brief an das Unterrichtsministerium

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Brief an das Unterrichtsministerium, Fortsetzung

Pentatonische Variationen

Die Lehrplangestalt

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jedes Faches von der ersten bis zur zwölften Schulstufe beschrieben und die möglichen Lehrinhalte benannt waren. Dann mussten die Lehrpläne der österreichischen Hauptschulen und Gymnasien studiert werden, da es galt, Übereinstimmungen, Ähnlichkeiten und Unterschiede sichtbar zu machen und diese in zusätzlichen Ausarbeitungen der Schulbehörde vorzulegen. Um einen solchen Vergleich bis in alle Einzelheiten durchführen zu können, war es nötig, Stunden­ tafeln zu erstellen und Epochenzeiten in Lehreinheiten (Unterrichtsstunden pro Jahr) umzurechnen. Durch die Vernetzung der künstlerischen und praktischen Fächer mit den theoretischen, stellte dies ein aufwendiges Unterfangen dar, das in souveräner Weise von dem Kollegen Karl Hruza bewältigt wurde. In diese intensive und lang andauernde Lehrplanarbeit waren Kolleginnen und Kollegen aus allen Waldorf-/Rudolf-Steiner-Schulen Österreichs eingebunden, ging es doch darum, einen bundesweit gültigen Erlass zur Regulierung der Abschlussfragen für alle nach der Pädagogik Rudolf Steiners arbeitenden Schulen mit Öffentlichkeitsrecht zu erwirken. Im Jahre 1992 war die Arbeit abgeschlossen und konnte dem Bundesministerium für Unterricht und Kunst übergeben werden: In der Folge wurden 9 von 12 Vorprüfungen zur Externisten-Matura aufgehoben und das öffentliche Hauptschulzeugnis – als Abschluss der Pflichtschule – von den Lehrern der Waldorf-/Rudolf-Steiner-Schulen selbst ausgestellt. Somit war die Gleichwertigkeit der Waldorfpädagogik voll anerkannt. „… in deutscher Sprache liegt kein anderer vollständiger Lehrplan der Waldorfpädagogik vor.“

Dieser Satz steht in unserem Schreiben vom 18. November 1992 an das österreichische Unterrichtsministerium. Bei der Internationalen Konferenz der Waldorf-/Rudolf-Steiner-Schulen („Haager-Kreis“) im darauffolgenden Jahr legte ich den österreichischen Waldorflehrplan vor. Er wurde eingesehen, fand Zustimmung und ich erhielt den Auftrag, diesen für eine Buchveröffentlichung vorzubereiten – der ersten nach dem 1925 erschienen Bändchen von Caroline von Heydebrand. Die seit den Siebzigerjahren bestehende curriculare Diskussion ließ das von Heydebrand knapp und prägnant gezeichnete Bild als zu „durchlässig“ erscheinen. Darüber hinaus kritisierten zahlreiche Autoren, dass manche Lehrer Angaben zum Lehrplan zitierten, die nicht nachprüfbar seien, da sie nicht allgemein zugänglich vorlägen. Der neu zu erstellende Rahmenlehrplan sollte darüber Auskunft geben, welche fundierte pädagogische Arbeit an Waldorfschulen geleistet wird. Als dieser Lehrplan der deutschsprachigen Waldorflehrerschaft in einem Vorabdruck zur Kenntnis gebracht wurde, gab es zahlreiche heftige Reaktionen, die dreierlei deutlich machten:

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1. Jeder Waldorflehrer muss die Freiheit zur individuellen Lehrplangestaltung haben. Ein solches Buch könne als Vorschreibung verstanden werden. 2. Lehrfreiheit und Methodenfreiheit seien die oberste Gebote: Anders formuliert: „Wir Waldorflehrer wollen keinen öffentlich zugänglichen Lehrplan.“ Was darin als Unterrichtsinhalte beschrieben ist, könnte morgen womöglich von Eltern und Behörden eingefordert werden. 3. Was von „den Österreichern“ erarbeitet wurde, bezieht nicht in allen Punkten die Leistungen derjenigen Kolleginnen und Kollegen ein, die inzwischen (vor allem in Deutschland) als Fachbeiträge zu einzelnen Unterrichtsgebieten ausgearbeitet, publiziert und teilweise schon kanonisiert waren. Es gab jedoch auch andere Reaktionen, solche, die den Vorabdruck als Orientierungshilfe, als Material zur Öffentlichkeitsarbeit und für Genehmigungsverfahren dankbar begrüßten, doch gingen sie in den Turbulenzen der folgenden Diskussionen unter … Landauf, landab begann eine – teilweise sehr emotional geführte – Lehrplandebatte in den Waldorfkollegien. Wo diese zu echten, auch diskursiven Gesprächen über das, was mit einem Waldorflehrplan gemeint sein kann, führte, regte sie die didaktische Arbeit an. Dennoch stellte sich die Frage, ob das Projekt wieder eingestellt oder anders fortgesetzt werden sollte. Die Entscheidung der internationalen Konferenz der Waldorf-/Rudolf-SteinerSchulen lautete, kurz zusammengefasst: Neuer Anlauf! Die Pädagogische Forschungsstelle beim Bund der Waldorfschulen, Stuttgart, sagte ihre Mithilfe und Patronanz zu und es wurde darüber hinaus ein international besetztes Gremium von Waldorflehrern zur Mitarbeit eingeladen. Auf diese Weise konnten Einwände und Veränderungsvorschläge berücksichtigt und, wo notwendig, in neuen Fachgremien weiterbearbeitet werden. Auch daran zeigte sich, dass die Arbeit am Waldorflehrplan nur dann gedeihlich sein kann, wenn der Dialog gepflegt wird. Das war in Wien, dann in ganz Österreich so gewesen und musste notwendigerweise den weiteren Weg des Waldorflehrplanes begleiten. Im Jahre 1995 erschien als Manuskriptdruck eine Ausgabe, die – man war vorsichtig geworden – grundsätzlich orientierenden und beispielhaften Charakter hatte, ohne ausgewiesenermaßen im Einzelnen verpflichtendes Curriculum zu sein. Sie verdeutlichte aber, was im anthroposophischen Bildungs- und Erziehungskonzept als pädagogische Praxis veranlagt und zu entwickeln möglich ist. Sieben Jahre später folgte schließlich die erste, gegenüber dem Manuskriptdruck nochmals gründlich erweiterte und überarbeitete Buchveröffentlichung unter dem Titel Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele – vom Lehrplan der Waldorfschulen. Dieser Titel knüpfte bewusst an den Lehrplan Caroline von Heydebrands an und verband ihn mit seinem Vor­ läufer.

Die Lehrplangestalt

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Damit war und ist jedoch die Arbeit am Lehrplan nicht als abgeschlossen zu betrachten. Vor jeder Neuauflage – die inzwischen dritte Buchveröffentlichung erschien im Oktober 2010 – erging jeweils die Bitte an alle Kolleginnen und Kollegen, Änderungs- und Ergänzungsvorschläge einzusenden, um sie dann in die Bearbeitung einzubeziehen. So wächst der Lehrplan, doch dieses Wachstum ist nicht ein rein additives. Vieles kann besser, präziser formuliert werden und vor allem ergeben sich neue Bezüge bzw. diese sind im Dialog mit den Zeitfragen und der sich verändernden Situation der Kinder und Jugendlichen herzustellen. Daran zeigt sich, dass die Waldorfpädagogik eine dynamische Pädagogik ist. Und auch dafür soll diese Lehrplanarbeit stehen, die, wie könnte es anders sein, als „work in progress“ zu verstehen ist oder – um das Gestaltthema nochmals zu benennen – als „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“ (Goethe). Bildnachweis: Archiv des Herausgebers

A r b e i t a n d e r p h y s i s c h e n G e s ta lt

TR: Kehren wir zum Thema der Gestalt von „Haus und Hof“ zurück: Wie hast du den Schulausbau, das Schaffen von Räumen erlebt? EG: Der Einzug ins Maurer Schlössl bedeutete nicht das Ende der Bauarbeiten, ganz im Gegenteil: Es folgten Sanierungsarbeiten, Verschönerung, Umbau, Dachbodenausbau, Ergreifen des Wirtschaftstraktes, auch hier Umbau, Ausbau, alles blieb im Rahmen der Vorgaben, dieses bestmöglich zu nutzen, jedoch noch nicht zu gestalten. Dazu war die Zeit noch nicht reif, die innere Möglichkeit noch nicht gegeben. 1972 kam die Grundsteinlegung für einen Kindergartenbau. Aus der gemeinsamen Planung eines Schulvater-Architekten und einer erfahrenen Kindergärtnerin entstand ein ansprechender Bau, der 1973 von fröhlichen Kinderscharen ergriffen wurde und sich als Lebensraum für drei Kindergartengruppen bestens bewährt hat. Später wurde auch dieses Gebäude zu klein, musste umgebaut und erweitert werden, sodass auch eine Kleinkindgruppe Platz fand. Nach diesen Bauleistungen – und den damit verknüpften Finanzierungsproblemen – wünsch­ten sich viele eine Baupause, um neue Kräfte zu sammeln, denn stets war es unser Anliegen, die nach außen sichtbar werdenden Schritte im Einklang, im Gleichgewicht zu halten mit der inneren Entwicklung. 1974 wurde uns das dem Maurer Schlössl gegenüberliegende Haus zum Kauf angeboten; da in unmittelbarer Umgebung kaum jemals eine Liegenschaft angeboten wird, griffen wir zu und konnten in einem Jahr den vollen Kaufpreis von 4,5 Millionen Schilling aufbringen. Damit war nun auch ein Garten mit altem Baumbestand als Bewegungsraum für die Schüler unser Eigen. Die nächsten Jahre waren wir mit diesem Haus beschäftigt, in nicht ganz so altem Gemäuer wie im Maurer Schlössl, doch auch hier instandsetzend, umbauend, ausbauend. Im Jahre 1980 schließlich übernahmen wir in unmittelbarer Nähe ein zweites, leerstehendes Schulhaus von der Stadt Wien. Das war eine glückliche Fügung, denn die Schüleranmeldungen nahmen fast explosionsartig zu. Damals wurde dann eine zweite Wiener Schule geplant und dieses Projekt galt als Vorstufe für die vollständige Loslösung von der Mutterschule. Damit konnten wir den heranwachsenden so genannten A-Klassen den nötigen Schulraum geben und eine gewisse Eigenständigkeit ermöglichen. Es fehlte aber noch ein Festsaal, der groß genug für die ganze Schulgemeinschaft war. Das Schlössl selbst musste in seiner wohlproportionierten Gestalt erhalten bleiben, der straßenseitige Anblick des Ensembles durfte aus Gründen des Denkmalschutzes nicht verändert werden, der öffentliche Park gestattete auch keine nennenswerte Vergrößerung der zur Verfügung stehenden Grundfläche, einzig der Hof innerhalb des Nebengebäudes bot sich als

Das Werden der Innengestalt

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„freies“ Gelände an. Nach reiflichem Erwägen und Prüfen verschiedener Möglichkeiten wurde mit der Planung durch Architekt Manfred Kobel und unseren Werk- und Kunstlehrer Christian Hitsch begonnen.

Da s W e r d e n d e r I n n e n g e s ta lt Christian Hitsch Bevor der Ausbau des Festsaales und eines Oberstufentraktes begann, entstanden im Werkunterricht der Klassen zehn bis zwölf größere Gemeinschaftsarbeiten, die sich um das Thema der Metamorphose im Plastischen bewegten: Die eine Form entspringt dabei immer aus der vorangegangenen bzw. ein und dasselbe „Motiv“ erscheint, sich verwandelnd, durch alle Stufen hindurch. Die Schüler hatten also die Aufgabe, nicht nur in unmittelbarer Tätigkeit aufeinander Rücksicht zu nehmen, sondern ihre Schnitzarbeit in das Ganze so einzufügen, wie sich etwa die Blätter einer Pflanze in deren ganzen Bau und deren Verwandlungen eingliedern. Damit waren Arbeiten entstanden, die über das hinausreichen, was ein Einzelner zu leisten vermag. Wenn es sich da auch um Übungen des Plastizier- und Werkunterrichtes handelte, so wurde doch im Keime dasjenige sichtbar, was im Folgenden beschrieben werden soll. In Zusammenarbeit mit Manfred Kobel als bauführendem Architekten ergaben sich dann immer mehr Ansätze, am Entwerfen der Innengestalt aus eigenen Kräften der Schule heraus mitzuwirken. Modelle wurden entwickelt, die ein stufenweises Sich-Hinein-Fühlen in das Gegebene möglich machten. Während der Arbeit an den Modellen lebte neben dem „Gespräch“ mit dem Vorhandenen immer die Frage: Wie wirken die Formen und Proportionen auf den Menschen? In unserem Falle ging es um den werdenden Menschen, der zwölf Jahre in diesen Räumen leben, aus- und eingehen wird. Ein zweites Gestaltungsmotiv hing mit dem „Altbau“ zusammen – schließlich galt es, auch diesen zu würdigen: Über jedem Fenster und Tor des Altbaues befindet sich eine Art Schlussstein. Es scheint dieser ein „Ausdrucksrest“ einer ursprünglichen Bauempfindung zu sein, welche im „An-den-Schluss-Stellen“ eines Steines einen besonderen Kraftpunkt sah. So haben wir versucht, diese Gestaltungsidee in verwandelter Form und organisch in den Neubau aufzunehmen – heute ist sie beim Eingang in den Saal und bei der Bühnenöffnung sichtbar. Zugleich wollten wir dem „Geschehen“ an den jeweiligen Stellen des Baus Rechnung tragen. Wir orientierten uns am Goetheanum-Bauimpuls Rudolf Steiners, um in den neuen

Das Werden der Innengestalt

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„freies“ Gelände an. Nach reiflichem Erwägen und Prüfen verschiedener Möglichkeiten wurde mit der Planung durch Architekt Manfred Kobel und unseren Werk- und Kunstlehrer Christian Hitsch begonnen.

Da s W e r d e n d e r I n n e n g e s ta lt Christian Hitsch Bevor der Ausbau des Festsaales und eines Oberstufentraktes begann, entstanden im Werkunterricht der Klassen zehn bis zwölf größere Gemeinschaftsarbeiten, die sich um das Thema der Metamorphose im Plastischen bewegten: Die eine Form entspringt dabei immer aus der vorangegangenen bzw. ein und dasselbe „Motiv“ erscheint, sich verwandelnd, durch alle Stufen hindurch. Die Schüler hatten also die Aufgabe, nicht nur in unmittelbarer Tätigkeit aufeinander Rücksicht zu nehmen, sondern ihre Schnitzarbeit in das Ganze so einzufügen, wie sich etwa die Blätter einer Pflanze in deren ganzen Bau und deren Verwandlungen eingliedern. Damit waren Arbeiten entstanden, die über das hinausreichen, was ein Einzelner zu leisten vermag. Wenn es sich da auch um Übungen des Plastizier- und Werkunterrichtes handelte, so wurde doch im Keime dasjenige sichtbar, was im Folgenden beschrieben werden soll. In Zusammenarbeit mit Manfred Kobel als bauführendem Architekten ergaben sich dann immer mehr Ansätze, am Entwerfen der Innengestalt aus eigenen Kräften der Schule heraus mitzuwirken. Modelle wurden entwickelt, die ein stufenweises Sich-Hinein-Fühlen in das Gegebene möglich machten. Während der Arbeit an den Modellen lebte neben dem „Gespräch“ mit dem Vorhandenen immer die Frage: Wie wirken die Formen und Proportionen auf den Menschen? In unserem Falle ging es um den werdenden Menschen, der zwölf Jahre in diesen Räumen leben, aus- und eingehen wird. Ein zweites Gestaltungsmotiv hing mit dem „Altbau“ zusammen – schließlich galt es, auch diesen zu würdigen: Über jedem Fenster und Tor des Altbaues befindet sich eine Art Schlussstein. Es scheint dieser ein „Ausdrucksrest“ einer ursprünglichen Bauempfindung zu sein, welche im „An-den-Schluss-Stellen“ eines Steines einen besonderen Kraftpunkt sah. So haben wir versucht, diese Gestaltungsidee in verwandelter Form und organisch in den Neubau aufzunehmen – heute ist sie beim Eingang in den Saal und bei der Bühnenöffnung sichtbar. Zugleich wollten wir dem „Geschehen“ an den jeweiligen Stellen des Baus Rechnung tragen. Wir orientierten uns am Goetheanum-Bauimpuls Rudolf Steiners, um in den neuen

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Pentatonische Variationen

Schluss-Stein Altbau

Schluss-Stein Eingang Festsaal

Räumen der Schule sichtbar zu machen, was ohne eine jahrelange Auseinandersetzung mit diesem Impuls nicht sichtbar geworden wäre. An dieser Stelle sei im Besonderen auf die Tätigkeit des „Goetheanistischen Arbeitskreises“ um Wilhelm Reichert in Wuppertal hingewiesen (aus diesem Arbeitskreis kamen im Sommer 1982 viele freiwillige Helfer zu uns). Das Suchen in Bezug auf das Plastisch-Architektonische sollte die Formen immer aus einem inneren Prinzip selber herausholen und erfassen und nicht einfach nur die Formen, etwa des Goetheanums in Dornach, äußerlich nachahmen. Als der Bau noch im Rohzustand war, schnitzten Schülerinnen und Schüler die Rahmen von acht Türen, welche zwar je nach Ort und Situation verschieden, jedoch aus ein- und demselben Prinzip heraus gebildet worden waren. Wir stellten uns die Frage: Was können wir aus unserer Arbeit mit den Schülern und mit Helfern (Eltern, Lehrern und Freunden) selber leisten? Das schien aus der „Not der Mittel“ ebenso zu entspringen wie aus dem Wollen, nicht einfach einen „schlüsselfertigen Bau“ vollendet erstellen zu lassen (der es einer Schule später schwermachen könnte, ihn auch innerlich zu ergreifen). Mit jedem Stück wuchsen der Mut und die Zuversicht, auch jene größeren Arbeiten, die der Innenbau mit sich brachte, selber meistern zu wollen. Durch die Schüler und ihre unvoreingenommene „Willenshaltung“ war es allein möglich, in dieses Wagnis einzutreten,

Das Werden der Innengestalt

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Festsaal, Bühne mit Rednerpult

das Zusammenarbeiten von Fachleuten mit Laien, Eltern, Lehrern, Schülern und Freunden auf größere künstlerische Aufgaben auszuweiten. Im Sommer und Herbst 1982 wurden in diesem Sinne die meisten Räume des Altbaues und alle Räume des Neubaues lasiert und gefärbt und auch die nötigen Schnitzarbeiten geleistet. Die Freude am künstlerischen Tun war groß, als die Späne von dem aus 13 Kubikmetern Rüsternholz verleimten Bühnenportal unter emsigen Hammerschlägen flogen. In neun Wochen täglichen Schnitzens konnte man die Formen herauswachsen sehen. Bald war das Modell vergessen und an Ort und Stelle die Gestalt gefunden. Ein dazupassendes Rednerpult und Heizkörpervorsätze entstanden. Die Reliefformen-Pilaster und der Träger zwischen den Saaltüren begannen, sich gleichsam zu bewegen, indem sie durch Betonmörtel aus den Wänden herausplastiziert wurden. Jetzt konnte man schon sehen, wie Formen, von jedem Mittelpfeiler ausgehend, links und rechts verschieden, an den Saalwänden sich zum Bühnenportal vorarbeiteten, um in der Mitte desselben über dem Rednerpult wieder zusammenzuwachsen. Immer dort, wo auf den Wänden ein Dachträger ruht, „antwortet“ die Wand – wo der Saal enger ist, weniger deutlich, wo er breiter wird, kräftiger und bewegter. Die vier Relief-Pilaster der linken Wand zeigen, wie ein Oberes, Lastendes stufenweise aufgenommen wird von einem Tragenden. Die der rechten Seite machen es umgekehrt, indem das Tragende sich aktiv in ein Lastendes hineinarbeitet.

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Pentatonische Variationen

Kapitelle links

Kapitelle rechts

Der Pfeiler in der Mitte der Rückwand bildet den Ausgangspunkt. In fünf Stufen wird ein Oberes (links) bzw. ein Unteres (rechts) verinnerlicht – „abgetrennt und aufgenommen“. Die 6. Stufe (Bühnenportal) zeigt dann ein Aufbrechen des Inneren, um sich im 7. Motiv, das die beiden Seiten zusammenführt, wiederzufinden (Bühnenportal, mittleres Motiv über der Bühne und unten am Bühnensockel).

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Das Werden der Innengestalt

So sind 12 Motive entstanden. Die 1. und 12. Form erscheinen als Ausgangspunkt bzw. Endpunkt der Formverwandlungen, deren es zwei mal sieben gibt, da ja eins und sieben beiden Metamorphosenreihen angehören. Da der Saal ein Mehrzweckraum sein musste und zudem die Maße in der Höhe, Breite und Länge vorgegeben waren, versuchten wir, durch die Gliederung und die Drehung der Dachflächen den Eindruck zu erwecken, dass der Raum sich nicht nur nach vorne, zur Bühne hin weitet, sondern auch höher erscheint. Als im Herbst die vielen Helfer abreisen mussten, weil die Schule wieder begann und alle Arbeit nun dem Ziele der Eröffnung

Metamorphosen-Rosette

12 Kapitell-Motive

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Pentatonische Variationen

zugewandt war, kamen die Schüler mit frischen Kräften aus den Ferien. In wenigen Wochen schälten sie (mit großen Eisen und Hämmern) die Türformen des Saales aus dem massiven Holz und ebenso den fahrbaren Bühnenvorsatz. Nicht weniger als 30 m2 Oberfläche waren da fein schnitzend zu spannen und zum Leben zu erwecken. Im Rückblick erscheint ganz gewiss, dass überall dort, wo der Versuch gewagt wurde, sich auf neuen Boden zu stellen, die Kräfte wie von selbst sich einstellten und organisierten. Die vielen Helfer – auch aus der Bundesrepublik Deutschland – kamen letztlich nicht nur, um der armen Wiener Schule zu helfen, sondern aus Liebe an künstlerischer Tätigkeit. Je mehr eine Arbeit liebevoll getan wird, umso mehr wird sie den Menschen dienen. Wo künstlerisch gearbeitet wird, werden diese Hingabekräfte geweckt; sie führen uns in den Zustand, der uns auf der Suche nach der Freiheit wird begleiten müssen: „Die Kunst ist die Frucht der freien Menschennatur. Man muss die Kunst lieben, wenn man ihre Notwendigkeit für das volle Menschenwesen einsehen will. Zur Liebe zwingt das Leben nicht. Es gedeiht aber nur in der Liebe. Es will sein Dasein in dem zwanglosen Elemente.“ (Rudolf Steiner, Pädagogik und Kunst, GA 36, Vortrag vom 1. April 1923)

Bildnachweis: Archiv Christian Hitsch

M at e r i e l l e G r u n d l a g e d e s G e s ta lt e n s

TR: Wie gelang die Finanzierung der zahlreichen Bauvorhaben? EG: Wir hatten für die Schulgründung 500.000 Schilling (ca. 36.000 Euro) vom weltbekannten Wiener Erzeuger von Musiksaiten, Otto Infeld, erhalten; das war unser Startvermögen. Den Pachtvertrag für das Maurer Schlössl verdanken wir der damaligen Vizebürgermeisterin Gertrud Fröhlich-Sandner. Ich hatte menschlich eine sehr gute Beziehung zu ihr und sie hat wirklich viel für die Schulbewegung getan. Ursprünglich hatte Fröhlich-Sandner für das Maurer Schlössl ein Offert für den Umbau in eine Jugendherberge in der Höhe von sieben Millionen Schilling vorliegen. Wir dagegen hatten nur eine halbe Million. Da habe ich ihr gesagt: „Frau Vizebürgermeisterin, natürlich machen wir das, wir müssen halt sehen, wie weit wir mit der halben Million kommen.“ Mit großer Anteilnahme, sie war ja auch Lehrerin gewesen, hat sie dann immer unsere Berichte über den Fortgang der Arbeit gelesen. Nun berichte ich eine Episode, die – glaube ich – typisch ist für Österreich: Wir waren gerade ins Maurer Schlössl eingezogen und eine große feierliche Eröffnung mit Vizebürgermeisterin Fröhlich-Sandner hatte stattgefunden. Dann kam Nikolo. An diesem Tag erhielt ich einen Anruf aus dem Rathaus vom Büro der Vizebürgermeisterin: „Wissen S�, Frau Doktor, ich muss Ihnen das unbedingt jetzt sagen, ich komm’ direkt aus dem Gemeinderat, Sie kriegen eine Million Schilling (ca. 72.000 Euro), einfach geschenkt! Aber sagen Sie es net ­weiter!“ Das war der schönste Nikolo, an den ich mich erinnere. Ich empfand es als Anerkennung der Leistung, das Schlösschen in einen sehr respektablen Zustand versetzt zu haben. Spätestens seit diesem Erlebnis beschäftigte mich die Frage nach den unterschiedlichen Qualitäten von Schenkgeld, Leihgeld und Zahlgeld. Wichtige Impulse gingen für mich diesbezüglich von Wilhelm Ernst Barkhoff aus.

D i e W i r t sch a f t sg e sta lt – G e l d a l s sozi a l e s Me d i um Elisabeth Gergely Die erste Begegnung mit Wilhelm Ernst Barkhoff, dem Begründer des anthroposophisch orientierten Bankwesens, fand in den 70er-Jahren anlässlich der jährlichen Schulvereinstagung in Stuttgart statt. Sie wurde für mich zu einem tiefgreifenden Erlebnis: Es sprach hier ein Mensch von einer neuen Sicht in die Natur des Geldes: Dieses sozialwirtschaftlich

M at e r i e l l e G r u n d l a g e d e s G e s ta lt e n s

TR: Wie gelang die Finanzierung der zahlreichen Bauvorhaben? EG: Wir hatten für die Schulgründung 500.000 Schilling (ca. 36.000 Euro) vom weltbekannten Wiener Erzeuger von Musiksaiten, Otto Infeld, erhalten; das war unser Startvermögen. Den Pachtvertrag für das Maurer Schlössl verdanken wir der damaligen Vizebürgermeisterin Gertrud Fröhlich-Sandner. Ich hatte menschlich eine sehr gute Beziehung zu ihr und sie hat wirklich viel für die Schulbewegung getan. Ursprünglich hatte Fröhlich-Sandner für das Maurer Schlössl ein Offert für den Umbau in eine Jugendherberge in der Höhe von sieben Millionen Schilling vorliegen. Wir dagegen hatten nur eine halbe Million. Da habe ich ihr gesagt: „Frau Vizebürgermeisterin, natürlich machen wir das, wir müssen halt sehen, wie weit wir mit der halben Million kommen.“ Mit großer Anteilnahme, sie war ja auch Lehrerin gewesen, hat sie dann immer unsere Berichte über den Fortgang der Arbeit gelesen. Nun berichte ich eine Episode, die – glaube ich – typisch ist für Österreich: Wir waren gerade ins Maurer Schlössl eingezogen und eine große feierliche Eröffnung mit Vizebürgermeisterin Fröhlich-Sandner hatte stattgefunden. Dann kam Nikolo. An diesem Tag erhielt ich einen Anruf aus dem Rathaus vom Büro der Vizebürgermeisterin: „Wissen S�, Frau Doktor, ich muss Ihnen das unbedingt jetzt sagen, ich komm’ direkt aus dem Gemeinderat, Sie kriegen eine Million Schilling (ca. 72.000 Euro), einfach geschenkt! Aber sagen Sie es net ­weiter!“ Das war der schönste Nikolo, an den ich mich erinnere. Ich empfand es als Anerkennung der Leistung, das Schlösschen in einen sehr respektablen Zustand versetzt zu haben. Spätestens seit diesem Erlebnis beschäftigte mich die Frage nach den unterschiedlichen Qualitäten von Schenkgeld, Leihgeld und Zahlgeld. Wichtige Impulse gingen für mich diesbezüglich von Wilhelm Ernst Barkhoff aus.

D i e W i r t sch a f t sg e sta lt – G e l d a l s sozi a l e s Me d i um Elisabeth Gergely Die erste Begegnung mit Wilhelm Ernst Barkhoff, dem Begründer des anthroposophisch orientierten Bankwesens, fand in den 70er-Jahren anlässlich der jährlichen Schulvereinstagung in Stuttgart statt. Sie wurde für mich zu einem tiefgreifenden Erlebnis: Es sprach hier ein Mensch von einer neuen Sicht in die Natur des Geldes: Dieses sozialwirtschaftlich

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Pentatonische Variationen

verbindende Medium – vielfältig verkannt und missbraucht – sollte neu erkannt werden in den drei Prozessen von Zahlen, Leihen und Schenken. In drei Bochumer Einrichtungen – der Gemeinnützigen Treuhandstelle, der Kreditgarantie­ genossenschaft und der GLS Gemeinschaftsbank – wurden neue Wirtschaftsformen entwickelt. Die Erfahrungen aus der Lebenspraxis dieser neuen Wirtschaftsformen sollten ein neues Bewusstsein schaffen für den Umgang mit Geld. Was Barkhoff aussprach, war einleuchtend, dennoch klang es wie ein Märchen. Ein Märchen, das nicht beginnt mit: „Es war einmal“, sondern mit: „Es wird einmal sein und ist schon jetzt.“ Nicht soziale Theorien sind zu entwerfen, sondern individuelle Methoden und Handhabungen am jeweils konkreten Problem sind zu entwickeln. Denn nur eine wirklichkeitsgerechte geisteswissenschaftliche Forschung auf sozialem Gebiet kann zur Grundlage werden für die Pflege eines sozialen Lebens in die Zukunft hinein. Wieder zurückgekehrt in den Tätigkeitsfeldern der Maurer Schule, erschienen die wirtschaftlichen Fragen in einem völlig neuen Licht, doch war klar, dass dieses Licht erst individuell zu erarbeiten sein würde, sodass es wirksam werde im weiteren Schulaufbau, in der bevorstehenden Schulraumerweiterung, dem die ganze Schulgemeinschaft fassenden Festsaal und für die gesamte Raumgestalt der Wiener Rudolf-Steiner-Schule. Das Interesse in der Elternschaft und im Umkreis der Schule an den schöpferischen Impulsen von Barkhoff und seiner ersten Verwirklichung in den genannten Bochumer Einrichtungen war groß. So wurde es bald unser gemeinsames Ziel, die Raumgestalt der Wiener Rudolf-Steiner-Schule auf neuem Wege der Baufinanzierung zu errichten. Der geschätzte Finanzbedarf belief sich auf 12,5 Millionen Schilling (ca. 893.000 Euro). Für den Rohbau sollte ein Kredit von 6 Millionen Schilling (ca. 428.500 Euro) von der Raiffeisenbank zur Verfügung gestellt werden – leider zu dem damals hohen Zinssatz von 10%. Als Sicherung für die Bank sollten 300 Menschen aus dem Eltern- und Freundeskreis gefunden werden, von denen jeder eine Bürgschaft von je 20.000 Schilling (ca. 1.400 Euro) hätte übernehmen müssen. Aus diesem Anlass wurden Hunderte Gespräche von Menschen geführt, die bereits von den neuen Wegen der Geldgebarung überzeugt waren und die verbindende Kraft des Leihens erkannt hatten. Als die 300 Bürgen gefunden waren, veranstalteten wir einen „Bürgenabend“, um ein gemeinsames Bewusstsein für den Vorgang zu schaffen. Nach der Begrüßung und Einleitung meldete sich ein Bürge zu Wort: „Wenn ich eine Bürgschaft von 20.000 Schilling übernehme, muss ich diese Summe ja zur Verfügung haben. Ich möchte dieses Geld lieber der Schule direkt zur Verfügung stellen.“ Der Funke zündete! Die Idee des Gemeinschaftssparbuches war geboren. Die praktische Durchführung wurde gemeinsam mit dem Filialleiter der Raiffeisenbank Wien-Hietzing festgelegt. Verzichtete der Leihgeber auf Verzinsung seiner Einlage auf dem Gemeinschaftssparbuch, dann würde der Betrag als Zinsenbonus der Schule gutgeschrieben.

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Die Wirtschaftsgestalt

Das auf diesem Weg in zwei Jahren Erreichte ermöglichte uns, auf den Bürgschaftskredit völlig zu verzichten und die benötigten Leihgelder ausschließlich aus dem Gemeinschaftssparbuch zu beziehen. Sich von 300 Menschen bei einer Initiative in dieser konkreten Form getragen zu wissen, erhöhte das Verantwortungsbewusstsein, stärkte den Mut und regte neue schöpferische Möglichkeiten an. Bildnachweis: Archiv des Herausgebers

Gemeinschaftssparbuch, Brief Raiffeisenbank

Hermes- Österreich und der Ostfonds

TR: Wie kam es in der Folge zur Gründung einer bankähnlichen Einrichtung HERMES-Österreich? EG: Wilhelm Ernst Barkhoff als Pionier auf diesem Gebiet in Deutschland hat Entscheidendes für mich bewirkt. Bereits Ende der 70er-Jahre hatte sich auf meine Anregung in der Anthropo­ sophischen Gesellschaft eine Arbeitsgruppe gebildet mit dem langen Titel: „Initiativkreis zur Bildung wirtschaftlicher Gemeinschaftsformen auf anthroposophischer Grundlage.“ So entstand die Keimgruppe für eine Treuhandstelle, für HERMES eben, und für alles, was in Richtung einer Bank oder bankähnlichen Einrichtungen später entstanden ist. Zu dem Kreis von Menschen aus der Schule und der Anthroposophischen Gesellschaft, denen dieses Thema ein Anliegen war, kam später auch Margaret Hacker, langjährige Mitarbeiterin in einem Wiener Bankinstitut, die viel Erfahrung in Firmengründungen einbrachte, in die Leitung dieser Initiativ­gruppe dazu. TR: HERMES-Österreich hat also nicht nur Bestand bis heute, sondern entwickelt sich weiter, was dich als Mutter sicher mit Freude erfüllt … EG: … Mutter ist nicht ganz richtig, denn es gab viele Mütter und Väter. „Geburtshelferin“ wäre treffender. Die Bezeichnung Mutter könnte ich für die Einrichtung des „Ostfonds“ bei HERMES akzeptieren. Und wenn wir im Bild bleiben, so war das eine Art Notgeburt – eine Geburt aus der Not, denjenigen Menschen im Osten zu helfen, die nach der politischen Öffnung der Länder „hinter dem Eisernen Vorhang“ im Jahre 1989 eine waldorfpädagogische Ausbildung beginnen wollten, um in ihren Ländern anthroposophische Initiativen aufzubauen. Ich kann hier einen Beitrag anfügen, den ich zwölf Jahre nach der Begründung dieses Hilfsfonds geschrieben habe.

Ostfonds

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P r o f i l vo n HER M ES - Ö s t e r r e i c h Theresia Bitzner HERMES-Österreich ist 1982 als bankähnliches Institut durch den Einsatz von Margaret ­Hacker gegründet worden, die in Zusammenarbeit mit anderen Proponenten die Vereinsstatuten ausarbeitete und Vorgespräche für das bankähnliche Institut führte. Seither verwaltet HERMES-Österreich Leihgelder von Menschen und Einrichtungen treuhänderisch und vergibt Kredite in Zusammenarbeit mit dem Bankhaus Spängler, zum großen Teil an Waldorfschulen und -kindergärten, heilpädagogische und sozialtherapeutische Einrichtungen, an die biologische und biologisch-dynamische Landwirtschaft, an den Biohandel, an Unternehmen im Umweltbereich, anthroposophische Arztpraxen und Heilmittelherstellung, Ausbildungsstätten und Kunstwerkstätten. Damit konnte der Auf- und Ausbau der Waldorfpädagogik in Österreich finanziert werden. Durch Zinsspenden wurden Schenkgeldfonds eingerichtet, zum Beispiel der Studienfonds, der vielen Studierenden an anthroposophischen Ausbildungsstätten seit fast dreißig Jahren das Studiengeld vorfinanziert. Studiendarlehen an die Studierenden aus dem erweiterten Europa wurden durch Spenden der Anthroposophischen Gesellschaft, der GTS-Treuhand und HERMES-Österreich ermöglicht. Ebenso konnten aus der Sozialhilfe, der Altershilfe, aus dem Eurythmiefonds, dem Fonds für Landwirtschaft und Saatgut und dem Fonds für Initiativen Menschen und Projekte unterstützt werden. Die steigende Nachfrage nach einer solchen, nicht auf Gewinn gerichteten Art des transparenten, solidarischen Geldumgangs kann in Zukunft eine Weiterentwicklung zur Bank ermöglichen.

Ostfonds Elisabeth Gergely Mit der Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ im Jahr 1989 wurde der Ostfonds ins Leben gerufen, um den nun möglich gewordenen Aufbau der Anthroposophischen Gesellschaft und der Waldorfschulbewegung im östlichen Europa zu unterstützen. Die „Anthroposophische Gesellschaft, Landesgesellschaft Österreich“ und die Vereinigung „Freie Bildungsstätten auf anthroposophischer Grundlage in Österreich“ übernahmen es gemeinsam, die finanzielle Basis für diese Aufgabe zu schaffen. Ein Legat, das von der Treuhandstelle der Landes­ gesellschaft eingebracht wurde, bildete die Basis. Von der GLS-Bank in Bochum und von HERMES-Österreich erfolgten Zuwendungen und auch ein Spendenfluss von Seiten der

Ostfonds

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P r o f i l vo n HER M ES - Ö s t e r r e i c h Theresia Bitzner HERMES-Österreich ist 1982 als bankähnliches Institut durch den Einsatz von Margaret ­Hacker gegründet worden, die in Zusammenarbeit mit anderen Proponenten die Vereinsstatuten ausarbeitete und Vorgespräche für das bankähnliche Institut führte. Seither verwaltet HERMES-Österreich Leihgelder von Menschen und Einrichtungen treuhänderisch und vergibt Kredite in Zusammenarbeit mit dem Bankhaus Spängler, zum großen Teil an Waldorfschulen und -kindergärten, heilpädagogische und sozialtherapeutische Einrichtungen, an die biologische und biologisch-dynamische Landwirtschaft, an den Biohandel, an Unternehmen im Umweltbereich, anthroposophische Arztpraxen und Heilmittelherstellung, Ausbildungsstätten und Kunstwerkstätten. Damit konnte der Auf- und Ausbau der Waldorfpädagogik in Österreich finanziert werden. Durch Zinsspenden wurden Schenkgeldfonds eingerichtet, zum Beispiel der Studienfonds, der vielen Studierenden an anthroposophischen Ausbildungsstätten seit fast dreißig Jahren das Studiengeld vorfinanziert. Studiendarlehen an die Studierenden aus dem erweiterten Europa wurden durch Spenden der Anthroposophischen Gesellschaft, der GTS-Treuhand und HERMES-Österreich ermöglicht. Ebenso konnten aus der Sozialhilfe, der Altershilfe, aus dem Eurythmiefonds, dem Fonds für Landwirtschaft und Saatgut und dem Fonds für Initiativen Menschen und Projekte unterstützt werden. Die steigende Nachfrage nach einer solchen, nicht auf Gewinn gerichteten Art des transparenten, solidarischen Geldumgangs kann in Zukunft eine Weiterentwicklung zur Bank ermöglichen.

Ostfonds Elisabeth Gergely Mit der Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ im Jahr 1989 wurde der Ostfonds ins Leben gerufen, um den nun möglich gewordenen Aufbau der Anthroposophischen Gesellschaft und der Waldorfschulbewegung im östlichen Europa zu unterstützen. Die „Anthroposophische Gesellschaft, Landesgesellschaft Österreich“ und die Vereinigung „Freie Bildungsstätten auf anthroposophischer Grundlage in Österreich“ übernahmen es gemeinsam, die finanzielle Basis für diese Aufgabe zu schaffen. Ein Legat, das von der Treuhandstelle der Landes­ gesellschaft eingebracht wurde, bildete die Basis. Von der GLS-Bank in Bochum und von HERMES-Österreich erfolgten Zuwendungen und auch ein Spendenfluss von Seiten der

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Pentatonische Variationen

österreichischen Schulbewegung und der Anthroposophischen Gesellschaft sowie vieler einzelner Menschen setzte ein. Wichtige Aufbauarbeit in den Ländern des ehemaligen Ostblocks konnte mit diesen Mitteln geleistet werden. Es wurden Studenten aus osteuropäischen Ländern an der Eurythmieschule und der „Goetheanistischen Studienstätte“ durch Stipendien unterstützt. Pädagogische Intensivkurse des periodischen Seminars in Kroatien und Slowenien wurden in Wien, Zagreb und Ljubljana durchgeführt. Die so ausgebildeten Waldorflehrer arbeiten heute an den Schulen in Ljubljana (gegründet 1992) und Zagreb (gegründet 1993). Tobias Richter als ein Verantwortlicher der Ausbildung für die slowenischen und kroatischen Waldorflehrer, welche 1991 begann, setzte als Mentor der Zagreber Schule dieses Aufbauwerk in Kroatien und Bosnien fort. Im Herbst 2000 konnte so eine staatlich anerkannte studien- und berufsbegleitende Ausbildung an der Universität Zagreb mit 30 Studentinnen und Studenten beginnen. Durch die Bereitschaft von Hermes-Österreich und der GLS Gemeinschaftsbank Bochum, nochmals für das Arbeitsjahr 2000/2001 ihre Zuwendungen an den Ostfonds zu leisten, konnte den Studenten, denen ein Stipendium zugesagt worden war, dieses bis zum Abschluss ihrer Ausbildung gegeben werden.

Ein Blick in die Zukunft Der ursprüngliche Impuls von 1989 zur Schaffung des Ostfonds lebt ab 2001 in neuer Form weiter durch die Gründung des Zentrums für Kultur und Pädagogik-Wien, dessen Lehrgang Waldorfpädagogik parallel zu dem in Kroatien geführt wird. Es besteht der ernste Vorsatz der Verantwortlichen für beide Lehrgänge, Tobias Richter vom Zentrum und Slavica Bašić von der Pedagoško ućilište/Zagreb, in den jährlichen mehrwöchigen Intensivkursen die Teilnehmer von Zagreb und Wien zu gemeinsamem Studium, künstlerischen Aktivitäten, persönlichem Austausch zusammenzuführen und so einen, wenn auch bescheidenen Beitrag zu leisten zu einer gedeihlichen Entwicklung eines erweiterten Europas und im besonderen seiner südost-mitteleuropäischen Region. Für diese von Wien ausgegangenen Ostaktivitäten engagierten sich später auch ausländische Stiftungen, wie z. B. die IONA-STICHTING aus Holland, die Stuttgarter HAUSSER-STIFTUNG und dann vor allem die deutsche SOFTWARE AG-STIFTUNG. Diese Unterstützungen, sei es durch Stipendien, Beiträge zum Studenten und Dozentenaustausch usw., wurden nicht zuletzt in Anerkennung der österreichischen Bemühungen zur Schaffung des Ostfonds geleistet.

Die Wiederholung eines Motivs

TR: Nach der Schule in Wien-Mauer wurden in Österreich zahlreiche weitere Schulen und Kindergärten gegründet. Welche Rolle spielten die Wiener dabei? EG: „Der Wasserkopf Wien“ wird für viele in den Bundesländern als ein gewisses Problem gesehen. Wenn man an die Schulgründungen in Linz, Klagenfurt, Graz, Salzburg, Wien-Pötzleinsdorf usw. denkt, überall sind Wiener Kollegen Pate gestanden (siehe Das Orchester – Schulberichte). TR: Als die Waldorflehrerausbildung in Wien begann, reiste regelmäßig eine Gruppe aus Graz zu den berufsbegleitenden Kursen an, um sich auf die Arbeit an der geplanten Schule in Graz vorzubereiten. EG: Ähnliches gilt für die Ausbreitung der Waldorfkindergärten. Bronja Zahlingen (siehe Bronja Zahlingen, Leben und Wirken) hatte in der Kindergärtnerin Brigitte Goldmann eine kongeniale Kraft gefunden, die von Wien aus die Kindergärten betreute und eine bis heute sehr erfolgreiche Kindergärtnerinnenausbildung ins Leben rief. TR: Wie ist die Gründung der Karl-Schubert-Schule für seelenpflege-bedürftige Kinder zustande gekommen? EG: Hier hat das Ehepaar Agnes und Tobias Kühne Entscheidendes geleistet (siehe Der Ruf aus dem Osten). Sie hatten eine behinderte Tochter, für die sie nach einer entsprechenden Bildungseinrichtung suchten. Da es eine solche auf Grundlage der Waldorfpädagogik noch nicht gab, bemühten sie sich, eine solche zu gründen. Begonnen hat die Karl-Schubert-Schule in ­Kühnes Haus, mit den beiden Heilpädagoginnen Elisabeth Erdmenger und Geneviève Bachelet. TR: Gründungen sind einmalige Ereignisse – wiederholen sich gewisse Motive, Freuden und Schwierigkeiten, ähnlich einer musikalischen Rondoform? EG: Das ist natürlich so, die Motive zur Gründung von Waldorfschulen sind oft ähnliche … Immer ist aber ein Zentralmotiv wahrnehmbar: einen Beitrag zur Bildungserneuerung aus der Menschenkunde Rudolf Steiners leisten zu wollen. Natürlich bleiben die Schwierigkeiten nicht aus und sind wohl auch notwendig, um daran zu reifen oder sich immer wieder zu prüfen, wie ernst man es meint. Doch wollten wir Wiener, die wir ja eine gewisse Vorreiterrolle spielten,

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Rondo

den anderen Schulen, so gut es ging, beistehen. So wurde dann schließlich die „Österreichische Vereinigung Freier Bildungsstätten auf Anthroposophischer Grundlage“ ins Leben gerufen, in deren Gründungsvorstand auch Freunde aus Graz und Linz dabei waren.

Wa l d o r f s c h u l e n i n Ö s t e r r e i c h Angelika Lütkenhorst Im Jahr 2011 besuchen rund 2.400 SchülerInnen 13 österreichische Waldorfschulen, die eine enge Zusammenarbeit im „Waldorfbund Österreich“ pflegen. Der Bund vertritt die Interessen der Waldorfschulen und 30 Waldorfkindergärten gegenüber allen überregio­na­len Institutionen. Nach der Schulgründung in Wien-Mauer folgten ab dem Ende der 70er-Jahre weitere Schulgründungen der Reihe nach in Linz, Klagenfurt, Graz, Salzburg, Wien-Pötzleinsdorf, Innsbruck, Schönau (vormals Mödling), Wien West und Kufstein. 1972 wurde die erste heilpädagogische Schule in Wien eröffnet, es folgten Schulen in Graz und Salzburg. Gegenwärtig scheint ein nächster Gründungsschub bevorzustehen, da einige kleine Schulgründungsinitiativen in den Bundesländern (Niederösterreich, Burgenland, Vorarlberg, Oberösterreich und Salzburg) ihre Arbeit aufgenommen haben. Seit dem ersten Abschlussjahrgang im Schuljahr 1974/75 haben rund 3.000 SchülerInnen in Österreich die Waldorfschule absolviert. Jedes Jahr kommen 150 weitere hinzu. Rund 80 Prozent der WaldorfschülerInnen legen nach ihrer Waldorfschulzeit die Matura ab. Waldorfschulen finanzieren sich heute großteils über Elternbeiträge, werden jedoch von Land und Bund – im Gegensatz zu konfessionellen Privatschulen – nur vergleichsweise bescheiden unterstützt. Vor diesem Hintergrund ist es eine beachtliche Leistung, dass Waldorfschulen in Österreich seit über vier Jahrzehnten existieren. Der Waldorfbund Österreich ist auf einem guten Weg, mit den anderen österreichischen Schulen in freier Trägerschaft im Rahmen von EFFE (Europäisches Forum für Freiheit im Bildungswesen) in Zukunft eine substanzielle Verbesserung zu erreichen.

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Rondo

den anderen Schulen, so gut es ging, beistehen. So wurde dann schließlich die „Österreichische Vereinigung Freier Bildungsstätten auf Anthroposophischer Grundlage“ ins Leben gerufen, in deren Gründungsvorstand auch Freunde aus Graz und Linz dabei waren.

Wa l d o r f s c h u l e n i n Ö s t e r r e i c h Angelika Lütkenhorst Im Jahr 2011 besuchen rund 2.400 SchülerInnen 13 österreichische Waldorfschulen, die eine enge Zusammenarbeit im „Waldorfbund Österreich“ pflegen. Der Bund vertritt die Interessen der Waldorfschulen und 30 Waldorfkindergärten gegenüber allen überregio­na­len Institutionen. Nach der Schulgründung in Wien-Mauer folgten ab dem Ende der 70er-Jahre weitere Schulgründungen der Reihe nach in Linz, Klagenfurt, Graz, Salzburg, Wien-Pötzleinsdorf, Innsbruck, Schönau (vormals Mödling), Wien West und Kufstein. 1972 wurde die erste heilpädagogische Schule in Wien eröffnet, es folgten Schulen in Graz und Salzburg. Gegenwärtig scheint ein nächster Gründungsschub bevorzustehen, da einige kleine Schulgründungsinitiativen in den Bundesländern (Niederösterreich, Burgenland, Vorarlberg, Oberösterreich und Salzburg) ihre Arbeit aufgenommen haben. Seit dem ersten Abschlussjahrgang im Schuljahr 1974/75 haben rund 3.000 SchülerInnen in Österreich die Waldorfschule absolviert. Jedes Jahr kommen 150 weitere hinzu. Rund 80 Prozent der WaldorfschülerInnen legen nach ihrer Waldorfschulzeit die Matura ab. Waldorfschulen finanzieren sich heute großteils über Elternbeiträge, werden jedoch von Land und Bund – im Gegensatz zu konfessionellen Privatschulen – nur vergleichsweise bescheiden unterstützt. Vor diesem Hintergrund ist es eine beachtliche Leistung, dass Waldorfschulen in Österreich seit über vier Jahrzehnten existieren. Der Waldorfbund Österreich ist auf einem guten Weg, mit den anderen österreichischen Schulen in freier Trägerschaft im Rahmen von EFFE (Europäisches Forum für Freiheit im Bildungswesen) in Zukunft eine substanzielle Verbesserung zu erreichen.

Bundesweite Initiativen der Waldorfpädagogik

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Bu n d e s w e i t e I n i t i at i v e n d e r Wa l d o r fpä da g o g i k Elisabeth Gergely Aus der Hilfestellung der Wiener Schule für die späteren Waldorfschulgründungen entwickelte sich allmählich das Bedürfnis nach einer alle Schulen umfassenden Vereinigung. Nora Zimmermann, Tobias Richter, Georg Friedrich Schulz, Raoul Kneucker und die Autorin dieses Beitrages bildeten die Kerngruppe, um das ideelle Bild des geplanten Zusammenschlusses zu entwerfen. Nach etwa dreijähriger Vorbereitungsarbeit wurde im Herbst 1981 die Österreichische Vereinigung freier Bildungsstätten auf Anthroposophischer Grundlage gegründet; sie umfasste nicht nur Schulen und Kindergärten, sondern auch heilpädagogische und sozialtherapeutische Einrichtungen sowie die beiden anthroposophischen Ausbildungsstätten – die „Bildungsstätte für Eurythmie“ und die „Goetheanistische Studienstätte“. Dazu sei aus den Statuten zitiert: „Aufgabe der Vereinigung ist das Schaffen von Planungs-, Organisations- und Rechtsgrundlagen für ein freies Bildungswesen auf Anthroposophischer Grundlage in Österreich; ferner dessen Abstimmung mit den Rechtsformen des österreichischen Schul- und Bildungswesen. Das Gestalten geeigneter Formen wird für alle Bildungsstufen im pädagogischen und heilpädagogischen Bereich angestrebt und betrifft daher Waldorfkindergärten, Waldorfschulen, Einrichtungen für Heilpädagogik und Sozialtherapie, Einrichtungen der Erwachsenenbildung, der Berufsaus- und Berufsfortbildung.“ (Statuten, § 2.) Die Österreichische Vereinigung Freier Bildungsstätten auf Anthroposophischer Grundlage, kurz Waldorf-Bund, berät und vertritt alle Bildungsstätten in Österreich, die auf der Basis der von Rudolf Steiner entwickelten Geisteswissenschaft arbeiten, in rechtlichen und wirtschaftlichen Fragen, vor allem gegenüber den österreichischen Behörden, er fühlt sich als Stimme der Waldorfpädagogik und trägt in der weltweiten Waldorfbewegung Verantwortung für die österreichischen Einrichtungen. Der Bund arbeitet mit dem „Haager Kreis“ (internationale Konferenz der Waldorf- und Rudolf-Steiner-Schulen), der pädagogischen und medizinischen Sektion des Goetheanums, der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, dem „European Council of Rudolf-Steiner/ Waldorfschools“, dem „Europäischen Forum für Freiheit im Bildungswesen“ und der „Inter­ nationalen Vereinigung der Waldorfkindergärten“, der „European Cooperation for Curative Education“ sowie der „Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation“ zusammen. Neben der Planungs-, Organisations- und Rechtshilfe durch den Vorstand findet in regelmäßigen Mitarbeiterzusammenkünften – wobei die Mitarbeiter aus Kollegien und Schulvereinen kommen – ein Gedanken- und Erfahrungsaustausch über alle gemeinschaftlich interessierenden Fragen statt.

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Rondo

1985 eröffnete die Vereinigung mit dem „Wagnis Erziehung“ (hg. v. H. Ganser, E. Gergely, T. Richter), eine im Böhlau-Verlag erscheinende Buchreihe mit dem Titel: „Waldorfpäda­ gogik – Beiträge zur Bildungserneuerung.“ Damit ergriff der Vorstand der Vereinigung die Aufgabe, zu aktuellen Themen des Schulwesens Seminare zu veranstalten und zu veröffentlichen. So wurde beispielsweise in fünf Wochenendseminaren die Computertechnik behandelt. Grundlagen, Fragen der Technologien, der Auswirkungen auf den Menschen und das gesellschaftliche Leben wurden jeweils mit erstrangigen Wissenschaftlern erarbeitet, um dieser gewaltigen Herausforderung, die gerade an das Schulwesen gestellt ist, als Waldorfschule mit soliden Kenntnissen und Urteilsgrundlagen in rechter Weise zu begegnen. So konnte 1988 „Mensch – Computer – Erziehung“ (hg. v. E. Gergely, H. Goldmann) als zweiter Band der vorhin genannten Reihe erscheinen.

Ergänzungen Angelika Lütkenhorst In den Jahren ab 2003 zeichnete sich bereits ab, dass durch den Anstieg der Institutionen im Bereich der Erwachsenenbildung und der Sozialtherapie eine neue Organisation des Dachverbands vonnöten war. So entstand als eigener Dachverband die „Akademie anthroposophische Erwachsenenbildung“ und in weiterer Folge „PlatO“, die Plattform der anthroposophischen sozialtherapeutischen Einrichtungen in Österreich. Zu Beginn des Jahres 2009 wurde der ehemalige Dachverband „Österreichische Vereinigung Freier Bildungsstätten auf Anthroposophischer Grundlage“ umbenannt in „Waldorfbund Österreich“, der sich nunmehr um die Belange der 13 österreichischen Waldorfschulen und inzwischen 30 Waldorfkindergärten in Österreich kümmert.

Pä da g o g i k u n d K u n s t = E r z i e h u n g s ku n s t

TR: In unserer „Symphonie“ schien im Rondo die Wiederkehr des Schulgründungsthemas in Variationen bis hin zu einer zusammenfassenden Schlussfigur auf. Diese stellt gewissermaßen eine Überleitung zum nächsten Satz, „Dialog in Variationen“ dar: Durch die Gründung eines Dachverbands wurden mit den darin vertretenen österreichischen Bildungseinrichtungen auf anthroposophischer Grundlage – nicht nur mit den Waldorfschulen, auch mit den Institutionen der Erwachsenenbildung – der Kontakt, der Dialog intensiviert. Wenden wir uns also wieder diesem Kernthema zu. EG: In diesem Zusammenhang ist es mir noch wichtig, auf die besondere Waldorflehrerbildung in Österreich zu blicken, weniger auf deren Anfänge als berufsbegleitende Ausbildung, als vielmehr auf die Vollzeitausbildung, welche an der Goetheanistischen Studienstätte stattfand. Dort wurde ja über viele Jahre, ich denke, es war von 1983 bis 2000, der Dialog Pädagogik und Kunst sehr erfolgreich gepflegt. Die Goetheanistische Studienstätte war aus der Initiative Christian Hitschs, der als Künstler und Werklehrer an der Maurer Rudolf-Steiner-Schule arbeitete, und seinem Schwiegervater und einstigem Lehrer im goetheanistischen Arbeitskreis, Wilhelm Reichert aus Wuppertal, entstanden. Das Besondere der Goetheanistischen Studienstätte bestand darin, dass sie nicht nur eine Kunstschule war, sondern auch eine dreijährige grundständige Ausbildung zum Waldorfpädagogen anbot. Für diesen Dialog der Pädagogik mit der Kunst hast du dich ja besonders eingesetzt und engagiert und lange Jahre den pädagogischen Zweig dort verantwortet. Tragischerweise verstarb Wilhelm Reichert im Jahr 1982, also noch vor der Gründung der Studienstätte. Durch den unerwarteten Tod war zunächst alles infrage gestellt. Der Sohn Wilhelm Reicherts, Mathias, ebenfalls bildender Künstler und Kunsttherapeut, wurde dazugebeten und man fasste nochmals neu den Mut zur Gründung. In der Folge hat sich manches anders entwickelt, als es ursprünglich intendiert war, was unter anderem mit Christian Hitschs Berufung nach Dornach als Leiter der Sektion für Bildende Kunst und deinem Engagement an den Seminaren für Waldorfpädagogik in Hamburg und Zagreb zusammenhing. Ab der Jahrtausendwende wurde dann diese dialogische Ausbildung Kunst und Pädagogik an der Goetheanistischen Studienstätte nicht mehr angeboten. TR: Es gab immer weniger Studenten, die sich zu diesem dreijährigen Waldorfpädagogikstudium meldeten.

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Rondo

EG: Was auch letztlich der Grund dafür war, möchte ich dahingestellt sein lassen … Allerdings hatte inzwischen in Wien die berufsbegleitende Ausbildung zum Waldorflehrer bei waldorf_ wien begonnen. Auch in Graz, Linz und später in Salzburg gibt es ähnliche berufsbegleitende Ausbildungen. Doch das Besondere, um nochmals darauf zu kommen, war der an der Goetheanistischen Studienstätte gepflegte Dialog zwischen Kunst und Pädagogik. TR: Du hast das Zentrum für Kultur und Pädagogik, das 2001 mit seinem Lehrgang Waldorfpädagogik begann, nicht erwähnt. EG: Ganz bewusst, weil dieser Neugründung, die ja bereits ins 21. Jahrhundert fiel, ein eigener Beitrag gewidmet sein soll (siehe Bildung im Dialog).

D i a l o g ku lt u r – D i a l o g v e r a n s ta lt u n g e n

TR: Nach den im letzten Abschnitt des vorherigen Kapitels besprochenen Initiativen zur Lehrerbildung tritt das Werden der Dialogreihe in den Mittelpunkt, gemeint ist eine Reihe von Veranstaltungen. Dazu taucht in meiner Erinnerung das „Gedächtnis der Natur“, ein Buch des britischen Biologen Rupert Sheldrake auf, das ich dir geschenkt habe. Kurz darauf lädst du Sheldrake ein. Warst du innerlich damals schon auf so einer Spur oder beschließt du – irgendwie aus dem Nichts heraus – die Dialoge zur Welt zu bringen? EG: Es war bei mir seit Längerem eine Offenheit für diese Thematik vorhanden. In meiner Jugend habe ich es nicht geschafft, den Vergleich von Rudolf Steiner ernst zu nehmen, dass man ein so genanntes doppeltes Kollegheft führt, wie er den Jungmedizinern sagte … Hingegen habe ich, statt mit meinem naturwissenschaftlichen Studium in einen entsprechenden Beruf einzusteigen, Eurythmie studiert und bin dabei über Jahrzehnte geblieben. Das hat mich mehr von der Chemie weg geführt, als dass ich dadurch das Naturwissenschaftliche anders erlebt hätte. TR: Wien an der Donau – eine der Besonderheiten der Donau ist die Donauversickerung in der Nähe von Tuttlingen. Danach tritt plötzlich die Donau als Fluss wieder in Erscheinung. Könnte es so ähnlich auch bei dir gewesen sein? EG: Wenn du mit dem Anlass des Buches „Gedächtnis der Natur“ das Erscheinen MEINER Donau meinst – vielleicht war das so. Auf jeden Fall habe ich Sheldrake eingeladen, dazu Suchantke als goetheanistischen Biologen, und so wurde ein Symposion veranstaltet. Sheldrake ist ein sehr höflicher Engländer, das muss man vorausschicken. Aber es war doch für mich sehr beeindruckend, wie er sich bedankt hat für diese kleinen Öffnungen zum Goetheanismus. Heute wird zu wenig beachtet, was Johann Wolfgang von Goethe als Naturforscher damals schon geleistet und was Rudolf Steiner in vertiefter und neuer Form weiterentwickelt hat.

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Die Kunst der Fuge

D i e e r s t e D i a l o g V e r a n s ta lt u n g m i t Rup e r t S h e l d r a k e u n d A n d r e a s Su c h a n t k e Elisabeth Gergely Die Gegenwart ist auf Wissenschaft hin orientiert Das Wissen aber muss sich entwickeln Der Geist muss durch die Wissenschaft erreicht werden können R. Steiner (Notiz 1922)

Wer mit wachem Interesse die Entwicklungen in verschiedenen naturwissenschaftlichen Disziplinen verfolgt, erfährt von Aufbrüchen und Durchbrüchen, die das durch Jahrhunderte gefestigte reduktionistische Weltbild radikal infrage stellen. Die Grundlage für diese Entwicklung wurde bereits Ende des 19. Jahrhunderts erarbeitet, doch in ihren Konsequenzen auf breiter Front wurde diese für den interessierten Laien erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sichtbar und nachvollziehbar. Natürlich waren es zunächst wenige, die diesen Aufbruch vollzogen, und sie hatten durchaus mit Ablehnung, Spott, Missachtung durch Vertreter des konservativen Wissenschaftsbetriebes zu rechnen. So wurde Rupert Sheldrakes erstes Buch „Das schöpferische Universum“ in einer angesehenen wissenschaftlichen Zeitschrift als Kandidat für eine Bücherverbrennungsliste bezeichnet, wenn es eine solche Einrichtung heute noch gäbe. Rudolf Steiners Entwicklung des Erkenntnisweges der Anthroposophie war auch im Sinne einer methodischen Erweiterung und Weiterführung der Naturwissenschaft gedacht. Steiner setzte beim Evolutionsgedanken Ernst Haeckels und Charles Darwins an und entwickelte daraus eine „Abstammungslehre“ des geistig-seelischen Menschen: Der Zusammenschluss der leiblich-physiologischen Evolution des Menschen durch die Tierreihe hindurch (die zum Gattungsmenschen führt) mit der Involution des geistigen Menschen in das Seelische (die zum individuellen, seiner selbst bewussten Menschen führt) – erst dieser Zusammenschluss ergibt die volle Wirklichkeit des Menschen auf Erden. Auf verschiedenen Wissenschaftsgebieten gab Steiner – aufbauend auf der Goetheschen Methode der „anschauenden Urteilskraft“ – die Grundlagen, diesen Zusammenschluss zu vollziehen und Erde und Mensch in ihrer geistig-seelisch-leiblichen Ganzheit zu erfassen und aus dieser Gesinnung zu handeln in der Lebenspraxis der Biologie und Medizin, der Psychologie und Pädagogik, der Ökologie und Ökonomie usw. Das Wahrnehmen und Erleben dieser Situation, das Aufbrechen der kausal deterministi­ schen, mechanistischen Begrenzung einerseits und der weitgehend unerkannte Wissenschaftsansatz des durch Rudolf Steiner weitergeführten Goetheanismus andererseits,

Die erste Dialogveranstaltung mit Rupert Sheldrake und Andreas Suchantke

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Dialog 1993, Rupert Sheldrake – Andreas Suchantke

wurde für die Autorin zum Willensimpuls, Möglichkeiten des Gesprächs zu schaffen ­zwischen pionierhaft forschenden Wissenschaftlern und anthroposophisch-goetheanistisch Forschenden. Eine erste Verwirklichung fand diese Intention in dem Dialog zwischen Rupert Sheldrake und Andreas Suchantke zum Thema „Morphische Felder – Bildekräfte“, Forschungen auf dem Gebiet überstofflicher Felder. Die Exposition der Veranstaltung wurde durch die Präsentation der Forschungen beider Gesprächspartner, deren Methode und Ergebnisse gebildet. In den Ausführungen Shel­ drakes stand das Rätsel der Formentstehung in den Naturreichen und ihrer Weitergabe im Zentrum. Durch seine Forschungen und experimentellen Erfahrungen kam er zu der Annahme, dass die Ausgestaltung des Formenreichtums, das Bilden von Verhaltensweisen und Gewohnheiten, die Gedächtnisfunktionen sich in einem übersinnlichen Bereich morphischer Felder vollziehen, wo diese Vorgänge durch „morphische Resonanz“ übermittelt, verstärkt und konsolidiert werden. Er stellte sich mit dieser Anschauung in Widerspruch zu der vorherrschenden Meinung, dass alle diese Vorgänge durch einen im Stofflichen ablaufenden Mechanismus hervorge-

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Die Kunst der Fuge

rufen oder, wenn nicht hervorgerufen, so doch gesteuert werden. Vergleichbar dem kollektiven Unbewussten, wie es Carl Gustav Jung entwickelt hat, denkt Rupert Sheldrake an ein gemeinsames morphisches Feld, das sich in viele einzelne Felder zu verschiedenen Wirkungsweisen gliedert, die sich auflösen und wieder bilden können. Andreas Suchantke suchte das Wesen dieser wirkenden Bildekräfte durch eine über Goethes Forschungen hinausgehende Beobachtung der Blattentwicklung bei der Pflanze anschaubar zu machen. Die Teilnehmer konnten zunächst das Rätsel erleben, wie Blattformen, am Stängel aufsteigend, sich „verjugendlichen“, ihre ausgeprägte gegliederte, gespreizte Form aufgeben und dann wieder die junge, einfach sprießende, lanzettartige Form annehmen. Das Rätsel beginnt, durchsichtig zu werden, wenn man diesen Vorgang als von der Blüte – der noch nicht in der Sichtbarkeit entstandenen – hervorgerufen erlebt: zurücknehmen und Stauen des Blattformimpulses, Sammeln der Formbildekraft für die neue Erscheinungsform der Blüte. Eine an diesem Phänomen beweglich werdende Auffassungsgabe erlebt zwei Zeitrichtungen – eine aus der Vergangenheit kommende des „Älterwerdens“ (der uns gewohnte Zeitablauf) und eine aus der Zeitlosigkeit durch die Zukunft hereinwirkende des „Jüngerwerdens“. Der Mensch ist gegenüber den spezialisiert ausgeformten Tierarten charakterisiert durch seine „Jugendlichkeit“, welche die Voraussetzung bildet für seine allseitigen Möglichkeiten und die Grundlage seiner spezifisch menschlichen Entwicklung: Die Vergangenheitsbedingungen des Gattungsmenschen werden von der ewigen Entelechie – dem aus der Zukunft wirkenden, sich individualisierenden Ich – ergriffen, umgestaltet, weitergebildet. Ein reiches Feld für das Gespräch war durch die beiden Vorträge geschaffen; es wurde versucht, dieses Feld in offenem, freilassenden Austausch umzupflügen, zu wenden, zu ergründen. Die Frage nach der formschaffenden Kraft, der eigentlichen Kreativität innerhalb der Evolution stand im Raum, ebenso der „Punkt Omega“ Teilhard de Chardins als Zielpunkt der Evolution, für den sich das Verständnis vielleicht durch den aus der Zukunft wirkenden Zeitstrom erschließen lässt bzw. der als „Attraktor“ die Wirkung dieses Zeitstromes hervor­ ruft. An den großen Fragen von Ursprung und Ziel erschien unsere Bewusstseinssituation in neuem Licht und die Notwendigkeit ihrer Erweiterung wurde deutlich. Rudolf Steiners Weg erweist sich gegenüber anderen Wegen, die in der Gegenwart begangen werden, als ein Weg, nach naturwissenschaftlicher Methode zu seelisch-geistigen Beobachtungsresultaten zu kommen: Dabei soll das durch naturwissenschaftliche Forschung an der Sinneswelt zu seiner derzeitigen Schärfe und Exaktheit geschulte Denken nicht verlassen oder gar verleugnet werden. Das individuell errungene Denken ist Werkzeug und Stoff zugleich – Umwandler und Umzuwandelndes in einem. Dieses Denken kann und soll sich an der werdenden Natur – der

Die erste Dialogveranstaltung mit Rupert Sheldrake und Andreas Suchantke

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natura naturans – schulen; so kann der Mensch, was er an ihr zerstört hat, wieder zu heilen und sie ihrem Wesen gemäß wieder zu pflegen lernen. Auf diese Weise entwickelte sich die Frage nach dem „neuen Denken“, die sich gerade bei den Problemen unserer Zeit herausstellt, zum Motiv und Impuls für weitere Dialogveranstaltungen, die in ernsthafter Erkenntnisbemühung gemeinsam mit Pionieren naturwissenschaftlicher Forschung zentrale Themata bewegen und übend durchdringen sollen, um in der Lebenspraxis zu „neuem Handeln“ fähig zu werden. Bildnachweis: Archiv Karl Hruza

D e r D i a l o g „ M o r p h i s c h e F e l d e r – B i l d e k r äf t e und dessen Fortsetzung“ Andreas Suchantke

Ein genialer Griff Elisabeth Gergelys und ihrer Freunde war die Einrichtung jährlicher Symposien: Unter Beteiligung eines interessierten und in den Diskussionen aktiv einbezogenen Publikums vertraten Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen offene Fragen von allgemeinem Interesse. Dazu gehörte auch die Diskussion des britischen Naturwissenschaftlers Rupert Sheldrake mit dem Autor über die von Sheldrake beschriebene so genannte „morphische Resonanz“(1), einem Phänomen, das bisher wohl vor allem deshalb völlig ignoriert worden war, weil es sich nicht in das herrschende wissenschaftliche Weltbild einfügte. Darüber sei im Folgenden berichtet, ergänzt durch weitere Beispiele, die während des Symposiums nicht erwähnt wurden, die jedoch geeignet sind, die angesprochene Thematik stärker zu verdeutlichen. Allgemein bekannt wurde das Phänomen „morphischer Felder“ bzw. „morphischer Resonanz“ erstmalig in England in der Nachkriegszeit, und involviert war ein in der Umgebung des Menschen überall häufig vorkommender Vogel, die Blaumeise. Irgendwann entdeckte eine von ihnen, dass sie, wenn sie die silbernen Aluminiumdeckel der Milch­flaschen, die morgens vor die Haustüren geliefert werden, mit dem Schnabel punktierte, problemlos an den schmackhaften Rahm gelangen konnte, der sich an der Oberfläche abgesetzt hatte! In kürzester Zeit breitete sich diese (Un-)Sitte über die ganze Insel aus und – höchst erstaunlich – tauchte alsbald überall und zunehmend weitverbreitet auch in Holland auf! Erstaunlich ist das deshalb, weil Blaumeisen strikte Standvögel sind, also im Winter nicht ziehen und schon gar nicht über das Meer nach Holland fliegen. Wie aber konnte die neue Gewohnheit dann auf den Kontinent zu den dortigen Blaumeisen gelangen, unter denen sie sich dann rasch weiter auszubreiten begann? Ein anderes Beispiel betrifft die mitteleuropäischen Mönchsgrasmücken, die – anders als die Blaumeisen – echte Zugvögel sind. Früher flogen sie zur Überwinterung in die milden Mittelmeerländer. Seit dem Ende des 2. Weltkrieges zogen zuerst einige und inzwischen längst alle mitteleuropäischen „Mönche“ nach Südengland, wo sie im Winter intensiv von der Bevölkerung hindurch gefüttert werden. Wie es zu dieser Entwicklung kommen konnte, ist völlig rätselhaft: Mönchsgrasmücken ziehen nachts, sich erwiesenermaßen nach den Sternbildern orientierend, und, wie die (zur Beringung nötigen) Kontrollfänge ergaben, völlig allein und ohne Kontakt mit Artgenossen, also auch die zum ersten Mal ziehenden und von den (angeborenen!) Mustern der Sternkreisbilder geleiteten diesjährigen Jungvögel. (2)

Der Dialog „Morphische Felder – Bildekräfte und dessen Fortsetzung“

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Sheldrake, der sich mit diesen Fragen auch experimentell beschäftigt hat (aus seinen übersetzten Schriften sei lediglich erwähnt: „Das Gedächtnis der Natur“ (5. Aufl. 1990) (1), spricht von der Existenz „morphischer Felder“, deren – bisher unbekannte – Kräfte in unseren Fällen alle Individuen einer Art betreffen, so isoliert oder zerstreut sie auch leben mögen. Vor der Frage nach der Natur dieser „Wirksamkeiten“ sei noch ein ähnlich gelagertes Beispiel, diesmal aus menschlichen Zusammenhängen erwähnt, und zwar aus dem eigenen Erleben und den Erfahrungen des Verfassers. Während wiederholter Aufenthalte in Waldgebieten des Tief- wie des Berglandes im tropischen Afrika zeigte sich, dass in den verschiedenen Landschaftsmosaiken (Lichtungen, untere und obere Kronenregion usw.) die jeweils sehr artenreich vertretene Schmetterlingswelt von geradezu enttäuschender Gleichförmigkeit in der Farbgebung und Musterung erschien, gleichzeitig aber eine erstaunliche Übereinstimmung mit den Lichtern und Schatten und den Farben ihres jeweiligen spezifischen Flugbiotops aufwies. Genauere Beobachtung ergab, dass es sich in jedem Biotop um zahlreiche ganz verschiedene Arten handelte, die dann, wenn sie im selben Höhenbereich der Bäume oder nahe über dem Boden flogen, untereinander und vor allem mit dem Verhältnis von Hell und Dunkel ihres Flugraumes so übereinstimmten, dass sie schon auf kurze Distanz nicht mehr zu sehen waren und sich visuell in ihrer Umgebung auflösten! Als ich dieses bisher unbeachtete bzw. unter den nichtssagenden bis irreführenden Bezeichnungen „Mimi­ kry“, „Anpassung“ im darwinistischen Sinne interpretierte Phänomen unter der Bezeichnung „Biotoptracht“ beschrieb (3), stieß ich zu meiner Überraschung auf die Arbeit einer US-amerikanischen Forscherin, in der sie dasselbe Phänomen gleichzeitig aufgrund eigener Beobachtungen in den verschiedenen Höhenschichten des südamerikanischen Regenwaldes dokumentierte (4), der noch erheblich artenreicher als sein afrikanisches Pendant ist, sodass sich die Erscheinung auch quantitativ belegen ließ. Ich selber besuchte in den folgenden Jahren das gleiche Gebiet und konnte das Phänomen staunend bestätigen (5). Warum diese etwas ausführliche Schilderung? Wegen der Koinzidenz, der Gleichzeitigkeit ohne jede Verabredung: Zwei Schmetterlingsforscher sind, ohne voneinander zu wissen, zur gleichen Zeit auf unterschiedlichen Kontinenten dabei, ein- und dasselbe, bisher völlig unbeachtete Phänomen zu beschreiben – unbeachtet deshalb, weil bis heute morphologische Untersuchungen kaum je im Freiland, sondern stets anhand von Museumssammlungen erfolgten! Vor allem aber: Im Rahmen gegenwärtig herrschender neodarwinistischer Methoden sind Fragestellungen dieser Art absolut ungehörig, weil sie nicht der herrschenden Doktrin entsprechen und deswegen nirgendwo auf der Welt durchgeführt werden – mit Ausnahme von zwei einander völlig unbekannten Forschern. Vergleichbare, noch unerforschte Phänomene könnten viel häufiger anzutreffen sein, als bisher beachtet: etwa eine Gruppe Eurythmisten, die so harmoniert, dass eine zwar differenzierte, aber doch „ganzheitliche“ Bewegungsgestalt entsteht. Oder ein Orchester,

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das aus dem Zusammenklang etwas Neues, Übergreifendes und Differenziertes entstehen lässt, das etwas ganz anderes und viel mehr ist als der bloße Zusammenklang der Einzelstimmen – überall morphische Felder! Anthroposophisch würde man wohl von einem gemeinsamen, alle Beteiligten übergreifenden ätherischen Feld sprechen, das bei Blaumeisen oder Mönchsgrasmücken spontan vorhanden ist, vom Menschen jedoch erst geschaffen werden will – wenn es nicht bereits als etwas gruppenhaft Unterbewusstes und damit eher Tier- als Menschengemäßes und zu Überwindendes – beispielsweise als Rassismus – von Anfang an bereits vorhanden ist. Und ein Weiteres ist in diesem Zusammenhang zu betrachten, das bisher im allgemeinen Bewusstsein weitgehend unbeachtet blieb, obwohl es von beträchtlichem geistes- und ideengeschichtlichen Interesse ist: der Begriff – und seine reale Verwirklichung – der von Rudolf Steiner erstmals formulierten Dreigliederung, zunächst in ihrer differenzierten seelischen Ausprägung in Denken, Fühlen und Wollen (6). Sie dürfte ein echtes kulturgeschichtliches Novum darstellen (und wäre damit einer ideengeschichtlichen Bearbeitung bedürftig); bis anhin wurde sie nur in den höchsten kosmisch-geistigen Höhen (= Trinität) im Rahmen der christlichen Religion, aber nicht in den Niederungen der physisch-sinnlichen Welt vermutet. Unmittelbar nachvollziehbar jedenfalls ist die in ihr vollzogene Überwindung des unfruchtbaren Schwarz-Weiß-Dualismus von Materie und Geist, Körper und Seele und anderer Formen des Entweder-Oder durch die Dreigliederung in Polaritäten und verbindende Mitte, in der sich die Extreme in abgemilderter Form durchdringen und auf höherer Ebene steigern, wie etwa in der seelischen Dreiheit von Denken, Fühlen und Wollen. Im Bereich der physisch-organischen Leiblichkeit entspräche dem die Gliederung in Sinnesnerven-, rhythmisches und Stoffwechsel-Gliedmaßensystem. Natürlich ist die Dreigliederung erheblich umfassender und vielschichtiger in ihrer Gültigkeit als nur für die hier angesprochene Thematik, aber sie liefert uns gerade in unserem Falle ein besonders aufschlussreiches Beispiel „morphischer Resonanz“: Steiner entwickelte den Begriff der Dreigliederung ja Anfang des 20. Jahrhunderts zunächst für den dreifach differenzierten Organismus des Menschen und ebenso auf der psychischen Ebene für die einander ergänzenden und ineinander spielenden und bereits erwähnten Seelenkräfte von Denken, Fühlen und Wollen. Gleichzeitig skizzierte er die analogen, dem menschlichen Zusammenleben gemäßen Tätigkeitsbereiche des Geistesleben, Rechtslebens und Wirtschaftslebens, die sich gegenseitig ergänzen und in die jeder Mensch in irgendeiner Weise einbezogen ist (7). Das kann und muss hier nicht weiter ausgeführt werden, darüber existiert eine reiche Literatur; was uns hier bewegt, ist diese radikal neue Auffassung von Welt und Mensch. Die Dreigliederung interessiert uns an dieser Stelle deshalb, weil sie annähernd gleichzeitig und gänzlich unabhängig von Vertretern völlig anderer Bereiche der Wissenschaft eben-

Der Dialog „Morphische Felder – Bildekräfte und dessen Fortsetzung“

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falls entdeckt wird, in einer gänzlich anderen Sphäre als der menschlichen und einer so umfassenden, dass letztlich auch der Mensch (in einem bestimmten Bereich seines Wesens) als Teilglied mit dazugehört: in der ökologischen Wissenschaft, wie sie ebenfalls Anfang des 20. Jahrhunderts von engagierten, praxisorientierten, in der freien Natur forschenden Biologen entwickelt wurde – von solchen, die sich für das Zusammenleben der Organismen interessierten und dabei entdeckten, dass die einzelnen beteiligten Pflanzen- und Tierarten in jedem Lebensraum einen dreigliedrigen Organismus bilden. Seine Glieder sind die Produzenten, also die grünen Pflanzen, die mithilfe der Sonnenergie lebende Substanz aufbauen, von der wiederum die Konsumenten leben und ihre Energie beziehen (Mensch und Tier), während die Destruenten (Bakterien, Pilze) die Reste abbauen und die Grundstoffe wieder in den Kreislauf zurückführen. Dieses Wissen und das tiefergehende Verständnis der Verbundenheit aller Lebewesen zu gemeinsamen „ökologischen Organismen“ ist neu, so neu wie die Entdeckung und Erforschung anderer menschlicher Gemeinschaften als bluts- oder glaubensbedingter (8). Für uns Heutige sind das keine Neuigkeiten, jedenfalls, solange man jeden Bereich für sich betrachtet. Neu hingegen ist die Übereinstimmung der grundlegenden Ordnung, der Dreigliederung als der dem Lebendigen und allen lebendigen Prozessen innewohnenden Struktur. Erstaunlicherweise wird sie zeitgleich entdeckt durch Forschungen sehr unterschiedlicher Voraussetzung und Methodik, deren Vertreter untereinander in keinerlei Verbindung standen: Geistesforschung auf der einen und gewissenhafte und dogmatisch unvoreingenommene, saubere Naturforschung auf der anderen Seite. Offensichtlich erneut ein Fall morphischer Resonanz, dieses Mal jedoch von einschneidender kulturgeschichtlicher Bedeutung – des sozialen Impulses auf allen Ebenen, diesem zentralen Lebens- und Zusammenlebensmotiv des 20. Jahrhunderts: der Mensch in seiner eigenen Sphäre und pflegend verantwortlich für die ihn tragende lebende Natur. Eine wahrhaft erstaunliche Koinzidenz! Ganz offensichtlich ist die Sphäre, um die es sich hier handelt, jenseits aller räumlicher Bedingungen, die für rein physische Abläufe gelten; sie wirken überräumlich, überindividuell (hier allerdings unter Voraussetzung individueller mentaler Offenheit und Bereitschaft). Es ist zweifellos die bis heute im allgemeinen Wissenschaftsbetrieb ignorierte Sphäre des Ätherischen, das von den Makromolekülen der Gene bis hinauf zur Vielfalt komplexer und grundverschiedener Organismen schaffend tätig ist – der Bereich der von Steiner so bezeichneten ätherischen „Bildekräfte“. Bedeutsam bleibt die gleichzeitige, unabhängig voneinander auftretende Entdeckung der Dreigliederung bei Steiner und bei den Forschern der Ökologie. Offensichtlich gilt, dass ein einmal gedachter Gedanke in der Folge auch für andere im Sinn der „morphischen Resonanz“ zugänglich ist – er ist im Ätherfeld der Erde vorhanden und damit erreichbar! Vertiefende Literatur zu den einzelnen Themenkomplexen in der Reihenfolge ihrer Erwähnung:

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Anmerkungen 1 Sheldrake, R. (1991), Das Gedächtnis der Natur, 5. Aufl, Bern u. München 2 Sauer, E.G.F. (1957), Die Sternenorientierung nächtlich ziehender Grasmücken (Sylvia atricapilla, borin und curruca). Zeitschr. f. Tierpsychologie 14, 29–70 3 Suchantke, A. (1974), Biotoptracht und Mimikry bei afrikanischen Tagfaltern – Elemente der Naturwissenschaft 21, 1–21 4 Papageorgis, G. (1974), Mimicry in Neotropical butterflies – why are there so many complexes in one place? American Scientist 63, 5, 522–533 5 Suchantke, A. (1983), Biotoptracht bei südamerikanischen Schmetterlingen, in W. Schad (Hrs.): Goetheanistische Naturwissenschaft Bd. 3, 91–117 6 Steiner, R. (1919, seitdem zahlreiche Neuauflagen), Allgemeine Menschenkunde. Dornach 7 Steiner, R. (1919), Die Kernpunkte der sozialen Frage. Zahlr. Neuauflagen. Dornach 8 Gängige Lehrbücher der Ökologie, besonders klar formuliert bei einem der Pioniere ökologischer Forschung: Thienemann, A. F., Leben und Umwelt. Vom Gesamthaushalt der Natur, Hamburg 1956 (immer noch aktuell und nach wie vor erhältlich)

G e i s t e s g e g e n wa r t u n d Z e i tg e n o s s e n s c h a f t

TR: In den 70er-Jahren gab es in den Konferenzen der Maurer Schule eine so genannte Zeitschiene, wo aktuelle Fragen besprochen wurden. Könnte auch das so etwas wie eine Impfung für diese Dialoge gewesen sein? EG: Es lag natürlich auf der Linie, die ich als ganz wichtig empfunden habe, aber ich wage es nicht, dies direkt als Anlass zu sehen. TR: Auch das erste von uns gemeinsam veranlasste Buch „Wagnis Erziehung“ ist in diesem Kontext zu sehen. Die damit eröffnete Reihe ist zwar im Vergleich zu den Dialogveranstaltungen klein geblieben. Kann man die Reihe „Beiträge zur Bildungserneuerung“ als Vorform zu den Dialogveranstaltungen sehen? EG: So kann man es sehen, denn die zweite Folge, die dann zum Thema „Mensch – Computer – Erziehung“ entstand, war ein Versuch in dieselbe Richtung. TR: Wenn man von deinem biografischen Anfangsmotiv ausgeht, dann ist das die Verbindung der Naturwissenschaft mit der Anthroposophie. Sie tritt in den Dialogveranstaltungen voll in Erscheinung. Innerhalb der Schulkonferenzen steht deine wache Auseinandersetzung mit aktuellen Zeitfragen im Vordergrund. Ein dritter Aspekt wäre die Österreichische Vereinigung Freier Bildungsstätten, die mit einer Buchreihe aktuelle Zeitfragen aufgreift. Wie kann man diese Impulse gedanklich verbinden? EG: Mit der Gründung der Österreichischen Vereinigung Freier Bildungsstätten sollte das Interesse an unserem Zeitgeschehen am Leben erhalten werden. Dieser Impuls war natürlich auch gespeist von den Erfahrungen, die ich mit den Ministerien und den Leuten vom Stadtschulrat hatte. Ich war ja durch viele Jahre so etwas wie eine Außenbedienstete … TR: … sagen wir besser „Außenministerin der Maurer Schule und für Waldorfpädagogik“ … EG: Na gut, wenn du das so sagst … Hinzu kamen dann die Veranstaltungen an der Wiener Universität, einmal die zum zehnjährigen Bestehen der Maurer Schule und dann eine weitere im Jahr 1989, bei der drei Anlässe zusammenkamen: das aktuellen Wendejahr für den europäischen Osten, das Gedenken an 200 Jahre Französische Revolution und das Thema „70 Jahre

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Die Kunst der Fuge

Raoul Kneucker mit den Dialogpartnern Neil Postman und Tobias Richter (von li. nach re.)

Waldorfpädagogik“. Dann wurde auch unser letztes Büchlein „Waldorfpädagogik – Beiträge zur Bildungserneuerung“ in andere Sprachen übersetzt. TR: War bei der ersten Dialogveranstaltung mit Sheldrake und Suchantke auch schon klar, dass daraus eine Reihe werden könnte? EG: Nicht unmittelbar – aber sehr bald danach. Sheldrake hatte damals gerade eine Beziehung zu dem britischen Wissenschaftler James Lovelock aufgebaut und mir zwei Dinge empfohlen, die er von der Thematik her an der Zeit gefunden hätte aufzugreifen. Das eine war der Lovelock mit seinem Gaia-Thema – dieser Dialog musste leider aus Gesundheitsgründen von Lovelock abgesagt werden – und das zweite war der Hinweis auf seinen US-amerikanischen Freund, den Mathematiker Ralph Abraham mit seiner Chaosforschung. Die zweite Dialog-Veranstaltung fand dann mit Ralph Abraham statt. Aber ein Konzept hatte ich nicht, es war eher dem Zufall, oder besser, dem Zeitgeist überlassen, welche Themen sich stellten. TR: Waren alle Dialogveranstaltungen im Rückblick ein Erfolg? EG: Es gab vieles, was nicht so herrlich war – etwa, wie sich Ralph Abrahams anthroposophi-

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Geistesgegenwart und Zeitgenossenschaft

Peter Sitte

Wolfgang Schad

scher Dialogpartner Bodo Hamprecht verhalten hat. Mit Ralph Abraham – er ist ja bloßfüßig gekommen – hätte man ganz anders umgehen müssen. Bodo Hamprecht war entweder fantasie­los oder ein wenig überheblich – er hat sich später nicht einmal mehr aufs Podium gesetzt, sodass ihn Jochen Kirchhoff vertreten musste. Das war sicher nicht im Sinne unserer Dialogidee. Archiati war auch alles andere als einfach in der ganzen Abwicklung. Postman erregte großes öffentliches Interesse und die deutsche Zeitschrift „die Drei“ besprach diesen Dialog sehr positiv. Im Rückblick waren es bunte Reihen, die nicht immer Ideales gebracht haben. Karner war geistreich und vor allem witzig – auch die Kombination mit Stöckli war gut. Sehr beeindruckt war ich von Peter Sitte und Wolfgang Schad mit dem Thema „Evolutionsverständnis als Grundlage unserer Weltsicht heute“ – da hatte ich zunächst gedacht, das sei ein wenig zu hoch gegriffen. Aber die Beteiligung des Publikums hat jedenfalls gezeigt, wie wichtig diese Frage­ stellung war. TR: Wenn du jetzt zurückblickst auf die erste Dialogveranstaltung mit Sheldrake und Suchantke und die letzte mit Abouleish, Levi und Willmann – wo ist die geistige Klammer? EG: Eine Klammer? Ich erkenne sie nicht direkt – wenn man vom Grundmotiv des Dialoges absieht. Doch bei der Dialogveranstaltung mit Suckau gab es einen künstlerischen Abendbeitrag

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Die Kunst der Fuge

im Festsaal der Schule. Da hatten wir dieses köstliche Ein-Mann-Stück „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“. Vielleicht war das die eine Hälfte der Klammer. Beim letzten Dialog hatte ich die Hammer-Purgstall-Gesellschaft als Mitorganisator einbezogen und das Zentrum für Kultur und Pädagogik als Veranstalter. Da war es eine großartige Sache, dass wir während des Dialogs zwei Künstlerinnen mit vokalen und bildnerischen Beiträgen zu den drei Weltreligionen finden konnten. Dass es möglich war, das Besondere der Weltreligionen künstlerisch durch diese beiden Frauen einzufangen, war für mich eine große Wohltat. Die Veranstaltung hat dadurch einen eigenen Charakter bekommen. TR: Ibrahim Abouleish, der bei diesem Dialog den Islam vertreten hat, spielt ja später noch eine bedeutende Rolle in deinem Leben. Wie bist du mit ihm bekanntgeworden? EG: Das war bei einer Religionstagung 1994 oder 1995 in Dornach. Ich traf mich im Foyer des Goetheanums mit einem Freund, dem Pädagogen Helmut von Kügelgen, und es waren alle Listen für die verschiedenen Arbeitsgruppen ausgebreitet, fürs Christentum, für den Islam, den Buddhismus usw. Und der Kügelgen sagte zu mir: „Gehen wir doch zum Islam, der Abouleish macht das eine ganze Woche lang und wir brauchen das. Wir müssen vom Islam mehr wissen.“ Also gingen wir hin. Am Ende der Tagung und des Seminars stand Abouleish an der Türe und gab jedem die Hand. Das war sozusagen meine erste persönliche Begegnung. Ich habe ihn dann nach Wien eingeladen und er kam auch bald in die Maurer Schule zu einem Vortrag. So hat diese Freundschaft begonnen. Und da gehört jetzt meine Verbindung mit Sekem dazu, diesem großartigen Kulturimpuls von Abouleish in der Wüste nahe Kairo. Da gab es zum 70. Geburtstag von Ibrahim Abouleish ein Geburtstagsbuch, in das man etwas schreiben sollte. Alle Eingeladenen machten das ganz verschieden – mal heiter, mal ernst. Und darin steht von mir etwas, das sich unterscheidet von den anderen, glaube ich, etwas in Richtung der Goetheschen Wahlverwandtschaften. TR: Der Dialog zu den Weltreligionen war deine letzte Dialogveranstaltung. Wer führt diese weiter? EG: Sehr viele haben die Dialoge gelobt und gesagt, es muss weitergehen. Es hat aber keiner auch nur eine Idee gehabt, wer es weitermachen könnte, bis auf das Zentrum – in gewisser Weise geht das Zentrum für Kultur und Pädagogik in diese Richtung und setzt die Dialoge fort. Das Zentrum rettet uns somit aus der Tatsache, dass es zunächst nicht recht weiterging. Ich habe immer wieder darauf hingewiesen, dass man sich konstruktiv auseinandersetzen muss mit den nicht-anthroposophischen Partnern. Und das erlebe ich jetzt bei den Bemühungen des Zentrums, mit der akademischen Welt in Kontakt zu kommen, dort Akzeptanz zu finden und

Geistesgegenwart und Zeitgenossenschaft

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letztlich auch Freundschaft zu pflegen – ohne dabei freilich die waldorfpädagogische Grund­ orientierung zu verleugnen. Bildnachweis: Dialog Schad/Sitte, Archiv Karl Hruza Dialog Postman/Richter, Archiv des Herausgebers

Übersicht über die Dialogveranstaltungen 1993 Rupert Sheldrake – Andreas Suchantke: „Morphische Felder – Bildekräfte“ – Forschungen auf dem Gebiet überstofflicher Felder 1995 Ralph Abraham – Bodo Hamprecht: „Chaosforschung – Wege zu einem spirituellen Weltverständnis?“ 1997 Ernst Steinkellner – Pietro Archiati: „Wiedergeburt – Wiederverkörperung aus buddhistischer und aus christlich-anthroposophischer Sicht“ 1997 Yonassan Gershom: „Reinkarnation und Chassidismus“ (Vortrag) 1997 Neil Postman – Tobias Richter: „Der Auftrag der Schule heute“ (1998 als Buch erschienen im J. M. Mayer-Verlag) 1998 Hans-Peter Martin, Raoul Kneucker, Michael Pfaffermayr, Tobias Richter: „Die Folgen der Globalisierungsfalle – für eine europäische Bürgergesellschaft“ (im Rahmen des 6. Österreichischen Waldorftages) 1998 Caspar Einem – Hans-Peter Martin – Tobias Richter: „Unterwegs zu einer neuen europäischen Bürgergesellschaft“ (Podiumsgespräch) 2000 Helmut F. Karner, Thomas Stöckli: „Persönlichkeit als Bildungsziel – Schule und Wirtschaft im Gespräch“ 2001 Peter Sitte, Wolfgang Schad: „Evolutionsverständnis als Grundlage unserer Weitsicht heute“ 2003 Arnold Suckau: „Die Welt des Islam“ (Seminar) 2004 Ibrahim Abouleish – Udi Levy – Carlo Willmann: „Judentum, Christentum und Islam – die Zukunft der monotheistischen Religionen“

Erziehung und Bildung im Dialog Carlo Willmann

Waldorflehrerausbildung im europäischen Bildungsraum Im Kapitel „Rondo“ haben Elisabeth Gergely und Tobias Richter auf die besondere Beziehung zwischen Kunst und Pädagogik hingewiesen, wie sie in der Lehrerausbildung an der Goetheanistischen Studienstätte in Wien gepflegt wurde. Diese Zentrierung auf die Erübung künstlerischer Fähigkeiten im Lehrerberuf ist gut begründet und kann durch nichts ersetzt, wohl aber ergänzt werden: durch die Ausbildung zu wissenschaftlicher Arbeit und wissenschaftlicher Beschäftigung mit den Inhalten, Methoden und Zielen der Waldorfpädagogik. Die wissenschaftliche Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit den Stärken und Schwächen der Waldorfpädagogik bedeutete auch, in einen konstruktiven und kontinuierlichen Diskurs mit der Erziehungswissenschaft und ihren verwandten wissenschaftlichen Disziplinen zu treten und innerhalb dieser die Waldorfpädagogik zu vertreten. Überblickt man das Ausbildungsprogramm vieler anthroposophischer Ausbildungs­ institute der vergangenen Jahrzehnte, so nahm die künstlerische Arbeit stets den ihr gebührenden Platz ein, ungeachtet dessen, welchen Fokus jedes Institut für sich wählte, sei es denjenigen auf die Anthropologie und Menschenkunde, auf die spezifische Ausformung methodisch-didaktischer Elemente oder auf die Berücksichtigung der Bedeutung des sozialen Raumes für Bildung und Lernen. Eine eher marginale Rolle spielte die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Waldorfpädagogik wie mit der allgemeinen Pädagogik: Der Diskurs1 mit der Erziehungswissenschaft kam nur schleppend in Gang und wenn, dann wurde er oft von außen angeregt – durch mehr oder meist weniger gerechtfertigte Kritik aus den Reihen der Erziehungswissenschafter, die durch den Erfolg und die Ausbreitung der Waldorfschulen auf die Waldorfpädagogik aufmerksam wurden. Hier haben dann einzelne Autoren (Stefan Leber, Ernst-Michael Kranich, Wolfgang Schad, Peter Schneider und andere) durchaus gezielt reagiert. Eine Veränderung in der Konzeption der Lehrerausbildung im Sinne einer grundlegenden Befähigung zum wissenschaftlichen Diskurs hat sich jedoch erst in den vergangenen Jahren entwickelt und nur allmählich profiliert. Hier ist die Waldorfbewegung als Ganzes hinter der Notwendigkeit, aber auch hinter ihren Möglichkeiten der Positionierung ihres Bildungsbegriffes und ihrer Bildungsziele zurückgeblieben. Eine solche Positionierung ist aber unumgänglich, will sich die Waldorfpädagogik den vielfachen Veränderungen – etwa

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auch im bildungspolitischen Raum, man denke an die gewichtige Rolle von PISA – stellen und als echte Alternative präsentieren. Ein in der akademischen Landschaft anerkannter Diskursraum innerhalb der anthroposophischen Ausbildungsstätten für Waldorfpädagogik kann dieser nur nutzen, niemals schaden. Geht es doch nicht darum, in das Horn des allgemeinen pädagogischen und wissenschaftlichen Mainstreams zu stoßen, sondern seine eigenen Erkenntnisse und Erfahrungen durch nachvollziehbare Formulierung, präzise Argumentation und empirische Belegbarkeit kommunizierbar zu machen. Ohne die Komplexität dieser Aufgabe und die möglichen Differenzen auf dem Weg zu ihrer Verwirklichung und Lösung hier unterschlagen zu wollen, sei festgehalten: Anthroposophische Geisteswissenschaft und allgemeine Wissenschaft ergänzend aufeinander zu beziehen, ist und bleibt eine der großen Herausforderungen, die auch von Lehrerausbildungsstätten in dem ihnen möglichen Rahmen aufgegriffen werden muss. Der Beitrag der Waldorfpädagogik zu den Erziehungsaufgaben der Gegenwart muss auch in den Köpfen und Haltungen derjenigen präsent werden, welche die Debatten um eine zukünftige Gestaltung der Bildungslandschaft vor- und mitbestimmen. Und diese befinden sich nach wir vor an den Lehrstühlen von Universitäten und Hochschulen. Wenn man diese allgemeinen Bemerkungen zu den Arbeitsfeldern an Lehrerbildungsinstitutionen und in das Gebiet von Wissenschaft und Forschung hinein erweitert, muss auch der Blick auf die konkrete Entwicklung des europäischen Bildungsraumes geworfen ­werden, denn die Ausbildungsinstitute zur Waldorfpädagogik stehen nicht isoliert in diesem Raum, sondern sind Teil von ihm und werden von diesem – nolens volens – mitbestimmt. Auch hier haben sich in den vergangenen beiden Dekaden spürbare Veränderungen ergeben und die von der Europäischen Union intendierten Vorhaben zur Umstrukturierung des Bildungssektors werden auch an den Ausbildungseinrichtungen für Waldorflehrer nicht spurlos vorübergehen. Auch wenn die Entscheidungssouveränität im Bildungsbereich den Einzelstaaten unterliegt, so ist die bildungspolitische Ausrichtung doch am gesamteuropäischen Prozess orientiert. Hauptanliegen dieses Prozesses ist der uneingeschränkte und barrierefreie Arbeitsmarkt in einer Wissens- und Informationsgesellschaft der Zukunft. Um diesem Ziel näherzukommen, sollen die verschiedenen Berufsausbildungen sowie die jeweils zu erwerbenden Abschlüsse in Studium und Ausbildung staatenübergreifend gleichwertig gestaltet werden. In der europäischen Bildungslandschaft sind davon zunächst die Universitäten und Hochschulen sowie Fort- und Weiterbildungseinrichtungen betroffen. Ein markantes Beispiel hierfür ist der überraschend schnell und inhaltlich vorangeschrittene Bologna-Prozess, der eine nachhaltige Umstrukturierung vieler Studiengänge nach sich zieht bzw. schon nach sich gezogen hat. Es darf dabei nicht verschwiegen werden, dass gerade die – vielfach überstürzt erscheinende – Einführung der Bologna-Kriterien und die damit verbundenen strukturellen Ver-

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änderung von Studiengängen zu gewaltiger – und auch berechtigter – Unzufriedenheit in der Studentenschaft und zu spürbarer Unsicherheit an den Lehrstühlen geführt haben. Dennoch muss gesagt werden, dass die vielfach schweren – hier nicht im Einzelnen zu nennenden – Mängel des Bologna-Prozesses an vielen Universitäten und in vielen Studienrichtungen nicht auf die Idee des Bologna-Prozesses zu übertragen sind und auch nicht auf alle damit arbeitenden Einrichtungen. Es gilt vielmehr, durch die Erkenntnis dieser Schwächen die Paradigmen zu wechseln: Bildung nicht als kurz gehaltene, verschulte Belehrung zu verstehen, sondern als einen die Menschen bildenden und Menschen verbindenden Prozess, der Zukunft schaffen kann. Das finge etwa bei einem neuen Verständnis dessen an, was ein Grundstudium bis zum Bachelor wirklich sein könnte, nämlich eine Art fachgebietsbezogenes Studium Universale, dem dann ein Masterstudium in Form von einer spezialisierten Erweiterung und Vertiefung des Gelernten folgen könnte. Wie heftig und kontrovers das von der Europäischen Union intendierte Vorhaben zur Umstrukturierung des Bildungssektors derzeit auch diskutiert wird und wie die von Studenten und Dozenten geforderten Veränderungen auch umgesetzt werden mögen, die Folgen betreffen, wenn nicht unmittelbar, so doch auf lange Sicht auch die Ausbildungseinrichtungen für Waldorfpädagogik, denn auch sie stehen in Zusammenhang mit dem allgemeinen bildungspolitischen Prozess im neuen Bildungsraum Europa. Für die europäische Waldorfbewegung entstehen durch diese Entwicklung im Bereich der Lehrerausbildung neue Anforderungen. Einerseits: Da Waldorfpädagogik in ihren philosophischen, anthropologischen und pädagogischen bzw. erziehungswissenschaftlichen Intentionen international angelegt und global ausgerichtet ist und somit m. E. die einzige europaweite und internationale pädagogische Bewegung von Format darstellt, muss gerade die Waldorfbewegung ein starkes Interesse an einer europäischen Formulierung ihrer grundlegenden Bedürfnisse, Erwartungen, Werte und Ziele haben. Andererseits: Sie muss selbst dafür sorgen, innerhalb der neuen europäischen Bildungslandschaft präsent zu sein und wahrgenommen zu werden, also nicht nur den Anschluss zu halten, sondern – mehr noch – diesen Prozess auf ihre spezifische Weise für sich selbst aktiv voranzutreiben und mitzugestalten. Für den Bereich der Lehrerausbildung bedeutet das, dass dieses Ziel nur durch eine staatenübergreifende Vernetzung der entsprechenden Waldorfeinrichtungen erreicht werden kann. Sollte diese Vernetzung für den europäischen Prozess als kompetent und zukunftsorientiert wirksam werden, setzt eine solche Vernetzung eine international akkreditierte Form voraus – und das ist in diesem Falle die Anerkennung ihrer Ausbildung in der Form international vergleichbarer Bildungsabschlüsse auf akademischem Niveau. Womit wir wieder am Ausgangspunkt unserer Überlegungen angelangt sind: Der Aufbau einer wissenschaftsorientierten Ausbildung wird unausweichlich sein. Aus ihr kann sich dann ein europaweit wahrnehmbares Forschungsforum mit wissenschaftlichen Publikationen, Konferenzen und Kongressen herausbilden.

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Aus diesen sich abzeichnenden Entwicklungen heraus hat das Zentrum für Kultur und ­Pädagogik (im Folgenden, verkürzt: das Zentrum) erstmals im Januar 2007 zu dem Symposium „Europäische Vernetzung der Waldorflehrerausbildung“ eingeladen. Ein neuer Fahrplan für die zukünftige Gestaltung einer europaweiten Zusammenarbeit von Ausbildungen sollte geschaffen werden: Kooperation statt Konkurrenz sollte das ideelle Motiv und der wirksame Faktor der Ausbildungen im Raum europäischer Bildungspolitik werden. Vor allem stand das Zentrum vor der essenziellen Frage der Akademisierung seiner Ausbildung und suchte den Erfahrungsaustausch bei denjenigen Instituten, die darin schon vorangeschritten waren. Hier waren es vor allem die Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter, die Hogeschool Helicon in Zeist, die Rudolf Steinerhoyskolen in Oslo und das Institut für Praxisforschung (IPF) in Solothurn in Kooperation mit der Universität Plymouth. Hinzu kamen die Einrichtungen, die selbst den Prozess der Akademisierung ins Auge gefasst hatten: das Waldorf Pedagogiai Inézet aus Solymar, die Freie Hochschule Stuttgart, die Freie Hochschule für anthroposophische Pädagogik in Mannheim, die Rudolf Steinerhögskolan in Järna, das Seminar für Waldorfpädagogik in St. Petersburg, die Pedagoško ućilšite Zagreb und das Institut für Waldorfpädagogik Witten-Annen. In späteren Sitzungen nahmen auch Vertreter des Lehrerseminars Graz und von Waldorf-Salzburg teil. 2008 und 2009 folgten weitere Symposien in Wien und Krems, in denen sich der Austausch intensivierte, die Fragestellungen verdichteten und die gemeinsamen Aufgaben präzisierten. Schwerpunkte der Arbeit waren die Formulierung der jeweiligen Ausbildungsprofile, die Fragen nach den universitären Akkreditierungsverfahren, nach der Prüfung der rechtlichen Grundlagen einer gesamteuropäischen Waldorflehrerausbildung, die Diskussion um den Wissenschaftsbegriff der Anthroposophie und die Wissenschaftlichkeit der Waldorfpädagogik, um nur die wesentlichsten Punkte zu nennen. Bald wurde deutlich, dass es konkret darum gehen muss, auf europäischer Ebene eine Hochschulbewegung zu etablieren, die neue Kooperationsformen zu entwickeln vermag, den Austausch von Studenten und Dozenten ermöglicht, die Akademisierung der Waldorfpädagogik voranbringt und ein Sprachrohr innerhalb der europäischen Bildungspolitik auf Hochschulebene darstellt. Unter der Leitung von Raoul Kneucker kam es im Januar 2009 an der Donau-Universität in Krems zur Formulierung der „Krems-Erklärung“, die von den VertreterInnen der Ausbildungseinrichtungen in Alfter, Graz, Mannheim, Oslo, Plymouth, Sankt Petersburg, Solymar, Stuttgart, Wien, Witten-Annen, Zagreb und Zeist unterzeichnet wurde. In der Erklärung wurden in präzisierter Form weitere Ziele und Absichten formuliert. Dazu gehören die Aufgaben, Waldorfpädagogik in den Kontexten des 21. Jahrhunderts weiter zu entfalten, wissenschaftliche Standards zu sichern, einen Kernbereich für ein gemeinsames europäisches Curriculum für Waldorfpädagogik zu formulieren und die Bedingungen für ein europäisches Waldorfdiplom zu schaffen. Dazu sollte eine ständige Konferenz

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der Hochschulen geschaffen werden, die diese Aufgaben wahrnimmt und die Zukunft der Lehrer­ausbildung auf europäischer Ebene gestalten sollte. Im September 2009 und Januar 2010 trat die in der Erklärung anvisierte „Ständige Konferenz der akademischen Waldorflehrerbildung“ in Wien zusammen, um weitere Schritte zu beraten und zu beschließen. Im März 2010 kam es schließlich zur Konstituierung der „Europäischen Hochschulkonferenz für Waldorfpädagogik“, welche die Nachfolge der ständigen Konferenz angetreten hat. Die Leitung der Hochschulkonferenz für Waldorfpädagogik wird zunächst für zwei Jahre vom Zentrum für Kultur und Pädagogik übernommen. Drei Sitzungen pro Jahr werden einberufen. Die Agenda sieht die weitere Integration in den BolognaProzess vor, die Unterstützung und Beratung bei weiteren Akkreditierunsvorhaben und die gegenseitige Anerkennung der Abschlüsse, die Förderung von Austauschprogrammen, die Bereitstellung von Informationsportalen, die Veröffentlichung von Publikationen sowie die Vorbereitung und Durchführung von Kongressen. Erste Projekte konnten bereits in Angriff genommen werden: Eine Publikation mit dem Titel „Waldorfpädagogik studieren“ ist in Vorbereitung und soll im Frühjahr 2011 erscheinen. In fortgeschrittener Planung ist ein europäischer Kongress mit dem Tagungstitel „2020 – The Future of Teacher Education“, der im März 2011 in Wien stattfinden wird und ein Forum für erziehungswissenschaftliche Fragestellungen zu neuen und zukunftsweisenden Formen der Lehrerausbildung darstellen soll. Mit diesen Schritten erweist sich die Konferenz als tatkräftige und zukunftsorientierte Einrichtung, die den Forderungen der Zeit gerecht werden will.

Entstehung und Entwicklung des Zentrums für Kultur und Pädagogik in Wien Im Jahr 2001 wurde das Zentrum für Kultur und Pädagogik als gemeinnütziger Verein anerkannt und als solcher tätig. Hauptaugenmerk ist die Ausbildung zum Waldorflehrer. In der Vorphase der Gründung dieses Zentrums haben Tobias Richter und Karl Garnitschnig in Zusammenarbeit mit Slavica Bašić und Juliane Grohe sowie Elisabeth Gergely (letztere als Vorstandsmitglied des Zentrums und in beratender Funktion) die Weichen für die Gründung des Zentrums in Wien gestellt. Der Verein ist derzeit gegliedert in den Vorstand, einen erweiterten Vorstand und einen wissenschaftlichen Beirat. Die dreijährige berufsbegleitende Ausbildung zum Waldorflehrer wird von einem engeren Kreis von zehn ehrenamtlichen Mitarbeitern sowie Gastdozenten durchgeführt. Im Herbst 2001 begann der erste Kurs. Bis Herbst 2007 hat das Zentrum vier Ausbildungsgänge in Waldorfpädagogik durchgeführt und dabei insgesamt 99 Studentinnen und Studen­

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StudentInnen und DozentInnen des Masterkurses Waldorfpädagogik auf dem Campus der Donau-Universität Krems

ten betreut, 61 haben mit einem von der Pädagogischen Sektion Dornach anerkannten Waldorfdiplom abgeschlossen. Ein besonders wichtiges Element war in den ersten Jahren des Zentrums die Kooperation mit der von Tobias Richter und Slavica Basic geschaffenen postgraduierten Spezialisierung in Waldorfpädagogik am Erziehungswissenschaftlichen Institut der Philosophischen Fakultät an der Universität Zagreb, die zu jährlich wiederkehrenden gemeinsamen Intensivseminaren an verschiedenen Orten in Kroatien und in Wien führte. Von Anfang an stand das Anliegen einer Akademisierung – also einer Arbeit des Zen­ trums im Rahmen einer wissenschaftlichen Institution und einer damit einhergehenden wissen­schaftlichen Anerkennung der Waldorfpädagogik – im Raum. Durch Karl Garnitschnig kam es 2001 in einem ersten Schritt zur Implementierung des vom Zentrum betriebenen Lehrganges „Waldorfpädagogik – Bildung im Dialog“ am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien. StudentInnen, die dort ihr Studium der Erziehungswissenschaft bzw. der Pädagogik absolvierten, sollten die Möglichkeit haben, auf Modulbasis Seminare im Zentrum zu besuchen und dies als Leistungsnachweis für ihr Studium an der Universität angerechnet zu bekommen. Auch Studenten der Pädagogischen Akademie Wien nahmen an diesen Seminaren zur Waldorfpädagogik teil. Diese sowohl für Dozenten als auch Studenten lehrreiche Zusammenarbeit dauerte jedoch nur zwei Jahre. Eine wesentliche Veränderung ergab sich, als in Kontakten mit der

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Erster Masterkurs Waldorfpädagogik an der Donau-Universität Krems

­ onau-Universität Krems die volle Anerkennung des Lehrganges als akademischer LehrD gang im Rahmen eines Masterstudiums in Aussicht gestellt wurde. Die 1994 als Universitätszentrum für Weiterbildung gegründete und im Jahr 2004 in eine öffentlich-staatliche Universität für Weiterbildung übergeführte Donau-Universität ist die erste in Europa anerkannte Weiterbildungsuniversität, die durch zumeist postgraduale Studiengänge akademische Profilierung und Spezialisierung im Sinne eines „lebenslangen Lernens“ anbietet. Nach intensiven Gesprächen mit der damaligen Vizerektorin, Ada Pellert, und einem aufwendigen Akkreditierungsvorgang konnte das Zentrum für Kultur und Pädagogik im Jahr 2007 den Universitätslehrgang „Bildung im Dialog – Pädagogik mit Schwerpunkt Waldorf“ etablieren. Der Lehrgang ist im Department „Bildungsmanagement und Weiterbildungsforschung“ angesiedelt. Mit der Donau-Universität Krems hat das Zentrum einen wichtigen Partner zur Verwirklichung seiner Bildungsaufgabe gefunden, der stringent, aber offen ist für die Entwicklung neuer Konzepte, die akademische Sicherung der Waldorflehrerausbildung begleitet und ­vorantreibt. Im Herbstsemester 2007 wurde der erste Lehrgang, der mit dem akademischen Grad „Master of Arts in Waldorfpädagogik“ abschließt, eröffnet. Auf institutioneller Ebene ergab sich im Herbst 2009 – angestoßen durch die vorhin skizzierte Zusammenarbeit der europäischen Waldorfausbildungen – eine besonders wich-

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tige und wirksame Möglichkeit in Richtung einer universitären Profilierung des Zentrums. Zwischen dem Zentrum und der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter bei Bonn wurde ein Kooperationsvertrag geschlossen, der das Zentrum zu einem Außen­ institut der Alanus Hochschule erklärte und somit selbst zu einem universitären Institut mit weitestgehend autonomem administrativen und wirtschaftlichen Status machte. An der ­Alanus Hochschule ist das Zentrum angegliedert an das Institut Schulpädagogik und Lehrer­bildung im Fachbereich Bildungswissenschaft, dessen Leiter Jost Schieren ist und der auch, zusammen mit Rektor Marcello da Veiga, diesen Kooperationsvertrag unterzeichnet hat. Die gemeinsamen Ziele dieser Kooperation liegen in der Durchführung gemeinsamer Forschungsprojekte und wissenschaftlicher Veranstaltungen, in der Entwicklung und Festlegung gemeinsamer Standards für Lehre und Abschlussprüfungen, in der Einrichtung eines Austauschprogramms für Studierende und Lehrende, in der Leistung von Beiträgen zur Personalentwicklung der Waldorfeinrichtungen in Europa und der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern auf Grundlage anerkannter akademischer Standards und akkreditierter Studiengänge in Europa. Hinzu kommt die Möglichkeit der Berufung akademischen Personals durch die Alanus Hochschule. So wurde im Herbst 2010 eine Juniorprofessur für Religionspädagogik und Ethik eingerichtet. Als Außeninstitut der Alanus Hochschule verbleibt das primäre Tätigkeitsfeld des Zentrums an der Donau-Universität Krems und ist in diesem Rahmen mit der Ausbildung des österreichischen Waldorflehrernachwuchses betraut.

Der Studiengang „Bildung im Dialog – Pädagogik mit Schwerpunkt Waldorf“ Der Lehrgang ist dreigeteilt und bietet nach jedem zweisemestrigen Studienjahr einen eigenen Abschluss: Nach einem Jahr wird ein Certificate, nach zwei Jahren ein Diploma ver­geben, das dritte Jahr schließt mit dem Mastergrad ab. Insgesamt müssen 120 ECTS (Anrechnungseinheiten in Form von Leistungspunkten, die zum Transfer von Studienleistungen an europäischen Universitäten genutzt werden können) erreicht werden, um das Studium erfolgreich abzuschließen. Das erste Studienjahr ist als ein Einführungsjahr angelegt, das in das wissenschaftliche Arbeiten, insbesondere auf dem Gebiet der Praxisreflexion, einführt und Wissenschaftstheorien zur Diskussion stellt. Inhaltlich stehen Grundkenntnisse der Pädagogik(en) und ihrer Geschichte, Entwicklungspsychologie der frühen Kindheit und allgemeine kulturanthropologische Fragestellungen im Vordergrund. Methodik und Didaktik sind auf das Kleinkind ausgerichtet. Hospitationen an Schulen werden durchgeführt und sind ein wichtiger Faktor im Studienzusammenhang. Dieser Studienabschnitt schließt mit einer Zertifikatsarbeit ab.

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Das zweite Ausbildungsjahr gilt philosophischen Fragestellungen, vor allem der Frage nach der Freiheit und deren Bedeutung für die Pädagogik. Die Auseinandersetzung mit ­Rudolf Steiners „Philosophie der Freiheit“ kann als Leitmotiv des Studienjahres angesehen werden. Im Zentrum der anthropologischen Betrachtung stehen weiters die in der anthroposophischen Menschenkunde formulierte Dreigliederung des Menschen, sowie die Bedeutung von Religion und Religiosität für die Entwicklung des Menschen. Entwicklungspsychologische und methodisch-didaktische Fragestellungen richten sich auf das Schulkind und den jugendlichen Menschen. Die Hospitationen werden durch Praktika ergänzt. Eine Diplomarbeit, zumeist in Form eines praxisorientierten Forschungsprojektes, schließt das Studienjahr ab. Das dritte Studienjahr ist vorwiegend der Fachdidaktik und den verschiedenen Formen der Unterrichtsgestaltung gewidmet, deren Schwerpunkte auf Muttersprache und Rechnen, Geschichte und Geografie, Naturkunde und Naturwissenschaften liegen. Damit einher geht eine Intensivierung der Schulpraktika begleitet von einer verstärkten Praxis- und Selbstreflexion, die auch anhand des Einübens in die Kinderbesprechung gefördert wird. Schließlich werden die Sozialgestalt der Waldorfschule und ihre Bedeutung für die Entwicklung eines neuen Bildungswesens diskutiert. Am Ende der Ausbildung steht das Verfassen einer Master-Thesis, einer wissenschaftlich fundierten Studie, in der der/die Studierende seine Fähigkeit der Zielformulierung, der Problemdefinition, der Methodenwahl und der systematischen Durchführung seines Themas unter Beweis stellt und sich einer Defensio seiner Thesis stellt. Eine gewichtige Rolle in der Bewertung der Studienleistungen ist neben der MasterThesis auch die Präsentation des Portfolios eines Studierenden. Die Anerkennung der Port­ folioarbeit als Instrumentarium der Überprüfung von Studienprozessen und Studienleistungen ist ein bedeutsamer Indikator für das offene Studienverständnis der Donau-Universität Krems. Die Portfolioarbeit trägt sowohl Prozessen als auch Ergebnissen des Studiums Rechnung; an ihr lässt sich der „Bildungsweg“ des/der Studierenden ablesen, die Vielfältigkeit seiner Studien genauso wie seine jeweils individuellen Zugänge zu den Anforderungen und Inhalten des Studiums. Bemerkenswert sind dabei die zu jedem Modul eingeforderten Reflexionen, die eine inhaltliche Bearbeitung der Studienthemen, aber auch eine persönliche Verarbeitung unter dem Aspekt der Selbstreflexion sowohl gegenüber dem Gelernten als auch dem Lernprozess verlangen. Besonders aufschlussreich sind hierin vor allem die Portfolioinhalte, die sich auf den künstlerischen Prozess beziehen: Sie zeigen oft auch den ungemein beeindruckenden biografisch-persönlichen Weg des/der Studierenden hin zu einer möglichst reifen Lehrerpersönlichkeit. Es braucht nicht eigens erwähnt zu werden, dass ein bedeutender Anteil der Ausbildung der künstlerischen Arbeit zukommt. Durch Übungen in Zeichnen und Malen, in Bewegungskunst von Eurythmie und Living Movement, in Singen, Musizieren und Theaterarbeit bildet

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sich der angehende Lehrer/die angehende Lehrerin zu einem fantasievollen, initiativen und verantwortungsvollen Menschen heran. In gemeinsamen Projekten, wie etwa bei Segelkursen, werden Teamfähigkeit, Geschick und Handlungsbereitschaft gemeinsam erprobt. Da der Lehrgang modular konzipiert ist, sind Anrechnungen von anderen Lehrgängen an anderen Universitäten erleichtert. Für bereits tätige WaldorflehrerInnen ist auch die pädagogische Praxis anrechenbar. Die Seminare, künstlerischen Übungen, Kolloquien, Workshops und Projekte finden in Wochenendseminaren und Intensivwochen statt, was für eine berufsbegleitende und überregional wirkende Ausbildung die adäquate Form bildet. Über diese Studiengänge an der Donau-Universität hinaus vertritt das Zentrum auch weitere nicht-akademische Aufgaben im Bildungsbereich. So organisiert und leitet das Insti­ tut auch Fortbildungsveranstaltungen zu pädagogischen Themen, die von Experten ihres Faches über einen Tag oder ein Wochenende angeboten und von Eltern, Lehrern und Studenten besucht werden. Hier haben sich vor allem Themen zum Sprachunterricht, Musik­ unterricht, zu erzieherischen Fragen in Bezug auf die unterschiedlichen Altersstufen, zu heilpädagogischen Fragestellungen, zu einer angemessenen Pädagogik bei verhaltensauffälligen Kindern, zu Kommunikationsformen und -strategien im Schulleben, zu Methodik in Didaktik in einzelnen Fachgebieten u.a.m. als gefragt erwiesen. Das Zentrum unterstützt auch weitere pädagogische Initiativen: So sind Schulneugründungen in Niederösterreich und im Burgenland aus dem Wirkungsfeld des Zentrums hervorgegangen und erhalten, soweit wie möglich, Rat und Unterstützung, wie auch die Initiative FRAM, die sich der Förderung verhaltensauffälliger Kinder widmet. Auch findet eine konti­ nuierliche Zusammenarbeit mit der Waldorf & Co. Familienakademie in Baden bei Wien statt. Grundlegend und zukunftsorientiert ist ferner die Neuformierung der Anthroposophischen Akademie für Erwachsenenbildung in Österreich, deren Mitglied das Zentrum ist und wo sich aus der Zusammenarbeit mit anderen Instituten der Akademie neue Impulse für Anthroposophie und Waldorfpädagogik ergeben.

Intentionen Der Kern des Zentrums liegt gleichwohl in einer spirituellen Aufgabe: Geht man davon aus, dass auch ein Kern eine Schale besitzt, dann ließe sich sagen, dass zu diesem Bereich die in diesem Buch beschriebene Intention des Dialogs gehört. Das Zentrum hat von Beginn an den sinnstiftenden Diskurs mit den bedeutenden Kulturfunktionen Wissenschaft und Wirtschaft, Kunst und Religion gesucht, um diese innerhalb der Lehrerausbildung und Fortbildung wiederum für die Pädagogik fruchtbar zu machen. So trägt das Curriculum der Aufgabe des Dialogs Rechnung, indem es Anthroposophie und Waldorfpädagogik in ernsthafte

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Beziehung setzt zu Theorie und Praxis anderer Wissenschaftler, Pädagogen, Philosophen, Theologen und Psychologen. Erst der Diskurs lässt den Wert eines jeden erkennen und – sei es in Übereinstimmung, Ergänzung oder Abgrenzung – die eigene Position befragen und überprüfen. Der innerste Kern des Zentrums, der Wesenskern, liegt in der Entfaltung all jener Fähig­ keiten und Möglichkeiten, die eine Pädagogik der Gegenwart und Zukunft von einem Lehrer verlangt: über ein freies und kritisches Denken zu verfügen, die eigenen emotionalen Kompetenzen erweitern und die eigene Handlungs- und Verantwortungsbereitschaft stärken zu können. Diese drei wichtigen und entscheidenden Kompetenzen sind im Zentrum unter drei Begriffen versammelt, die gleichsam als Leitmotive der Ausbildung gelten können: Dialogkultur, Erziehungskunst, Gestaltungssinn. Dialogkultur ist zu verstehen als das bewusste Erlernen und Ausüben der Möglichkeit, sich dem anderen und auch sich selbst gegenüber zu öffnen, das Gespräch im Sinne einer unvoreingenommenen Begegnung und auf das Ergebnis hin offen zu führen und sich vom Gedanken der Gemeinsamkeit des Menschlichen leiten zu lassen. Es muss zu Bewusstsein kommen, dass die beträchtlichen Herausforderungen der Gegenwart und, mehr noch, der Zukunft an die Erziehung, denen wir in einer Zeit der Technisierung und Ökonomisierung – auch in der Welt des Kindes – ausgesetzt sind, nur gemeinsam von allen Kräften, die sich dieser Erziehungsaufgabe widmen, gemeistert werden können. Wie anders als durch den Dialog können diese Kräfte miteinander verbunden und gestärkt werden? Kritische Selbstreflexion und kritisches Wahrnehmen der Positionen anderer bedeuten Klärung sowohl der eigenen Defizite wie jener der anderen und die Anerkennung und Förderung der eigenen Anstrengungen und Erkenntnisse sowie jener der anderen in Theorie und Praxis. „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“, schreibt Martin Buber und nirgends mehr ist diese Begegnung verlangt als in der Begegnung mit dem Kind und dem Jugendlichen in der erzieherischen Praxis. Soll das Kind in das wirkliche Leben eintauchen können, sich als lebendiges Wesen erfahren dürfen, dem eine Zukunft in Würde gegeben ist, dann muss auch der Erzieher diese Erfahrung der Begegnung gemacht haben. Dialogkultur ist also Begegnungskultur. Sie wird erlernt durch unvoreingenommene Achtsamkeit gegenüber den Erscheinungen der Welt, im aufmerksamen Zuhören und nicht zuletzt in der Fähigkeit, sich selbst aussprechen zu können. Dies sind zugleich auch die Fähigkeiten, die wir dem Kind und Jugendlichen mitzugeben wünschen auf seinem Weg der Selbstwerdung. In engstem Verhältnis dazu steht das Ziel der Erziehungskunst. Alles künstlerische Tun ist ebenfalls auf dem Prinzip der Begegnung aufgebaut. Geht es in der Kunst doch um das Wesen einer Sache: Je deutlicher und klarer das Wesen einer Erscheinung, sei dieses von ideellem, sozialem oder materiellem Gehalt, durch das Kunstwerk aufscheint, umso wertvoller, aussagekräftiger und ideenleitender wirkt es auf uns. Der Künstler zeigt uns seine Begegnungsweise mit der Welt und lässt uns an ihr teilhaben. Diesen schöpferischen Pro-

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zess im Üben von Musik, Tanz, Bildhauerei und Malen an sich selbst zu erfahren – oft genug schmerzlich, am Ende aber befriedigend –, ist eine Grundvoraussetzung für den Unterrichtenden und Lehrenden. Denn ein schöpferischer Prozess ist es auch, durch die Kunst der Erziehung das Wesen eines Kindes zum Vorschein zu bringen und es selbst entfalten zu lassen. Da dies nicht in einem freien und ungestört ideellen Raum geschehen kann, sondern an die Realität von Gesellschaft, Kultur, Religion, Familie und Medien gebunden ist, kommt es darauf an, im potenziellen Raum von Konflikt und Enttäuschung, von Überforderung und Abwehr eine Lebensform zu generieren, die sich den Aufgaben nicht ohnmächtig, sondern produktiv gegenüberstellen kann. Hier kommt es darauf an, Gestaltungssinn zu entwickeln. Finde ich zu einer Gestaltung meiner Handlungen, die Sinn geben und Sinn ergeben, lebe ich bei mir selbst, finde Antworten und lasse neue Fragen zu. Ich kann offen für Entwicklungen sein, lerne abzuwägen und zu argumentieren, meine Entscheidungen zu vertreten und das Angemessene zu tun. Aus dieser Erfahrung von der Möglichkeit, sinnhafte Lebensformen zu verwirklichen, ist es ein geringer Schritt, zu einer sinnvoll gestalteten Unterrichtsweise zu kommen oder den Lebensprozessen einer Schulgemeinschaft tragende Impulse zu geben. Dialogkultur, Erziehungskunst und Gestaltungssinn sind nicht bloße Kategorien einer akademischen Theorie, sondern entsprechen dem Wesen des Menschen in seinem Denken, Fühlen und Wollen. Wenn diese Seelenfähigkeiten auch in allen dreien zugleich tätig sind, so wird doch in der Dialogkultur das freie und unvoreingenommene Wahrnehmen und Denken geschult, in der Erziehungskunst das Einfühlen und fantasievolle Umgehen von Erziehern und Lehrern mit den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen, im Gestaltungssinn die sozialen Willenskräfte für das gemeinsame Wirken in einer Schulgemeinschaft. Diese drei Übungsfelder stehen auch in einem deutlichen Zusammenhang mit dem, was Rudolf Steiner von den Lehrern der ersten Waldorfschule forderte: Initiative zu entwickeln, Achtsamkeit gegenüber dem Großen und Kleinen zu pflegen und Wahrhaftigkeit anzustreben. Jeder Dialog ist einer bewussten Initiative aller Beteiligten zu verdanken, jede Kunst berücksichtigt das kleinste Detail und zielt zugleich auf die große Aussage, jeder Wille zur Gestaltung kann an der Wirklichkeit und den sie bedingenden Faktoren nicht vorbeigehen, sondern muss sie in ihrem Sosein erkennen und ihr in adäquaten realistischen Schritten begegnen, um sie zum Positiven hin zu verändern. Dieser innere „Bewusstseinskern“ der Ausbildung am Zentrum für Kultur und Pädagogik muss immer wieder von den Lehrenden und Studierenden neu erarbeitet und mit immer neuen Gehalten belebt und formuliert werden. Es ist dies eine besonders anspruchsvolle, aber unumgängliche Aufgabe, die zu immer neuen Impulsen und Anregungen führen kann. Dialogkultur, Erziehungskunst und Gestaltungssinn sind dann gleichsam Lebenselixiere für den Einzelnen wie für die Einrichtung selbst. Es ist für mich bemerkenswert, dass in den

Erziehung und Bildung im Dialog

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zehn Jahren des Bestehens nahezu alle auf den verschiedensten Ebenen Mitarbeitenden dem Zentrum trotz vieler Herausforderungen treu geblieben sind. Es mag das Geistverbindende sein, das in dieser Arbeit liegt, sofern sie eben dem Geistigen verpflichtet ist. Und so glauben und spüren wir, dass Elisabeth Gergely auch nach ihrem Übertritt in die geistige Welt mit uns verbunden ist und wir es mit ihr sind.

Anmerkung 1

In diesem Text ist die Rede von Diskurs und Dialog. Diskurs wird hier verstanden als eine disziplinäre oder interdiszi­plinäre Form der rationalen Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Forschungsmethoden und Forschungs­ergebnissen; Dialog als eine darüber hinausgehende Form transdisziplinärer Verständigung hin zur Gewinnung neuer gemeinsamer Sinnhorizonte.

Bildnachweis: Archiv des Herausgebers

F INALE

Finale Tobias Richter

Was erwartet man von einem Finale, von einem Schlusssatz? Vielleicht einen raschen, fröhlichen Ausklang, einen Kehraus? Oder eine hymnische Steigerung als Feier der gesamten Komposition? Aber auch das gibt es: Die oft ganz unerwartete Rückkehr zum Ausgangsthema, wenn der Komponist sich an die Regel hielt: „Am ­Anfang musst du nicht das Ende kennen, doch am Ende bedenke den Anfang.“ Das durchgängige Thema der aufgefunden Waldorfkomposition war das des Dialogs – und im Präludium klang es nochmals an –, aber bereits in einer neuen Tonart. Mit dem Untertitel „Aufbruch in eine neue Welt“ wurde ganz bewusst der große böhmische Komponist Antonín Dvořák hereingerufen. Auch er entstammte der Donaumonarchie, von der wir zeigen wollten, wie dort eine Kultur des Dialogs gewachsen war. Zwischen 1892 und 1895 übernahm er die Aufgabe, das New Yorker Konservatorium zu leiten und eine junge Musikergeneration heranzubilden, die einen national-amerikanischen Musikstil entwickeln sollte. Dort schrieb Dvořák seine berühmte 9. Symphonie in e-Moll, op. 95 Aus der Neuen Welt. Er kam in ein Amerika des Aufbruchs, aber auch in ein Amerika, das zu einem gemeinsamen Leben mit den indianischen Ureinwohnern nicht fähig war und diese in Reservate verbannte … Das Schicksal der autochthonen Gruppen in Amerika bewegte Antonín Dvořák zutiefst, und er wies ihnen in seinem Werk einen prominenten Platz zu – allerdings, ohne dabei folkloristisch zu werden. Er selbst äußerte sich dazu folgendermaßen: „Aber den Unsinn, dass ich indianische oder amerikanische Motive verwendet hätte, lassen Sie aus, weil das eine Lüge ist. Ich habe nur im Geiste dieser amerikanischen Volkslieder geschrieben.“1 In unserer Beschreibung der Waldorfkomposition in Österreich haben wir versucht, das aufzuzeigen, was von ihr und ihrem Geist erkennbar ist. Dazu gehört auch der Aufbruch in eine neue Welt. Antonín Dvořák war in der neuen Welt räumlich angekommen, als er die Symphonie schrieb – den offenen Horizont vielfältiger Möglichkeiten verspürend.2 Doch im Wesen der Zukunft liegt es, dass sie allenfalls vorausgeahnt, aber nie erreicht wird. Und somit bricht man stets neu in diese auf, wie es bis zuletzt Elisabeth Gergely immer und immer wieder konnte – und wie es auch bei einem Kind zu erleben ist. Noch einmal sei an Martin Buber erinnert, dem wir das Erkennen des Dialogmotives verdanken. Für ihn bedeutet die „Wirklichkeit Kind“, dass „in die Schichtung des Vorhandenen

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Finale

das noch Ungewesene einbricht, mit zehntausend Antlitzen, von denen keines bisher erschaut worden war, mit zehntausend noch ungewordenen, werdebereiten Seelen – urgewaltige Potentia.“3 Dem will sich eh und je eine Pädagogik aussetzen, deren Ziel es ist, das Werden der Kinder und jungen Menschen zu begleiten. Diese Gnade des Immer-wieder-anfangen-Dürfens, die einem im Kind, auf das man zugehen will, begegnet, stellt auch die Frage nach dem, wovon man ausgegangen und wohin man gelangt ist … Damit sind wir dort angekommen, wo unsere Darstellung des österreichischen Weges der Waldorfpädagogik endet. Das Woher und Wohin ließen sich beschreiben. Das Zukünftige, der weitere Weg, muss notwendig offen und damit die Komposition unvollendet bleiben: Andere Dirigenten, neue Orchester – und traditionsreiche mit neuen Instrumenten – sind bereits da und haben schon mit ihrer Arbeit begonnen. Anmerkungen 1

Wikipedia, 20. September 2010

2 Bevor die Astronauten der „Apollo 11“ 1969 zum ersten Mal den Mond betraten, hörten sie während des Fluges genau diese Symphonie, die von Sehnsucht und gleichzeitig von Abenteuerlust kündet und somit den Moment des Betretens einer neuen Welt vorbereitete. 3 Buber, M., Reden über Erziehung, Heidelberg 1969, S. 11f Bildnachweis: Mittelstufen-Chor und -Orchester der Rudolf-Steiner-Schule Wien/Mauer unter Leitung einer ehemaligen Schülerin: Archiv Karl Hruza

Finale

Junge Musiker mit junger Leitung

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D i e D i r i g e n t i n E l i s a b e t h G e r g e ly Irmtraud Moravansky

„Wer von einer Idee als seinem Werk ergriffen ist, möge am eigenen Schicksal prüfen, ob er damit einer Wahrheit oder einem Wahne dient. Er betrachte die Prüfung als bestanden, wenn sein Schicksal ihn mit dieser Idee trägt. Dazu aber muss er in das Risiko seines Konzeptes mit allem, was er hat, eintreten. Wenn er vorher andere Sicherheiten sucht und damit ja der Tragkraft seiner Idee selbst nicht ganz glaubt, dann wird ihn auch die äußere und innere Tragkraft seiner Idee auch wirklich verlassen. Man muss sich ganz in das Risiko einer Idee begeben, muss sie zu seinem Schicksal machen, erst dann verwachsen sie miteinander: die Idee, ihr Träger und sein Schicksal.“ Gerhard Kienle Die ungeschriebene Philosophie Jesu, Stuttgart 1983, S. 100

Elisabeth Gergely stand im Herbst 2009 im 90. Lebensjahr. Ihr größtes Anliegen war: Die Geschichte der Waldorfbewegung in Österreich soll, ja muss niedergeschrieben werden, solange es noch ZeitzeugInnen gibt. Elisabeth ließ nicht locker, bis der Redaktionskreis und das Konzept gefunden waren. Die Arbeit begann. Dabei dachte die Impulsgeberin an alles, nur nicht an ihr eigenes Wirken. Die eigene Lebensgeschichte zu erzählen und dokumentieren zu lassen, fiel ihr sichtlich schwer. Ihr Schicksal und Lebensweg waren so eng mit der Entwicklung der Waldorfbewegung in Österreich verwoben, dass eines ohne das andere kaum denkbar erscheint. Am 27. August 1920 wurde Elisabeth in Wien geboren, als zweite Tochter von Emma und Rüdiger Walter. Es war Zwischenkriegszeit in Österreich, doch der Familie ging es gut. Sie lebte, wie Elisabeth sagte, in „großbürgerlichem Ambiente“. Die Familie wohnte in bester Lage, zunächst in der Theresianumgasse 17, gegenüber dem Palais Rothschild im 4. Wiener Gemeindebezirk. Das Bauunternehmen des Vaters plante und errichtete für adelige Kundschaft Häuser und richtete sie „schlüsselfertig“ ein. „Der Vater stellte Einzelanfertigungen für die Häuser, die er gebaut hat, her. Diese hat er ja voll eingerichtet. Das kann man sich heute überhaupt nicht mehr vorstellen. Diese Jagdhäuser seiner meist adeligen Kundschaften wurden bis zum Kastl, wo das Klopapier drinnen war, ausgestattet“, erzählte Elisabeth Gergely. Elisabeths Kindheit war behütet. Ihr Vater war allerdings nicht gesund und brauchte viel Pflege. Elisabeth und ihre ältere Schwester Friedl wurden daher hauptsächlich von der Großmutter, der „Königin-Mutter“, wie sie die Kinder nannten, betreut. Diese Großmutter, Irene Tranquillini, eine charakterstarke Italienerin, hatte schon an der Jahrhundertwende fünf

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Programmhinweise

Kinder – darunter die Mutter Elisabeths – großgezogen; ­deren Vater, einen polnischen Offizier und Festungsbauer, konnte sie nach der damaligen Gesetzeslage nicht heiraten, da er zuvor bereits verheiratet und geschieden gewesen war, sodass auch die Kinder den Mädchennamen ihrer Mutter führten. Nach dem Tod ihres Mannes blieb die Großmutter mit fünf Kindern völlig mittellos zurück und machte sich mit einer Wäscherei selbständig. In dieser typisch wienerischen, multikulturellen Familie gab es wenig Verständnis für den aufkeimenden Nationalsozialismus der 30er-Jahre. Als Elisabeth 12 Jahre alt war, kam sie zum ersten Mal mit Elisabeth Gergely der Anthroposophie in Berührung. Da für den leidenden Vater die Möglichkeiten der Schulmedizin ausgeschöpft erschienen, wurde auf Empfehlung von Freunden der anthroposophische Arzt Ferdinand Wantschura zu einem Hausbesuch gebeten. Es traf sich, dass er Elisabeth, die an Lungenentzündung erkrankt war, gleich mitbehandelte. Für Elisabeths Schwester Friedl, die an ­einem nervösen Zucken im Gesicht litt, empfahl der Arzt Heileurythmie. So kam „Schwester Johanna“ zur Heileurythmie ins Haus, eine würdige Dame, in ­einem langen violetten Kleid mit violetter Stola, deren Erscheinung Elisabeth auf den ersten Blick merkwürdig fand, fremd für ihr Gefühl, wie diese sich kleidete und gab: „Ich war ein sehr freches Mädchen und leicht zu Spott und Kritik geneigt.“ Und was sie dann durch das Schlüsselloch wahrnahm, verstärkte diesen ersten Eindruck. Blockflöte und Bruchstücke von Sprachgestaltung, wie „Baldur, mein Buhle, wo bist du verborgen …“ Ganz anders erlebte ihre Schwester diese erste Heileurythmiestunde, denn sie verkündete, unmittelbar danach, dass sie nun wüsste, wo ihr Leben hingehen sollte, dass sie entschlossen sei, die Eurythmieausbildung zu machen. Das war für die Eltern eine große Überraschung und Enttäuschung, da Friedl zuvor die Absicht gehabt hatte, Architektur zu studieren. Die Eltern waren allerdings offen und weitherzig und legten Friedl in der Folge nichts in den Weg. Der Vater stellte nur die Bedingung, dass Friedl die Schule mit der Matura abschließen sollte. So geschah es und 1934 begann Friedl in Wien, wo es eine Eurythmieschule gab, mit der Ausbildung. Elisabeth nahm von der Eurythmie nichts wahr. Aber sie bemerkte, wie sehr ihre Schwester darin eingetaucht war. Viele neue Bekannte ihrer Schwester kamen ins Haus; es waren junge, anthroposophisch orientierte Menschen, mit denen sich Elisabeth im Einzelnen gut unterhielt, eine kritische Distanz war dennoch nicht zu leugnen. 1938, nach dem Einmarsch der deutschen Truppen, nahm Elisabeths Schwester zum Abschluss ihrer Ausbildung an ­einem sogenannten „Meisterkurs“ in Dornach teil und kam mit dem Eurythmiediplom nach Wien zurück.

Die Dirigentin Elisabeth Gergely

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In Österreich spitzte sich die Lage nach der Machtergreifung Hitlers zu, die Zeichen standen auf Krieg. Als im März 1938 der gigantische Aufmarsch der deutschen Truppen über den Ring zog, unmittelbar an der neuen Wohnung der Familie am Opernring 6 vorbei, versuchten sie, sich zu distanzieren, so gut es ging. Die Fensterläden wurden geschlossen und die Großmutter trat in den Hungerstreik … Wenige Tage nach dem Einmarsch musste Elisabeth mit ihrer Schulklasse an der Anschlusskundgebung auf dem Heldenplatz teilnehmen. Elisabeth besuchte die Maturaklasse des „Mädchengymnasiums für höhere Frauenbildung“ in der Beatrixgasse. Die Mädchen waren angewiesen worden, in dunklen Röcken zur Schule zu kommen, dazu wurden sie mit weißen „BdM-Blusen“ (BdM bedeutete: Bund deutscher Mädchen) ausgestattet und dann machten sie sich im dichten Gedränge eines Menschenstroms auf den Weg zum Heldenplatz. Als sie dort ankamen, war der Platz bereits prallvoll mit Menschen und unzählige NSFahnen wehten vor der Hofburg. Die Menge jubelte, als Hitler auf den Balkon der Hofburg trat und seine Rede eröffnete: „Ich verkünde vor der Geschichte den Eintritt meiner Heimat in das großdeutsche Reich …“ Worte, die Elisabeth mit Fassungslosigkeit erfüllten und die sie nie vergessen würde. Im Sommer 1939, knapp vor Kriegsbeginn, unternahmen die Schwestern eine fünf­ wöchige Reise durch Italien. Friedl wollte im Anschluss daran direkt zur Gesamtaufführung des „Faust“ in die Schweiz, nach Dornach, fahren, während Elisabeth geplant hatte, nach Hause zurückzukehren. Aber da sie so lange mitsammen gereist waren, wollten sie sich nun nicht trennen. So erbat Elisabeth noch etwas Reisegeld vom Vater, das dieser gewährte. Die Faust-Inszenierung mit hervorragenden Einführungsvorträgen war ein äußerst beindruckendes Erlebnis für Elisabeth; sie änderte aber dennoch kaum etwas an ihrem reservierten Verhältnis zur Anthroposophie. Die Rückreise nach Österreich gestaltete sich schwierig, da bereits riesige Truppentransporte unterwegs waren. Es herrschte Hochspannung. Am Tag nach der Rückkehr der Schwestern, am 25. August 1939, starb der Vater mit 48 Jahren. Sein Tod war ein großer, überraschender Einschnitt, denn obwohl der Vater chronisch krank gewesen war, stand er doch noch voll im Berufsleben als freiberuflicher Architekt, Bauingenieur und Möbelerzeuger. An Elisabeths Geburtstag, dem 27. August, fand das große Begräbnis im niederösterreichischen Schwarzau, nahe Guntrams statt, wo die Familie ein Anwesen besitzt. Elisabeth hatte bis dahin nicht geweint, auch nicht, als sie eine Nacht am Totenbett des Vaters verbracht hatte. Doch als der Werkmeister des Unternehmens weinend am Grab niederkniete, brach auch sie in Tränen aus. Am 1. September marschierten deutsche Truppen in Polen ein, der Zweite Weltkrieg hatte begonnen. Der Tod des Vaters, der Ausbruch des Krieges – das war für Elisabeth eine sehr komprimierte Zeit, die sich als lebenswendend erwies und in der sich für Elisa-

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Programmhinweise

beth der spirituelle Weg der Anthroposophie eröffnete. Als inneren Impuls nannte Elisabeth den tiefgehenden Eindruck, der sich einstellte, als sie viele Stunden am Totenbett des Vaters verbrachte und die Veränderungen in seinem Antlitz betrachtete; Elisabeth konnte dabei das Ewigkeitswesen des Menschen erahnen. Diese Eindrücke waren absolut neu für sie. Zu Kriegsausbruch stand Elisabeth im ersten Jahr ihres Chemiestudiums an der Technischen Hochschule. Die Hochschule wurde vorübergehend geschlossen, da die Burschen ihres Jahrgangs an die Front nach Polen geschickt wurden. Zu dieElisabeth Gergely 1945 sem Zeitpunkt dachte man noch, dass es ein kurzer Krieg sein würde und sich die Lebensumstände bald wieder normalisierten. Gemäß den neuen Kriegsbestimmungen wurde Elisabeth als Praktikantin zum Fabriksdienst in ein Semperit-Werk in die Slowakei geschickt, wo es jedoch für sie als Laborpraktikantin nichts zu tun gab, da das Unternehmen auf Kriegsproduktion umgestellt wurde. Nach einem Ansuchen, diesen sinnlosen Dienst beenden zu dürfen, konnte Elisabeth nach Wien zurückzukehren. Dort setzte sie ihr Chemiestudium bis zur Wiedereröffnung der Technischen Hochschule an der Universität Wien fort. In Wien wurden indessen Galgen aufgestellt, zur Hinrichtung von Deserteuren. Elisabeth empfand diese Zeit als finster und schrecklich. Als Gegengewicht dazu erlangte die anthro­ posophische Arbeit für sie existenzielle Bedeutung: „Wir haben in der Dunkelheit dieser Zeit ein Lichtlein angezündet.“ Die anthroposophische Arbeit musste allerdings im Verborgenen stattfinden, in kleinen Gruppierungen. Die Anthroposophische Gesellschaft war verboten, die Bücher Rudolf Steiners waren es ebenfalls. Man musste immer darauf gefasst sein, von der Gestapo entdeckt zu werden, doch diese äußere Gefährdung, so Elisabeth, verstärkte die innere Präsenz. Da Elisabeths Schwester Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft und somit ­aktenkundig war, wurde sie von der Gestapo verhört und ihre Wohnung durchsucht; die ­Bücher von Rudolf Steiner wurden bis auf den „Nationalökonomischen Kurs“ konfisziert; die Männer der Gestapo hatten aufgrund des Namens wohl nationalsozialistisches Gedankengut dahinter vermutet. Zu dieser Zeit wohnte Elisabeths Familie in einem Haus am Franz-Josefs-Kai, das der Vater noch vor seinem Tod gekauft hatte: Friedl mit ihrem Mann im Mezzanin, Elisabeth mit der Mutter im oberen Stock. Die Großmutter hatte Wien verlassen und war zu einer ihrer Töchter an den Attersee gezogen. Elisabeth und ihre Mutter waren nicht Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft und blieben unbehelligt, sodass sie auch die Bücher behielten, die sie vorsorglich bereits in ihre Wohnung „ausgelagert“ hatten.

Die Dirigentin Elisabeth Gergely

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Elisabeth war bereits während ihres Studiums als wissenschaftliche Hilfskraft an der Technischen Hochschule beschäftigt und promovierte 1943 als einzige Frau ihres Jahrgangs. Nach dem Abschluss ihres Studiums blieb sie als Angestellte an der Hochschule, wo sie Ihren zukünftigen Mann als Dissertanten kennenlernte. Im Mai 1945 wurde geheiratet, in den letzten Kriegstagen. Das Paar war aus Wien zu Elisabeths Tante an den Attersee geflohen, wo die Hochzeit in einer politischen Ausnahmesituation stattfand. Das Haus in Wien wurde am 15. Januar 1945 von einer Bombe getroffen. Elisabeth hatte wegen der häufigen Fliegerangriffe im letzten Kriegsjahr auf einem Matratzenlager in der Hochschule übernachtet. Als sie am Morgen nach Hause kam, brannte das Haus lichterloh, die Feuerwehr war im Einsatz. Wider Erwarten hielt die Decke der Wohnung im Mezzanin. Als der Brand gelöscht war, war die Familie tagelang damit beschäftigt, die Wohnung der Schwester unter abenteuerlichen Umständen zu räumen. Ein Bösendorfer-Flügel wurde durch das Fenster abgeseilt. Die verbleibende Habe der Schwester brachten sie mit Leiter­ wägen durch hohen Schnee und über Bombentrichter zum noch vorhandenen Büro des verstorbenen Vaters am Lobkowitzplatz, das zum Zufluchtsort der Familie wurde. Die Wohnung von Elisabeth und der Mutter war vollkommen zerstört worden. Die Ruine am Franz-Josefs-Kai verkaufte die Mutter an die ÖMV, da sie sich die Grundsteuer nicht mehr leisten konnten. Elisabeth blieb nur ein angekohltes Büchlein, das später, mit ihrem Namen versehen, jenseits des Donaukanals gefunden wurde. Doch Elisabeth kann der Besitzlosigkeit Positives abgewinnen, sie beschreibt ein Gefühl der „unglaublichen Freiheit des Nichts-Besitzens“. Dieses Freiseins von Besitz eröffnet Elisabeth ein neues Verhältnis zum Materiellen; sie zählt es zur Segensseite dieser dunklen Zeit. Die Empfindung: „Ich möchte nur das haben, was ich wirklich brauche“, bestimmte fortan ihr Leben. „Wenn ich zwei Töpfe habe, muss ich keinen dritten Topf besitzen.“ („Ich staune nur darüber, wie viele Dinge es gibt, deren ich nicht bedarf“, soll Sokrates gesagt haben, als er über den Markt ging). In diesem Sinne war Elisabeth eine glückliche Frau. Im Ausnahmezustand nach dem Krieg, angesichts der Zerstörung und des menschlichen Leids, entschloss sich Elisabeth, ihre wissenschaftlichen Berufspläne aufzugeben. Sie gab sich das Versprechen, am Kulturaufbau mitzuwirken. Sie wollte mithelfen, das Zusammenleben wieder menschenwürdig zu gestalten und das Leben auf ein geistiges Fundament zu stellen. Wie sie ihren Vorsatz konkret realisieren würde, wusste sie damals allerdings noch nicht. Die anthroposophische Arbeit vereinigte in dieser Trümmerzeit Menschen mit genau ­diesem Ziel. Elisabeth konzentrierte sich vorerst auf ihre anthroposophische Weiterbildung, verbunden mit dem Anliegen, ihr naturwissenschaftliches Weltbild mit der Anthroposophie in Einklang zu bringen.

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Programmhinweise

Im Landhaus in Guntrams 1953

Im Herbst 1946 begann sie mit dem Eurythmiestudium. Dieses wurde von der Geburt ihrer beiden Söhne, Thomas und Stefan, unterbrochen. Thomas kam 1947, Stefan 1950 auf die Welt. Die Familie hatte bei einer befreundeten Familie in der Margarethenstraße eine Wohnung gefunden. Die Sommermonate verbrachten sie in Guntrams, dem Landsitz, den der Vater hinterlassen hatte. 1951 machte Elisabeth ihren Eurythmieabschluss in Dornach. Bereits während des Studiums hatte sie begonnen, bei Eurythmieaufführungen mitzuwirken, teilweise im kleinen, internen Kreis, aber auch bei großen öffentlichen Aufführungen, etwa im Theater an der Wien, mit denen das Ensemble auch auf Tournee ging. In ihrer Zeit als Mutter widmete sich Elisabeth auch der erkenntnismäßigen anthroposophischen Arbeit, die eng verwoben war mit der künstlerisch-eurythmischen Arbeit. Die Erkenntnisarbeit dort wurde durch eurythmische Studien ergänzt; über Jahre war man mit Ost-West-Themen beschäftigt. Eine der letzten Ausarbeitungen, die zu einer großen Aufführung heranreiften, mit der das Eurythmieensemble auch auf Tournee ging, waren die Mithras-Liturgie und das westliche Druidenlied. Das Ensemble konnte danach nicht mehr weiterarbeiten, weil die beiden „Meisterinnen“, Elisabeths Schwester Friedl Meangya und Trude Thetter, schwer erkrankten. (Friedl starb 1984 nach sieben Jahren schweren Leidens, ein Jahr nach Trude Thetter.)

Die Dirigentin Elisabeth Gergely

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Elisabeths Vorsatz, am Kulturaufbau mitzuwirken, nahm konkrete Gestalt an, als Bronja Zahlingen zu Beginn der 50er-Jahre aus der Emigration aus England zurückkam. Zahlingen war eine erfahrene, leidenschaftliche Kindergärtnerin, die bereits in der ersten Waldorfschule, die 1938 geschlossen werden musste, den Kindergarten geführt hatte (siehe Bronja Zahlingen, Leben und Wirken). Nach ihrer Rückkehr konnte der Waldorfkindergarten 1955 seine Tore wieder öffnen. Die finanzielle Grundlage wurde durch Kitty Wenckebach, eine großherzige und vermögende, in Wien lebende Holländerin, bereitgestellt (siehe Geschenke aus warmer Hand – Erinnerungen an Kitty Wenckebach). Wenckebach übernahm die Arbeit im Schulverein mit dem Ziel einer Schulgründung und wurde eine tragende und anregende Persönlichkeit für die ganze Gründungszeit, stets großzügig, wenn finanzielle Hilfe gebraucht wurde. Nora Zimmermann kam dazu, die sich mit 49 Jahren noch einmal auf die Schulbank setzte, die Lehrerseminare in Dornach und Stuttgart besuchte und danach die Pädagogische Akademie in Wien absolvierte, um als Direktorin die zukünftige Schule vor den Schulbehörden vertreten zu können (siehe Aus dem Leben von Eleonora Zimmermann). Elisabeth übernahm den „Außendienst“ für die zu gründende Schule. Das bedeutete, dass sie sich ganz dem Aufbau und der Pflege der Kontakte zu den zuständigen Behörden widmete. Damit hatten sich drei starke Persönlichkeiten (Gergely, Wenckebach, Zimmermann), die „Rudolfinen“, in einem gemeinsamen Ziel gefunden: eine konkrete Schule aufzubauen, in welcher der ganze Mensch gebildet werden sollte. Eine „Erziehung zur Freiheit und zur Verbundenheit“ war das Ziel, im Sinne der Worte von Pestalozzi: „Der Segen der Welt ist gebildete Menschlichkeit.“ Der Name „Rudolfinen“ wurde ihnen scherzhaft von einem Juristen namens Seeger beim Stadtschulrat, quasi als Ehrenname verliehen. Es gab ja die „Ursulinen“ und die „Konfessionellen“ und so, fand Seeger, hätten die drei Vertreterinnen des Rudolf-Steiner-Schulvereins den Namen „Rudolfinen“ verdient … Nach dem keimhaften Beginn mit häuslichem Unterricht 1963, der durch die Initiative von Agnes und Tobias Kühne ermöglicht wurde, konnte 1966 die erste österreichische Waldorfschule nach dem Krieg mit vier Klassen in einem öffentlichen Schulhaus in Wien-Meidling beginnen. Die Kinderzahl wuchs rasch und nach zwei Jahren endete das Gastrecht in der öffentlichen Schule. Um diese Zeit wurde auch Elisabeths Ehe geschieden. Im Juli 1968 standen dann die „Rudolfinen“ im Zuge einer äußerst dramatisch verlaufenden Suche nach einem Schulhaus, gemeinsam mit der damaligen Vizebürgermeisterin ­Gertrude Fröhlich-Sandner, vor dem schönen, doch sehr vernachlässigten Gebäude des Maurer Schlössls. Trotzdem fiel spontan die Entscheidung: „Das wird unser Schulhaus.“ Aus einem Legat von Otto Infeld waren 500.000 Schilling vorhanden – außerdem der unerschütterliche Wille, innerhalb eines Jahres vor allem durch Eigenleistung das Unmög-

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Programmhinweise

liche möglich zu machen und im Herbst 1969 mit sieben Klassen in das eigene Schulhaus einzuziehen. Und tatsächlich war das Wunder unter schier übermenschlichem Einsatz von vielen Hilfswilligen vollbracht: Im Herbst 1969 gab es eine freudig-festliche Eröffnung in ­einem überfüllten Festsaal. Als „Nikologeschenk“ bekam Elisabeth die Nachricht, dass der Altstadterhaltungsfonds als Anerkennung für die großartige Revitalisierung eine Million Schilling zur Verfügung stellte. Der Weg zur Anerkennung einer Schule, in der nach eigenem Lehrplan unterrichtet wird, war lang und mühevoll. Er musste erst „gerodet“ und gangbar gemacht werden, gegen viele Widerstände, viel Unverständnis und Zweifel. Es war schwere Pionierarbeit. Elisabeth Gergely sah ihre vordringliche Aufgabe darin, eine Vertrauensbasis für die weiteren Anerkennungsschritte mit den jeweiligen Partnern im Stadtschulrat und Unterrichtsministerium herzustellen. Durch ihr konsequentes, klares Auftreten, in Verbindung mit ihrer respektvollen Haltung und ihrem Verständnis für Menschen, nicht zu vergessen ihr „Wiener Charme“, gelang es ihr, die zuständigen Behörden zu überzeugen und manche Sympathien für die Schulbewegung zu gewinnen. Sehr positiv gestaltete sich die Kommunikation mit dem damaligen Landesschulinspektor Karl Sretenovic, der sich durch Hospitationen und eingehende Gespräche ein konkretes Bild von der Schule verschaffen konnte. Seine anerkennenden Berichte halfen weiter zur Erlangung des Öffentlichkeitsrechtes, zunächst nur jährlich verliehen, nach acht Klassenstufen dann auf Dauer. Somit wurde das Öffentlichkeitsrecht erstmals einer Pflichtschule mit eigenem Lehrplan zugesprochen. Andererseits pflegte Elisabeth Gergely intensive Kontakte mit Dornach und besonders mit dem Bund der Waldorfschulen in Stuttgart, der auch die erste Adresse war, wenn neue Lehrer gebraucht wurden. Einladungen von Gastlehrern nahm sie zum Anlass, um persönliche Verbindungen aufzubauen, aus denen sich langjährige freundschaftliche Beziehungen entwickelten. Ihre Weltoffenheit und ihr Interesse für aktuelle Zeitfragen führten dazu, dass sie sich auch in gesellschaftlichen Bereichen außerhalb des Schulwesens engagierte. Die Begegnung mit Wilhelm Ernst Barkhoff, dem Begründer der gemeinnützigen Treuhandstelle in Bochum und der daraus hervorgehenden GLS Gemeinschaftsbank, inspirierte sie, gemeinsam mit Margaret Hacker erste Schritte für ein anthroposophisch orientiertes Bankwesen in Österreich zu setzen. So entstand Hermes-Österreich, das im Begriff steht, zu einer eigenständigen Bank zu werden. Im Hinblick auf die bevorstehende Schulraumerweiterung der Maurer Schule, den großen Festsaal und den Raumbedarf für die Oberstufe betreffend, wurde sie durch die Begegnung mit Wilhelm Ernst Barkhoff zu neuen Wegen für die Baufinanzierung ermutigt. Dessen schöpferische Impulse wurden von der Elternschaft und von Menschen im Umfeld der Schule aufgegriffen und waren somit der zündende Funke für eine Bürgengemeinschaft und das Gemeinschaftssparbuch, sodass mit diesem „Leihgeld“ der Schulgemeinschaft der Bau ohne Inanspruchnahme eines teuren Bankkredites finanziert werden konnte.

Die Dirigentin Elisabeth Gergely

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Über ihre Tätigkeit in der Schulverwaltung der Maurer Schule hinaus war sie führend an der Weiterentwicklung der österreichischen Waldorfschulbewegung beteiligt. Erst mehr als 10 Jahre nach der ersten Schulgründung in Wien wurde 1977 die Waldorfschule in Linz eröffnet. 1979 folgten Klagenfurt, kurz danach Salzburg und Graz; auch in anderen Bundesländern kam es zur Elisabeth Gergely bei einer Grundsteinlegung Bildung von Gründungsinitiativen. Im Vorausblick auf die Ausweitung der Schulbewegung auf ganz Österreich entstand das Bedürfnis nach einer alle Schulen umfassenden Vereinigung. Während der dreijährigen Vorbereitungszeit für den geplanten Zusammenschluss war Elisabeth wesentlich am Entwurf des ideellen Bildes beteiligt. Im Herbst 1981 wurde die „Österreichischen Vereinigung freier Bildungsstätten auf anthroposophischer Grundlage“ ins Leben gerufen, in der Elisabeth zusammen mit Elisabeth Erdmenger, Raoul Kneucker, Amadeo Piantino, Dr. Gerlind Pillwein und Tobias Richter im Vorstand tätig war. Neben der Planungs-, Organisations- und Rechtshilfe seitens des Vorstandes fand in regelmäßigen Mitarbeiterzusammenkünften ein Gedanken- und Erfahrungsaustausch über alle gemeinschaftlich interessanten Fragen statt – wobei die Mitarbeiter aus den Kollegien und den Schulvereinen kamen. Außerdem veranstaltete die Vereinigung Seminare zu aktuellen pädagogischen Fragestellungen, um den Herausforderungen an das Schulwesen mit soliden Kenntnissen und Urteilsgrundlagen begegnen zu können. So wurde von der Österreichischen Vereinigung freier Bildungsstätten eine Buchreihe initiiert unter dem Titel: „Waldorfpädagogik – Beiträge zur Bildungserneuerung“. In Elisabeth erwachte ihr seit dem Studium bestehendes Anliegen, naturwissenschaftliche Erkenntnisse in Verbindung zur Anthroposophie zu bringen. Daraus entwickelte sie die Idee der Dialogveranstaltungen zu aktuellen Themen und neuen Erkenntnissen aus den Bereichen Naturwissenschaften, Bildung, Religion, Philosophie. Die Vereinigung trat offiziell als Veranstalterin auf, alles Übrige war alleine Elisabeths Werk. Sie erforschte „Was gibt es Neues in der Welt?“, arbeitete die Themen aus, knüpfte die Kontakte zu interessanten Dialogpartnern, pflegte die Kommunikation, sprach Einladungen aus, entwarf das Programm und trieb Sponsoren auf. Nach langer Tätigkeit in der Schulverwaltung und im Vorstand des Schulvereins legte sie bei der Generalversammlung im Mai 1992 ihr Mandat zurück. Das Schuljahr 1993/94 war das letzte, in dem Elisabeth aktiv in der Verwaltung der Maurer Schule mitarbeitete.

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Programmhinweise

Im Vorstand der Vereinigung freier Bildungsstätten war sie darüber hinaus bis 2000 tätig. Was nicht bedeutete, dass sie jemals nicht aktiv war. Auch weiterhin begleitete sie das Schulgeschehen und die Entwicklung der Waldorfschulbewegung mit großer Anteilnahme. Die von Elisabeth initiierten „Dialoge“ hatten gezeigt, wie fruchtbar und notwendig die Begegnung mit Vertretern aus den unterschiedlichsten Wirtschafts-, Wissenschafts-, Sozial- und Bildungsbereichen und Vertretern des durch Anthroposophie angeregten Kulturerneuerungsimpulses im weitesten Sinne ist. Elisabeth Gergely 2000 Dieser Impuls wurde 2001 von den Gründern des Zentrums für Kultur und Pädagogik aufgegriffen, welche ein Waldorfpäda­ gogikstudium ins Leben riefen unter dem Motto: Erziehung und Bildung im Dialog mit Wissenschaft, Wirtschaft, Kunst und Religion. Dieser Lehrgang wollte auch den Dialog mit den staatlichen Bildungseinrichtungen aufnehmen und fand so zunächst am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Wien statt. Heute wird er als Masterstudium an der Donau-Universität Krems in Kooperation mit der Alanus Hochschule durchgeführt. Es ist kein Wunder, dass Elisabeth sich im Vorstand des Zentrums wiederfand und bis ins Jahr 2010 an dessen weiterer Entwicklung beratend und gestaltend tätig war. Elisabeths weiterer Lebensweg führte sie bis nach Ägypten, wo sie sich bei ihren Besuchen in Sekem bald „zu Hause“ fühlte und wo sie auch an ihrem Lebensabend in warmer, von Spiritualität erfüllter Atmosphäre Kraft schöpfen konnte. Den Begründer von Sekem, Ibrahim Abouleish, hatte sie 1994 bei einer Religionstagung in Dornach kennengelernt, als sie sein Seminar über den Islam besuchte. Spontan ersuchte sie ihn damals um einen Vortrag in der Maurer Schule und er sagte ebenso spontan zu. Diese Begegnung führte zu einer tiefen Freundschaft zwischen den beiden Menschen, die ein gemeinsames hohes Ziel verbindet – ihr Einsatz für Menschlichkeit und Frieden. Im Hinblick darauf widmete Elisabeth ihre letzte Dialogveranstaltung den drei großen Weltreligionen – Judentum, Christentum und Islam – mit Ibrahim Abouleish als Vortragendem und Dialogpartner für den Islam. Diese Veranstaltung in der Diplomatischen Akademie in Wien, mit hervorragenden künstlerischen Beiträgen zu den drei Weltreligionen, organisierte sie mit dem Zentrum als Trägerverein. Aus Anlass des Wienbesuches von Abouleish und aus Interesse an den von ihm in Sekem realisierten bahnbrechenden Ideen für neue, soziale Formen der Wirtschaftsgestaltung wurde von der Industriellenvereinigung in ihren Räumen ein zusätzlicher Abend zu dieser Thematik veranstaltet. In jeder Etappe ihres Weges fand sich Elisabeth in Schicksalsgemeinschaften mit Menschen verbunden, die einander stärkten, ergänzten und mit ihren individuellen Fähigkeiten zur Realisierung eines gemeinsamen Zieles beitrugen. In der Verwirklichung ihrer Vision von

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Elisabeth Gergely, Konstanze und Ibrahim Abouleish 2009

„Erziehung zur Freiheit – Erziehung zum Verbundensein“ wurde sie selbst zur Meisterin in der Kunst, Harmonie in das Spannungsfeld der Polarität von Individualität und Gemeinschaft zu bringen – im Sinne des geheimnisvollen Wortes von Novalis: „Im Ich, im Freiheitspunkt, sind wir alle in der Tat identisch.“ Am 27. Februar 2010 starb Elisabeth Gergely in Sekem. Bei ihrer Bestattung am 12. März in Wien wurde eine Grußbotschaft von Dr. Ibrahim Abouleish übermittelt: „Die Sekem-Stiftung hat beschlossen, an der Heliopolis Universität eine Abteilung für Ost-West-Beziehungen aufzubauen, die mit dem Namen Elisabeth Gergely benannt wird. So soll ihr Impuls des Ost-West-Dialogs, der ihr sehr am Herzen lag, auch in Zukunft mit ihrem Namen verbunden sein. Studierenden aus dem Westen soll die Möglichkeit geboten werden, die Kultur des Ostens kennenzulernen und ebenso sollen Studierende aus dem Osten die Kultur des Westens erfahren können. In diesem Sinne zitierte Elisabeth oft den Satz von Goethe: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein, sie muss zur Anerkennung führen: dulden heißt beleidigen.“ Bildnachweis: Archiv Stefan Gergely

D i e Au s b r e i t u n g d e r Wa l d o r f s c h u l e n , d e r a n t h r o p o s o p h i s c h e n ­H e i l pä da g o g i k u n d d e r Wa l d o r fk i n d e r g ä r t e n i n Ö s t e r r e i c h Irene Bulasikis1

Karl-Schubert-Schule – Bildungsstätte für Seelenpflege-bedürftige Kinder und Jugendliche in Wien Die Karl-Schubert-Schule ist eine heilpädagogische Bildungsstätte, die sich am anthroposophischen Menschenbild und der Pädagogik Rudolf Steiners orientiert. Sie bietet Kindern und Jugendlichen mit besonderen physischen und psychischen Schwierigkeiten Entwicklungshilfe. Die Pflichtschulzeit umfasst die Klassen 1–9. Die Werkstufenzeit in den Klassen 10–12 bereitet eine Eingliederung in das Berufs- und Erwachsenenleben vor. Die Kinder und Jugendlichen werden in Klassengemeinschaften entsprechend ihrem Alter unterrichtet, wobei besonders in den Klassen 1–9 Kinder mit verschiedenartigsten Behinderungen miteinander und voneinander lernen. In den Klassen 10–12, den Werkstufenklassen, trennt man meist Therapiegruppen und Werkgruppen, wobei aber in dieser Zeit dann mancher Unterricht auch klassenübergreifend durchgeführt wird. LehrerInnen, HeilpädagogInnen und TherapeutInnen erarbeiten mithilfe des Schularztes individuelle Bildungskonzepte für jedes Kind. Den Anstoß für eine Sonderschule mit Waldorfpädagogik hatte die Familie Kühne gegeben. Eines ihrer Kinder hatte „sonderpädagogischen Förderbedarf“. Da das Ehepaar Kühne schon maßgeblich an der Gründung der ersten Wiener Rudolf-Steiner-Schule mitgewirkt hatte, dachte es, dass es doch möglich sein müsste, dieser Schule eine Sonderklasse anzuschließen – etwa so, wie Karl Schubert sie in der ersten Stuttgarter Waldorfschule geführt hatte. Sie stellten in ihrem Haus Räume zur Verfügung. 1971 wurde der Verein Karl-Schubert-Schule gegründet. Im Vorstand arbeiteten einige Menschen mit, die schon an der Gründung der Rudolf-Steiner-Schule fünf Jahre zuvor beteiligt gewesen waren. Im Oktober 1972 begann die Karl-Schubert-Schule. Solch eine Schule gab es bis dahin in Österreich noch nicht, es war ein völlig neuer unkonventioneller Schulversuch und dementsprechend lange dauerte die offizielle Anerkennung: Status ab 1973 „nicht untersagt“ Ab 1975 Unterstützung für Schülertransport und Schulgeld vom Sozialamt

Die Ausbreitung der Waldorfschulen, der ­anthroposophischen ­Heilpädagogik und der Waldorfkindergärten

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Karl-Schubert-Schule in Wien

Ab 1983 Öffentlichkeitsrecht und zur „Schulpflichterfüllung geeignet“ anerkannt Bis 1989 musste jährlich darum angesucht werden 1981 – nach 10 Jahren in einer Kindergartengruppe und acht Klassen 54 Kinder und etwa 32 MitarbeiterInnen 1991 – nach 20 Jahren 100 Kinder und etwa 55 MitarbeiterInnen (zwei Kindergartengruppen und 12 Klassen; Ende der 90er-Jahre gab es durch die stetig wachsende Zahl von Integrationsklassen in Wiener Schulen einen Rückgang der Schülerzahlen 2009 sind es 90 Kinder und 54 MitarbeiterInnen in einer Kindergartengruppe und 13 Klassen (eine integriert geführte Kindergartengruppe musste 2004 aus Kostengründen aufgegeben werden) Seit 1977 wird die Schule ganztägig geführt; in der schuleigenen Küche wird für gesundes Essen und bei Bedarf für Diätkost gesorgt

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Programmhinweise

Im Laufe der Jahre sind aus der Karl-Schubert-Schule und dem Kreis ihrer MitarbeiterInnen mehrere sozialtherapeutische Einrichtungen hervorgegangen: 1981 Karl Schubert Haus Mariensee, Gesellschaft für Sozialtherapie und Lebensgemeinschaft 1986 Sozialtherapeutische Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Ab 1987 mit Wohngruppen und Werkstätten, derzeit an vier Standorten in Wien und Niederösterreich 1992 der Himmelschlüsselhof bei Texing 1997 die Dorfgemeinschaft Breitenfurt, derzeit mit 8 Wohngruppen und 9 Werkstätten Um dieselbe Zeit entstand das „Rudolf-Steiner-Seminar für Heilpädagogik und Sozialtherapie“, aus dem mittlerweile schon viele SozialtherapeutInnen hervorgegangen sind. www.karl-schubert-schule.at

Die Entwicklung der Waldorfschule Linz Die Linzer Waldorfschule war nach der Rudolf-Steiner-Schule Wien-Mauer und der Karl Schubert-Schule Wien die nächste Waldorfgründung in Österreich. Blickt man von der heutigen Schule im großen Haus, Baumbachstraße 11, mit ihren zwölf Klassen und der Maturavorbereitungsklasse mit dem nun ausgebauten dritten Stockwerk und mit einem weitläufigen Gartengrundstück zurück auf den Beginn, gelangt man in eine Wohnung eines kleinen Hauses in Linz-Urfahr. Hier fand 1977 die Gründung der Schule statt. Für 24 Kinder war der 12. September 1977 der erste Schultag. Am 4. Juli 1978 erhielt die Schule die Genehmigung für das eingereichte Organisations­ statut mit dem Lehrplan der Freien Waldorfschule Linz durch das Unterrichtsministerium und den Landesschulrat. Trotzdem veranlasste die Schulbehörde die Überprüfung der Schüler nach dem Lehrplan der öffentlichen Schule. Von zwölf Lehrern, Direktoren und Inspektoren und in Anwesenheit der Waldorflehrer wurden in sieben Fächern die Externistenprüfungen abgenommen. Die Gründungseltern nahmen gelassen ein Waldorf- und ein Notenzeugnis entgegen. Für das nächste Schuljahr wurde das Teistlergut umgebaut und renoviert. Das zweite Schuljahr konnte dort absolviert werden. Im Laufe des Jahres begann die Schulbauplanung am Gelände des Teistlergutes. Im dritten Jahr war die Schülerzahl in den nun vier Klassen gegen 60 angestiegen. An den Baufragen wurde weitergearbeitet. Doch im Frühjahr 1980 zog die Besitzerin des Teistlergutes ihre Zustimmung zurück. Nach einem dritten und vierten Schuljahr in diesem Hause konnte letztlich nur der Kindergarten bleiben. Für die Schule begann eine langwierige Suche nach der nächsten Bleibe. Dutzende Projekte wurden geprüft, bis die ehemalige Stifterschule in Linz auserkoren wurde.

Die Ausbreitung der Waldorfschulen, der ­anthroposophischen ­Heilpädagogik und der Waldorfkindergärten

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Waldorfschule Linz

Auch die Behördenarbeit ging weiter. Den bestehenden vier Klassen wurde die Schulpflichterfüllung ausgesprochen, womit die Prüfungen ab diesem Zeitpunkt entfielen. Die oberste Klasse musste aber noch bis zur achten Schulstufe jährlich die Genehmigung für alle nachfolgenden Klassen erwerben. Die erste 12. Klasse an der Linzer Waldorfschule gab es im Schuljahr 1987/1988; sie umfasste nur sieben Schüler. Für die Entwicklung der Oberstufe wurde die Frage wichtig: Wie kann es nach der 12. Klasse für unsere Absolventen weitergehen? Es wurden Wege gesucht, um eine 13. Klasse einzurichten, in der entweder ein Maturalehrgang oder eine Lehrlingsausbildung absolviert werden könnten. Im Schuljahr 1994/1995 fand erstmals ein einjähriger Maturalehrgang statt, der von elf Schülern besucht und am Ende mit der Maturaprüfung (in musischer Richtung) abgeschlossen wurde. Die unterrichtenden Lehrer in diesem bis heute bestehenden Maturalehrgang sind Lehrer an verschiedenen Linzer Allgemeinbildenden Höheren Schulen. Jahr für Jahr besucht der größte Teil der ehemaligen Zwölftklässler diesen Lehrgang. Im Schuljahr 1997/98 gab es an der Linzer Schule erstmalig für einen Schüler die Möglichkeit, nach einer einjährigen Vorbereitungszeit (im Anschluss an die 12. Klasse) die Tischlerlehre durch die Gesellenprüfung abzuschließen. Seither besteht jedes Jahr diese Möglich-

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Programmhinweise

keit; viele Schüler sind bisher diesen Weg gegangen, manche erst in einem 14. Jahr, nach Abschluss des Maturalehrgangs. Durch entsprechende Vereinbarungen mit der Wirtschaftskammer und der Arbeiterkammer wurden einjährige – voneinander unabhängige – Lehrgänge eingerichtet, die zur Ablegung der Gesellenprüfungen in den Bereichen „Damenschneiderei“, „Schlosser“ und „Landwirtschaft und Gartenbau“ führen. Oberstufenschüler, die planen, die Lehre in ­einem dieser Fachbereiche zu machen (für das Fach „Schlosser“ dauert die Lehre nach der 12.  Klasse etwa eineinhalb Jahre), müssen bereits in den Oberstufenklassen verstärkt im gewählten Fach arbeiten; auch müssen sie über dieses Fach in der 12. Klasse eine Abschluss­ arbeit schreiben. Diese Möglichkeit der Lehrausbildung wird – vergleichbar dem Maturalehrgang – an der Schule allseits gewollt, anerkannt und geschätzt. In den 90er-Jahren musste von den Schülern am Ende der 9. Klasse noch eine Hauptschulprüfung abgelegt werden. Die Schulbehörde hob dann diese Regelung auf; jeder Neuntklässler bekam am Ende der neunten Klasse ohne Prüfung durch externe Lehrer das Hauptschulabschlusszeugnis. Seit einigen Jahren ist der Hauptschulabschluss bereits nach der achten Klasse erreicht. www.waldorfschule-linz.at

Waldorfschule Klagenfurt Das Gründungsjahr der Waldorfschule Klagenfurt ist 1979. Die Grundimpulse war: Erziehung zur Freiheit, der Freiheit des Geistes einen Weg zu bahnen, die Kinder zu unterstützen, damit sie zu selbstbewussten, autarken, (gesellschafts-)kritischen Persönlichkeiten heranwachsen. Dieses sind die Ideale der Gründergeneration mit der Vorstellung, die Welt verändern zu können. Mit einer Klasse und 10 Schülern begann das riskante, aber hoffnungsvolle Unternehmen. Schon im zweiten Jahr gab es vier Klassen und 35 Schüler, und im Laufe der Jahre wuchsen die Schülerzahl, die Klassenzahl und auch das Gebäude. 1983 übersiedelte die kleine Schule mit sechs Klassen an den jetzigen Standort in der Wilsonstraße, in der Nähe der Universität und des Wörthersees. Schon 1987 war das Schulhaus zu klein, der erste Zubau entstand, in dem sich heute die Unterstufe befindet. 1992 war auch dieser zu klein und der zweite Zubau wurde errichtet, in dem sich heute die Mittel­stufe befindet. 2006 erfolgte dann ein Meilenstein: Der Waldorfschulverein erwarb die Liegenschaft. In den ersten Jahren galt es, jährlich um das Öffentlichkeitsrecht zu kämpfen. 1993/94 erhielt die Schule dann endlich auf Dauer das Öffentlichkeitsrecht für die Schulstufen 1 bis 12. Bis zum Jahr 1995 mussten die SchülerInnen der neunten Klasse noch eine externe Haupt-

Die Ausbreitung der Waldorfschulen, der ­anthroposophischen ­Heilpädagogik und der Waldorfkindergärten

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Waldorfschule Klagenfurt

schulprüfung in allen Fächern ablegen. Die Befreiung davon war eine große Entlastung. 2003 begann wieder eine neue Etappe: das erste Maturajahr. Auch in den Strukturen der Schule änderte sich so manches. Schon sehr früh, als dies gesellschaftlich noch gar kein Thema war, lud man ExpertInnen ein, um den Blick auf die Sozialgestalt der Schule zu lenken. Bereits 1986 waren Vertreter des Niederländischen Pädago­ gischen Institutes in Klagenfurt. Biografiearbeit und Auseinandersetzungen mit gruppen­ dynamischen Prozessen folgten. 10 Jahre später, wiederum begleitet von ExpertInnen, führte dies u. a. zu einer neuen Form der Schulführung: dem „Triorat“. Das Triorat besteht aus drei Personen (zwei PädagogInnen, eine Person aus Verwaltung/Vorstand) und wird jährlich von den MitarbeiterInnen gewählt. Eine zweijährige Fortbildung, an der das gesamte Kollegium teilnahm, führte zur intensiven Beschäftigung mit sozialem Lernen und schlussendlich zum Unterrichtsfach „Soziales Lernen“, das inzwischen ein unerlässlicher Bestandteil unseres Lehrauftrages ist. Unsere Schulbiografie charakterisiert weiters das Bestreben, immer in Bewegung zu bleiben und über den eigenen Tellerrand zu schauen: Eine innere Beweglichkeit durch Hereinnahme von neuen pädagogischen Impulsen; die äußere Beweglichkeit zeigt sich in Form des bewegten Klassenzimmers, das 2005 in der Unterstufe eingeführt wurde. In der Oberstufe zeigen sich drei Schwerpunke: Zusammenarbeit mit der Arbeitswelt, Theater, internationale und interkulturelle Erfahrungen.

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Programmhinweise

Die Zusammenarbeit mit ProjektpartnerInnen der Arbeitswelt hat sich in Form vieler Praktika über die Jahre intensiviert. Heute verbringen die OberstufenschülerInnen insgesamt 102 Tage ihrer Schulzeit in Praktika im In- und Ausland, über 100 Betriebe sind Partner geworden, die SchülerInnen der 11. Klasse verbringen vier Tage pro Woche in der Schule und einen Tag pro Woche an einem Arbeitsplatz. Was wir als Waldorfschule damit beweisen, ist, dass die kritisch beäugte Wirtschaftstauglichkeit als ein Leitziel der Schulbildung nicht notwendigerweise im Widerspruch zur Menschenbildung stehen muss. Die Praktika vermitteln den SchülerInnen tätige Einblicke in Lebens- und Arbeitszusammenhänge in einer Vielzahl von Kontexten und stellen die Frage: Wer bin ich? Was will ich? Was kann ich? Wesentlich dabei ist, bei den Jugendlichen die Erkenntnis zu wecken, dass sowohl die Ich-Findung wie auch die Berufsfindung keine einmaligen Angelegenheit, sondern Prozesse sind, die im Wechsel von Selbstwahrnehmung und Berufserkundung pendeln. Internationale und interkulturelle Erfahrungen zu sammeln, ist uns wichtig! Vor 20 Jahren ging der erste Schüler auf Schüleraustausch, seitdem sind viele gefolgt. Seit dem Jahr 1999 nehmen wir an den EU-Bildungsprogrammen teil. Viele Klassenaustausche ermöglichten den SchülerInnen, über den eigenen Tellerrand zu schauen und ihre Fremdsprachenkenntnisse zu vertiefen. Im Rahmen des EU-Programms Leonardo da Vinci können die SchülerInnen ihr Sozialpraktikum mit finanzieller Unterstützung der EU in ganz Europa absolvieren. Aber nicht nur die SchülerInnen arbeiten grenzüberschreitend, sondern auch die Lehrer­ Innen. Seit mehr als 10 Jahren finden die Alpen-Adria-Konferenzen zwischen den Waldorfschulen Norditaliens, Sloweniens und Kärntens statt. Aus dieser Zusammenarbeit sind viele gemeinsame SchülerInnenprojekte entstanden. 2006 wurde die Waldorfschule Klagenfurt aus 3.734 Schulen Europas von EuroNews als die Schule Europas ausgewählt, die sich am intensivsten mit Europa beschäftigt – eine hohe Auszeichnung! Der Film begann mit den Worten: „Gäbe es Meisterschaften für EU-Projekte an Schulen, dann wäre die Waldorfschule Klagenfurt so etwas wie ein Europameister.“ Im Schuljahr 2009/2010 feierten wir unser 30-jähriges Jubiläum. Das Motto des Jubiläumsjahrs lautet: Rhythmus. Was bedeutet Rhythmus für unser Leben? Befinden wir uns im Rhythmus des Lebens? Passt unser Schulrhythmus noch in die heutige Zeit? Wir sind also wieder in Bewegung und schauen in den Spiegel. www.waldorfschule-klagenfurt.at

Chronik der Freien Waldorfschule Graz Die Waldorfschulbewegung in Graz hat über die Architektur begonnen. Es war ein Bau­ impuls, der zu einem Schulbauseminar der Technischen Hochschule Graz in Järna/Schwe-

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Freie Waldorfschule Graz

den geführt hat. Kurz darauf, 1970, wurde der Waldorfschulverein Steiermark gegründet. Viele Vorträge wurden veranstaltet, Mitglieder gesammelt, Informationsmaterial verteilt und mögliche Orte für eine Waldorfschule gesucht. 1977 wurde der erste Waldorfkindergartens eröffnet. 1979/80: Diskussion bezüglich einer Schulgründung, da die ersten Kindergartenkinder schulreif werden. Im September 1980 beginnt die Freie Waldorfschule Graz mit einer ersten Klasse im ehemaligen Gasthaus „Zum grünen Baum“. Um die ehemalige Gasthausküche mit dem großen, gemütlichen Herd gruppieren sich die Klassen, weiters stehen ein einfacher „Festsaal“ und ein Raum für einen liebevoll eingerichteten Kindergarten zur Verfügung. Jahr für Jahr muss ein neuer Klassenraum gebaut werden, um die neuen Klassen, die immer größer werden, unterzubringen. Niederländische Bauordensgruppen leisten gemeinsam mit den Eltern die umfangreichen Bauarbeiten. Da die Möglichkeiten, dort eine ganze Schule unterzubringen, begrenzt sind, beginnt eine Odyssee durch Graz und Umgebung, um mögliche Objekte zu finden. 1985 erhält der Schulverein vom Land Steiermark das „Messendorfer Schlössl“ mit etwa zwei Hektar Grund auf 50 Jahre zur Pacht. Ein guter Platz, groß genug, relativ ruhig, gut

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Programmhinweise

erreichbar. Im Sommer 1985: Teilsanierung des Schlössls. Vier Klassen werden in einer ehemaligen Baubaracke untergebracht. Im September 1986: Einzug in Messendorf mit sieben Klassen. 1986/87 bekommt die Waldorfschule Graz das Öffentlichkeitsrecht. Ab diesem Zeitpunkt erfüllen alle SchülerInnen die Schulpflicht und brauchen am Jahresende keine Prüfungen mehr abzulegen. 1988 beginnt die erste Etappe des Neubaus. Die farbliche Gestaltung erfolgt nach einem Konzept von Fritz Fuchs aus Järna, Schweden. 1990: Wir haben eine Schulküche! 1991/92: Abschluss der ersten 12. Klasse. Der Neubau wächst weiter. 1997: Grundstein­ legung für den Turnsaalbau, 1999 Eröffnung des Turnsaales. 2001 erhält der Waldorfschulverein Steiermark den „Josef-Krainer-Heimatpreis“ in Würdigung der Leistungen im Bereich „Innovative Schülerausbildung“. 2005 Gründung von „Styrrion“, eine Regionalgeld-Gutscheininitiative der SchülerInnen zur Belebung der regionalen Wirtschaft. In Graz gibt es fünf Waldorfkindergartengruppen und einen Integrationskindergarten neben der Karl-Schubert-Schule. Was noch fehlt: der Gesamtausbau. Gebraucht werden noch zwei große Klassenzimmer, einige Nebenräume und ein ordentlicher Festsaal. www.waldorf-graz.at

Chronik der Rudolf-Steiner-Schule Salzburg 1975 entstand die Initiative zur Gründung eines Waldorfkindergartens, ebenso eine Spielgruppe mit fünf Kindern. 1977 wurde ein Waldorfkindergarten gegründet. Als Rechts­träger wurde der „Verein zur Förderung der Waldorfpädagogik“ ins Leben gerufen. 1979 traf sich erstmals ein Kreis von Interessenten für eine Schulgründung. Damals begann für fünf Kinder in einem Kellerraum des Waldorfkindergartens das „Kellerschülchen“, das offiziell ­einen „häuslichen Unterricht“ darstellte. Im September 1980 wurde die Rudolf-Steiner-Schule Salzburg in einem Einfamilienhaus eröffnet. Der Unterricht begann mit 29 Kindern in drei Schulstufen.   1981 erhielt die Schule durch das Bundesministerium für Unterricht und Kunst das Öffent­lichkeitsrecht und die Eignung zur Erfüllung der Schulpflicht, sodass zusätzliche externe Prüfungen entfielen. Schon im nächsten Schuljahr übersiedelte die Schule in ein wesentlich größeres Zweifamilienhaus unweit des jetzigen Schulbaus. Neben den vier Klassen konnte dort auch noch eine Kindergartengruppe untergebracht werden. Bis 1984 blieb die Schule an diesem Ort. 1983 mussten die ersten zwei Klassen in eine Volksschule ausgelagert werden. Die intensive Suche nach einem neuen Schulgebäude bzw. nach einem Baugrundstück begann.

Die Ausbreitung der Waldorfschulen, der ­anthroposophischen ­Heilpädagogik und der Waldorfkindergärten

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Rudolf-Steiner-Schule Salzburg

Dabei wurde erstmals bei der Stadtgemeinde bezüglich des aktuellen Schulgrundstücks angefragt; die Gemeinde reagierte ablehnend. 1983 wurde der Trägerverein in „Waldorfschulverein Salzburg. Verein zur Förderung der Pädagogik Rudolf Steiners“ umbenannt. 1984/85 übersiedelte die Schule in das ehemalige Bayerhamergut. 1986/87 begannen die erste neunte Klasse und damit der Aufbau der Oberstufe. Ein neu gebildeter Baukreis verstärkte die Vorarbeiten für einen Schulneubau. Ein Ansuchen an die Stadt bezüglich des aktuellen Grundstücks führte 1988 zum Erfolg. Die Bauplanung beginnt. 1990: Abschluss der ersten 12. Klasse. Der Schule wurde für alle zwölf Schulstufen das Öffentlichkeitsrecht auf Dauer verliehen. Nach einigen Inspektionen der Schulbehörde im Unterricht und bei Prüfungen erhielt die Schule die Genehmigung, den Schülern der 8. Schulstufe ein Hauptschulzeugnis auszustellen. 1991/92: Ein Erlass des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst befreite SchülerInnen von einem großen Teil der Zulassungsprüfungen zur Matura. Das erleichterte den Weg der Externistenmatura wesentlich. Die Schulbauplanung, die durch Änderungsvorschläge des Gestaltungsbeirates der Stadt Salzburg verzögert worden war, trat in die entscheidende Phase. Die Aufgabe der weiteren Planung wurde an den Architekten Jens Peters (Stuttgart) übertragen. Mit seinem überzeugenden Entwurf konnten Verhandlungen über die Baufinanzierung mit den zuständigen Politikern aufgenommen werden. Je ein Viertel der Baukosten wurden von Stadt, Land und Bund finanziert, sodass vom Waldorfschulverein noch ein Viertel an Eigenmitteln aufzubringen war.

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Programmhinweise

1992 konnte mit dem Bau begonnen werden, am 27. Februar 1993 fand das Fest der Grundsteinlegung statt. Die Bauarbeiten standen unter großem Zeitdruck. Zu Michaeli 1994 erfolgte die Einweihung des Schulneubaus. Mit einem Erlass des Bundesministeriums für wirtschaftliche Angelegenheiten vom Mai 1993 erhielten die Absolventen der Waldorfschulen die Berechtigung, alle Lehrberufe in einer um ein Jahr verkürzten Lehrzeit zu erlernen. 1995 sind die Verhandlungen mit dem Landesschulrat über die Einrichtung eines Maturalehrganges erfolgreich; für den Unterricht konnten Gymnasiallehrer gewonnen werden. 1997 wird der erste Maturalehrgang erfolgreich durchgeführt. Seit dem Jahr 2000 wird das Schulkonzept laufend weiterentwickelt. Ein neues Stundenplanmodell wird entwickelt, das auf der Ausweitung des Epochenunterrichts vor allem in der Oberstufe auf fast alle Fächer, einer gleichbleibenden rhythmischen Struktur des Tagesablaufs und der von Eltern und Schülern eingeforderten Fünf-Tage-Woche beruht. Außerdem wird an der Sozialgestalt der Schule laufend weitergearbeitet. www.waldorf-salzburg.info

Rudolf-Steiner-Schule Pötzleinsdorf Nachdem über viele Jahre ein großer Andrang in der ersten Klasse der Rudolf-SteinerSchule in Wien-Mauer herrschte, entschloss man sich 1979, eine zweite erste Klasse zu eröffnen. Sie sollte der Keim für eine neue Schule sein. Als dann im Herbst 1980 bereits zwei Klassen dieser neuen Schule existierten, war klar, dass für diese auch ein Schulgebäude gefunden werden musste. Vorerst konnte man in der Nähe der „Mutterschule“ in Mauer unterkommen. Es war ein altes Schulgebäude, in dem die junge Schule Jahr für Jahr einen Raum nach dem anderen eroberte. Das Raumangebot war jedoch begrenzt, vier Klassen waren die maximale Ausdehnungsmöglichkeit. Die Gebäudesuche begann. Es war eine lange Reise durch leerstehende, große, kleine, baufällige, verfallene, teure, laute, schöne, bereits vergebene Gebäude. Durch eine Zeitungsnotiz wurde bekannt, dass das Jugendgästehaus im Schloss Pötzleinsdorf kurz vor der Schließung stand, da eine Renovierung des alten Gebäudes teurer als ein Neubau war. So wurde auch Pötzleinsdorf besichtigt. Drei Lehrer des „Urkollegiums“ (viel mehr waren es damals nicht) und eine Mutter aus Mauer, die sich mit ihrem zweiten Kind dieser neuen Initiative angeschlossen hatte, fuhren nach Pötzleinsdorf, um das hoffentlich bald leerstehende Gebäude auf seine Tauglichkeit als Schule zu prüfen. Es war deutlich, dass der Umbau der Jugendherberge mit ihren Duschanlagen und kleinen Zimmern zu einer Schule mit großen Klassenräumen sehr aufwendig sein würde. Das noch größere Problem war aber der allgemein schlechte Zustand der Gebäude. Das umlie-

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Rudolf-Steiner-Schule Pötzleinsdorf

gende Gelände bezauberte aber: hohe, alte Bäume, von Hecken gesäumte Wege, lauschige Nischen. Das Gebäude schien viel zu groß für eine 12-klassige Schule. Aus allen Plänen, die geschmiedet wurden, sollte vorerst aber nichts werden, denn eine Anfrage bei der Gemeinde Wien ergab, dass sie das Schloss Pötzleinsdorf zu einem Museum umbauen wollte und es daher für uns als Schule nicht zur Verfügung stünde. Ein Jahr intensivster Suche nach einem geeigneten Objekt begann. Es führte durch diverse Magistratsabteilungen, Ministerien, Gebäudeverwaltungen, durch alle Bezirke Wiens, alte Schulen, Schlösser, Spitäler, Wohnhäuser. An die 60 Gebäude wurden besichtigt. Dann wurde bekannt, dass der Gemeinderat den Beschluss, Schloss Pötzleinsdorf in ein Feuerwehrmuseum umzugestalten, noch nicht gefasst hatte. Da war es nun Max Böhm, ein bekannter Volksschauspieler und Schülergroßvater, der uns durch seine Freundschaft mit dem damaligen Kulturstadtrat Helmut Zilk, in dessen Verwaltungsbereich das Schloss Pötzleinsdorf lag, das für die Verhandlungen nötige wohlwollende Gesprächsklima schuf. Im November 1981 fanden die ersten Kontaktgespräche statt und bereits im März 1982 konnte der Mietvertrag zwischen der Gemeinde Wien und dem Schulverein unterzeichnet werden. Die Gemeinde Wien überließ dem Schulverein das

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Programmhinweise

Schloss Pötzleinsdorf um einen Anerkennungszins, jedoch mit der Auflage, es zu renovieren und zu erhalten. 1982 begann die erste Gruppe im Kindergarten, 1983 übersiedelten vier Klassen aus Mauer nach Pötzleinsdorf. Von Anfang an war auch an diesem Standort die Nachfrage nach Schulplätzen groß. Die Größe der Gebäude und des Geländes bot ausreichend Platz für den notwendigen Ausbau. Es bedurfte jedoch großer Anstrengung und Opferbereitschaft der gesamten Schulgemeinde, die nötigen finanziellen Mittel für dieses Unternehmen aufzubringen. Dass das Gebäude unter Denkmalschutz stand, war hilfreich. Dadurch bot sich die Möglichkeit, Mittel aus dem Altstadterhaltungsfonds der Gemeinde Wien zu erhalten. In den bisherigen vier großen Bauphasen (erste: Adaptierung für 8 Klassen plus Festsaal, zweite: Erweiterung/Zubau und Renovierung der Fassade, dritte: Kindergartenausbau, vierte: Errichtung des Oberstufentraktes) wurden fünf Millionen Euro verbaut (die Eigenleistungen nicht einbezogen). Die Hälfte davon kam von der Gemeinde Wien (ein Viertel aus Mitteln des Unterrichtsministeriums, das verbleibende Viertel wurde durch Spenden und über Kredite von Hermes-Österreich finanziert). Ein weiterer Bauabschnitt steht noch bevor. Da der Festsaal sehr klein ist, es keinen Turnsaal gibt und ein Gebäude des SchlossEnsembles noch nicht renoviert wurde, soll dort ein Turnsaal mit möglicher Festsaalnutzung und einem Zubau für vier Unterrichtsräume entstehen. Die Rudolf-Steiner-Schule Pötzleinsdorf ist eine traditionelle Waldorfschule mit dem dazugehörigen Fächerangebot. 1987 begann der Aufbau der Oberstufe. Da jedoch die geeigneten LehrerInnen nicht gewonnen werden konnten, wurden die zwei Oberstufenklassen im Juni 1989 wieder geschlossen. Im September 1989 startete jedoch die Oberstufe von Neuem. 1995 wurde in einem 13. Schuljahr ein Vorbereitungslehrgang auf die Matura eingerichtet. Seither maturieren 95% der SchülerInnen erfolgreich im eigenen Haus. Derzeit finden 82 Kinder in vier Gruppen im Kindergarten Platz. In der Schule arbeiten 310 SchülerInnen in 13 Klassen, begleitet von 35 LehrerInnen. Im Hort sind 50 SchülerInnen in zwei Gruppen am Nachmittag betreut. www.waldorfschule-poetzleinsdorf.at

Aus der Geschichte der freien Waldorfschule Innsbruck 1978 veranstaltete die Anthroposophische Gesellschaft, Zweig Innsbruck, einen Vortrag über Waldorfpädagogik. Einige junge Leute standen auf und sagten: „Wir wollen eine Waldorfschule gründen!“ Das Schulsystem in Österreich war damals noch sehr autoritär organisiert, das Bedürfnis, vom hierarchischen Prinzip wegzukommen, daher groß. Eltern sollten am erzieherischen Prozess innerhalb der Schule beteiligt werden. „Erziehung zur Freiheit“, war die Parole.

Die Ausbreitung der Waldorfschulen, der ­anthroposophischen ­Heilpädagogik und der Waldorfkindergärten

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Freie Waldorfschule Innsbruck

Zwischen 1980 und 1983 wurden drei Waldorfkindergärten ins Leben gerufen. Vier Kinder brauchten dann 1985 eine Schule. Für sie wurde die so genannte „Vorbereitungsklasse“ gegründet, in der fünf Lehrer vier Schüler betreuten. 1986 sollte der reguläre Schulbetrieb mit drei Klassen beginnen. Es galt vor allem, Klassenlehrer dafür zu gewinnen. Als sehr schwierig entpuppte sich während der Vorbereitungszeit das Finden von finanziell erschwinglichen Räumlichkeiten für die Schule. Erst im allerletzten Moment wurde das Objekt der Firma Gösserbräu ausfindig gemacht. Die Zeit drängte, sodass noch vor Vertragsabschluss Mauern eingerissen und Wände lasiert wurden, um wenigstens einen großen Raum zu gewinnen. Mit nur einer Woche Verspätung konnte 1986 der Unterricht begonnen werden. Nach den ersten Jahren wurden die Räumlichkeiten für die wachsende Schule zu eng, die Miete war zu teuer. Es gelang, Räumlichkeiten in dem Schulgebäude in der Jahnstraße zu bekommen. 1989 wurden sechs Klassen dorthin, an unseren aktuellen Standort, übersiedelt. 1990 begann eine Oberstufeninitiative (OSI), 1992 startete die erste neunte Klasse in die Oberstufe. 1993 war die Schulpflichterfüllung für die neun Pflichtschuljahre erreicht, ebenso das Öffentlichkeitsrecht. 1995 erfolgte der Dachbodenausbau für die Oberstufe.

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Programmhinweise

1996 schloss die erste 12. Klasse die Schule ab. 1998 bekam die Schule das Öffentlichkeitsrecht auf Dauer. 2001 wird das „Bewegte Klassenzimmer“ in der 1. und 2. Klasse eingeführt. www.waldorf-innsbruck.at

Die Entwicklung der Paracelsus-Schule Salzburg Nach der Gründung der Rudolf-Steiner-Schule Salzburg trafen sich einige Waldorflehrer regelmäßig in einem pädagogischen Arbeitskreis, da in den ersten Jahren auch viele „Sorgenkinder“ in den Klassen betreut wurden. Der Bedarf nach einer heilpädagogischen Klasse war gegeben, es fanden sich schnell fünf Kinder. Im Nachbarhaus des damaligen Gebäudes der Rudolf-Steiner-Schule fand die kleine Klasse Unterschlupf. Auf Empfehlung des Bezirksschulinspektors wurden die Kinder zum „häuslichen Unterricht“ angemeldet und mussten am Ende des Schuljahres eine Prüfung ablegen. Schon im Herbst 1988 war der Wunsch der Eltern laut geworden, diese Kindergruppe in eine Schule einzubinden. Im Winter wurden Vereinsstatuten ausgearbeitet. Im Mai 1989 wurde der „Verein zur Förderung von Einrichtungen für Erziehungshilfe nach der Pädagogik und Heilpädagogik Rudolf Steiners, Salzburg“ gegründet. Diese Vereinsgründung ermöglichte das Ansuchen zur Schulgründung. In den Sommerferien kam der positive Bescheid. Der Bürgermeister stellte uns für die nächsten zwei Jahre zuerst zwei, dann drei Klassenräume in der Volksschule, Lehen 2, zur Verfügung. Die neugeborene Schule benannten wir nach dem Arzt Paracelsus, der ja einige Zeit in Salzburg gewirkt hatte. Im zweiten Jahr hielten wir Ausschau nach einem geeigneten Schulhaus, das wir in Nieder­alm fanden. Das Haus war in Privatbesitz gewesen und hatte Betriebe beherbergt. Zug um Zug wurden immer neue Räume ausgebaut. Die Betriebshalle wurde für zwei Klassen und einen Turnsaal adaptiert. Die Kinderzahl bewegte sich zwischen siebzehn und 30 Kindern. 1993 wurde ein Hort für sechs bis zehn Kinder eingerichtet. 1990 wurde der Schule vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur das Öffentlichkeitsrecht für die vorhandenen Klassen verliehen. Außerdem erhielt die Schule die Anerkennung als Einrichtung der schulischen Eingliederungshilfe gemäß § 12 Salzburger Behindertengesetz. Der Trägerverein wurde 1993 in „Verein Paracelsus-Schule Salzburg“ umbenannt. 2003 fragte Daniell Porsche an, ob er sein Praktikum in Musiktherapie bei uns machen könnte. Da er auch ausgebildeter Waldorflehrer war, übernahm er eine junge Kindergruppe. In dieser Zeit verband er sich innig mit dem heilpädagogischen Impuls. Er entschloss sich,

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Paracelsus-Schule Salzburg

die Gebäude für eine wachsende Schule bereitzustellen. Der „Schützenwirt“ in St. Jakob wurde als Objekt ausgewählt und in eineinhalb Jahren umgebaut. Im September 2005 konnte die Schule einziehen. In der Nähe fand sich noch ein alter Bauernhof. Dieser wurde 2007 erweitert, damit nicht nur Räume für die Landwirtschaft und den Bauern, sondern auch für die Hortbetreuung und für ein kleines Internat Platz hatten. Die Entwicklungsprozesse sind noch immer voll im Gange. www.paracelsusschule.at

Karl-Schubert-Schule Graz Unsere Einrichtung wurde als heilpädagogische Schule auf Initiative des Ehepaars Hammer für ihre autistische Tochter gegründet. Der erste Unterricht fand in einer Privatwohnung statt. Nachdem noch einige weitere Schüler dazugekommen waren und nach einer Übersiedlung in eine größere Stadtwohnung, erfolgte 1989 der Ankauf des Hauses Riesstraße 351. Einige Jahre hatten sich Eltern und Lehrer bereits mit dem Gedanken der Integration befasst und an der Realisierung einer Integrationsschule gearbeitet. Es sollte ein Ort geschaffen werden, an dem das Recht jedes Kindes auf Gemeinschaft mit anderen Kindern verwirklicht werden kann, an dem alle Kinder voneinander lernen dürften.

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Programmhinweise

Karl-Schubert-Schule Graz

1990/91 eröffnete die Karl-Schubert-Schule die erste integrative Kleinklasse. 1993 erfolgte dann die feierliche Grundsteinlegung für das neue Schulgebäude, das bis heute 8 Klassen und die dazugehörigen Förderräume, die Werkoberstufe, Werk- und Handarbeitsräume, einen Musiksaal und diverse Therapieräume beherbergt. Im Jahr 2001 entstand unsere Werkoberstufe, in der Jugendliche mit speziellen Bedürfnissen bis zum 21. Lebensjahr in einem „Gesamtunterricht“ unterwiesen werden, wobei die kulturellen Fähigkeiten je nach individuellem Stand auch in vielen handwerklichen und künstlerischen Tätigkeiten geübt werden. Kinder der Unter- und Mittelstufe mit erhöhtem Förderbedarf (bis zur gezielten Einzelförderung), die selbst in einem kleinen Klassenverband nicht geführt werden könnten, haben die Möglichkeit, eine der beiden kleinen heilpädagogischen Extraklassen mit besonders intensiver Betreuung und Förderung zu besuchen. 2002 wurde der integrativ geführte Hort genehmigt, daneben wird auch noch eine Nachmittagsbetreuung für SchülerInnen mit größerem Ruhe- und Förderbedarf angeboten. 2003 wurde der erste „Österreichische Integrative Waldorfkindergarten“ eröffnet; mittlerweile wurde für eine zweite Gruppe ein Anbau geschaffen. 2006/2007 entstand der Eurythmiesaal.

Die Ausbreitung der Waldorfschulen, der ­anthroposophischen ­Heilpädagogik und der Waldorfkindergärten

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Etwa 160 Kinder und Jugendliche, davon knapp ein Drittel mit heilpädagogischem Förderbedarf, sowie rund 60 MitabeiterInnen sind heute an der Karl-Schubert-Schule Graz. www.kss-graz.at

Rudolf-Steiner-Landschule Schönau

Rudolf-Steiner-Landschule Schönau

Die Rudolf-Steiner-Landschule Schönau hat im Jahr 1991 mit dem Hausunterricht begonnen und 1992 den Schritt zur Gründung einer Freien Waldorfschule – zunächst in Mödling – vollzogen. Als Schulträger fungiert seither der bereits 1985 im Triestingtal entstandene „Rudolf Steiner Schulverein im Raum Baden“. Nach Schönau an der Triesting übersiedelte die Schule Anfang 1996. Die Weihnachtstage wurden damit verbracht, in dem alten Paradehof, der zuvor der Polizeieinheit Cobra als Domizil gedient hatte, Schulräume zu schaffen. Sechs Klassen und 73 Kinder konnten nach den Weihnachtsferien einziehen. Im Schuljahr 1999/2000 wurde das sog. Bochumer Modell des Bewegten Klassenzimmers in der Unterstufe eingeführt und weiterentwickelt. Im 10. Jahr des Bestehens der Schule wurden die Bemühungen um lebendigen Unterricht auf besondere Weise gewürdigt. Die Landesakademie Niederösterreich und die Tages­ zeitung Kurier initiierten den Bewerb TOP SCHULE 2001. Der Rudolf-Steiner-Landschule Schönau wurde ein Sonderpreis zuteil, als Anerkennung der zahlreichen Projekte, die den schulischen Alltag bereicherten. Diese Auszeichnung war Ansporn, weiterhin Vielfalt und lebendige pädagogische Projekte zu verwirklichen, wie z.B. die Einrichtung einer Schul­ imkerei im Jahr 2008. Mit einer ersten 10. Klasse wurde im Jahr 2000 der Oberstufenaufbau in Angriff genommen. Inspiriert durch das Beispiel der arbeitsweltorientierten Oberstufe der Schweizer

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Programmhinweise

Waldorfschule Jura-Südfuß wurden neben den klassischen Praktika einer Waldorfoberstufe individuelle Arbeitsweltpraktika eingeführt, die im Rahmen des EU-Bildungsprogramms ­Leonardo da Vinci auch auf das europäische Ausland ausgeweitet wurden. Von einer winzigen Schule, die 23 Kindern in Privaträumen waldorfpädagogischen Unterricht bot, ist die Rudolf-Steiner-Landschule Schönau zu einer Waldorfschule herangewachsen, der heute rund 180 SchülerInnen, 32 MitarbeiterInnen, ein zweigruppiger Kindergarten und ein Hort angehören. www.waldorf-schoenau.at

Die Entstehung der Freien Waldorfschule Wien-West Am 18. März 1993 kam es zu einer Zusammenkunft von ca. 30 Menschen: Eltern, Lehrer, Kindergärtnerinnen. Es wurde in einer Urabstimmung beschlossen, eine Freie Waldorfschule sowie einen Kindergarten nach den Grundsätzen von Rudolf Steiner gründen zu wollen. Die Eröffnung dieser Bildungseinrichtung sollte im September 1993 stattfinden. In den fünf Monaten bis dahin geschah Unglaubliches: Gründung des „Rudolf-Steiner-Vereins 1993“, das Suchen und Finden eines geeigneten Standortes, Ausarbeiten von Lehrplan und Schulstatuten, Sekretariatsarbeit, Kontakt zum Waldorfbund, Transport einer kompletten Schuleinrichtung inklusive Schultafeln aus einer Volksschule der Stadt Wien, Präsentation der Schulinitiative in der Goetheanistischen Studienstätte Wien Mauer. In den Sommerferien wurde das bestehende Gebäude von Eltern, Lehrern, Kindergärtnerinnen und Schülern komplett umgebaut. Am 4. September 1993 war es soweit: Der Schul- und Kindergartenbetrieb für 120 SchülerInnen sowie 20 Kindergartenkinder konnte aufgenommen werden. Eine Woche später – am 11. September 1993 – erfolgte die feierliche Eröffnung. Vom Gründungsjahr 1993 bis 2000 wuchs Wien-West zu einer Schule mit neun Klassen und zwei Kindergartengruppen. Die sehr hohe Miete und die Enge des Objekts Schrutkagasse – es gab nur einen kleinen Schulgarten – ließ die Gemeinschaft nach anderen Standortmöglichkeiten umsehen. Diese Gelegenheit bot sich, als uns die Stadt Wien im Jahre 2000 anbot, in ein Gebäude in der Seuttergasse umzuziehen. Für diesen Umzug war eine gewaltige, auch finanzielle, Kraftanstrengung notwendig: Ein Gebäude aus dem Altbestand wurde umgebaut, Kindergarten, Festsaal und Foyer neu errichtet. Im September 2001 konnte das neue Schuljahr in den neuen Gebäuden begonnen werden. Wien-West hat nun einen Standort gefunden, an dem ein Wachstum bis in die Oberstufe möglich ist. Die Kinder lieben den riesigen Park mit dem alten Baumbestand, in dem die Schul- und Kindergartengebäude stehen. Der Kindergarten besteht aus zwei Kindergartengruppen und einer Kleinkindgruppe. Um der großen Nachfrage nach Kindergartenplätzen

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Freie Waldorfschule Wien-West

nachzukommen, ist mit dem Ausbau auf eine dritte Kindergartengruppe und eine zweite Kleinkindgruppe begonnen worden. www.waldorf-wien-west.at

Michaelischule Kufstein 1980 entstand der „Initiativkreis Waldorfpädagogik Kufstein“. Mit Vorträgen und Veranstaltungen wurde der Boden für die Gründungsinitiative bereitet. 1991 wurde ein Kindergarten gegründet, 2002 – nach jahrelanger Vorbereitung – die Schule in freier Trägerschaft. In ­einer relativ ländlichen Umgebung am Stadtrand von Kufstein fanden wir Raum und Garten für unsere Schule nach den Richtlinien Rudolf Steiners. Die Freie Waldorfschule Innsbruck übernahm die Patenschaft für unsere Kleinschule und steht uns in vielen pädagogischen und administrativen Fragen bei. Im September 2002 eröffnete die „Freie Schule Regenbogen“ eine erste Schulklasse mit sieben Schulkindern in den Räumen einer adaptierten Wohnung mit 75 m2 in der Stuttgarterstraße 17. Ab 2003 wurde die erste und zweite Schulstufe als „Doppelklasse“ gemeinsam geführt. Die Schule wurde offiziell eröffnet. 2005 folgte der Aufbau bis zur 4. Schulstufe,

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Programmhinweise

Michaelischule Kufstein

unterrichtet wurde im „Doppelklassensystem“: 1./2. und 3./4. Schulstufe. 2007 wird der Michaelischule Kufstein auf Dauer das Öffentlichkeitsrechts zuerkannt. Es taten sich neue, größere Räumlichkeiten für die Schule auf. In Kufstein werden die Kinder in der vierten Schulstufe auf den Übertritt in die staatlichen Schulen vorbereitet. In den ersten drei Schulstufen orientieren sich Lehrstoff und Lehrmethode an der ganzheitlichen Menschenkunde Rudolf Steiners. Die Mittel- und Oberstufe einer Waldorfschule können unsere SchülerInnen in Rosenheim oder Innsbruck besuchen. www.waldorf-kufstein.at

Neue Schulinitiativen: Die Familienschule Rheinthal Spezielle Umgebungsbedingungen fordern auch spezielle Lösungen. Eine Antwort auf dieses Land Vorarlberg, das so klein ist, dass es von vielen liebevoll „Ländle“ genannt wird, ist der klassenübergreifende Unterricht, der das Familiäre dieses kleinen Landes in unserer „Familienschule“ widerspiegelt. Ein weiterer mitgestaltender Umgebungsfaktor ist die spezielle Lage dieses Landes, umgeben von Liechtenstein, der Schweiz und Deutschland. Mit unserem „Verein Familien­

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Die Familienschule Rheinthal

schule Rheintal“ ist dieser so bereichernde Brückenschlag über den Rhein gelungen. Menschen aus der Schweiz und aus Österreich besuchen und verwalten gemeinsam diese Schule. In den ersten Jahren waren es mehr Menschen aus der Schweiz, seit einigen Jahren sind es mehr Menschen aus Österreich. An der Churerstraße 24 in Götzis, versteckt hinter dem ehemaligen Waldorfkindergarten, steht ein viereckiges Schulhaus aus Holz. Es ist die Familienschule, in der Waldorfpädagogik in einer Gesamtklasse angeboten wird. Kinder der 1. bis 4. Klasse werden von einer Klassenlehrerin gemeinsam unterrichtet. Für Fremdsprachen, Handarbeit, Englisch, Französisch, Gartenbau und Eurythmie wird die Klasse, je nach Bedürfnis, geteilt und von verschiedenen Fachlehrern übernommen. Die Familienschule liegt fünf Fußminuten vom Bahnhof Götzis entfernt und ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut erreichbar. Mehr als die Hälfte der Kinder fährt mit Bus oder Zug zur Schule. In der Familienschule haben wir für 20 Kinder Platz, rund um das im Winter knisternde Holzfeuer im Ofen. Im Schuljahr 2010/11 sind es 17 Kinder, die sich am Kaminfeuer erwärmen und an unserer Schule erfreuen können. [email protected]

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Programmhinweise

Die Waldorfschule Dreiklang

Die Waldorfschule Dreiklang Die Waldorfschulbewegung nördlich der Donau begann – nicht wie sonst üblich – mit einem Kindergarten, sondern mit einer Kreativwerkstatt. Von 2002 bis 2008 gab es in Wolkersdorf einen Raum, wo Kinder ihrer Entwicklung gemäß (Um-)Welt begreifen, erfahren und erforschen durften. Auf Grundlage der Waldorfpädagogik wurde mit Heranwachsenden im Alter von 5 bis 14 Jahren an Projekten gearbeitet, die sie in ihrer Entwicklung unterstützen sollten. Aus diesem Impuls heraus entstanden ab 2006 wöchentliche Schulgründungstreffen. 2007 begann der häusliche Unterricht für zwei Kinder. Im Jahr darauf wuchs die Schüleranzahl auf sechs Kinder an. Auf der Suche nach einem geeigneten Schulgebäude wurde man 2008 fündig. Umgeben von Wäldern und Äckern, liegt die Schule am Ortsrand von Unter­ olberndorf. Im Schuljahr 2009 wurde sie als Privatschule anerkannt; das Öffentlichkeitsrecht bekommen wir immer rückwirkend verliehen. Die Schülerzahl beträgt inzwischen 19 Kinder, die in Doppelklassen unterrichtet werden. Jedes Kind ist einmalig und bringt Bedeutsames mit. Auch „besondere“ Kinder finden ihren Platz bei uns. Um ihnen gerecht zu werden, unterstützt uns eine Waldorflehrerin mit heilpädagogischer Berufserfahrung und wahlweise TherapeutInnen. Wir sind bereits wieder auf der Suche nach einem geeigneten Schulgebäude für die wachsende Schülerschar. www.dreiklangschule.at

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Die Sonnenlandschule

Die Sonnenlandschule Die noch junge Geschichte der Sonnenlandschule begann 2003 in Neufeld/Leitha. Eine Mütterrunde und eine Waldorfkindergärtnerin trafen einander regelmäßig, um gemeinsam Spielmaterialien herzustellen. Nach und nach nahm die Pädagogik Rudolf Steiners Einzug in das Bewusstsein der jungen Mütter, sodass schließlich 2005 die Idee aufkam, einen Kindergarten zu gründen. Der Verein „Waldorfkindergarten Sonnenland“ entstand. Leider ließ sich dieser Traum aufgrund des fehlenden Kindergruppengesetzes im Burgenland nicht umsetzen. Den Wunsch, die Philosophie von der „Erziehung zur Freiheit“ im Burgenland zu verbreiten, trug man aber weiter. 2007 war der Wendepunkt. Es kam die Idee auf, eine Waldorfschule für die ersten acht Schulstufen zu gründen. Der Interessentenkreis wuchs rasch, sodass es bereits im folgenden Schuljahr losgehen sollte. Die Gründungsidee wurde niedergeschrieben, Broschüren gestaltet und Informationsabende gehalten. Am 3. September 2007 war es dann soweit. Die Sonnenland Schule startete im häuslichen Unterricht mit einer Klasse mit sechs Schülern im Einfamilienhaus einer Elternfamilie. Die folgenden Jahre sollten davon bestimmt sein, ein geeignetes Schulhaus zu finden, das auch den behördlichen Vorschriften genügte. Mehrere Gebäude wurden ins Auge gefasst; doch letztlich konnte keine Genehmigung erteilt werden.

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Programmhinweise

2010 begann die Sonnenlandschule mit 17 Kindern und einem siebenköpfigen Kollegium, mit dem Status einer Privatschule das vierte Schuljahr ihres Bestehens – endlich in einem ­eigenen Schulhaus, das allen Vorschriften genügt. Der Unterricht findet weiterhin jahrgangsübergreifend statt. Da eine unserer Klassenlehrerinnen und auch Schüler aus Ungarn kommen, fließt die ungarische Sprache in den täglichen Unterricht ein. Künftig wird Kroatisch als zweite Fremdsprache gelehrt, ganz im Sinne einer grenznahen und somit kultur­ übergreifenden Einrichtung im Burgenland. www.sonnenlandschule.at Neben diesen Waldorf-/Rudolf-Steiner-Schulen seien noch zwei weitere nach der Pädagogik Rudolf Steiners arbeitende Schulen in Wien genannt: die Friedrich Eymann Waldorfschule (1982) und das Oberstufenrealgymnasium Rudolf Steiner (1992). Beide sind Gründungen von Elisabeth und Karl Rössl-Majdan. Rechtsträger ist das Kuratorium für künstlerische und heilende Pädagogik. www.waldorf-hietzing.at

Waldorfkindergärten in Österreich Aktuell gibt es 30 Kindergärten in fast allen Bundesländern, die meisten davon mit mehr als einer Gruppe. Jede der hier vorgestellten Schulen hat in ihrem Umfeld auch einen Kindergarten. In Österreich gibt es zwei Ausbildungsstätten für angehende Kindergarten-PädagogInnen: eine in Wien, eine in Salzburg. Nähere Info: www.waldorf.at/hauptseiten/kindergarten.htm

Anmerkung 1

Redaktion der von den einzelnen Schulen zur Verfügung gestellten Texte

Da n k s a g u n g

Als Herausgeber möchte ich mich bei allen, die am Zustandekommen dieses Buches mitgearbeitet haben, aufs Herzlichste bedanken. Das sind die AutorInnen sowie alle, die bei der Beschaffung von Informationen und Bildern behilflich waren. Dazu gehören auch die KollegInnen der Waldorf-/Rudolf-Steiner-Schulen mit den Darstellungen ihrer Schulgeschichte. Aus Platzgründen mussten diese stark verdichtet werden, weshalb den Texten auch keine eindeutige AutorInnenschaft mehr zugewiesen werden kann. Dann ist Irene Bulasikis, Raoul Kneucker und Irmtraud Moravansky Dank zu sagen, die nicht nur wesentliche Beiträge verfassten, sondern beratend, Texte sichtend und korrigierend sowie immer wieder neu mitdenkend mich bei meiner Arbeit unterstützen. Ein besonderer Dank geht an Stefan Gergely, der nach dem Tod seiner Mutter im Redaktionsteam mitarbeitete und vor allem bei der Lektorierung des Manuskripts eine unschätzbare Hilfe war. Weiters ist Herrn Dr. P. Rauch vom Böhlau-Verlag zu danken, dass er sich der Publikation annahm, Frau Dr. E. Reinhold-Weisz für die Koordination und Herrn M. Rauscher für die umsichtige Gestaltung des Buches. Tobias Richter

Au to r i n n e n u n d Au to r e n (in alphabetischer Reihenfolge)

Theresia Bitzner, geb. 1949, Mag. phil., AHS-Lehrerin Französisch/Italienisch, 1979 bis 1996 Aufbau bzw. Geschäftsführung der Rudolf Steiner Schule Salzburg, seit 1986 Vorstandsmitglied HERMES-Österreich. Irene Bulasikis, geb. 1968; Studium der Handelswissenschaft in Wien (sowie Montreal und Santa Cruz, USA); journalistische Tätigkeit, Trainerin in der Erwachsenenbildung, Verlagslektorat, Geschäftsführung Bellaprint Verlag; ehrenamtliche Tätigkeit im Vorstand des Waldorfkindergartens Mödling, später im Vorstand der Rudolf Steiner-Schule Wien-Mauer; Mitarbeit im Elternkreis des Waldorfbundes Österreich Regula Hetzel, geb. 1947, Wien; Psychotherapeutin, 12 Jahre Waldorfschülerin in München, von 1976 bis 1985 aktive Elternarbeit und von 1985 bis 1996 Vorstandsmitglied in der Rudolf Steiner-Schule Wien-Mauer Friedrich Hiebel, geb. 1903 in Wien, Dr. Phil, Studium der deutschen Literatur, Sprachwissenschaft und Geschichte 1929–38 Waldorflehrer in Essen, Stuttgart und Wien. Emigration in die USA, dort Hochschullehrer. Ab 1963 Vorstandsmitglied der der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft in Dornach. 1989 in Dornach gestorben. Christian Hitsch, geb. 1951 in Salzburg, freischaffender Bildhauer in Feldkirchen/O.Ö. Von 1975 -1982 Werklehrer in der Rudolf-Steiner Schule Wien/Mauer Linda Kneucker, geb. 1937, USA; BA Anthropologie und Soziologie, Brandeis University; übersiedelt aus Liebe nach Österreich 1967, verheiratet mit Raoul Kneucker, 3 Waldorfkinder; Ausbildung zur Lebensberaterin; Mitgründerin von K.i.d.s. Forum für Kinderschutz und von Or Chadasch (Progressive Jüdische Gemeinde), Sekretärin der IIASA Society (Internationales Insititut für Angewandte Systemanalyse, Laxenburg). Raoul Kneucker, geb. 1938, Wien; Dr. jur; Honorarprofessor an den Universitäten Innsbruck (Politische Wissenschaften) und Wien (Religionsrecht); Sektionschef i.R. (wissenschaftliche Forschung und internationale Angelegenheiten), davor verschiedene Positionen in der Wissenschaftsadministration. Rechtsberater der österreichischen Waldorfbewegung 1976–1996. Verheiratet mit Linda Kneucker.

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Autorinnen und Autoren

Tobias Kühne, geb. 1928 in Deutschland. 1935 bis zu ihrem Verbot besuch der Rudolf Steiner Schule in Berlin, nach dem Krieg 11. Und 12. Klasse der Waldorfschule Stuttgart-Uhlandshöhe. Cello-Studium in Stuttgart und Paris. Dreijährige Unterrichts- und Konzerttätigkeit in Südamerika. 1960 Berufung als Lehrer an die Musikakademie in Wien. 1972 Ordinarius. Angelika Lütkenhorst, geb. 1954, Duisburg; Studium der Sonderpädagogik in Köln; 1985–1991 ehrenamtliche Mitarbeit bei amnesty international; ab 1988 Mitarbeit an der Gründung einer Waldorfschule in Mödling (heute: Rudolf Steiner Landschule Schönau); 1992–1995 Ausbildung zur Waldorflehrerin an der Goetheanistischen Studienstätte in Wien-Mauer; seit 1995 Lehrerin und geschäftsführende Mitarbeiterin des Vorstands an der Rudolf Steiner Landschule Schönau; langjährige Mitarbeit im Vorstand des Waldorfbundes Österreich. Irmtraud Moravansky, geb. 1945, Mariazell; Dkfm; langjährige Schülermutter der Rudolf Steiner-Schule Wien-Mauer, ehrenamtliche Mitarbeit im Rahmen der Schulbewegung. Wolfgang Schad, Prof. Dr. rer. Nat., geb. 1935. Ab 1955 Studium der Biologie, Chemie und Physik in Marburg und München, der Pädagogik in Göttingen. 1962 Waldorflehrer in Pforzheim, 1975 Dozent für Waldorfpädagogik in Stuttgart, 1992 Lehrstuhl für Evolutionsbiologie und Morphologie an der Universität Witten/Herdecke. Seit 2005 Emeritus. Paul Schütz, geb. 1930, Wien, Studium an der der Technischen Universität in Graz und Wien; 1961 Promotion zum Dr. tech. Leiter der Versuchs-und Forschungsanstalt der Stadt Wien, MA 39. Gründer des Ludwig Boltzmann-Institutes für biologischen Landbau. 1966–1978 Vorstandsmitglied des Rudolf Steiner-Schulvereins. Karl Sretenovic, geb. 1923, Studium an der Universität Wien, Dr. phil., Landesschulinspektor im Bereich des Pflichtschulwesens Wien. 2009 verstorben. Ruth Stiglechner-Halla, Dr. med., geb. 1952 in Wien; Ärztin für Allgemeinmedizin, Praxis für Anthroposophische Medizin in Wien; seit 1995 Schulärztin der Rudolf Steiner-Schule Wien-Pötzleinsdorf; Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Anthroposophische Medizin in Österreich. Alexander Strakosch, geb. 1879 in Brünn; Studium an der Technischen Hochschule München, Dipl.-Ing., ab 1920 Lehrer an der Waldorfschule in Stuttgart. 1938 bis zu seinem Tod 1958 in Dornach.

Autorinnen und Autoren

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Michael Stransky, geb. 1957, Wien; Besuch der Rudolf Steiner-Schule Wien von 1966–1975; Lehrer an der Freien Waldorfschule Graz seit 1989 (Klassenlehrer, Geschäftsführung, Gartenbaulehrer); davor Gärtner in verschiedenen Betrieben in Graz; einige Jahre Mitarbeit im Waldorfbund. Andreas Suchantke, geb. 1933, Basel/Schweiz. 20 Jahre Lehrer für naturwissenschaftliche Fächer an der Rudolf Steiner-Schule Zürich, anschließend langjährige Dozentur für Lehrerbildung an Waldorfschulen und Seminaren weltweit. Im eigenen Fachbereich Ökologie mehrmalige Forschungsreisen in die Tropen Afrikas und Südamerikas. Zahlreiche Buch- und Zeitschriften-Publikationen. Gerhard Volz, geb. 1969, Wien; Studium der Politikwissenschaften, Geschichte und Päda­ gogik an der Universität Wien; Arbeiten zu zeitgeschichtlichen Fragen, insbesondere in Mittel- und Osteuropa, sowie zur Rolle „freier“ Schulen in der österreichischen Bildungslandschaft. Tätig im Bereich der internationalen Bildungs- und Wissenschaftskooperation. Sieglinde Wendt, geb. 1939, Salzburg. Volksschullehrerausbildung. Beteiligt an der Gründung der Rudolf Steiner-Schule In Wien/Mauer (1966), an der Rudolf Steiner-Schule in Salzburg (1988) und an der Paracelsus-Schule/Salzburg (1988). Derzeit noch an Letzterer im kunsttherapeutisch-handwerklichen Bereich tätig, wie auch am Seminar für Waldorfpädagogik in Salzburg. Carlo Willmann, Dr. theol., geb. 1956, Theologiestudium in Freiburg, Frankfurt und Wien. Dissertation: Waldorfpädagogik – Theologische und religionspädagogische Befunde. Waldorflehrer für Kunstgeschichte, Deutsch, Geschichte und Religion. Dozent am Zentrum für Kultur und Pädagogik in Wien, seit 2009 Junior-Professor für Religionspädagogik und Ethik an der Alanus Hochschule/Alfter.

RupeRt VieRlingeR

SteckbRief geSamtSchule

Mit dem Begriff der Gesamtschule wird seit der Schulreform in den 1970er Jahren in Österreich, in Deutschland in Form der Integrierten Gesamtschule (IGS), Schindluder getrieben. Es werden Kinder begabungsmäßig sortiert, statt Varianten der Unterrichtsmethoden entwickelt. Die echte Gesamtschule korrigiert einen der Kardinalfehler des gegliederten Schulsystems, das den schwachen und erst gar den schwächsten Schülern die Möglichkeit zum Lernen am Vorbild raubt. Im Ghetto der Schwachen spiegelt sich nur der desinteressierte Blick des Einen im desinteressierten Auge des Anderen – und das Ergebnis ist „null Bock“! Die echte Gesamtschule saniert das psycho-soziale Klima in der Schulklasse. Keiner wird ausgegrenzt. Die Schüler sind nicht mehr Rivalen innerhalb ihres Leistungsniveaus, sondern Partner im gemeinsamen Lernziel! 2009. 292 S. Br. 120 x 185 mm. iSBn 978-3-205-78324-4

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