Wesen und Recht der Sekte im religiösen Leben Deutschlands [Reprint 2019 ed.] 9783111680576, 9783111294339

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Wesen und Recht der Sekte im religiösen Leben Deutschlands [Reprint 2019 ed.]
 9783111680576, 9783111294339

Table of contents :
Vorwort
Wesen und Recht der Sekte im religiösen Leben Deutschlands

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Wesen und Recht der Sekte im religiösen Leben Deutschlands von

Walther «öhler D. Dr. ord. Professor an der Univ. Heidelberg

1930 Verlag von Alfred Töpelmann in Gießen

Hus der Welt der Religion Forschungen und Berichte, unter Mitwirkung von Heinrich Frick und Rudolf Gtto

heraurgegeben von Erich Fascher und Gustav INensching

Religionswissenschastliche Reihe, heft 16

Printeb in Germany

von Münchow'sche Universitätrdruckerei (Dtto Rindt in Gießen

Johannes Bauer

zum 70. Geburtstag

Vorwort. Nachstehend veröffentliche ich drei in den Ferienkursen für Aus­ länder an der Universität Heidelberg im Juli dieses Jahres gehal­ tene Vorträge,- ihre Absicht war, ein Stück deutschen religiösen Lebens zum Bewußtsein zu bringen. Wenn ich sie einer weiteren Öffentlichkeit unterbreite, so bewegt mich dazu nicht nur die freundliche Aufforderung von deutscher, an den Kursen teilnehmen­ der Seite, sondern vorab ein sachlicher Grund. Seit einer Reihe von Jahren halte ich regelmäßig über „die protestantischen Sekten und Gemeinschaftsbewegung der Gegenwart" Vorlesungen, in der Form, daß neben die von mir zu gebende Geschichte und Grganisation das Bekenntnis zum Glauben und seine Begründung trat, abgelegt von einem Vertreter von Sekte und Gemeinschaft selbst, „warum bin ich Mennonit, Baptist, Methodist, Mormone usw., und was habe ich an meinem Glauben?", auf diese Weise suchte ich meinen Zuhörern und mir den Einblick in das innere Leben reli­ giöser Gemeinschaften zu verschaffen, den nur ein „Gläubiger" selbst zu geben vermag. Ich sehe darin einfach Dienst und Pflicht der Gerechtigkeit. Einem Stück christlichen Lebens gegenüber, das nun einmal da ist, eine ungeheure Anziehungskraft besitzt und nicht nur erklärt, sondern vor allen Dingen verstanden sein will. Der Standpunkt der „allein selig machenden Landeskirche" — man mag ihn ablehnen, so viel man will, vorhanden ist er doch — muß ver­ schwinden, es muß aufhören, den Sektierer oder Gemeinschafts­ christen mit einem gewissen Ddium zu verfolgen und von ihm ahzurücken, selbst dann, wenn man ihm innerlich ganz nahe steht, nur weil man „kirchlich" ist. Vie Fronten laufen heute nicht mehr: Landeskirche — Sekte, sondern: Christentum — Widerchristentum. Freilich repräsentieren die sogenannten Sekten (und die wie sie strukturierte Gemeinschaftsbewegung) eine Eigenart des Christen­ tums, einen ganz bestimmten Typ. Den herauszuarbeiten, war mein Hauptanliegen. Denn hier läßt die im übrigen sehr reiche Literatur nahezu ganz im Stich: sie bietet historische Details und pflegt eine mehr oder minder scharfe Kritik anzuschließen. Genau umgekehrt zeichne ich meinerseits die Historie der Sekte nur in

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großen, orientierenden Linien, um die im Inneren dieser äußerlich so mannigfach differenzierten Gemeinschaften einheitlich arbeitende Systematik zu erfassen. Daß hier Max Weber und Ernst Troeltsch starke Anregungen gaben, ist selbstverständlich. Und das Urteil? Sch sehe es Röm. 14,5, und nur da. Solange die Sekten, und seien sie für unsereinen noch so abstrus, die religiösen Bedürfnisse weiter Ureise befriedigen, solange sie zu sittlich ernsten Menschen erziehen, solange die Heilsarmee oder die Ernsten Bibelforscher oder wer es sei, einen verelendeten zu retten vermögen, den die Landeskirche zu retten nicht fähig ist, solange von Mennoniten, Baptisten, Quä­ kern, Methodisten oder wer es sei — die Wirkungsweisen sind hier wunderbarlich — religiöse Kräfte ausströmen, solange darf das Urteil nur auf den persönlichen Gewissensentscheid abgestellt werden. Die Sekten haben ihr Recht auf Existenz hinlänglich bewiesen. Ruf Literaturangaben ist absichtlich verzichtet. Die Artikel in „Die Religion in Geschichte und Gegenwart" 2. Rufi, geben Material reichlich an. Die Statistik am Eingang ist aufgebaut auf den Buchern von Z. Schneider: Die Uonfessionsschichtung der Bevölke­ rung Deutschlands nach -en Ergebnissen der Volkszählung vom 16. Juni 1925, 1928 und: Die Religionszugehörigkeit in Baden in den letzten 100 Jahren, 1928. vgl. auch E. Schweitzer: Das religiöse Deutschland der Gegenwart, II, 1929. Daß die Statistik neuestens für die Landeskirche günstiger, für die Sekte etwas un­ günstiger sich stellt, ist mir bewußt. Die Rechtslage der Sekte findet man dargelegt bei G. J. Ebers: Staat und Kirche im neuen Deutschland, 1930. Heidelberg, im Rugust 1930. Walther Köhler.

AIs nach dem Sturme des Weltkrieges und den Wirren der deutschen Revolution die Christenheit in Deutschland sich auf sich selbst besann und rückschauend die Bilanz zog über die vergangenen Jahre allgemeiner Unruhe, fiel der rechnerische Abschluß sehr ver­ schieden aus: zwei große Gemeinschaften konnten Gewinn buchen, die katholische Kirche und die sogenannten protestantischen Sekten, während die protestantische Landeskirche in den verschiedenen Staaten einen Verlust an Mitgliedern verzeichnen mutzte. Zunahme und Einbuße waren nicht bedingt durch natürliche, wirtschaftliche oder soziale Faktoren, wie wenn etwa die durch den Krieg eingetretene Verminderung an Mitgliedern oder besonders ungünstige wirt­ schaftliche Verhältnisse -en Zustrom verringert oder auf der anderen Seite gesteigert hätten, diese Momente mögen sekundär das Bild beeinflußt haben, entscheidend sind sie nicht gewesen. (Es handelte und handelt sich um Willensentschlüsse: man wollte und will zur katholischen Kirche oder zur Sekte, und man vollzog und vollzieht den Austritt aus der protestantischen Landeskirche. Vie Ursachen dazu stellen wir einstweilen zurück, sie werden bewußt werden, wenn uns das Wesen der Sekte aufgegangen ist, vorläufig genügt die Tatsache zum Beweise der Bedeutsamkeit der Sekten für das religiöse Leben in Deutschland. Man kann als religiöser Mensch an den Sekten nicht mehr vorübergehen, und darf sich nicht begnügen mit der Neugier des Zuschauers oder gar des überlegen lächelnden Spötters, wenn die Heilsarmee mit Fahnen und Posaunen und kfallelujahmädchen ihre Meetings im Heilszelte oder auf offenem Platze abhält und in flammender Rede zur Bußbank zwingt, oder wenn in offenem Flusse oder gedeckter Kapelle ein Erwachsener ins Wasser steigt zur Taufe, hinter diesem zunächst so seltsam Rnmutenden stecken für einen großen Teil des deutschen Volkes religiöse werte,' die gilt es zu verstehen, um in ihnen ein Stück deutscher Mentalität zu erfassen. Ein paar Belege aus der Statistik mögen zeigen, um welche (Quanten es da geht. Vie neueste Berechnung von 1925 verzeichnet eine Gesamtzahl von rund 350 000 nicht der protestantischen Landes­ kirche angehörigen und auch außerhalb des Katholizismus oder des Judentums stehenden sogenannten „Sektierern",' in Baden stehen 895 600 Landeskirchlichen 11970 Nichtlandeskirchliche gegen-

8 über, -ie Zunahme seit der Volkszählung von 1900 beträgt hier bei der Landeskirche 27,6 °/o, bei den Sektierern 132«/». 3n Wirk­ lichkeit ist die Zahl der „Sektierer" bedeutend größer, sofern manche aus irgend einem Grunde ihre Zugehörigkeit zur Sekte ver­ schweigen und sich als landeskirchlich („protestantisch", „evangelisch" oder ähnlich) in die Listen eintragen, ohne es zu sein. Eine genaue Statistik ist unmöglich. Auch aus dem Grunde, weil manche Sekten, wie etwa die Jrvingianer oder Darbqsten, sie verbieten, mit der biblischen Begründung: -er Herr schlug David mit Pestilenz, als er sein Volk zählte (2. Sam. 24). Der Bund der Baptistengemeinden Deutschlands, der in seinem „Jahrbuch" regelmäßige Übersichten bietet, verzeichnete für Ende 1926: 60044 Mitglieder in Deutsch­ land, das bedeutet eine Zunahme von rund 700 Mitgliedern gegen­ über 1925, die neueste Zählung für Ende 1929 : 61615 d. h. eine Zunahme von 676 Mitgliedern gegenüber 1928. Bei den übrigen Sekten steht es ähnlich,' einzig wohl die Mennoniten oder £Ut= irvingianer bleiben stationär oder gehen langsam zurück.

I.

Doch um welche religiösen Gemeinschaften handelt es sich? Alle Sekten und was man dafür hält, in Deutschland, anzuführen, ist unmöglich und zwecklos. Manche gleichen Eintagsfliegen, die ebenso schnell vergehen wie sie plötzlich auftauchen, sie hängen an der Person ihres Stifters, der für eine weile, vielleicht für die Dauer seines Lebens, vielleicht kürzer durch die Macht seiner Rede oder durch die Gabe der Krankenheilung, die keineswegs ohne weiteres als Schwindel abgetan werden darf, sondern auf psy­ chischer Befähigung ruhen kann, auch wohl durch angebliche Ein­ blicke in das Jenseits in spiritistischer Verbrämung einen kleineren oder größeren Kreis um sich sammelt, und pflegen sich wieder zu verlaufen, wenn dieser persönliche Reiz aufhört. Dahin gehören etwa die Lorenzianer in Westsachsen,' begründet durch Som­ nambule in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, im Zu­ sammenhang mit der damaligen Erweckungsbewegung, hat die Gemeinschaft 1912 einen neuen Aufschwung genommen, indem Hermann Lorenz als Prophet mit wunderlichen Spekulationen auftrat — das Zriedensreich soll am Nordpol aufgerichtet werden 1922 die „Gemeinschaft in Lhristo Jesu" konstituierte, auch einen eigenen „Tempel" baute und etwa 5000 Mitglieder um sich sammelte. Dder ich nenne den in Berlin und Umgegend wirkenden „Propheten" und Heilmagnetiseur Weißenberg, der sich als Inkarnation des h. Geistes betrachtet, seine Anhänger zur „christlichen Vereinigung

Ernster Forscher vom Diesseits nach dem Jenseits, wahre An­ hänger der christlichen Kirche" zusammenbindet und seine Medien Jenseitsbotschaften von Luther, Ludwig windthorst, Bismarck, Kaiser Wilhelm L, oder auch von Petrus oder dem Engel Gabriel ver­ künden läßt, wobei dann freilich die Mitteilungen inhaltlich nichts­ sagend, in der Form Berlinerisch bis zur Schnodderigkeit sind. Dder es seien genannt die Kurzwegianer in Posen,- nach dem Kriege traten sie auf; ihr Grundgedanke ist: jeder Mensch ist vom Teufel besessen, dem man nach dem Worte des Hebräer­ briefes „bis auf's Blut" widerstehen muß, der also, glaubt man, nur durch Blutbrechen ausfährt, daher dann die Gemeinschaft die „Spucker" genannt wird. Vie Älteren unter uns erinnern sich wohl noch des zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Amerika auftauchen­ den „Elias des wiederherstellers" (Elias the Restorer), John Alexander vowie, der in der Nähe von Ehicago eine eigene Zions­ stadt gründete, nach dem Kontinent herüberkam, hier, auch in Deutschland, Anhänger fand, dann aber schmählichen Bankerott seiner geschäftlichen Unternehmungen erlebte — ein Beispiel für viele, wie schmal und für den Beobachter oft unziehbar in der­ artigen Gemeinschaften die Grenzen zwischen Religion, Pathologie und bewußtem Betrug laufen können. Aber man darf in keiner Weise um derartiger Enfants terribles willen, die den Landes­ kirchen ebenso wenig fremd sind, alle „Sekten" in einen großen Topf werfen und en mässe verurteilen. Wenn irgend, so ist auf diesem Gebiete sorgfältigste Differenzierung Pflicht, und im all­ gemeinen muß man den guten willen mitbringen, sich einfühlen zu wollen in die im ersten Augenblick oft seltsam anmutende religiöse Motivation, um das hier pulsierende Leben in seiner Kraft zu achten und zu würdigen und in seiner Schwäche zu ver­ stehen und zu deuten. Das ist nicht immer leicht, aber Sinn­ findung in der Geschichte, insbesondere in der gestaltungsreichen Thristentumsgeschichte, ist niemals selbstverständlich. Die älteste der in Deutschland heimischen Sekten sind die Mennoniten. Sie sind die Nachfahren der sogenannten Wieder­ täufer der Reformationszeit — besser und gerechter sollte man sie Täufer nennen oder Taufgesinnte, wie sie z. B. in Holland (voopsgezinde) und in der Schweiz sich selbst bezeichnen; denn sie taufen natürlich nicht zweimal, sondern kennen nur die Erwach­ senentaufe, sofern aber die zu ihnen Übertretenden schon als Kinder nach kirchlichem Brauche getauft waren, konnten ihre Gegner von Wiedertaufe und Wiedertäufern reden. Die Täufergemeinden sind die einzige im besten Wortsinne bodenständige größere deutsche Sekte; denn wenn auch die älteste Täufergemeinde 1523 sich in

10 Zürich bildete, so stand dieselbe einmal unter starker deutscher Anregung (Andreas Karlstadt und Thomas INünzer wirkten ein), und sodann haben sich sehr rasch in Deutschland, und zwar allent­ halben, wenn auch besonders stark in Süddeutschland und am Nieder­ rhein, aber auch z. B. in Preußen, selbständige deutsche Gemeinden gebildet. Venn das ist für die Täufer charakteristisch, daß hier nicht aus einer Wurzel ein großer Baum mit zahlreichen Ver­ zweigungen und Verästelungen emporwuchs, vielmehr an verschie­ denen Stellen emporsprießende Gewächse mit erstarkendem Wachs­ tum nach obenhin gleichsam eine gemeinsame Verbindung suchen und z. T., aber nicht ganz, auch gefunden haben. Einen Stifter der Täufer gibt es nicht, Menno Simons ist nur Begründer eines Teiles der Täufergemeinschaften; er sammelte in den Jahren nach dem Untergang des Täuferreiches in Münster 1535 die zer­ sprengten niederländisch-niederrheinischen Gemeinden um sich, und von da aus ging der Name „Mennoniten" auf andere Gruppen über, ist aber keineswegs, auch in Deutschland nicht, allgemein, verbunden sind die verbände oder Einzelgemeinden daher nicht durch eine gemeinsame Nechtsorganisation, sondern — und auch das nicht einmal immer — durch die Gemeinsamkeit religiöser Lebensauffassung. Nach der Volkszählung von 1925 betrug die Zahl der Menno­ niten im deutschen Reiche 13 298 (Getaufte und Ungetaufte) gegen­ über 21 500 vor dem Weltkriege; die Gebietsverluste Deutschlands im Westen und im Gsten haben die Mennoniten hart getroffen — zählte doch allein das Danziger Gebiet etwa 6500 Mitglieder. 3m vergleiche zur Schweiz, wo 1500 Täufer gezählt werden, zu Hol­ land (70000), Amerika (250000), Kanada (50000), Rußland (60000), Polen (2300), Frankreich (3000), ist der deutsche Prozent­ satz im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung und Größe des Landes niedrig. Gegliedert sind die deutschen Mennoniten, soweit nicht lose Einzelgemeinden bestehen, in zwei verbänden: die bayrischen, württembergischen und badischen Gemeinden — etwa 5300 Seelen — sind in der „Konferenz der süddeutschen Mennoniten" lose zu­ sammengeschlossen, die pfälzisch-hessischen Gemeinden, untereinander in einem Konferenzverband verknüpft, sind mit mehreren nord­ deutschen und zwei bayerischen Gemeinden, insgesamt 22, zur „Vereinigung der Mennonitengemeinden im Deutschen Reiche" mit dem Sitz in Hamburg verbunden. Beide verbände haben ihre Zeitschrift, die Süddeutschen das „Gemeindeblatt" (seit 1870), die Norddeutschen die in Elbing erscheinenden „Mennonitischen Blätter" (seit 1854). Die Vereinigung ist fortschrittlicher, kulturoffener, moderner gerichtet als die süddeutsche Konferenz; man legt wert

auf akademischgebildete, womöglich mit einem akademischen Grade einer deutschen Universität gezierte Prediger, steht zur Landes­ kirche durchaus freundlich und hat sich dem Weltbund für Zreundschaftsarbeit der Kirchen angeschlossen. Vie Mitglieder sitzen hier zum guten Teil in den Städten und nehmen als Fabrikanten oder Beamte geachtete Stellen ein. Der Typ des schlichten, einfachen, tieffrommen, aber auch leicht etwas engherzigen Bauern-Mennoniten überwiegt hingegen im süddeutschen verbände, hier ist man kon­ servativ, bildet die Prediger auf Predigerschulen, etwa der Thrischona in Basel, oder läßt dem Bibelverständnis des Laien, der sich zu predigen berufen fühlt, das Wort, steht zur Landeskirche nicht gerade feindlich, aber ebenso wenig sonderlich freundlich, und zieht, wo man überhaupt weitere Fühlung sucht, die sogenannten „Gemein­ schaften" vor. Die Geschichte des Täufertums wird in beiden Kreisen gerne und lebhaft gepflegt; die theologische Wissenschaft verdankt diesem Interesse das wertvolle „Mennonitische Lexikon", für die Täufergeschichte unentbehrlich. (Eine Anstalt mit Realschul­ bildung unterhalten die Mennoniten auf dem Weierhof bei Marn­ heim in der Pfalz (feit 1867). In den Baptisten, die man nicht mit den Täufer-Mennoniten verwechseln darf, tritt erstmalig der englische Einfluß auf die Geschichte des deutschen Sektentums auf, um sich bis in die jüngste Vergangenheit hinein fortzusetzen. Mit England ist an diesem Punkte solidarisch Amerika, da die amerikanischen Sekten, abgesehen von den kleinen Eintagsfliegen und von den aus Deutsch­ land überpflanzten Gemeinschaften (Mennoniten und Schwenkfelder, die es in Deutschland nicht mehr gibt), englischen Ursprungs sind und mit England aufs Engste liiert blieben. Dieser englisch-ameri­ kanische Einschuß, gegenwärtig seit dem Weltkriege neu gestärkt durch die bittere Finanznot Deutschlands, die in den religiösen Ge­ meinschaften die zumeist schon selbständig gewordenen Töchter nach der Hilfe der englisch-amerikanischen Mutter ausschauen ließ und sie dankbar entgegennahm, wurzelt historisch in der Eigenart des englischen Staatskirchentums im Zeitalter der Reformation. Die damals besonders unter Elisabeth (1558—1603) und Karl I. (1625 bis 1649) etablierte sogenannte Konformität, ein Staatskirchentum mit hartem Bekenntniszwang und wirtschaftlichem Druck, geistes­ geschichtlich ein Gemisch von katholischer bischöflicher Verfassung und protestantischem, dabei aber wieder halb lutherischem, halb calvinistischem Bekenntnis, rief dem Widerspruch eines reinen Protestan­ tismus, der verfassungsrechtlich den Aufbau von unten, vom Ge­ meindeprinzip aus, und dogmatisch-ethisch die Freiheit eines Lhristenmenschen und das Rechtfertigungsprinzip bis zur Absolutheit der

12 göttlichen Erwählung gegen die katholisierte und an den Staat ge­ kettete Kirche Vortrieb. Man landete schließlich bei der Bildung völlig autonomer „independenter" (unabhängiger) Gemeinden ohne verfassungsrechtlichen Überbau; in die im einzelnen noch vielfach unklare Entwicklung dieses Independententums spielen aber die Einflüsse des kontinentalen Täufertums hinein, sodaß auch Deutsch­ land Faktor in diesem Prozesse gewesen ist. In einer kleinen Jndependentengemeinde in der Nähe von London wurde 1640 die Frage lebendig, ob es nicht schriftgemäß sei, die Taufe durch Untertauchen Erwachsener zu vollziehen. Zur Erkundung schickte man das Mitglied Richard Llount nach Holland herüber in den Kreis der Täufer von Rhijnsburg; dort ließ sich Blount taufen und führte in seiner Heimatgemeinde die holländische Taufsitte ein: die erste Laptistengemeinde war begründet, und andere folgten rasch. (Ein Jahr später, 1641, rief ein Puritaner John Smqth eine neue Baptistenbewegung ins Leben; auch er kam aus Holland, hatte sich dort aber der freieren Richtung der Rrminianer angeschlossen, die einen allgemeinen heilsratschlutz Gottes vertraten, während die Gemeinschaft Blounts die starre Lehre Cal­ vins von der Prädestination bekannte. Vie Folge dieser dogmatischen Differenz war eine voppelspurigkeit des englischen Baptismus, „General Baptifts" und „partikular Baptists" standen sich scharf gegenüber, erst 1832 erfolgte die Vereinigung zur „Baptist Union of Great Britain and Ireland", und nur in kleinen isolierten Kreisen zitterte der alte dogmatische Unterschied nach. Inzwischen war der englische Baptismus auf den Kontinent nach Deutschland herübergedrungen: der in London in independentistischen Kreise erweckte Gldenburger Johann Gerhard Ducken, tätig im Dienste der Edinburger Bibel-Gesellschaft, ließ sich 1834 in der Elbe taufen — dieses Jahr ist das Gründungsdatum des deutschen Baptismus. Neben Gncken traten als Führer Julius Köbner und Gottfried Wilhelm Lehmann, und diese drei, das „baptistische Klee­ blatt", sind die geistigen Väter der deutschen, österreichischen (seit 1846), schweizerischen und holländischen Baptisten. Unter und trotz heftigen Verfolgungen wuchsen die Gemeinden, 1849 trat in Hamburg die erste Bundeskonferenz zusammen, die seitdem alle drei Jahre sich wiederholt. 1924 unter der Folge der kirchenrechtlichen Neu­ orientierung gab man sich eine neue Verfassung und den amtlichen Namen: Bund der Gemeinden gläubig getaufter Christen Deutsch­ lands. Seitdem ist der Sitz des Bundes nicht mehr Hamburg, son­ dern Berlin. Gegliedert sind die Gemeinden in 13 Vereinigungen; die Mitgliederzahl hörten wir. Vie ausgezeichnet organisierte Presse ist konzentriert in dem von Ducken begründeten „Verlagshaus

der deutschen Baptisten", seit 1897 in Kassel (Jägerstraße). Eine besondere Traktatgesellschaft hat einen Jahresumsatz von Millionen kleiner Broschüren, Kalender und dergleichen. Unter der Leitung dieser Publikationsgesellschaften stehen die verschiedenen Zeitschrif­ ten der Baptisten, tjauptblatt ist der „Wahrheitszeuge" mit 18 000 Abonnenten. Der Pflege der Gemeinschaft unter den Predigern dient der „Hilfsbote". Für die Ausbildung der Prediger sorgt ein Pre­ digerseminar in Hamburg in durchschnittlich fünfjährigem Kursus. Alle Fächer der Theologie, z. T. in den Ursprachen, werden gelehrt, im Sinne einer „ungebrochenen Stellung zur Bibel". Die hier im Alumnate Ausgebildeten wirken nun teils im Inland teils im Dienste der Auslandsmission. Denn während die deutschen Mennoniten keinen selbständigen Ulissionsverein besitzen (sie unterstützen die holländische Mission in den Kolonien), haben sich die Baptisten zur „Missionsgesellschaft der deutschen Baptisten" zusammen­ geschlossen, die vorab in Afrika (Kamerun) arbeitet, die Frauen und Jungfrauen haben eine „Senanamission" in Indien eröffnet. Ein sehr reges Vereinswesen (Jünglings- und Jungfrauen-, Gesang­ vereine und Blaukreuzverbände), ein gut ausgebautes Diakonissen­ wesen mit Erholungsheimen und Altersversicherung für die Schwe­ stern, und intensiver Sonntagsschulunterricht bezeugen die Lebendig­ keit der Gemeinden auf dem Gebiete der Inneren Mission. 3m seit 1905 periodisch zusammentretenden baptistischen Weltkongreß findet das starke baptistische Solidaritätsgefühl seinen universalen Ausdruck- die Glieder der einzelnen Länder werden sich des einen Stammes übernational bewußt. 3n dieselbe Periode englischer Geschichte führen die (Quäker. Aus dem zählenden Boden der Kevolution, da staatskirchlicher Anglikanismus, calvinistischer Presbyterianismus und autonomes Independententum mit einander rangen, quillt der urchristliche Enthusiasmus empor. Denn Enthusiasmus ist das älteste (Quäker* tum, in ganzer Urkraft und Wildheit, die sich bis zur bizarren verzerrtheit von Krämpfen und Konvulsionen steigern konnte oder auch die Extravaganz eines Messias gebar (John Uaylor), der unter den Rufen seiner Anhänger: „Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn" seinen Einzug in Bristol hielt. Die enthusia­ stischen Zitterbewegungen (to quake-zittern) haben der Gemeinschaft auch ihren Namen eingetragen; sie selbst nannten und nennen sich „Freunde" (friends). Das (Quäkertum hat in England Vorläufer gehabt, vorab in westmorland bei den „Seekers" (Suchenden), oder bei der Gruppe der Kanters, in deren Entwicklung die nieder­ ländischen Täufer hineinspielen, und Levellers — allemal protestiert man gegen das Statut im Religionswesen und verübelt Gliver

14 Cromwell, der als Führer der Psalmen singenden „heiligen" gegen die Staatskirche Heros gewesen war, die weltpolitischen Allüren seines Protektorates. Der Stifter des (Quäkertums Georges Fox, 1624 als Sohn hochkirchlicher Anglikaner geboren, zum Kaufmann bestimmt, Leder­ händler, in seinem 19. Lebensjahr durch ein Erlebnis an zwei sich betrinkenden Freunden aufs Tiefste erschüttert, trat 1649 offen auf mit der Predigt von der lebendigen Gottesoffenbarung durch den Geist, der „das innere Licht" im Menschen anzündet, und nicht durch Schrift und Bekenntnis. 1652 bildete sich die erste Gemeinde, dank reger Propaganda in aller Welt mehren sich die Scharen, man entrollt gegen Cromwell die Fahne politischer Revolution, wird aber mit Waffengewalt niedergezwungen. Das hat die Wirkung einer Ernüchterung der Exaltation, das (Quäkertum tritt um das Jahr 1660 in feine zweite Periode ein: es wir- Independenten­ sekte, organisiert sich als solche in England, und mildert die Ekstase ab zu einem geduldigen harren auf den Geist. Der Absenker des (Quäkertums in Amerika ist 1681 durch William penn in dem nach ihm benannten pennsylvanien begründet worden. In Deutschland hat das (Quäkertum einst eine gewisse Be­ deutung gehabt; Pyrmont in Waldeck oder Friedrichstadt, Herford und Berlin etwa, zeigten blühende Gemeinden. Das alles ging unter bis auf verschwindend kleine Kreise in Minden in Westfalen und Obernkirchen (Regierungsbezirk Kassel), die in den Berichten der englischen Kontinental-Mission noch Erwähnung fanden. Aber der Weltkrieg brachte auch hier neuen Aufschwung. Dank der Liebestätigkeit der (Quäker und dank dem Widerhall, den ihre Prinzipien in der durch den Krieg verelendeten deutschen Geistes­ lage wecken mußten. Die (Quäker waren die Ersten aus feind­ lichem Land, die nach dem Waffenstillstand den Deutschen und Österreichern Hilfe boten,' sie haben Lebensrnittel in die ausge­ hungerten Länder geschickt und durch ihre großartigen Massen­ speisungen die leidenden Kinder erquickt. Und wenn sie dabei den kleinen Gästen sagten: „dies ist ein amerikanischer Freundschafts­ gruß, vermittelt durch die religiöse Gesellschaft der Freunde, welche 250 Jahre hindurch und selbst während des soeben beendeten Weltkrieges den Grundsatz vertreten hat, daß nur Hilfsbereitschaft und Liebe, und nicht Krieg und Gewalt der Menschheit Frieden und Glück bringen können", so fand diese Botschaft bei allen denen, die im Kriege ein Unglück erblicken, mögen sie wie die (Quäker; Pazifisten im strengen Wortsinne sein, oder nicht, Sympathie, Zu­ stimmung und Anhang. Man zählte einen deutschen (Quäkerkreis von etwa 100 Mitgliedern, organisiert als „Sund der deutschen

Freunde"; dazu trat der größere Kreis der „Freunde der Freunde", und im Juli 1924 auf der Jahrestagung in Kassel feierte man das Gedächtnis des 300 jährigen Geburtstages von Georges Fox. Das zusammenbindende Band ist die Caritas und die pax, die Liebe und Friedensaktion, in dem Sinne, wie William penn es einmal formulierte: „Die mildtätigen, gerechten und frommen Seelen sind überall von einer Religion." Klan sucht aus der Tat der helfen­ den Liebe die reine Geistigkeit der Quäkerreligion als Ursache einer übernationalen und überkonfessionellen Wirkung zu verstehen, hundert Jahre später zeigte das religiöse England ein ganz anderes Bild. Die Staatskirche hat sich den führenden Platz wieder errungen, aber sie bleibt im Statut verknöchert, der Sndependentismus ist zurückgeschoben, denn das regsame intellektuelle England ist inzwischen Aufklärer geworden, Deismus und INoralismus saugen die lebendige Gottesbeziehung auf; der verstand oder die platte Nützlichkeit verdrängen das Gemüt, Kirche und Lhristentum kommen in die fatale Situation, nach ihrem äußeren und inneren Recht befragt zu werden, soziale Klißstände entfremden ihnen die Klassen. Da sprudelt der warme Quell des Methodismus durch ver­ schüttetes Gestein sieghaft durch. Der Methodismus ist die metho­ dische fromme Reaktion gegen die Verflachung des englischen reli­ giösen Lebens im 18. Jahrhundert. Hus der Staatskirche, in der schon seit Ausgang des 17. Jahrhunderts kleine religiöse oder soziale Vereinigungen sich zu Zwecken der Neubelebung gebildet hatten, in der auch ein Lrweckungsprediger, William Law, 1728 seinen „ernsten Ruf" (Serious call) hatte ertönen lassen, wächst er heraus. Buchstäblich, so wie man aus einem Kleide heraus wächst, wenn man größer wird. Der Methodismus ist nie offiziell aus der Staatskirche ausgetreten, aber in etappenförmiger Entwick­ lung steht er etwa um 1797 draußen, weil er mündig geworden ist. Seine Begründer sind die beiden Brüder Wesley, John und Lharles. 3n Oxford waren sie in eine methodische Frömmigkeits­ pflege in einem Konventikel hereingeraten — schon damals hat man diese erweckten Studenten als „Methodisten" verspottet, heute ist der Spottname Ehrenname —, dann hatte John Wesley am 24. Mai 1738 abends 1/4 vor 9 Uhr seine Bekehrung erlebt, wie jede ernste innere Wandlung übte sie propagandistische Wirkung aus, es bildeten sich methodistische Kreise, Gemeinden, schließlich eine ganze Kirche; auf ihre Organisation, auch auf ihre Frömmigkeit wirkte die deutsche Brüdergemeinde ein. So war die Beziehung zu Deutschland von Anfang an gegeben. Aber der deutsche Methodismus der Gegenwart ist eine Tochter nicht der englischen, sondern der seit 1784 selbständigen amerika-

16 Nischen Methodistenkirche; und zwar in dem Sinne, daß die Tochter nicht nur finanziell, sondern auch organisatorisch von der Mutter abhängt: ein amerikanischer, in Zürich wohnender Bischof (D. John Nuelsen) steht an der Spitze der mitteleuropäischen Sprengels, zu dem Deutschland neben der Schweiz, Bulgarien, Jugoslawen, Öster­ reich, Rußland und Ungarn gehört. Vas ist nicht immer so gewesen. Vie älteste deutsche Methodistengemeinde war 1831 in Württemberg (Winnenden) von England aus durch einen dorthin geflohenen Deutschen begründet worden; erst 1849 waren die Amerikaner unter Dr. Jacobi nach Bremen gekommen; bis 1897 gingen beide Ströme neben einander her, dann schlossen sich die „englischen" deutschen Methodisten der ihnen numerisch überlegenen amerika­ nischen bischöflichen Methodistenkirche an. Vie Methodisten Deutschlands zählen etwa 41000 Mitglieder mit 230 Predigern. Ihr geistiger Mittelpunkt ist Frankfurt a. M. hier befindet sich, im Vororte Ginnheim, das wissenschaftlich sehr gut ausgestattete Predigerseminar, das sogenannte Martin-MissionsHaus; in vierjährigem Kursus, in Fühlung mit der wissenschaftlichen Theologie, werden die jungen Kandidaten ausgebildet. In Frank­ furt befindet sich auch ein heim des Viakonissenvereins, des so­ genannten Bethanien-Vereins, etwa 400 Schwestern stehen in seinem Dienste; mit dem heim ist ein großes Krankenhaus verbunden, wie auch anderweitig; das große Spital in Eppendorf bei Hamburg genießt Weltruf. Vie presse ist seit 1850 im Traktathause Bremen konzentriert; hier wird die methodistische Literatur gedruckt, hier erscheinen die Zeitschriften, von denen der „Evangelist" mit 13000 Abonnenten die bedeutendste ist — neben ihm stehen „die Friedens­ glocke", „die Wächterstimme", „der Missionsbote" u. a., für die Kleinen „der Kinderfreund". Auch ein Depot der amerikanischen Bibelgesellschaft ist mit dem Traktathaus verbunden. Jünglingsund Jungfrauenvereine, Gesangvereine und dgl. halten das Leben in den Gemeinden rege. Vie großartige Liebestätigkeit des Methodis­ mus nach dem Weltkriege hat ihm in Deutschland allenthalben in Verbindung mit seiner verinnerlichten Frömmigkeit warme Sym­ pathie und Freundschaft erworben; sein Bischof und geistiger Führer John Nuelsen, Ehrendoktor der Theologischen Fakultät von Berlin, ist eine der markantesten Figuren der sogenannten ökumenischen Be­ wegung, die den Zusammenschluß des Lhristentums erstrebt. Eine methodistische Zelle, die vom Gesamtkörper sich loslöste, weil sie in seine Strukturentwicklung nicht hineinpassen wollte, die aber vielleicht den weg zur Verschmelzung mit ihm zurück­ finden wird, ist die Evangelische Gemeinschaft. Ein in Amerika eingewanderter Württemberger, Jakob Albrecht, wirkte

als methodistischer Reiseprediger unter den Deutschen Pennsplvaniens seit 1796. Unter dem Druck des Nationalitätenproblems, das die Methodisten in der Zeit unmittelbar nach dem amerikanischen Frei­ heitskrieg nur unter den Engländern missionieren ließ, begann 1803 die Verselbständigung, die aber den methodistischen Lharakter in Verfassung und Frömmigkeitsauffassung nicht änderte. 1850 faßte die Gemeinschaft in Deutschland Fuß und zählt heute etwa 25 000 Mitglieder, die zu einer süddeutschen und norddeutschen Konferenz zusammengeschlossen sind. 3n Stuttgart besitzt man ein „christliches Verlagshaus", in dem „der evangelische Botschafter" erscheint. Die Prediger werden auf einem Seminar in Reutlingen ausgebildet, in einem einfachen Bibelchristentum. Etwa 300 Diakonissen arbeiten für die Gemeinschaft. „Die Geisterwelt ist nicht verschlossen", so möchte man als Motto über die kleine, kaum hundert Mitglieder, vorab in Stutt­ gart und Berlin, zählende Gemeinschaft „der Neuen Kirche" oder der Swedenborgianer setzen. Ihr Begründer, Emanuel Swedenborg, ist von Haus aus ein Schwede, 1688 geboren, erlebte aber 1745 in London seine göttliche Berufung, sodaß die Mehrzahl der Anhänger — insgesamt etwa 14000 — Engländer und Ameri­ kaner sind. Man pflegt die Erinnerung an den Stifter, verbreitet durch die „Swedenborg-Gesellschaft" seine Schriften, hält durch die „Monats-Blätter für die Neue Kirche" die Verbindung unter den Mitgliedern wach. Einst im Zeitalter der Romantik in Württemberg, dem Lande der Seherin von Prevorst, ein Faktor im religiösen Leben, sucht die Gemeinde heute ihrem Grundgedanken, der Existenz einer selbständigen Geisterwelt, neben der leiblichen Welt, religiöse Ver­ tiefung zu geben, ohne die früher betonte spiritistische Geisterseheret hervorzukehren. Darf man von den Sekten englischen oder amerikanischen Ur­ sprungs auf deutschem Boden sagen, daß das Ausländische praktisch kaum oder nur in gewissen Frömmigkeitsakzenten und organisa­ torischen Maßnahmen zutage tritt, so liegt die Sache anders bei den „heiligen der letzten Tage", den Mormonen, hier ist das Ur­ sprungsland unmittelbar religiös geheiligt,' es ist das gelobte Land der Verheißung, und jedes Mormonen Sehnsucht geht dahin, zu dieser heiligen Stätte, dem Staate Utah, versammelt zu sein, wo Gottes Geist im Präsidenten der heiligen lebt und das Reich Gottes am Ende der Tage sich herniedersenken wird. Darum ist die Aus­ wanderung nach Utah zwar nicht Gebot für die deutschen Mormonen, aber Hoffnung. Die Geschichte dieser Gemeinschaft hat religionshistorisch eigenartigen Reiz. Der Begründer ist hier zugleich Heiland, und die Uöhler, Sekte.

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18 umformende Kraft des Heilandsglaubens, nachdem einmal die Apotheosierung vollzogen war, frappiert. Vie geschichtliche Figur von Joseph Smith — so heißt der Begrünter, 1805 im Staate New York geboren — tragt alle Zuge eines Psychopathen an sich. Ein Mann aus zweifelhafter Familie, lebend in einer Traum- und Wunder­ welt, Schatzgräber, im Besitze einer Wunderbrille, die es ihm er­ möglicht, angebliche goldene, mit Hieroglyphen bedeckte Tafeln zu lesen, deren Inhalt 1830 als „Buch Mormon* herausgegeben wurde, angestaunt und verehrt um deswillen, gründet er eine Gemein­ schaft, wandert umher, stiftet die Stadt Nouvoo ant Missisippi und wird hier 1844 erschossen. Nun hat die Bewegung einen Märtyrer, um dessen Stirne sich der Heiligenschein windet. Bus Nouvoo ausgewiesen, zieht die Mormonenschar 1845 unter ungeheuren Ent­ behrungen nach Utah und begründet dort das Staatswesen, das heute (feit 1896) zu den vereinigten Staaten gehört. Vie missionarische Kraft des Mormonismus ist ungeheuer groß, durchschnittlich 2000 Missionare werden jährlich ausgesandt, veutschland gehört (seit 1851) zur europäischen Mission, und da speziell wieder zur deutsch-österreichischen Mission und zur schweizerisch­ deutschen Mission — die Grenzen der beiden Missionen laufen mitten durch Deutschland. Vie Zahl der Mitglieder beträgt etwa 13000 und hat nach dem Kriege sehr zugenommen — ehedem hatte man sie mißtrauisch beobachtet und in Preußen z. B. vorübergehend ausgewiesen. Vie Missionare sind überwiegend Amerikaner, die einzelnen Gemeinden zu Bezirken, die Bezirke zu (8) Konferenzen zusammengeschlossen. AIs Gemeindeblatt dient der in vresden ge­ druckte „Stern*, das Gemeindeleben ist rege, in größeren Ge­ meinden wird gerne der rhythmische Gesang gepflegt, und bei Gemeindefesten, die zu Propagandazwecken öffentlich gefeiert werden können, verschmäht man auch die Bühn« nicht zur Aufführung harmloser Stücklein, die in das Lob des Mormonismus ausklingen. 3n den gottesdienstlichen Räumen pflegt das Bild des Propheten Smith zu hängen. Vie stark «schatologische Richtung — heilige „der letzten Tage* — teilen die Mormonen mit den Irvingianern, den Adven­ tisten und den Ernsten Bibelforschern. Der amtliche Name für die Irvingianer ist katholisch-apostolische Kirche, aber der Schott« Edward Irving, 1792 geboren, ist der Begründer. Unter dem Eindruck einer apokalyptischen Bewegung in London vertrat er seit etwa 1821 die Wiederherstellung des apostolischen Zeit­ alters mit seinen Ämtern, Aposteln, Propheten und Lehrern, Evan­ gelisten und Hirten, und das apostolische Zeitalter mit seinen Gnaden­ gaben und seinen Kräften ist der Lebensnerv dieser Gemeinschaft

geblieben. Aber die Sekte ist eine still auf das Kommen des Herrn harrende Jüngergemeinde geworden, die aus ihren Kreisen sich notdürftig ergänzt und keine Propaganda treibt. Einst, 1836, hatten von England, von Hlburq aus, die 12 Apostel der Gemein­ schaft ihren großen Welteroberungszug angetreten und in Deutsch­ land große Erfolge errungen. Aber die Apostel, die dem kommenden Herren entgegenharren sollten, starben einer nach dem anderen, 1901 der letzte, der Herr kam nicht, die Bewegung verlor ihre Werbekraft, heute zählt man in Deutschland hoch gerechnet etwa 10000. Ein Mittelpunkt fehlt, aber durch die„pastoralen Mit­ teilungen" sind die Gemeinden äußerlich verbunden, untereinander und mit den Brüdern und Schwestern in England. 3m Kultus überwiegt das Liturgische, man feiert im Altarsakrament die Gegen­ wart des Herrn bei den Seinen, altchristliche Gebete von hoher Schönheit werden gesprochen, farbige Kultgewänder werden ge­ tragen, Kerzen angezündet, und das Dpser der Gemeinde — die alte prosphora, heute Geldspenden — wird feierlich in einem Kasten durch die Gemeinde getragen und auf dem Altare nieder­ gesetzt. Vie Predigt, mitunter «ine vorgelesene Ansprache, tritt zurück, aber man kann erleben, daß der ekstatische Ruf: „Komm, Herr Jesu!" ertönt. Der Tod der zwölf Apostel ist die Krisis dieser einst so aktionsfreudigen Gemeinschaft gewesen. Aber warum creierte man keine neuen Apostel? Ein Prophet der Berliner Gemeinde, Geyer, trieb 1863, als von den alten Aposteln nur noch die Hälfte lebte, diese naheliegende Frage, als ihre Bejahung abgelehnt wurde, zur Separation der „allgemeinen christlich-apostolischen Mission" oor; sie ist wenig bedeutend geworden, war inhaltlich eine Neuauflage der alten Srvingianer, nur daß sie neue Apostel besaß, und ist nach Geyers Tode allmählich ausgestorben. Aber die damit eingerissene Spaltung griff weiter: einer der Geyer'schen Apostel, $. w. Schwartz, trat, nach Holland gesandt, in Beziehung zum reformierten Kultus, und schaffte infolgedessen alles Katholische ab. Vie Bewegung sprang nach Deutschland herüber, 1878 kam es im Hamburger Gottesdienste zur offenen Revolte, ihr Führer, ein Bahnmeister Krebs, trat als sogenannter Stammapostel an die Spitze der Gemeinschaft, die sich „Reuapostolische Gemeinde" nennt, seit 1906. Wenigstens nach außen hin, um sich von der alten „katholisch-apostolischen" Gemeinde zu unterscheiden,- unter einander nennt man sich „die Apostolischen". Seit dem 1904 erfolgten Tode von Krebs ist Hermann Niehaus, jetzt ein 82jähriger Mann, Stamm» apostel geworden, der über seine Gläubigen mit unbedingtester Autorität herrscht. Er fühlt sich von absolutem Messiasbewußtsein 2*

20 durchdrungen, seine Stimme ist Gottes Stimme, und die Apostel alle werden als „Jesus Christus im Fleische" kultisch verehrt. Das mit dem (freieren neuer Apostel — man fühlt sich auch an die Zwölfzahl nicht gebunden, sondern hat sie überschritten — ge­ wonnene Fortschrittsprinzip erwies sich als sehr glücklich: die Ge­ meinschaft gehört zu den rührigsten und verbreitetsten Sekten in Deutschland mit 138149 Mitgliedern, eingeteilt in sieben Apostel­ bezirke. Als Gemeindeblatt dient die „Wächterstimme aus 3ion"; ehedem hatte man die „Neuapostolische Rundschau", und davor die „Wächterstimmen aus Ephraim" mit der Beilage „der Herold". Neben den Aposteln kennt man die Ämter der Bischöfe, Ältesten, Evangelisten, Hirten, Priester, Diakonen und Unterdiakonen, und lebhaft erschallen im Gottesdienst die Weissagung und das Zungen­ reden. Auf das Berechnen der Ankunft Christi hat man bei alten und neuen Apostolischen verzichtet. Nicht so bei den ursprünglichen Adventisten und den Ernsten Bibelforschern. Adven­ tisten sind die „auf den Herrn harrenden". Ihr Begründer ist ein Amerikaner William Miller (1782—1846); in Baptistenkreise bekehrt, glaubte er aus der Bibel das Jahr 1843 für die Wieder­ kunft Christi herausrechnen zu können. Der Termin verstrich, aber die Bewegung hörte nicht auf, man hatte sich nur „verrechnet", es bildeten sich verschiedene Adventistengruppen; bei ihnen allen stehen „die letzten Dinge" (Eschatologie) im Mittelpunkt, wenn auch nicht immer das Ausrechnen eines bestimmten Jahres. Aus dieser Zahl heben sich die für Deutschland allein in Betracht kommenden „A d ventisten vom siebten Tage" heraus, auch wohl „Sabbatisten" genannt, weil sie als Ruhetag nicht den Sonntag, sondern den Sabbat feiern. Entstanden ist diese Gemeinschaft 1844 in Amerika, und dort, in Washington, ist das Grganisationszentrum. Die erste deutsche Gemeinde bildete sich 1876 in Solingen, die Ge­ samtzahl der deutschen Mitglieder beträgt 30073; sie gehören zur europäischen Division, die in drei Unionen zusammengefatzt ist. In eigenen Predigerschulen werden die Prediger herangebildet; die außerordentlich rege presse- und Rolportagetätigkeit ist im „AdventVerlag" in Hamburg (ehedem „Internationale Traktatgesellschaft") zusammengeschlossen; als Zeitschriften dienen der „Adventsbote", der „Herold der Wahrheit", „Rirche und Staat", für die Rinder „der kleine Freund". Sehr weit ausgebaut sind die medizinischen Institutionen, die Sanatorien zur leiblichen Hygiene; denn die Adventisten pflegen nicht die Diätetik der Seele allein. Zählt die Gemeinschaft insgesamt etwa 90—100 Sanatorien, so besitzt sie in Deutschland das vorzüglich ausgestattete Rrankenhaus „Wald-

friede" bei Berlin, ein weiteres in Bissingen, und die großartigen Altersheimanlagen in Friedensau bei Magdeburg. Ein besonderes Blatt „Gute Gesundheit" gibt hygienische Beratung. Die neueste Adventistengemeinschaft sind die „Mil l en n iums Adventisten, begründet von dem Amerikaner E. T. Rüssel (1852—1916), die Wurzel der „Ernsten Bibelforscher". Lr glaubte einen „Plan Gottes mit der Menschheit" aufstellen zu können, und schrieb 1874 über den „Zweck und die Art der Wiederkunft des Herrn". Eine Gemeinde sammelte sich um die 1879 begründete Zeitschrift „Wachtturm", deren deutsche Filiale in Barmen etabliert war. Ein großes 7 bündiges werk „Millenniumstagesanbruch", auch „Schriftstudien" genannt, erläuterte Rüssels religiöse Gedanken, seinen „Plan der Zeitalter", den zu erkennen Russell gewürdigt ist. Nach seinem Tode (1916) trat Joseph $. Rutherford an die Spitze der „Internationalen Vereinigung erster Bibelforscher" (Joeb), wie sie sich 1910 erstmalig genannt hatte. Vie erste deutsche Gemeinde ist 1903 in Elberfeld begründet worden, die Gesamtzahl der Mit­ glieder in Deutschland betrug 1926 rund 90000 gegen 1923 eine Vermehrung um hundert Prozent. Vas ist die Wirkung einer sehr regen Propaganda und der Anziehungskraft der hier verheißenen Enträtselung der letzten Geheimnisse, Rutherford hat sie in „Der Harfe Gottes", dem offiziellen Handbuch der Ernsten Bibelforscher, zusammengefaßt. Organisiert ist die Gemeinschaft unter einem 7 hopfigen Direktorium, das die Leiter der Arbeitsfelder ernennt und entläßt; „Pilger" und „Hilfspilger" werden die Missionare ge­ nannt. An der Spitze der Lokalgemeinden stehen Älteste; sie haben die Bibelstudien zu leiten, in kleinen Gruppen bis zu 20 Mitgliedern, „Beröaklassen" genannt. Für die Armenpflege und Geldsammlung sorgen die Diakonen. wiederum nach Amerika führt die Pfingstbewegung. Als das furchtbare Erdbeben von S. Franzisko 1905 die Gemüter erschütterte, glaubten erweckte Kreise in Los Angelos in Kalifor­ nien ein neues Pfingsten mit Ausgießung des h. Geistes und Reden in Zungen (Glossolalie) zu erleben. Vie Bewegung kam von Nord­ amerika nach Indien, von dort nach Norwegen, wo sie den Metho­ distenprediger Barrat ergriff. „Jesus kommt bald! Vies ist die letzte Botschaft und Ernte, bevor die Tore geschlossen werden." Als­ bald wirkte diese eschatologische Erregung auf die deutschen Gemein­ schaftskreise Kassel und Umgegend, vorab das Dorf Großalmerode, auch Ostpreußen und Schlesien oder Mülheim an der Ruhr wurden Mittelpunkte, eine Zeitschrift „pfingstgrüße" mit der Beilage: „Mit­ teilungen aus unseren Missionsgebieten" trat ins Leben, und die Pfingstbrüder wollten schon 1907 den Krieg vorausgesagt haben.

22 Aber die Gemeinschaftsbewegung fand sich zu sich selbst zurück, 1911 schied sie die pfingstgemeinde von sich aus, und damit ist diese selbständige Sekte geworden, die sich „pfingstgemeinde" oder „Lhristengemeinschaft" nennt. Eine Statistik gibt es nicht,- man schätzt in Deutschland 70000 Mitglieder, davon 1000 in 30 Gemeinden in Vaden. Der geistige Zustrom kommt jetzt von einem Engländer Smith-Wigglesworth, der seit 1920 in der Schweiz wohnt, hier hat man auch eine neue Zeitschrift „die Verheißung des Vaters" be­ gründet. Vie Einzelgemeinden stehen unter der Leitung von Pre­ digern, die als Geistesträger die Gabe der Rrankenheilung aus­ üben,- nach Ländern zusammengeschlossen, ist man in Amerika zen­ tralisiert, Mission wird in Afrika getrieben. Ganz im Gegensatz zu der etwas lärmenden Art der pfingstbrüder steht die stille Gemeinschaft der Darb pst en. Sie selbst nennen sich nicht so, sondern „Ehristliche Versammlung", aber der Engländer John Nelson Darbp (geboren 1800) ist der Begründer der Bewegung. Unter methodistischem Einflüsse separierte er sich von der anglikanischen Rirche, die Gemeinschaft ist aber nie ein­ heitlich gewesen, sondern ein loses Bündel mehr oder minder ver­ bundener Einzelgemeinden. Seit 1854 ist Deutschland Missions­ gebiet; Elberfeld war Anknüpfungspunkt und ist eine Art Mittel­ punkt geblieben. Denn hier ist der Darbpstische Verlag von Rudolf Brockhaus, dessen Vater, Rarl Friedrich Wilhelm, der Begründer des deutschen Darbpsmus war; hier erscheint nicht minder die in Seklenkreisen sehr beliebte „Elberfelder Bibel", von Elberfeld aus hat sich die Gemeinschaft nach Württemberg, Westfalen, Nassau (speziell Wiesbaden), Baden und anderweitig verbreitet. Zählung der Mitglieder ist streng verpönt, man schätzt etwa 3000. Der „Botschafter des Heils in Christo" und die „Gute Botschaft des Friedens" verbinden die Gemeinden. Gemeindebeamte kennt man nicht, es gibt nur Brüder, die je nachdem der Geist sie treibt, im Gottesdienst sprechen; an einem Tische sitzend, reicht schweigend ein Bruder dem andern das Abendmahlsbrot. 3n neuerer Zeit ist die ganz im verborgen lebende Gemeinde durch die Persönlichkeit des General von viebahn weiter bekannt geworden. Ganz anders, mit Pauken und Drometen, pflegt die Heils­ armee zu grüßen. Sie ist das Werk des ehemaligen Methodisten William Booth (1829—1912). Soziale Hilfe für die Armen und religiöse Rettung ihrer Seelen, beides in Eins, ist von Anfang an sein Ziel gewesen. Die stramme militärische monarchische Disziplin, begründet in des Generals glühender Energie, war auch von An­ fang an da, wenn auch die äußeren militärischen Embleme und der Name „Heilsarmee" erst 1878 und 1879 kamen. „Die Ge-

schichte der Heilsarmee ist in gewissem Sinne meine eigene Geschichte und die meiner Frau", Katharine, der „Mutter der Heilsarmee", als die sie mit Recht wahrhaft verehrt wurde. 1886 faßte die Heilsarmee in Deutschland, in Stuttgart, Fuß und schob sich von da aus weiter vor. Oft unter Schwierigkeiten, aber die würdige Erscheinung des Kommandeurs für Deutschland, Oliphant, und seiner liebreizenden Frau wußten der Bewegung weiteste Sym­ pathien zu gewinnen. Da die höheren Offiziere zum Teil Eng­ länder waren, brachte der Weltkrieg natürlich eine Unterbrechung des Werkes,- seit 1925 stand eine Enkelin von Booth als Kom­ mandeurin an der Spitze, seit 1929 ein Deutscher, Kommandeur Friedrich. Vie Zeitschrift, „der Kriegsruf", in über 2 Millionen Exemplaren verbreitet, kennt in Deutschland jedermann,- in den großen Städten ist die Heilsarmee unmittelbar populär geworden, und der Spott vor den hallelujahmädchen ist verstummt. Man weiß, daß diese Soldaten Gutes tun, und der Hrme und Elende vertraut, daß er hier Hilfe findet. Vie Zahl der Mitglieder be­ trägt etwa 13000 (darunter 700 Offiziere und 210 Helfer; 168 Korps, 76 Vorposten). In die stramme, im General, der seinen Nachfolger selbst be­ stimmte — es war nach Booths Tode sein Sohn Bramwell geworden — und die ganze Ökonomie in Händen hatte, gipfelnde Monarchie ist 1929 eine starke Bresche hineingerissen worden: ein noch unter dem alten General (1904) eingesetzter oberster Rat hat den er­ krankten General Bramwell Booth abgesetzt — er ist bald darauf gestorben — und durch den General Higgins ersetzt — die Heils­ armee hat damit dem Zuge der Zeit nach Demokratisierung ein Opfer gebracht und die Dynastie Booth entthront. Eine gewisse Ruflockerung ist damit eingetreten, aber der militärische Zuschnitt des Ganzen ist geblieben; auch die Einzeloffiziere arbeiten nach festem Reglement, eine Erschütterung ist durch die Palastrevolution nicht eingetreten. Nicht minder streng monarchisch organisiert ist die „Lhristliche Wissenschaft" (Lhristian Science). Sie ist der Heils­ armee nicht minder ähnlich darin, daß sich auch bei ihr ein lang­ samer Wandel im öffentlichen Urteil vollzogen hat: der religiöse wert ihrer Lehren ist bewußt geworden. 3. T. hängt dieser Um­ schwung mit der Distanzierung des Werkes von der Person zu­ sammen. Das heißt: man erkennt das werk als besser und wert­ voller als die Persönlichkeit der Stifterin, ähnlich wie bei den Mormonen. Vie 1821 geborene Begründerin Mary Baker war eine nervöse, hysterische, ungebildete, aber sehr eingebildete Natur, die nach einer zweimaligen Ehe 1862 unter den Einfluß eines wunder-

24 doktors (Quimbt) kam, dessen erfolgreiche Kuren auf dem Gedanken ruhten: nicht die Arznei, sondern der im Patienten lebendige Glaube macht gesund,- Krankheit ist Irrtum, wer richtig denkt, ist gesund. Damit war dar Prinzip der Christian Science gegeben. Eigene Erfahrung bestätigten die Richtigkeit der Maxime,- nach Vuimbys Tode — 1866 — trat sie als Entdeckerin der „Lhristian Science" auf. Insofern mit Recht, als sie aus der Praktik Duimbys, der heilsmagnetische Kuren und Mixturen nicht verschmäht hatte, das Medikament radikal verbannte, statt dessen die religiöse flöte: Gott ist der Helfer, selbständig hineinbrachte. 3n Boston etablierte sie sich, heiratete 1876 zum 3. Male, einen Kaufmann Eddy, und legte ihre Gedanken in dem großen Buche „Science and Health", der Bibel der Scientisten, nieder — 1910 wurde die Übersetzung in deutsche Sprache gestattet, aber der inzwischen revidierte eng­ lische Text steht daneben. Vie Gemeinschaft konstituierte sich als Kirche, die Stifterin selbst predigte. Vie erste deutsche Gemeinde wurde 1899 in Hannover begründet, seit 1904 erscheint die Zeit­ schrift: „Herold der Thristlichen Wissenschaft", ein Absenker des amerikanischen Journal of Christian Science. Aber die deutschen Scientisten sind nicht einheitliche ein Zweig hat sich von der ameri­ kanischen Leitung losgesagt und gibt eine eigene Zeitschrift, das „deutsche Monatsheft der christlichen Wissenschaft", heraus. Vie Stifterin ist 1910 gestorben, aber ihr werk blüht in etwa 1600 Kirchengemeinden, die über die ganze Welt zerstreut sind,- davon sind etwa 30 in Deutschland. An der Spitze steht ein Verwaltungs­ rat in Boston, der ein sehr strenges Regiment ausübt, z. B. keine selbständige predigt gestattet, von Zeit zu Zeit erscheinen amerika­ nische Sendboten und halten Vorträge, im übrigen werden in den Gottesdiensten abwechselnd Bibelabschnitte und Stellen aus „Wissen­ schaft und Heilung" vorgelesen, oder man hält „Zeugnisversamm­ lungen" ab, in denen die Geheilten ihre Erfahrungen offenbaren.

II.

Eine bunte Karte bietet dieser kurze Überblick. Aber in ihm besitzen wir doch nur erst ein äußeres Bild, noch nicht das innere Verständnis und damit die Einsicht in das Warum? der Bedeutung dieser Gemeinschaften. Weshalb heißen sie überhaupt Sekten, und warum kontrastiert man sie mit den Kirchen, wo sie doch z. T. wie etwa die Methodisten, Mormonen oder die Christliche Wissen­ schaft, selbst den Kirchennamen nicht verschmähen? 1926 haben sich Methodisten, Baptisten und Evangelische Gemeinschaft zur ver-

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einigung evangelischer Frei-Kirchen Deutschlands zusammen­ geschlossen. Vie Gegensetzung zur Kirche hat ihre historische Wurzel. Aber man darf sprachgeschichtlich das Wort „Sekte" nicht von secare = abschneiden ableiten, wie wenn die Sektierer die von der Kirche Abgetrennten wären. Secta, griechisch aipeatq, kommt von sequor und bedeutet die Richtung, die Partei. So kommt es auch im Neuen Testament (Gal. 5, 20), in der lateinischen Bibelübersetzung, vor. Ist es da noch gleichsam harmlos gebraucht, so zeigt die Kirchengeschichte von Anfang an das Auftauchen des Sektierers und der Sekte in den Momenten, wo entweder Kirche sich formen will oder geformte Kirche als Entartung bewußt wird. Es ist nicht Zufall, daß im Titusbriefe (3, 10), dem Briefe, in dem das werdende Kirchenregiment sich deutlich regt, das Wort steht: „einen ketzerischen Menschen, einen Häretiker, Sektierer, meide" — sie waren schon damals da, die Sektierer. Als dann gegen Aus­ gang des 2. Jahrhunderts die frühkatholische Kirche sich zusammen­ schloß, standen Montanisten und Gnostiker als Sektierer gegen sie. Als Konstantin im 4. Jahrhundert die Verknüpfung von Kirche und Staat vollzog, war der vonatismus die diese kirchliche Wendung begleitende Sekte; die Sektenfülle des ausgehenden Mittelalters ist das Gegenstück zum Zerfall der Papstkirche, die Täufer bilden sich mit der werdenden Lutherischen Landeskirche, unser Überblick zeigte wiederholt die Gründung der Sekte als Folge bewußten Austrittes aus der Kirche, und dem hochschnellen der Sekte in der Gegenwart entspricht die Senkung in der Landeskirche. Vie Sekte ist also, historisch geschaut, ein ständiger Protest gegen die Kirche. Umso rätselhafter die „Kirchen" unter den Sekten! Sie könnten freilich eine äußere Ursache kirchenrechtlicher Art haben. Der westfälische Friede von 1648 bestimmte: außer der katholischen, lutherischen, reformierten Religion soll keine andere toleriert werden, und die Eisenacher Konferenz von 1855 nannte dem entsprechend „Sekten" „die Gemeinschaften, welche sich in Bezug auf Lehre und Bekenntnis mit keiner der durch den Westfälischen Frieden und nachher in Deutschland öffentlich anerkannten Kirchen in Übereinstimmung be­ finden". Also staatsrechtlich war alles Sekte, außer den staatsrecht­ lich anerkannten Religionskörpern, zu denen z. B. auch die Herrn­ huter Brüdergemeinde inzwischen gehörte, einerlei ob „Kirche" oder nicht. Vieser juristische Machtspruch ist im Allgemeinbewußtsein noch sehr stark lebendig: Sekte ist, was nicht Landeskirche ist, einerlei, wie es ausschaut. Gder wenn man unter dem Eindruck neuer kirchenrechtlicher Entwicklung statt „Landeskirche" „privilegierte

26 Kirche" sagt, so wird das Bild dadurch nicht besser. Staatsrecht kann nie über religiöse Wesensart entscheiden, aber Wesensverständnis allein vermag Bedeutung zu erschließen. Vie Gegensätzlichkeit der Sekte zur Kirche war schon da, als es noch gar kein Staatskirchen­ recht gab, also muß ihr Wesen außerhalb der juristischen Sphäre gesucht und gefunden werden. Aber eben antithetisch zur Kirche. Wie wird das möglich? 3n der Sekte ist ein ganz bestimmter Formwille vorhanden, der einen ebenso bestimmten Strukturaufbau, soziologisch sowohl wie religiös und ethisch, zu gestalten sucht. Vie Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Sekten besitzt hier ihren Einheitspunkt, und die zumeist scharf von einander getrennten, sehr exklusiven Ge­ meinschaften erweisen sich als Geschwister, als Kinder eines Geistes. Den gilt es zu erfassen; denn daran hängt die Bedeutung der Sekte. Man (Theodor Kolde in Erlangen) hat das Lebensprinzip der Sekte in „der einseitigen Betonung eines an sich berechtigten, von der Kirche zeitweilig vernachlässigten Gedankens oder kirchlichen handelns" sehen wollen. Daran ist richtiges,- die Sekte hat in der Regel einen Kristallisationspunkt, wie etwa die Erwachsenentaufe bei Mennoniten und Baptisten, den Apostolat bei den Jrvingianern und Neuapostolischen, oder das Gesunddenken bei der Thristian Science. Aber es stimmt doch nicht immer: neben der Erwachsenen­ taufe steht bei den Mennoniten Eidweigerung und Wehrlosigkeit — also eine Dreiheit von Prinzipien —, und wie wollte man die „Einseitigkeit" etwa der Heilsarmee fixieren?! Selbst da, wo sie sie besitzt, lebt die Sekte nicht von ihrer Einseitigkeit, sondern von einem sie durchdringenden Gesamtgeist. Und um „von der Kirche zeitweilig vernachlässigte Gedanken oder kirchliches handeln" geht es auch nicht. Die Kirche wird nie die Erwachsenentaufe ein­ führen, nie den Apostolat, nie das Gesund-Denken, sie wird nie ihre Gläubigen in einem gelobten Lande versammeln,- sie kann es nicht, mehr noch, sie darf es nicht, weil ihre Struktur es ver­ bietet. Die Gegensätze sind grundsätzlich, nicht zufällig. Schließlich könnte man ja auch der protestantischen Kirche Einseitigkeit in Be­ tonung der Rechtfertigung aus Glauben allein vorhalten,- gegen diese Lehre protestiert dann aber wieder die Sekte, zum Teil in schärfster Form, Swedenborg etwa sah in ihr „die einzige Ursache der Finsternis in den christlichen Kirchen", „ebenso irrig wie sinn­ los". Man sieht durch sie die ethische Aktivität gefährdet; so schon die Täufer in der Reformationszeit. Zur Struktur der Sekte gehört die Gewißheit, Gffenbarungsgemeinschaft zu sein. Und der Gffenbarungsquell sprudelt in der

Bibel. Keine Sekte, die nicht ihren Glauben biblisch zu begründen wüßte. Sie vertreten also allesamt Buchreligion. Nur scheinbar bilden die Quäker als reine Geistreligion dazu einen Widerspruch. Gewiß, man nennt hier die Bibel nicht „das Wort Gottes", das ist vielmehr der lebendige Lhristus, man liest im Gottesdienst nicht aus der Bibel vor, sondern hat den „schweigenden Dienst" d. h. man tritt zusammen, kein Lied ertönt, keine Qrgel spielt, kein Prediger tritt auf die Kanzel, niemand kann sagen, was in einem Gottes­ dienst geschehen soll und was nicht, es ist eine Zusammenkunft mit dem Herrn, ein wortloses Gespräch zwischen menschlichem und göttlichem Geiste, und wenn der Geist nicht zum Reden treibt, geht man still wieder auseinander — „heiliges Schweigen, aus Stille geboren, Schleuse bist du der tieferen Flut", ein wundervolles „Gott ist gegenwärtig, alles in uns schweige!" Aber man darf dieses Geistprinzip nicht in Gegensatz zur h. Schrift setzen. Wie die ganze Prophetie der Quäker empfunden wurde — John Milton schrieb so — als Erfüllung des Bibelwortes: „Und nach diesem will ich meinen Geist ausgießen über alles Fleisch und Eure Söhne und Töchter sollen weissagen, Eure Ältesten sollen Träume haben, und Eure Jünglinge sollen Gesichte sehen, auch will ich zu derselben Zeit beides über Knechte und Mägde meinen Geist ausgietzen" (Joel 3, 1 f.), so wird der in der Gemeinde lebendige Geist begründet mit dem Bibelworte: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen" (Matth. 18, 20), mit dem Worte vom Tröster, „dem h. Geiste, der Euch in alle Wahrheit leiten wird" (Iah. 14, 26) oder ähnlichem Schriftzeugnis. Und den Quäkern wird eingeschärft: „Seid sorgsam im privaten Ge­ brauch der h. Schrift, lest sie täglich in Euren Familien!" Man be­ tont, daß die unmittelbare (Offenbarung sich mit dem Evangelium Jesu Lhristi deckt. Der Geist ist also nur Interpret des Bibelwortes, der reine, wahre, wie man glaubt, weit es Gottes Geist selbst ist. Er deutet als hermeneut, aber er führt nicht über die Schrift hinaus. Er ist das lebendige Wort, und damit steht dieses auch hier an der Spitze. Darin freilich sind die Quäker einzigartig, daß sie mit ihrem Geistprinzip als lebendiger Kraft eine schriftliche Interpretations­ norm des Gotteswortes ausschließen wollen, wobei wir das „wollen" unterstreichen müssen. Sie haben keine Bekenntnisnorm, keine heiliggemäße Schrift ihres Stifters oder einer seiner Nachfolger, mit einem Worte: grundsätzlich keine Tradition, die die Bibel aus» legt und sich ihr tatsächlich damit überhöht. Aber auch nur „grundsätzlich", pn Wirklichkeit ist der Geist nicht mehr der brausende Sturmwind, von dem man nicht weiß, von wannen er

28 Kommt und wohin er geht, nicht mehr Ekstase, oft genug auch nicht mehr das stille, sanfte Säuseln, das den Propheten Elias umwehte, sondern nüchterne predigtrede auf Grund des Tagebuches von Georges oder der gedruckten „Christian Discipline", in der ein besonderer Teil „die Lehre" (Doctrine) umfaßt. Man besitzt also tatsächlich eine Tradition. Um die kommt eine christliche Re­ ligionsgemeinschaft nicht herum. Ruch der Protestantismus, trotz des sola scriptura, hat sie. 3n seinen Bekenntnissen. Geschriebenes Wort ist selten eindeutig, ein Buch wie die Bibel, aus -en verschieden­ artigsten Büchern komponiert und doch als Dffenbarungs e i n h e i t gesetzt, kann gar nicht eindeutig sein, wenn nicht Interpretation es dazu macht. Vieser notwendige Deuter ist in der katholischen Kirche der Papst — „la tradizione son’io", sagte Pius IX. — in den pro­ testantischen Gemeinschaften entsprechend ihrer Verschiedenheit eine bunte Fülle von Bekenntnisschriften. (Es Kreisen Kirche und Sekten allesamt um die Sonne der h. Schrift, aber jeder fängt die strahlende Glut individuell auf. Vie Sekte versteht die Schrift anders als die Kirche. Zum Teil so, daß sie wirklich ihre Tradition der h. Schrift überhöht. Damit wird die Tradition selbst zur Bibel, zum heiligen Buch. Das ist am stärksten der Fall bei den Mormonen. Das Buch Marino» ist die Mormonenbibel. (Es gilt als unmittelbare (Offenbarung. AIs es 1830 erstmalig erschien, stand auf dem Titelblatt: „Das Luch Morman, geschrieben von der Hand Mormons, auf Tafeln, durch Joseph Smith, Autor und Eigentümer". 3n den späteren Auflagen aber ist der „Autor" getilgt und Joseph Smith ist nur der Übersetzer eines Luches, das auf Befehl und durch den Geist der Weissagung und (Offenbarung geschrieben wurde. Und zwar von Gotteshand auf goldenen Tafeln in „neuformiertem Ägyptisch",Smith wurde durch (Offenbarung des Engels Moroni gewürdigt, diese Tafeln zu lesen dank einer Wunderbrille, einem paar in Silber­ ringe gefaßter Kristalle. Den seltsamen Namen erklärte Smith so: „Wir, die englisch Redenden sagen good, die Dänen god, die Deut­ schen gut, die Ägypter man. Daher haben wir unter Hinzufügung von more das Wort Mormon gebildet, welches wörtlich bedeutet „mehr gut" — tatsächlich gibt es das Wort man im Ägyptischen nicht. Daß dieser ganze Gedanke von goldenen Platten mit wunder­ barer Schrift damals in gewissen Kreisen lebendig war, daß die Schrift dieser angeblichen Platten mit Ägyptisch gar nichts zu tun hat, sondern Fantasie ist, daß manche Stücke des Buches mit der englischen Bibelübersetzung übereinstimmen, sogar Fehler von dort übernommen sind, also doch wohl nicht Gotteshand sind, kommt für den Mormonen gar nicht in Frage, ihm ist das Buch Mormon

Gottes unmittelbares Wort. In ihm liest oder besser — denn die krausen Gedanken sind schwierig — studiert er, nicht sowohl in unserer Bibel, obwohl er sie kennt und als inspiriert verehrt. Dazu kommen „das Buch der Lehre und Bündnisse", das ist die fixierte Tradition der Offenbarungen von Smith und seinen Nachfolgern, Anweisungen für das praktische Leben, daher besonders wichtige endlich „die köstliche perle", eine Schrift von Smith, und seit 1890 die 13 „Glaubensartikel der heiligen der letzten Tage". Und hier kommt nun unsere Bibel zum Wort, die 13 Sätze sind gestützt mit einer Fülle alt- und neutestamentlicher Belege, und das spezifisch Mormonische tritt ganz zurück — man darf nicht übersehen, daß diese Glaubensartikel für die Öffentlichkeit bestimmt sind, nicht zum wenigsten die Obrigkeit von der Christlichkeit und bürger­ lichen Loyalität der Mormonen überzeugen sollen. Auf dem Buche Mormon aber ist z. B. die sehr komplizierte Verfassung aufgebaut, eine Theokratie, die sich in die zwei Klassen der Melchisedek- und Aaronpriesterschaft gliedert, an deren Spitze der Kirchenpräsident steht, der als Prophet, Seher und Offenbarer gilt — die Offen­ barung läuft also weiter und steht hier dank der Instanz jener anderen Gffenbarungsbücher der Bibel freier gegenüber als bei den Ouäkern. Im Buche Mormon steht nicht minder die seltsame Geschichtsphilosophie der heiligen der letzten Tage, die Amerikas Indianer die Abkömmlinge der zehn verlorenen Stämme Israels sein läßt und die Mormonen die Wiederhersteller des wahren Israels. Endlich steht dort die wunderliche Spekulation über die vielen Geister in Präexistenz, die nach Leibern verlangen, weshalb die Mormonen möglichst viele Kinder erzeugen müssen. Kurz, das religiöse Eigenleben dieser Gemeinschaft lebt hier, und nicht in der Bibel. Ähnlich steht es bei der Christian Science. Gewiß, formell steht hier die Bibel parallel mit dem Gffenbarungsbuche „Wissenschaft und Gesundheit", aber praktisch hat dieses den ersten Rang. In der Bibel liest man, wie durch Jesus vor 1900 Jahren andere ge­ sund wurden, in „Wissenschaft und Gesundheit" erkennt man, wie man selbst gesund wird, und das ist das wichtigere. Ls ist nicht allzu schwer gewesen, in einer Art von Ouellenanalqse das MenschlichAllzumenschliche im Buche von Missis Eddy aufzuweisen, zu zeigen, wie Biblisches und Irdisches, die Gedanken von Emerson, Ouäkerisches u. a. sich ineinander wirren, eine ganze Reihe von Wider­ sprüchen das Buch durchzieht; aber derartige rationale Kritik bleibt völlig eindruckslos, wo der Glaube den Gffenbarungscharakter bejaht. Je weiter eine Sekte sich von biblischer Grundlage tatsäch­ lich entfernt und sie nur künstlich wiedersinden kann, desto höher

30 steigt begreiflicherweise der Wert der die Bibel ergänzenden Offen­ barung. Dem entsprechend erfreuen sich bei den Swedenborgianern die Schriften ihres Propheten höchster Wertschätzung. Sind sie auch vielfach Ausdeutungen -er Bibel, die Deutung ist eben hier das Entscheidende, weil das Richtige. Eine ganz« Fülle von Schriften „von dem Neuen Jerusalem und seiner himmlischen Lehre", „die Weisheit der Engel, betreffend die göttliche Vorsehung", „der Ver­ kehr zwischen Seele und Leib", „Himmel und Hölle, beschrieben nach Gehörtem und Geschehenem" wird von der Swedenborg-Gesellschaft verbreitet, und die Gesamtdogmatik ist zusammengefaßt in dem umfangreichen Buche „Vie wahre Ehristliche Religion, enthaltend die ganze Theologie der Neuen Rirche — so wie sie vom Herrn bei Daniel Rap. 7, 13. 14. und in der Offenbarung Rap. 21, 12 vorher­ gesagt worden ist" — der Titel verrät deutlich die Grundlage der Bibel alten und neuen Testamentes, über die sich die Deutung durch die Neue Rirche d. h. durch Swedenborg wölbt. Was Swedenborg seiner Gemeinde, sind den Adventisten, den Ernsten Bibelforschern, den varbysten die Schriften ihrer Stifter; immerhin mit der Nuance, daß die Bibel hier bewußter als die Dffenbarungsquelle von der Deutung abgehoben wird. Aber kein Adventist, geschweige denn ein Ernster Bibelforscher, wird es wagen, selbständig und anders die Bibel zu deuten als die fixierte Tra­ dition. In den Kreisen der Adventisten liest man gerne das Buch der Amerikanerin, die als Mitbegründerin der Gemeinschaft gilt, Ellen G. White: „Der große Kampf zwischen Thristo und Satan oder zwischen Licht und Finsternis während des christlichen Zeit­ alters" oder die zahlreichen Schriften des Missionsdirektors und tatsächlichen Leiters der deutschen Adventisten L. R. Lonradi: „Weis­ sagung und Weltgeschichte", „Prophetischer Ausblick auf Zeit und Ewigkeit", „Thristi glorreiche Erscheinung". Vie Ernsten Bibelforscher besitzen in Russells „Millenniumstagesanbruch" und Rutherfords „Harfe Gottes" den Schlüssel der Bibel, die Darbysten orientieren sich an Brockhaus oder ihrer Elberfelder Bibel. Vie übrigen Sekten haben natürlich allesamt auch Schriften ihrer Stifter oder Anhänger, die in Wert stehen, so gut wie die Rirche ihre mehr oder minder viel gelesenen Erbauungsschriftsteller besitzt. Vie Methodisten z. B. sehen in Wesleys Predigten und in seinen „Anmerkungen zum N. T." (Notes on the N. T.) einen klassischen Ausdruck ihres Glaubens. Zu ihrer Verbreitung sind eben die ver­ schiedenen Traktatgesellschaften da. Ehrfurchtsvoll werden auch die Kundgebungen von autoritativer Stelle vernommen, wo eine solche vorhanden ist und spricht. So etwa Ansprachen methodistischer Bi-

schöfe, Me aber nicht mit den Fastenbriefen katholischer Bischöfe verglichen werden dürfen, oder die großen Botschaften der alle vier Jahre zusammentretenden Generalkonserenz, so bei den Quäkern die jährliche Botschaft des General Meeting in London, bei der Heilsarmee die Verfügungen des Generals, soweit sie nicht rein militärischer Hrt sind, bei den Irvingianern die Kundgebungen der verstorbenen Apostel, bei den Reu-Zrvingianern die Erlasse des Stammapostels, die wie die Stimme Gottes gehört werden. Vas alles gibt Richtpunkte für das Bibelverständnis, pflegt auch stets bei einem Bibelworte anzuknüpfen. Richt minder sind natürlich die Bekenntnisse biblisch aufgebaut, die knappe „Summa" gleichsam der h. Schrift. Aber man darf die Sektierer nicht „Bekenntnischristen" in dem Sinne nennen, als wenn die Lehrsätze des Bekenntnisses wie in der kirch­ lichen Orthodoxie die starre Norm und eine Art von Strafgesetzbuch für die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft wären. Vas Gesetzmäßige der Sekten liegt anderswo, das Dogma aber als geprägte Lehre ist nie Zentrum der Sekte gewesen,- selbst bei -en Mormonen ließe sich das nur mit Vorbehalt sagen. Bei den deutschen Baptisten etwa spielt das 1847 aufgestellte Glaubensbekenntnis praktisch gar keine Rolle, die 25 Glaubensartikel der Methodisten dürfen zwar „nicht widerrufen, verändert noch mit anderen vertauscht werden", aber für keine Gemeinschaft paßt der Name „Lehrkirche" weniger als für den Methodismus; die Mennoniten vollends haben die alten Bekenntnisse aus dem 17. und 18. Jahrhundert, die übrigens nie allgemeine Anerkennung fanden, ganz abgestoßen und kennen nur das Schriftprinzip. Vas wird nun aber, wie gesagt, eigenbestimmt gehandhabt. Für die Sekte ist die h. Schrift eine Einheit, altes und neues Testament bilden einen Organismus, sie sind die Offenbarung der göttlichen Heilsökonomie selbst, nicht etwa nur die Urkunde dar­ über. Denn die Bibel ist inspiriert, ein Diktat Gottes; da kann alle Individualität der Verfasser nur eine von Klarheit zu Klar­ heit aufsteigende Einheitlichkeit der Grundauffassung, nicht aber persönliche Konzeption oder gar Widerspruch bedeuten. „Das Evan­ gelium ist älter als das Gesetz Mosis", sagt der Mormone, aber nicht etwa er allein. Das Evangelium, die Heilsbotschaft, ist viel­ mehr präexistent, ein göttlicher Heilsratschluß vor aller Zeit gefaßt, und in der Zeit einheitlich durchgeführt und in der Bibel ein­ heitlich bezeugt. Ein Adam, ein Abraham, ein David usw. sind allesamt Träger dieses Evangeliums, Vorläufer Lhristi, verborgene, noch nicht enthüllte Ehristen, keine historischen Zeitprodukte, und die Schriften der Bibel sind nicht ein Stück Weltliteratur mit ge-

32 prägtet literarischer Form, sondern Himmelsbriefe. Man lese etwa die „Kirchengeschichte", die die Mormonen herausgegeben haben, oder sonstige Aufrisse des göttlichen Heilsplanes bei den Sekten. Der „Plan der Zeitalter" bei den Ernsten Bibelforschern ist nur ein besonders ernst durchsonnenes System, es fällt aber nicht aus dem Rahmen der Grundauffassung aller Sekten von der Bibel heraus. Man rechnet, wahrend die Übrigen Zeit und Stunde dem Herrn vorbehalten (Apostelgesch. 1, 7) oder anders rechnen, wie die ursprünglichen Jrvingianer. 6000 Jahre Weltzeit werden er­ rechnet, sie waren abgelaufen 1872, dann 1874 begann die un­ sichtbare Wiederkunft Christi, 1878 die Erntezeit, 1914 das Ende der „Zeiten der Nationen". 1918 war die Zahl der 144000 ver­ siegelten der (Offenbarung des Johannes (14, 1) voll, für 1925 war die allgemeine Totenauferstehung erwartet, warum? Jere­ mias 25, 11 liest man: das jüdische Volk soll dem Könige von Babel dienen 70 Jahre, die Jahre, sagt man, sind Halbjahrzyklen zu 50 Jahren, also insgesamt 3500 Jahre,- sie laufen mit dem Jahre der Eroberung Kanaans 1575 vor Christus, enden also 1925. „Wir können erwarten, im Jahre 1925 Zeuge zu sein von der Rückkehr Abrahams, Isaaks, Jakobs und anderer Treuen des alten Bundes." Geht nun die Welt unerachtet aller Berechnungen ihren Lauf weiter, so hat man sich eben verrechnet und fangt von vorne an. Entscheidend bleibt der Charakter der Bibel als Offen­ barung der göttlichen Heilsökonomie. Darin berührt man sich mit der kirchlichen Orthodoxie, mag auch bei dieser die Diktat-In­ spiration erweicht sein. Vas kann sie auch bei Sektierern sein, etwa bei Methodisten, aber hüben wie drüben ist die historische Deutung der Bibel und die Bibelkritik verpönt. Die Bibel ist über­ geschichtlich. Die Gleichordnung von Altem und Neuem Testament bedingt eine Gleichwertung beider, die zur Vortreibung alttestamentlicher Momente in einen maßgebenden Platz innerhalb der Glaubens­ anschauung führen kann. Schon in der Sprache. Man redet gerne „in der Sprache Kanaans". Gott, der Vater Jesu Christi, und Jehova — Jahve sagt man gemeinhin nicht, weil es kritisch an­ rüchig ist — sind einer und derselbe, man errichtet ein Eben-Ezer, wenn man ein Gotteshaus baut, ein Prediger der Pfingstgemeinde gibt seinem Landhaus den Namen pisga nach der alttestamentlichen Kultstätte, ein anderer nennt seine Wohnstätte pniel usw. hat man Trauer, so rinnen die Tranen „wie Wasserbäche oder Brünn­ lein", ist Glück im Hause eingekehrt, so ist man „wie ein Baum, gepflanzet an den Wasserbächen, der seine Frucht bringet zu seiner Zeit", kurz, das Leben Israels ist Typ des gläubigen

33 Thristenlebens. (Es gibt einen Sektenjargon, den man sofort her­ auskennt, und an dem die Sekte sich erkennt. weiter greift die Herübernahme des levitischen Sehnten, wie ihn die Adventisten, Jrvingianer, Neuapostolischen und Mormonen kennen. D. h. der zehnte Teil des Jahreseinkommens wird der Nultgemeinde, insbesondere dem Unterhalte der Prediger, geopfert als freiwillige, sehr hohe Selbstbesteuerung. Die Adventisten feiern den jüdischen Sabbat als christlichen Ruhetag, sehen richtig, daß die Urgemeinde von Jerusalem auch noch den Sabbat feierte, aber greifen fehl in der Behauptung, die Feier des Sonntags gehe erst auf Kaiser Konstantin zurück. Nicht minder verpönen von da aus die Adventisten das Schweinefleisch, und was nur immer an leiblicher Diätetik in den Sekten sich findet, wie das Tabakverbot, die Abstinenz und sonstige Gesundheitspflege, stammt aus dem Alten Testamente, so gewiß es durch die Forderungen moderner Hygiene gestützt werden kann. Die Mormonen feiern das Abend­ mahl mit Wasser, die Methodisten mit alkoholfreiem wein. Für beide ist die Abstinenz Pflicht, wie wichtig ist für die Lhristian Science, aber keineswegs für sie allein, das wort (2. Mos. 15, 26): „Ich bin der Herr, Dein Arzt!" — es verbietet die hülfe mensch­ licher Arzte.

wiederum wurde ein sehr fruchtbares Motiv in der Sekten­ geschichte der Auszug aus dem Heimatlande in das Land der Derheißung, ein alttestamentlicher Gedanke, den die Rede des Stephanus (Ap.Gesch. 7, 2) im neuen Bunde heiligte. Die Sektengeschichte kennt zahlreiche „(Exodusgemeinden", kleinere Kreise; die deutschen Kolo­ nistengemeinden z. B., Jaffa und Haifa, in Palästina sind in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus Schwaben ausgezogen, um im gelobten Lande ihren „Tempel" zu erbauen, Selma Lagerläf hat in ihrem Roman „Jerusalem" die fieberhafte Spannung dieser eschatologischen Kreise meisterhaft in Worte gebannt. Und wie lebt der Exodusgedanke in den Mormonen! hier ist Utah der ge­ heiligte Boden: „Ich weiß ein Land, so herrlich, so lieblich und so schön, (Es liegt im fernen Westen stolz auf den Felsenhöhn. (Es ist das Land, verheißen dem Samen Ephraim, (Es ruft auch Dir mit Freuden: G komm mit mir zu ihm! Auf seinen höchsten Gipfeln strahlt weiß der ew'ge Schnee Und lieblich in den Tälern schläft ruhig auch der See. An seinen Grenzen weiden auf Fluren weit und grün Im Frieden Rind und Schafe — o komm mit mir dahin!" singt der heilige der letzten Tage. Brauche ich daran zu erinnern, Köhler, Sekte. Z

34 daß die Polygamie der Mormonen, die übrigens unter dem Drucke amerikanischer Staatsgewalt seit 1890 offiziell verboten ist, ihre biblische Grundlage in den Patriarchen des Alten Bundes besitzt? Überhaupt der ganze kirchliche Aufbau des Mormonismus mit dem Propheten, einem neuen Moses an -er Spitze, ist alttestamentlich. Schließlich wurzelt der allen Sekten ohne Ausnahme anhaf­ tende gesetzliche Zug in der statutarischen Gesetzesreligion des alten Testamentes. Vie Methodisten sind am freiesten davon, die Adven­ tisten am stärksten damit behaftet. Vie Übernatürlichkeit der Offenbarung wird statutarisch gebunden, wie sie das im Juden­ tum ja tatsächlich war und ist. Vas wirkt bei der Einheit der Bibel auch in die Deutung des Neuen Testamentes herüber. Und jetzt tritt der schon berührte Vorwurf der Einseitigkeit der Sekten in sein Recht. Venn lassen wir einmal den Gegenvorwurf der Einseitigkeit in der Betonung der Rechtfertigungslehre seitens der Landeskirche gelten, die beiden Einseitigkeiten liegen nicht auf gleicher Ebene. Rechtfertigung ist Berufung zur Freiheit der Rinder Gottes, ist persönliches Erlebnis und nicht Statut, wie die Einseitigkeit der Sekte, die damit in Gesetzlichkeit verfällt. Dinge der äußeren Form, des konventionellen Brauches oder der praktischen Brauchbarkeit, die in der Rirche legalisiert sind als zweckmäßige Übung, wie Organisation oder Ritus, werden in der Sekte zu göttlichen Geboten, die wesentlich sind. Man hakt ein bei einem Bibelspruch, den man teils richtig, teils falsch deutet, und hängt daran das ganze Gewicht des in­ spirationsgläubigen, buchstäblichen hinnehmens. So etwa, wenn die Christian Science aus dem bekannten Berichte von der Heilung des Gichtbrüchigen: „da nun Jesus ihren Glauben sah" (Mt. 9, 2) ihr ganzes Prinzip der Heilung durch richtiges Denken ableitet, während doch in der biblischen Erzählung von Philosophie, wie die Ehristian Science sie kennt, keine Rede ist. Wo sagt die Bibel etwas davon, daß Rrankheit bloßer Irrtum sei? Wo wird in der Bibel das Übel „verwiesen in die äußerste Raumlosigkeit der Richt-Existenz?" Wo ist in ihr das Böse Täuschung? Und hat die Bibel nicht als ihr heiligstes die Vergebung der Sünden? Die Christian Science denkt die Sünde weg. Vas Böse existiert nicht, außer in unserer Einbildung, existent ist allein Gott, der Geist ist. So bibelfremd alle diese, z. T. indischen Philosophemen ent­ lehnten Gedanken klingen und auch sind, die Christian Science weih sie allesamt biblisch zu begründen. Jesus ist der erste und voll­ kommenste Scientist. Er ist auf dem Meere gewandelt, um dar­ zutun, daß er keinen materiellen Körper habe, er hat Krankheiten auf geistigem Wege geheilt, indem er die Kranken versicherte.

-daß sie gesund seien. (Er ist von dem Tode auferstanden, um zu zeigen, daß es keinen Tod gebe. Und wir Menschenkinder „können" bas alles auch- es steht ja geschrieben (Marc. 16, 17): „die Zeichen, die da folgen werden denen, die da glauben, sind die: in meinem Namen werden sie Teufel austreiben, mit neuen Zungen reden, Schlangen vertreiben, und so sie etwas Tödliches trinken, wird es ihnen nicht schaden, auf die Kranken werden sie die Hände legen, so wird es besser mit ihnen werden." 3tn Johannesevangelium 8, 39 heißt es: „wenn ihr Abrahams Rinder wäret, so tätet ihr Abrahams Werke",- der Hebräerbrief sagt 6, 14: „Gott sprach zu Abraham: wahrlich, ich will Dich segnen und vermehren" — wer würde ahnen, daß die Mormonen mit diesen Sprüchen die Polygamie legitimierten?! Und doch ist es so: Abraham ist der Vater der Gläubigen, die Gläubigen sind die Mormonen, also müssen sie nach Gottes Verheißung sich ver­ mehren, also viele Frauen haben — die Schlüsse sind in diesen Fällen einfach, wenn man die Prämisse zugibt. Die Swedenborgianer begründen ihre Ansicht von dem geistlichen Leibe, den der Mensch im körperlichen Leibe trägt, mit dem Gedanken des Apostels Paulus (2. Kor. 5, 1 ff.): „wir wissen aber, so unser irdisches Haus dieser Hütte zerbrochen wird, daß wir einen Bau haben, von Gott er­ bauet, ein Haus nicht mit Händen gemacht, das ewig ist, im Himmel." Das sind einige Beispiele für neutestamentliche Exegese in Sektenkreisen. Die Ernsten Bibelforscher werden ja schon durch ihren Namen zu derartiger „Forschung" verpflichtet. Sie und die Neuapostolischen, bei denen in der Regel von Kenntnis des griechischen Urtextes keine Rede ist, vielmehr der deutsche Text, sei es nach Luther, sei es nach der Elberfelder Bibel, die Grundlage bilden, verfahren am will­ kürlichsten. Lieblingstummelfeld ist natürlich die (Offenbarung des Johannes, hier liest und berechnet man den Weltenlauf und deutet den Antichristen teils auf Napoleon, teils auf die Furie des Welt­ krieges, teils auf den Bolschewismus oder sonst wie. von histo­ rischem Verständnis des Buches ist keine Rede, als (Offenbarung enthüllt es die gottgegebenen Gleichnisse des „Sehers von Patmos" (Titel eines Buches des Adventisten Tonradi). Diesem Buche ent­ nommen ist auch die Versiegelung, die bei den Mormonen, den Irvingianern und Neuapostolischen als Sakrament lebendig ist. „Und ich hörte die Zahl derer, die versiegelt wurden, 144 OOO, die versiegelt waren von allen Geschlechtern der Kinder Israels" (7, 4). Diese Zahl der versiegelten mutz also bis zum Ende der Tage, das man nahe glaubt, da fein; es sind die Geretteten, und wer wollte nicht gerettet sein?! So drängt man zur Siegelung an der Stirne 3*

36 (7, 3) durch die Apostel, und den Irvingianern ist es schmerzlichste Entbehrung, daß keine Apostel mehr für diese Weihe leben. Ebenfalls unter eschatologischem Blickpunkt steht die Wertung des Spruches aus dem Hebräerbriefe (3, 8): „heute, so Ihr hören werdet Seine Stimme, so verstocket Eure herzen nicht" — ein Wort, besonders bei den Methodisten, Darbysten und der Heils­ armee beliebt, „heute, jetzt", denn Du weißt nicht, ob es Nicht heißen wird: Jetzt oder nie!, ob nicht Gott in dieser Nacht Deine Seele von Dir fordern wird, und wenn Du dann nicht gerettet wärest?! So fordert man den Entscheid, der das Leben haarscharf in zwei Hälften teilt — verloren und Gerettet — so scharf, daß der Methodist und Darbqst die Stunde oder gar die Minute der Be­ kehrung angeben kann. Darum drängt die Heilsarmee zur Buß­ bank, und „hallelujah" ertönt über die geretteten Seelen. „Denn einst wäret Ihr Finsternis, jetzt aber Licht in dem Herrn", über­ setzt die Elberfelder Bibel Eph. 5, 8, auch eine der vielen Beleg­ stellen für die scharfe Scheidung des Einst und Jetzt. Schon aber nähern wir uns damit der Tatsache, die offen anzuerkennen Pflicht ist, daß die Sekten in zahlreichen Fällen Schriftstellen und biblische Grundanschauungen historisch richtig deu­ ten. Die älteste Thristenheit hat keine Kindertaufe gekannt, und sie hat wahrscheinlich, wie die Baptisten es heute machen, auch durch Untertauchen in der Form der Grablegung (Röm. 6, 4) ge­ tauft, wenn auch daneben die Besprengungstaufe, wie sie die deutschen Mennoniten üben, bezeugt ist. Die Urgemeinde zu Jeru­ salem hat ein Apostelkollegium von Zwölf an der Spitze gehabt, wie die Jrvingianer es hatten, und die Treierung neuer Apostel durch die Neuapostolischen besitzt ein Vorbild an der Wahl des Matthias nach dem Tode des Judas (Ap.Gesch. 1, 13 ff.), wobei freilich die Sekte der Gegenwart sich an die Zwölfzahl nicht bindet. Die stramme Autorität aber der Apostel ist hüben und drüben dieselbe. Die Gemeinde zu Korinth (1. Kor. 15, 29) hat die Taufe für die Toten gekannt — sie ist heute bei den Mormonen und Neuapostolischen lebendig. Die Bergpredigt verbietet den Eid, wie die Mennoniten es fordern. Die älteste Thristenheit hat noch den Sabbat beobachtet, wie heute die Adventisten vom 7. Tage, so gewiß schon vor Konstantin „der Tag des Herrn" ihn verdrängt hat. Paulus hat den Geist, das Pneuma, sich fein-stofflich vor­ gestellt und damit den Swedenborgianern eine Grundlage für ihre Geist-Leiblichkeit geliefert. Darf man der adventistischen Lehre vom Seelenschlafe und der schöpferischen Erweckung der Seele bei der Ankunft Thristi vom Himmel, jede biblische Grundlage ab­ sprechen angesichts 1. Kor. 15, 51 f.: „wir werden nicht alle ent-

schlafen, wir werden aber alle verwandelt werden, und dasselbe plötzlich in einem Augenblick zu der Seit der letzten Posaune?" Eine einheitliche Lehre von den letzten Dingen kennt das Neue Testament nicht. Streiten doch heute Lutherforscher darum, ob nicht der Re­ formator auch die Unsterblichkeit der Seele ablehnte und am jüngsten Tage eine Neuschöpfung annahm! Wenn in den Srvingianergottesdiensten oder bei den Neuapostolischen und in der pfingstgemeinde der Ruf: „Komm, Herr Jesu!" erschallt, wenn mir ein hochgebildeter Irvingianer in tiefstem Ernste sagte: „ich gehe keinen Abend zu Bett ohne die felsenfeste Überzeugung, morgen kommt der Herr Thristus", so ist das urchristlicher Erwartungs­ glaube. Und die Kräfte der Krankenheilung durch Gebet und Handauflegung waren in den alten Thristengemeinden lebendig. Wenn der psingstgemeindler Wigglesworth Kette stehen läßt, die Kraft seiner Handauflegung vom ersten bis zum letzten Gliede dringt, wenn er Tücher segnet und diese heilbringend wirken, so berichtet die Apostelgeschichte (19, 12) von Paulus, „daß sie von seiner haut die Schweißtüchlein und Koller über die Kranken hielten, und die Seuchen von ihnen wichen, und die bösen Geister von ihnen aus­ fuhren", oder von Petrus (5, 15), daß man Kranke auf Betten und Bahren legte, „auf daß wenn Petrus käme, sein Schatten ihrer Etliche überschattete" — solche Dinge sind also in alten Thristenkreisen, vorsichtig ausgedrückt: geglaubt worden. Einen Duäkergottesdienst, der auf den Geist harrt, wird man nicht unchristlich nennen dürfen. Und wie sehr auch die Offenbarung des Johannes mißhandelt wird, der Glaube an das tausendjährige Reich, die blutrot gemalten Bilder von der Messiasschlacht gegen den Anti­ christen, die himmlische Stadt mit den zwölf Perlentoren und das gläserne Meer, an dem die Überwinder mit Gottesharfen stehen, von dem die Baptisten u. a. ergreifend singen, ist in ältesten Ehristenkreisen eine Kraft gewesen. Es geht nicht an, diese und noch viele andere Glaubensmomente der Sekten als „Unsinn" bei­ seite zu schieben,- ein streng bibelgläubiger Thrift darf es auf jeden Fall nicht, und wer hier ablehnt, muß sich ernste Rechen­ schaft darüber geben. Den Sektierer mit der Bibel schlagen zu wollen, ist immer sehr schwer, unter Umständen unmöglich. Dann, wenn er „der Biblische" ist. Es geht hier nicht nur um Einzelheiten, wie wir deren einige anführten, sondern um einen Grundgedanken, ja, den Grund­ gedanken der Sekte: das Bewußtsein, die übernatürliche Gottes­ gemeinde zu sein. Der ist biblisch. 3n seinem ganzen Struktur­ aufbau. Eine Gemeinde von Thristusgläubigen, die sich wissen als die heiligen, wir können unbeanstandet mit den Mormonen sagen:

38 als die Heiligen der letzten Tage, herausgehoben aus der Welt und unbefleckt von ihr, find die Christen ursprünglich gewesen, regiert vom Geiste und nicht vom Kirchenregiment. Scharf, methodistisch scharf zog sich der Trennungsschnitt für die Gemeinschaft und für den Einzelnen zwischen der Zeit der Sünde und -er Zeit der Gnade; der Tyrann der Sünde ist tot und es ist „jetzt" nichts verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind (Röm. 6—8). Und nun gilt es dieses „Heilig-Sein" bewahren, der ganze Blick geht vorwärts auf Christus und nicht rückwärts auf die Sünde: „das Rite ist vergangen, siehe es ist Alles neu geworden" (1. Kot. 5, 17). Vas ist Vollkommenheitsstimmung, und sie spiegelt sich am getreuesten in den Methodistengemeinden wieder, ist aber auch z. v. bei den Baptisten sehr lebendig. Man darf da nicht mit dem Schlagwort „Perfektionismus" diskreditieren wollen, die Metho­ disten haben nur behauptet, daß der gläubige Christ vollkommen sein kann, nicht daß er es sein muß. Diese Möglichkeit aber, oder sagen wir noch schärfer: grundsätzliche Tatsächlichkeit ist ur­ christlich (l.Ioh. Z, 9 u.«.). Es liegt in der vollkommenheitslehre der Sekten nur eine starke Zielstrebigkeit, ein Zertigsein mit der vergangenheit und Wirken für Gott, ver lähmende Sündenpessimismus: Du bist ein Sünder und bleibst ein Sünder, wie er zwar nicht bei Luther, wohl aber in der Lutherischen Kirche lebendig sein konnte, ist hier überwunden. Das schafft eine ungemein leben­ dige Aktivität. Max Weber hat für sie den treffenden Begriff ge­ prägt: innerweltliche Askese. Die ist hier jedes Einzelnen bewußt ergriffener Beruf. Denn er tritt in persönlichem Entschluß als Gläubiger durch den Akt der Erwachsenentaufe oder durch die Bekehrung in die Gemeinschaft ein und wird nicht in sie hinein­ geboren, wie der Kirchenchrist. Das von den Vätern Ererbte wird hier wirklich erworben, um es zu besitzen. Die Sekte ist ein voluntaristischer verband ausschließlich (der Idee nach) religiös­ ethisch Tualifizierter, in den man freiwillig eintritt; als solcher will man die Gottesgemeinde, die wahre „Kirche" sein. Darum ist in den Sekten eine stramme Kirchenzucht lebendig; denn die Ge­ meinde muß rein bleiben. Die Statistik der Baptisten verzeichnet z. 8. alljährlich die Zahl der Ausgeschlossenen und Wiederaufge­ nommenen, und der Prozentsatz ist hoch — ein Zeichen des hier waltenden Ernstes. Die Methodisten verteilen vierteljährlich ihre Mitgliederkarten (Society-tickets) zur Kontrolle, wer zur Gemeinde gehört. Und wie sorgfältig ist innerhalb der Gemeinde diszipliniert! Man hat Klassen, geleitet vom Klassenführer, durchschnittlich zwan­ zig Mitglieder, die Kinder sind zu besonderen Kinderklassen zu­ sammengeschlossen, allwöchentlich versammelt sich die Klasse zur

Pflege des inneren Lebens, und innerhalb der Klaffe gibt es viel­ fach noch kleinere Kreise, wer sich die Mitgliederkarte nicht holt, schließt sich damit selbst aus der Gemeinde aus, falls nicht besondere Exkommunikation eintritt — angesichts dieser straffen Gliederung versteht man, warum die Heilsarmee aus dem Methodismus her­ vorging, sie ist die Übersetzung des Methodismus ins Militärische. Und haben wir hier die Offiziere in „weltlicher" Uniform, so ist überhaupt der „Geistliche" im kirchlichen Wortsinne der Sekte fremd, wie ihn das Urchristentum ja auch nicht kennt. Vas allgemeine Priestertum aller Gläubigen ist in der Sekte keine Redensart, sondern eine Kraft, jeder Gläubige, wenn er sich be­ rufen fühlt, oder von der Gemeinde berufen wird, darf predigen und die Sakramente austeilen, wo man diese kennt. Vie (Quäker sind hier die folgerichtigsten, wenn sie auch den Frauen diese Rechte gewähren,' im übrigen fühlt man sich durch das Bibelwort (1. Kor. 14,34): „Eure Weiber lasset schweigen in der Gemeinde" gebunden und verweist die Frauentätigkeit in die sehr lebhafte Diakonie. Talare und Bäffchen, von Kirchenkreuzen um den hals ganz zu geschweige», gibt es nicht, und kennt man auch jetzt, selbst bei den (Quäkern, „Prediger", so ist dafür gesorgt, daß auch der „Laie" zum Worte kommt. Vie Methodisten kennen unmittelbar „Laien­ prediger", aber ebenso gut kann bei den Baptisten ein einfacher Mann die Kanzel besteigen oder das Gebet sprechen, und bei den Jrvingianern, Mormonen oder Reuapostolischen ist ein Apostel oder Prophet im bürgerlichen Leben Arzt oder Bäcker und Brief­ träger. Das Bischofsamt der Methodisten ist kein Widerspruch dazu,- denn es hat lediglich organisatorische Bedeutung ohne jeden hierarchischen Stempel. Am ehesten fielen die Ehristian Science, die Mormonen oder die Heilsarmee aus der Reihe,- hier ist etwas von Kirchenregiment, das die Sekte sonst grundsätzlich nicht kennt. Aber auch nur „etwas". Vie Ehristian Science bindet die predigt an bestimmte Beamte, aber sie schafft der Laienpredigt ein Ventil durch die „Zeugnisse" der Geheilten und Gerettete» in den Versamm­ lungen,- entsprechend die Heilsarmee. Die sorgfältig gestaffelte Hierarchie der Mormonen aber gibt jedem Gläubigen einen Platz in der Melchisedek- oder Aaronpriesterschaft, von denen jene die geistlichen, diese die weltlichen Angelegenheiten verwaltet, und damit wird doch wieder ein allgemeines Priestertum erzielt. So oder so, die Sekte sorgt dafür, daß ihre Mitglieder nicht „mitlaufen", sondern als bewußte Glieder in der Gemeinde wirken. (Es handelt sich ja immer um autonome Einzelgemeinden, den Zu­ sammenhalt des Ganzen schafft der eine Glaube und die eine Liebe, aber nicht das Recht. Jede Sekte besitzt eine Gesamtstimmung und

40 Gesamthaltung, an der man sich äußerlich und innerlich „kennt" und versteht, aber, wie gesagt, kein Rirchenregiment. Auch die Bekenntnisse, wo man sie hat, sind Erkennungszeichen, daher wohl Gegenstand religiöser Unterweisung, aber nicht oder wenigstens selten Rechtsnorm, die über die Zugehörigkeit zur Gemeinde ent­ schiede. Die „Ungläubigkeit" in der Sekte ist gemeinhin nicht Ab­ weichung vom Bekenntnis, sondern Immoralität, Befleckung mit der Welt. Da ist man unerbittlich,' so ist das Abendmahl der Sekte ein Gemeinschaftsmahl nur der Gläubigen. Venn der Gläubige hat zu wirken nur zur Ehre Gottes. In Askese. Nicht, wie der Mönch, durch Flucht aus der Welt, sondern durch Reinheit innerhalb der Welt. Er hat hier seinen Glauben zu bewähren, und die in der Bewährung erzielten Werke werden zum Erkenntnisgrund des Glaubens; daher man sich denn prüft, wo­ möglich peinlich Punkt für Punkt, an der Hand eines Tagebuches, ob man im Gnadenstande ist. Vie Geschichte zeigt, daß hier in manchen Sekten ein starker Einschuß von Lalvin her eingeströmt ist, und die fortschreitende Zeit hat manches abgeschliffen, aber eine gewisse Herbheit der Lebensführung ist bei den Sekten un­ verkennbar. Der Sektierer ist „Puritaner". Er wendet sich ab von aller Sinnenkultur, er kennt nicht den Geist stolzer Diesseitig« keit, denn er weiß, daß er die zukünftige Stätte suchen muß. Er arbeitet in weltlichen Berufen, aber für Gott, und nicht für sich oder den Unternehmer, seine Arbeit gewinnt eine methodische Rationalisierung, und die Bergpredigt wird sozialethisches Pro­ gramm. Darum gilt es etwa bei den Methodisten als verboten, im handel zu feilschen, höhere Zinsen zu fordern als das Landes­ gesetz erlaubt, Rredit zu nehmen ohne Sicherheit, zurückzahlen zu können, und die Methodisten stehen hier keineswegs allein. Bei den Mormonen etwa liest man: „ein Träger oder Fauler kann kein Lhrist sein und selig werden", Arbeitsunlust ist Symptom fehlenden Gnadenstandes. Wenn der Amerikaner dem Angehörigen einer Laptistengemeinde ohne weiteres Rredit gibt, weil er weiß, daß der Baptist an honorable man ist, so bietet in Deutsch­ land die Zugehörigkeit zu einer Sekte nicht minder eine Bürg­ schaft für Ehrbarkeit, Solidität und Tüchtigkeit. Gerne nehmen darum gerade unchristliche oder unkirchliche Familien ihre Dienst­ boten aus den Sektierern, weil ihr Glaube für ihre Redlichkeit bürgt. Vie sittliche Auswirkung des Glaubens ist in der Sekte Selbstverständlichkeit, die ganze Welt der Sakramente int mittel­ alterlichen Sinne ist entzaubert und ersetzt durch die Kraft, die in dem Schwachen mächtig ist. Das alles ist Lebendigkeit der übernatürlichen Gottesgemeinde

auf biblischer Grundlage. Das Bewußtsein der Übernatürlichkeit scheidet scharf von der Welt und ebenso scharf von der Kirche; die Sekte ist immer Gemeinde der Auserwählten, die Kirche hingegen ist Volkskirche. Soziologisch gesprochen: die Sekte ist Genossen­ schaft, die Kirche ist Anstalt. Sie bildet sich nicht durch Zusammen­ schluß, sondern verwaltet wie eine Fideikommisstiftung ihre Heils­ güter; die Zugehörigkeit dazu ist erkoren oder traditionell obliga­ torisch, beweist daher nichts für die (Qualität des Zugehörigen. Die Kirche ist historisch geworden, aus und durch Auseinandersetzung des Christentums mit -er Kultur, und sie hat die Brücke zur Kultur nie abgebrochen, sondern bewußt gesucht und gefunden, bis hin zu der Gefahr, sich an die Kultur zu verlieren. Schon in dem Worte „Landeskirche", „privilegierte Kirche", „Staatskirche" prägt sich dieser Charakter aus, und die Bischöfe der ältesten Kirche reh­ präsentierten sie in und vor der Welt, hier ist das interessante Problem immer dieses, wie denn „Welt" und Weltlichkeit vor dem christlichen Bewußtsein legitimiert werden konnten, wie man das tatsächlich geschlossene Kompromiß mit der Kultur theoretisch ertragbar machte, von den hier vorliegenden Schwierigkeiten roh* die Sekte nicht gedrückt, weil sie den Knoten zerhaut und die „Welt" grundsätzlich verpönt. Der Sektierer geht nicht ins Theater, der Sektierer tanzt nicht, er genießt in der Regel keinen Alkohol, kennt überhaupt nicht die freie Bewegung in der Welt, sondern schließt sich in seine Gemeinschaft ein, er sucht den „Gläubigen" und flieht das „Kind der Welt". Damit werden natürlich zahlreiche Mittel frei, die der Kulturmensch für Kulturzwecke verausgabt, und gerne und selbstverständlich wendet sie der Sektierer seiner Gemeinde zu: die Liebestätigkeit und Spendefreudigkeit ist un­ gemein groß, weit stärker als in der Landeskirche; vor einigen Jahren standen die Baptisten an der Spitze. Natürlich ist es Liebes­ übung „allermeist an des Glaubens Genossen", geboren aus dem verpflichtenden Gemeinschaftsgefühl des Gläubigen. Das bindet und grenzt ab. Bis zur scharfen Intoleranz gegen­ über dem „Ungläubigen", zu dem hier auch der Kirchenchrist ge­ hört. Aber diese im Wesen der Sache liegende Intoleranz ist prak­ tisch sehr abgestuft. Mennoniten und Methodisten stehen freundlich zur Landeskirche, die Baptisten erstreben gegenwärtig sichtlich eine Fühlungnahme, aber das Bewußtsein der „gläubigen Gemeinde" ist hier sehr stark, am schroffsten, bis zur unmittelbaren Feind­ schaft, scheiden sich von allem Kirchlichen die Mormonen, Neu­ apostolischen und Ernsten Bibelforscher, im übrigen kommt es viel auf die führenden Leiter hüben und drüben an. Man muß sich bei der sprichwörtlichen Unduldsamkeit der Sekten stets ver-

42 gegenwärtigen, daß sie mit Notwendigkeit aus der Struktur der Sekte folgt: die übernatürliche, reine Gottesgemeinde darf keine Gemeinschaft mit der Welt haben, und zur „Welt" mutz in diesem Falle auch die andere Glaubensform gehören. Die Sekte ist ganz absolutistisch aufgebaut und darf den Relativismus der Toleranz nicht kennen. Das bedingt eine Schroffheit, gewiß, aber auch eine wundervolle Gemeinschaftskraft: ein Sektierer wird nicht wegen zu hoher „Kirchensteuer" aus seiner Gemeinde austreten, und die Steuer ist hier gemeinhin viel höher als in der Landeskirche! Die Stellung zum Staate als dem Repräsentanten der Kultur ist im allgemeinen in den Sekten eine freundliche, Staatsämter lehnt man nicht mehr ab und weiß sich als guten Staatsbürger, aber er ist eben doch nur der Hüter der bürgerlichen (Dränung, ber in kirchlichen Dingen zu schweigen hat: nichts hat dem ab­ gesetzten Heilsarmeegeneral Vramwell Booth mehr geschadet als seine Appellation an den englischen Staatsgerichtshof — wie durfte er die Gemeinde der heiligen so profanieren?! Dor Byzantinis­ mus, an dem die Landeskirche krankte, und allzu starkem Staats­ respekt, von dem die durch die Revolution vom Staate getrennte Landeskirche noch nicht frei ist, bleibt die Sekte als autonome Gemeinde der Gläubigen bewahrt. IHit ihrer ungeheuren Wirkung, stellenweise über Jahrhun­ derte, immer über Jahrzehnte zurückgreifend, hat die Sekte im religiösen Leben Deutschlands ihr Lxistenzrecht bewiesen. Sie darf gewiß sein, nicht unterzugehen. Nicht nur weil sie Kraftproben der Verfolgung siegreich bestand- heute hat die Verfolgung aufgehört und wirft nur noch blasse Schatten in kleinlicher Schikane (Friedhofsstreitigkeiten u. dgl.). Das Recht auf Leben beruht auf der Sache. 3n der Sekte sind, wir sahen es, urchristliche Kräfte ver­ borgen, zusammengefaßt in der Idee der christlichen gläubigen Ge­ meinschaft. Daß hier Lücken und Unvollkommenheiten, ja, Schwä­ chen und Fehler der Landeskirche beseitigt sind, beweist nichts schlagender als die Tatsache, daß die Sekte sich innerhalb der Landeskirche etabliert hat: in der sogenannten „Gemeinschafts ­ bewegung". Die ist methodistischen Ursprungs und ihrer ganzen Struktur nach Sekte, nichts anderes, daher auch durchrüttelt von der sektiererischen Problematik der sündlosen Vollkommenheit, der Pfingstbewegung, der Nbendmahlsfeier nur von Gläubigen usw. Wäre das Bedürfnis nicht da, sie würde nicht existieren, aber die Zahl der landeskirchlichen Gemeinschaftschristen ist sehr groß (± 300000). man weiß sich hier als Brüder und Schwestern, der Pfarrer, wenn er überhaupt mit von der Gemeinschaft ist, steht nicht über ihr, sondern in ihr, der Kleinheit des Kreises entspricht

die Lebendigkeit der Frömmigkeit in Bibellesung, Erbauung und Gebet, jeder redet, den der Geist treibt, die Pastarenkirche ist der Brüdergemeinde gewichen. Aber wenn so die Sekte sich ihr Recht im religiösen Leben Deutschlands erstritt, heißt das etwa eine llberflüssigkeitserklärung der Landeskirche? Keineswegs. (Es ist über den Vorzügen der Sekte nicht ihre Schwäche zu übersehen, und über der Schwäche der Landeskirche nicht ihr Vorzug. Den hat sie. Schon weil sie Volkskirche ist. Dadurch wirkt sie, wenn auch nicht immer greif­ bar, in ganz anderer Weise durch unzählige Kanäle hindurch auf die Öffentlichkeit. Sie repräsentiert in weitestem Maße das Thriftentum als Faktor des öffentlichen Lebens. Gewiß bedeutet das die Fühlung mit der Kultur, aber wenn nun einmal die eschatologifche Erwartung des Urchristentums Täuschung war, wenn die Welt weitergegangen ist und weitergehen wird, ist dann nicht für das Ehristentum die Wendung geboten, in der Welt sich zu behaupten in lebendiger Auseinandersetzung und regem Austausch? In der Welt und doch nicht von der Welt? d. h. in einem Schwebe­ zustand, der sich nicht an die Welt verliert, aber auch nicht alle Verbindung mit ihr abreitzt? Denn das Letztere kann das Ehristentum gar nicht. Auch die Sekte nicht. Trotzdem sie es will. Sie wird tatsächlich inkonsequent. Die zwingende Realität des Lebens ist stärker als das theoretische Prinzip. Daß der Methodismus sich trotz allem sehr stark dem Kirchentypus nähert, wird man zwar weniger als Inkonsequenz denn als ein historisches herauswachsen aus der anglikanischen Staatskirche begreifen müssen- es sind die kirchlichen Formen kleben geblieben. Aber das moderne Weltbild im Allgemeinen und moderne Kulturerrungenschaften wie etwa Telephon und Auto werden von den Sekten doch bejaht,- die Wiederherstellung der ur­ christlichen Gemeinde ist eben doch keine vollständige und kann das auch nicht sein, weil die Geschichte sich nie wiederholt — warum dann aber auf Einzelmomente, die noch dazu in den ein­ zelnen Sekten ganz verschiedene sind, sich versteifen? Warum etwa die urchristliche Taufform annehmen, aber den urchristlichen Tölibat ablehnen? (Es ist nicht Bergpredigtsethik, sondern Modernisie­ rung, wenn die Mennoniten ihre Eidverweigerung mit den Be­ denken der Juristen des Tages gegen den Eid motivieren. Und wie reimt sich der von deutschen und holländischen Mennoniten — in Amerika war es zum Teil anders — freudig und willig ge­ leistete Militärdienst und das stolze Tragen von (vrdensdekorationen mit dem läuferischen Prinzip der Wehrlosigkeit, geschweige mit dem Urchristentum?!

44 hier liegt der Grund für die typische Zerklüftung der Selten; immer wieder entdeckt man Unvollkommenheiten oder neutestamentliche Eigenarten, die man wiederherzustellen für notwendig hält, so spaltet man sich ab und ruft eine neue Sekte in’s Leben. Ist es da nicht richtiger, zum mindesten folgerichtiger, alle diese dem Wandel der Geschichte preisgegebenen kultischen, rituellen oder auch — wie den Enthusiasmus —, Frömmigkeits-Elemente als Äußer­ lichkeiten abzustoßen und die Konzentration auf das wirklich Blei­ bende und Ewige im Urchristentum zu vollziehen? Vie protestan­ tische Landeskirche sieht dieses dem Wechsel der Geschichte ent­ rückte Moment in der Rechtfertigung aus dem Glauben. Die in der Welt zu behaupten war das, was Luther die „Freiheit eines Ehristenmenschen" nannte, eine wundervolle Souveränität des Thristen inmitten der weit, nicht in äußerlicher Trennung von ihr. Sie ist eine innere Überlegenheit und darum Meisterung, ohne Flucht vor ihr und ohne Reglementierung. Vas ganze Leben Luthers ist Beispiel für diese in der Ewigkeit verankerte Freiheit. Zu ihr möchte die Landeskirche erziehen; daß sie es nicht immer tut, auch nicht immer kann, bricht an der Richtigkeit der Ziel­ setzung nichts ab. Freiheit und Gesetzlichkeit, Ronzentration auf den Kern und haften an peripherisch-wandelbarer Äußerlichkeit stehen in Rirche und Sekte sich gegenüber. Wobei natürlich nicht ausgeschlossen ist, vielmehr einbezogen werden muß, daß das Ewige auch in der Sekte lebendig ist und umgekehrt das Statutarische die Landes­ kirche belastet, vollkommen sind sie alle beide nicht; das ist auf Erden unmöglich. Rur so auch können Kräfte vom Einen zum Ändern überströmen. Das geschieht auch, nicht nur die Landeskirche lernt in der Gemeinschaftsbewegung von der Sekte, auch die Sekte nimmt Kirchliches, in der Regel Kultisches, und sei es auch nur Kirchenlieder, an. Und schließlich muß es dem Einzelgewissen überlassen bleiben, wie es wählt. Mit „wahr" und „falsch" darf man hier nicht operieren. Die Sekte deckt ein Bedürfnis. Es gibt Menschen, die nur mit pauken und Trompeten aus ihrem Elend herausgerissen werden können, anderen dient ein anderer Weg. Da kann es nur heißen: sxaatoc ev tö> tStcp vot itX7]po