Wie sich Werte bilden: Fachübergreifende und fachspezifische Werte-Bildung 9783737001304, 9783847101307, 9783847001300

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Wie sich Werte bilden: Fachübergreifende und fachspezifische Werte-Bildung
 9783737001304, 9783847101307, 9783847001300

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Werte-Bildung interdisziplinär

Band 1

Herausgegeben von Martina Blasberg-Kuhnke, Eva Gläser, Reinhold Mokrosch, Susanne Müller-Using und Elisabeth Naurath

Elisabeth Naurath / Martina BlasbergKuhnke / Eva Gläser / Reinhold Mokrosch / Susanne Müller-Using (Hg.)

Wie sich Werte bilden Fachübergreifende und fachspezifische Werte-Bildung

Mit 5 Abbildungen

V& R unipress Universitätsverlag Osnabrück

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0130-7 ISBN 978-3-8470-0130-0 (E-Book) Veröffentlichungen des Universitätsverlags Osnabrück erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Universität Osnabrück. Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Ausschnitt aus Matrix Ó Petra Ulrich (Essen), 1999 Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

I. Grundlagen Wie sich Werte bilden. Fachübergreifende und fachspezifische Werte-Bildung. Einleitung (Reinhold Mokrosch) . . . . . . . . . . . . . .

9

Arnim Regenbogen Zu Wertediskursen in Erziehung und Gesellschaft – Wer setzt Ziele? Wer bildet die Maßstäbe der Beurteilung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Elisabeth Naurath Wertschätzung als pädagogische Grundhaltung zur Werte-Bildung . . . .

29

Reinhold Mokrosch Religiöse Werte-Bildung im Pluralismus der Religionen?

. . . . . . . . .

43

Susanne Müller-Using Die Bedeutung der Werte-Bildung für die Professionalisierung angehender LehrerInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

Wassilis Kassis Nur auf dem Mond ist man vor dem Antisemitismus sicher. Antisemitismus bekämpfen – auch eine Aufgabe der Werte-Bildung?

. .

83

Christoph Sturm Von der Werte-Erziehung zur Werte-Bildung? Eine Analyse zur Geschichte der Erziehungsdebatten in der Bundesrepublik Deutschland .

99

Überleitung (Martina Blasberg-Kuhnke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

6

Inhalt

II. Konkretionen Susanne Menzel Werte-Bildung im naturwissenschaftlichen Unterricht: kein Widerspruch

125

Sarah Gaubitz / Eva Gläser Wertebildung im Sachunterricht – vielperspektivisch und fachübergreifend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Arnim Regenbogen Philosophisches in der Werte-Bildung, gefördert durch Ethik-Unterricht

157

Peter Elflein / Yoon-Sun Huh Werte und Ziele interkultureller Erziehung zwischen Integration und Menschenbildung – Anschlussperspektiven für die Bewegungs- und Sportpädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Erna Zonne Inklusive Religionspädagogik – Grundlegende Werte Carolin Teschmer Biblische Texte als Schlüssel zur Werte-Bildung

. . . . . . . . . . . 185

. . . . . . . . . . . . . . 209

Ulrich Kuhnke Wertebildung durch Kommunikation des Evangeliums. Zur narrativen Grundstruktur christlicher Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Melanie Obraz Der spezifische Wert ästhetischer Werte

. . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

Ulrike Graf Von der »Wert«haftigkeit des Glücks. Überlegungen zu einer salutogenetischen Orientierung in Unterricht und Lehrerbildung . . . . . 263 Werte-Bildung: ein Ausblick (Martina Blasberg-Kuhnke) . . . . . . . . . 285 Neuere Literatur zur Weiterarbeit in Auswahl Hinweise zu den Autoren und Autorinnen

. . . . . . . . . . . . . . . 289

. . . . . . . . . . . . . . . . . 291

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

I. Grundlagen

Wie sich Werte bilden. Fachübergreifende und fachspezifische Werte-Bildung. Einleitung (Reinhold Mokrosch)

Wie bilden sich Werte in unserem Bewusstsein? Ergreifen wir die Werte oder ergreifen die Werte uns? Ist Werte-Bildung ein aktiver oder ein passiver Bewusstseinsprozess? Prägen wir Werte wie z. B. Toleranz, Menschenwürde, Ehrfurcht vor dem Leben, Fairness, Gleichheit, soziale Gerechtigkeit usw. oder werden wir von ihnen geprägt? Beides trifft zu – möchte man antworten. Aber wie geschieht Werte-Bildung genau? Auf die Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdbildung bezogen: Ist Werte-Bildung ein von innen gesteuerter Selbstbildungs- oder ein von außen gesteuerter Fremdbildungsprozess? Werden z. B. Toleranz und Ehrfurcht vor Leben als wertvolle Verhaltensweisen an das Individuum von außen herangetragen oder kommt der Einzelne von innen zu der Einsicht, dass Zusammenleben nur mit Toleranz und Ehrfurcht vor dem Leben möglich ist? Beides trifft zu, möchte man wieder antworten. Aber wo liegt der Schwerpunkt? Ferner : Welche Voraussetzungen sind notwendig, damit sich z. B. Toleranz und Ehrfurcht vor dem Leben in der Einstellung und evtl. sogar im Verhalten manifestieren können? Sind bestimmte soziale Bedingungen vorauszusetzen? Sind z. B. Kinder und Jugendliche mit benachteiligter Sozialisation, Entwicklungsverletzungen, familialen Belastungen, peergroups und Negativ-Vorbildern weniger fähig zur Werte-Bildung als diejenigen mit verlässlicheren Familienverhältnissen, Vorbildern und peergroups? Um es vorwegzunehmen: Diese Unterscheidung trifft für die Möglichkeit erfolgreicher Werte-Bildung kaum zu. Aber sind andere individuelle Bedingungen vorauszusetzen? Muss z. B. ein Selbstwertbewusstsein vorhanden sein? Ist eine Fähigkeit zur Wertschätzung vorauszusetzen? Muss man gebildet sein, um sich in und von Werten bilden zu lassen? Um es wieder vorwegzunehmen: Gebildet-sein ist keine entscheidende Voraussetzung für Werte-Bildung. Ja, aber welche Bedingungen sind dann vorauszusetzen? Allgemeingültige Antworten sind kaum möglich. Es kommt auf die Person und Situation an. Ja, aber welche Situationen sind das? Schließlich: Bei welchen Anlässen bilden sich Werte im Bewusstsein? Gewinnt der Wert Gesundheit z. B. an Bedeutung, wenn man krank oder wenn man

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Einleitung (Reinhold Mokrosch)

gesund wird? Wird Toleranz bedeutsam, wenn man tolerant oder intolerant behandelt wird? Wieso wird jemand zum Wehr- bzw. Kriegsdienstverweigerer, zum Sozialhelfer bzw. zur Sozialhelferin, zum Friedensaktivisten bzw. zur Friedensaktivistin oder zu deren Gegenteil? Allgemeingültige Antworten gibt es wieder nicht. Aber vielleicht Tendenz-Antworten? Und last but not least: Welchen Beitrag können Wissenschaften und Unterrichtsfächer zur Werte-Bildung des Individuums leisten? Wird Ehrfurcht vor Leben, wenn überhaupt, im Biologie-, Religions-, Ethik-, Deutsch- o. a. Unterricht gebildet? Wird ein Empfinden für Schönheit, wenn überhaupt, im Kunst-, Musik- o. a. Unterricht gesät? Gibt es nur eine fachspezifische oder auch eine fachübergreifende Werte-Bildung? Wir sind überzeugt, dass Werte-Bildung besonders effizient ist, wenn sie interdisziplinär und fächerübergreifend praktiziert wird. Ist das aber erwiesen? Der vorliegende Band greift diese Fragen aus verschiedenen Fachwissenschaften auf: aus der Perspektive der Naturwissenschaft, der Theologie, der Religionswissenschaft, der Schulpädagogik, der Sozialpädagogik, der Didaktik des Sachunterrichts, der Sportwissenschaft, der Philosophie, der Ethik und der Kunst. Und es werden Bildungsbereiche von der Elementarerziehung bis zur Hochschuldidaktik aufgegriffen. Aus allen diesen Perspektiven fragen die Autoren und Autorinnen, wie sich Werte im Bewusstsein bilden. Sie sind vereint in der Interdisziplinären Forschungsstelle »Werte-Bildung« an der Universität Osnabrück und treten mit diesem Band bewusst an die Öffentlichkeit, um zur öffentlichen Diskussion anzuregen. Sollte Werte-Bildung, wie sie überzeugt sind, vorrangig fachübergreifend und interdisziplinär praktiziert werden? Es gibt für sie allerdings eine gemeinsame Grundlage im Werte- und WerteBildungs-Verständnis: Sie alle halten daran fest, dass Werte-Bildung ein subjektiver Verarbeitungsprozess im Bewusstsein, also ein Werte-Selbst-BildungsProzess ist; dass nichtsdestotrotz wir von Werten ergriffen werden, bevor wir sie subjektiv ergreifen; dass die Fähigkeit zur Wertschätzung eine Voraussetzung für Werte-Bildung ist; und dass Werte-Einstellung und Werte-Verhalten oft auseinanderklaffen und nur im Glücksfall übereinstimmen. So sind wir Autoren/innen uns einig, dass Menschen von Schönheit (Obraz), Achtung der Natur (Menzel), Mitgefühl (Teschmer), Barmherzigkeit (Kuhnke), Glück (Graf), Gemeinsamkeit (Elflein, Huh), Menschenwürde (Kassis), Wertschätzung (Naurath), Ehrfurcht vor Leben (Mokrosch), Selbstständigkeit (Regenbogen), Empathie (Müller-Using), Mündigkeit, Lebenswelt (Gaubitz, Gläser) und Teilhabe (Zonne) – um nur einige Beispiele zu nennen – ergriffen werden, bevor wir die Werte im Sinne einer Selbstbildung im Bewusstsein und Gewissen subjektiv verarbeiten. Aber kleine Differenzen bestehen z. B. bei den Fragen, wie diese Selbstbildungsprozesse im Einzelnen aussehen, welche Rolle Werte-Erzieher/

Einleitung (Reinhold Mokrosch)

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innen bei der Werte-Bildung spielen, ob man nur Werte-Einstellungen oder auch Werte-Verhalten bilden könne u. a. Der Band ist wie gesagt plural gefächert. Es kommen Beispiele fachlicher und fächerübergreifender ethischer und ästhetischer Werte-Bildung zu Wort: aus den Geistes-, Natur- und Kultur (Kunst und Sport)-Wissenschaften. Die Wahl derjenigen Fächer und Wissenschaften, die zu Worte kommen, entspricht dem Gremium der Interdisziplinären Forschungsstelle für Werte-Bildung an der Universität Osnabrück. Der Band ist in zwei Teile gegliedert: in »Grundlagen« und in »Konkretionen« der Werte-Bildung. In beiden Teilen geht es um das Thema, das im Titel des Buches angedeutet wird: »Wie sich Werte bilden«. In den sechs »Grundlagen – Beiträgen« geht es im Einzelnen um folgende Inhalte und Thesen: Arnim Regenbogen skizziert das Werte- und Werte-Bildungs-Verständnis der Autoren und Autorinnen dieses Bandes, wie es bereits oben angedeutet wurde: Bildung »von« Werten sei ein Bildungsziel, Erziehung »in« Werten ein Erziehungsziel. Beides sei notwendig, um Werte-Einstellungen, Wert-Haltungen und Werte-Verhalten durch Selbstbildung zu erreichen. Es sei, so Regenbogen, seit Nietzsche ein langer Geschichts-Prozess von Tugenden zu Werten, von »Gehorsam und Unterordnung« zu »Selbständigkeit und freiem Willen« und von »Fremdbildung von außen« zur »Selbstbildung von innen« gewesen. Werte entstehen, so sind wir Autoren/innen uns, wie Regenbogen zu Recht betont, einig, im Individuum allein durch Werte-Selbst-Bildung. Elisabeth Naurath skizziert Bedingungen gelingender Werte-Bildung. Wertschätzung, sowohl seiner selbst als auch der anderen, sei eine Grundvoraussetzung für die Fähigkeit, Werte zu bilden. Und Voraussetzung für Wertschätzung ihrerseits seien Beziehungserfahrungen, gegenseitige Anerkennung, Selbst-Wert-Gefühl, Subjektwerdung und Persönlichkeitsbildung. Die Autorin belegt die Richtigkeit dieser Thesen mit überzeugenden Beispielen aus der pädagogischen Praxis. Reinhold Mokrosch beschreibt noch einmal grundlegend, wie sich Werte im Bewusstsein eines Menschen prozessartig bilden und fragt auf diesem Hintergrund, ob das auch für religiöse Werte-Bildung zutrifft. Er unterscheidet dabei zwischen bekenntnisorientiert-religiösen, allgemein-religiösen und inter-religiösen Wertungen und Werte-Bildungskonzepten. Sein Fazit: Alle drei Arten religiöser Werte-Bildung sollten allein (durch Wertschätzung, s. E. Naurath) vom Subjekt im Selbstbewusstsein gebildet werden und dürfen niemals von außen – wie leider oft praktiziert – aufoktroyiert werden. In Interviews mit einem Hindu-Priester, einem buddhistischen Mönch, einem muslimischen Imam und einer christlichen Theologin bespricht er diese Herausforderung einer subjektorientierten religiösen Werte-Bildung.

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Einleitung (Reinhold Mokrosch)

Susanne Müller-Using fordert, dass Lehrer und Lehrerinnen während ihrer Ausbildung in Werten gebildet werden, um ihrerseits später ihre Schüler und Schülerinnen in Werten bilden zu können. Sie rahmt solche Lehramts-WerteBildung in das Thema Grund- und Menschenrechte ein und entwickelt dazu – u. a. nach finnischem Vorbild – Modelle für das Lehramtsstudium. Handlungsund Reflexionskompetenz hält sie für die wichtigsten Voraussetzungen, damit sich Werte im Bewusstsein bilden können. Ist Werte-Bildung ein Bollwerk gegen Antisemitismus? Können Toleranz, Menschenwürde, Ehrfurcht vor dem Leben u. ä. im Bewusstsein so stark werden, dass sie antisemitisches Verhalten verhindern? Wassilis Kassis untersucht antisemitische Einstellungen und Verhaltensweisen in Deutschland, Österreich, Slowenien und Spanien und fragt, ob Werte-Bildung beides auszuschließen vermag. Sein Fazit lautet: Nur auf dem Mond kann man vor Antisemitismus sicher sein! Aber Werte-Bildung hat trotzdem einen entscheidenden Auftrag. Die Studie ist pragmatisch und empirisch validiert kommuniziert. Christoph Sturm beklagt, dass in der Geschichte der Erziehungsdebatten in der Bundesrepublik Deutschland das Fiasko nationalsozialistischer Erziehungsideologien nicht aufgearbeitet worden sei. Er skizziert die Kämpfe um konservative, liberale, autoritäre oder antiautoritäre Erziehungsstile von den 50er bis zu den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts und kommt zu dem Ergebnis, dass diese Geschichte auch als Prozess von einer von außen – ohne Beteiligung des Selbst – gesteuerten Werte-Erziehung hin zu einer von innen gesteuerten Werte-Selbst-Bildung verstanden werden kann. Diese Grundlagen aus dem 1. Teil finden ihre Anwendung in den fachspezifischen und/oder fächerübergreifenden »Konkretionen« im 2. Teil: Susanne Menzel unterstreicht die Bedeutung der Werte-Bildung im BiologieUnterricht: Schüler und Schülerinnen sollen zum einen befähigt werden, sich für Nachhaltigkeit einzusetzen und Eingriffe in die Natur wertgerecht zu bewerten, zum anderen sollen sie biologische Anwendungsgebiete (z. B. Stammzellenforschung, Präimplantationsdiagnostik, Genmanipulation u. Ä.) ethisch bewerten lernen. Dazu stellt die sie zwei Bewertungskompetenz-Modelle vor und exemplifiziert diese an zwei interessanten Beispielen: an einem bedrohten Ökosystem in Afrika und an einem Anwendungsfall der Präimplantationsdiagnostik in Europa. Auch bei diesen objektiven Beispielen setzt sie auf subjektive WerteSelbst-Bildung der Schüler und Schülerinnen. Sarah Gaubitz und Eva Gläser zeigen die Relevanz von Wertebildung für die Grundschule, insbesondere für die Didaktik des Sachunterrichts, auf. Lange Zeit wurde dieser Altersgruppe die Fähigkeit hierzu abgesprochen, was mit den theoretischen Annahmen von Lawrence Kohlberg zur moralischen Entwicklung begründet wurde. Aktuelle empirische Studien zeigen dagegen, dass moralische Urteilsfähigkeit nicht erst im Jugendalter beginnt. Grundlegende Zielsetzungen

Einleitung (Reinhold Mokrosch)

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der Wertebildung wie die Befähigung zum ethischen Urteilen und zum mündigen Verhalten werden erläutert und es wird aufgezeigt, dass Wertebildung im Sachunterricht fachbezogen und fachübergreifend zu integrieren ist. Arnim Regenbogen betont, dass in der Schule nur eine Bildung »in« Werten (Bildung von Wert-Einstellungen), nicht aber »von« Werten (Bildung von WertVerhalten) möglich sei. Im Ethik-Unterricht sollte das durch Bearbeitung von Wert-Konflikten, durch Einübung philosophischer Gesprächsführung und durch Produktion philosophischer Texte versucht werden. Das könnte evtl. zu einer philosophischen Lebenseinstellung, kann aber auch zu einem philosophischen Lebensverhalten führen, das von positiven Wert-Einstellungen geprägt ist. Peter Elflein und Yoon-Sun Huh untersuchen Werte-Bildung im Rahmen interkultureller Bewegungs- und Sporterziehung u. a. im Sport-Unterricht. Leibesund Bewegungskultur sei ein unverzichtbarer Teil allgemeiner Menschenbildung und fördere – oft ohne Sprache – Interkulturalität und Integration. Hintergrund solcher Sporterziehung müsse aber, so die Verfasser, eine an Gleichheits-Werten (z. B. Achtung der Menschenwürde, Ehrfurcht vor dem Leben, Gleichheit, Gemeinsamkeit, Gerechtigkeit und Solidarität) orientierte Bildungsidee sein. In der koreanischen Dong-Hak Erziehung-Philosophie und Han- Ul- Pädagogik entdecken die Verfasser solche für den Sport-Unterricht relevanten Bildungsideen. Es folgen drei Beiträge zur Werte-Bildung aus dem Bereich der Religionspädagogik und Religionsdidaktik: Erna Zonne nennt vier Wert-Orientierungen, welche Grundlage und auch Ziel einer inklusiven Schule – mit Schülerinnen und Schülern mit oder ohne sonderpädagogischen Förderbedarf – sein sollten: Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, Vertrauen in die eigene Leistung, Teilhabe und Mitgestaltung und Eingeständnis wechselseitiger Abhängigkeit. In einem inklusiven Religionsunterricht sollten diese Werte besonders eingeübt und praktiziert werden. Carolin Teschmer fragt, ob biblische Geschichten zur Werte-Bildung im pädagogischen Alltag des Elementarbereichs beitragen können. Nach einer ausführlichen Analyse der Begriffe Mitgefühl und Barmherzigkeit (im Unterschied zu Mitleid), der Entwicklung von Mitgefühlsfähigkeit in der Kindheit und des Mitgefühlpotentials biblischer Erzählungen (bes. des »Barmherzigen Samariters«, Lukas 10) kommt sie zu folgender Einsicht: Biblische Geschichten sind geeignet, Werte wie Mitgefühl, Barmherzigkeit, Freundschaft, Hilfsbereitschaft u. a. im Bewusstsein von (Vorschul-)Kindern zu bilden. Ulrich Kuhnke fragt, ob man von biblischen Erzählungen so berührt werden kann, dass man in eine Gottesbeziehung tritt und christliche Werte bildet. Christliche Werte-Bildung wäre dann identisch mit einer Kommunikation des Evangeliums. Auf der Grundlage der kognitiven Narratologie von David Herman

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Einleitung (Reinhold Mokrosch)

kommuniziert er mit dem Evangelium vom »Verlorenen Sohn« (Lukas 15) und erfährt beim Nachvollzug der Beziehungen zwischen Vater, Verlorenem Sohn und Heimatlichen Sohn die Werte Liebe, Mitgefühl, Barmherzigkeit, Fürsorge, Gewissheit und Freiheit. Beim Hören und Lesen der Worte und Gleichnisse Jesu, so folgert er, können sich christliche Werte im Gläubigen bilden. Neben diesen religionspädagogischen Konkretionen folgt der Beitrag von Melanie Obraz zu ›Ästhetischer Werte-Bildung‹. Sie skizziert die »ästhetische Sichtweise als ein besonderes Verstehen des Alltäglichen«. Interpretation, meditatives Verweilen, Erkenntnis aus der Mitte, Staunen und überhaupt aktives Schön-Sehen-wollen seien Mittel, um ästhetische Werte wie Schönheit, Klarheit, Wahrheit, aber auch Hässlichkeit und Lüge im Bewusstsein zu bilden. Im Kunst-, aber auch im Religions-, Ethik-, Philosophie-, Geschichts- und Biologie-Unterricht sollten solches Sehen und solche ästhetische Werte-Bildung eingeübt werden. Denn entscheidend ist der holistische Ansatz von M. Obraz, der sich nicht auf den Kunst-Unterricht beschränken kann. Ulrike Grafs Beitrag rundet den Band mit Überlegungen zur Glücks-Bildung und Erziehung zur Lebenszufriedenheit ab. Sie diskutiert Einsichten salutogenetischer Ansätze, die beforschen, inwieweit Bedürfnisorientierung, Aufmerksamkeitssteuerung, Sinnzuschreibung und Entfaltung von Möglichkeitssinn Lebenszufriedenheit und Glück fördern können. Sie macht Vorschläge, wie Glück als Bildungsthema in der Lehrer- und Lehrerinnen-Bildung und im Unterricht thematisiert und aufbereitet werden kann und soll. Dieses Buch erscheint als 1. Band der von der Forschungsstelle »Werte-Bildung« an der Universität Osnabrück herausgegebenen und verantworteten Reihe »Werte-Bildung – interdisziplinär«. Sie soll dazu anregen, die Theorie und Praxis fachspezifischer und fachübergreifender Werte-Bildung in allen relevanten Bildungsinstitutionen zu diskutieren und zu fördern. Wir danken dem Verlag für die Redaktion des Buches und der Universität Osnabrück für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Osnabrück, April 2013

Für die Herausgeber : Reinhold Mokrosch

Arnim Regenbogen

Zu Wertediskursen in Erziehung und Gesellschaft – Wer setzt Ziele? Wer bildet die Maßstäbe der Beurteilung?

Eine Erziehung, die eine intendierte Förderung von Werteinstellungen und von wertorientiertem Verhalten – zum Beispiel in der Familie, der Vorschule und in der Schule1 – leistet, kann nur in einem Wertklima gedeihen, in dem schon zuvor Vertrauen, Zuversicht und Konsens erlebbar wird. »Wertebildung« schließt den Fremdbildungs- und Selbstbildungsprozess sowohl in der Sozialisation (Übernahme von Werterfahrungen aus der sozialen Umgebung: Bildung »in Werten«) wie auch die unterstützende pädagogische Förderung bei der Ausbildung eigener Wertmaßstäbe (durch eine Bildung »von Werten«) ein. Hier von »Bildung« und nicht nur von »Erziehung« zu sprechen ist sinnvoll: »Bildung« umfasst nicht nur Lernprozesse in der frühen Kindheit und in den Ausbildungsphasen, sondern auch lebenslange Selbstbildungsprozesse. Wertebildung erfordert eine wertbesetzte Zielsetzung zur Selbstbildung. Dass überhaupt die Bildung in und von Werten zu einer kulturellen Aufgabe werden konnte, ist selbst erst Resultat längerer Diskurse. Über Glaubensannahmen sowie über Regeln für die gesellschaftliche Umgestaltung und für die Erziehung stritt man in vergangenen Zeiten im Rahmen eines Geltungsanspruchs für Weltbilder und für Ideologien. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Welt der »Werte« als Feld der Auseinandersetzung in politischen, interreligiösen und interkulturellen Dialogen entdeckt. Seitdem die Identifikation mit unterschiedlichen Weltbildern zur »Privatsache« erklärt wurde, geht es in politischen, religiösen und pädagogischen Diskussionen beim Streit zentral nicht mehr um den Wahrheitsgehalt einer Weltdeutung, sondern um Kriterien für die Bevorzugung bestimmter Wertmaßstäbe gegenüber anderen. Erst seit dieser Zeit wurden Diskurse auf der Basis der Koexistenz von politischen Systemen, der wechselseitigen Duldung unterschiedlicher religiöser Konfessionen und kultureller Handlungsmuster möglich. Auch in der Diskus1 Dazu zuletzt: Reinhold Mokrosch und Arnim Regenbogen (Hg.), Werte-Erziehung und Schule, Göttingen 2009 – mit fächerübergreifenden Beiträgen sowie mit zahlreichen Aufsätzen zu Problemen spezifischer Fächer und Fächergruppen.

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Arnim Regenbogen

sion über Erziehung und Bildung werden verstärkt Erziehungsziele und wertbesetzte Bildungsgüter zum Thema. Doch über den Gebrauch des Begriffs »Wert« gibt es immer noch keinen Konsens. Was wir unter »Wert« jeweils verstehen, hängt nicht nur von Versuchen zur semantischen Definition dieses Begriffs ab. »Werte« sind selbst kulturelle Resultate dieser vielfältigen Diskurse. Daher wird dieser Beitrag die Vielfalt ausloten, die der Begriffsumfang von »Wert« erschließen kann. (Nr. 1) Nur dann wird verständlich, wie es kommt, dass die Wertforschung in den Sozial- und Kulturwissenschaften ein so breites Spektrum an Themen bietet. Dazu sind zunächst pädagogische und gesellschaftliche Muster der Wertorientierung zu prüfen, über die im 20. Jahrhundert öffentlich diskutiert und gestritten wurde. (Nr. 2) Standards dieses Wertediskurses beeinflussten vor allem in der zweiten Nachkriegszeit die Auseinandersetzung um Erziehungsziele: Welche von ihnen konnten ihre Anerkennung als Werte bewahren, welche nicht? (Nr. 3) In den Werte-Diskursen wurden jedoch nicht nur Absichten verkündet. Sie führten zu differenzierten Konzepten zur Förderung der Entwicklung von Wertbewusstsein in der Erziehung. (Nr. 4) So stellen sich die Fragen: (i) Welche Werte können, welche müssen als Grundlagen für eine zu fördernde Werte-Bildung vorausgesetzt werden? (ii) Auf welche Werte lassen sich Lebensziele aufbauen? (iii) Welche weiteren Maßstäbe orientieren darüber hinaus im alltäglichen Handeln und Beurteilen?

1.

Zum Spektrum der Wertbegriffe in diesem Band

Zunächst prüfen wir, wie weit der Begriff »Wert(e)« als integrierende Klammer für unterschiedliche Erziehungs- und Bildungsdiskurse verwendet werden kann. »Werte« können (i) erfahrene Grundmuster (Ideale) für ein sinnvolles, ein zufrieden stellendes Leben sein (z. B. Glück, Empathie, Vertrauen, Zufriedenheit, Harmonie, Ausgeglichenheit, Frieden). Sie können dann auch (ii) grundsätzliche Ziele für die in Zukunft zu erstrebenden Güter definieren (z. B. Erfolg, Erfüllung, Liebe, Sieg, Reife). Werte dienen darüber hinaus auch (iii) als Maßstäbe zur Beurteilung menschlichen Verhaltens (z. B. Gerechtigkeit, Gleichheit, Toleranz). In den beiden letzten Jahrhunderten haben intensive Diskurse über die Bedingungen für einen Konsens über »Werte« stattgefunden. Sie ergaben zumindest einen Rahmen für Verständigung darüber, was gemeint ist, wenn man von

Zu Wertediskursen in Erziehung und Gesellschaft

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»Werten« als (ii) von Zielen des künftig zu gestaltenden Lebens und als (iii) von Maßstäben des menschlichen Handelns spricht.2 Doch Werte lassen sich schon als (i) elementare Muster des Zusammenlebens erleben, ohne eigens durch Worte betont zu werden. Auch Lebensziele – im Sinne von (ii) – können schon dann erlebnis- oder handlungsbestimmend sein, wenn sie nicht direkt artikuliert werden (z. B. im Streben, sich und andere »glücklich« zu machen oder »zufrieden« zu stellen). Im Unterschied dazu müssen Werte, wenn sie – im Sinne von (iii) – explizit als Beurteilungsmaßstäbe dienen, ausdrücklich verbalisierbar sein. Wo wir Wertausdrücke in der Sprache verwenden, tauchen sie sowohl in substantivischer Form (vgl. genannte Beispiele) wie auch in adjektivischer oder adverbialer Verwendungsweise (glücklich, gerecht, tolerant) auf3. Einige Konzepte stellen auch die Förderung von solchen Werthaltungen vor, die in sozialen Zusammenhängen (Erziehung, Familienleben, kirchlich organisierten Freizeiten und freiwilligen Diensten) bereits– wie etwa durch Glück oder Mitgefühl, Barmherzigkeit – selbst als bedeutsam erlebt werden können.4 Solche Werthaltungen, so wird erwartet, lassen sich in diesen Kontexten weitaus stärker fördern als nur durch die kognitive Schulung in der Beurteilung von sozialen Situationen. Vorschläge zur Ausprägung von persongebundenen Werthaltungen fördern gleichzeitig implizit die Verfestigung von Werteinstellungen und damit auch die explizite Bereitschaft zum eigenen Handeln. Doch der Wertediskurs in Gesellschaft und Erziehung wird überwiegend über verbalisierbare Beurteilungsmaßstäbe geführt. In diesem Band werden Erziehungskonzepte vorgestellt, die sich mit der Ausprägung von explizit benennbaren Maßstäben beschäftigen.5 Der Erfolg einer Wertebildung zeigt sich in diesen Fällen im Erwerb der Fähigkeit, selbstständig Kriterien der Beurteilung des menschlichen Handelns zu benennen und selbst anwenden zu können. Das ist möglich durch explizite Schulung etwa in Fächern wie Sozialkunde, Sachunterricht, Politik, Ethik und Religion. Die hier vorgestellten Konzepte eines Religionsunterrichts6 stellen in erster

2 Vgl. Hermann T. Krobath, Werte. Ein Streifzug durch Philosophie und Wissenschaft, Würzburg 2009; Arnim Regenbogen, Art. »Wert/Werte« und »Werturteil/Werturteilsstreit«. in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, Hamburg 2010, Bd. 3, 2973 – 2982. 3 Josef Fellsches und Arnim Regenbogen, Lexikon der Werte. in: Mokrosch und Regenbogen, Werte-Erziehung, S. 337 – 362. 4 Vgl. die Beiträge in diesem Band von Ulrike Graf zur Werthaftigkeit des Glücks, von Elisabeth Naurath zu Aspekten der Wertschätzung, von Caroline Teschmer zu biblischen Grundlagen für eine Werte-Bildung sowie von Reinhold Mokrosch zur religiösen Wertebildung. 5 Vgl. die Beiträge in diesem Band von Christoph Sturm zu Erziehungsdebatten der Bundesrepublik sowie von Eva Gläser und Sarah Gaubitz zur Werte-Bildung durch Sachunterricht. 6 Hier in den Beiträgen von Ulrich Kuhnke zu Wertmaßstäben im Neuen Testament und Erna

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Arnim Regenbogen

Linie die Wertebildung und nicht etwa die Vermittlung von Glaubensannahmen oder gar Dogmen in das Zentrum ihres Wirkens. Werden hier Beispiele für Handlungsmuster vorgestellt, so werden sie in aller Regel wertbesetzt erlebt, so dass sie auch ohne einen übernatürlichen Erzählkontext als Vorbilder wirken können. Soll der Religionsunterricht auf diese Weise der Wertebildung dienen, dann könnte dies auch dann gelingen, wenn die Lernenden selbst wenig religiös gebunden sind und vermutlich später auch nur selten oder überhaupt nicht an religiösen Praxen teilnehmen werden, aber dennoch etwas von den Wertmustern religiöser Überlieferungen erfahren haben.

2.

Wie entstehen Werte-Diskurse?

Über wertbesetzte Erziehungsziele wurde seit der klassischen Antike vor allem im Rahmen philosophischer Ethiken gestritten. Bis in das 19. Jahrhundert ging es dabei um »Tugenden«, d. h. nicht nur um theoretische Beurteilungsmaßstäbe, sondern auch um einfache Muster zur Einübung von Verhaltensdispositionen in der Erziehung, in der Berufsausbildung, nicht zuletzt auch in sportlichen Disziplinen und im militärischen Drill. In der pädagogischen Zieldiskussion des 20. Jahrhunderts wurde die Forderung nach festgelegten und systematisch einzuübenden »Tugenden« (Haltungen, beherrschbare Fähigkeiten) weitgehend abgelöst durch einen offenen »Werte«-Diskurs. Nun ging es nicht mehr nur um eingeübte Fertigkeiten, sondern allgemein um Maßstäbe für humane Einstellungen. Dieser Begriffswechsel hatte vielfältige Gründe, die jetzt nicht noch einmal aufgezählt werden müssen.7 Inhaltlich muss dieser Wandel im ethischen Begriffsverständnis nicht unbedingt als Verlust gewertet werden: Denn alle »Tugenden« – im engeren Sinne von moralisch vertretbaren Maßstäben – können auch als »Werte« formuliert werden. Die Kardinaltugend »Gerechtigkeit« enthält das Wertvolle im »Recht« auch dann, wenn man nur »rechtens« handelt, ohne sich schon immer an »Rechtsprechung« und »Recht«-Fertigung orientieren zu müssen. Darüber hinaus können auch ethische, ästhetische und politische Wertmaßstäbe der sozialen Umgebung für die eigene Lebensorientierung von Heranwachsenden bedeutsam werden, auch wenn sich die zugrunde liegenden Beurteilungskriterien nicht oder noch gar nicht als eigene Identifikationsmuster oder Charaktermerkmale ausgebildet haben. So wird erwartet, dass Jugendliche z. B. »Toleranz« als Wertmaßstab ihrer sozialen Umgebung auch dann schon respektieren können, Zonne zur inklusiven Religionsdidaktik, ferner die Aufsätze von Reinhold Mokrosch, Caroline Teschmer und Elisabeth Naurath (desgl. in diesem Band, vgl. oben Fn 4). 7 Vgl. dazu Christoph Sturm (in diesem Band; vgl. oben Fußnote 5).

Zu Wertediskursen in Erziehung und Gesellschaft

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wenn sie noch weit entfernt davon sind, sich diesen Wert als eigenes Orientierungsmuster anzueignen. Nicht alle »Werte« müssen als solche in die individuelle Selbstbildung schon aufgenommen sein, bevor sie als Urteilskriterien in Alltagssituation verwendet werden. Eine Wertidentifikation ist zwar eine Voraussetzung für einen Prozess der »Bildung von Werten« zur eigenen Lebensbewältigung. Aber auch die nur flüchtig übernommenen Wertmaßstäbe können helfen, die Beurteilung über das Verhalten von Anderen zu erleichtern. Ich muss nicht selbst fleißig sein oder sein können, um »Fleiß« bei Ehrgeizigen auch positiv bewerten zu können. Die Vertrautheit mit Wertmaßstäben hilft uns, Andere zu verstehen, auch wenn wir diese uns zunächst fremden Werthaltungen selbst nicht teilen. Werte können also auch dann eine orientierende Wirkung in der Gesellschaft haben, wenn sie nicht durchgängig in die spezifische Moral eines jeden Akteurs integriert sind. Der Diskurs über »Werte« in einer Kultur wurde Ende des 19. Jahrhunderts zuerst in der neukantianischen Kulturtheorie (Paul Natorp, Max Weber) und in der Lebensphilosophie ihrer Zeit (am radikalsten durch Friedrich Nietzsche) eröffnet. Die deutsche Kultursoziologie entwickelte seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts Methoden des »Verstehens« von Sinnbezügen eines Handelns durch kulturtheoretische Rekonstruktion von gesellschaftlichen »Werten«, die selbst als Richtziele dieses Handelns begriffen werden. Danach werden Handlungsmuster in einer uns fremden Kultur auch dann verstehbar, wenn wir die ihr eigenen Wertmaßstäbe bereits als wertbezogen würdigen können, ohne sie immer schon als eigene anzuerkennen. Insofern gibt es nach Max Weber die Möglichkeit des Verstehens von »wertrationalen« Handlungen, ohne dass der Forscher selbst die untersuchten Werte teilen oder auch nur selbst bewerten muss. Weber erklärt soziales Handeln von seiner Wertbezogenheit her auch dann, wenn es nicht durchgängig als »zweckrational« begriffen werden kann. »Zweckrational« handle ich bei einer Geldanlage, wenn ich dabei einen möglichst hohen Zinsertrag erstrebe. Zweck dieses Wirtschaftens ist der Gewinn, unabhängig davon, wem er zugute kommt. »Wertrational« handele ich bei einer Geldspende, die man als in sich wertvolle Gabe für sinnvoll hält, weil sie für einen »guten« Zweck bestimmt ist. Wertrationalität wird sichtbar, wenn man unterstellt, – so Weber – es gebe einen »bewussten Glauben an den – ethischen, ästhetischen, religiösen oder wie immer sonst zu deutenden – unbedingten Eigenwert eines bestimmten sich Verhaltens rein als solchen unabhängig vom Erfolg.«8 Webers soziologische Analysen des Verhältnisses von Gesellschaftsentwicklung und kulturellen Wertungsmustern wurden auch in der amerikanischen Soziologie des 20. Jahrhunderts positiv aufgenommen. Talcott Parsons hatte die 8 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 41956, 20.

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Weberschen Analysen über kulturelle Handlungsmuster und Glaubenshaltungen9 als Beleg dafür genommen, dass man »Werte« als integrierende Orientierungsmuster einer gesamten Kultur interpretieren kann. Als »Werte« werden in den soziologischen Analysen von Parsons nicht als nur Ideale oder Tugenden des persönlichen Lebens, sondern darüber hinaus auch als wenig bewusste und doch praktizierte Entscheidungskriterien im Umgang mit sozialen Situationen verstanden. Er führt folgende sehr allgemeine Wertdefinition ein10 : Er nennt »Wert« ein »Element eines akzeptierten Symbolsystems, das als Kriterium oder als Selektionsstandard bei den in einer Situation innerlich als offen erscheinenden Alternativen der Orientierung« dient. Im Unterschied zu einer (rein subjektiv erlebten) Motivationsorientierung entwickelt Parsons in seiner Theorie der Gesellschaft ein eigenständiges Konzept von »Wertorientierung« (value-orientation), durch die gesellschaftliche Standards auch als Muster für individuelle Entscheidungen dienen können. Parsons11 hat mit seiner Unterscheidung zwischen rein persönlichen motivationalen Orientierungen (welche die subjektive Seite der Werteinstellung betreffen) und sozio-kulturellen Orientierungen (die auch die dominanten gesellschaftlichen Handlungsmuster beeinflussen) auf folgendes Problem verwiesen: Es bedarf eines Theoriekonzepts, welches sowohl die subjektive Seite der Entscheidung zwischen Handlungsalternativen als auch die objektive Seite der vorgegebenen Handlungserwartungen miteinander verbindet. Gesellschaftliche Wertorientierungen definiert Parsons durch Handlungserwartungen, die sich entweder in den für eine Gesellschaftsordnung spezifischen Standards (particularistic patterns) ausgedrückt oder auch durch generalisierte Regeln oder universalistische Normen für einen angenommenen Idealzustand (universalistic pattern) definiert werden.12 In der Soziologie des 20. Jahrhunderts wurden lange Zeit gesellschaftliche Erwartungen in der Regel als formalisierte oder auch als informelle Normen untersucht. »Werte«-Diskurse gehen und gingen weit darüber hinaus: Man streitet sich auf der Wertebene direkt um erwünschte Beurteilungsmuster, nach denen sich Menschen richten oder richten sollen. Entscheidet man nach Normen, so orientiert man sich an einem relativ einfachen Orientierungsschema: eine Handlungsweise ist entweder geboten, erlaubt oder verboten. »Werte« orientieren dagegen nach einem komplexen Entscheidungsschema des Vergleichs: sie helfen, zwischen »besseren« und »schlechteren« Handlungsalternativen wählen zu können. »Werte« können sogar dann mit Normen kollidieren, wenn geprüft werden muss, ob das, was geboten oder verboten ist, sich auch als 9 eingelöst in: Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Nachdr. Erftstadt 2005. 10 Talcott Parsons, The Social System, London 41964, 12, übers. v. Verf. 11 Ebd., 101 – 112. 12 Ebd., 102, Tab. 2a.

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das Bessere beurteilen lässt. Menschen mit entwickeltem Wertbewusstsein sind dann in der Lage, auch gesellschaftliche Normen kritisch in Frage zu stellen und sogar Strategien zivilen Ungehorsams zu erwägen. Die »Werte«-Diskurse des 20. Jahrhundert – vor allem in den Bereichen politischen Handelns und in den Erziehungspraxen – kamen auch nicht ohne Streit über die prioritäre Orientierung an bestimmten Werten gegenüber anderen weniger wertvollen Maßstäben des Urteilens und Handelns aus (»Wertehierarchien«). Es ging nicht nur um die Bedeutung einzelner zentraler Werte, sondern auch um den Streit um allgemeine gesellschaftliche und kulturelle Handlungsmuster (z. B. Freiheit, Selbstständigkeit, Autonomie, Optimismus, Offenheit). Solche Muster werden nicht nur im Rahmen eingrenzender gesellschaftlicher Normen- und Regelkataloge diskutiert. So wird von kulturellen Minderheiten verlangt, dass sie in ihren eigenen Reihen eine freie Selbstbestimmung der Individuen nicht nur normativ zulassen, sondern auch selbst wertschätzen lernen und daher den Vorzug gegenüber weniger stark besetzten Haltungen und Ansprüchen genießen. Seit einigen Jahrzehnten untersucht man Gesellschaften und Subkulturen nicht nur nach intern geltenden Ge- und Verboten, sondern auch nach den intern dominanten Werthaltungen. Geht man von »Werten« und »Wertorientierungen« als gesellschaftlich wirksamen Steuerungsgrößen aus, so wird unterstellt, dass Individuen sie in der Regel selbst übernehmen oder wenigstens als positive Beurteilungsmaßstäbe für das Handeln Anderer anerkennen. Tatsächlich werden bei der Sozialisation von Jugendlichen in großer Zahl Wertmaßstäbe internalisiert, die zu beachten von der sozialen Umgebung indirekt erwartet wird. So kann eine »Moralerziehung« durch Lehrer und Geistliche im Schulunterricht und in der kirchlichen Unterweisung nur dann zur Wertbildung bei Jugendlichen beitragen, wenn die Lehrenden direkt an soziale Erfahrungen anknüpfen, die Jugendliche in der Familie, in der Peer-Group und im Gemeindeleben schon gemacht haben.

3.

Wertebildung und wertbesetzte Erziehungsziele

Will man eine individuelle Wertebildung über eine Orientierung an sozial vertretbaren Handlungserwartungen fördern, so bedarf es nicht nur der Aufforderung zur Entwicklung eigenständiger Werte, sondern auch der Vorgabe inhaltlich bestimmter wertbesetzter Erziehungsziele. Doch in welchem Maße prägen wertbesetzte Zielsetzungen von Eltern und Erziehern die Ausbildung von Werthaltungen bei ihren Schützlingen? Die Frage, wie sich Erziehungsziele im Rahmen einer Wertebildung realisieren lassen, wurde nicht nur in Richtlinienkatalogen, sondern auch in der empirischen Wertforschung zum Problem.

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Seit den 1950er Jahren wurden in zahlreichen Bevölkerungsumfragen über Jahrzehnte hinweg Einstellungen zu Erziehungsstandards gemessen. Es liegen Daten des Bielefelder EMNID-Instituts zwischen 1951 und 1995 über Antworten auf jeweils die gleiche Frage vor : »Auf welche Eigenschaften sollte die Erziehung der Kinder vor allem hinzielen?«13 Es handelte sich nicht um Expertensamples, sondern um Längsschnittbefragungen am Bevölkerungsdurchschnitt. Die auffälligsten Veränderungen wurden zwischen 1954 und 1995 sichtbar : In den Fünfzigern und Sechzigern rangierte beim Bevölkerungsdurchschnitt »Selbstständigkeit und freier Wille« zunächst relativ niedrig (1954: knapp 30 %). Diese Wertstandards stiegen jedoch bis in die Neunziger kontinuierlich an (bis 1995: auf 65 %), während »Gehorsam und Unterordnung« im gleichen Zeitraum von knapp 30 % auf unter 10 % sank.14 Selbstständig entscheiden und nach selbst beurteilten freiem Ermessen handeln – solche Wertmaßstäbe müssen in einer politisch »freien« Gesellschaftsordnung nicht mehr gegen sozial vermittelte autoritäre Erwartungen von Gehorsam und Unterordnung individuell durchgesetzt werden. Die individuelle Ausprägung von selbstständig entwickelten Wertmaßstäben wird dadurch direkt begünstigt. Die große Mehrzahl der Erziehenden wünscht sich sogar von ihren Schützlingen die eigenständige Entwicklung von eigens bejahten Werthaltungen. Der »Wertewandel« in fortgeschrittenen Industrieländern, über den in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so vielfältig publiziert wurde, betraf aber offenbar nicht die weiterhin starken Präferenzen für Tugenden der Anpassung und des persönlichen Ehrgeizes, wie sie in den Standards »Ordnungsliebe und Fleiß« empirisch hervorstachen. Von den fünfziger bis zu den neunziger Jahren legten durchgängig zwischen 40 und 50 Prozent der Bevölkerung besonderen Wert auf »Ordnungsliebe und Fleiß«. Sollten diese Werte auch in einer persönlichen Haltung ausgeprägt werden, so könnten sie auf Dauer nicht nur durch Disziplinierung in Sozialisationsinstanzen vermittelt werden. Man wünscht sich in einer pluralistischen Gesellschaft, dass Wertebildung eher auf einer Ebene von Selbstständigkeit möglich wird, und zwar über eine freiwillige Selbstdisziplinierung. Die Erziehungsziele »Selbstständigkeit und freier Wille« sind im Laufe 13 Vgl. die Auswertung dieser Resultate unter »erwartete« Werte in: Arnim Regenbogen, Sozialisation in den 90er Jahren. Lebensziele, Wertmaßstäbe und politische Ideale bei Jugendlichen, Opladen 1998, 196 – 206. 14 Übersicht auch in: Karl-Heinz Hillmann, Wertewandel. Ursachen, Tendenzen, Folgen, Würzburg 2003, 231. Diese Resultate belegen im Übrigen einen »Wertewandel«, der im Zeitraum zwischen den Fünfziger und Siebziger Jahren im westlichen Deutschland gemessen worden ist. Eine solche Deutung des »Wertewandels« hat zuerst Peter Kmieciak in seiner umfassenden Literaturstudie u. d. T. »Wertstrukturen und Werte – Wertewandel in der BRD« (Göttingen 1976) vorgestellt (vgl. ebd., 316).

Zu Wertediskursen in Erziehung und Gesellschaft

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der Jahre zunehmend häufiger gewählt worden als die bereits abgewerteten Zielsetzungen »Gehorsam und Unterordnung«. Nur wenn Wertmaßstäbe, die freiwillig und selbstbestimmt errungen werden, bei der Entwicklung einer eigenen Persönlichkeitsstärke zum Tragen kommen, können auch die für die Lebensplanung weitere wichtige »Werte« im Anschluss an die Entwicklungsphasen der primären und der sekundären Sozialisation durch kontinuierliche Selbstbildung im Prozess des Erwachsenenwerdens angeeignet werden. Wertebildung in der Erziehung, welche die »Selbstständigkeit« fördert und eine »Freiwilligkeit« begünstigt, dient einer Bereitschaft zur fortgeschrittenen Selbstbildung in und von Werten. Inhaltlich kann Werte-Bildung nur dann auch als ständiger eigener Bildungswert in einer demokratischen Erziehungstradition prägend werden, wenn im Prozess der Sozialisation zunehmend die eigene Wertschätzung von Autonomie gefördert wird.

4.

Werterziehungskonzepte

Weitgehend unabhängig von der soziologischen Diskussion über »Wertewandel« eröffnete sich ein weiterer Diskurs zur Bildsamkeit des moralischen Bewusstseins von Heranwachsenden. Er ging aus von der sogen. »kognitiven Wende« in den erziehungswissenschaftlichen Lerntheorien seit den 1970er Jahren – beeinflusst vor allem durch die »genetische Erkenntnistheorie« von Jean Piaget. Nach diesem lerntheoretischen Konzept eignet sich das Subjekt nicht nur Inhalte an (»Assimilation«), sondern verändert seine eigene Haltung zur Welt selbsttätig nach den Anforderungen eines zunehmend verallgemeinerbaren Wissens (»Akkomodation«). Maßstäbe des Handelns werden also zunächst als Inhalte gelernt und sie führen erst in späteren Stadien der kognitiven Entwicklung zu innerlich bejahten Einstellungen. Stärkste Impulse für eine gezielte Förderung der schrittweisen Entwicklung des moralischen Bewusstseins von Kindern und Jugendlichen gingen in der in diesem Zusammenhang von dem moralpädagogischen Ansatz bei Lawrence Kohlberg aus. Dieser war in den 1970er Jahren ursprünglich darum bemüht, das Verhältnis von formalen Strukturen des moralischen Argumentierens zu inhaltlich bestimmten Zielen zu erforschen. Moralpädagogische Interventionen (nach einem Drei-Ebenen-Modell der Entwicklung vom »präkonventionellen« zum »postkonventionellen« Niveau) waren zunächst ausschließlich nach kognitiv-strukturellen Kriterien überprüft worden – z. B. danach, wie weit erlernte Grundsätze des moralischen Handelns verallgemeinerbar sind. Der entscheidende Schritt zwischen der bloßen Übernahme von Handlungserwartungen der Umgebung zu der Entwicklung einer autonomen Ebene der Moralentwicklung

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vollzieht sich bei Kohlberg im Übergang von einem »konventionellen« Niveau des Urteils zu »postkonventionellen« moralischen Urteilstypen.15 Diese Theorie der Moralentwicklung war ursprünglich als Beitrag zur Überwindung konventioneller Standards in der Erziehung entwickelt worden. Werden eigene Wertmaßstäbe – alternativ zu übernommenen sozialen Normen – bei der Beurteilung von sozialen Situationen angewendet, so müssen sie als Prinzipien mit Überzeugungscharakter gegenüber den bloßen Erwartungen einer soziale Umgebung – mitunter auch gegen sie – durchgesetzt werden. Systematisch erforscht wurde dieses Entwicklungsstadium in der KohlbergSchule insbesondere für Heranwachsende, die moralisch und kognitiv ein so genanntes »postkonventionelles« Beurteilungsniveau erreicht haben. Für die Moralerziehung durch Unterricht wurden dazu detaillierte Vorschläge erarbeitet. So sollte die Phantasie zur Erprobung eigenständiger wertender Urteile durch Aufgaben zur Lösung moralischer Konflikte (»Dilemmata«) gefördert werden: Darf man z. B. auch eine gesellschaftliche Norm übergehen, überschreiten, negieren, wenn sie mit einer festen Wertüberzeugung in Konflikt gerät ? (Beispiel: Kriegsdienstverweigerung) Kohlberg unterschied damit zwischen einem bloß normativ übernommenen (»konventionellen«) Urteilsmuster und einer Identifikation mit eigenständig bejahten Werten jenseits aller Konventionen. Hier ging man davon aus: Entwicklung soll nicht nur am Maßstab zunehmender Generalisierbarkeit von Normen allgemein (»konventionell«), sondern vor allem am Grad der Annäherung an moralisch-politische Ideale für gerechte gesellschaftliche Zustände (»postkonventionell«) gemessen werden. Damit wurde in dieser Theorieschule angenommen, dass die Bildung eigenständiger Wertmuster erst in der Phase des Erwachsenen-Werdens möglich ist. Welche Wertmaßstäbe die Entwicklung eines postkonventionellen Urteilsniveaus repräsentieren sollten, wurde zunächst nicht festgelegt. Später übernahm Kohlberg die These von dem gesellschaftlichen Ideal der »Gerechtigkeit« als Leitwert für die moralischen Entwicklung. In der darauf folgenden Werterziehungsdebatte wurde jedoch eingewendet, dass nicht nur der Wert der Gerechtigkeit als das einzige, als das dominante Ziel moralischer Entwicklung infrage kommen kann. Stärkstes Aufsehen erregte in diesem Zusammenhang der Versuch von Carol Gilligan, nach dem Modell Kohlbergs alternative Moralentwicklungen mit den Zielwerten »Verantwortung«

15 Vgl. die umfassende Dokumentation und Diskussion in: Fritz Oser und Wolfgang Althof, Moralische Selbstbestimmung. Modelle der Entwicklung und Erziehung im Wertebereich, Stuttgart 1992. Zu Werterziehungskonzepten insges.: Reinhold Mokrosch/Elk Franke (Hg.), Wertethik und Werterziehung, Göttingen 2004, hier: R. Mokrosch, Wer blickt da noch durch? Werterziehungskonzepte auf dem Prüfstand, ebd. 233 – 245.

Zu Wertediskursen in Erziehung und Gesellschaft

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bzw. »Fürsorge für Andere« beschreibbar zu machen.16 In der anschließenden Kontroverse stritt man sich sogar darüber, ob man anthropologisch eine »typisch männliche« Gerechtigkeitsmoral von einer »typisch weiblichen« Fürsorgemoral unterscheiden kann. Die Diskussion über die inhaltliche Bestimmung der Zentralwerte der moralischen Bildung war damit eröffnet. Doch die Debatte um die ethischen Zielwerte der moralischen Entwicklung konnte sich nicht nur auf die beiden zentralen Maßstäbe für eine humanistische Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen – eben nur auf die Gerechtigkeit und auf die Fürsorge – beschränken. Ein weiterer Diskurs über Werte wurde durch die Publizität neuerer psychotherapeutischer Verfahren ausgelöst. Am einflussreichsten war im 20. Jahrhundert in dieser Hinsicht das von Carl Rogers begründete Konzept einer »klientenzentrierten« Gesprächstherapie. Diese stellt kommunikative Möglichkeiten bereit, nach denen zwischen Coach und Klienten Gespräche zu einer eigenständigen Wertfindung durch die Ratsuchenden gestaltet werden. Hier geht es um Wertebildung, welche geeignet ist, die Selbstakzeptanz dadurch zu fördern, dass man in sich die selbst bejahten Ziele und Wertmaßstäbe herausfindet und dadurch schätzen lernt. Diese Methoden wurden auch auf den Umgang mit Kindern und Jugendlichen in Unterrichtsgesprächen angewendet. In der von Raths, Harmin und Simon begründeten Schule der »Wertklärung« (value clarification) ging man einheitlich davon aus, dass – anders als in der Kohlberg-Schule – nicht erst im Alter der Reifung, sondern schon in früheren Stadien des Schulkindalters eine Identifikation mit Wertmaßstäben möglich ist.17 In der Schule der »Wertklärung« konzentrierte man sich – wie es auch in einer Gesprächstherapie geschieht – auf die Ausprägung rein persönlicher Werthaltungen, mitunter auch ohne direkten Bezug auf die Wertmaßstäbe der sozialen Umgebung. Zentrales Ziel von WertDiskursen im Unterricht sollte es sein, bei Lernenden eine Entwicklung zu fördern, welche sie von einem durch die soziale Umgebung vermittelten Druck befreit. Dadurch soll die weitgehend unabhängige freie Wahl zwischen möglichen Handlungsalternativen möglich werden. Nach den Regeln dieser Wertbildungsschule soll die Ausprägung eigenständiger Werthaltungen bei Schülerinnen und Schülern durch Unterrichtsgespräche schrittweise gefördert werden. Dabei stehen stets Handlungsalternativen in einer Entscheidungssituation zur Diskussion. Sodann sollen Maßstäbe für die Wahl der jeweils besseren Möglichkeiten bewusst gemacht werden – verbunden mit der Aufforderung, die Wahl 16 Carol Gilligan, Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau, München 1984 (dt. Übers. von »In a Different Voice«, Cambridge/Mass. 1982). 17 Vgl. Louis Raths, Merrill Harmin, Sidney B. Simon, Werte und Ziele. Methoden zur Sinnfindung im Unterricht, München 1976 – Hinweise auf Bezüge zur Gesprächstherapie: vgl. ebd., einl. Bemerkungen zur dt. Ausg. von Günter R. Schmidt.

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und den eigenen Wertmaßstab öffentlich zu vertreten. Erwünscht waren daher Bekenntnisse, man wolle an der eigenen Wahl des Wertmaßstabs festhalten und man sei mit dieser Grundsatzentscheidung glücklich und orientiere sich sogar auch im künftigen Handeln an den selbst gewählten Werten.18 Es ist in der Diskussion dieses Konzepts häufig gewürdigt worden, dass damit die selbstbewusste Freiheit des eigenen Bewertens gefördert werden kann. Kritisch dagegen wurde auch angemerkt, dass damit auch rein egozentrische Orientierungen unterstützt werden könnten.19 Doch hier halten wir uns nicht mit dem noch Unzulänglichen in einzelnen Konzepten auf. Programme der Wertebildung gehen davon aus – und das ist ein gemeinsames Merkmal der vorgestellten Modelle –, dass die selbstständige Klärung der eigenen Werthaltungen nur über Kommunikation gefestigt werden kann. Gesellschaftliche Diskurse über Werte können auch auf diese Weise selbst bildend wirken.

5.

Ursprüngliche Werthaltungen als Basis für erweiterte Wertebildung in Diskursen

Doch nicht alle persönlichen Werthaltungen sind diskursfähig. Es wurde gezeigt, dass Werte bei der Entwicklung der Persönlichkeit auch dann schon eine Rolle spielen, wenn sie, lange bevor man sie mit Namen nennt, schon als stark emotional besetzt erlebt werden. Dazu zählen Werte wie Glück, Vertrauen, Zuversicht, Liebe, für die es so umfassende Begriffsspektren gibt, dass sie jeweils mit einem einzigen Terminus kaum zu kennzeichnen sind.20 Können wir bei »Glück« allgemein an »Wohlbefinden« denken oder müssen es schon mit »Zufriedenheit« mit Erreichtem identifizieren? Wir können den Wert des »Vertrauens« in Haltungen des Zutrauens zu Anderen entdecken oder auch allgemein mit Hoffnung, Optimismus, Zuversicht verbinden. Die konkrete Diskussion dessen, wie weit die Maßstäbe des liebevollen Verhaltens im Bedeutungsspektrum des Werts der »Liebe« einlösbar sind, ist fast unerschöpflich, nicht nur in Romanen, auf der Bühne und im Film. All diese Werthaltungen dienen viel seltener als etwa 18 Ebd., S. 46, Pkte. 1 – 7 und S. 75 – 84, insbes. Pkte. 1 – 30; detaillierte Vorschläge für eröffnende Fragestellungen zur Wertklärung u. a. vgl. ebd. S. 82 – 84, Tab 1. 19 Übersicht und Diskussion auch kritischer Einwände zu Raths u. a. bei Oser und Althof (vgl. oben Fn 15), Mokrosch, in: Mokrosch und Franke (desgl. Fn 15), 233 – 245 sowie Reinhold Mokrosch, Werte, Bildung, Erfahrung. Wie entstehen Werte im Individuum? in: Hermann T. Krobath (Hg.), Werte in der Begegnung. Wertgrundlagen und Wertperspektiven ausgewählter Lebensbereiche, Würzburg 2011, 27 – 47, insbes. Kap. 7. 20 Josef Fellsches und Arnim Regenbogen, Lexikon der Werte. in: Mokrosch und Regenbogen, Werte-Erziehung (vgl. oben Fn 1) S. 337 – 362.

Zu Wertediskursen in Erziehung und Gesellschaft

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die Sozialwerte Gerechtigkeit, Gleichheit, Verantwortung, Toleranz der Rechtfertigung von konkreten Entscheidungen. Für die Förderung und Unterstützung von stark gefühlsbesetzten Einstellungen zur Gestaltung des eigenen Lebens – etwa zur Schönheit, zu einem glücklichen Leben, zum Bedürfnis, sich für empfangenes Leben, für erfahrene Zuwendung und Gnade dankbar zu erwiesen – , gibt es umfassende Bildungs- und Erziehungskonzepte, deren Grundlagen auch in die Seelsorge und in die Lebensberatung eingegangen sind. Sie werden in diesem Band – neben den diskursiv einlösbaren Werten – in weiteren Beiträgen diskutiert.21 Wertediskurse beeinflussten im 20. Jahrhundert den öffentlichen Meinungsstreit vor allem bei der Kodifizierung von Menschen- und Bürgerrechten und bei der Benennung von Erziehungszielen in sogen. Rahmenrichtlinien. Man denke dabei an Wertmaßstäbe aus der Programmsprache politischer Diskurse. Gerechtigkeit, Fürsorge, Verantwortung, Toleranz, Freiheit, Selbstständigkeit, Ehrlichkeit und andere – das sind solche verbalisierbaren gesellschaftlichen Grundwerte.22 In beiden Streitkulturen, in der Politik wie in der Erziehung blieb die proklamierte Festlegung von Wertmaßstäben so lange unverbindlich, wie deren Ansprüche nicht in konkreten Rechtssetzungen und in praktischen Konzepten für einen Unterricht eingelöst worden sind. Doch seit einigen Jahrzehnten gibt es für die soziomoralische Erziehung in der Schule verbreitete und zum größeren Teil bewährte Handlungsmodelle, für die einige Grundlagen hier vorgestellt wurden (Nr. 4). Voraus gesetzt, Erziehung findet bereits in einem Wertklima der Akzeptanz und Toleranz für unterschiedliche Lebensentwürfe statt, dann können Schülerinnen und Schüler in wertbildenden Unterrichtsgesprächen auch an laufenden Werte-Diskursen in der Gesellschaft Anteil nehmen. Das ist wichtig insbesondere für die politische Bildung, also für die Vorbereitung einer demokratischen Meinungsbildung durch urteilsfähige freie Staatsbürger, aber auch für die Lebensorientierung außerhalb gesellschaftlicher Konfliktfelder.

21 Vgl. dazu die Beiträge in diesem Band von Ulrike Graf zum Thema Glück, von Elisabeth Naurath zur Wertschätzung, von Caroline Teschmer zu biblischen Grundlagen einer WerteBildung sowie von Melanie Obraz zum Verhältnis von ethischen und ästhetischen Werten. 22 Zur Diskussion der »Grundwerte« als »Basis für eine Werte-Bildung durch Erziehung« vgl. Mokrosch und Regenbogen, Werte-Erziehung (vgl. oben Fn 1), Kap. II.1. bis II.10.

Elisabeth Naurath

Wertschätzung als pädagogische Grundhaltung zur Werte-Bildung

1.

›Sich wertgeschätzt fühlen und wertschätzen‹ als Schlüssel zur Werte-Bildung »Wenn substantivisch von Werten die Rede ist, hört sich das an, als seien Werte etwas Dingliches, als hafte der Wert den Dingen und Gedanken an.«1

Betont man demgegenüber die Beziehungsdimension von Werten, markiert dies meines Erachtens einen markanten und weitreichenden Perspektivenwechsel: a) wenn wir von ›Werten‹ sprechen, sollten wir dies weniger im Sinne von Substantiven als von Verben tun; b) wenn wir von Wert im Sinne eines dynamischen Verbs sprechen, sollten wir den Prozesscharakter mitbedenken: wir sind immer wieder neu aufgefordert, entsprechend der jeweiligen Lebenssituation sozusagen die Werthaftigkeit des Moments neu – selbstverständlich auch auf der Basis von gewachsenen Werthaltungen – zu bestimmen; c) hierbei spielt – bewusst oder unbewusst – die durch den Lebenskontext bzw. –situation mitbestimmte Beziehungsdimension zu Dingen, Geschehnissen oder Personen eine entscheidende Rolle, d) wobei das jeweilige Fundament des dynamischen Vorgangs von (Be)Wertung das Selbst-Wert-Gefühl ist. Um diese Dimensionen in die Diskussion um die Werte-Bildung einzubeziehen, soll im Folgenden der Begriff der ›Wertschätzung‹ in den Vordergrund gestellt werden.

1 Josef Fellsches, Werte und Normen, Tugenden und Regeln, in: Reinhold Mokrosch/ Arnim Regenbogen (Hg.), Werte-Erziehung und Schule. Ein Handbuch für Unterrichtende, Göttingen 2009, 118 – 125,118.

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Elisabeth Naurath

1.1

Wertschätzung auf der Basis des Selbstwertgefühls

Das Einschätzen im Sinne einer Neu-Bewertung bzw. auch Um-Wertung von Werten betrifft »die Art menschlichen Existierens«2, d. h. die »Neufestsetzung von Werten und komplementär dazu die Destruktion überlieferter Werte, haben ihr Fundament im Schätzen und Vernichten, die den Existenzvollzug ausmachen.«3 Dies meint, dass es im Akt der Wertschätzung in gewisser Weise immer ums Ganze geht. Wir sind in der Existentialität des Moments als Person, d. h. in unserem Person-sein gefragt und offenbaren unser Person-sein in der Wertschätzung, die wir fühlen, denken bzw. auch zum Ausdruck bringen. Daher spielt die Selbst-Einschätzung der Person, das Selbstwertgefühl eine tragende Rolle. Aus diesem Grund ist beispielsweise in der Klientenzentrierten Psychotherapie nach Carl Rogers Wertschätzung im Sinne einer bedingungslos positiven Wertschätzung des/ der Klienten durch den Therapeuten/ die Therapeutin Voraussetzung für einen gelingenden therapeutischen Prozess. Das heißt, dass Perspektivenwechsel hinsichtlich persönlicher, durch Krisen notwendig gewordener Transformationsprozesse dann eher gelingen können, wenn radikal – im Sinne von ›an die Wurzel gehend‹ – das Selbstwertgefühl positiv gestimmt werden kann. Dies ermöglicht die psychodynamische Voraussetzung für Veränderung insofern, als Abwehrhaltungen (Widerstände, Blockaden etc.) aufgegeben werden können, weil sie quasi unnötig geworden sind. Interessant ist hierbei die Angewiesenheit auf ein Gegenüber, ein ›Du‹, das dem Selbst in gewisser Weise einen Wert zuspricht, der dem ›Ich‹ hilft, ein Selbst-Wert-Gefühl zu entwickeln bzw. wieder zu bestärken. Der therapeutische Prozess liegt in der symbolischen Repräsentation dieses bedingungslos annehmenden ›Du‹, das bestenfalls lebensgeschichtlich in der frühen Eltern-Kind-Beziehung seinen Anfang nimmt bzw. auch religiös etabliert sein kann.4

1.2

Werte im Werden – zur lebensgeschichtlichen Perspektive von Wertschätzung im frühkindlichen Alter5

»Das Vorschulkind erlebt im Gegensatz zum Erwachsenen sich selbst im Zentrum des Universums. Es fühlt sich mit der äußeren Welt verflochten und unterscheidet sie nicht von seinem Selbst. Mit anderen Worten: Für das Kind besteht noch keine Trennung 2 Jörg Salaquarda, Umwertung aller Werte, in: Archiv für Begriffsgeschichte (Band XXII), Mainz 1978, 154 – 174, 158. 3 Ebd., 159 (mit Rekurs auf Friedrich Nietzsche). 4 Vgl. Hans-Jürgen Fraas, Die Religiosität des Menschen. Ein Grundriss der Religionspsychologie, Göttingen 1990. 5 Vgl. zum Folgenden auch: Elisabeth Naurath, Die emotionale Entwicklung von Beziehungs-

Wertschätzung als pädagogische Grundhaltung zur Werte-Bildung

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zwischen eigenem seelischen Erleben, das sich in Gefühlen, Vorstellungen, Gedanken und Phantasien ausdrückt, und der äußeren Welt.«6

Ausgehend von der sich am Denkvermögen festmachenden Sichtweise der Entwicklungspsychologie nach Jean Piaget wird deutlich, dass das kindliche Weltbild in seiner Genese eigenen Strukturmomenten folgt. Insbesondere sinnliche Wahrnehmungen (durch spontane Eindrücke) werden im kindlichen Denken zu offensichtlichen logischen Verknüpfungen ineinandergefügt, die auf der Basis des abstrahierenden Urteilsvermögens aus Erwachsenenperspektive nicht selten als unlogisch zu verifizieren sind. Insofern ist für die Entwicklung einer Werte-Bildung der lebensgeschichtliche Horizont bedeutsam: Es ist anzunehmen, dass sich im Zuge der Rationalitätsentwicklung bereits auf interaktiven Erfahrungen, Erlebnissen und Gefühlen basierende Wertorientierungen gebildet haben, die eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen. Dies konnte beispielweise Lawrence Kohlberg für die Entwicklung des moralischen Urteils zeigen, wenngleich er vorwiegend die kognitiven Argumentationsfiguren reflektierte und strukturierte. Bezieht man die emotionalen Dimensionen ein, so ergibt sich ein deutlich komplexeres Bild, das Zusammenhänge von ethischer und emotionaler Kompetenz auf der Basis von Beziehungserfahrungen als evident erweist.7 Da in den frühen Beziehungserfahrungen der Grundstein menschlicher Beziehungsfähigkeit gelegt wird8, können wir auch davon ausgehen, dass die Bildung von Wertungen und Werten mit den lebensgeschichtlich frühen Anfängen beginnt. Die Interaktionen mit den ersten Bezugspersonen bestimmen für das Kind ein Gefühl von Wertschätzung, das sich zunächst vorbewusst etabliert. Wie wird verbal innerhalb der Familie als Primärgruppe des Beziehungssystems kommuniziert und interagiert? Auch wenn Worte noch nicht verstanden werden, kann der Säugling bereits in der Konnotation der Verbalität (Stimme, Tonhöhe, Sprachmelodie etc.) eine atmosphärische Gestimmtheit spüren, die durch nonverbale Eindrücke (wie Mimik, Gestik etc.) ergänzt wird.9 Insofern

6 7 8 9

fähigkeit fördern. Religionspädagogische Ziele in der Begegnung und im Zusammenleben mit Kindern, in: Bibel und Liturgie 82 (2009), 107 – 118. Heiko Franke/ Helmut Hanisch, Religiöse Erziehung im Vorschulalter. Grundlagen und praktische Hinweise, Stuttgart 2000, 95. Vgl. Carolyn Saarni, Die Entwicklung von emotionaler Kompetenz in Beziehungen, in: Salisch, Maria von (Hg.), Emotionale Kompetenz entwickeln. Grundlagen in Kindheit und Jugend, Stuttgart 2002, 3 – 30. Vgl. Klaus A. Schneewind, Sozialisation und Erziehung im Kontext der Familie, in: Oerter/ Montada (Hg.), Entwicklungspsychologie Weinheim-Basel, 6. Auflage 2008, 117 – 145. Die neuere Säuglingsforschung hat darauf verwiesen, dass nicht erst durch wachsende kognitive und verbale Kompetenzen sozial-emotionale Beziehungsstrukturen aufgebaut werden, sondern faciale (gesichtsbezogene, v. a. mimische) und vokale Gefühlsäußerungen prägenden Einfluss von den ersten Lebenstagen an haben (vgl. Erwin Lemche, Sozioemotionale Entwicklung, in: Keller Heidi: Handbuch der Kleinkindforschung, Bern, 32002, 994).

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kann das Beziehungssystem auch als Bedeutungssystem gesehen werden. Das heißt: Noch bevor ein Kind Beziehungsstrukturen und -muster rational nachvollziehen und verstehen kann, kann es bereits fühlen, ob es sensibel wahrgenommen wird, ob warmherzig mit ihm umgegangen wird – kurz gesagt: welche Wertschätzung ihm entgegen gebracht wird. Meines Erachtens liegt hier das Fundament aller Werte-Bildung, wenngleich dieser Zusammenhang in der bisherigen Forschung zur ethischen Bildung noch weitgehend unbearbeitet ist.10 Insofern bestimmen also zunächst leiblich wahrgenommene so wie emotionale Kriterien die Entwicklung der Beziehungsfähigkeit als Basis der Wertebildung: Hierbei ist wichtig, dass dieses affektive Band »einerseits einem Bedürfnis nach Bezogenheit, andererseits einem Bedürfnis nach Autonomie im Sinne einer eigenständigen Weltaneignung«11 gerecht wird. In dieser frühen Polarität von Bezogenheit und Autonomie (man könnte auch sagen von Bindung und Freiheit), konstituiert sich Beziehungsfähigkeit im Horizont emotionaler als sozialer Kompetenzentwicklung, die sich erst nach und nach durch kognitive und pragmatische Fähigkeiten ausdifferenziert. So wurde von Seiten der Emotionspsychologie die Kompetenz auch schon kleiner Kinder zur Beziehungsfähigkeit auf der Basis mitfühlender und prosozialer Fähigkeiten vielfach belegt.12 Betrachtet man diesen Zusammenhang aus pädagogischer Perspektive, so stellt sich das Handlungsfeld der Eltern- respektive Familienbildung als zukunftsweisender Aufgabenbereich zur Wertebildung dar, da die Qualität der Primärbeziehungen im Sinne von erfahrener Wertschätzung den Boden der weiteren ethischen Entwicklung der Persönlichkeit in jeglicher Hinsicht bereiten. Der gesellschaftliche Wandel von der Groß- zur Kleinfamilie und veränderte Bedingungen des Aufwachsens (nicht selten in Ein-Eltern- oder PatchworkFamilien) machen gegenwärtig überdeutlich, dass Angebote zur Familienbildung quantitativ erweitert und qualitativ optimiert werden müssen, um dem Zusammenhang von emotionaler und prosozialer Entwicklung für alle pädagogischen Prozesse deutlicher gerecht zu werden. Auch die emotionale Dimension der Erwachsenenbildung erweist sich hierbei als ein entscheidendes, aber weithin vernachlässigtes Kriterium der Eltern-Kind-Arbeit. Mit dem Slo-

10 Religionspädagogisch wurde dieser Zusammenhang für die Entwicklung des Mitgefühls beschrieben: Vgl. Elisabeth Naurath, Mit Gefühl gegen Gewalt. Mitgefühl als Schlüssel ethischer Bildung in der Religionspädagogik. Neukirchen 32010. 11 Ebd., 134. 12 Vgl. beispielweise Wolfgang Friedlmeier, Entwicklung von Empathie, Selbstkonzept und prosozialem Handeln in der Kindheit, Konstanz 1993; Richard K. Silbereisen / Peter Schuhler, Prosoziales Verhalten, in: Manfred Markefka/ Barbara Nauck (Hg.): Handbuch der Kindheitsforschung, Berlin 1993, 275 – 287; die Forschungen zur Entwicklung von Mitgefühl bei Dieter Ulich und Jutta Kienbaum (z. B. Jutta Kienbaum, Entwicklungsbedingungen prosozialer Responsivität in der Kindheit, Psychologia Universalis 31, Lengerich 2003).

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gan ›Bildungstheorie ist Bindungstheorie‹13 verweist Arnold auf ein Desiderat der Erwachsenenpädagogik, das nur durch Angebote zur sowohl emotionalen als auch kognitiven Selbstreflexion aufzuheben ist. Bedeutungsvoll ist hierbei die Integration körperorientierter Komponenten, um die leib-seelische Dimension von Emotionen zu berücksichtigen.14 Hier wiederum schließt sich der Bogen zum bindungstheoretischen Zusammenhang der Eltern-Kind-Beziehung. Auch wenn dies hier nur angedeutet werden kann, ist für die frühkindliche Entwicklung die Bedeutung mitfühlender Nähe als körperlicher Ausdruck von Wertschätzung zentral. So hat die neuere Säuglingsforschung für das nichtsprachliche Erinnerungsvermögen gezeigt: »Spätere Beziehungserfahrungen werden in diese ›Hüllen‹ eingebaut, so dass, metaphorisch ausgedrückt, die ursprünglichen, vorsprachlichen (affektiven und körperlichen) Erfahrungen wirklich ein Fundament bilden, auf das spätere sprachliche Ereignisse aufbauen, da die gespeicherten Erfahrungen immer auch die Wahrnehmung neuer Situationen beeinflussen.«15 Daneben ist natürlich die dringlich zu fordernde Qualitätsentwicklung von frühkindlichen institutionellen Bildungsangeboten in Kindergärten und Kindertagesstätten wegweisend: Letztlich korrespondiert einer Wertschätzung der Bildungsrelevanz wie auch der Bildungsansprüche im Vorschulalter – gerade auch im Blick auf die emotional-prosoziale Bildung – auch eine gesellschaftlich verifizierte Wertschätzung der gesellschaftsrelevanten Arbeit in diesen institutionellen Einrichtungen: So wird gegenwärtig die im europäischen Vergleich qualitativ defizitäre Berufsausbildung für deutsche Kindergärtnerinnen angemahnt, Möglichkeiten eines akademischen elementarpädagogischen Studiums diskutiert und schließlich auch eine Aufstockung der Löhne und Gehälter gefordert.16 13 Rolf Arnold, Die emotionale Konstruktion der Wirklichkeit. Beiträge zu einer emotionspädagogischen Erwachsenenbildung, in: Ders. (Hg.), Grundlagen der Berufs- und Erwachsenenbildung. Baltmannsweiler 2005, 179. Anm. 68. 14 Dieser Zusammenhang basiert auf dem phänomenologischen Ansatz Maurice MerleauPontys, der die Leiblichkeit als intersubjektive Basis der Verbindung von Ich und Du beschrieben hat: vgl. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung. In: Phänomenologische und psychologische Forschungen 7, Berlin 1966. 15 Ariane Garlichs / Marianne Leuzinger-Bohleber, Identität und Bindung. Die Entwicklung von Beziehungen in Familie, Schule und Gesellschaft, in: Erziehung im Wandel 2, WeinheimMünchen 1999, 152. 16 Die Bedeutung einer grundlegenden fachlichen Qualifikation ist kaum zu bestreiten, wenn man bedenkt: »Im Durchschnitt 4000 wache Stunden verbringen Kinder in der wissbegierigsten Phase ihres Lebens in einem Kindergarten. Sie brauchen dort Menschen, die ihnen nicht nur die Jacken zuknöpfen und Spielzeug in die Hand drücken, sondern ihnen geistiges Futter geben, sich auf ihre Fragen einlassen, ohne ihnen mit Standardantworten das Nachdenken abzugewöhnen.« (Jörg Otto: Aufgepasst! Warum auch Erzieherinnen eine akademische Ausbildung brauchen, in: Die Zeit 28 (2006), 71).

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Neben der Evidenz der vorschulischen (durch die familiären oder auch institutionellen Bezugspersonen gewährten) Beziehungsqualität für die WerteBildung, soll im Folgenden die Dimension der Wertschätzung als pädagogische Grundhaltung für den schulischen Kontext in den Blick genommen werden.

2.

Werte-Bildung durch die Erfahrung von Wertschätzung im schulischen Kontext Anna wird zu Beginn der Erdkundestunde nach vorne gerufen. Am Kartenständer ist eine Deutschlandkarte aufgehängt. »Nun zeige uns doch bitte mal, wo das Erzgebirge liegt!«, drängt der Lehrer erneut, langsam ungeduldig. »So ein Mist«, denkt sich Anna, die den gestrigen Nachmittag bei ihrer Tante zur Geburtsfeier eingeladen war und sich nicht vorbereitet hat. Sie steht wie angewurzelt vor der Karte, rührt sich nicht. Einige Mitschüler beginnen zu kichern, zwei melden sich, um zu demonstrieren, dass sie es wissen. Suchend irrt ihr Blick über die Karte. »Wie peinlich, alle schauen auf mich und machen sich über mich lustig. Am liebsten würde ich mich jetzt unsichtbar machen«, kreist es unaufhörlich lang in ihrem Kopf, bis sie endlich wieder auf ihren Platz entlassen wird. Noch den ganzen Vormittag verfolgt sie das ungute Gefühl, auf ganzer Linie versagt zu haben.

Welcher Schüler oder welche Schülerin hat während der Schulzeit nicht ähnliche Erfahrungen gemacht? Es gibt Momente des Nicht-Könnens, Nicht-GelerntHabens, des Versagens in Klassenarbeiten oder (Ab)Fragesituationen, die uns oft ein Leben lang in Erinnerung bleiben. Mangelnder Erfolg in einer die Leistungsfähigkeit bemessenden Situation wird als fehlende Wertschätzung unserer Person durch andere oder auch uns selbst in uns – oft auch in unserem Leibgedächtnis17– abgespeichert. Dem stehen – je nach Verlauf der Schulkarriere mehr oder weniger – wertschätzende Erfahrungen gegenüber, in denen wir aufgrund besonderer Leistungen gelobt und vor den MitschülerInnen anerkennend herausgehoben wurden. Deutlich zeigt sich jedoch, dass ›Wertschätzung‹ im positiven wie auch im negativen Sinn ein die schulischen Erfahrungen begleitendes Thema ist. Die pädagogische Relevanz liegt darin, dass wir aus diesen Erfahrungen signifikanter Fremdwahrnehmung Rückschlüsse auf unsere Selbstwahrnehmung ziehen. Wir fühlen uns als Person be-wertet, ob ab-ge-wertet oder auf-ge-wertet. Das Besondere steht in der Gefahr, zum Allgemeinen zu werden, wenn die 17 Mit dem Begriff des Leibgedächtnisses ist gemeint, Erlebnisse mittels sinnlicher Wahrnehmungen (Geruch, Geräusch etc.) so zu internalisieren, dass eine von der erinnerten Situation durchaus unabhängige Wahrnehmung mit dem Erlebnis in Verbindung gebracht wird (vgl. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, in: Phänomenologische und psychologische Forschungen, Bd. 7, Berlin 1966).

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Notwendigkeit einer Distanzierung nicht (genügend) gelingt. Dies aber bedeutet, dass die Wertungen anderer in die Selbst-Bewertungen mit hineinspielen, so wie auch Individualität und Sozialität ineinander verwoben sind. Wertorientierungen entstehen demnach nicht nur auf der Basis der Kognition in dem Sinne, dass wir hinsichtlich unseres rationalen Urteilsvermögens Werthaltungen entwickeln und diese prinzipiell vertreten. Vielmehr ist auch die emotionale Dimension eines lebensgeschichtlichen, interaktiven und prozessorientierten Verstehens von Werten einzubeziehen. Aus diesem Grund soll im Folgenden bedacht werden, inwiefern eine pädagogische Grundhaltung der Wertschätzung positive Impulse für Wertorientierungen im Sinne einer wertschätzenden Sozialität bei den Heranwachsenden implizieren könnte.

2.1

Subjektorientierung als Weg zur Wertschätzung des/der Einzelnen

Gegenwärtige Pädagogik ist vor die Aufgabe gestellt, sich im Kontext einer wachsenden Vielfalt von Lebensformen und Lebenswelten im Sinne sozialer, sprachlicher, kultureller und auch religiöser Diversität zu verorten. In einem subjektorientierten Zugang liegt meines Erachtens die Chance, den individualisierten Formen des Weltverständnisses und der Lebensdeutungen auf die Spur zu kommen. Das bedeutet, dass weder völlige Beliebigkeit im Sinne einer subjektivistischen Verengung noch der Rekurs in eine strikte Vermittlungsdidaktik zielführend ist. Pluralismusfähigkeit kann sich doch gerade darin erweisen, dass den Einzelnen in einer wertschätzenden Haltung ermöglicht wird, eigene Fragen zu stellen, aber auch eigene Position zu beziehen und in ein sich gegenseitig bereicherndes, in Frage stellendes, die eigene Meinung auch immer relativierendes und korrigierendes Gespräch mit der Gruppe zu bringen. So verstandene Subjektorientierung wäre als konstruktiver Umgang mit Heterogenität zu sehen, die sich jedoch unterrichtspraktisch als didaktisches Problem zeigt. Da die Annahme homogener Lerngruppen eine pädagogische Fiktion ist, muss mit Vielfalt gerechnet werden: Vielfalt der individuellen Bedingungsfaktoren der Schüler und Schülerinnen in ihren jeweiligen Lebenssituationen und -kontexten. Der ›Verschiedenheit der Köpfe‹, von der schon Johann Friedrich Herbart Anfang des 19. Jahrhunderts als zentralem Problem des Unterrichts von Kindern sprach, ist mit pädagogisch durchdachten Differenzierungsstrategien zu begegnen, um Subjektorientierung auch als individuelle Förderung zu ermöglichen. Allerdings bedürfen wir hierzu einer verstärkten Unterrichtsforschung, die dann sicher in bildungspolitischer Hinsicht von hoher Brisanz ist: Was bedeutet beispielsweise das evangelische Plädoyer für

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mehr Bildungsgerechtigkeit unter dem Motto ›Niemand darf verloren gehen!‹18 angesichts verkürzter Schul- und Ausbildungszeiten, einer ergebnisorientierten Verdichtung der Lehrpläne oder einer unverändert hohen Schülerzahl in den Klassen? Meines Erachtens, das heißt aus der Perspektive einer evangelischen Theologin, dient eine kritische Rückbesinnung auf die theologischen Wurzeln der Subjektorientierung einer pädagogischen Selbstvergewisserung. Die über das Vordergründige und Vorfindliche hinausgehende – ich könnte theologisch auch sagen: transzendenzbezogene – Perspektive setzt auch kritische Impulse angesichts von bildungs- und sozialpolitischen Tendenzen, die durchaus auch ökonomisch dirigiert werden.

2.2

Wertschätzung auf der Basis einer bildungstheoretischen Verortung

Die Wurzeln des Bildungsbegriffs (›bildunga‹ nach dem mittelalterlichen Theologen Meister Eckhart) sind in einem theologischen Verständnis der schöpfungsgemäßen Bildungsfähigkeit des Menschen zu sehen. Die aufgrund der Gottebenbildlichkeit (gemäß Gen 1, 26 f.) unhinterfragbare Würde als Person begründet die Freiheit zur Subjektwerdung, die sich in ständigem Weltzusammenhang als Übernahme von Rollen und Funktionen und der Möglichkeit zur Distanzierung von eben diesen vollzieht. Hier wurzelt und korreliert der Bildungsgedanke mit dem Verständnis christlicher Freiheit. Das heißt: dem Menschen wird zugetraut, über sein bisheriges Denken und Handeln hinauszugehen und die in ihm liegenden Möglichkeiten und Potenziale zur Entfaltung zu bringen. Der Begriff »Bildung« umschreibt sowohl einen Vorgang (»sich bilden«) wie auch ein Ergebnis (»gebildet sein«). Im Sinne kritischer Bildung müssen die beiden Momente Bildung als Prozess und Bildung als Resultat konvergieren. Demgemäß sind alle pädagogischen Vorstellungen und Methoden auszuschließen, die zwar die Subjektwerdung von Menschen zum Ziel haben, aber auf dem Weg dahin den Subjektstatus der Teilnehmenden ignorieren wollen. Wir müssen also beides komplementär ineinander denken: Wir sind auf dem Weg, die zu werden, die wir eigentlich sind und zugleich sind wir schon wer. In pädagogischer Perspektive korrespondiert am ehesten der Terminus der ›Anerkennung‹19 dem hier gemeinten, begriffsgeschichtlich weitgehend fehlen18 Comenius-Institut (Hg.), ›Niemand darf verloren gehen‹. Evangelisches Plädoyer für mehr Bildungsgerechtigkeit. Münster 2010. 19 Vgl. hierzu auch: Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt 1994.

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den Verständnis von ›Wertschätzung‹20, wenn es im Lexikon für Pädagogik heißt: »Anerkennung der eigenen Person gilt als anthropologisches Grundbedürfnis des Menschen und wechselseitige Anerkennung als Voraussetzung zur Herausbildung von Individualität und zur Ausbildung von Identität.«21 So entwickelte Annedore Prengel in ihrer ›Pädagogik der Vielfalt‹22 Kriterien für eine Kultur der Anerkennung, die Wertschätzung und Gleichberechtigung der einzelnen Glieder in ihrer Verschiedenheit zum Ziel haben. Die Umsetzung könnte sich an Kriterien wie einer ›stärkenorientierten Pädagogik‹, ›Ermutigung als initiierende Form pädagogischen Handelns und ›Anerkennung durch Partizipation‹ orientieren.23 So ist die vorausgehende Anerkennung der Schülerin/ des Schülers die Basis für eine prozessorientierte Förderung: Wenn der Blick zunächst nicht auf die Defizite, sondern auf die Fähigkeiten und Stärken gelenkt wird, entsteht eine konstruktive Basis der Wertschätzung, die das Selbstbewusstsein stärkt und die Lernmotivation steigert. In einem derart angenehmen Klima, die als ›lebensfreundliche Kultur‹ im Gegensatz zur gängigen ›Kritikkultur‹ zu bezeichnen wäre, können sich Werte wie ›gegenseitige Wertschätzung‹, Freundlichkeit, Respekt etc. bilden. Folgender Dreischritt hat sich meines Erachtens hinsichtlich einer Leistungsbeurteilung bzw. eines Feedbacks am besten bewährt: 1) Zuerst und zunächst hat der ›Prüfling‹ selbst das Wort: Wie ging es mir in der Situation? Wie habe ich mich selbst erlebt und gefühlt?; 2) Die Gruppe einschließlich der Lehrkraft gibt Rückmeldungen, die sich an den offensichtlich gewordenen Stärken, Begabungen und Kompetenzen orientieren: Was dir besonders gut gelungen ist…; Was mich beeindruckt hat, war…; 3) Nun können Tipps gegeben werden, welche Weiterentwicklungsmöglichkeiten gesehen werden, nach dem Motto: Es wäre gut, wenn …; Hilfreich könnte es sein, wenn… Erfahrungsgemäß öffnet diese Weise des konstruktiven Feedbacks die Lernbereitschaft und ermutigt zu einem bildungsorientierten und selbstgesteuerten Prozess. ›Selbstgesteuert‹ in den Sinn, dass in einer ›stärkenorientierten Pädagogik‹ die Subjektwerdung der Person im Vordergrund steht, weniger jedoch der Inhalt bzw. das, was man dem Inhalt möglicherweise alles schuldig geblieben ist. Ein gesellschaftskritischer Impuls liegt zudem darin, dass einer durchaus gängigen Haltung des Kritisierens um des Kritisierens willen – nicht selten aus dem Grund, sich selbst aus Imponiergehabe zur Schau zu stellen – Einhalt geboten wird. Mit der Subjektwerdung der Person tritt aber das Prinzip einer ›Anerkennung durch Partizipation‹ in den Vordergrund, d. h. dass die 20 Martina Knörzer, Anerkennung und Wertschätzung, in: Uwe Sandfuchs/ Wolfgang Melzer u. a. (Hg.), Handbuch Erziehung. Bad Heilbrunn 2012, 582 – 587. 21 Vgl. ebd., mit Hinweis auf: Heinrich Kleinert, Lexikon der Pädagogik Band 2, Bern 1950. 22 Annedore Prengel, Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik, Wiesbaden 32006. 23 Vgl. Knörzer, Anerkennung, 585 f.

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Ermutigung zur Selbstwirksamkeit dem Subjektwerdungsprozess insofern dient als das wachsende Selbstbewusstsein auch zur Übernahme an Verantwortung führt.

3.

Konkretionen zur Wertschätzung als pädagogischer Haltung

3.1

Ermöglichung von Wertschätzung auf dem Weg der Binnendifferenzierung

»Eines Freitags kündigte ich an, dass wir am Montag mit der Lektüre von Romeo und Julia beginnen würden. Ein Junge beklagte sich: ›Warum lesen wir nie etwas Gutes…etwas anderes…immer nur Shakespeare, Dickens, Hugo…‹ Ich rechtfertigte meine Wahl mit dem Hinweis auf den Landesschulrat, die Lehrplanrichtlinien, die Hochschulanforderungen, die kulturellen Erfordernisse und die persönliche Befriedigung. Als ich meine Erklärung beendet hatte, sagte eines der Mädchen: ›Warum dürfen wir nie tun, was wir wollen?‹ Fragen wie diese sind Lehrern seit Generationen gestellt worden. Ich hörte auf zu reden, holte einmal tief Luft, setzte mich auf meinen Schreibtisch und sah mich um. Ich sagte: ›Gut! Am Montag kann jeder von euch seinen eigenen Studienplan für die nächsten sechs Wochen mit in die Klasse bringen. Ihr könnt euch jedes Gebiet aussuchen, das euch interessiert, so lange dabei gelesen und geschrieben wird.«24

Es ist faszinierend, sich vorzustellen, welche unterschiedlichen Reaktionen dieses Unterrichtsexperiment zur Folge hatte: Begeisterung und Steigerung der Lernmotivation, aber auch Verunsicherung und Skepsis auf Seiten der Schüler, Verantwortbarkeit, organisatorische Klarheit und Diskursbereitschaft im Kollegium für die Lehrperson. In jedem Fall hat dieser Impuls zur Folge, dass die intendierte Subjektorientierung eine größere Wertschätzung der einzelnen Entscheidungen der Schüler und Schülerinnen zur Folge haben sollte. Im Gegensatz zur äußeren Differenzierung der Lerngruppe, die in der Struktur unseres Schulsystems insbesondere anhand leistungs- aber auch altersgemäßer Kriterien vorgenommen wird, meint die Binnendifferenzierung eine beispielsweise auch zeitlich eingeschränkte (z. B. in Projektphasen) Aufteilung der Lerngruppe. Ziel ist eine individuelle Förderung der einzelnen Schüler und Schülerinnen in einer möglichst variablen Zuordnung zu kleineren Lerngruppen oder auch der Möglichkeit zur Eigenarbeit, wobei die Gesamtlerngruppe (z. B. der Klassenverband) an sich bestehen bleibt. Die methodischen 24 Carl R. Rogers, Die Kraft des Guten. Ein Appell zur Selbstverwirklichung.– München 1988, 92 f.

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Möglichkeiten zur Binnendifferenzierung sind nahezu unbegrenzt, steigern erwiesenermaßen die Lernmotivation und ermöglichen völlig neue Unterrichtsformen, die einer Monotonie der Unterrichtsabläufe entgegenstehen. Die pädagogische Wertschätzung liegt meines Erachtens besonders darin, dass die Lernbereitschaft als Kriterium derart einbezogen wird, dass eine eigene Wahl der Inhalte, der methodischen Umsetzung und der zeitlichen Planung dem Schüler respektive der Schülerin ein größtmögliches Maß an Freiheit und Selbständigkeit gewährt. Auch die Leistungsmessung (ob ein Kind oder Jugendlicher das Thema eher im Sinne der kognitiven, emotionalen oder pragmatischen Lerndimension umsetzt) kann den situativen Stärken der Schüler angemessen vorgenommen werden. Allerdings ist der unterrichtspraktische Weg der Binnendifferenzierung noch kein Garant für ›Wertschätzung als pädagogische Haltung‹, sondern eher ein Wegbereiter dafür, Subjektwerdung zu fördern. »Dass eine Person Subjekt werde, ist das erklärte und angestrebte Ziel, aber nicht herstellbare und vollendbare Ziel von Bildung«25 – es gilt demnach innovative Wege zu suchen und zu finden, um auf der Basis einer grundlegenden Wertschätzung des Bildungsprozesses der Einzelnen Selbst-Bildung und damit Selbst-Werdung zuzulassen und zu ermöglichen.

3.2

Wertschätzung als handlungsleitendes Kriterium im Unterricht

»Für mich war es spannend, wie unterschiedlich man die Texte verstehen kann und dass doch jede Auslegung irgendwie ihr Recht hat und auch zu ihrem Recht kommt.« (eine 27jährige Teilnehmerin an einem Bibliologkurs)

Mit der Anerkennung von Subjektwerdung als Bildungsziel kommt der einzelne Schüler/ die einzelne Schülerin so in den Blick, dass sich die Perspektive von einer Dominanz der Unterrichtsinhalte zu den Subjekten des Lernens bzw. dem Unterricht als Beziehungsgeschehen verschiebt. Dies meint keine Vergleichgültigung oder Verdrängung der fachwissenschaftlichen Inhalte, will aber dem Rechnung tragen, dass die Ermöglichung des Lernprozesses conditio sine qua non an den Lernenden bzw. dem Lernprozess als solchem hängt. Zunächst bedeutet dies, einen Zugang zu den Lerninhalten zu ermöglichen (Motivation), dann jedoch auch eine Werthaltigkeit der Inhalte aufgrund einer offensichtlich gewordenen Lebensrelevanz zu entwickeln. Um beides zu ermöglichen, ist die lernende Person nicht nur in kognitiver Hinsicht, sondern auch in ihren emotionalen und pragmatischen Lerndimensionen in den Blick zu nehmen, denn 25 Bernd Schröder, Religionspädagogik. Tübingen 2012, 241. Wegweisend definiert Schröder hier, dass die Förderung von Subjektwerdung als Maxime religionspädagogisch reflektierten Handelns zu sehen ist.

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sowohl die Lernmotivation als auch die Lernrelevanz sind allein auf kognitiver Ebene nicht nachhaltig. Wenn im Folgenden exemplarisch der Bibliolog26 als für die Religionspädagogik der letzten zehn Jahre sowohl innovativer als auch erfolgreicher Weg zur Begegnung mit biblischen Texten beschrieben wird, dann geschieht dies aus zweierlei Gründen: 1) Mit dieser für Gruppen geeigneten Auslegungsmethode ist implizit die Einübung einer wertschätzenden Haltung zu den Einzelnen, zur Gruppe und zum Text intendiert. Die Verfahrensweise wäre auch auf die Arbeit mit einem anderen Genus von Texten beispielsweise im Deutschunterricht transferierbar. 2) Angesichts einer empirisch verifizierbaren Bibelverdrossenheit junger Menschen wird mit der Methode Bibliolog ein am Subjekt orientierter Erfolgsweg deutlich, d. h. dass die Problematik des Inhalts (Desinteresse von Jugendlichen an biblischen Texten) durch eine an der Wertschätzung des Subjekts ausgerichtete Methodik die Motivation steigert. Woran genau liegt das? Die Textbegegnung im Bibliolog geschieht gleichermaßen subjektorientiert wie auch gruppendynamisch: Hierbei erfolgt die Identifikation in einer bestimmten Situation des ausgewählten Textes, die als Szene deutlich beschrieben wird und zu Reaktionen herausfordert, zu der jeder und jede in der Lage ist: »Maria, du siehst, dass der Stein vom Grab weggerollt ist. Was ist dein erster Gedanke?«, wäre eine solche Einladung zur Identifikation. Einerseits wird die Begegnung mit dem Text von dessen Dynamik bestimmt und andererseits von der subjektiven Einfühlung, indem man eben einer bestimmten biblischen Figur seine eigenen Gefühle, Gedanken und eventuell auch Stimme gibt. Die Möglichkeiten, auch mit kirchendistanzierten Gruppen an einem biblischen Text zu arbeiten, sind deshalb groß, weil weder exegetische noch systematisch-theologische Vorkenntnisse nötig sind, um mit Selbstbezug in die Identifikation mit einer biblischen Person und damit in den Text einzusteigen. Für diesen Zugang ist zunächst die Entschleunigung, die Verlangsamung der Wahrnehmung, ganz wesentlich. Es geht darum, das so genannte ›Weiße Feuer‹ des Textes aus subjektiver Perspektive zur Sprache zu bringen. Auf der Basis der jüdischen Midrasch-Auslegung ist der heilige Text in schwarzem Feuer (das sind die Buchstaben) geschrieben. Das weiße Feuer sind die Zwischenräume, die Leerstellen, die zur Phantasie und Verlebendigung einladen. Im Chor der Vielstimmigkeit werden die Zwischenräume des Textes lebendig, so dass die Pluralität der (Be)Deutungen das Spektrum der Auslegungen weitet. Die Gruppe bemerkt im Laufe des Bibliologs, dass alle Deutungen als subjektive Sichtweisen ihre Berechtigung haben und wertgeschätzt werden, indem sie im so genannten ›Echoing‹ für alle noch einmal wiedergegeben werden. So wiederholt die Leitung 26 Vgl. zum Folgenden Uta Pohl-Patalong, Bibliolog. Impulse für Gottesdienst, Gemeinde und Schule, 2 Bände, Stuttgart 2010.

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umschreibend die Assoziationen all derer, die sich spontan und freiwillig beteiligen und manifestiert hierbei: jede Stimme ist wichtig und wertvoll und erschließt uns Nuancen des weißen Feuers, die im Text als dem schwarzem Feuer verborgen liegen. Doch Wertschätzung erfahren während eines Bibliologs nicht nur die TeilnehmerInnen, sondern auch der Text, denn die subjektiven Deutungen machen die Vielfalt der Zugangswege deutlich, relativieren sich quasi wechselseitig und – indem abschließend der Text noch einmal gelesen wird und damit ›das letzte Wort‹ hat, bleibt dieser in seiner Eigenständigkeit bzw. auch Fremdheit gewahrt. Damit macht die Leitung deutlich, dass Wertschätzung eine Haltung ist, die Personen, differierenden Meinungen, aber auch tradierten Texten zukommt. Die Umgangsweise ist damit auf allen Ebenen eine respektvolle Annäherung, die allem übergriffigen Verhalten wiederspricht. Der Bibliolog kann damit weniger als Methode sondern als Haltung gesehen werden: Wenn im Prolog eines Bibliologs gesagt wird, dass man nichts Richtiges oder Falsches sagen könne, sondern dass es darum gehe, sich in die Situation und in die Person einzufühlen und ihr die momentane Stimme zu geben, dann ermutigt dies zur Selbstwahrnehmung als spielerischem und zugleich selbstreflexivem Akt. Deutungsvorgänge bejahen damit grundsätzlich eine Pluralität der Anschauungen und werden auf diese Weise dem biblischen Text gerecht, der in sich selbst plural ist. Zusammenfassend soll deutlich geworden sein, dass die Beziehungsqualität des Lernens im (vor)schulischen Kontext für die Werte-Bildung zentral ist: Am Beispiel einer grundlegenden, sich in der pädagogischen Haltung widerspiegelnden Wertschätzung der Lernenden als Einzelnen, als Gruppe, aber auch gegenüber den Inhalten etablieren sich Gefühle, Gedanken, Umgangsformen und schließlich Einstellungen, die Offenheit für Pluralität, Toleranz des Anderen, Respekt vor dem Fremden etc. integriert haben. In hochschuldidaktischer Hinsicht geht es demnach auch bereits darum, eine subjektorientierte Lehre zu intendieren, um die Wertschätzung gegenüber dem Bildungsprozess des einzelnen zu verdeutlichen. Für das Lehramtsstudium ist daher die Frage unabdingbar, inwiefern wir nicht nur Schülerorientierung als ›Hermeneutik der Aneignung‹ predigen, sondern auch selbst hochschuldidaktisch betreiben. Ziel eines integrativ zu verstehenden Studiums27 kann daher nur ein gemeinsam gesteuerter Lernprozess sein, der sowohl der fachwissenschaftlich-inhaltlichen als auch person- und handlungsfeldbezogenen Dimension gerecht wird. Neben 27 Vgl. hierzu auch Michael Fricke, Auf dem Weg zu einem integrativen Studium. Herausforderungen und Lösungsmöglichkeiten angesichts eines hohen Anspruchs in der Lehramtsausbildung, in: Anna Katharina Szagun, Universitas semper reformanda. Neue Lernwege in Theologie und Religionspädagogik. Forum Hochschulentwicklung und Hochschuldidaktik 3, Münster 2003, 52 – 62.

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der Vermittlung und Aneignung theologischer Inhalte ist die subjektorientierte Reflexion damit unabdingbar, um im gemeinsamen Lehr- und Lernprozess (und das sehe ich durchaus auch als wechselseitiges Geschehen) das Moment der Persönlichkeitsbildung zur Wirkung kommen zu lassen. Denn »letztlich ist das wirklich wertvolle Gut, das Schule zu verteilen hat, die intersubjektive Anerkennung jeder einzelnen Person in ihrer einmaligen Lebenslage«28. Auch wenn der Weg dahin noch weit ist, bleibt die Zielperspektive im Visier : Werte bilden sich da, wo Wertschätzung den zugewandten, lebensbejahenden und visionärhoffnungsvollen Rahmen der (pädagogischen) Haltung abbildet.

28 Knörzer, Anerkennung, 586.

Reinhold Mokrosch

Religiöse Werte-Bildung im Pluralismus der Religionen?

1.

Wie entstehen Werte? Allgemeine Überlegungen

Wie entstehen Werte im Allgemeinen? Und welche Folgen hat das für die Entstehung religiöser Werte? Ich wende mich zunächst der ersten Frage zu. Ich vertrete eine prozess- und subjektorientierte Begrifflichkeit von Werten. Was meine ich damit?1 Ich wende mich gegen jede objektive Wertvorstellung, nach der Werte ontisch vorgegebene Seins-Größen an einem metaphysischen Wertehimmel sind, die nur heruntergeholt und im Alltag realisiert werden müssen. Die katholische Neuscholastik seit 1920, die noch heute virulent ist,2 hielt und hält Werte (nicht nur christliche, sondern alle Werte) für in Gott gegründete Seins- und Handlungsvorgaben. Agere sequitur esse morum (Das Handeln folgt dem Sein der Werte) lautete und lautet ihr Leitspruch. Damit ist völlig klar, was beispielsweise mit Werten wie Familie, Freiheit, Menschenwürde oder Schöpfungsbewahrung gemeint ist: nämlich verheiratete Eltern mit Kindern (Familie), Bindung an Gott (Freiheit), Gottebenbildlichkeit (Menschenwürde) oder Bewahrung der von Gott geschaffenen Natur (Schöpfung). Werte sind danach klar definierte göttliche Vorgaben. Und zwar alle, nicht nur sog. christliche Werte. Gegen solche metaphysische Objektivität hatten sich von dem Begründer der Werte-Philosophie H.R.Lotze3 über T. Parsons4 und C. Kluck-

1 Vgl. zum Folgenden auch: Reinhold Mokrosch: Werte, Bildung, Erfahrung. Wie entstehen Werte im Individuum?, in: H.T. Krobath (Hg.): Werte in der Begegnung. Wertgrundlagen und Wertperspektiven ausgewählter Lebensbereiche, Königshausen & Neumann, Würzburg 2011, S. 27 – 47; und ders. und Arnim Regenbogen (Hg.): Werte-Erziehung in der Schule. Ein Handbuch für Unterrichtende, bes. S. 25 – 40. 2 Vgl. den »Katechismus der katholischen Kirche« 1993, deutsche Ausgabe im Oldenburger Verlag München, der auf diesem neuscholastischen Werte-Verständnis fußt und alle ethischen Verhaltensanweisungen aus metaphysischen, inhaltlich angeblich klaren Werten ableitet. 3 Vgl. H.R. Lotze: Mikrokosmos. Ideen zur Naturgeschichte und zur Geschichte der Menschheit, Versuch einer Anthropologie, 3 Bde. Leipzig 1856 – 1864. 4 Vgl. Talcott Parsons: The social system, 1926, 4. Aufl. 1964 London.

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Reinhold Mokrosch

hohn5 auch zahlreiche Wertphilosophen des 20. Jahrhunderts gewandt und betont, dass Werte kultur- und zeitabhängige Ideale und Güter seien, die von Individuen, Gruppen oder Kulturen inhaltlich geprägt würden. Wie und wodurch die Werte geprägt würden (durch Gefühl, Verstand, Handlung o. a.) und ob und was den Wertenden als apriori vorgegeben (Wertideen, Wertahnungen o. a.) erscheinen kann, ist bei diesen Wertphilosophen je verschieden. Aber sie stimmen alle darin überein, dass Werte kulturhistorisch geprägt werden und nicht metaphysisch vorgegeben sind. Ich selbst schließe mich diesem Trend und speziell der subjekt- und prozessorientierten Werte-Interpretation von Arnim Regenbogen und dessen erstem Aufsatz in diesem Band an.6 Er versteht Werte als Relationsbegriffe, welche die Relation zwischen (1) gewertetem Objekt, (2) wertendem Subjekt und (3) dem Wertungsakt widerspiegeln. Zu (1): Das »gewertete Objekt« ist in der Regel ein erwünschtes und wünschbares Gut, wie z. B. eine Gesellschaft, die als friedlich, ein Garten, der als lieblich, eine Gruppe, die als kameradschaftlich, ein Staat, der als sozial, eine Familie, die als harmonisch, eine Ehe, die als treu, eine Lehrerschaft, die als gerecht, eine Person, die als zuverlässig usw. erwünscht oder gewertet wird. »Wert ist«, so urteilt Regenbogen, »die an Gegenständen erwünschte, beurteilte und bewertete Werthaftigkeit«.7 Nicht mehr und nicht weniger. Erst wenn Güter »gewertet und bewertet werden«, entstehen Werte. Ein Wert wird erst real im Angesicht eines gewerteten Objekts. Um die genannten Beispiele aufzunehmen: Die Werte Frieden, Lieblichkeit, Kameradschaftlichkeit, Sozialität, Harmonie, Treue, Gerechtigkeit, Zuverlässigkeit u. a. werden erst wirklich, wenn sie den genannten Gütern anhaften und an ihnen abgelesen werden können. Zu (2): Das »wertende« Subjekt bringt mit seiner Wertung einen jeweiligen Wert – freilich nur für sich selbst – zum Leben. Denn unabhängig vom Werten gibt es für das Subjekt keine Werte. Es macht sie – freilich nur für sich selbst – lebendig. Plötzlich erhalten die Begriffe »Frieden, Lieblichkeit, Kameradschaftlichkeit etc.« Anschauung und Bedeutung. Ja, sie werden für das jeweilige Subjekt wirklich. – Gleichzeitig entscheidet sich das Individuum für einen bestimmten Wert und lässt andere Alternativen unberücksichtigt. Wer z. B. meint, dass jede Person zuverlässig sein sollte, rangiert Zuverlässigkeit auf die obersten Ränge seiner Wertehierarchie und lässt andere Werte weiter absinken. Wer meint, dass Familie harmonisch sein sollte, rangiert Harmonie an seine obersten 5 Vgl. Carl Kluckhohn: Values and Value-Orientation in the Theory of Action, in: T. Parsons u. a. (Ed.): Toward a general Theory of Action, NY 1962. 6 Vgl. oben S. und ders. Artikel »Wert« in der Enzyklopädie Philosophie, hg. von Hans Jörg Sandkühler, 1999, Felix Meiner Verlag Hamburg Bd 2, Sp. 1743 – 1748, und ders. in der Neuauflage der »Enzyklopädie« 2010, Bd 3. 7 A.a.O. 1744.

Religiöse Werte-Bildung im Pluralismus der Religionen?

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Ränge etc. Das wertende Subjekt leistet nicht nur Geburtshilfe für Werte, sondern erzeugt sie sogar und stuft sie in eine individuelle, subjektive Wertehierarchie ein, – freilich nur für sich selbst. Zu (3): Der »Wertungsakt« erhält bei Regenbogen eigenständige Bedeutung. Er ist ein Wertschöpfungsakt. Nur durch den Akt der Wertung und Wertschöpfung erhalten Werte Relevanz und Valenz für das wertende Subjekt. Wenn jemand urteilt »Frieden ist das wichtigste in einer Gesellschaft«, »Eine Lehrkraft sollte gerecht sein«, »Eine Clique sollte kameradschaftlich sein«, »Ein Garten sollte lieblich sein«, »Jede Person sollte zuverlässig sein« usw., dann erhalten sowohl die realisierten Werte als auch die gewerteten Güter (Gesellschaft, Familie, Ehe, Lehrkraft, Clique, Garten, Person) eine – möglicherweise intersubjektive – Allgemeingültigkeit, durch den und in dem Wertungsakt. Denn es könnte ja sein, dass sich andere dieser Wertung anschließen. Dann löst sich der Wertungsakt vom wertenden Subjekt und vom gewerteten Objekt und erhält Eigenständigkeit. Andere können sich der Wertung umso eher anschließen, wenn die Wertung vom gewerteten Objekt selbst ausgeht, wenn eine Gesellschaft in sich friedlich, ein Garten in sich lieblich, eine Familie in sich harmonisch etc. ist. Wenn aber das wertende Subjekt seine Wertung in die Objekte hinein projiziert, wenn z. B. Gärten gar nicht lieblich, Familien gar nicht harmonisch etc. wirken, dann werden sich kaum andere diesem Urteil anschließen. In beiden Fällen gilt aber : Der Wertungsakt erhält Eigenständigkeit. Ich selbst habe dieses Wertekonzept von A. Regenbogen übernommen und mit ihm weitergeführt.8 Wichtig ist uns beiden, drei Aspekte zu unterscheiden: Werte sind (a) Bewertungskriterien, z. B. frei, friedlich, harmonisch, treu, lieblich, solidarisch, sozial, gerecht etc., (b) Lebensziele bzw. zielorientierte Werte, z. B. Frieden, Freiheit, Harmonie, Treue, Solidarität, Toleranz, Gerechtigkeit etc., und (c) Alltagsstandards bzw. Instrumentelle Werte, z. B. Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Ehrgeiz, Ordnung, Sauberkeit, Pflicht etc. Das wichtigste sind Werte als Bewusstseinsmaßstäbe, denn indem wir z. B. urteilen »Das ist eine harmonische Familie«, qualifizieren wir die Familie als harmonisch und realisieren den Wert Harmonie für uns. – Bei Lebenszielen bzw. zielorientierten Werten haben wir unser Leben vor Augen, das wir mit dem jeweiligen Wert qualifizieren und wertvoll, z. B. friedlich, toleranzwürdig, liebevoll machen wollen. Und wenn wir das tun, dann ergreift uns dieser Wert und beginnt in uns zu leben und unser Handeln zu bestimmen. – Das gleiche trifft zu bei Alltagsstandards bzw. Instrumentellen Werten: Wir sehen eine Aufgabe vor uns, z. B. ein chaotisches Zimmer, das wir ordnen möchten, oder eine schmutzige Halle, die wir säubern möchten, und damit qualifizieren wir Zimmer und

8 Vgl. meine Aufsätze in dem genannten (oben Anm. 2) »Handbuch Werte-Erziehung«.

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Reinhold Mokrosch

Halle als zukünftig ordentlich und sauber, und realisieren gleichzeitig unsere Ideen von Ordnung und Sauberkeit. So definiere ich: Werte sind Bewertungsmaßstäbe, Lebensziele und Alltagsstandards, welche im Dreieck von bewertendem Subjekt, bewertetem Objekt und Wertungsvorgang vom Einzelnen für sich und sein Bewusstsein realisiert werden. Eigenständiger Wertungsakt (formuliert mit Wertungsmaßstäben) Wertendes Subjekt (mit Wertungsmaßstäben, Gewertetes Objekt (mit terminalen und instrumentellen Werten) terminalen und instrumentellen Werten)

2.

Wie entstehen religiöse Werte? Fachspezifische Überlegungen

Welche Auswirkungen hat diese allgemeine Definition von Werten und Wertentstehung für eine fachspezifische Definition von religiösen Werten und religiöser Wertentstehung? Sie hat zur Folge, dass auch diese keine vorgegebenen metaphysischen Seins-Größen sind, sondern dass sie aus den Wertungsakten der Gläubigen hervorgehen. Das bedeutet, dass das vom gläubig wertenden Subjekt religiös gewertete Objekt eine religiöse Werthaftigkeit erhält. Wer z. B. Natur als Schöpfung und Naturschutz als Schöpfungsbewahrung wertet und deutet, der qualifiziert (für sich) Natur als Schöpfung bzw. Naturschutz als Schöpfungsbewahrung und realisiert zugleich diese Werte in seinem Bewusstsein. Wer beim Umgang mit seinen Mitmenschen, denen er Menschenwürde zuspricht, zu der Wertung kommt, dass solche Menschenwürde eine Gottebenbildlichkeit sei, der qualifiziert (für sich) Menschenwürde als Gottebenbildlichkeit und realisiert gleichzeitig diesen Wert in seinem Bewusstsein. Oder wer Emanzipation als Erlösung aus Unfreiheit empfindet, deutet und wertet, der qualifiziert (für sich) Emanzipation als Erlösung und realisiert diesen Wert in seinem Bewusstsein. Es entsteht jetzt aber die Frage, ob solche religiöse Wertung auch den zu wertenden Gegenstand und den Wert selbst – im Unterschied zur säkularen Wertung – verändert, oder ob nur der religiöse Wertungsakt ein anderer als der säkulare Wertungsakt ist? Ist Schöpfung etwas anderes als Natur, Schöpfungsbewahrung etwas anderes als Naturschutz, Gottebenbildlichkeit etwas anderes als Menschenwürde und Erlösung etwas anderes als Emanzipation etc.? Oder sieht nur die Wertung, Deutung und Begründung von Natur, Menschenwürde und Emanzipation anders aus, während das bewertete Objekt faktisch den

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gleichen Charakter behält wie die säkular bewerteten Objekte? Ist Schöpfungsbewahrung das gleiche wie Naturschutz, nur mit anderen Vorzeichen? Eine Ethik, in der allein die Wertung, Deutung und Begründung anders aussieht als in anderen Ethiken, nennt man eine »formale« Ethik. Eine solche, in der auch das konkrete Wertverhalten und Werte-Handeln anders aussieht als in anderen Ethiken, nennt man eine »materiale« Ethik. Ich selbst vertrete eine formale Ethik, die aber möglicherweise auch Auswirkungen auf das konkrete Werte-Handeln im Sinne einer materialen Ethik haben kann. Verschiedene Deutungen, Wertungen und Begründungen können, müssen aber nicht zur Folge haben, dass auch das bewertete Objekt und der Wert selbst einen anderen Charakter erhalten. Schöpfung kann, muss aber nicht etwas anderes sein als Natur, Gottebenbildlichkeit kann, muss aber nicht etwas anderes sein als Menschenwürde, und Erlösung kann, muss aber nicht etwas anderes sein als Emanzipation. Und das kann, muss aber nicht Auswirkungen haben auf das Handeln und Entscheiden des religiös wertenden Subjekts. Ein Schöpfungsbewahrer kann eine andere Motivation und ein anderes Handlungsziel haben als ein Naturschützer, muss es aber nicht. Aus dem Wert Gottebenbildlichkeit kann ein anderes Verhältnis zum Mitmenschen erwachsen als aus dem der Menschenwürde. Und unter Erlösung kann man sich ein anderes Verhalten vorstellen als unter Emanzipation, muss es aber nicht. Ich versuche eine Definition: Religiöse Werte zeichnen sich durch eine religiöse Wertung eines zu wertenden Objekts aus und unterscheiden sich insofern in ihrer Deutung, Begründung und Wertung von einer säkularen Wertung desselben Objekts. Dieser unterschiedliche Wertungsakt kann, muss aber nicht auch einen anderen Charakter des bewerteten Objekts und eine unterschiedliche Behandlung desselben zur Folge haben.

Exkurs: Sollte man zwischen christlichen d. h. konfessions-religiösen, allgemein-religiösen und inter-religiösen Werten unterscheiden? Ich habe bisher nur von »religiösen« Werten gesprochen, ohne Religionen und Konfessionen zu unterscheiden. Das war bei der bisherigen Analyse der Entstehung von Werten im Allgemeinen und auch von religiösen Werten im Allgemeinen gerechtfertigt. Jetzt aber, bei der anstehenden Detail-Analyse der Entstehung religiöser Werte im Besonderen muss ich unterscheiden. Es ist mir allerdings nicht möglich, zwischen einzelnen Religionen und Konfessionen wie muslimisch, jüdisch, evangelisch, katholisch, buddhistisch, hinduistisch u. ä. zu unterscheiden. Das würde sich zu einer enzyklopädischen Arbeit ausweiten. Es wäre aber auch für unser Schulleben gar nicht relevant. Vielmehr möchte ich zwischen »christlicher, also konfessions-religiöser«, »allgemein-religiöser, also

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konfessionslos-religiöser« und »inter-religiöser« Werte-Bildung unterscheiden. Warum? Weil diese drei Kategorien für unseren Schulalltag wichtig sind: Christliche Werthaltungen sind nach wie vor aktuell. Allgemein-konfessionslosreligiöse Wertorientierungen werden von vielen Jugendlichen vertreten, die keiner Religion angehören, aber sich dennoch als religiös prädizieren. Und interreligiöse Werte sind spätestens seit Hans Küngs Weltethos als Brücke zwischen Religionen und Konfessionen aktuell. Lassen sich aber christliche, allgemein-religiöse und inter-religiöse Werte trennscharf unterscheiden? Als christlich werden oft Werte wie Anstand, Ehrlichkeit, Solidarität, Gemeinschaftssinn oder schlicht Menschlichkeit und Humanität beschworen. Was aber ist daran spezifisch christlich? Anders sieht es schon bei Werten wie Schöpfungsbewahrung, Gerechtigkeit und Frieden (um den Konziliaren Prozess zu benennen) oder bei Versöhnung, Nächstenliebe oder Feindesliebe aus. Aber auch bei ihnen ist nicht klar, was an ihnen spezifisch christlich ist. Ist es die innere Werthaltung, die Wertebegründung oder das konkrete Wertverhalten? Ist nur die Begründung dieser Werte christlich oder auch das jeweils konkrete Wertverhalten? Ich sagte bereits, dass ich eher einer formalen als einer materialen Ethik zuneige. Das heißt, dass ich speziell in den Wertungen, Deutungen und Begründungen einzelner Werte das spezifisch Christliche suche. Und wie sieht es bei allgemein-religiösen, konfessionslosen Werten aus? Als solche werden oft Ehrfurcht vor Leben, Menschenwürde und Humanität, Mitmenschlichkeit, Mitgefühl, gegenseitige Verantwortung u. ä. prädiziert. Wie kann man diese Werte allgemein-religiös und unabhängig von Religionen und Konfessionen deuten und begründen? Und was sind inter-religiöse Werte, die nicht nur kleinste gemeinsame Nenner aus allen Religionen darstellen sollen, sondern die in allen Religionen zentral und gleichermaßen vorzufinden sind? Sind es Werte wie Nicht-Schädigen (westlich: Gewaltlosigkeit), Wahrhaftigkeit (westlich: Toleranz), Ordnung (westlich: Solidarität) und Gleichheit (westlich: Gleichberechtigung), evtl. noch Reinheit o. ä.? Da ich, wie gesagt, vorrangig eine formale Ethik vertrete, suche ich im Folgenden nach dem spezifisch »Christlichen«, »Allgemein-religiösen« und »Interreligiösen« allein in der Deutung, Begründung und Prägung von Werten und nicht im konkreten Wertverhalten und Werthandeln. In diesem Sinn beschreibe ich die Entstehung christlicher, allgemein-religiöser und inter-religiöser Werte folgendermaßen: »Christliche« Wertungen erwachsen in der Regel aus christlichen Vorstellungen, Glaubenssätzen und Symbolen, – wie z. B. aus dem Glauben an die Gleichwertigkeit aller Kreaturen, was eine christliche Prägung der Werte Schöpfung, Schöpfungsbewahrung, Gleichheit, Gleichberechtigung, Toleranz,

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Verantwortung, Nächstenliebe, Feindesliebe u. a. zur Folge haben kann; oder aus dem Glauben an die Rechtfertigung und Erlösung der Menschheit, was eine christliche Begründung der Werte Hoffnung auf neues Leben, Befreiung, Freiheit, Frieden, Geborgenheit, Glück, Versöhnung, Vertrauen u. a. zur Folge haben kann; oder aus dem Glauben an das kommende Reich Gottes, was ein christliches Verständnis der Werte Gewaltlosigkeit, Pazifismus, schenkende Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit u. a. hervorbringen kann. »Allgemein-religiöse« Werte verdanken sich einer allgemein-religiösen, oft religionsphilosophischen Einstellung, die an keine Religion oder Konfession gebunden ist, in diesen aber vorkommen kann, – wie z. B. die Einstellung, dass alle Menschen einen Transzendenzbezug haben, was zu einer religiösen Prägung der Werte Ehrfurcht vor Leben, Menschenwürde, Mitmenschlichkeit, gegenseitige Verantwortung u. a. führen kann; oder die Einstellung, dass jeder Mensch vom Sein abhängig ist, was Werte wie Seinshaftigkeit, Endlichkeit, Unendlichkeit, Ewigkeit u. ä. allgemein-religiös deuten lässt; oder die Einstellung, dass es zum Wesen jedes Menschen gehört, einen Gott zu haben, was Werten wie Individualität, Abhängigkeit, Unabhängigkeit u. ä. ein allgemein-religiöses Gepräge geben kann. Und »inter-religiöse« Werte resultieren aus Glaubenssätzen, welche sich in allen großen Religionen finden lassen und welche Brücken zwischen diesen Religionen schlagen, – wie z. B. der Glaube, dass alles Leben geschaffenes Leben sei, was eine interreligiöse Prägung der Werte Nicht-Schädigen, Gewaltfreiheit, gegenseitige Achtung und (wieder) Ehrfurcht vor Leben zur Folge haben kann; oder der Glaube, dass Liebe und Gerechtigkeit ein Hauptmotiv aller Götter und Gottheiten seien, was zu einer interreligiösen Deutung von Mitleid, Mitgefühl, Solidarität, Nächstenliebe und sozialer Gerechtigkeit führen kann; oder der Glaube, dass Mann und Frau gleichwertig geschaffen sind, was Werte wie Partnerschaft, Achtung, Rücksicht, Toleranz, Liebe und Versöhnungsbereitschaft interreligiös fundieren kann. Christliche, allgemein-religiöse oder interreligiöse Werte erwachsen aus christlichen, allgemein-religiösen oder interreligiösen Wertungen, welche das gewertete Objekt und das wertende Subjekt möglicherweise – im Vergleich zum säkularen Status beider – verändern.

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3.

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Allgemeine Überlegungen zur Werte-Bildung und Werte-Erziehung

Ich beginne wieder mit allgemeinen Überlegungen zur Werte-Bildung und Werte-Erziehung.9 Werte-Bildung ist – im Sinne des o.g. Werte-Dreiecks – Wertungsbildung: Eine Person wertet z. B. eine Familie als harmonisch, sein Leben als toleranzwürdig etc. und realisiert bzw. bildet in seinem Bewusstsein (für sich) die Werte Harmonie und Toleranz. Solcher Wertungsakt entspricht dem Wesen von Bildung. Denn Bildung ist – darin sind sich trotz Differenzen alle Bildungstheoretiker einig – Selbstbildung, Selbstbewertung, Selbstbewusstwerdung, Selbstbestimmung, Selbstverantwortung, Selbstkonstitution und Selbstkonstruktion. Sie ist ein »Prozess des persönlichen Mündigwerdens« wie K. E. Nipkow definiert.10 Ihr Ziel ist »Befähigung zu vernünftiger Selbstbestimmung und Autonomie«, wie W. Klafki resümiert.11 Sie ist »Arbeit an unserem verschütteten Selbst« und »anschauende, grenzenlose Revolutionierung unserer selbst«, wie H. J. Heydorn treffend zusammenfasst.12 Sie soll dem Einzelnen helfen, sich in den Widersprüchen des Alltags zu verorten, sich zwischen Freiheit und Zwang zu behaupten und sich gegen Verzweckung, Verwertung und Instrumentalisierung aufzulehnen. »Bildung zielt auf eine Gegengesellschaft, um über sie neues Land zu finden.«13 Das alles ist auch Aufgabe und Ziel einer Werte-Bildung bzw. Wertungs-Bildung. Der Einzelne verifiziert im Wertungsakt für sich und sein Bewusstsein einen Wert und den Wert seiner Umwelt. Werte-Bildung ist, so möchte ich es zuspitzen, Selbstbildung. Und Selbst-Bildung ist Werte-Bildung. Hat das auch Folgen für die Werte-Erziehung? Werte-Erziehung – im Unterschied zur Werte-Bildung – möchte (1) andere motivieren und sensibilisieren, bedacht und überlegt im Alltag zu werten. Dazu geben Werte-Erzieher/innen ihren Educanden Wertmaßstäbe (wie frei, friedlich, harmonisch etc.) an die Hand, um mit diesen sensibel zu werten. Sie möchten sie zu »wertenden Subjekten« machen und insofern zur Selbstwertung und Selbstbildung animieren. Werte-Erziehung hat Werte-(Selbst-)Bildung zum Ziel. Ferner (2) möchten sie

9 Ich fasse mich hier kurz, weil ich an den angegebenen Orten bereits darüber geschrieben habe: bes. »Zum Verständnis von Werte-Erziehung: Aktuelle Modelle für die Schule«, im oben (Anm. 2) genannten »Handbuch Werte-Erziehung«, S. 32 – 40. Und: »Methoden des Friedenstiftens und der Friedenserziehung«, in: W. Haußmann, H. J. Biener, K. Hock, R. Mokrosch (Hg.): Handbuch Friedenserziehung, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2006, S. 210 – 215. 10 K.E. Nipkow: Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung, 1990, S. 35 f. 11 W. Klafli: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, 1985, 62007 S. 19 f. 12 H.J.Heydorn: Zu einer Neufassung des Bildungsbegriffs, 1972 S. 151.149. 13 So Heydorn a. a. O. S. 150.

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ihren Schülern/innen helfen, sich über ihre gegenwärtigen und zukünftigen Lebensziele bzw. Terminalen Werte bewusst zu werden und danach zu leben. Wenn z. B. Freundschaft ein Lebensziel ist, dann sollten sie Freundschaft pflegen. Wenn Gesundheit ihr Lebensziel ist, dann sollten sie auch danach leben; usw. Sie helfen ihnen, ihr eigenes Leben zu werten und wertvoll zu qualifizieren. Insofern dient auch dieser Aspekt der Werte-Erziehung allein der Werte-(Selbst-)Bildung. – Schließlich (3) möchten Werte-Erzieher/innen ihre Schüler/innen zur Realisierung der von ihnen geschätzten Alltagsstandards bzw. Instrumentellen Werte anleiten. Sie möchten ihnen helfen, in angemessener und nicht übertriebener oder untertriebener Weise z. B. Ordnung, Sauberkeit, Pflicht, Ehrgeiz, Vorsicht, Rücksicht, Verlässlichkeit, Pünktlichkeit und Ehrlichkeit zu praktizieren. Sie möchten ihnen helfen, ihr geschuldetes Alltagsverhalten sich selbst und ihrer Umwelt gegenüber zu werten und zu regeln. Wieder dient auch dieser Aspekt der Werte-Erziehung der Werte-(Selbst-)Bildung.

4.

Fachspezifische Überlegungen für christliche, allgemein-religiöse und inter-religiöse Werte-Bildung bzw. Werte-Erziehung

Werte-Erziehung dient also der Werte-(Selbst-)Bildung. Was bedeutet das für eine religiöse Werte-Bildung und Werte-Erziehung, – sei es in Gestalt einer christlichen, allgemein-religiösen oder inter-religiösen Werte-Erziehung und Werte-Bildung? Dient auch sie der Selbst-Bildung? Ja! Ohne Frage! Religiöse Werte-Erziehung mit den genannten drei Unterscheidungen ist Voraussetzung für religiöse Werte-Bildung als Selbst-Bildung mit ihren drei Unterscheidungen. D. h. religiöse Werte-Erzieher/innen sollen ihre Schüler/innen befähigen, auf der Grundlage ihrer jeweiligen religiösen Vorstellungen, Glaubensaussagen und Symbolen Wert-Urteile zu sprechen, ihre Umwelt und ihr Leben zu werten und religiöse Werte zu bilden und sich bewusst zu machen. Solche Werte-Erziehung muss einer religiösen Werte-(Selbst-)Bildung vorangehen. Sie soll religiöse Deutungs- und Wertungsfähigkeit als Selbstbildungsfähigkeit einüben. Wie aber sieht solche Werte-Erziehung und Werte-Bildung konkret aus? Geschieht sie – z. B. als christliche Werte-Bildung – durch Kommunikation des Evangeliums, wie Ulrich Kuhnke in diesem Band anschaulich darlegt?14 Oder durch religiöse Erlebnisse, religiöse Bildung oder religiöse Vorbilder? Oder durch spezifisch christliche Erlebnisse, Bildung und Vorbilder? Ich möchte dazu eine Unterrichtssequenz aus einem Grundkurs »Religion 12. Schuljahr« ge14 Vgl. den Aufsatz von Ulrich Kuhnke in diesem Band.

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dächtnismäßig wiedergeben, die ich während eines Referendariats meiner Studierenden im Gymnasium Osnabrück-Bad Iburg miterlebt habe:15 Die Religions-Referendarin Ursula H. hatte eine ökologische Interpretation des priesterschriftlichen 7-Tage-Schöpfungsberichtes vorgetragen. Sie schloss mit dem Aufruf: »So hat Gott Himmel, Luft, Wasser und Erde als Lebensräume für Vögel, Fische, Landtiere, Pflanzen und Menschen als Lebewesen geschaffen. Diese vier ökologischen Bereiche sollen wir ehren, bewahren und nicht antasten.« Und sie endete etwas pathetisch: »Wir sind Geschöpfe unter Geschöpfen in der Schöpfung und sollen die Schöpfung bewahren.« Heike, die gerade aus der Kirche ausgetreten war, protestierte: »Was Ihr Schöpfung nennt, ist ein Evolutions- und Mutationsprodukt. Nichts weist darauf hin, dass Natur Schöpfung und Naturschutz Schöpfungsbewahrung ist. Solche Wertungen sind unsinnig und unlogisch!« Bernd, der sich gerade für ein ökologisches Jahr nach dem Abi angemeldet hatte, kontert: »Ich habe mein 4-Wochen-Praktikum am Standort Noller Schlucht ›Ökologisches Lernen‹ absolviert. Ich sag Dir : Wenn man da mit dem Stereoskop in einen gluckernden Baumstamm hinein hört, wenn man tagelang Bienenstöcke beobachtet und wenn ich wochenlang das Leben in einem Bergfluss miterlebe, dann kann ich nur sagen: Das ist Schöpfung! Da ist ’ne göttliche Ordnung und ’n göttlicher Geist drin. Die Priesterschrift gibt das genau wieder. Bewahrung der Schöpfung – das ist für mich ’ne Lebensaufgabe und ein Lebensziel.« »Nenn’s Umweltschutz, kommt auf ’s gleiche drauf raus, ist aber ehrlicher«, murmelt Heike noch. – Ursula H. äußert sich wieder : »Man muss ja nicht an einen Schöpfer glauben. Aber Schöpfung gibt’s doch in allen, wirklich allen Religionen! Schöpfung heißt doch nur, dass wir nicht über die Natur verfügen!« Heike schüttelt ihr Haupt: »Schöpfung ohne Schöpfer ist wie ’n Mensch ohne Mutter. Gibt’s nicht!« – »Jetzt versteh‹ ich nichts mehr«, mischt sich Kathi ein. »Für mich ist der Glaube an meinen (!!) Schöpfer Voraussetzung für meinen Glauben an eine Schöpfung. Ohne Glauben gibt’s keine Schöpfung. Heike glaubt nichts, okay, ist ihr gutes Recht. Ich könnte ohne Glauben nicht leben.« Die Unterrichtsstunde verlief weiterhin kontrovers. Heike negierte aufgrund ihrer wissenschaftlichen Einsicht die Werte Schöpfer, Schöpfung und Schöpfungsbewahrung. Bernd war aufgrund von Naturerlebnissen, die offensichtlich religiöse Erlebnisse waren, zu den Werten Schöpfung und Schöpfungsbewahrung als persönlichem Lebensziel gekommen. Die Referendarin Ursula H. wollte von der anthropologischen Einsicht her, dass Natur unverfügbar und insofern Schöpfung sei, zu den Werten Schöpfung und Schöpfungsbewahrung gelangen.

15 Die folgende Unterrichtsbeobachtung entnehme ich meinem persönlichen Protokoll während meiner Unterrichtsvisitation am Gymnasium in Bad Iburg im Februar 2005.

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Und Kathi konnte sich nur vorstellen, vom Glauben an einen Schöpfer her zum Wert Schöpfung zu kommen. Welcher Weg ist der Königsweg christlicher, allgemein-religiöser oder interreligiöser Werte-Erziehung und Werte-(Selbst-)Bildung? Der Weg über Naturerlebnisse (Bernd), Glauben (Kathi), anthropologische Einsichten (Ursula H.) oder (in diesem Fall negativ) über wissenschaftliche Einsichten (Heike)? Die Antwort kann nur lauten: Jeder Weg ist akzeptabel und sollte sich nach den Bedürfnissen der Schüler/innen richten. Wichtig ist mir die Feststellung, dass Glaube keine Voraussetzung für religiöse, sei es christliche, allgemein-religiöse oder interreligiöse Wertebildung ist. Man kann auch über Alltagserfahrungen, die zu religiösen Erfahrungen werden, oder über Alltags-Bildung, die zu religiöser Bildung wird, zu christlichen, allgemein-religiösen oder interreligiösen Wertungen und Werten kommen. Glaube ist dann oft eine Folge und keine Voraussetzung solcher Wert-Einsichten. Bevor ich zu einem Schluss-Urteil komme, ob religiöse Werte-Bildung in Gestalt christlicher, allgemein-religiöser oder inter-religiöser Werte-Bildung möglich seien, möchte ich noch kurze Interviews wiedergeben, die ich mit einem Hindu-Priester und einem buddhistischen Mönch während meiner Gastprofessur im Februar-März 2012 in Indien (Kalkutta und Bangalore) geführt habe und die ich bei Gesprächen mit einem muslimischen Imam und einer christlichen Theologin in Osnabrück ergänzt habe. Es ging um die Frage, welche Werte im Hinduismus, Buddhismus, Islam und Christentum vorherrschen und wie sie begründet werden. Diese Interviews sollen mir noch einmal Auskunft geben, ob und wie eine speziell konfessionelle und eine speziell inter-religiöse Werte-Bildung aussehen könnten.16

5.

Was verstand mein hinduistischer, buddhistischer, muslimischer und christlicher Gesprächspartner/in unter Werte-Bildung?

Ich habe im Frühjahr und Sommer 2012 Interviews mit einem Hindu-KaliPriester in Kalkutta, mit einem buddhistischen Therevada-Mönch in Bangalore (jeweils auf Englisch), und mit einem muslimischen Imam und einer christli16 Ich bin mir bewusst, dass ich an dieser Stelle Interviews mit Vertretern/innen christlicher, allgemein-religiöser und inter-religiöser Werte-Bildung präsentieren müsste. Solche Vertreter/innen standen mir nicht zur Verfügung. Deshalb nutzte ich die Gelegenheit, bei meiner Gastprofessur in Indien Vertreter asiatischer Religionen nach ihrer Praxis der Werte-Bildung zu fragen und daraus Schlüsse zu ziehen, ob eine inter-religiöse und auch eine konfessionellreligiöse Werte-Bildung überhaupt möglich sind. Ein ausführliches Interview mit einem Juden konnte ich aus Platzgründen nicht mehr aufnehmen.

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chen Theologin in Osnabrück zu Fragen der Werte-Bildung in ihren Religionen geführt. Ich gebe sie hier anhand meiner Aufzeichnungen und meiner Erinnerungen wieder. An alle stellte ich die gleichen folgenden sechs Fragen: 1. Warum ist es Anhängern Ihrer Religion wichtig, Gutes zu tun? Und: Was sind Ihrem Verständnis nach gute Taten? 2. Gibt es in Ihrer Religion schriftlich oder mündlich überlieferte Gebote, die erfüllt werden sollten? 3. Was sind die typischen und spezifischen Werte Ihrer Religion? 4. Wie, wann und wo findet in Ihrer Religion Werte-Bildung statt? 5. Welche Rolle spielt in Ihrer Religion das Gewissen des Einzelnen und die Meinung der offiziellen Religionsvertreter? 6. Vertreten Sie eine materiale oder eine formale Ethik in Ihrer Religion?

(a)

Interview mit einem Hindu-Kali-Priester in Kalkutta

Am 3. Februar 2012 führte ich in Kalkutta/Indien (bei Gelegenheit meiner Gastprofessur am Bishop’s College/Serampor University) ein Interview im KaliTempel Dameshwar mit einem der Kali-Priester durch. Die Verbindung hatte mein Kollege, der Philosoph Dr. Chakrabarthi/Kalkutta, ermöglicht.17 Zur 1. Frage: Warum ist es wichtig, Gutes zu tun?: Wir tun gute Taten, weil unser Atman, d. h. unsere Seele, das Bedürfnis nach guten Taten hat. Niemand fordert uns dazu auf. Jede Seele will dem Mitmenschen Gutes tun, weil auch er eine Seele hat und ist. Und wir wollen alle eines Tages mit der Weltseele, dem Brahma, vereinigt werden. Deshalb tun wir automatisch (automatically) Gutes. Alle Taten sind für den höchsten Herrn, d. h. die höchste Seele, die Weltseele gedacht. Selbsterlösung nennen Sie das? Nein, das ist es nicht. Die Göttin Kali hilft uns dabei, aus Gnade. – Was gute Taten sind?: dem Bettler auf der Straße etwas geben, – wenn er nicht kommerzialisiert bettelt. Liebevoll mit Tieren und Pflanzen umgehen. Und in meiner Kaste entsprechend meinem Dharma zu leben.

17 Ich habe das Interview auf Englisch geführt. Der Hindu-Priester sprach gut, aber nicht bruchlos Englisch. Deshalb stand mir mein indischer Kollege Dr. Chakrabarthi mit entsprechenden Übersetzungen in Bengali, die Sprache West-Bengalens, bei. Eine Bestätigung für die Korrektheit dieses Interviews konnte ich leider nicht erwirken, da mir die MailAdresse des Hindu-Priesters fehlt. Ich bestätige aber hiermit, dass ich während des Interviews Protokoll geführt und nach bestem Gewissen den Inhalt (nicht den detaillierten Wortlaut) des Interviews hier auf Deutsch wiedergebe. Meine eigenen Fragen wiederhole ich hier im schriftlichen Interview nicht.

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Zur 2. Frage: Gibt es kodifizierte Gebote in Ihrer Religion?: Nein, schriftliche Gebotsreihen wie bei Ihnen im Christentum gibt es bei uns nicht. Ich als HinduPriester gebe keine Direktiven. Ich sage nicht: Du darfst kein Rindfleisch essen. Sondern jeder muss das selbst entscheiden. Und wenn er Rindfleisch isst, akzeptiere ich das. – Wir richten unser Verhalten aus an unserer Nähe zur Natur und zur Weltseele. Ob das Auswirkungen auf mein Karma hat? Das interessiert mich nicht. Ich bin nicht an den Früchten meines Tuns interessiert. Ich will Gutes tun der Natur und dem Mitmenschen zuliebe. Zur 3. Frage: Typische Werte in Ihrer Religion?: Typisch hinduistische Werte? Ja, »Niemanden schädigen«, »kein Fleisch essen«, »kein sexueller Missbrauch«, »echte Liebe zum Brahma«, »Ehrfurcht vor jedem Lebewesen«, »Toleranz gegenüber anderen Religionen und Kulturen«, »Bescheidenheit und Demut«, das sind spezifisch hinduistische Werte, die wohl für alle Hindu-Religionen gelten, für die Shiva-Anhänger genauso wie für die Kali-Anhänger. Zur 4. Frage: Werte-Bildung in Ihrer Religion?: Werte-Bildung? Das geschieht im Tempel! Religionsunterricht an Schulen haben wir ja nicht. Das wäre gar nicht möglich bei so vielen Religionen hier in Kalkutta und in Indien überhaupt. Wenn man in den Tempel kommt und Pujas (Gottesdienste) leistet, dann lernt und bildet man Werte. Jeder für sich. Er sieht, wie sich die anderen verhalten und macht dasselbe. Er weiß, dass die Blumen Werden und Vergehen bedeuten, dass wir mit den Holzstücken im Feuer (Holzverbrennung ist im Kali-Tempel ein besonderes Opfer) sparsam umgehen müssen und dass wir eine Zuneigung zu allen Menschen haben. So verhält er sich dann hoffentlich auch außerhalb des Tempels. – Zu unseren Werten kommen wir aus der Erkenntnis, dass wir bald sterben müssen und dass wir endlich und nicht unendlich sind. Außerdem bringt Leid viel neue Erkenntnis. Zur 5. Frage: Welche Rolle spielt das Gewissen des Einzelnen?: Für »Gewissen« haben wir auf Bengal gar kein Wort wie im Englischen »conscience«. Aber im Kali-Glauben ist jeder für sich selbst verantwortlich. Sie sehen ja: Jeder betet hier im Tempel für sich allein. Eine Gemeinschaft wie Kirche im Christentum oder umma im Islam gibt es bei uns nicht. Jeder muss selbst entscheiden, was er tut. Dabei helfen ihm bestimmt andere. Zur 6. Frage: Materiale oder formale Ethik?: Ja, also mit materialer Ethik meinen Sie, dass unsere Hindu-Werte inhaltlich etwas anderes sind als NichtHindu-Werte? Und mit formaler Ethik meinen Sie, dass unsere Ethik sich nur durch die Begründung von anderen unterscheidet? Also dazu sage ich: Unsere Werte des Nicht-Schädigens und der Ehrfurcht vor Leben kommen natürlich auch in anderen Religionen vor, aber wenn wir sie mit Atman (Einzelseele) und Brahma (Weltseele) begründen, dann sind sie doch etwas Besonderes. Nein, ich glaub schon, dass wir Hindus eine andere Ethik haben als Christen, Juden und Muslime. Das sieht man doch auch daran, dass manche von deren Religions-

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führern Gewalt und Krieg direkt befohlen haben, z. B. in Srebrenica und im Irak. Das wäre bei uns nicht möglich, im Namen der Religion Krieg zu führen! Viele Hindus führen zwar Krieg, – aber nicht im Namen ihrer Religion. Was versteht der Kali-Priester unter Werte-Bildung? Seiner Meinung nach gibt es spezifisch hinduistische Werte, die durch religiöse Praxis und religiöse Vorbilder ›eingeübt‹ werden. Bildung spielt dabei keine explizite, sondern implizite Rolle. Es sind überlieferte Werte, die der Gläubige im religiösen Akt sich ins Bewusstsein bringt und die er (hoffentlich) auch in seinem Alltag praktiziert. Entscheidend ist der hinduistische Hintergrund: Die Einzelseele strebt danach, mit den Seelen der Mitmenschen und mit der Weltseele verbunden zu werden und tut deshalb ›automatisch‹ Gutes und Wertvolles. – Der Kali-Priester war bereit, ethisch mit Christen und Muslimen zusammen zu arbeiten, aber er bestand darauf, dass sein Glaubenshintergrund, das Verhältnis zwischen Atman und Brahma, bestehen bleiben muss.

(b)

Interview mit einem buddhistischen Mönch in Bangalore

Im Maha Bodhy Society Kloster im Gandhi Nagar von Bangalore/Indien führte ich am 8. März 2012 ein Interview mit dem Mönch Bhante Vinaya Rakkhita durch:18 Zur 1. Frage: Warum ist es wichtig, Gutes zu tun?: Entscheidend sind gute Handlungen, die ihrerseits gute Gedanken voraussetzen. Zuerst lernen wir Buddhisten fünf »Deserving Silas«, in denen wir einüben, Böses und Schädliches zu vermeiden: »Du sollst nicht…« etc. (Er wiederholte die bekannten Silas nicht, nämlich: Kein Lebewesen töten/ Nichts nehmen oder gar stehlen, sondern nur empfangen/ Keine sinnlichen Handlungen/ Nicht lügen/ Keine Rauschmittel/ zusätzlich: Kein Tanz, Musik, Gesang, Theater/ Keine weichen Betten/ kein Essen nach 12.00 Uhr) Das ist eine Moral des Verzichts, eine negative Moral. Danach lernen wir, Liebestaten auszuüben in fünf »Charity Silas«, das ist eine positive Moral. »Du sollst…, Du solltest…«. (Er nannte auch diese nicht, nämlich: Achtung vor Leben/ Genügsamkeit + Solidarität/ Sexuelle Verantwortung/ Aufmerksames Zuhören/ Achtsamer Konsum) – Wir tun das, weil wir Ehrfurcht vor jedem Leben haben und Leben erhalten und bewahren wollen. Diese zehn Silas sind keine Gebote, sondern soziale Lebensordnungen. Ihre Einhaltung bringt kein positives karma, aber ihre Missachtung bringt negatives karma. Dazu 18 Ich führte das Gespräch auf Englisch, weil mein Gesprächspartner, der buddhistische Mönch Vinaya Rakkhita ([email protected]) bestens Englisch beherrschte. Ich habe ihm am 9. September 2012 das Interview auf Englisch (s. Anhang) zugesandt und er bestätigte mir am 11. September, dass das Interview unserem Original-Gespräch entsprechen würde.

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kommt der acht-fache Pfad, der ja bekannt ist (Rechte Einsicht, rechte Rede, rechtes Verhalten, rechter Entschluss, Recht leben, rechte Anstrengung, rechtes Bewusstsein, rechte Meditation). Zur 2. Frage: Gibt es kodifizierte Gebote in Ihrer Religion?: Das sind, wie gesagt, keine Gebote, sondern Lebensordnungen. Ja, sie stammen von Buddha selbst. Aber sie müssen von innen aus der Seele kommen. Sie dürfen nicht von außen gefordert werden. Wir Buddhisten legen höchsten Wert auf selbst auferlegte Disziplin. Zur 3. Frage: Typische Werte in Ihrer Religion?: Ja, die 10 Silas und der achtfache Pfad! Das sind unsere buddhistischen Werte. Aber diese Werte kommen natürlich auch in anderen Religionen und auch bei Nicht-Religiösen vor. Das Besondere ist nur, dass wir erwarten, dass ihre Erfüllung aus innerem Antrieb heraus geschieht und nicht, weil ein Gott sie einfordert. Wir haben ja auch niemanden, der die Erfüllung dieser Silas belohnt oder ihre Nicht-Erfüllung bestraft. Zur 4. Frage: Werte-Bildung in Ihrer Religion?: Die Silas, die Werte werden durch Meditation und strenge Selbstdisziplin, am besten im Kloster, eingeübt und im Bewusstsein und Verhalten gebildet. Eine göttliche Hilfe gibt es dabei nicht. Jeder muss sich selbst disziplinieren, – durch sein Selbst und für sein Selbst. Das moralische Bewusstsein muss von innen kommen. Wenn das geschieht, dann erhält die ganze Umwelt des Menschen einen neuen Glanz! Er macht seine Mitmenschen gut. Er verleiht allen Lebewesen Liebe. Zur 5. Frage: Welche Rolle spielt das Gewissen des Einzelnen?: Es gilt allein das Gewissen des Einzelnen. Ein Lehramt oder eine ethische Kontrollkommission gibt es bei uns nicht. Wenn jemand die 10 Silas einhält, dann geht er den Weg des liebevollen Gewissens. Zur 6. Frage: Materiale oder formale Ethik?: Wenn der Unterschied so ist, wie Sie ihn beschreiben, dann vertreten wir klar eine materiale Ethik. Begründungen und Erklärungen für gutes Verhalten (vocal actions) sind uns nicht wichtig. Uns geht es um das gute Verhalten selbst (physical actions). Wie gesagt: Wir unterscheiden uns in unserer Ethik nicht von anderen Religionen oder Weltanschauungen. Aber wir nehmen unsere Ethik radikal ernst, vielleicht ernster als viele andere! – Ob wir zur Zusammenarbeit mit anderen Religionen bereit sind? Sofort! Aber unter der Bedingung, dass nicht über Dogmen oder Theologie, sondern über Ethik und Moral geredet und gestritten wird. Was versteht Bhante unter Werte-Bildung? Er meint damit normale Werte des alltäglichen Zusammenlebens, die durch Meditation, Askese und Kloster-Leben ins Bewusstsein gebracht und im Verhalten praktiziert werden. Einen religiösen Hintergrund für die Werte selbst und für ihre Bildung im Bewusstsein und Verhalten hat er nicht genannt. Er nannte allein die Liebe zur Menschheit, die ihn zur Einhaltung der Silas/Werte bewegt. Kein göttliches Gebot und keine Be-

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lohnung oder Sanktionierung spielen eine Rolle. – Freilich könnte man sagen, dass der Versuch, An-Atta (Nicht-Ich) zu werden, also sein Ich aufzugeben und abzugeben, im Buddhismus der Antriebsmotor für die Erfüllung der Silas/Werte ist. Aber das hat Bhante nicht erwähnt. – Bedeutsam erscheint mir noch, dass er betont, dass für den, der die Silas/Werte erfüllt hat, die Welt einen anderen Glanz erhält. Er hat dann seine Objektwelt mit positiven Werten besetzt und sie damit »wertvoll« gemacht. – Für eine Zusammenarbeit mit Angehörigen anderer Religionen ist er sofort bereit, aber unter der Voraussetzung, dass nicht über Dogmen oder theologische Hintergründe, sondern allein über den rechten ethischen Weg geredet und gestritten wird.

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Interview mit einem Imam in Osnabrück

Nach meiner Rückkehr von der Gastprofessur in Indien führte ich im Institut für Islamische Theologie an meiner Universität Osnabrück am 5. Juni 2012 mit dem Imam, islamischen Rechtsgelehrten und Dozenten Esnaf Begic ein Gespräch zu den anstehenden sechs Fragen:19 Zur 1. Frage: Warum ist es wichtig, Gutes zu tun?: Warum wir Gutes tun wollen? Weil Allah das von uns fordert. Aber das genügt freilich nicht. Ethik ist mehr als Gesetz und Gebot. Nach muslimischem Verständnis gibt es drei Stufen auf dem Weg zur Ethik: Die 1. Stufe ist die Gebetspraxis; die 2. Stufe ist die des Glaubens und des gläubigen Muslim; und die 3. Stufe ist die ethische Stufe: man wird ein Ihsan, d. h. ein »Ethiker«; man versucht, durch gute Taten Vollkommenheit zu erreichen. Die guten Taten gehen aus Glauben hervor. Glaube ist Voraussetzung für gute Taten. Wer wirklich glaubt, tut Gutes und unterlässt Böses. Zur 2. Frage: Gibt es kodifizierte Gebote in Ihrer Religion?: Ja, in der Sure »Nachtwache« des Qur’an steht eine Art Dekalog: Nächstenliebe, Nicht-Töten, kein Ehe-Bruch u. a. werden dort genannt. Außerdem enthält die prophetische Tradition in der Sunna viele Verhaltensvorschläge; z. B. niemand soll sich gesättigt ins Bett legen, wenn sein Nachbar hungert. Der Prophet ist dabei das entscheidende Vorbild. Wenn man ihn imitiert, wird eine Handlung gut und gottwohlgefällig. Zur 3. Frage: Typische Werte in Ihrer Religion?: Typisch muslimische Werte? Gerechtigkeit und Barmherzigkeit spielen eine riesengroße Rolle, weil Allah in jeder Sure als Allerbarmer und Gerechter betitelt wird. Deshalb endet auch jede Freitagspredigt mit dem Aufruf: Seid gerecht und barmherzig, wie Allah gerecht 19 Esnaf Begic ([email protected]) hat mir am 12. September 2012 bestätigt, dass der vorstehende Interview-Text unser Gespräch sachgemäß wiedergibt.

Religiöse Werte-Bildung im Pluralismus der Religionen?

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und barmherzig ist. Das muss dann bis zum nächsten Freitag reichen. Ob Menschen göttliche Gerechtigkeit praktizieren können? Nein, sicherlich nicht vollkommen; aber sie sollen sich bemühen, so weit wie möglich göttliche Gerechtigkeit zu praktizieren. – Außerdem gibt es fünf islamische Grundwerte: Recht auf Familie, auf Besitz, auf Vernunft, auf Religionsausübung und auf Leben. Zur 4. Frage: Werte-Bildung in Ihrer Religion?: Werte-Bildung? In der Qur’anSchule lernen die Kinder die Gebote kennen. Und dann sollen sie, wie gesagt, den Weg der drei Stufen gehen: Regelmäßig beten; dann wirklich glauben lernen; und schließlich im Alltag Gutes tun. Sie sollen gerecht und barmherzig sein und sich immer an Allahs Gerechtigkeit und Barmherzigkeit erinnern. Und dann sollen sie die Rechte der anderen Menschen respektieren. Also: Durch Lernen, Beten und alltägliches Verhalten sollen sie Werte bilden. Zur 5. Frage: Welche Rolle spielt das Gewissen des Einzelnen?: Gewissen spielt im Islam eine große Rolle. Jeder Mensch führt einen Kampf zwischen Gewissen und Trieben. Das ist ja der große Djihad: der Kampf gegen sich selbst, gegen die eigene Feindseligkeit, Gewaltbereitschaft, Habgier und Unwahrhaftigkeit. Dieser Kampf gegen sich selbst basiert auf dem Gedanken, dass Allah der Ursprung alles Guten ist. – Ob sich das einzelne Gewissen auch gegen eine Fatwa auflehnen kann? Natürlich! Eine Fatwa ist ein zeitbedingtes und oft fehlerhaftes Rechtsgutachten, das keinen Anspruch auf absolute Richtigkeit erheben kann. Rechtsgelehrte können zu verschiedenen Urteilen zu ein und derselben Frage kommen. Deshalb darf auch der einzelne Gläubige zu einem anderen Urteil kommen als die Rechtsgelehrten. Zur 6. Frage: Materiale oder formale Ethik?: Materiale oder formale Ethik? Das ist schwierig. Ich glaube, wir tendieren zu einer materialen Ethik. Denn wenn z. B. Eheleute glauben, dass ihre Ehe ihren Ursprung in Allah hat, dann hat diese Ehe in der Regel einen festeren Grund als die Ehe z. B. von Humanisten. Wenn ich glaube, dass mein Handeln seinen Ursprung in Allah als dem Ursprung des Guten hat, dann ist es beständiger, sicherer und gewisser als ein rein humanistisch begründetes sittliches Handeln. Ja, ich glaube, dass eine muslimische Moral auch inhaltlich etwas anderes darstellt als eine z. B. humanistische Moral. Was versteht Imam und Wissenschaftler Begic unter Werte-Bildung? Er fordert dazu auf, die Werte Allahs und die des Propheten, nämlich göttliche Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, zu lernen, im Bewusstsein zu bilden und im Alltag zu praktizieren. Es geht dabei um überlieferte islamische Werte und nicht um Werte, welche Muslime selbst wählen und individuell-subjektiv bilden. Und das jeweilige Wertverhalten, das diesen Werten zugrunde liegen soll, ist auch überliefert. Heranwachsende Muslime sollen das in Qur’an und Sunna Überlieferte sich aneignen und praktizieren. – Dazu führen sie täglich einen Kampf

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gegen die eigenen Gewalttriebe durch, einen sog. großen djihad. Diesen können sie nur mit Allahs Geist und Hilfe bestehen. – Entsprechend dem Konzept, dass Muslime Werte aus ihrer islamischen Tradition übernehmen und praktizieren, vertritt Esnaf Begic die Meinung, dass die islamischen Werte und islamisches Wertverhalten inhaltlich anders, ja besser strukturiert sei als ein säkular-humanistisches Wertverhalten. Er vertrat eine materiale Wert-Ethik.

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Interview mit einer christlichen Theologin in Osnabrück

Am 11. September 2012 führte ich mit einer christlichen Theologin ein Gespräch über die sechs Fragen:20 Zur 1. Frage: Warum ist es wichtig, Gutes zu tun? Weil Gott uns liebt, lieben auch wir uns und unsere Mitmenschen. Das Doppelgebot der Liebe ist für uns Christen entscheidend. Aber wir möchten dieses Gebot nicht nur erfüllen, weil es geboten ist, sondern weil wir Gottes vorgängige Liebe und Befreiung spüren und erfahren. Gottes vergebende Liebe ist eine Gabe; und aus diesem wunderbaren Gefühl folgt unsere Aufgabe, uns auch untereinander zu vergeben und zu lieben. Das schriftliche Gebot der Doppelliebe ist nur eine Verankerung dieser Erfahrung der Zusage Gottes. – »Gute Taten« sind Werke der Barmherzigkeit und Diakonie; elementare Bedürfnisse für Notleidende befriedigen; freilich sind solche Bedürfnisse meistens schon staatlich gesichert; deshalb geht es um Seelsorge in Lebenskrisen, um Trost spenden bei Krankheit und Tod. Zur 2. Frage: Gibt es kodifizierte Gebote in Ihrer Religion? Ja, natürlich. Der Dekalog in der Hebräischen Bibel beginnt mit der Zusage »Ich bin der Herr, Dein Gott«. Daraus entspringen alle Verhaltensweisen für ein sinngebendes Leben der Menschen untereinander. Es geht um keine heteronomen Weisungen von Gott, die erfüllt werden müssen, weil Gott es eben fordert, sondern um segensreiche und befreiende Folgerungen aus der Gottesliebe. Deshalb sollten die Gebote auch nicht übersetzt werden »Du sollst nicht (z. B.) töten«, sondern: »Du wirst nicht töten«. Wir möchten diese Gebote, wie Luther sagt, ›sua sponte‹, d. h. selbstverständlich, fast ›automatisch‹ erfüllen. Die Gottesbeziehung ist das Fundament für die Beziehung der Menschen untereinander. – Auch die Bergpredigt im Neuen Testament ist eine wichtige Weisung für Christen. Ob sie realisierbar ist? Sie ist das Ergebnis eines radikalen Zu-Ende-Denkens einer Beziehung, die den anderen meint und ernst nimmt. Feindesliebe ist radikalisierte Nächstenliebe. »Zu-Ende-Denken« heißt auch zu bedenken, dass Menschen, die Böses tun, oft Leidvolles erfahren haben und böse geworden sind, im 20 Meine Interview-Partnerin Prof. Dr. Elisabeth Naurath bestätigte mir im Oktober 2012, dass sie mit der folgenden Zusammenfassung unseres Gespräches einverstanden sei.

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Inneren aber noch Gutes in sich tragen. So haben auch Feinde oft etwas Freundliches in sich, einfach weil sie Menschen sind. Ja, Feindesliebe ist das ZuEnde-Denken von Nächstenliebe. – Ob das spezifisch christlich ist? Da alle Religionen die Vorstellung haben, dass Menschen Geschöpfe Gottes sind, verbindet Nächsten-, ja Feindesliebe alle Religionen. Zur 3. Frage: Typische Werte in Ihrer Religion? Spezifisch christliche Werte sind Liebe, Nächstenliebe, Schöpfung und Schöpfungsverantwortung, Frieden und Gerechtigkeit. Zur 4. Frage: Werte-Bildung in Ihrer Religion? Christliche Werte-Bildung findet statt in der Kind-Eltern-Beziehung, in der Familien- und Elternbildung, in Kindertagesstätten, Religionsunterricht und Kirchen-Gemeindearbeit. Ich möchte unterscheiden zwischen impliziter und expliziter Werte-Bildung. Implizit findet christliche Werte-Bildung statt, wenn christlicher Glauben auch nicht expressis verbis gelebt wird; explizite christliche Werte-Bildung geht speziell vom christlichen Bekenntnis aus. Heute wird auch großer Wert gelegt auf implizite christliche Werte-Bildung. Zur 5. Frage: Welche Rolle spielt das Gewissen des Einzelnen? Jeder Gläubige muss für sich entscheiden, welche Rolle sein Gewissen für ihn spielen soll. Ich selbst unterscheide zwischen moralisch-konventionellen und individuell-ethischen Entscheidungen. Moralische Konventionen müssen nicht immer mit meinem persönlichen Gewissen übereinstimmen. Mein Gewissen ist der Ort meiner Gottesbeziehung, der mit meiner Seele verbunden ist; und im Gewissen möchte ich so leben, dass es meiner Gottesbeziehung entspricht. Also spielt mein Gewissen bei ganz persönlichen Entscheidungen eine große Rolle, weniger bei konventionellen Entscheidungen. – Welche Rolle die Verlautbarungen von Kirchen und »Kirchenfürsten« spielen? Die sollen Anregungen zum Diskurs sein. Die Kirchen sollen sich zu gesellschaftlichen Fragen äußern. Aber das sind für mich nur Anregungen, die diskutiert werden müssen. Sie sind auch nicht als starr zu verstehen, sondern können sich ändern. Der Christ in seiner christlichen Freiheit muss eigenständig entscheiden. Zur 6. Frage: Materiale oder formale Ethik? Ich habe formale Ethik so verstanden, dass sie nach Grundlagen einer Ethik fragt. Und materiale Ethik verstehe ich so, dass gefragt wird, wie ich diese Grundlagen in konkrete Konflikte hineinbuchstabieren kann. Unterschiede zwischen den Religionen finden sich aber sicherlich besonders in der formalen und weniger in der materialen Ethik. Für Christen ist wichtig zu wissen, dass sie nicht alles erreichen können und dass Gott noch andere Möglichkeiten hat. Christen sind nicht ins Gelingen verliebt. Sie handeln nach Überzeugung, sind aber nicht vom Gelingen abhängig. Mein Leistungsvermögen entscheidet nicht. Wie begründet E. Naurath Wertverhalten und Werte-Bildung aus christlicher Sicht? Immer wieder appelliert sie an das Dreieck: Weil Gott uns liebt und hilft,

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Reinhold Mokrosch

sollen auch wir unsere Mitmenschen lieben und ihnen in Lebenskrisen helfen. Deshalb seien überlieferte Ge- und Verbote keine Fremdbestimmung, sondern entsprächen ›sua sponte‹ dem Wesen des christlichen Glaubens. Wer sich von Gott geliebt, gehalten und begleitet fühlt, der liebt, hält und begleitet seine Mitmenschen und »wird« nicht töten, stehlen, Ehe brechen und lügen. Deshalb hat christliche Werte-Bildung für sie eine doppelte Aufgabe: Sie soll zum einen anleiten, göttliches Geliebt- und Gehaltenwerden wahrzunehmen, und zum anderen helfen, die Liebe ›sua sponte‹ weiterzugeben. ›Sua sponte‹? Wieso bedarf es noch einer Bildung und Erziehung, wenn gute Werke ›automatisch‹ aus dem Glauben folgen? Für Elisabeth N. ist deshalb Werte-Bildung eher eine christliche Werte-Begleitung, die allerdings bildender Impulse bedarf. Christliche Werte-Bildung ist für sie ein subjektiver Prozess im Bewusstsein des Individuums, der von Werte-Bildnern/innen im Kontext von Kirche, Schule und Gesellschaft begleitet werden soll.

6.

Ist religiöse Werte-Bildung, sei es in Gestalt christlicher, allgemein-religiöser oder inter-religiöser Werte-Bildung, möglich?

Schluss-Überlegungen Die vier Interviews haben gezeigt, dass mein Konzept einer subjektiven, prozessorientierten Wertungs-Ethik von manchen konfessionell-religiösen Werterziehern/innen wahrscheinlich nicht übernommen werden wird. Es geht ihnen vielmehr darum, die Werte ihrer religiösen Tradition an die nächste Generation weiterzugeben. Denn diese Werte sind für sie in der Regel inhaltlich klar gefüllt und definiert: Was z. B. Nicht-Schädigen, Gewaltfreiheit (außer Selbstverteidigung), Nächstenliebe, Gerechtigkeit aus Barmherzigkeit, Djihad usw. heißt, ist ihnen in der Regel klar und eindeutig. Diese Werte müssen nur angenommen, nicht aber im Sinne eines Wertungsdreiecks oder gar im Gewissen (als Ort der Gottesbeziehung) neu gebildet werden. Besonders im Islam scheint es mir um solche Übernahme islamisch tradierter Werte und tradierten Wertverhaltens zu gehen. Und auch das Interview mit dem Hindu-Priester deutete darauf hin, dass es auch ihm um die Übernahme tradierter hinduistischer Wertvorstellungen geht. Während es bei dem buddhistischen Mönch und bei der christlichen Theologin so aussah, dass beide auf den präsentischen Wertungsakt des Einzelnen großen Wert legen. Für die christliche Theologin spielt bei sehr persönlichen Wert-Entscheidungen das Gewissen eine große Rolle. Und christliche

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Werte bilden sich nach ihrem Glauben auf der Grundlage der erfahrenen Zusage und Liebe Gottes. Das bedeutet, dass religiöse Werte-Bildung nur von zwei der vier Interviewpartner im Sinne meines anvisierten Wertungsdreiecks praktiziert wird. Das ist eine m. E. zu geringe Zahl. Der alte Vorwurf bestätigt sich, dass manche konfessionell- religiöse Werte-Bildner/innen die Werte ihrer Religion vor allem deshalb weiter geben, weil sie den Wert der Tradition sehr hoch schätzen und weil sie meinen, dass Gott diese Tradition in konkreten Ge- und Verboten eingefordert hat und immer wieder einfordert. Auch sie müssten m. E. angeleitet werden, ihre traditionellen religiösen Werte wirklich selbst zu wählen, selbst zu bilden, selbst zu verifizieren und selbst zu realisieren, damit sie ihre Schüler und Schülerinnen auch zu solchen eigenständigen Wertungsakten motivieren können. Mein Schluss-Ergebnis lautet also: Christliche, muslimische, hinduistische, buddhistische und damit interreligiöse Werte-Bildung im Sinne meines Wertungsdreiecks (und nur solche Wertungs-Bildung ist für mich wirklich WerteBildung!) ist zwar möglich. Ob sie aber gewünscht wird, scheint mir fraglich. Nichtsdestotrotz möchte ich aber alle religionsorientierten Werte-Bildner/innen auffordern, sich dieser Art der Wertungsbildung anzuschließen, damit ihre Schüler und Schülerinnen religiöse und inter-religiöse Werte wirklich »bilden« und nicht nur übernehmen.

Susanne Müller-Using

Die Bedeutung der Werte-Bildung für die Professionalisierung angehender LehrerInnen

Die Werte-Bildung und das LehrerIn-Sein Pädagoginnen und Pädagogen sowie die pädagogisch ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrer stehen unter einem hohen gesellschaftlichen Erwartungsdruck: Mit Blick auf die Zukunft der heranwachsenden Generationen und die Sicherung eines friedlichen gesellschaftlichen Fortbestands in der demokratischen Gesellschaft erwartet man von ihnen, dass sie die Kinder und Jugendlichen in die gesellschaftliche Kultur von heute und ihre relevanten Techniken einführen sowie auf die Anforderungen von Morgen vorbereiten. Sie sollen den Heranwachsenden die dafür relevanten Bildungsinhalte nahe bringen und sicherstellen, dass dies auf einer gemeinsam geteilten demokratischen Wertgrundlage1 geschieht, die den Zusammenhalt in der Gesellschaft erhält, sicherstellt und weiterhin befördert. In so einem genuin pädagogischen Aufgaben- und Anforderungsgeflecht, welches sich zum einen aus den vielfältigen Bedarfen unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessensgruppen speist (Eltern und Großeltern, Politiker/Parteien, Verbände, Unternehmen, Hochschulen und natürlich auch die Schulen selbst etc.) und sich zum anderen aus den entwicklungsbedingten sowie individuellen Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen selbst ergibt, ist die Rolle der Pädagogik auch eine orientierungsstiftende (Pädagoge=Knabenführer) sowie eine zwischen den unterschiedlichen, oben genannten Ansprüchen und Bedürfnissen vermittelnde. Als solche gilt es für ihre VertreterInnen als PädagogInnen bzw. pädagogisch Ausgebildete, immer wieder und aufs Neue einen Balanceakt zu vollziehen, der wahrscheinlich auch mit einer Kunst zu verglei1 Als gemeinsame, demokratische Wertgrundlage werden hier die Werte bezeichnet, die als Grundrechte im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verankert sind (http:// www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/gg/gesamt.pdf, letzter Zugriff am 22. 6. 2012) sowie auf europäischer Ebene, die im Vertrag über die Europäische Union (Lissabon 2007) sowie die Charta der europäischen Union festgeschriebenen Werte und Grundrechte.(http://europa.eu/ lisbon_treaty/glance/index_de.htm, letzter Zugriff am 22. 6. 2012).

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Susanne Müller-Using

chen ist, nämlich der Kunst, den Kindern und Jugendlichen relevante, wissenschaftlich gesicherte Bildungsinhalte zu eröffnen, ihnen die für sie darin enthaltenen Handlungsmöglichkeiten erkennbar zu machen, im gesellschaftlichen Sinne positiv auf das Verhalten und die Verhaltensdispositionen von Kindern und Jugendlichen einzuwirken und ihnen Begrenzungen aufzuzeigen, an denen sich ihre Persönlichkeit schärfen kann, ohne dabei die eigentliche Potenzialentfaltung zu behindern. Dies immer wieder und täglich neu zu leisten und in ein förderliches Verhältnis zu setzen, ist eine pädagogische Kunst, die in früheren Tagen auch als Erziehungskunst2 bezeichnet wurde. Eine für pädagogisches Handeln und dadurch initiierte Bildungsprozesse maßgebliche Frage ist dabei, auf welcher Wertgrundlage das pädagogische Handeln vollzogen wird bzw. vollzogen werden kann und mit welchen Zielen/Intentionen es geschieht. Pädagogisch ausgerichtetes Handeln ist immer auch erzieherisches Handeln und Erziehungsstile sowie das konkrete Erziehungsverhalten orientieren sich meist an den normativen Wertgrundlagen des sozio-kulturellen Kontextes. Im soziokulturellen Kontext der Bundesrepublik Deutschland gilt das Grundgesetz und die darin enthaltenen menschlichen Grundrechte als allgemeine und für alle Staatsbürger verbindlich anzuerkennende Wertgrundlage. Doch wie bewusst ist angehenden und auch ausgebildeten LehrerInnen eigentlich diese Wertgrundlage? Welchen Stellenwert nimmt sie in den erziehungswissenschaftlichen Diskussionen und damit auch in der erziehungswissenschaftlichen Lehrerausbildung ein? Ist die Auseinandersetzung mit und pädagogische Übersetzung von diesen orientierungsstiftenden, ja maßgeblichen Werten in einem ausreichenden Maß vorgesehen? Sind LehrerInnen in Werten tatsächlich gebildet? Festzuhalten ist, dass für eine gelingende Werte-Bildung in Schulen die LehrerInnen in Werten gebildet sein müssten. Das folgende Zitat stammt aus einem Interview mit einer Klassenlehrerin der 2. Klasse Grundschule, welches im Rahmen der ethnografischen Vergleichsstudie »Ethos und Schulqualität3« geführt wurde. Im Fokus des Interviews standen pädagogisch-ethische Aspekte im professionellen Umgang mit den SchülerInnen:

2 In der Enzyklopädie Der Kleine Brockhaus von 1962 wird Pädagogik noch allgemein mit Erziehungskunst übersetzt. 3 Susanne Müller-Using, Ethos und Schulqualität. Pädagogisch-ethische Aspekte im professionellen Umgang mit SchülerInnen in Dänemark, Finnland und Deutschland, Opladen & Farmington Hills 2010.

Die Bedeutung der Werte-Bildung

Wie ist Vertrauen in der Lehrer-Schüler-Beziehung herzustellen und welche Möglichkeiten haben sie dafür? Das ist halt ein ganz langer Prozess. Manche Kinder fassen schneller Vertrauen, die haben schon am ersten Tag Vertrauen und andere Kinder brauchen da halt etwas länger Zeit zu. Und dann muss man zusehen, dass man das Vertrauen, wenn es denn dann irgendwann mal da ist, nicht enttäuscht, weil dann die ganze Arbeit, die vorher gewesen ist, umsonst ist. Hm und was tun Sie, um das Vertrauen zu gewinnen? Äh… Oder was zählt für Sie dazu? Durch Spiele kann man unter anderem Vertrauen gewinnen. Dann fängt’s ja schon im Kleinen an, dass man anderen Leuten halt vertraut, wenn wir jetzt zum Beispiel Däumchen drücken oder so was spielen, dass da kein Schabernack gemacht wird, dass halt in der Zeit die Sachen in Ruhe gelassen werden oder dass äh man halt darauf vertrauen kann -blödes Beispiel-, dass einem nicht auf den Kopf gehauen wird, sondern dass halt nur der Daumen runter gedrückt wird. Das sind dann halt schon so ne kleine Vertrauenssachen. Und dadurch wächst das dann. Also quasi dadurch, dass Sie Sicherheit herstellen? Ja klar, sicher. Gibt es noch andere Aspekte, die vielleicht in Richtung Werte-Bildung gehen, die Ihnen wichtig sind und die Sie den Schülerinnen vermitteln oder auch in Ihrem Unterricht lebendig halten möchten? Gibt es neben Vertrauen noch andere Werte, die Sie nennen können? Was meinen Sie mit Werten jetzt genau? Vielleicht Fairness? Okay, ja klar. Das ja zählt halt alles mit rein, ne? Was fällt mir da noch ein… so um es zu benennen… Man ist das gar nicht so gewöhnt zu benennen … Nee, man ist es ganz automatisch gewohnt, dass man darauf achtet. Wenn Ihnen spontan noch etwas einfällt, können Sie es noch sagen … Können wir die Frage vielleicht zurückstellen? Da fällt mir so spontan nichts ein.

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(sprachlich überarbeiteter Auszug aus einem Interview mit einer Klassenlehrerin der 2. Grundschulklasse.)4 Was in diesem Interviewausschnitt zunächst auffällt, ist, dass die vertrauensbildenden Maßnahmen in der Klasse überhaupt nicht auf die eigene Person und damit auf eine von der Lehrkraft verantwortlich gestaltete LehrerInnen-SchülerInnen-Beziehung bezogen werden.5 Die eigene Rolle wird in den Aussagen (auch später) nicht reflektiert. Als vertrauensbildende Maßnahmen werden hingegen das Einhalten von Regeln und die Wahrung von Persönlichkeitsrechten der SchülerInnen untereinander, während des Spielens genannt. Auch große Unsicherheit kommt zum Ausdruck, als die LehrerIn weiter darüber berichten soll, was ihr persönlich im Umgang mit den SchülerInnen noch wichtig erscheint. Hinzu kommt die Schwierigkeit der Lehrerin, sich in Bezug auf die Werte-Bildung sicher auszudrücken und zu positionieren und ein davon eventuell geleitetes, professionelles pädagogisches Bestreben zum Ausdruck zu bringen. »Das zählt halt alles so mit rein, ne?«, ist ihre Antwort, die eine Rückfrage an die Interviewerin ist. Es scheint als fehle ihr die Gewohnheit und die Sprache, um sich diesbezüglich sicher auszudrücken und damit ist sie, verglichen mit weiteren Interviews aus dieser Studie, kein Einzelfall6. Gerade im Bereich der Werte-Bildung ist es aber wichtig, dass Lehrende in ihren Handlungen die aktive Umsetzung von Werten vorleben und ihre Vorbildfunktion auf der Grundlage von Werten, die sie vermitteln oder auch gerade nicht vermitteln möchten, reflektieren und bewusst gestalten lernen. WerteBildung heißt also auch, die Werte in den eigenen Taten und Handlungen lebendig werden zu lassen und sie darüber für SchülerInnen erfahrbar zu machen. Sicherlich kann über Literatur, an Gedichten, an gesellschaftlichen Beispielen und in der Arbeit mit Dilemmata vieles geschult und auch die Einsicht in die Sinnhaftigkeit von Werten geleistet werden7. Um aber ihre tatsächliche Bedeutung zu erfahren, den Unterschied zwischen Achtung und Missachtung von Werten zu erkennen, braucht es Vorbilder, die diese vorleben.

4 Susanne Müller-Using, Pädagogisch-ethische Aspekte im professionellen Umgang mit SchülerInnen, unveröffentlichter Materialband zur Dissertation, Bielefeld, 36. 5 nifbe (Hg.), Bildung braucht Beziehung, Freiburg im Breisgau 2011. 6 Müller-Using , Ethos und Schulqualität, 176 – 193. 7 Vgl. dazu u. a. die Beiträge von Sarah Gaubitz und Eva Gläser, Werte-Bildung in der Grundschule – aus Sicht des Faches/der Fachdidaktik Sachunterricht (in diesem Band); Ulrich Kuhnke, Werte-Bildung furch Kommunikation des Evangeliums. Zur narrativen Grundstruktur christlicher Ethik (desgl.); Susanne Menzel, Werte-Bildung im naturwissenschaftlichen Unterricht (desgl.).

Die Bedeutung der Werte-Bildung

1.

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Standards für die Lehrerausbildung

In der von der KMK im Oktober 2000 gemeinsam verabschiedeten Erklärung über die »Aufgaben von Lehrerinnen und Lehrern heute – Fachleute für das Lernen« des Präsidenten der Kultusministerkonferenz und der Vorsitzenden der Bildungs- und Lehrergewerkschaften sowie ihrer Spitzenorganisationen Deutscher Gewerkschaftsbund DGB und DBB – Beamtenbund und Tarifunion wurde seiner Zeit folgendes formuliert: »Schülerinnen und Schüler müssen spüren, dass ihre Lehrerinnen und Lehrer »ein Herz« für sie haben, sich für ihre individuellen Lebensbedingungen und Lernmöglichkeiten interessieren und sie entsprechend fördern und motivieren, sie fordern, aber nicht überfordern. Verantwortung, Bereitschaft und glaubwürdiges Handeln aller Lehrerinnen und Lehrer auch für ein gutes Schulklima und ein partnerschaftliches Schulleben sind dafür förderliche Voraussetzungen.« (…) »Positive Wertorientierungen, Haltungen und Handlungen können nur überzeugend beeinflusst werden, wenn Lehrerinnen und Lehrer auch als Vorbilder für Kinder und Jugendliche wirken und sich dessen bewusst sind. (…)« »Junge Menschen müssen in der Schule erfahren, dass sie fair und gerecht behandelt und beurteilt werden und sie ihre Bildungschancen voll ausschöpfen können. Lehrkräfte helfen ihnen, ihre eigene Leistungsfähigkeit und Anstrengungsbereitschaft einzuschätzen und zu steigern.«8 Die Aufgaben von LehrerInnen heute werden hier durchaus in einem engen Zusammenhang zur Vorbildfunktion und zum allgemeinen, demokratischen Werte-Bewusstsein der Lehrpersonen gesetzt, was gerade im Bereich von WerteBildung als wichtige Voraussetzung angesehen wird9. Zudem wird hervorgehoben, dass der pädagogische Umgang mit SchülerInnen eine Dimension von Herzlichkeit bzw. »Offenherzigkeit«10 umfassen sollte, durch die Einfühlung11 in 8 Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK), Bremer Erklärung, Aufgaben von Lehrerinnen und Lehrern heute – Fachleute für das Lernen, Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 5.10. 2000, 3. (http:// www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2000/2000_10_05-Bremer-ErklLehrerbildung.pdf, letzter Zugriff am 22. 6. 2012). 9 Jutta Standop, Werte-Erziehung. Einführung in die wichtigsten Konzepte der Werteerziehung, Weinheim und Basel 2005, 84 ff. 10 Immanuel Kant, Über Pädagogik, in: Kurt Beutler und Detlef Horster (Hg.), Pädagogik und Ethik, Stuttgart, 39. 11 Sura Heart und V. Kindle Hodson, Empathie im Klassenzimmer. Ein Lehren und Lernen, das zwischenmenschliche Beziehungen in den Mittelpunkt stellt. Paderborn, 2010.

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die Positionen von SchülerInnen ermöglicht wird und damit zugleich einen Schlüssel zur Erreichung der individuellen Passung und Adaptivität von Lernprozessen bietet.12 In den im Jahr 2004 veröffentlichten Lehrerausbildungsstandards der Bildungswissenschaften, die sich u. a. auch auf die oben zitierte Erklärung berufen, wird unter dem Kompetenzbereich Erziehen als Kompetenz Nr. 5 die WerteBildung explizit benannt und mit einem eigenen Kompetenzbereich bedacht und angesprochen: »Lehrerinnen und Lehrer vermitteln Werte und Normen und unterstützen selbstbestimmtes Urteilen und Handeln von Schülerinnen und Schülern.« Die AbsolventInnen der Universität sollen für das Erlangen dieser Kompetenz demokratische Werte und Normen sowie ihre Vermittlung kennen und reflektiert haben, sie sollen wissen, wie man wertbewusstes Handeln von SchülerInnen fördert und wissen, wie SchülerInnen im Umgang mit persönlichen Krisen- und Entscheidungssituationen unterstützt werden können.13 Von den UniversitätsabsolventInnen im Bereich Lehrerbildung wird hier erwartet, dass sie im Bereich demokratischer Werte und Normen gebildet sind, was in Kompetenzen ausgedrückt heißt, dass Sie eine berufsfeldspezifische Wissensbasis für und über Werte-Bildung erworben haben, dass die Reflexion über Werte aber auch über die eigene Person in Verbindung mit den Anforderungen spezifischer Werte und ihrer Umsetzung im Schulalltag stattfindet, dass die Kommunikationsfähigkeit im Austausch über Inhalte, Strukturen und Probleme einer Werte-Bildung gegeben ist und die wertorientierte Urteilsfähigkeit angesichts pädagogischer Handlungsprobleme und Entscheidungsfragen vorhanden ist.14 Keine geringen Ansprüche also, die an die Ausbildung von Lehrkräften gestellt werden und, wie anhand des Interviewausschnitts auch nochmal verdeutlicht werden konnte, auch dringend notwendige. Doch welches Wissen haben wir über erfolgreiche Ausbildungsansätze der 12 Jürgen Baumert und Mareike Kunter, Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften, ZfE, 4/2006, 469 – 520. 13 Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK), Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16. 12. 2004. (http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffent lichungen_beschluesse/2004/2004_12_16-Bildungsstandards-Konzeption-Entwicklung.pdf, letzter Zugriff am 22. 6. 2012). 14 Ewald Terhart, Standards für die Lehrerbildung. Eine Expertise für die Kultusministerkonferenz, Münster 2002. (http://miami.uni-muenster.de/servlets/DerivateServlet/Derivate1151/Standards_fuer_die_Lehrerbildung_Eine_Expertise_fuer_die_Kultusministerkon ferenz.pdf, letzter Zugriff am 22. 6. 2012).

Die Bedeutung der Werte-Bildung

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Lehrerbildung speziell für diesen Bereich? In Bezug auf die Lehrerausbildung in Universitäten wäre es wichtig und wünschenswert, hier den Erfahrungsaustausch voranzutreiben. Momentan ist es aber sehr schwer, gesicherte Aussagen und Informationen über Erfahrungen mit Ansätzen der Werte-Bildung in der Lehrerbildung zu erlangen. Welche ausbildungspraktischen Wege in der Lehre gefunden werden, um die persönliche Reflexion und Auseinandersetzung mit diesen Grundwerten tatsächlich zu sichern und hierin ihren Transfer in die Praxis des Schul- und Unterrichtsalltags anzulegen, ist wenig transparent. Mir sind bisher dazu keine allgemein verbreiteten schulpädagogisch ausgearbeiteten Konzepte aus der Lehrerbildung bekannt. Interessant wäre es sicherlich, hier die Übertragbarkeit von Ansätzen der Menschenrechtsbildung auf die universitäre Lehrerbildung zu überprüfen.15 Mit Blick auf demokratische Werte und Normen schließt die persönliche und professionelle Reflexion von Grundwerten die Würdigung der Menschenrechte sowie die in pädagogischen Settings besonders hervorzuhebende Würdigung der Kinderrechte mit ein, als auch die Frage, wie man ihnen im Unterrichtsgeschehen pädagogische Relevanz verleiht und ihnen unterrichtspraktisch gerecht wird.

2.

Der schulische Bildungsauftrag und die Umsetzung des Rechts auf Bildung

Mit Blick auf das Arbeitsfeld Schule ist festzuhalten, dass das Menschen- und Kinderrecht auf Bildung in den Schulgesetzen der Länder verankert ist, sowie auch ein schulischer Bildungsauftrag, durch den ausgesagt wird, dass die Schule (und damit die LehrerInnen) im Anschluss an die vorschulische Erziehung, die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage des Christentums, des europäischen Humanismus und der Ideen der liberalen, demokratischen und sozialen Freiheitsbewegungen weiterentwickeln soll.16 Das Wissen und Vorhandensein dieser Bandbreite an Werten und Wertvorstellungen wird meistens als eine Art gegebenes, vielleicht sogar weitervererbtes Kulturgut vorausgesetzt. In der Lehrerausbildung wird der Fokus meines Erachtens daher zu wenig auf die bewusste Reflexion und selbstständige Erarbeitung dieser Grundwerte gelegt, was für deren tiefergehende Erfassung und für ein grundlegendes Verständnis ihrer Bedeutung und pädagogischen Tragweite aber un15 Viola B. Georgi und Michael Seberich (Hg.): International Perspectives in Human Rights Education. Gütersloh, 2004. 16 Niedersächsiches Schulgesetz (NSchG), §2 Bildungsauftrag der Schule, in der Fassung vom 3. März 1998. (http://www.schure.de/nschg/nschg/nschg1.htm, letzter Zugriff am 22. 6. 2012).

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bedingt notwendig wäre. Zudem mangelt es für die Umsetzung einer allgemeinen Werte-Bildung in der universitären Lehrerausbildung zudem auch an klaren und verallgemeinerbaren Modellen und Ausbildungskonzepten. Konkreter ist im Bildungsauftrag der Schule formuliert: »Erziehung und Unterricht müssen dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und der Niedersächsischen Verfassung entsprechen; die Schule hat die Wertvorstellungen zu vermitteln, die diesen Verfassungen zugrunde liegen. Die Schülerinnen und Schüler sollen fähig werden, - die Grundrechte für sich und jeden anderen wirksam werden zu lassen, die sich daraus ergebende staatsbürgerliche Verantwortung zu verstehen und zur demokratischen Gestaltung der Gesellschaft beizutragen, - nach ethischen Grundsätzen zu handeln sowie religiöse und kulturelle Werte zu erkennen und zu achten, - ihre Beziehungen zu anderen Menschen nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Toleranz sowie der Gleichberechtigung der Geschlechter zu gestalten, - den Gedanken der Völkerverständigung, insbesondere die Idee einer gemeinsamen Zukunft der europäischen Völker, zu erfassen und zu unterstützen und mit Menschen anderer Nationen und Kulturkreise zusammenzuleben, - ökonomische und ökologische Zusammenhänge zu erfassen, - für die Erhaltung der Umwelt Verantwortung zu tragen und gesundheitsbewusst zu leben, - Konflikte vernunftgemäß zu lösen, aber auch Konflikte zu ertragen, - sich umfassend zu informieren und die Informationen kritisch zu nutzen, - ihre Wahrnehmungs- und Empfindungsmöglichkeiten sowie ihre Ausdrucksmöglichkeiten unter Einschluss der bedeutsamen jeweiligen regionalen Ausformung des Niederdeutschen oder des Friesischen zu entfalten, - sich im Berufsleben zu behaupten und das soziale Leben verantwortlich mitzugestalten. Die Schule hat den Schülerinnen und Schülern die dafür erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln. Dabei sind die Bereitschaft und Fähigkeit zu fördern, für sich allein wie auch gemeinsam mit anderen zu lernen und Leistungen zu erzielen. Die Schülerinnen und Schüler sollen zunehmend selbständiger werden und lernen, ihre Fähigkeiten auch nach Beendigung der Schulzeit weiterzuentwickeln.

Die Bedeutung der Werte-Bildung

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(2) Die Schule soll Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern den Erfahrungsraum und die Gestaltungsfreiheit bieten, die zur Erfüllung des Bildungsauftrags erforderlich sind.«17

Was hier im schulischen Bildungsauftrag ausgesagt und aufgeführt wird, impliziert im Grunde genommen auch die Formulierung von Verhaltensstandards für Lehrerinnen und Lehrer in ihrer Funktion als Vorbild und Vertrauensperson der SchülerInnen.18 In den Vereinigten Staaten spricht man in diesem Zusammenhang auch von einer sogenannten »opportunity to learn standards«, Verhaltensstandards zunächst auf Lehrerseite, die dem allgemeinen Lehr- und Lernklima zuträglich sein sollen. In solchen Standards, die eher eine richtungsweisende Funktion in Bezug auf das Lehrerverhalten haben, kann dann transparent gemacht werden, was die Umsetzung des Bildungsauftrags im professionellen Alltagshandeln konkret bedeuten soll. Auch in Finnland wird mit einer sogenannten »opportunity to learn standards« gearbeitet, die in den finnischen Standards für den grundbildenden Unterricht (Perusopetus) als »Allgemeine Förderung des Lernens« bezeichnet werden und u. a. auch die Schülerfürsorge mit beinhalten: »Im Lehrplan muss ein Plan zu den Zielen und Grundprinzipen der Schülerfürsorge erstellt werden.«19 Weiterhin sind in dem Lehrplan für allgemein bildende Schulen fächerübergreifend Lernziele und zentrale Inhalte des Unterrichts auszuweisen, u. a. für den Themenkomplex 1. Heranwachsen zur menschlichen Persönlichkeit 2. Kulturelle Identität und Internationalität 3. Kommunikations- und Medienkompetenz 4. Engagiertes Staatsbürgertum und unternehmerische Einstellung 5. Verantwortung für Umwelt, Wohlstand und nachhaltige Zukunft 6. Sicherheit und Verkehr 7. Mensch und Technologie Dazu steht in den Rahmenrichtlinien: »Die Themenkomplexe werden in diesem Abschnitt beschrieben; didaktisch umgesetzt werden Sie in den jeweiligen Unterrichtsfächern aus der fachspezifischen Perspektive und unter Berücksichtigung der Entwicklungsphase der Schüler. Bei der Erstellung des Lehrplans werden die Themenkomplexe in die gemeinsamen und fakultativen Unter17 Ebd. 18 Joachim Bauer, Die Bedeutung der Beziehung für schulisches Lehren und Lernen. Eine neurobiologisch fundierte Perspektive, in: Pädagogik 7 – 8/2010, 6 – 9. 19 Zentralamt für Unterrichtswesen, Rahmenlehrpläne und Standards für den grundbildenden Unterricht an finnischen Schulen (Perusopetus). Helsinki 2004, 22 – 26.

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richtsfächer sowie gemeinsame Veranstaltungen einbezogen und in der allgemeinen Herangehensweise einer Schule sichtbar gemacht.«20

Dies stellt eine klare Anforderung an jede finnische Schule und damit an jede finnische Schulleitung und Lehrkraft, der es gerecht zu werden gilt. In Evaluationen kann man dann eine Rückmeldung über den Stand der Integration dieser Themenkomplexe in den Schulalltag erhalten. Entsprechend werden diese Themenkomplexe auch in der Lehrerausbildung thematisiert und vor dem Hintergrund einer allgemeinen, demokratischen Werte-Bildung zum Gegenstand der Lehrerausbildung gemacht. Auch in der Evaluation von deutschen Schulen (von außen oder innen kommend) könnte die im Bildungsauftrag formulierte, wertbezogene Ausrichtung von Schule und Schulkultur wiederkehrend Gegenstand von (Selbst-) Überprüfungen sein. Wird die Schule in ihrer Gesamtheit (also auch in ihrem Alltagshandeln) den Ansprüchen demokratischer Werte gerecht? Laut Menschenrechtskonvention §26 Absatz 2 muss Bildung auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein. Sie muss zu Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen beitragen und der Tätigkeit der Vereinten Nationen für die Wahrung des Friedens förderlich sein.21 Tut sie das? In der Kinderrechtskonvention wird in § 29 weiterhin ausgeführt (1) Die Vertragsstaaten stimmen darin überein, dass die Bildung des Kindes darauf gerichtet sein muss, a) die Persönlichkeit, die Begabung und die geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Kindes voll zur Entfaltung zu bringen; b) dem Kind Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten und den in der Charta der Vereinten Nationen verankerten Grundsätzen zu vermitteln; c) dem Kind Achtung vor seinen Eltern, seiner kulturellen Identität, seiner Sprache und seinen kulturellen Werten, den nationalen Werten des Landes, in dem es lebt, und gegebenenfalls des Landes, aus dem es stammt, sowie vor anderen Kulturen als der eigenen zu vermitteln; d) das Kind auf ein verantwortungsbewusstes Leben in einer freien Gesellschaft im Geist der Verständigung, des Friedens, der Toleranz, der Gleichberechtigung der Geschlechter und der Freundschaft zwischen allen Völkern und ethnischen, nationalen und religiösen Gruppen sowie 20 Ebd., 35 – 40. 21 Vereinte Nationen, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Fassung vom 10. Dezember 1948. (http://www.un.org/depts/german/grunddok/ar217a3.html, letzter Zugriff am 22. 6. 2012).

Die Bedeutung der Werte-Bildung

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zu Ureinwohnern vorzubereiten; e) dem Kind Achtung vor der natürlichen Umwelt zu vermitteln.22 Im Jahr 2006 ist der Deutschlandbericht des UN-Sonderberichterstatters für das Recht auf Bildung erschienen; der Autor Vernor MuÇoz mahnt hierin, mit Blick auf die oben zitierten Rechte, besonders eine verbesserte Umsetzung der Chancengerechtigkeit und Inklusion im deutschen Schulsystem an.23 Auf einer Tagung im Jahr 2009 formuliert er dazu: »Diese Anpassbarkeit der Bildungsprozesse an die Bedürfnisse der Schüler und Schülerinnen muss vervollständigt werden durch eine Art von Bildung, die von optimaler Qualität und außerdem geeignet ist. Wenn wir von Eignung sprechen, sprechen wir von der Notwendigkeit, dass es sich um eine Bildung handelt, die kulturell verankert ist, d. h. die vollständig respektvoll gegenüber den kulturellen und sozialen Besonderheiten der Person ist, die lernt.«24

Er attestiert Deutschland in seinem Bericht hier erheblichen Nachholbedarf. Für die allgemeine Werte-Bildung in Schulen bleibt MuÇoz zufolge festzuhalten, ja-, sie muss von optimaler Qualität und außerdem geeignet sein. Das beinhaltet mit Blick auf die Werte-Bildung aus meiner Sicht auch eine Bildung an und durch die entsprechend gebildeten Vorbilder in den Schulen (wie wird mit Mitmenschen umgangen, wie werden Problemfälle angegangen und gelöst, Regelverletzungen geahndet etc.) und durch eine erfahrungs- und weltbezogene Bildung. D. h. wieder, LehrerInnen, die eine wie auch immer angemessene WerteBildung vermitteln sollen, müssen in Werten gebildet sein. Das scheint mir eine der hauptsächlichen Herausforderungen der schulischen Werte-Bildung zu sein.

3.

Professionelle Handlungskompetenz und Wissensdimensionen einer pädagogisch ausgerichteten Lehrerausbildung

Aus Modellen professioneller Handlungskompetenz25 lassen sich u. a. für die pädagogische Lehrerausbildung relevante Wissensdimensionen ablesen. Wie in 22 Vereinte Nationen, Übereinkommen über die Rechte des Kindes, Fassung vom 20. November 1989. (http://www.unicef.de/fileadmin/content_media/Aktionen/Kinderrechte18/UN-Kin derrechtskonvention.pdf, letzter Zugriff am 22. 6. 2012). 23 Rat für Menschenrechte, Bericht des Sonderberichterstatters für das Recht auf Bildung, Deutschlandbesuch 13.21. Februar 2006. (http://www.netzwerk-bildungsfreiheit.de/pdf/ Mission_on_Germany_DE.pdf, letzter Zugriff 22. 6. 2012). 24 Vernor MuÇoz, Bildung ist ein Recht und keine Ware – Für eine Bildung gleich hoher Qualität für alle,transkribierter Vortrag des UN-Sonderberichterstatters für das Recht auf Bildung am 7. Juni 2009 in Oldenburg im städtischen Kulturzentrum PFL, S. 3. (http://www.munoz.uritext.de/, letzter Zugriff 22. 6. 2012). 25 Baumert/Kunter, 482.

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der Abbildung unten zu sehen, zählen zur professionellen Handlungskompetenz Dimensionen wie Professionswissen, selbstregulative Fähigkeiten, motivationale Orientierungen, Überzeugungen/Werthaltungen. Aus professionstheoretischer Sicht gehört die Reflexion der drei zuletzt genannten Dimensionen, insbesondere aber die von Überzeugungen und Werthaltungen, unbedingt mit zu einer professionellen Handlungskompetenz und ist nicht als getrennt von ihr zu betrachten. Sie wird hier allerdings nicht explizit genannt. Die Reflexion von Überzeugungen und Werthaltungen wird als überfachliche Kompetenz und ethisch-moralische Dimension inhaltlich bzw. konzeptionell in den Lehrerausbildungen wahrscheinlich tendenziell zu wenig angesprochen, auch aufgrund mangelnder Grundlagenforschung in diesem Bereich.

Motivationale Orientierungen Überzeugungen/ Werthaltungen

Selbstregulative Fähigkeiten Professionswissen

Wissensbereiche

Pädagogisches Wissen

Fachwissen

Fachdidakt. Wissen

Organisationswissen

Beratungswissen

Wissensfacetten

1

Abb. 1: Modell professioneller Handlungskompetenz [Baumert/Kunter, 482]

Da das Professionswissen von Lehrkräften und darin die Werte-Bildung und die Ausbildung bzw. Reflexion von Werthaltungen immer auch Bestandteil eines professionellen Handlungswissens ist, integriert es theoretisches Wissen sowie auch praktisches, pädagogisches Handlungswissen und Können26. Professionelles pädagogisches Wissen ist aber gleichsam auch an Erfahrungswissen gebunden, z. B. an Fälle, Episoden und Skripts, soll aber in seiner Umsetzung dennoch so flexibel sein, dass es die erfolgreiche intuitive Feinabstimmung im 26 Georg Hans Neuweg, Emergenzbedingungen pädagogischer Könnerschaft, in: Helmut Heid und Christian Harteis (Hg.),Verwertbarkeit. Ein Qualitätskriterium (erziehungs-) wissenschaftlichen Wissens? Wiesbaden 2005, 205 – 228.

Die Bedeutung der Werte-Bildung

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Vollzug ermöglicht. Als Facetten pädagogischen Wissens bezeichnen Baumert/ Kunter27: 1. Konzeptuelles bildungswissenschaftliches Grundwissen aus Erziehungswissenschaft und Psychologie 2. Allgemeindidaktisches Konzeptions- und Planungswissen 3. Unterrichtsführung und Orchestrierung von Lerngelegenheiten, z. B. effektives classroom management und Herstellung von konstruktiv-unterstützenden Lernumgebungen (Geduld und Respekt im Umgang mit Fehlern sowie differenzierte Personenwahrnehmung und Takt im zwischenmenschlichen Umgang) 4. Fachübergreifende Prinzipien des Diagnostizierens, Prüfen und Bewertens Was auch in dieser Aufzählung fehlt bzw. bewusst nicht mit aufgeführt wurde ist die Reflexionskompetenz (z. B. über die eigenen professionellen Werteinstellungen) und das eigene interaktive Lehrerhandeln im Abgleich mit dem Bildungsauftrag. Beides ist aber für die Umsetzung einer allgemeinen Werte-Bildung in Schulen von maßgeblicher Bedeutung. Werthaltungen und Überzeugungen werden in diesem Modell als vom pädagogischen Wissen getrennte Wissensdomänen behandelt, was zwar begründet wird, im Alltagshandeln und in der Ausbildung aber dennoch zu Schwierigkeiten führt. Besonders da für das später verfügbare pädagogische Handlungswissen nicht allein die einzelnen Wissensdomänen von Bedeutung sind, sondern auch domänenübergreifend die Art und Weise, wie dieses Wissen in pädagogischen Handlungen ausgeführt und eingesetzt wird, haben – als weiterer Aspekt professioneller Handlungskompetenz von LehrerInnen – Werthaltungen und Überzeugungen hier einen bedeutsamen Einfluss. Sie werden meist getrennt von den Kategorien des Professionswissens behandelt, obwohl die Übergänge hier fließend sind, zumal der Wissensbegriff in der heutigen Informationsgesellschaft weiter gefasst wird und um Wissensbestände die nicht-diskursiv sind, d. h. nicht den klassischen Kriterien (explizit, objektiv, theoriegestützt, empirisch gesichert, algorithmisch etc.) entsprechen, erweitert wurde28. Als nicht-diskursive Wissensbestände gelten diejenigen Wissensarten, die u. a. nach Langer29 auch als präsentisch codiertes Wissen (wie z. B. Kunst und Musik) oder nach Polanyi30 als implizites Wissen (z. B. Intuition und »sudden

27 Baumert/Kunter, 485. 28 Helmut Spinner, Die Architektur der Informationsgesellschaft. Berlin 1988, S. 64. 29 Susanne K. Langer, Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst. Frankfurt am Main 1984. 30 Michael Polanyi, Implizites Wissen. Frankfurt am Main, 1985.

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insights«) bezeichnet werden. Paschen31 und auch van Manen32 übersetzen diese philosophische Denkrichtung für den Bildungsbereich und machen damit auch neu anerkannten Wissensformen, wie z. B. gefühltes Wissen und Körperwissen (vgl. dazu u. a. Storch u. a.33), für den bildungsphilosophischen und erziehungswissenschaftlichen Diskurs anschlussfähig. Es kann hierbei von für professionelles pädagogisches Handeln wesentlichen Wissenskategorien ausgegangen werden, zu denen die sogenannten »soft skills« und die Empathie im professionellen Umgang mit SchülerInnen dazu zählen. Die Abgrenzung zu subjektiven Theorien und Erfahrungswissen, die nicht ohne weiteres mit verallgemeinerbarem, überprüftem Wissen gleichzusetzen sind, bleibt dabei schwierig. Umso bedeutsamer bleibt für die Profession das Gebildetsein in diesen Bereichen, also ein bewusster Umgang sowie die Reflexion des Zusammenspiels von unterschiedlichen Wissensquellen und ihrer Ausrichtung/Orientierung an allgemeinen, demokratischen Werten, wie z. B. die menschlichen Grundrechte sie darstellen. So eine übergeordnete, pädagogisch-ethische Ausrichtung ist ein integrierendes Element, das eventuell auch dabei helfen kann, die einzelnen Domänen stärker integrativ zu behandeln und auszurichten. Dabei steht die professionell handelnde Person im Zentrum, was bedeutet, dass sich in ihr die pädagogischen Reflexionen über Handlungswissen, aber auch über die eigene Person als Handelnde in Verbindung mit den Anforderungen im Schulalltag integrieren. Mit den Kompetenzen der Standards für die Lehrerbildung gesprochen, stellt dies eine Basis für die gelingende Kommunikationsfähigkeit im Austausch über Inhalte, Strukturen und Probleme von Erziehung und Bildung und die wertorientierte Urteilsfähigkeit angesichts pädagogischer Handlungsprobleme und Entscheidungsfragen. Professionstheoretisch lassen sich Werthaltungen (value commitments) und Überzeugungen (beliefs) in den folgenden Kategorien beschreiben: 1. Wertbindungen (value commitments) (z. B. sokratischer Eid) (von Hentig 1994), oder nach Oser (1998) die Verpflichtung auf Fürsorge, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit 2. Epistemologische Überzeugungen ! beeinflussen professionelles Handeln 3. Subjektive Theorien über Lehren und Lernen ! auch intuitive Theorien 4. Zielsysteme für Curriculum und Unterricht (Beispiel Finnland)

31 Harm Paschen, Zur Entwicklung menschlichen Wissens. Die Aufgabe der Integration heterogener Wissensbestände. Münster 2005. 32 Max van Manen, On the epistemology of reflective practice, in Teachers and Teaching 1:1, London 1995, S. 33 – 50. 33 Maja Storch u. a. (Hg.), Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen, 2. erweiterte Auflage, Bern 2010.

Die Bedeutung der Werte-Bildung

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Wie u. a. Baumert/Kunter (2006) international recherchiert und deutlich herausgestellt haben, liegen zu diesen pädagogisch zwar sehr relevanten, forschungsperspektivisch aber eher »weichen« Bereichen kaum bzw. zu wenige gesicherte Forschungsdaten vor ; und in Bezug auf die Thematik Werthaltungen (value comittments) und Überzeugungen (beliefs) von LehrerInnen gibt es eher Studien im fachdidaktischen Kontext, wie z. B. der epistemologischen Überzeugungen von MathematiklehrerInnen (vgl hierzu u. a. Blömeke u. a. 2011), so dass folglich noch viel Unsicherheit bezüglich des geeigneten pädagogischen Umgangs mit SchülerInnen, z. B. in Bezug auf Unterrichtsführung und Orchestrierung von Lerngelegenheiten, bestehen. Hier liegt ein professionstheoretisches Forschungsdefizit vor, welches unbedingt aufgefüllt werden sollte, wozu qualitative Studien zu pädagogisch eher »weichen« Themen und soft skills einen bedeutsamen Beitrag leisten können. Aufgrund dieser Unsicherheiten, die u. a. auf mangelnde Forschung in diesem Bereich zurück zu führen sind, wird in der Lehrerausbildung, meiner Erfahrung nach, nicht gezielt genug auf den reflektierten Umgang mit solchen pädagogischen Situationen vorbereitet, die ein hohes Maß an Wissen und Taktgefühl für die Abstimmung auf Schülerbedürfnisse erfordern. Die (Be)achtung des Aspekt der Menschenwürde als menschliches Grundrecht und seine Stärkung im professionellen pädagogischen Alltag, kann als pädagogisch-ethische Leitlinie im Zusammenhang mit der Abstimmung von Unterrichtsinhalten aus meiner Sicht einiges leisten und in einem daran orientierten und wertbewussten professionellen pädagogischen Handeln von Lehrkräften und Schulleitungen seine integrative Wirkung entfalten, immer mit dem Ziel, menschliche Grundrechte im Schulalltag wirksam(er) werden zu lassen. Dabei gilt es zu bedenken: »Die mit der Menschenwürde verbundene Freiheit weiß sich als verantwortliche Freiheit und begrenzt sich an der Würde des Anderen.«34

5.

Werte-Bildung als menschenwürdige Bildung

»Die Würde des Menschen ist unantastbar« heißt es im Grundgesetz. Die Umsetzung von Menschen- und Kinderrechten im gesellschaftlichen Leben sollen diese Würde sichern und schützen helfen und damit den Bestand demokratischer Grundwerte wie Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt langfristig sichern. 34 Arnulf v. Scheliha, Menschenwürde: Humanität und Achtung, in: Reinhold Mokrosch und Arnim Regenbogen (Hg.), Werte-Erziehung und Schule. Ein Handbuch für Unterrichtende, Göttingen, 2009, 86 – 94.

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Das Wort Würde kommt von Wert, und ist Ausdruck der Persönlichkeitswerte des Menschen, Kraft derer bzw. der ihnen zukommenden Bedeutung wird der Mensch bereits mit Würde geboren, die Würde gilt daher einem jeden Menschen und ist somit unantastbar. Die Herausforderung des Alltags stellt sich für den Menschen u. a. darin, sich seiner Menschenwürde als würdig zu erweisen und, das gilt auch für den professionellen, pädagogischen Kontext, sich der Würde anvertrauter Menschen würdig zu erweisen.35 »Das Würdegefühl kann man verlieren, aber nicht die Würde selbst (denn sie ist ja unantastbar), aber die Liebe und die liebevolle Zuwendung kann uns die Würde bzw. das Gefühl für die eigene Würde wieder zurückgeben.«36 Können diese philosophischen Überlegungen als pädagogische Handlungsanweisung gelten? Ist es Auftrag von LehrerInnen, das Gefühl für die eigene Würde vorzuleben und in Kindern zu wecken bzw. wachzuhalten? Kann man von ihnen verlangen, jenseits von Benotung ein menschenwürdevolles Verhalten vorzuleben? Keine leichten Fragen. Aber hoffentlich Fragen, die es wert sind, einmal mehr überlegt und verfolgt zu werden. Denn nicht umsonst ist das Recht auf Bildung und der Zusatz, dass alle Bildung auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein muss, in den Kinderrechten verankert und nicht umsonst steht laut Grundgesetz das gesamte deutsche Schulwesen unter staatlicher Aufsicht und unter einem gesetzlich verfassten, gesellschaftlichen Bildungsauftrag. Mit den wissenschaftlich definierten und bildungspolitisch geforderten Kompetenzen für die Lehrerbildung, die sich u. a. durch Wissen, Reflexion, Kommunikations- und Urteilsfähigkeit in Bezug auf allgemeine demokratische Werte wie Menschen- bzw. Kinderrechte in ihrer Bedeutung für das berufspraktische Handeln im Schulalltag (professioneller Umgang mit den SchülerInnen) auszeichnen, ist bereits ein wesentlicher, bundesweit anerkannter Grundstein für die Lehrerbildung gelegt worden. Folgen müssen jetzt konkrete und notwendigerweise auch interdisziplinär erarbeitete Konzepte für die Lehrerbildung, die eine ernsthafte, vor allem aber erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Menschen- und Kinderrechten in der Schulpädagogik vorsehen. Daraus sollten dann – auf freiwilliger Basis und im Sinne einer professionellen Orientierung – pädagogische Verhaltensstandards für Lehrkräfte abgeleitet werden. Natürlich muss so ein Projekt wissenschaftlich solide fundiert und auf den Erkenntnissen der interdisziplinären 35 Eric Fiat, Petit trait¦ de dignit¦: Grandeurs et misÀres des hommes. Larousse, 2012. 36 Artetv Philosophie: RaphaÚl Enthoven diskutiert mit Eric Fiat über das Thema »Würde«. (http://videos.arte.tv/de/videos/philosophie_wuerde-3932636.html, letzter Zugriff 22. 6. 2012).

Die Bedeutung der Werte-Bildung

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Grundlagenforschung zur Werte-Bildung basieren. Dann aber könnte so ein Vorhaben von hohem Wert für die Gestaltung einer orientierungsstiftenden, menschenwürdigen Bildung in unseren Universitäten und Schulen sein.

Wassilis Kassis

Nur auf dem Mond ist man vor dem Antisemitismus sicher. Antisemitismus bekämpfen – auch eine Aufgabe der Werte-Bildung?

Antisemitismus darf leider als ein dauerhafter, ja regelrecht überzeitlicher kultureller Code der Menschenfeindlichkeit bezeichnet werden1 und kann seit der Antike nicht einzig einem Entwicklungstopos zugeordnet werden2. Das Besondere antisemitischer Einstellungen liegt unter anderem auch darin, dass sie nicht einzig bzw. primär von einer spezifischen Religionsgemeinschaft (so zum Beispiel dem Christentum) ausgehen,3 sondern über Ethnizität und Religionszugehörigkeit hinweg bei einer doch erschreckend hohen Anzahl Jugendlicher aufgebaut werden4.

Antisemitismus ist eine relevante Form von Menschenfeindlichkeit Eine gelingende politische Sozialisation beinhaltet als wesentliche Elemente den gesellschaftlichen Respekt und die politische und religiöse Toleranz gegenüber Angehörigen von gesellschaftlichen Gruppen5, die sich kulturell oder religiös 1 Vgl. Christian Geulen, Geschichte des Rassismus, München 2007; Stefan Lehr, Antisemitismus – Religiöse Motive im sozialen Vorurteil. Aus der Frühgeschichte des Antisemitismus in Deutschland 1870 – 1914, München 1974. 2 Vgl. Theodor W. Adorno, Erziehung nach Auschwitz, in: Gerd Kadelbach (Hg.), Erziehung zur Mündigkeit. Vortrag und Gespräche mit Helmut Becker. 1959 – 1969, Frankfurt a. M. 1970. 3 Vgl. Wolfgang Benz, Angelika Königseder, Judenfeindschaft als Paradigma. Studien zur Vorurteilsforschung, Berlin 2004. 4 Vgl. Emnid Institut (Hg.), Die gegenwärtige Einstellung der Deutschen gegenüber Juden und anderen Minderheiten. Ein Überblick über die öffentliche Meinung, durchgeführt im Auftrag des Amerikanischen Jüdischen Komitees, Bielefeld 1994; Jürgen W. Falter, Rechtsextremismus in Deutschland. Die Entwicklung der Einstellungs- und Verhaltenspotentials 1994 – 200, in: Landeszentrale für politische Bildung (Hg.), Perspektive Nr. 7/2000; GFS-Bern (Hg.), Antijüdische und anti-israelitische Einstellungen in der Schweiz, Bern 2007; Judith Torney-Purta, Rainer Lehmann, Hans Oswald, Wolfram Schulz, Citizenship and education in twenty-eight countries. Civic knowledge and engagement at age fourteen. Amsterdam 2001. 5 Vgl. Wassilis Kassis, Ausländerfeindlich motivierte Gewaltakzeptanz Jugendlicher zwischen gesellschaftlichen Dominanz- und schulischen sowie familiären Desintegrationserfahrungen.

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von der eigenen, allenfalls hegemonialen Gruppe unterscheiden, sowie die Überzeugung, dass alle Einwohnerinnen und Einwohner eines Landes, ungeachtet ihrer religiösen oder kulturellen Zugehörigkeit, Mitglieder der Gesellschaft sind und ihnen grundsätzlich gleiche Rechte zukommen6. Dieses Ziel der politischen Sozialisation erfolgt dabei nicht einzig als eine subjektive »politische Korrektheit« sondern entspricht, ja folgt dem Deutschen Grundgesetz. Antisemitismus ist eine relevante Form von Menschenfeindlichkeit und entsteht nicht von selbst, sondern ist ein gesellschaftlich und kulturell ›immer schon‹ vorhandenes Feindbild, das aktualisiert und auf andere übertragen wird7. Die Vorstellung demnach, dass Antisemitismus gleichsam naturwüchsig und mit der Existenz von Juden an sich gegeben ist, verkennt die Bedeutung, die er als traditioneller, in der Geschichte über lange Zeit erkennbarer, geradezu mythischer kultureller Code hat8. Arendts Diktum, dass wir vor Antisemitismus nur noch auf dem Mond sicher seien9, mit der empirischen Erfahrung gekoppelt, dass menschenfeindliche Vorstellungen irdischer Natur sind10, leiten diesen Beitrag. Antisemitische Einstellungen Jugendlicher folgen, so die empirischen Erkenntnisse11, nicht einem einzigen Entwicklungstopos. Stigmatisierende Über-

6 7 8 9 10 11

Eine Annäherung über Strukturgleichungsmodelle, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 2005, S. 96 – 111; Ekkehard W. Stegemann, Judenfeindschaft. Zwischen Xenophobie und Antisemitismus, Kirche und Israel, in: Neukirchner Theologische Zeitschrift 10/1995, S. 152 – 166; Ekkehard W. Stegemann, Die christlichen Wurzeln des Judenhasses, in: Gudrun Hentges, Guy Kempfert, Reinhard Kühnl (Hrsg.), Antisemitismus. Geschichte, Interessenstruktur, Aktualität, Heilbronn 1995, S. 9 – 24; Ekkehard W. Stegemann, Von der Schwierigkeit, sich von sich zu unterscheiden. Zum Umgang mit der Judenfeindschaft in der Theologie, in: Werner Bergmann, Mona Körte (Hrsg.), Antisemitismusforschung in den Wissenschaften, Berlin 2004, S. 47 – 66. Vgl. Urs Aeschbacher, Die gefährliche Sehnsucht nach kollektiver Selbstverwirklichung, in: Christina Kurth, Peter Schmid (Hrsg.), Das christlich-jüdische Gespräch. Standortbestimmungen, Stuttgart 2000, S. 102 – 108. Vgl. Theodor W. Adorno, Erziehung nach Auschwitz, in: Gerd Kadelbach (Hg.), Erziehung zur Mündigkeit. Vortrag und Gespräche mit Helmut Becker. 1959 – 1969, Frankfurt a. M. 1970. Für das Jugendalter vgl. Judith Torney-Purta, Rainer Lehmann, Hans Oswald, Wolfram Schulz, Citizenship and education in twenty-eight countries. Civic knowledge and engagement at age fourteen. Amsterdam 2001. Vgl. Hannah Arendt, Ceterum Ceseo. Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Mond sicher, München 2004, S. 29 – 34. Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München 2001. Vgl. Wassilis Kassis, Ausländerfeindlich motivierte Gewaltakzeptanz Jugendlicher zwischen gesellschaftlichen Dominanz- und schulischen sowie familiären Desintegrationserfahrungen. Eine Annäherung über Strukturgleichungsmodelle, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 2005, S. 96 – 111; Ekkehard W. Stegemann, Judenfeindschaft. Zwischen Xenophobie und Antisemitismus, Kirche und Israel, in: Neukirchner Theologischer Zeitschrift 10/ 1995, S. 152 – 166; Ekkehard W. Stegemann, Die christlichen Wurzeln des Judenhasses, in:

Antisemitismus bekämpfen – auch eine Aufgabe der Werte-Bildung?

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zeugungen von Jugendlichen entspringen Bedingungen des Aufwachsens, die sowohl als multifaktoriell als auch als komplex zu bezeichnen sind. Antisemitismus bietet sich als ein Paradigma und ›Einfallstor‹ für menschenverachtende Konzepte und Handlungen an, mit denen Respekt, Toleranz und gesellschaftliche Gleichheit für Angehörige aller gesellschaftlichen Gruppen bestritten werden12. Das so genannte ›Judenbild‹ in einer Demokratie ist ein wichtiger, ja ein zentraler Qualitätsindikator für die vorherrschende politische Kultur13. Dies umso mehr als dem Antisemitismus, so auch Arendt, die ›zweifelhafte Ehre‹14 zuteil wurde, die Maschinerie des Nationalsozialismus in Gang zu setzen. Er tritt in zahlreichen Zusammenhängen auf, insbesondere im Rechtsextremismus, der sich der kulturellen Codes bedient, um gesellschaftliche Gruppen und Einzelne zu stigmatisieren und so Gesellschaft zu hierarchisieren, und ebenso bei gewaltbereiten Gruppen, denen Antisemitismus zur Bestimmung eines möglichen Opfers dient. Der vorliegende Beitrag beschränkt sich, Marin15 und Rensmann16 folgend, nicht auf die Untersuchung von Antisemitismus bei Jugendlichen in Verbindung zu Rechtsextremismus und Gewaltbereitschaft. Vielmehr zeigt er das Auftreten von Antisemitismus unter Jugendlichen, in der Qualität von besonderen, autoritären Vorurteilen und Feindbildern, die in unserer Gesellschaft einen regelrechten kulturellen Code darstellen17.

Die begriffliche Systematisierung von Antisemitismus Das Gelände des Antisemitismus ist diffus und unübersichtlich. Wir verwenden den durch den Alltagssprachgebrauch bestimmten Begriff »Antisemitismus«, um ein Ensemble unterschiedlicher judenfeindlicher Einstellungen, Ressentiments und Handlungen zu kennzeichnen. Oft wird dieser Begriff wegen seiner Entstehungsgeschichte im 19. Jahrhundert, die selbst judenfeindlich ist, ver-

12 13 14 15 16 17

Gudrun Hentges, Guy Kempfert, Reinhard Kühnl (Hrsg.), Antisemitismus. Geschichte, Interessenstruktur, Aktualität, Heilbronn 1995, S. 9 – 24; Ekkehard W. Stegemann, Von der Schwierigkeit, sich von sich zu unterscheiden. Zum Umgang mit der Judenfeindschaft in der Theologie, in: Werner Bergmann, Mona Körte (Hrsg.), Antisemitismusforschung in den Wissenschaften, Berlin 2004, S. 47 – 66. Vgl. Christian Geulen, Geschichte des Rassismus, München 2007. Vgl. Lars Rensmann, Demokratie und Judenbild. Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2004. Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München 2001, S. 29. Vgl. Bernd Marin, Antisemitismus ohne Antisemiten. Autoritäre Vorurteile und Feindbilder, Frankfurt a. M. 2000. Vgl. Lars Rensmann, Demokratie und Judenbild. Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2004. Vgl. Wolfgang Benz, Was ist Antisemitismus? München 2004.

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Wassilis Kassis

mieden18. Außerdem unterscheidet man gern, was auch historiographisch sinnvoll ist, ältere Judenfeindschaft etwa als »Antijudaismus« – so zum Beispiel für antijüdische Einstellungen und Verhaltensweisen im vormodernen Christentum – vom modernen, »säkularen«, politischen und rassistisch definierten Antisemitismus, der sich zunächst mit politischen Zielen der Rückgängigmachung der Emanzipation der Juden verbunden hatte und im eliminatorischen Antisemitismus19 kulminierte. Antisemitismus als kultureller Code wird immer neu aktualisiert und dient als Einstellung bzw. Haltung Einzelner und Gruppen der Exklusion einer gesellschaftlichen Gruppe, der »Juden«. Die gesellschaftliche Aktualisierung und Aktivierung wird gezielt, häufig religiös untermauert und mit politischer Absicht, angestoßen. Der Vorgang repräsentiert den Prozess gesellschaftlicher Stigmatisierung und Exklusion paradigmatisch für Prozesse, die den auf Rechtsgleichheit wie Menschenrechten basierenden Grundprinzipien demokratischer Rechtsstaaten zuwiderlaufen. Dabei ist es wichtig zu erkennen, dass diese Einstellungen nicht ›einzig‹ kognitive Muster darstellen, sondern sich in einer engen Beziehung zu Distanzierungsprozessen, Ausschluss und Emotionalisierung des Alltags gegen Juden, bis hin zu offener Gewalt zeigen20. Antisemitismus stellt demnach ein Diffamierungs- und Verhaltensmuster zu Lasten der jüdischen Bevölkerung als Juden durch Nichtjuden dar. Um Antisemitismus als kulturellen Code in seinen heutigen Aktualisierungen beschreibbar und damit auch empirisch überprüfbar zu machen, werden häufig drei Formen unterschieden: (a) Antisemitismus trotz Auschwitz, (b) Antisemitismus wegen Auschwitz und (c) Antisemitismus im Namen von Auschwitz. Unter Antisemitismus trotz Auschwitz (zu a) werden alle »alten«, prä-Holocaust-Klischees und Stereotypen zusammengefasst. Mit der Deutung als »Code« im sozio-kulturellen Diskurs über Juden verbindet sich auch die Einsicht, dass Antisemitismen entgegen dem Selbstverständnis ihrer Vertreter keine essenziellen Aussagen zu Juden und ihren Eigenschaften machen, sondern nichts als Diskurse über Juden sind. Diese ist auch die zentralste Form des Antisemitismus, die in diesem Beitrag im Weiteren auch empirisch dargestellt werden soll. Mit Antisemitismus wegen Auschwitz (zu b) wird bezeichnet, was auch als »sekundärer Antisemitismus« benannt wird, also die Judenfeindschaft, die sich 18 Zur Diskussion vgl. Georg Christoph Berger Waldenegg, Antisemitismus. Eine gefährliche Vokabel? Diagnose eines Wortes, Wien 2003. 19 Vgl. Daniel Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, München 1996. 20 Vgl. Helen Fein (Hg.), The Persisting Question. Sociological Perspectives and Social Contexts of Modern Antisemitism, New York 1987.

Antisemitismus bekämpfen – auch eine Aufgabe der Werte-Bildung?

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in Abwehr der Zivilisationslast einer Ausgrenzungspolitik mit dem Höhepunkt in der Shoah gebildet hat. Eine der relevantesten Erklärungen für die Sinnkonstruktion von Post-Schoah-Antisemitismus (oder Post-Holocaust oder PostAuschwitz-Antisemitismus) ist, dass er das Täter-Opfer-Schema umkehrt. Die primitivste Form davon ist die Holocaustleugnung. Mit Antisemitismus im Namen von Auschwitz (zu c) schließlich bezeichnen wir das, was heute unter dem Begriff »neuer Antisemitismus«21 (vgl. Tuor-Kurth 2001; Rabinovici/Speck/Szaider 2004) diskutiert wird und was sich insbesondere im Kontext des Nahostkonflikts und seiner Gewalt ausagiert, nämlich als eine Einforderung erhöhter Sensibilität des Staates Israel bezüglich der Achtung von Menschenrechten und bezüglich der Problematik von Gewalteinsatz im Namen der »Lektion«, die Auschwitz gelehrt haben sollte. Die Problematik des Antisemitismus wird aus diesem Grunde auf drei Ebenen gesehen. Erstens geht es um die Menschen jüdischen Glaubens, die primär aus ihrem Juden-Sein heraus definiert werden und ihnen daraus ein belastendes Stigma erwächst22. Zweitens geht es um eine Gesellschaft, die über die Ausgrenzung spezifischer, aber keineswegs spezieller, Menschengruppen, nach einem kulturell herkömmlichen System Desintegrationsmaßnahmen offenbart. Durch solche destabilisiert sie sich, indem sie primär durch die Daueranstrengung der Entwicklung von (jüdischen) Außenseitern Bestand zu haben scheint23. Drittens geht es um die Antisemitismus-Täter, die ihr Tätersein als ›Normalität‹ verstehen und keine Hemmungen haben, diese aus ihrer Sicht vertretene Normalität sowohl an die nächste Generation weiter zu geben, als auch auszuleben und damit zu perpetuieren24.

Menschenverachtende und menschenfeindliche Konzepte und Handlungen bei Jugendlichen Studien zu menschenverachtenden Einstellungen von Jugendlichen gehen nicht von einem gemeinsamen Verständnis dafür aus, in welcher Weise Antisemitis21 Vgl. Christina Thuor-Corth (Hg.), Neuer Antisemitismus – Alte Vorurteile? Stuttgart 2001. 22 Vgl. hierzu Gesslers Analysen zum Alltag vieler Juden in Deutschland im Lichte des neuen Antisemitismus in: Philipp Gessler, Der neue Antisemitismus. Hinter den Kulissen der Normalität, Freiburg im Breisgau 2004. 23 Vgl. hierzu den Diskussionsband von Doron Rabinovici, Ulrich Speck, Natan Szaider, Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte, Frankfurt a. M. 2004. 24 Siehe hierzu die Briefe an den Zentralrat der Juden in Deutschland. Zusammengefasst von Wolfgang Benz, Was ist Antisemitismus? München 2004.

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mus, Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft zusammenhängen25. Sie sind daher nur bedingt miteinander in Bezug zu setzen, liefern aber Einblicke in Exklusion fördernde Überzeugungen und ihre Zusammenhänge26. Antisemitismus als ein lebendiges Phänomen, das sich gesellschaftlichen Wandlungen anpasst, wurde international vergleichend von Holz dokumentiert27. So wird etwa die problematische Politik Israels gegenüber seinen islamischen Nachbarstaaten verschiedentlich als Vorwand zur Äußerung antisemitischer Vorurteile genutzt28. Antisemitische Einstellungen Jugendlicher folgen, so die empirischen Erkenntnisse29, nicht einem einzigen Entwicklungstopos. Dabei ist insbesondere nicht bekannt, wie und in welchem Maß Antisemitismus Jugendlicher von so25 Vgl. hierzu den Ergebnisbericht von Werner Bergmann, Juliane Wetzel, Manifestations of anti-Semitism in the European Union. First Semester 2002. Synthesis Report, im Auftrag des European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia (EUMC). Wien 2003; Gavin L. Langmuir, Toward a Definition of Antisemitism, Berkley 1996; Hans-Georg Ziebertz, William K. Kay, Youth in Europe I. An international empirical Study about Life-perspectives. Münster 2005; Hans-Georg Ziebertz, William K. Kay, Youth in Europe II. An international empirical Study about Religiosity. Münster 2006. 26 Vgl. Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny, Das Fremde in der Schweiz. Ergebnisse soziologischer Forschung, Zürich 2001; Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny, World Society and the Future of International Migration. A Theoretical Perspective, in: Emek M. Ucarer, Donal J. Ouchala (Hrsg.), Immigration into Western Societies. Problems and Policies, Pinter, London, Washongton 1997, S. 95 – 117; Norbert Elias, John L. Scotson, Etablierte und Außenseiter. Frankfurt a. M. 1993. 27 Vgl. Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus, Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001. 28 Vgl. Christina Späti, Die schweizerische Linke und Israel. Israelbegeisterung, Antizionismus und Antisemitismus zwischen 1967 und 1991, Essen 2006; Mark Villinger, Ausländerrecht und EMRK, in: Bernhard Ehrenzeller (Hg.), Rechtsentwicklungen im schweizerischen Ausländerrecht, St. Gallen 2004. 29 Vgl. Werner Bergmann, Itembatterien zur Erfassung von Antisemitismus, in: A. GlöcknerRist (Hg.), ZUMA-Informationssystem. Elektronisches Handbuch sozialwissenschaftlicher Erhebungsinstrumente. ZIS Version 9.00. Mannheim 2005; Werner Bergmann, Antizionismus-Index. in: A. Glöckner-Rist (Hg.), ZUMA-Informationssystem. Elektronisches Handbuch sozialwissenschaftlicher Erhebungsinstrumente. ZIS Version 9.00. Mannheim 2005; Wassilis Kassis, Ausländerfeindlich motivierte Gewaltakzeptanz Jugendlicher zwischen gesellschaftlichen Dominanz- und schulischen sowie familiären Desintegrationserfahrungen. Eine Annäherung über Strukturgleichungsmodelle, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 2005, S. 96 – 111; Ekkehard W. Stegemann, Judenfeindschaft. Zwischen Xenophobie und Antisemitismus, Kirche und Israel, in: Neukirchner Theologische Zeitschrift 10/1995, S. 152 – 166; Ekkehard W. Stegemann, Die christlichen Wurzeln des Judenhasses, in: Gudrun Hentges, Guy Kempfert, Reinhard Kühnl (Hrsg.), Antisemitismus. Geschichte, Interessenstruktur, Aktualität, Heilbronn 1995, S. 9 – 24; Ekkehard W. Stegemann, Von der Schwierigkeit, sich von sich zu unterscheiden. Zum Umgang mit der Judenfeindschaft in der Theologie, in: Werner Bergmann, Mona Körte (Hrsg.), Antisemitismusforschung in den Wissenschaften, Berlin 2004, S. 47 – 66.

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ziodemographischen Faktoren wie Geschlecht, sozio-ökonomischer Status und Migrationsstatus abhängig ist. Zugleich stellt sich auch die Frage, inwiefern das Ausmaß von Antisemitismus in EU-Ländern unterschiedlich ausfällt. Auch ist der Stand der religionspädagogischen Bildung in Deutschland seit den Ergebnissen der IEA Civic Education Study aus dem Jahre 199930 im internationalen Vergleich bekannt. Decker/Brähler31 untersuchten die antisemitischen und autoritären Einstellungen im vereinten Deutschland in der Fortsetzung von Falter32. Sie formulierten zum einen eine Standortbestimmung für 2004. Zum andern stellten sie die Entwicklung solcher Einstellungen von 1994 bis 2004 dar. Sie schlossen aus ihren Befunden, dass es sich bei antisemitischen und autoritären Einstellungen um stabile Einstellungsmuster handle, die bei sozialen Krisen (Modernisierung, Destabilisierung) aus der Latenz heraustreten. Heitmeyer33 formulierte, dass die Bemühungen um aufklärende politische Bildung zur Bekämpfung von rechtsextremistischen Einstellungen in die Leere zielen. Diese Befunde legen den Schluss nahe, dass keine Faktoren schulischen Verhaltens bestimmbar sind, die maßgeblich zur Veränderung antisemitischer und rechtsextremistischer Einstellungen Jugendlicher imstande sind. Im Rahmen des vorliegenden Beitrags werden international vergleichend (Fragebogenstudie in Deutschland, Österreich, Slowenien und Spanien) mehrere Fragestellungen hierzu untersucht. Erstens geht es um das Ausmaß antisemitischer Einstellungen bei Jugendlichen. Zweitens geht es um die Frage, inwiefern soziodemographische Faktoren wie Geschlecht, Nationalität/Migrationshintergrund und sozioökonomischer Status mit der Ausbildung antisemitischer Einstellungen in Verbindung gebracht werden können. Der »traurigen These« Arendts folgend, nach welcher man einzig auf dem Mond vor Antisemitismus sicher wäre, gehen wir davon aus, dass das Ausmaß der nachweisbaren antisemitischen Einstellungen entweder nicht oder einzig unbedeutsam signifikant mit den genannten soziodemographische Faktoren bzw. den vier Ländern (Deutschland, Österreich, Slowenien und Spanien) in Zusammenhang zu bringen ist. Demnach wäre der Code des Antisemitismus allgegenwärtig. Dieses belastende Konglomerat stellt einen »furchtbar fruchtbaren« Boden für Antisemitismus dar, so die dahinterstehende Annahme. 30 Vgl. Judith Torney-Purta, Rainer Lehmann, Hans Oswald, Wolfram Schulz, Citizenship and education in twenty-eight countries. Civic knowledge and engagement at age fourteen. Amsterdam 2001. 31 Vgl. Oliver Decker, Elmar Brähler, Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 42/2005, S. 8 – 17. 32 Vgl. Jürgen W. Falter, Rechtsextremismus in Deutschland. Die Entwicklung der Einstellungsund Verhaltenspotentials 1994 – 200, in: Landeszentrale für politische Bildung (Hg.), Perspektive Nr. 7/2000. 33 Vgl. Wilhelm Heitmeyer, Antisemitismus in Europa, Ergebnisse empirischer Studie, Frankfurt a. M. 2006.

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Methode – Untersuchung STAMINA Die Ergebnisse stützen sich auf eine von der Universität Osnabrück koordinierten Querschnitt-Fragebogenstudie des EU-Daphne-Forschungsprojektes »Formation of non-violent behaviour in school and leisure time among youths from violent families« (Laufdauer, 2009 – 2011), die in Deutschland, Slowenien, Spanien und Österreich im Frühjahr 2009 durchgeführt wurde. Dem Querschnittdesign der noch vorzustellenden Studie folgend, wird es bei den Analysen nicht um Kausalität, sondern um die Wahrscheinlichkeit antisemitischer Einstellungen bei Jugendlichen gehen. Da die Analysen auch bezüglich vier unterschiedlicher EU-Ländern vorgenommen wurden, wird ebenfalls die Möglichkeit erarbeitet, sowohl die rechnerische Stabilität wie auch die sozialpolitische Relevanz der eingeführten Erklärungsmodelle zu überprüfen.

Stichprobe Die repräsentative Stichprobe aus den vier teilnehmenden Ländern setzt sich aus insgesamt 5.149 Jugendlichen der achten Jahrgangsstufe zusammen (zu den soziodemographischen Charakteristika der Stichprobe s. Tab. 1). Den Jugendlichen im Alter von durchschnittlich 14.5 Jahren wurde ein Fragebogen vorgelegt, der in 45 – 60 Minuten im Klassenraum unter Leitung einer Person aus der Forschungsgruppe ausgefüllt wurde. Tab. 1: Soziodemographisches Profil der SchülerInnen in %

absolut

Nationalität Ohne Migrationshintergrund

71.2

3.666

Mit Migrationshintergrund

28.8

1.483

Geschlecht Schülerinnen

47.0

2.418

Schüler

53.0

2.731

Teilnahmestaat Deutschland

Österreich Slowenien Spanien

55.0

2.832

14.1 14.1

724 726

16.8

867

Antisemitismus bekämpfen – auch eine Aufgabe der Werte-Bildung?

91

(Fortsetzung) in %

absolut

Besuchter Schultyp Hauptschule

26.2

1.347

Realschule Gesamtschule

28.3 36,3

1.458 1.869

Gymnasium

9.2

473

Alter, MW: 14,40, SD: 0,934

Gesamtstichprobe, N= 5.149

Messinstrumente Der Migrationsstatus der Befragten wurde über die Fragen nach der Nationalität/ den Nationalitäten, dem Geburtsland, der Muttersprache sowie der gesprochenen Sprachen im Alltag ermittelt. Wenn eine der Antworten zu diesen Fragen auf einen Migrationshintergrund hinwies, wurden die Jugendlichen entsprechend zugeteilt. Der Sozio-ökonomische Status (SES) setzt sich aus dem höchsten Bildungsabschluss der Eltern und der Anzahl Bücher im Haushalt zusammen34. Es handelt sich ausschließlich um Selbsteinschätzungen der Jugendlichen. Die eingesetzten Skalen wurden aus den Mittelwertscores gebildet und faktorenanalytisch auf Eindimensionalität hin überprüft. Die Skala Antisemitismus, eine Weiterentwicklung der Albusskala »Antisemitismus« durch Kassis35, bestehend aus vier Items, thematisierte massive Vorurteile gegen Juden. Die Skala wies einen einen hohen Cronbach’s Alpha von .726 auf und kann demnach als reliabel gemessen gewertet werden. Folgende vier Items, mit der vierstufigen Likertskalierung »stimmt voll und ganz«, »stimmt eher«, »stimmt eher nicht« und »stimmt gar nicht«, wurden den ProbandInnen vorgelegt: – Juden sind meiner Meinung nach hier unerwünscht, auch wenn sie hier arbeiten und Steuern zahlen. – Wenn Juden hier leben wollen, müssen sie sich mehr anpassen. – Deutsche Juden sind krimineller als andere Deutsche. – Deutsche Frauen sollten keine Juden heiraten. 34 Vgl. Jürgen Hoffmeyer-Zlotnik, Alfons Geis, Berufsklassifikation und Messung des beruflichen Status/Prestige, in: ZUMA-Nachrichten 27/2003, S. 125 – 138. 35 Vgl. Wassilis Kassis, Ausländerfeindlich motivierte Gewaltakzeptanz Jugendlicher zwischen gesellschaftlichen Dominanz- und schulischen sowie familiären Desintegrationserfahrungen. Eine Annäherung über Strukturgleichungsmodelle, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 2005, S. 96 – 111.

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In einem ersten Schritt halten wir die Häufigkeiten bezüglich der antisemitischen Einstellungen fest. Demnach weisen gerade 21.8 % der befragten Jugendlichen (n=1.121) antisemitische Einstellungen von sich (stimmt gar nicht). 59.0 % (n=3.036) bezeugen ein eher ambivalentes Verhältnis (stimmt eher nicht), was bei den doch sehr deutlichen und »abweisenden« Einstellungen, die hier zur Diskussion standen doch sehr erstaunt. Insgesamt 19.3 % der Jugendlichen lassen dagegen deutliche antisemitische Vorurteile erkennen. Dies aufgeteilt in 16.2 % (n=832) Jugendliche, die (stimmt eher) sagen und 3.1 % (n=160) Jugendliche, die »stimmt voll und ganz« ankreuzen. Gesamthaft halten wir demnach fest, dass einzig nur rund jeder fünfte Jugendliche frei von antisemitischen Vorurteilen genannt werden kann (»stimmt gar nicht« wurde angekreuzt). 60 % der Jugendlichen bezeugen eine Ambivalenz zum Thema und wiederum jeder fünfte Jugendliche kann als stark antisemitisch bezeichnet werden. Diese doch ernüchternden Ergebnisse sollen im Weiteren auf den Zusammenhang mit den soziodemographischen Faktoren Nation, Gender, Migration und SES in Zusammenhang gebracht werden.

Ergebnisse: Regressionsanalysen zur Prädiktion antisemitischer Einstellungen bei Jugendlichen Es wurden logistische Regressionsanalysen zur Prädiktion antisemitischer Vorurteile gerechnet. Die Regressionsanalysen wurden in vier Analyseschritten berechnet, um die spezifischen Wirkungen der einzelnen Vorhersagefaktoren differenzierter erkennen zu können. Das Modell 1 enthält das Land, in welchem die Erhebung stattfand. Das Modell 2 berücksichtigt zusätzlich Gender als eine weitere soziodemographische Erklärungsvariable. Im Modell 3 wird noch der Migrationshintergrund aufgenommen. Das Modell 4 schließlich nimmt noch die Wirkungen des sozio-ökonomischen Status (SES) auf. Bevor die Regressionen gerechnet worden sind, musste zuerst überprüft werden, inwiefern die Prädiktoren nicht zu hoch miteinander korrelieren (Testung auf Multikollinearität). Der Test fällt dahingehend positiv aus, als die höchste Korrelation zwischen den vier eingeführten sozio-demographischen Prädiktoren (r = .253**) ist. Demnach können alle vier Prädiktoren in die Regressionsanalysen eingeführt werden. Im Rahmen des ersten regressionsanalytischen Analyseschrittes wurden die fünf Modelle mit der Gesamtstichprobe gerechnet. Hierbei ging es darum, festzustellen, wie gut diese fünf Modelle geeignet sind, antisemitische Vorurteile der Jugendlichen vorherzusagen. Der zweite Analyseschritt, ebenfalls über lineare Regressionen gerechnet, überprüft die Erklärungsstärke des regressionsanalytischen Gesamtmodells

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(Modell 4) in den vier Länder-Teilstichproben. Damit soll auch die Reliabilität dieses Erklärungsmodells in unterschiedlichen Stichproben getestet werden.

Ergebnisse des ersten Analyseschrittes mit der Gesamtstichprobe Die vier regressionsanalytischen Modelle, welche mit den Jugendlichen aus der Gesamtstichprobe gerechnet worden sind, weisen darauf hin, dass sozio-demographische Faktoren als ungeeignet gewertet werden können, um antisemitische Einstellungen Jugendlicher vorherzusagen (vgl. Tab. 2). Tab. 2: Die vier Modelle in Bezug zur Gesamtstichprobe. Ergebnisse der linearen Regression zur Erklärung des Antisemitismus mit der Gesamtstichprobe N= 5.149

Staat Gender

Modell 1 Modell 2 Modell 3 Staat + Gender + Migrationsstatus b (SE) b (SE) b (SE) ,002 ,002 (.008) ,013 (.009) (.008) ,070*** (.019)

Migrationsstatus Sozio-ökonomischer Status DR2

Modell 4 + Sozio-ökonomischer Status b (SE) ,038* (.009)

,070*** (.019)

,071*** (.019)

-,046** (.022)

-,050** (.022) -,097** (.012)

0.5 %

0.1 %

0.9 %

R2 0.0 % 0.5 % 0.6 % 1.5 % Legende: *=p