Werde, der du bist!: Philosophie für ein gutes Leben 9783495999639, 9783495491720, 3495999639

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Werde, der du bist!: Philosophie für ein gutes Leben
 9783495999639, 9783495491720, 3495999639

Table of contents :
Cover
Vorbemerkung
1 Werde, der du bist – Was soll das heißen?
2 Berühmte Reiseziele der Selbstwerdung
3 Ein wahrer Mensch werden?!
4 Die eigenen Fähigkeiten entfalten
5 Bilde deinen Charakter
6 Dein Temperament ausbalancieren
7 Über den Menschen hinausgehen?
8 Wirklich ich selbst werden
9 Du musst dein Leben ändern
Die Theorie bewährt sich am besten in der Praxis
Authentisch sein und authentisch werden
Authentischwerden als innere Arbeit an sich selbst
Die angemessene Sprache der Selbstwerdung
Rückmeldungen und Resonanzen anderer
Säen und ernten
Experimentalphilosophie
Zeichen dafür, dass Selbstwerdung gelingt
Sinn – Natur – Gnade
Literaturhinweise
Personenregister

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sapere aude – aude vivere

Eduard Zwierlein

Werde, der du bist! Philosophie für ein gutes Leben

https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

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sapere aude – aude vivere

Eduard Zwierlein

Werde, der du bist! Philosophie für ein gutes Leben

https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

Coverbild: Segelboote auf dem Staffelsee (Ausschnitt) © PK-Photos – iStock – GettyImages

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-49172-0 (Print) ISBN978-3-495-99963-9 (ePDF)

Onlineversion Nomos eLibrary

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

1

Werde, der du bist – Was soll das heißen?

11

2

Berühmte Reiseziele der Selbstwerdung

17

3

Ein wahrer Mensch werden?! . . . . . . .

35

4

Die eigenen Fähigkeiten entfalten . . . .

47

5

Bilde deinen Charakter . . . . . . . . . .

57

6

Dein Temperament ausbalancieren

. . .

73

7

Über den Menschen hinausgehen? . . . .

81

8

Wirklich ich selbst werden . . . . . . . .

97

9

Du musst dein Leben ändern . . . . . . . 121

Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

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Vorbemerkung

(Unbekannt) Der Mensch bringt sein Haar täglich in Ordnung. – Warum nicht auch sein Herz?

Philosophie ist von Anfang an Welt- und Lebensori­ entierung. Sie versucht zu verstehen, »was die Welt im Innersten zusammenhält« (Goethe), aber auch der Sehnsucht des Menschen nach einem gelungenen oder glücklichen Leben entgegenzukommen. Darum ist die Philosophie ursprünglich stets Lebenskunst, der Ver­ such also, dem Menschen in seiner Lebensführung vernünftige Orientierung und Handreichung zu geben. Die Grundfragen der Lebenskunst sind über die Zeiten hinweg keinen allzu heftigen Schwankungen unterworfen; denn sie haben es ja vor allem mit dem »Wesen« oder der »Lage« des Menschen zu tun, und dieses Menschsein ist, auch wenn seine Kontexte sich wandeln, in seinen Grundzügen und Grundfragen recht konstant. Die unterschiedlichen gesellschaftlichen, kul­ turellen, politischen, rechtlichen oder ökonomischen Gegebenheiten erlauben dem Menschen unterschiedli­ che Spielräume, um sein Wesen heraus zu experimen­ tieren. Auf diese Weise entstand im Laufe der Zeit ein reicher Schatz an Einsichten, Ideen und Inspirationen für die Grundfragen der Lebenskunst, die die persönli­ che Suche nach einem eigenen Verständnis und eigenen 7 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

Antworten hilfreich unterstützen. Ohne gelehrten Auf­ wand und in verständlicher Sprache greifen wir auf diesen Schatz zurück in der Absicht, damit die ein oder andere Inspiration oder Nachdenklichkeit beim Leser auszulösen. Der Sinn kann nur sein, dass diese Überlegungen zur Lebenskunst anregen, sie für die eigene Lebenskunst zu prüfen und im besten Falle ihr einzufügen. Werde der du bist ist eine der maßgeblichen Weis­ heitsformeln der Philosophie und ein Leitmotiv ihres Nachdenkens. Man hört also, dass dies ein berühmter Weisheitsrat aus der Antike sein soll. Aber bei manch einem mag der Gedanke auftauchen: Ja, kann ich denn nicht bleiben, wie ich bin? Bin ich denn nicht gut genug, so wie ich bin? Und wenn ich schon noch was werden soll, was könnte das denn sein und wie bekomme ich es heraus? Was macht mich denn aus? Und welcher Weg wird der richtige sein, um erfolgreich das richtige Ziel zu verfolgen und am Ende auch zu erreichen? Im Übrigen scheint der Satz selbst ein merkwürdiger Satz zu sein. Man muss sich ihn nur auf der Zunge zergehen lassen: Werde, der du bist! Vielleicht wird man nun sagen: Ja, was denn jetzt! Wenn ich es doch schon bin, wieso soll ich es dann noch werden? Und wer oder was fordert mich denn dazu auf?1 Es ist nicht einfach klar, wer und was wir sind und wer oder was wir werden sollen. Vielmehr sind wir 1 Diese Gedanken verweisen auf das kleine Gespräch zu Beginn des ersten Kapitels.

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uns als Frage gegeben und haben die Aufgabe, diese Frage, die wir sind, zu verantworten. So verwickelt uns das Problem der Selbstwerdung in das Abenteuer lebendigen Philosophierens und bildet einen Baustein für eine aufgeklärte Lebenskunst.

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1 Werde, der du bist – Was soll das heißen?

(Johann Gottfried von Herder) Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung

Während einer Zugfahrt kam ich (EZ) mit einem jun­ gen Mann (JM) ins Gespräch. Wir sprachen über das Reisen mit dem Zug und seine Vor-und auch gelegent­ lichen Nachteile, wobei wir uns einig waren, dass die Vorteile am Ende doch deutlich überwiegen. Nach eini­ gem Hin und Her kam das Gespräch auch auf mein Buchprojekt »Werde, der du bist«, an dem ich gerade schrieb. Als der junge Mann diesen Titel hörte, schwieg er einen Moment, dachte nach und äußerte sich dann skeptisch gegenüber »diesem Spruch«. Es entspann sich ein kleiner Dialog, der ungefähr diesen Verlauf nahm: EZ: Was stört Sie denn an dem Spruch? JM: Ja, eine ganze Menge, glaube ich. Zum Beispiel: Wieso muss ich denn noch etwas werden? Ich bin doch schon jemand. EZ: Ja, das stimmt. Sie müssen nicht noch jemand werden, das sind Sie schon. Aber sind Sie schon fertig und am Ende Ihrer Reise? 11 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

JM: Nein, sicher nicht. Aber es ist doch völlig offen und unklar, ob da noch etwas kommt und was da noch kommt. EZ: Mmh, es ist offen und unklar, das verstehe ich gut. Das lässt sich wohl auch gar nicht völlig beseitigen. Aber was bedeutet: Was da noch kommt? Manches kommt auf uns zu, manches aber können wir doch auch selbst gestalten und ihm unsere Prägung geben. Wir sind nicht nur Zuschauer, sondern haben auch etwas in der Hand, nicht wahr? JM: Na ja, das ist schon richtig. Aber was soll das denn heißen: Werden, was man ist. Wenn ich es schon bin, was heißt dann noch werden? Das ist doch nicht plausibel. EZ: Sie meinen, es wäre besser zu sagen: Werde, was du noch sein könntest oder sein solltest!? JM: Ja, das wäre besser. EZ: Vielleicht bedeutet es einfach: Du bist schon etwas – aber es noch nicht völlig entfaltet und ent­ wickelt. JM: So wie: implizit und explizit? EZ: Genau. JM: Ok, aber das scheint mir aber doch auch sehr gefährlich zu sein. Dann sollte ich ja nur entfalten, was bereits in mir steckt. Wäre dann nicht schon

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alles vorgegeben? Es müsste dann nur noch aus­ gedrückt werden. Wo bliebe dann aber das Neue? EZ: Das wäre in der Tat sehr einschränkend. Aber stel­ len Sie sich vor: Das, was schon da ist und zugleich noch weiter entfaltet werden soll, ist u.a. auch Ihre wachsende Freiheit, Neues zu erleben oder Neues zu schaffen. Wäre das ein guter Gedanke, den Spruch auch so zu verstehen? JM: Ja, gut, wenn man das so mit einbezieht. Aber da muss man ganz schön um die Ecke denken. Und außerdem, wer kann mir denn eigentlich sagen: werde! Wer hat das Recht, mich als Freiheitswe­ sen so in die Pflicht zu nehmen? EZ: Wer hat das Recht? JM: Ja, genau. EZ: Ich denke: Sie selbst! JM: Oh! EZ: Ihr Gewissen! JM: Wie meinen Sie das? EZ: Es ist eine Stimme in Ihnen selbst, die Sie erinnert oder mahnt: Du bist noch nicht fertig mit Deinem Werden, Entfalten, Reifen usw. Vieles ist noch offen, wartet noch, es gibt Schätze, die noch nicht gehoben sind usw. JM: Bin ich das dann wirklich selbst, der da mit mir redet? Oder ist das nur die Stimme der Gesell­ schaft oder meiner Erziehung in mir. Und wohin 13 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

soll diese Reise des Selbstwerdens gehen? Und wenn ich die Reise machen sollte, wann bin ich dann authentisch und wann nicht? Dieses für mich sehr aufschlussreiche Gespräch, das ich hier unterbreche, stellt wichtige Fragen, die in dem vorliegenden kleinen Büchlein aufgegriffen werden. So wie in dem Gespräch während der Bahnreise zwei Menschen darüber nachdenken, der Sache etwas näher zu kommen, soll auch das Büchlein ein Dialogangebot sein, Impulse und Anregungen für die eigene Reise der Selbstwerdung zu geben. Vielleicht können Sie als Leser am Ende dann das sagen, was der junge Mann zu mir bei der Verabschiedung sagte: Danke für das Gespräch. Man kommt ja selten dazu, mit jemandem über so wichtige Sachen zu sprechen. Also: Danke! Ich werde darüber nachdenken. Heben wir einen ersten wichtigen Gedanken her­ vor. Herder weist in dem einleitenden Zitat dieses Kapitels auf ihn hin. Es ist die Idee, dass die Tiere wesentlich durch ihre Instinkte in ihrem Umweltraum geführt und geleitet werden. Der Mensch hingegen kann sich von seinen Instinkten distanzieren und sich zu ihnen verhalten. Er kann viele Lebenswelten zu seiner Umwelt machen, Umwelten verlassen und neue finden. Er muss nicht nur in einer Umwelt als seinem Horizont reagieren, sondern er kann auch die Umwelt selbst gestalten. Der Mensch tritt ein in einen Raum der Freiheit, der ihn zu diesen Dingen begabt, zum Guten und zum Bösen. 14 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

Die Collage Insert Title von Luzie Wintersohl (Workshop (fremd)Sein. We’re worked – We’re mixed- We’re are arranged an der Universität Köln 2014)

Da er aber nun nicht mehr einfach definiert ist durch das, was ihm die Natur sagt, muss er sich selbst sagen, was sie ihm verschweigt. Ich bin (auch) ein Wesen der Freiheit: aber frei wovon und frei wozu? Wo die Natur ihm nicht mehr vorgibt, was er ist, muss er werden, was er ist: ein Wesen, das aus Freiheit sich selbst bestimmt und bildet. Selbstwerdung ist Selbstbestimmung und Selbstbildung als Freiheitswesen. So muss er etwas aus sich machen, das sich nicht von selbst macht. 15 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

Das Ereignis der Freiheit ist unergründlich. Sein Geheimnis ist groß. Aber klar dürfte sein, dass die Freiheit des Menschen keine absolute oder vorausset­ zungslose Freiheit ist. Sie ist nicht die Freiheit eines Gottes. Die Freiheit des Menschen ist verbunden mit seiner Natur, seinem Leib und seinem Unbewussten. Sie ist verwiesen auf Raum und Zeit, dort, wo er lebt und handelt, auf Sprache, Gesellschaft und Kultur. Darum ist seine Freiheit auch keine leere Freiheit. Sie bildet sich in diesen Vorgaben und Koordinaten heraus, teils durch sie unterstützt und inspiriert, teils durch sie gehemmt und gefährdet. Freiheit ist die besondere Gabe, das einzigartige Geschenk der Natur an den Menschen. Mit ihr soll und kann er auf alles Vorgegebene, auf alle Vorgabe reagieren und antworten. Und mit ihr entdeckt er sich als ein Wesen, das nicht einfach fix und fertig, sondern auf dem Weg ist. Er ist ein Wegwesen, ein Wanderer und Reisender, dem die Selbstwerdung aufgegeben ist. Die Gabe der Freiheit für diese Selbstwerdung vernünftig ins Spiel zu bringen, ist seine Aufgabe: Werde, der du bist! Das Leben des Menschen ist dieser Weg der Freiheit, Selbstwerdung die große Reise des eigenen Lebens. Alle Wege sind Wege zu unserem wahren Selbst. Die Reise geht zu uns selbst, zu dem, was wir eigentlich sind. Aber was könnte das für ein Reiseziel sein?

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2 Berühmte Reiseziele der Selbstwerdung

Augustinus Die Menschen machen weite Reisen, um zu staunen […], an sich selbst aber gehen sie vorbei, ohne zu stau­ nen.

Die Maxime »Werde, der du bist« stammt aus den Pythischen Oden des griechischen Dichters Pindar (518–446 v. Chr.) und ist ein Weisheitsspruch, der besagt: Vieles ist dir gegeben, manches vorgegeben, eines aber aufgegeben, dass du dich nämlich auf den Weg machen sollst, deiner Anlage gerecht zu werden. Du selbst musst dich bilden! Wer also ist gebildet? Der, der alle Erziehung und alle Prägung und alle Vorgabe als Schwungrad nutzt, um sich selbst zu bilden. Das ist eine Aufgabe, die uns durch niemand anderen abgenommen werden kann. Das muss man schon selbst tun, auch wenn dies nur im Rahmen bescheidener Spielräume und unter schwierigen Umständen möglich wäre. So ermutigt uns das Wort des Heraklit: Für die Gebildeten ist Bildung ihre zweite Sonne. Um im Hellen zu bleiben und der geistigen Son­ nenfinsternis zu entgehen, muss die zweite Sonne scheinen. Du selbst bist Gärtner deiner Seele. Sie ist dein Garten, den du kultivieren kannst. Das ist Selbst­ 17 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

bildung. Wenn du es nicht tust und es dem »Zufall« überlassen willst, ist es nicht unwahrscheinlich, dass andere größeren Einfluss auf dich nehmen als du es dir wünschst, dass sie dich vielleicht sogar manipulieren oder von sich abhängig machen. Dann tappen wir im Dunkeln. Je weniger man zu der Aufgabe erwacht, sich selbst zu bilden, umso größer wird die Gefahr, unter eine Form von Fremdherrschaft zu geraten. Kant for­ muliert das Programm der Aufklärung in der berühm­ ten Quintessenz: Sapere aude! Habe Mut, selbst zu denken! Wage es doch, eigenständig zu denken! Das liegt ganz auf der Ebene des »Werde, der du bist«. Wir sollen es nicht anderen überlassen, sondern es selbst in die Hand nehmen, darüber nachzudenken, wer wir sind und was wir sein können und sollen. Es ist die vornehmste Aufgabe des Menschen, dies tun zu dürfen. Wir dürfen sie nicht an jemand anderen delegieren. Selbstwerdung als Selbstbildung ist also unser menschliches Privileg. Aber was genau sollen und kön­ nen wir wie gestalten? Selbstbildung bedeutet ja nicht, mit Vielwisserei angeben, auswendig Gelerntes aufsa­ gen oder bloßes Verfügen über Information. Vielmehr geht es stattdessen um ein Wissen, das uns irgendwie verwandelt, und zwar so, dass wir mehr wir selbst und bei uns selbst sein können. Nicht Information, sondern Transformation ist, was gesucht wird. Werde, der du bist ist eine praktische Lebensweisheit, die zum Handeln auffordert. Was sollen wir dabei bilden? Wohin geht die Reise? Wie können wir die Reise gut machen? Woran kann ich merken, dass mir die Reise gelingt? 18 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

Überlegen wir zunächst einmal, was wir uns alles in der Selbstbildung, in der Gestaltung unseres inne­ ren Gartens vornehmen könnten. Wir könnten zum Beispiel unsere Fähigkeiten und Talente entwickeln. Darüber hinaus könnte die Entwicklung unseres Cha­ rakters ein Thema sein. Schließlich könnte ich mich mit den guten und problematischen Seiten meines Temperaments auseinandersetzen. In der Geschichte der Menschen sind einige umfassende Reiseziele oder große Formeln der Selbstwerdung in den Blick genom­ men worden, in denen Fähigkeiten, Temperament und Charakter als Bildungsprogramm enthalten und inte­ griert sind. Solche klassischen Reiseziele klingen viel­ leicht für einige von uns etwas altmodisch, angestaubt oder antiquiert. Aber sie legen doch ein leidenschaft­ liches Zeugnis vom Mühen der Menschen ab, etwas zu finden, in dem sich ihre Selbstwerdung beruhigen könnte. Schauen wir uns in einem kurzen Gang durch die Geschichte exemplarisch fünf Ideen der Selbstwer­ dung an. Die erste dieser klassischen Bildungsideale ist uns aus der Antike überliefert. Stellvertretend für viele kön­ nen wir dabei an Platon denken. Er stellt sich vor, dass die Selbstwerdung eines Menschen ein pädagogischer Prozess ist, an dem viele gute Lehrer und schließlich vor allem ich selbst als mein eigener Lehrer mitwirke. Die Zielidee der Selbstwerdung ist es, ein »schöner und guter« Mensch zu werden. »Schön und gut« kennen wir allerdings meist in einem anderen Sinn, nämlich als Formulierung, die 19 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

ausdrückt, dass wir mit etwas nicht einverstanden sind und ungeduldig darauf warten, endlich zum eigentli­ chen Kern einer Sache zu kommen: Alles schön und gut, sagen wir dann. Jetzt kommen wir aber doch bitte mal zum eigentlichen Thema. Statt dieser rhetorischen und formelhaften Verwendung verlangt der Blick auf die ursprüngliche Schön und Gut-Formel, das griechische Zungenbrecherwort dafür lautet: Kalokagathia, also auf die Symbiose oder Synthese von Schönheit und Gutheit, ein frisches Sehen der Fülle dieser Worte. Die Kalokagathia, das Schöngute oder die Schön­ gutheit, ist uns vielleicht noch am ehesten erhalten in den Worten Goethes »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut, denn das allein unterscheidet ihn von allen Wesen, die wir kennen«.2 Der platonische Traum der Selbst­ formung sucht jedenfalls das anmutige und stimmige Zusammenspiel von Körper, Seele und Geist. Innen und Außen entsprechen einander auf harmonische Weise. Wir begegnen diesem Gedanken beispielsweise in dem bekannten Satz, dass ein gesunder Geist in einem gesunden Körper wohne. Die Grundidee ist, dass die Seele des Menschen schön werden sollte durch schöne Gespräche3 und die Beschäftigung mit schönen Ist es ein moralischer Imperativ oder sind es eher Worte der Sehnsucht? »Schöne Gespräche« ist kein Zuckergusswort, als ob es in ihnen keine schwierigen Themen oder ernste Inhalte geben könnte. Schön sind schöne Gespräche, weil ihre Form und ihr Ziel schön sind. Die Gespräche voll­ ziehen sich der Form nach in Aufmerksamkeit, Zuwendung, Achtung, Interesse am anderen und an dem, was er sagt ohne den Willen ihn zu beherrschen oder zu unterdrücken. Und ihr Ziel ist schön, weil sie auf die (seelisch-charakterliche) Schönheit des Menschen zielen. 2

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Dingen. Diese innere Schönheit, der Seelenadel, das gute Wesen eines Menschen werde sich dann in seiner Gestalt, seinem Gehen und Sitzen, seinem Sprechen und Verhalten wiederholen. Alles, was wir tun, ist beseelt von dem, was wir sind. Innen findet seinen Aus­ druck im Außen, Außen ist ein Echo und Spiegel von Innen. Tugend und Schönheit scheinen auf und zeich­ nen sich sichtbar ab. Sokrates, äußerlich so hässlich, dass man schnell das Schlimmste von ihm vermuten konnte, war innerlich schön durch Selbstbildung. Wenn er sich einem Menschen zuwandte und zu ihm sprach, gab es nichts Hässliches mehr. Dann war Sokrates nur noch schön. Eine zweite große Idee der Selbstwerdung hat uns das Christentum geschenkt. Sie ist mit seinem Stifter, Jesus von Nazareth, dem göttlichen Sohn und Christus, verbunden. Als Christus, verraten, verhört und gefoltert, vor dem römischen Statthalter Pontius Pilatus steht, ein geschundenes Wesen, spöttisch in ein purpurnes Gewand gekleidet und mit einer Dornen­ krone verhöhnt, entfährt es dem Präfekten: Siehe, der Mensch! Dieses ecce homo ist vieldeutig. Will Pilatus sagen, dieser Jesus ist nur ein Mensch, kein König, ich sehe daher keinen Grund zur Verurteilung? Mischen sich Staunen und Ehrfurcht in die Worte ein: Seht nur, welch ein Mensch!4 Oder wäscht er sich schon hier die Hände in Unschuld und will er andere in die So wie es dem Ton nach Goethe nachgesagt wird, als er bei einer Begegnung mit Napoleon angeblich sagte: Voilà un homme!

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Verantwortung ziehen: Hier steht er, der Mensch, seht ihn euch an, diesen Menschen, was soll man nur mit ihm machen? Wenn wir es so verstehen, dass hier ein wahrer Mensch steht und darin etwas sichtbar wird, was für jedes Menschenleben als vorbildlich gelten kann, was könnte das sein? Ich möchte zwei Dinge vorschlagen. Das Erste: Kein Menschenleben ist ohne Leiden. Die Geschichte des Menschengeschlechts ist voll davon. Jede Selbstwerdung geht auch durch den Schmerz und durch Scheitern. Überall ist ein Stirb und werde! Selbst­ werdung ist immer auch ein Drama und nie ohne Passion. Vielleicht gibt unser Weg der Selbstwerdung anderen Anlass zu Hohn und Spott. Aber kein Schmerz und kein Leid nimmt dem Leidenden die Würde. Auch wenn die Selbstwerdung Umwege und Fehlschläge, Leiden und Enttäuschung kennt, bleibt die Reise doch richtig. Dass sie schwer ist, ist kein Einwand.

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Albrecht Dürer: Selbstbildnis mit Landschaft 1498 (Quelle: wikipedia.de)5

Albrecht Dürer gestaltet in seiner Großen Passion das Antlitz des leidenden Christus ähnlich zu seinem Madrider Selbstbildnis aus dem Jahr 1498. Die Bot­ schaft ist genau diese: Wie der Künstler leidet, wie jedes Leben auch ungerecht ist, wie jeder Mensch leidet, das findet sich hier verkörpert und unendlich gesteigert in Christus und seinem Leidens-Weg. Das Motiv des leidenden Christus repräsentiert die Passion aller Men­ schen und stellt sie in ein unendliches Licht von Sinn.

Zu diesem Selbstporträt voller Selbstbewusstsein und Autonomie hat der Nürnberger Künstler in der Signatur unter dem Fenstersims die Worte festgehalten: »Das malt Ich nach meiner gestalt / Ich was sex vnd zwenczig jor alt«.

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Albrecht Dürer, Die große Passion, 5. Kapitel/6. Holzschnitt mit dem Titel: Pilatus führt Christus den Juden vor und spricht »Sehet, welch ein Mensch!« (Quelle: wikipedia.de)

In seinem autobiographischen Spätwerk Ecce homo zerbricht Nietzsche das an Jesus gerichtete Wort und lenkt es zu sich selbst hin. In dieser Schrift geht es ihm vor allem darum, sein eigenes Leben und Denken zu erläutern und zu verteidigen. Ihr Untertitel lautet: Wie man wird, was man ist. Schon in einer früheren Schrift, der Fröhlichen Wissenschaft, hatte Nietzsche 24 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

ein Gedicht mit demselben Titel Ecce homo verfasst. Wer, wie er, Licht und Feuer bringt, so macht er darin klar, glüht, verglüht und verzehrt sich und andere. Licht und Feuer sind die Passion aller Dunkelheit. Sie verbrennen die Nacht. Nietzsche, der sich gerne mit Gott und Christus verwechselte, projiziert die großen Motive der Passion Christi auf sich. Das Zweite: Das Beispiel Christi zeigt, dass der Leidensweg im Gehorsam gegen einen Sinn gegangen wird, der größer ist als dieses Leiden. Wenn Christus zum Vater betet: nicht mein Wille geschehe, sondern dein Wille, dann legt er seinen Weg in diese größeren Hände. Jede Passion, jeder Schmerz, jedes Scheitern braucht einen solchen größeren Sinnhorizont, von dem aus dieses Leiden nicht mehr das letzte Wort ist. Man geht den Weg der Selbstwerdung nur dann realistisch, wenn auch die Grenzen der eigenen Selbstbildung, Selbstformung und Selbstbestimmung gesehen wer­ den. Nur der ist gebildet, der grenzbewusst offen ist für etwas, das größer ist als er selbst. Das dritte große Bildungsideal, ein weiteres berühmtes Reiseziel der Selbstbildung und Selbstge­ staltung, finden wir zur Zeit des Hoch- und Spätmittel­ alters im Rittertum. Dabei soll uns der Ritterstand nicht als soziale Klasse oder Berufsstand interessieren, son­ dern nur als Tugendadel. Gelegentlich meinen wir, dass sich ein Mensch sehr ritterlich benommen habe. Damit wollen wir ja keineswegs sagen, er sei mit Pferd und Schwert, Lanze und Morgenstern dahergekommen, sondern dass er sich auf eine besonders schöne oder 25 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

vortreffliche Weise verhalten habe. Diesem Verhalten zollen wir Hochachtung. Der mittelalterliche Ritter konnte sich zu Recht nur Ritter nennen, wenn er einen bestimmten Tugend- und Ehrenkodex bejahte, verinnerlichte und praktizierte. Das strenge Tugendsystem der ritterlichen Welt speiste sich dabei vor allem aus verschiedenen antiken, germa­ nischen und christlichen Quellen. Sein Zentralbegriff ist der der Ehre, in dem sich eine ganze Reihe von Tugenden bündeln. Diese Tugenden bestimmen das ritterliche Verhalten. Ritterlich verhält sich demnach jemand, wenn er mit hoheem muot, also mit edler Gesinnung, Freude und Hingabe Gott und den Men­ schen dient. Gegenüber Hilfsbedürftigen zeigt der Rit­ ter milde und erbermen. Eine solche Erziehung und Kultivierung zog sich, wenn wir auf die Blütezeit des Rittertums schauen, von den Kindesbeinen an bis ins Mannesalter und umfasste eine fortwährende Einübung in körperliche, moralische und spirituelle Praxen und Haltungen, bevor schließ­ lich der Ritterschlag erfolgen konnte. Die eigene per­ sönliche Selbstwerdung steht unter dem Wort der zuht. In der Zucht zieht der Ritter seine Lebenspraxis mehr und mehr hinein in ein harmonisch gestaltetes Leben. Dieses »Züchtigen«, Ziehen und Selbst-Erziehen zeigt sich in maze, staete und triuwe, in Maßhalten, Stetigkeit und Treue, die immer wieder konkret geübt werden müssen. Es handelt sich um einen lebenslangen Rei­ fungs- und Formungsprozess, in dem allmählich das reale Leben an das Tugendideal angenähert werden 26 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

soll. Aber einen idealen Ritter zu finden, weniger von Geburt als von Geist und Herz, war doch eher die Aus­ nahme als die Regel, wie die vielen kritischen Hinweise jener Zeit auf das Verfehlen des Ritterideals nahelegen. Im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit finden wir mit Beginn der Renaissance und des Humanis­ mus ein viertes Ideal der Selbstwerdung. Es ist der uomo universale, der universal gebildete Mensch. Der Universalmensch ist mehr als ein Universalgelehrter. Der Universalgelehrte ist vielseitig kundig in unter­ schiedlichen Wissensgebieten, in denen er reiche und tiefe Kenntnis besitzt. Der Universalmensch ist aber nicht nur allseits gebildet, sondern zugleich idealer­ weise schöpferisch, kreativ, künstlerisch, technisch und sprachlich begabt. Er ist innovativ, schafft Neues und besitzt Erfindungsgeist. Sein Lebenswandel orientiert sich an humanistischen Tugenden, wobei er sich als freies und undogmatisches Wesen in kritischer Distanz zu staatlichen oder kirchlichen Autoritäten hält.

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Leonardo da Vinci: Der vitruvianische Mensch 1490 (Quelle: wikipedia.de)6

Als Prototyp des uomo universale wird gerne auf Leonardo da Vinci verwiesen. Er ist das treffende Beispiel eines Universalgenies oder, wie Goethe zu sagen pflegte, eines »Mustermenschen«. Reich an Talenten, Kenntnissen, Fähigkeiten und Bildung, viel­ seitig begabt in unterschiedlichsten Gebieten der Kunst

Leonardo bezieht sich mit dieser Studie über ideale Proportionen auf den antiken Architekten und Künstler Vitruvius, durch dessen Suche nach dem »wohl- oder idealgeformten Menschen« (homo bene figuratus) er inspiriert wurde. 6

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und Wissenschaft, Maler, Bildhauer, Architekt, Ana­ tom, Mechaniker, Ingenieur, Mathematiker, Botaniker, Geologe, Naturphilosoph, Schriftsteller und Visionär, mühelos im Erlernen neuer Dinge, fähig sowohl im praktischen und technischen Detail als auch in der Sphäre des Spekulativen, ausgezeichnet durch Origina­ lität und Erfinderkraft, zugleich aber auch ein kritischer, unabhängiger und selbstbestimmter Geist bietet Leo­ nardo Inbegriff und Idealbild des Universalmenschen. Der uomo universale der Renaissance hat mit unterschiedlichen Ausprägungen eine Entsprechung im französischen honnête homme, dem »Ehrenmann«, und dem englischen gentleman. Hier entwickelt sich ein umfassendes Verhaltensideal der Lebenskunst, das seinen Höhepunkt im 16. und 17. Jahrhundert findet. Die Reise der Selbstwerdung umfasst, wie wir etwa bei Montaigne und Pascal sehen können, eine möglichst allseitige Bildung ohne fachliche Pedanterie und Spe­ zialistentum. Vielfalt und Weite des Denkens sind die Leitmotive. Man vermeidet es, sich im Partikularen und Speziellen zu verlieren, verfällt aber auch nicht einer reinen Vielwisserei ohne Tiefgang. Vielmehr ist der allseits gut Gebildete in der Lage, verständnisvoll und klar über einzelne Themen zu sprechen, sie aber auch in ihre Zusammenhänge kompetent einzuordnen. Diese ausgezeichnete Allgemeinbildung erlaubt es, dass man über jeden Gegenstand geistreich, geschmeidig und gefällig plaudern kann. Doch geht es nicht nur um Wissen und Verstehen, sondern stets zugleich auch um Charakter- und Herzensbildung. 29 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

Die hohe Kunst der Konversation ist daher von charakterlichen Vorzügen und einem kultiviertem Lebensstil begleitet. Der honnête homme und der gentle­ man zeigen nicht nur ein geistreiches, sondern auch ein maßvolles Verhalten, eine vornehme Gesinnung durch ihre Interessen, ein einwandfreies Benehmen sowie Integrität und Verlässlichkeit. Wir hören dies noch im gentleman agreement heraus, in der »Handschlag­ qualität«, in der das gegebene Wort als Vereinbarung ausreicht, Treu und Glauben allein zählen und auf einen formalen Vertrag verzichtet werden kann. Die charak­ terliche Seite drückt sich des Weiteren in gepflegtem Äußeren, gute Manieren, galanter Höflichkeit und Charme, Selbstkontrolle und Besonnenheit, Maß und Balance, Understatement und feiner Ironie aus. Betrachten wir als letztes Beispiel den Vorschlag, den Immanuel Kant entwickelt hat. Er spricht vom auf­ geklärten Menschen und moralischem Charakter. Kant hält den Menschen allerdings für ein krummes Holz, das den aufrechten Gang nur schwer lernt. Außerdem meint er, dass sich mit dem Menschengeschlecht, wenn man überlegt, ob seine guten oder schlechten Seiten überwiegen, wirklich nicht groß prahlen lässt. Daher stellt sich aus seiner Sicht die Reise der Selbstwerdung zu einem aufgeklärten Menschen und moralischem Charakter als eine recht anspruchsvolle und schwierige Angelegenheit dar. Wenn Kant dem Menschen dabei das aude sapere, das Selbstdenken, aufträgt, dann hat er vor Augen, dass die Menschen es sich gerne am warmen Ofen 30 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

der Unmündigkeit bequem machen. Es ist doch viel einfacher, andere für sich denken zu lassen und zu gehorchen. Selbstdenken macht ja nicht nur die Mühe, nach guten Gründen für die eigene Überzeugung zu suchen. Man bekommt auch noch Ärger, wenn man aus der Höhle der Konformität herausschaut und für seine eigenen Ansichten eigenständig einsteht. Als Aufklärer sieht Kant die Menschheit auf dem Wege des Fortschritts zu einem ewigen Frieden. Dieser Weg wird aber nur dann erfolgreich sein, wenn sich der Mensch einen Kompass gibt, der sein Denken und sein Herz revolutioniert. Es ist zwar schwer, sich aus der Bequemlichkeit egoistischen Denkens zu lösen und der Logik des Krieges aller gegen alle zu entkommen. Aber die Formel der Vernunft für eine gute Charakter­ bildung, der Kategorische Imperativ,7 ist doch allen einsichtig und möglich. Er ist ein Aufruf an den Willen, sich auf diese Weise zu bestimmen. Die moralische Revolution ist also eine der vernünftigen Selbstbestim­ mung des eigenen Wollens. Dann kann man auch ein moralischer Charakter werden. Denn Begabung und Charakter werden dieser Willensentscheidung schon nachfolgen. Sich aber auf Willensschwäche rausreden, ist eine Mogelei, die Kant nicht gelten lässt. Neben dem moralischen Charakter als Reiseziel der Selbstwerdung versucht ein wahrer Mensch auch, ein aufgeklärter Mensch zu sein. Wir haben schon 7 In der bekanntesten Fassung: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.

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gehört, dass dies zu erreichen auch eine Anstrengung braucht. Vor allem aber: Mut! Es ist schwer, die eigene Feigheit und Unentschlossenheit zu überwinden, mutig und entschieden selbst zu denken. Es ist bequem und einfach, andere für sich denken zu lassen und dann selbst so zu denken, wie alle denken oder wie man so denkt. Aber auch hier lässt sich mit Hoffnung an die Vernunft jedes einzelnen appellieren, mutig das eigene Schicksal zu ergreifen. Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen ist darum der Weckruf der Aufklärung an die schlafende Vernunft und den ver­ schlafenen Verstand, zur eigenen Klarheit zu kommen. Dieser kurze historische Streifzug verdeutlicht, dass es in der Menschheitsgeschichte immer wieder Versuche gegeben hat, das Reiseziel der Selbstwer­ dung und damit eines gelungenen Lebens näher zu benennen. Häufig handelt es sich um ideale Höhen, die schwer zu erklimmen und von denen viele tiefe Abstürze zu berichten sind. Gleichwohl ermutigt uns Jean Paul im ersten Bändchen seiner Anthologie Herbst-Blumine: »Nur wer irgendein Ideal, das er ins Leben ziehen will, in seinem Inneren hegt und nährt, ist verwahrt gegen die Gifte und Schmerzen der Zeit«. Ob man aber der Sache gerecht wird, wenn man das Reiseziel niedrig und klein halten würde, um uns Ent­ täuschung und Scheitern zu ersparen? Denkbar wäre es ja, dass die Aufgabe, zu der das Werde, der du bist aufruft, eine große, sehr große Aufgabe ist, zu der auch das Scheitern sowie ein gutes Umgehen mit Scheitern unvermeidlich gehören. Wird uns die Selbstwerdung 32 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

gelingen? Wir müssen sie jedenfalls wagen. Hier die Hände in den Schoß zu legen, wäre Verrat an unserem eigentlichen Auftrag, Mensch zu sein und Mensch zu werden. Mit einem Gedanken aus einem bekannten Gedicht Rilkes können wir sagen: Versuchen will ich es: Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge zieh'n. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn.

Wellenkreis (Quelle: Pixabay)

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm, und ich kreise jahrtausendelang, und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm oder ein großer Gesang.

Was Rilke Wachsen und Versuchen nennt, ist ein wach­ sendes Entdecken, Verstehen und Emporformen. Hier gibt es kein wirkliches Ende für uns. Wir wachsen immerfort: »Was du für den Gipfel hältst, ist nur eine Stufe.« (Seneca) Dieses Wachstum müssen wir 33 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

immer weiter versuchen. Unser Leben ist ein stetes Experiment. Wir sind die Versucher unseres Lebens. Wir können rasten und Kraft sammeln, stehenbleiben dürfen wir aber nicht, sondern wir müssen »aus einem Licht fort in das andre gehn« (Angelus Silesius) Die Reise der Selbstwerdung ist ein Wagnis, das mit Risiko behaftet ist. Dazu passt ein Gedanke, den auf sehr ähnliche Weise André Gide sowie William Faulkner ausgesprochen haben, dass man nämlich keine neuen Welten oder Erdteile entdecken wird, wenn man nicht den Mut hat, die bekannten Ufer, alle gewohn­ ten Küsten aus den Augen zu verlieren. Jedenfalls sind sich alle berühmten Reiseziele darin einig, dass die Selbstwerdung eine umfassende, eine »ganzheitli­ che« Angelegenheit ist, die Leib, Seele und Geist in Anspruch nimmt und unser ernsthaftes Engagement erfordert. Man kann hier nicht bequem hinterm Ofen sitzen bleiben, sondern muss an die frische Luft und das Wagnis eingehen.

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3 Ein wahrer Mensch werden?!

(Angelus Silesius) Mensch werde wesentlich

Grundsätzliche Fragen drängen sich uns auf und ver­ langen, dass wir ihnen Rechenschaft ablegen. Selbst­ werdung als Selbstbildung zielt darauf, alle wichtigen Lebensfragen, Fragen nach Sinn und Zweck, nach Leben und Tod, nach Liebe, Schönheit, Wahrheit und Gerech­ tigkeit, nach Gott und Glauben, all diese Fragen zu stellen, um eine vernünftige Stellungnahme zu ihnen zu entwickeln. Diese Fragen und unsere Antworten auf sie machen unsere Lebenserfahrungen aus und bilden die Bausteine unserer Lebensgeschichte. Gibt es einen roten Faden? Welche Beziehungen zwischen den Dingen kann ich sehen? Fügen sich die vielen Mosaiksteinchen zu einem Bild zusammen? Was ist das allgemeine Reiseziel jedes Menschen, wenn er ein wahrer Mensch, wenn er wesentlich wer­ den will? Hier geht es noch nicht um das Einmalige und Besondere jedes einzelnen Menschen, sondern um die Aufgabe jedes Menschen, eine Aufgabe, die uns alle miteinander verbindet. Denn jeder Mensch soll »wesentlich« werden. Was aber ist sein Wesen? Die Antwort, die wir gefunden haben, lautet: Sein Wesen 35 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

ist das eines Freiheitswesens. Diese Gabe gilt es zu ergreifen. In dieser Gabe liegt gewiss unter anderem die Aufgabe politischer Freiheit, allen Menschen ten­ denziell dabei zu helfen, dass auch sie ihren Raum der Freiheit bekommen und wahrnehmen können. In dieser Gabe der Freiheit liegt sicher der Wunsch, dass uns das Gefühl und Bewusstsein der Freiheit unter allen Umständen möglichst immer erhalten bleibt und nie verloren geht. Was aber könnte inhaltlich das allgemeine Reise­ ziel für jeden Menschen sein, falls es so etwas über­ haupt gibt? Wohin geht die Selbstwerdung, wenn wir uns als Mensch vernünftig selbst bilden und bestim­ men wollen? Versuchen wir eine Antwort. Sie wird, weil sie ja für alle Menschen gelten soll, eine eher abstrakte Antwort sein müssen. Mit abstrakten Dingen hat man es nicht leicht. Mit ihnen kann man nur sel­ ten einen Hund hinterm Ofen hervorlocken. Aber das macht eine solche Antwort weder falsch noch nutzlos. Ein Kompass ist auch ein recht abstraktes Instrument, um die Richtung des Erdmagnetfeldes anzuzeigen, um sodann sicher in verschiedene Himmelsrichtungen rei­ sen zu können. Wer auf einen Kompass schaut, reist noch nicht. Wer reist und keinen Kompass besitzt oder ihn nicht versteht, erschwert sich die Navigation. Das abstrakte Werkzeug hilft uns, um auf einer konkreten Reise mit einer guten Route sicher in Richtung unseres Ziels zu steuern. Das Bild des Kompasses soll uns nur zeigen, dass das Abstrakte hilfreich für das Konkrete ist. Abstraktion 36 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

ist kein Einwand. Darüber hinaus würde das Bild aller­ dings hinken: Ein Kompass sagt uns ja nicht, wohin wir reisen sollen. Er hilft uns nur, wenn wir dies schon wissen. Wissen wir es schon? Wissen wir schon, was das allgemeine Reiseziel jedes Menschen ist? Was es für jeden sein könnte, ein wahrer Mensch zu werden, haben die klassischen Bildungsziele aufzu­ zeigen versucht. Jedes dieser Bildungsideale ist zwar auch Kind seiner Zeit und gibt uns vielleicht keinen völlig klaren Durchblick auf das allgemeine Reiseziel, das jeder Mensch verfolgen sollte. Sie entspringen aber alle aus der Sehnsucht des Menschen, genau ein solches Reiseziel zu definieren, das er braucht, um ein wahrer oder wirklicher Mensch zu werden. Wäre es daher nicht gut denkbar, dass alle Bildungsideale auf ihre spezielle Art und Weise von dem einen Reiseziel erzählen? Ob es der aufgeklärte Mensch Kants oder der uomo universale Leonardos oder der honnête homme Pascals oder der mittelalterliche Ritter usw. ist, sind sie letztlich nur Variationen einer Grundidee? Stimmen sie also im Wesentlichen überein? Das Bild, das ich zur Illustration dieses Gedankens anbieten möchte, ist das des Prismas (oder des Regen­ bogens). Das eine weiße Licht fächert sich im Prisma durch unterschiedliche Brechungen der Längenwellen in die verschiedenen Farben auf. Alle Farben sind Zeu­ gen, in unterschiedlicher Brechung, des einen weißen Lichts, von dem sie in ihrer jeweiligen Ausformung erzählen. So wie bei der Lichtbrechung im Prisma könnten wir auch sagen, dass die klassischen Bildungs­ 37 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

ideale in den verschiedenen Brechungen von Raum und Zeit, von Zeitalter und Kultur, von dem einen Thema erzählen, von dem sie Variationen sind, und auf dieses verweisen. Aber die Frage bleibt: Von welchem Thema sind sie Spielarten und Abwandlungen? Worin kommen sie überein? Was ist das »weiße Licht«, von dem diese Farben erzählen? In einer ersten Überlegung möchte ich sagen, dass jedes Reiseziel der Selbstwerdung eine Idee davon entwickelt, alle wesentlichen Aspekte des Men­ schen zu integrieren und in ein stimmiges Verhältnis zueinander zu bringen. Die Bewegung der Integration8 möchte nichts außer Acht lassen, was wichtig ist. Sie vervollständigt die relevanten Gesichtspunkte in Rich­ tung Ganzheit. Die Bewegung der Stimmigkeit bringt alle Aspekte, die wichtig sind, in ein geordnet-harmo­ nisches Verhältnis, in dem sie gemeinsam zu ihrem relativen Recht kommen. So können alle Teile einander entsprechen und sich miteinander vereinen. Dies ist die Bewegung in Richtung Einheit oder Einklang.9 In einem Bild gesprochen: Sorge dafür, dass alle erforder­ lichen Instrumente des Orchesters da sind und keine notwendige Instrumentengruppe ausfällt, und sorge dafür, dass sie durch Ein-Üben ein gemeinsames Spiel der Musik herausbilden. 8 Vielleicht kann man sagen, dass die Ganzheit drei Grundideen reflek­ tiert: Die Integration aller Teile, die Heilung, da das Ganze der Gegensatz des Kaputten ist, und die Intensität statt irgendwelcher Halbheiten, wie wir etwa sagen, dass wir ganz bei einer Sache sind. 9 Einheit ist Grund und Ziel, die Vielheit, die Fülle der Möglichkeiten, in ein Zusammenspiel bringt.

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Das allgemeine Reiseziel der Selbstwerdung für alle Menschen muss demnach Ganzheit und Einheit sein. Werde, der du bist heißt also für jeden von uns: Strebe nach Ganzheit und Einheit. Alles, was den Men­ schen ausmacht, leibliche, seelische und geistige Kräfte in ihrer großen Vielfalt sollen berücksichtigt werden und ihre Rolle spielen. Und alle diese Kräfte sollen ein gemeinsames, stimmiges Konzert geben. Warum sind es gerade Ganzheit und Einheit, die die allgemeine Auf­ gabe der Selbstwerdung jedes Menschen beschreiben? Wieso ist dies der eine, der allgemeine Teil, der zu leisten ist, um ein wahrer Mensch zu werden? Wieso ist das der Richtungssinn, damit der Mensch wesentlich wird? Die Antwort auf diese Fragen liegt recht nahe. Ich glaube, diese Richtungsbestimmung fußt auf einer ganz vertrauten Lebenserfahrung, die jeder irgendwie von sich selbst her kennt. Es gibt doch gar kein menschliches Leben, das völlig intakt, integer und heil wäre. Niemand ist vollkommen mit sich im Einklang. Alles menschliche Leben trägt Spuren von Unwissenheit, Verletzung, Verdrängung und Unter­ drückung in sich. Nicht nur, dass wir uns in Dissonanz und Differenz mit anderen befinden, die Ansprüche an uns stellen oder Erwartungen an uns haben, Eltern etwa oder Arbeitgeber, die sich nicht ganz mit den unsrigen Ansichten decken. Nicht nur, dass wir auch mit anderen um knappe Ressourcen konkurrieren, und sei es nur um den letzten freien Platz im Restaurant oder um den besten im Konzert. Die Dissonanzen liegen auch in uns selbst. Zugegeben, »in uns selbst« kann auch ein ande­ 39 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

rer Ausdruck dafür sein, dass wir äußere Zumutungen verinnerlicht haben, manchmal so sehr, dass wir sie von unserer authentischen eigenen Stimme gar nicht mehr unterscheiden können. Traumata etwa oder auch Dressate, verinnerlichte Fremdherrschaft also, könnten sich auf diese Weise tief in uns eingegraben haben. Auch scheinen sich unsere verschiedenen anthropo­ logischen Dimensionen, die wir abgekürzt Leib, Seele und Geist nennen, nicht von vornherein in einem har­ monischen Zusammenspiel zu befinden. Sie machen einander das Leben auch gegenseitig schwer, und das in jede beliebige Richtung. Der Leib beschwert sich und die Seele wird in Mitleidenschaft gezogen. Der Geist hat Wünsche, Freuden und Begierden im Sinn, und der Leib kommt mit all diesen Ansprüchen nicht mit. Spannungen liegen also auch bereits in unserer eigenen Natur. Darüber hinaus können wir jedoch nicht alles, was uns misslingt auf unsere Natur, auf Umstände oder auf andere abwälzen. Alles in allem Rechnung gestellt, geht die Gleichung unserer eigenen Unschuld nicht völlig auf. Wir sind nicht nur Opfer oder Leidtragende. Wir bringen den Widerstreit zusätzlich selbst in uns selbst und in die Welt hinein. Wir sind nicht nur bedürftig, sondern obendrein gierig. Wir verletzen auch unsere Verantwortungen und laden Schuld auf uns. Summa summarum: Keiner von uns ist wirklich im Einklang mit sich selbst. Niemand ist ganz bei sich, keiner völlig mit sich versöhnt. Das steht aus. Der Traum von der Eins, 40 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

also in der Einheit, im Einklang, im Einssein zu sein, ist ein Motiv unserer Taten, Sehnsucht und Reiseziel unserer Selbstwerdung. Wo wir aber tatsächlich sind, worin wir uns aufhalten, ist allerdings vor allem eine Welt der Zwei,10 der Zweiheit, des Zweifels, der Zwie­ tracht und Entzweiung, eine Welt der Zwei, die von der Eins träumt. Unser Leben öffnet ein Fenster, durch das wir auf den Grund des Menschseins sehen, das von Dissonanz, Riss und Bruch durchzogen ist: Wir sind eine problematische Zweiheit, die sich danach sehnt, keine zu sein. Zweiheit ist unser Leben, Einheit unser ersehntes Ziel. Einheit, die uns selbst in unserer ganzen Fülle ernst nimmt, darf des Weiteren kein Reduktionismus sein. Wir dürfen nicht irgendeiner falschen Armut erliegen. Es darf keine Einheit geben, die auf Kosten der Ganzheit geht. Nicht nur eine Einheit für den Geist, nicht nur eine Harmonie für die Seele, nicht nur eine Zufriedenheit für den Leib. Nicht nur eine Einheit für mich allein, sondern auch mit anderen. Selbstwerdung als Heilwer­ den nimmt das Wort »heil« in seiner Wurzel auf, wie wir es sehr schön etwa im Englischen sehen: »whole« (und »holy«), also ganz werden. Die Einheit integriert die Vielfalt des Ganzen in sich und löst sie nicht auf. Das Konzert wird nicht von einem allein und nicht nur von einer Seite unseres Wesens aus aufgeführt. 10 Twi ist die indogermanische Wurzel, die unseren Worten wie zwischen, zwei, Zweifel, Zwietracht, Entzweiung usw. zugrunde liegt. Wir sehen sie auch z.B. sehr schön in dem englischen Wort twi-light=Zwie­ licht.

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Alle(s) und eins, Ganzheit (Totalität) und Einheit (Unio) ist das durchscheinende weiße Licht, das sich im Prisma der vielen Farb-Variationen bricht. Auch wenn unser Selbstverhältnis immer wieder ein proble­ matisches ist, ja, weil es voll Widerstreit ist und immer wieder hin- und herflutet zwischen Momenten des Gelingens und Misslingens, bildet sich in uns diese Zielidee von Ganzheit und Einheit für unsere Selbst­ werdung. Der Mensch ist ein Zwischen- und Zweisein, weil er nicht in der Eins ist. Diese Eins, dieses Einssein, ist vielleicht nur ein anderer Name für Glück, so wie Aristoteles es verstanden hat: nämlich als Selbstbefreun­ dung. Denn nur da, wo ein Wesen in Dissonanz ist, braucht es überhaupt die Freundschaft mit sich selbst, aber auch mit anderen. So streben wir also, ganz selbst­ verständlich, aufgefordert durch unsere eigentümliche Verfassung und unsere besondere Lage, in Richtung einer Selbstbefreundung und einer universalen Freund­ schaft mit anderen, die wir gleichzeitig doch ständig wieder aus Angst und Gier11 und tausend anderen Gründen sabotieren. Der Mensch lebt im Bruch, in der Gebrochenheit, und träumt ungebrochen davon, die richtige Furt hinüber ins gelobte Land zu finden. Er baut Brücken und reißt sie nieder, er sucht Verbindungen und zerstört sie wieder. Er erfindet sich Ausreden, Auswege und Umwege, sozusagen fehlgeschlagene Gier ist immer der Wille, sich zu ergänzen, um vollständig zu sein, ein Hunger nach Ganzheit und Fülle des Seins. Angst ist immer Angst, etwas zu verlieren und weniger zu sein, so dass ich aus der erhofften Fülle in eine befürchtete Leere abfalle. 11

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Selbstheilungsversuche, untaugliche Versuche, die eine Rückkehr in die Eins nur simulieren. Und zugleich bricht er immer wieder auf: Wo gehn wir denn hin? Immer nach Hause sagt Novalis von allen Aufbrüchen und Reisen und Bewegungen der Menschen.

Yin und Yang (Quelle: wikipedia.de)

Das Symbol für das (individuelle) Yin und Yang sym­ bolisiert eine Ganzheit, die polare Kräfte in einer sinnhaften Einheit integriert. Zwei verschiedene Sei­ ten berühren einander, ergänzen und fügen sich zu einem Ganzen. Die scheinbaren Gegensätze durchdrin­ gen einander wechselseitig, ohne ineinander aufgelöst zu werden. Einheit und Ganzheit sind das Reiseziel der Selbstwerdung. Dorthin streben wir. Wird es uns gelingen? Wir wissen es nicht. Es mag sein, dass uns 43 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

das Paradies der Eins, das, was die Romantiker als die »blaue Blume« bezeichnen oder was Kafka in sei­ ner Erzählung Die Verwandlung die »unbekannte Nah­ rung« nennt, nicht nur sehr fern, sondern womöglich sogar verschlossen ist. Manchmal streift uns aber ein Vorgeschmack dieses fernen Paradieses, berührt uns der Zauber von Utopia. Wir wissen dann, es könnte anders sein. Wir könnten anders sein. Vielleicht ist unser utopisches Leben schon dadurch »schön und gut«, dass wir dieses Reiseziel entdecken, annehmen und uns für dieses Ziel bewusst entscheiden, um uns sodann in seine Richtung zu bewegen. Viel­ leicht reicht es schon, dass wir um Selbstwerdung unter den beiden großen Losungen der Ganzheit und Einheit ringen. Denn nach allem, was wir von uns und unserem Leben wissen, bleiben wir uns am Ende selbst verbor­ gen und entzogen. Das Inkognito des Selbst ist nicht gänzlich aufzulösen. Nichtwissen durchzieht all unser Bemühen. Es gehört zu unserer eigenartige Würde als Menschen, immer auch terra incognita, unbekanntes Land, und homo absconditus zu bleiben, ein sich selbst verborgener Mensch. Die Selbst-Einheit steht noch aus. Wir sind wie ein Text, an dem wir mitschreiben, dessen Anfang uns entzogen und dessen Ende uns verborgen ist, dessen letzte Einheit und Ganzheit uns unbekannt bleibt. Als Freiheitswesen erkennen wir die Aufgabe der Freiheit: uns in unserer spannungsvollen und vielfältig disso­ nanten Lage zu sehen, anzunehmen und dann den Weg der Heilung, Befreiung oder Gesundung zu gehen, also 44 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

unter der Signatur von Ganzheit und Einheit unser Leben vernünftig zu formen und zu gestalten. Selbst­ werden ist die eigentliche Praxis unseres Lebens. Das Ziel dieses Weges aber ist die Einheit und Ganzheit aller Selbstvollzüge des Menschseins. So treten wir allmählich heraus aus der Zwei in die Eins, in Einklang, Übereinstimmung und Stimmigkeit, ohne diese große Aufgabe tatsächlich zu vollenden. Dieses abstrakte Reiseziel der Selbstwerdung Ein­ heit und Ganzheit aller Selbstvollzüge findet konkrete Schwerpunkte im Leben der Menschen. Drei dieser Konkretisierung für jedermann schauen wir uns in den nachfolgenden Kapiteln näher an. Zum einen geht es um unsere Fähigkeiten oder Talente, die auf Entfaltung warten. Des Weiteren fordert uns unsere Charakter­ bildung als eine wichtige Facette der Selbstwerdung heraus. Schließlich stellt uns unser Temperament vor die Frage, ob und inwiefern es ein Thema der Selbstbildung sein könnte und sein sollte.

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4 Die eigenen Fähigkeiten entfalten

(Johann Wolfgang von Goethe) Da ich kein anderes Bestreben kenne, als mich selbst, nach meiner Weise, so viel als möglich auszubilden, damit ich an dem Unendlichen, in das wir gesetzt sind, immer reiner und froher Anteil nehmen möge.

Im Neuen Testament finden wir ein Gleichnis, das von den Talenten des Menschen erzählt.12 Dort geht es vor allem darum, dass man die Chancen, etwas aus seinen Fähigkeiten zu machen, nicht verschläft. Man soll sie wachsen lassen oder ausbilden. Verstehen wir das Gleichnis nun so, dass jeder Mensch »talentiert« ist. Er ist mit Kompetenzen, Fähigkeiten oder Gaben ausgestattet. Diese Befähigungen tragen in sich aber auch eine Verpflichtung. Man soll nämlich »mit den Pfunden wuchern«, wie es so schön heißt, also etwas mit seinen Talenten bewusst und aktiv anfangen. Es reicht nicht, Talente zu haben und sie dann einfach brach liegen zu lassen. Dann schwindet der Schatz der Talente erfahrungsgemäß. Wenn man sich nicht um seine Talente kümmert, werden sie verkümmern, und dann hat man Kummer. Talente sollen aufblühen. 12

Mt 25,14–30 und Lk 19,12–27.

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Doch welches sind unsere wirklichen Talente? Früh in unserer Kindheit werden nämlich die, die tatsächlich auf besondere Weise die unseren sind, alsbald über­ lagert durch auferlegte Gewohnheiten, Wünsche und Erwartungen. Pascal formuliert diese Einsicht in seinen Pensées13 folgendermaßen: Das Wichtigste für das ganze Leben ist die Wahl des Berufs; und der Zufall entscheidet darüber. Die Gewohnheit macht zu Maurern, Soldaten, Dachde­ ckern. Das ist ein ausgezeichneter Dachdecker, sagt man, und wenn man von den Soldaten spricht: Sie sind rechte Narren, sagt man, und die anderen behaupten im Gegenteil: Es gibt nichts Großes außer dem Krieg, die übrigen Men­ schen sind Taugenichtse. Da man in seiner Kindheit diese Berufe so sehr loben und alle übrigen mit Geringschätzung behandeln hörte, trifft man seine Wahl. Denn von Natur aus liebt man die Tugend und hasst die Torheit; gerade diese Worte werden den Ausschlag geben; man sündigt nur bei ihrer Anwendung. So groß ist die Macht der Gewohnheit, dass man aus den­ jenigen, welche die Natur nur zu Menschen gemacht hat, Menschen aller Stellungen macht. Denn es gibt Gegenden, wo alle Maurer sind, andere, wo alle Soldaten sind usw. Ohne Zweifel ist die Natur nicht so einförmig; also führt die Gewohnheit dazu, denn sie nötigt die Natur, und manchmal überwindet die Natur sie und lässt den Menschen auf seinem Instinkt beharren, jeder guten oder schlechten Gewohnheit zum Trotz.

In einem anderen Fragment14 unter dem Stichwort der »Zerstreuung« hält er kritisch einen weiteren Aspekt 13 14

Fragment 133/634/97. Fragment 167/139/143.

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fest. Eine zusätzliche Wirkung entfalten die Berufsund andere Gewohnheiten bekanntlich dadurch, dass sie auch der Zerstreuung dienen, d.h. der Ablenkung vom ernsthaften Nachdenken über sich selbst und die eigene Lage. Von Anfang werden die Kinder unter eine Erziehung gestellt, die dem Generalmotiv der Sorge folgen. Die Menschen werden kaum hundert Jahre alt, machen sich aber, so sagt ein altes chinesisches Sprichwort, Sorgen um tausend. Man soll und muss sich um vieles sorgen und sich über vieles Sorgen machen. Die Erziehung zeigt, worum wir uns Sorgen zu machen haben. Dann sorgt sie dafür, dass wir uns mit den vielen Sorgen-Dingen näher vertraut machen, damit wir uns schließlich, gut erzogen, keine Sorgen mehr machen müssen, sondern in dieser Besorgung zerstreut unser Leben leben. Erst lernen wir, uns mit den Sorgen-Dingen zu beschäftigen, dann beschäftigen sie uns. Freie Selbstbildung ist kein Anliegen dieser Form von Erziehung: Zerstreuung. Man belastet die Menschen von Kindheit an mit der Sorge um ihre Ehre, um ihren Besitz, um ihre Freunde und dazu noch um den Besitz und die Ehre ihrer Freunde, man über­ häuft sie mit Geschäften, mit dem Erlernen der Sprachen und mit Übungen, und man gibt ihnen zu verstehen, sie könnten nicht glücklich sein, ohne dass es gut um ihre Gesundheit, ihre Ehre, ihr Vermögen und um die Gesund­ heit, die Ehre, das Vermögen ihrer Freunde stehe, und wenn nur eines davon fehle, so werde sie das unglücklich machen. Also überträgt man ihnen Pflichten und Geschäfte, die sie vom frühen Morgen an in Bewegung halten. Das, so werdet ihr sagen, ist eine seltsame Art, sie glücklich zu machen;

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was könnte man mehr tun, um sie unglücklich zu machen? Wie denn, was man tun könnte? Man brauchte ihnen nur all diese Sorgen abzunehmen, denn hierauf würden sie sich selbst sehen, sie würden daran denken, was sie sind, woher sie kommen, wohin sie gehen, und gerade deshalb kann man sie gar nicht zu sehr beschäftigen und ablenken. Und darum auch rät man ihnen, nachdem man sie mit so vielen Geschäften beauftragt hat und sobald sie einige Mußestunden haben, dass sie diese benutzen sollen, um sich zu zerstreuen, zu spielen und sich immer ganz und gar beschäftigt zu halten.

Unsere wahren Fähigkeiten könnten also, so scheint es, unter einer großen Maschinerie von Gewohnheiten, Zerstreuungen und Sorgen verborgen liegen. Unser Leistungs- oder besser noch Fähigkeitspotenzial ist zunächst einmal genau dies: eine Potenz, also eine Möglichkeit. Die Befähigung zu etwas ist selbst noch nicht die Verwirklichung dieser Fähigkeit. Was unsere Talente sind, schlummert womöglich noch im Dunkeln, liegt brach und ist überlagert durch tausend Sorgen und Ansprüche, die uns das gesellschaftliche Leben gelehrt hat. Die Aufforderung des Werde, der du bist bestünde hier nun genau darin, den Schleier der gesellschaftli­ chen Zumutungen zu durchbrechen. Es ist zu prüfen, ob unsere eigentlichen Fähigkeiten und Talente noch darauf warten, ans Licht gehoben zu werden. Natürlich ist ein philosophisches Büchlein wie die­ ses keine Berufsberatung. Dafür gibt es bekanntlich andere Möglichkeiten. Doch wenn wir Pascals Zuspit­ zung »Das Wichtigste für das ganze Leben ist die Wahl des Berufs« bedenken und diese Wahl nicht den zufäl­ 50 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

ligen Gewohnheiten überlassen, sind wir bei einem ernsthaften Problem der Selbstwerdung angelangt. Die Leitfragen, soweit sie die Fähigkeiten und Talente in eine gute Berufswahl einbringen wollen, lauten wohl: »Was macht mir ausgesprochen Freude und begeistert mich?«, »Was kann ich richtig gut und geht mir leicht von der Hand?« und »Was berührt mich tief im Inneren und macht mich richtig stolz?«15 Wenn es aber denkbar und vielleicht sogar allgemein üblich ist, dass die Kräfte und Energien, die in unseren Talenten als Möglich­ keiten schlummern, durch gesellschaftliche Diszipli­ nierungen und Formungen umgelenkt und abgelenkt werden, stehen wir vor dem Problem einer möglichen und vielleicht sogar massiven Entfremdung. Manchmal blitzt die Entfremdung von unseren wahren Talenten auf, wenn andere Menschen auf sie aufmerksam werden. Sie stellen dann die Frage an uns: Warum hast Du eigentlich aus diesem Talent nie etwas gemacht? Wir erinnern uns dann vielleicht daran, dass uns gesagt wurde: Mach doch besser etwas Ordentliches oder lieber etwas Gescheites! So haben wir entweder unsere Begabungen erst gar nicht richtig geweckt und aus ihnen durch Lernen und Üben ein Talent entwickelt, oder aber wir haben erreichte Talente nicht für den beruflichen Weg genutzt oder sogar Gleichzeitig steckt in diesen Überlegungen ein anderes Problem: Was wird aus unserer Leidenschaft und Freude, die in unseren Begabungen und Talenten enthalten sind, wenn wir gezwungen sind, mit ihnen in einem Brotberuf unser Geld zu verdienen?! Gehen sie uns dann womöglich ver­ loren? 15

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wieder verkümmern lassen. Da aber eine Begabung, funktional ausgedrückt, eine erhöhte Lern- und Leis­ tungsfähigkeit darstellt und ein Talent eine bewährte Begabung, in die bereits viele Ressourcen investiert wurden, ist der verpasste Rückgriff auf Begabung oder Talent für die Berufswahl wenig plausibel.16 Sobald wir aber eine uns zugefügte große Entfrem­ dung spüren oder auch unseren eigenen mangelnden Mut beklagen, sich gegen die Entfremdung zu stellen, dann bedauern wir, was mit uns geschehen ist. In der Sprache nutzen wir dafür eine eigentümliche Konstruk­ tion. Wir sagen z.B.: Ich wünschte, ich hätte… Damit sind wir im Konjunktiv II angekommen, d.h. wir haben die reale Welt verlassen und sind in die irreale gelangt, dorthin, wo jetzt nicht mehr möglich ist, was doch einmal möglich war. Das Potenzial war da, ich habe es nicht genutzt, es nicht verwirklicht, jetzt ist es zu spät. Nun kann ich nur noch seufzen, trauern und träumen. In ihrem Bestseller The five regrets of the dying hat die australische Palliativkrankenschwester Bronnie Ware fünf Themen gefunden, die von todkranken Men­ schen vor ihrem Lebensende besonders häufig beklagt und besonders intensiv bedauert wurden. Einer dieser Punkte lautet: Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mein eigenes Leben gelebt. 16 Soweit die Berufswahl nicht durch andere Personen oder gesellschaft­ lich vorgegeben wird, ist der Rückgriff auf Interessen als Wegweiser für die Berufswahl weniger tragfähig als Begabungen und Talente; dies allein aus dem Grund, dass Interessen in sehr viel höherem Maße wandelbar und plastisch sind.

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Älteres Paar tanzt Tango (Quelle: Pixabay)

Was wir bedauern, ist nicht irreal in dem Sinne, wie sich die romantische Liebessehnsucht ausdrückt: »Wenn ich ein Vöglein wär und zwei Flügel hätt, flög ich zu dir«. Ein Vogel zu sein, ist und war nie eine Möglich­ keit, die uns je gehört hätte.17 Hier aber, wenn es um unsere dahingeschwundenen oder verpassten Fähig­ keiten geht, wünschen wir uns das, was doch einmal grundsätzlich möglich war und was nun scheinbar nicht (mehr) möglich ist. So scheint es. Doch es die Zeit, die der Engel der Menschen ist. Diesen Gedanke Schillers deuten wir hier so, dass, solange die Zeit über uns herrscht, es immer noch Zeit für uns gibt. Noch ist Zeit. Solange aber Zeit ist, ist es immer noch möglich, unsere ureigenen Möglichkeiten zu bergen und zu heben. Nur wenn der Tod uns etwas raubt oder an unserem eigenen 17 Deswegen geht das Volkslied ja auch entsprechend weiter: Weil's aber nicht kann sein, bleib ich allhier.

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Bett steht, geraten wir spielraumlos in die Welt des Konjunktiv II. Jetzt aber ist noch Zeit, um zu sich selbst zu stehen. Ganz auf der Gedankenlinie des Bedauerns Ster­ bender liegt ein Wort, das wir in der Krypta der West­ minster Abtei auf dem Grabstein eines anglikanischen Bischofs lesen können: Als ich jung und frei war und mein Vorstellungsvermögen keine Grenzen hatte, träumte ich davon, die Welt zu verän­ dern. Als ich älter und weiser wurde, entdeckte ich, dass sich die Welt nicht ändern würde. Also schränkte ich mich ein und beschloss, nur mein Land zu verändern. Aber auch das schien nicht möglich. Als ich in meinen Lebensabend eintrat, versuchte ich in einem letzten verzweifelten Versuch nur meine Familie zu verändern, jene, die mir am nächsten standen. Doch auch sie ließen es nicht zu. Jetzt, da ich auf dem Sterbebett liege, wird mir klar: Wenn ich mich selbst zuerst geändert hätte, dann hätte ich durch mein Beispiel meine Familie geändert. Durch ihre Ermutigung wäre ich in der Lage gewesen, mein Land zu verbessern und vielleicht hätte ich sogar die Welt verändert.

Das Wunder der Selbstbildung beginnt also an unserer eigenen Nasenspitze. Nicht andere, sondern uns selbst sollen wir verändern. In dem Maße, in dem wir uns selbst ändern, strahlen wir dies dann auf unsere Umge­ bungsbedingungen aus; denn nur von Verwandelten können Wandlungen ausgehen (S. Kierkegaard). Es ist unsere eigene, persönliche Aufgabe, unser Potenzial zu entdecken, auszugraben und im Rahmen unserer Möglichkeiten zu entfalten. Dies ist eine Form der Treue zu sich selbst. Eine Form der Selbstannahme 54 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

und Selbstbejahung. Die Wirkung dieser Entscheidung ist ein Prozess des Stimmigwerdens. Nach und nach geraten wir im besten Fall, wenn es uns gelingt, immer mehr in einen Einklang mit uns selbst. Entdecken, ausgraben, entfalten – dafür braucht es aber Zeit und dabei müssen wir uns Zeit lassen. Des Menschen Engel ist die Zeit, das bedeutet eben auch dies: Lass dir genug Zeit.18 Lass dir genug Zeit, um zu entdecken, welche deine wirklichen Talente und Fähigkeiten sind. Sei nicht zu schnell, nicht zu voreilig, sei ohne Hast. Dann verlassen wir die Welt des Konjunktiv II, die Welt des Unmöglichen und Unerreichbaren. Wir stehen wieder zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit. Robert Musil hat in seinem Jahrhundertroman Der Mann ohne Eigenschaften sehr schön den Möglichkeits­ sinn neben den Wirklichkeitssinn gestellt. Wer den Möglichkeitssinn in sich weckt, nähert sich, so heißt es dort, den »noch nicht erwachten Absichten Gottes«. Das Wirkliche muss erst noch gefunden, erfunden und gebaut werden. Es ist also noch Zeit, Zeit, um sich auf seine wahren Fähigkeiten und Talente zu besinnen und sich um sie, »so viel als möglich«, wie Goethe im Eingangszitat des Kapitels sagt, zu kümmern und sich »auszubilden«.

18 Wittgenstein meinte sogar, dass dies der Gruß unter Philosophen sein sollte: Lass dir Zeit!

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5 Bilde deinen Charakter

(Georg Wilhelm Friedrich Hegel) Zum Handeln gehört wesentlich Charakter, und ein Mensch von Charakter ist ein anständiger Mensch, der als solcher bestimmte Ziele vor Augen hat und diese mit Festigkeit verfolgt.

Manchmal hören wir jemanden sagen, dass dieser oder jener Mensch da ein Mensch mit Charakter sei. Dieser Hinweis will uns ein gutes und positives Bild jenes Menschen signalisieren. Hören wir aber, dass über einen anderen gesagt wird, er sei ein ganz und gar haltloser Charakter, drängt sich uns das gegenteilige Bild auf. Auch der haltlose Charakter hat offensichtlich einen Charakter, aber einen schlechten. Und leider zäh­ men auch Kultur und Kunst nicht immer die Barbarei. Man kann Bach und Rilke lieben und doch tagsüber dem Handwerk des KZ-Schergen nachgehen. Eine Probe auf einen guten und schlechten Cha­ rakter, sozusagen einen Charaktertest, hat bekanntlich Abraham Lincoln vorgeschlagen: Willst du den Charak­ ter eines Menschen erkennen, gib ihm Macht. Und während Seneca und Rousseau es für möglich hielten, den Charakter eines Menschen selbst aus den kleins­ ten Handlungen und besonders aus diesen ablesen zu 57 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

können, verdanken wir Aristoteles einen besonders auf­ schlussreichen Hinweis. Seiner Meinung nach leuchtet der Charakter eines Menschen gerade in den Momen­ ten auf, wo sein Sprechen und Benehmen durch keine besondere Absicht bestimmt ist. Absichtslos gibt sich der Mensch am ehesten so, wie er ist. Charakter ist das griechische Wort für »Gepräge«. Charakteristisch für einen Menschen ist natürlich auch sein Naturell oder Temperament. Hier aber steht Cha­ rakter für die moralische »Denkungsart« (Kant), für das, was der Mensch aus sich und im Blick auf einen guten Willen machen will. Es geht also um morali­ sche Prägung, nicht um Fähigkeiten, Intelligenz oder Temperament. Es geht nicht um natürliche Eigenschaf­ ten und Talente, sondern um Wertentfaltung. Es geht darum, was dieser Mensch will, was ihm wichtig ist und am Herzen liegt, also um seine Werte. Und es geht darum, was dieser Mensch soll, was von ihm erwartet wird, welche Pflichten und Verantwortungen ihm zuzurechnen sind, also um die Normen, die für ihn gelten. Die Frage nach dem, was gut ist, prägt den Charakter. Wollen und Sollen, Werte und Normen sind es, die in den Charakter eingehen. Da der Charakter ein »Gepräge« ist, fragt sich, wer genauer ihn denn prägt. Die erste und naheliegende Antwort ist sicher die, dass wir von denen geprägt werden, die uns erziehen. Sie knüpfen an das an, was wir als Naturwesen an Bedürfnissen und Wünschen mit uns bringen, und vermitteln diese mit den Normen und Regeln, die in der Familie und der Gesellschaft gelten. 58 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

Die Route der Prägung zieht sich durch alle weiteren Institutionen, die uns mit Normen und Pflichten kon­ frontieren, Kindergarten oder Schule oder Vereine oder Medien usw. Wer prägt den Charakter? Darauf ist eine wei­ tere, zweite Antwort, ganz unentbehrlich. Wenn die Erziehung einigermaßen sinnvoll verläuft, wird sie ihre Selbstrelativierung einschließen. Das heißt, sie wird das Streben der einzelnen Menschen begünstigen, ihnen auferlegte Normen und Pflichten zu prüfen, zu bedenken und sich ggf. auch von ihnen distanzieren oder emanzipieren zu können. Mit anderen Worten: Erziehung, die gelingt, erlaubt Selbstformung. Erzie­ hung, die sich selbst relativiert, öffnet Raum für Bil­ dung, in der Selbstprägung, eigene Charakterbildung und Autonomie möglich werden. Um den eigenen Charakter selbst weiter zu bilden, muss ich mir verständlich machen, wie mein Wertekos­ mos aussieht und welchen Normenkatalog ich in mein Leben aufgenommen habe. Der einzig legitime Sinn von Werten und Normen ist es, ein gelungenes Leben zu leben. Ein gelungenes Leben schließt zum einen ein persönliches Leben ein, das mit sich selbst stimmig und befreundet ist. Zum anderen zielt es auf das Leben eines einzelnen Menschen im Zusammenspiel mit den ande­ ren. Grundsätzlich sollte mein Lebensentwurf zugleich mit dem der anderen verträglich sein können. Dort, wo er den anderen Zumutungen bringen mag, müsste ich in der Lage sein, meinen Weg zu rechtfertigen, verständlich und nachvollziehbar zu machen. Ohne 59 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

ein gewisses Maß an Toleranz aller und Offenheit für Differenz wird ein solcher Ansatz unmöglich sein. Wenn Menschen sich nicht mit Gott verwechseln und totalitär werden, ist ein solcher Ansatz unverzichtbar und unvermeidlich.

Identität und Charakter (Quelle: pixabay)

Um den eigenen Charakter so zu bilden, dass er für mich stimmig und mit anderen kompatibel sein kann, brauche ich ein Reiseziel und einen Reiseweg. Ich muss daran interessiert sein, mich selbst immer besser ken­ nenzulernen, aber auch die Mitmenschen, das Leben und die Welt, in der ich existiere. Belehrt durch diese vielfältigen Erfahrungen, wird meine Werteordnung wohl am besten durch ein Reiseziel bestimmt sein, dass wir als Integration oder Balance divergierender Momente betrachten können. Die eigene innere Plura­ lität verschiedener Werte in eine lebensfähige Ordnung zu bringen, der ich trauen kann, ist die eine Seite dieses Ziels. Die Pluralität verschiedener Werte verschiedener Menschen zueinander in eine tragfähige Beziehung zu bringen, ist die andere Seite. Gibt es einen höchsten 60 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

Wert, den ich über alle anderen stelle? Gibt es Werte, die mich unbedingt verpflichten? Gibt es solche, die ich je nach Fall und Lage, nach Dringlichkeit und Situation vorziehen oder zurückstellen kann? Solche und ähnli­ che Fragen helfen allmählich, meine Wertrangordnung oder mein Wertemosaik sowie die Logik des eigenen Herzens zu klären. Ein erstes, simples Ordnungsschema kann uns hierbei einen kleinen Dienst erweisen. Es unterschei­ det drei Fälle oder Klassen von Handlungen: tragische Fälle, Abwägungsfälle und kategorische Fälle. In dieser Klassifikation bedeuten »tragische Fälle« die Kollision von gleichwertigen Gütern. Man befindet sich also beispielsweise in dem Dilemma, von zwei ertrinkenden Menschen nur einen retten zu können, und die Wahl des einen bedeutet in gewisser Weise den Tod des anderen Menschen. Ein anderes Beispiel stellt die soge­ nannte »medizinische Indikation« in der Abtreibungs­ debatte dar. In solchen Fällen lautet die einzige Regel, dass es keine Regel gibt. Die Beteiligten und Betroffe­ nen müssen einzig aus der konkreten Situation heraus ihr Gewissen für das jeweils Gebotene in Anspruch nehmen lassen. Abwägungsfälle können entweder Fälle der Folgen­ abschätzung oder der Güterabwägung darstellen. Man wird überlegen, welche Folgen für mich und andere, für die Ordnung meiner Werte oder für ein wichti­ ges Ziel es haben wird, wenn ich dieses oder jenes tue bzw. unterlasse. Die Güterabwägung argumentiert anders. Ersetzen wir in dem zuvor genannten Beispiel 61 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

des Ertrinkens einen der beiden Menschen durch ein Tier, so ist im Sinne der Güterabwägung der tragische Fall (wenigstens für die meisten von uns) in einen Fall mit Werten unterschiedlicher Wertranghöhe über­ gegangen. Die Güterabwägung vergleicht also Werte miteinander und wird sagen, dass dieser eine Wert (das Versprechen etwa, dass ich morgen ganz sicher zu einem Kaffee vorbeikomme), wenn er mit einem anderen kollidiert (auf dem Weg zum Kaffee, werde ich Zeuge eines Unfalls, bei dem ich dann Hilfe leiste), »in sich« der höhere oder aber der weniger wichtigere Wert sei, d.h. sie argumentiert mit einer Ranghöhe der Güter, oder sie wird ggf. sagen, dass der wichtigere Wert (für den Augenblick) zurückgestellt werden kann, wenn dies nur situativ notwendig ist. Kategorische Fälle schließlich gehören in den Bereich der unbedingten Forderung. Ihr besonderes Charakteristikum ist, dass die Handlungen ohne situa­ tions- oder personenspezifische Rücksichten betrach­ tet werden. Sie sind entweder unter allen Umständen gute Handlungen und darum stets bzw. ausnahmslos geboten oder unbedingt schlecht und darum nie und unter keinen Umständen erlaubt. In der Regel wird nur die zweite Version, also die der absoluten Unter­ lassungen, für die kategorischen Fälle vertreten. Man könnte hier an folgende mögliche Beispiele denken: Es ist nie und unter keinen Umständen erlaubt, einen anderen Menschen zu foltern oder zu vergewaltigen oder einen unschuldigen und wehrlosen Menschen zu 62 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

töten oder (was etwa Kant vertritt und vielen besondere Kopfschmerzen bereitet) zu lügen. Meine persönliche Auffassung ist, dass wir nor­ malerweise und zu Recht einem mehrstufigen Modell folgen. Die meisten Menschen werden im Alltag abwä­ gen, einerseits Güter nach ihrem Wert und Handlungen nach ihren Folgen. Wenn wir allerdings nur einen Nut­ zenkalkül zulassen würden, dann verwandelten wir die Ethik in eine Art mathematisierter Glücksökonomie. In ihr könnten dann auch Menschenleben disponibel und also zu austauschbaren und ersetzbaren Größen werden. Wir werden darum auch stets einen Tabube­ reich benötigen, der durch absolute Unterlassungen oder Eingriffsgrenzen gekennzeichnet ist. Dieser Tabu­ bereich ist der Rahmen und Horizont unseres Han­ delns. Er macht klar, was jemand unter Menschen­ würde und unter unverletzlichen Menschenrechten versteht. Indem wir uns mit solchen oder ähnlichen Fragestellungen auseinandersetzen, um unser Denken und Handeln zu leiten, bilden wir uns allmählich einen (eigenen) Charakter. Der Charakter ist also ganz wesentlich durch den Wertekompass bestimmt, der uns leitet. Was uns da leitet, kann von anderen stammen oder von uns selbst. Es kann etwas sein, das wir nach kritischer Prüfung bewusst übernehmen. Es kann etwas sein, das uns unbewusst oder mehr oder weniger zufällig prägt. Augustinus hat für unsere Wertordnung einen schönen Namen gefunden. Er nennt sie unseren ordo amoris, 63 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

unsere Ordnung der Liebe. Die Liebesordnung sam­ melt alles ein, was uns wertvoll ist. Das, was jemand mit Leib, Seele und Geist, mit Wollen, Fühlen und Denken bejaht, bildet diese Liebesordnung aller Dinge, die für uns zählen, die wir schätzen, die uns am Herzen liegen, an denen unser Herz hängt.19 Sie ist der Schatz aller unserer Wertschätzungen und wird zu unserem Wertekompass, der uns navigiert. Die tatsächliche Liebesordnung eines Menschen mag nicht die sein, die er bei vernünftigem Überlegen eigentlich haben sollte. Wenn wir im Laufe unseres Lebens die Augen aufschlagen, nachdenklich werden und aufwachen, sehen wir, dass unser Charakter ein Garten mit reichlich viel Wildwuchs und Durcheinan­ der ist. Darum ist der faktische ordo amoris für jeden eine Aufgabe. Ich muss ihn genau anschauen und gege­ benenfalls umbilden in einen, mit dem ich vor mir und anderen bestehen kann. Natürlich bilden wir den Charakter nicht nur im Blick auf große Herausforderungen und schwerwie­ gende Fragen aus. Unsere Charakterzüge finden ihre Ausgestaltung viel öfter und viel mehr im Alltäglichen, in den Kleinigkeiten des Lebens. Ein kluger, unbekann­ ter Zeitgenosse hat es einmal so ausgedrückt: Der wahre Charakter eines Menschen zeigt sich, wenn eine zweite Kasse im Supermarkt öffnet. Denn dann zeigen 19 Dies dürfte auch der Grund sein, warum die Frage, wann wir einem Menschen am nächsten kommen, in der Regel nicht mit seinen Fähigkei­ ten oder seinem Temperament beantwortetet werden dürfte, sondern mit seinem Charakter.

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sich auf einmal erstaunliche Dinge. Die ältere Dame, von der wir geschworen hätten, sie komme nur sehr mühsam von der Stelle, wird wieder jung und fliegt mit dem Einkaufswagen der schnelleren Chance entgegen. Der eben noch freundlich lächelnde Herr zeigt nun sein barbarisches Gesicht, dunkel der Blick und zu allen kriegerischen Tücken bereit. Wer Gelassenheit übt und anderen den Vorzug gibt, bleibt beinahe allein an der ersten Kasse und kommt, wegen all der zu ihrem Vorteil Flüchtenden, fast noch schneller voran als sie. Die Grundversuchungen, mit denen sich die eigene Charakterbildung auseinandersetzen muss, resultieren aus einer dreifachen Gier. Es ist zunächst die Gier, zu besitzen, zu haben, sich etwas einzuverleiben. Es ist sodann die Gier, andere zu dominieren, zu beherrschen, zu unterdrücken. Es ist schließlich die Gier, bewundert, geehrt und gepriesen zu werden. Natürlich kennen wir von jeder dieser Begierden gemilderte Formen des Ver­ langens, gleichsam unschuldige Varianten. Aber in der ersten Gier fiebert immer der Wunsch: Das ist (alles) meins, das gehört mir. Habgier! In der zweiten Gier arbeitet die Macht: Ihr gehorcht mir, was ich sage, gilt, alles hört auf mein Kommando. Herr sein! Die dritte Gier hätte es so gern, wenn einem alle zu Füßen liegen und zu einem aufschauen würden, um zuzujubeln und zu preisen. Wir lieben den Beifall! Wem gehört das alles, wer hat hier das Sagen, wer ist der Beste, Schönste und Größte – die Gier hat diese Fragen im Grunde genommen schon beantwortet: ich. Es kann ja sein, dass das »Ich« auch in der Krise ist; meistenteils aber 65 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

verhält es sich so, wie man gelegentlich von ihm sagt: gesucht wird eine Weltreich mit drei Buchstaben. Die Antwort: ICH! Die aber, die sich für demütig halten, müssen wissen, dass es kein besseres Versteck für den Hochmut gibt als eben die Demut. Selbstsucht und Ichfixierung tragen gerne und vor allem anfänglich ein freundliches Gesicht. Charakterbildung ist eine schwere innere Arbeit. Das Reiseziel der Charakterbildung haben wir als eine Art von Integration oder Balance der widerstre­ benden Gesichtspunkte bezeichnet. Was lässt sich zum Reiseweg sagen? Hierzu nur drei kleine Impulse. Aris­ toteles ist der Philosoph von Maß und Mitte. Der Cha­ rakter eines Menschen bildet sich auf angemessene Weise aus, wenn wir uns in der Mitte halten, d.h. eine vernünftige Mitte zwischen den Extremen des Zuviel und des Zuwenig suchen. Vernünftig ist es, einen Cha­ rakter zu entwickeln, der z.B. Tapferkeit zu seinen typi­ schen, also: charakteristischen Verhaltensweisen zählt. Das Übermaß von Tapferkeit wäre Tollkühnheit, und sie wäre genauso wenig wünschenswert wie das Unter­ maß der Feigheit. Der Feige zeigt einen Mangel an Tapferkeit, der Tollkühne übersteigert sein Handeln ins Hochriskante.20 Hier ist also grundsätzlich das Mittel­ maß, nicht die »Mittelmäßigkeit«, das dem Menschen Vielleicht kann man sagen, dass es Extrem-Situationen gibt, wo es angemessen ist, die Mitte zu verlassen und einer extremen Aus­ nahmehandlung zu folgen. Aristoteles erläutert seine Philosophie aber nicht von Ausnahme- oder Extremfällen her, sondern im Ausgang vom Normallfall. 20

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Angemessene, so dass Pascal in seinen Pensées sagen kann: Wenn man die Mitte aufgibt, heißt das, man gibt die menschliche Natur auf. Einen weiteren Weisheitsweg zeigt uns Kant mit seinem berühmten Kategorischen Imperativ. Wie wir bereits erwähnt haben, lautet seine wohl bekannteste Formulierung: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allge­ meines Gesetz werde. Eine Maxime ist bei Kant ein subjektiver Handlungsgrundsatz, also eine Regel, die für eine Vielzahl gleich gelagerter Fälle gelten soll, etwa »Ich lüge nie« oder »Ich werde nie unschuldige Menschen töten«. Solche Maximen sollen durch Uni­ versalisierung getestet werden. Dabei frage ich mich, ob ich wirklich wollen kann, dass alle Menschen meine Maxime (für alle gleichen Fälle) befolgen würden: Könnte meine Maxime eine Regel sein, von der ich wollen könnte, dass sie für die ganze Menschheit gelten soll. Das Wollen ist dann gut, wenn es etwas will, das diesen Test einer universalen Normfähigkeit besteht. Ich soll etwas wollen, das wie ein Naturgesetz für alle gültig wäre. Da es aber ein Gesetz aus Freiheit ist, muss ich mich fragen, ob meine Maxime ein allge­ meines Gesetz werden könnte, dem sich auch jeder andere unterwerfen und verpflichten müsste, wenn er nur hinreichend vernünftig über sie nachdächte. Ein aufgeklärter, guter Charakter wird sich selbst so bilden, dass er diesem Universalisierungsgrundsatz als seinem Leuchtturm folgt. 67 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

Ein dritter kluger Rat für den Reiseweg der Charak­ terbildung ist die Bereitschaft, in einen Diskurs über kontroverse Fragen einzutreten. Der Diskurs, wie er vor allem von Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel diskursethisch bedacht worden ist, ist ein besonders qualifizierter Dialog. In ihm soll z.B. Fairness im Blick auf Redezeit gelten, keiner vor anderen bevorzugt, außerdem klar, verständlich und wahrhaftig gespro­ chen werden und sich schließlich das bessere Argument durchsetzen usw. Jeder weiß, dass faktische Diskurse von Gewalt und Herrschaft durchzogen sind. Darum ist der ideale Diskurs »kontrafaktisch«: er orientiert den tatsächlichen Diskurs in Richtung darauf, wie es eigentlich und am besten sein sollte. Jedenfalls, wer eine Überzeugung hat, sollte grundsätzlich bereit sein, sie im Diskurs testen zu lassen und dabei die Regeln des Diskurses mitzutragen. Die Bereitschaft, andere, ihren Rat und ihre Argumente zu berücksichtigen, zeugt von einem guten Charakter. Wer dies verweigert, den bezeichnet man gewöhnlich als borniert und ignorant. Er ist »engstirnig«. Wann es aber dann genug der Beratschlagung ist, muss am Ende doch wieder jeder für sich nach bestem Wissen und Gewissen bestimmen. Denn schließlich ist ein Diskurs prinzipiell endlos, man kann ihn immer weiter führen, unser Leben aber nicht. In Schillers Drama Wallenstein fällt der Satz: »Hab ich des Menschen Kern erst untersucht, so weiß ich auch sein Wollen und sein Handeln.« Des Menschen Kern ist hier sein Charakter, in dem ein Mensch sein Wesen ausdrückt. Wie Kant, so betrachtet auch Schiller den 68 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

Menschen als Bürger zweier Welten, dessen Aufgabe es ist, Natur und Kultur, Herz und Denken, Trieb und Geist zu formen und zu verbinden. Wirft er sich auf nur eine der beiden Seiten oder gibt er einer Seite ein Übermaß, verunstaltet sich der Mensch. Ein abstrakter Denker mit kaltem Herzen ist genauso ein Irrweg wie ein wilder Barbar der Leidenschaften und Gefühle ohne Sinn und Verstand. Als ewige Person ist der Mensch in die Zeit gestürzt, die ihm den Auftrag gibt, seine Anlagen zu entfalten. Was ihm dabei gelingen soll, ist ein edler Charakter, der Ideal und Leben verknüpft. Schiller hat in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Men­ schen diese ästhetische Charakterbildung vor Augen. Lebenskunst ist ein ästhetisches Projekt. Das Leben, wenn es gelingt, ist ein schönes Spiel und ein Spiel mit dem Schönen. Denn der Mensch, so Schiller, ist ja am meisten Mensch, wenn er spielt. Als spielender Mensch, als homo ludens, vereint der Mensch spiele­ risch-frei und mit heiterem Ernst das, was getrennt scheint. Denn es spielt immer der ganze Mensch mit allen seinen Kräften, wenn er wahrhaft spielt. Ästhetisches Spiel mit Stoff und Form, Natur und Geist, das Spiel mit dem Schönen, ist Erproben von Kreativität, die verbindet und versöhnt. Alle Anlagen sind zu entfalten und in einer »Totalität des Charakters« zu einen. Als bewusstes Wollen soll sich der Mensch immer mehr in Richtung eines schöpferischen Wesens bilden, das in allen Formen der Kunst seinen Ausdruck 69 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

sucht und dabei in einem Zug sich selbst mitformt und veredelt. Denn Selbstbestimmung ist am Ende Schönheit, die im Wollen und Verhalten, im Erscheinen des Menschen als Anmut und Würde sichtbar wird. Freiheit, die sich als Kunst und in Kunst verwirklicht. Was da dabei im besten Fall sichtbar werden kann, ist versöhnte Einheit des Bürgers zweier Welten in einer harmonischen und produktiven Balance, Befreiung aus Einseitigkeiten und Zusammenspiel der scheinba­ ren Gegensätze.21 Man wird die gelungene Charakterbildung am Handeln ablesen können, hören in der Sprache, erken­ nen an den Grundsätzen, denen der Mensch folgt. Sie wird sichtbar in Ruhe, Gelassenheit, Leidenschaft, Fülle und dem Gleichgewicht der Kräfte. Der Geist baut sich sein Haus. Er verkörpert sich. Das Unendliche spiegelt sich in endlicher Erscheinung. Ein Mensch, der sich so durch Kunst als Kunstwerk selbst erzieht und bildet, tendiert immer mehr in Richtung auf jene unerreich­ bare Fülle ganzer Humanität. Der Geist übt sich in der Zeit, immer mehr in Richtung des Guten, Ewigen und Notwendigen zu strömen. Diese Schönheit ist gut. Schiller hat dabei nicht nur das ästhetische Projekt des einzelnen im Sinn, sondern auch eine Utopie des ästhetischen Staates. Während nämlich die unversöhnten Kräfte von Natur und Vernunft nur einen repressiven »Staat der Not« ausbilden können, zielt Schillers Programm auf das utopische Ideal eines moralisch-ästhetischen Staates. In diesem humanen Staat können die humanistischen Ideale (Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit) gelebt werden. Entfremdung wird durch Versöhnung überwunden, insbesondere dadurch, dass die persönliche Charakterbil­ dung das Allgemeinwohl zum eigenen Bedürfnis macht. 21

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Ästhetik und Moral gehen in dieser Charakterbildung Hand in Hand. Auch bei Schiller ist es wieder die Utopie der Kalokagathia, des Schön-Guten, und eines mittleren Zustandes, einer Mitte zwischen Extremen, in der der Mensch immer menschlicher wird. Ein sol­ cher Charakter zu werden, ist sein Bildungsauftrag. Alles, was ist und mir auf einer solchen Reise der Selbstwerdung widerfährt, jedes Ereignis, jedes Erlebnis, jedes Schicksal, kann mir eine Lehre sein, die meine Charakterbildung voranbringt, wenn ich es mir zu einem Lehrer mache. Wir können hier dem Gedanken Wilhelm von Humboldts folgen: Das Erste und Wichtigste im Leben ist, dass man sich selbst zu beherrschen sucht, dass man sich mit Ruhe dem Unab­ änderlichen unterwirft und jede Lage, die beglückende wie die unerfreuliche, als etwas ansieht, woraus das innere Wesen und der eigentliche Charakter Stärke schöpfen kann. Betrachten wir zum Schluss noch einen nicht unwichtigen weiteren Aspekt, der mit dem Charakter zusammenhängt. Er wird uns deutlich, wenn wir über Tugenden nachdenken. Tugenden sind Tüchtigkeiten. Es handelt sich bei ihnen um moralische Könnerschaft. Unser moralischer Kompass wird, wenn wir tugendhaft handeln, nicht ethisch reflektiert, theoretisch begrün­ det oder gerechtfertigt, sondern er bewährt sich als Ethos im Leben. Ethos ist Moral in Aktion. Tugenden sind funktional gesprochen Dispositionen fürs morali­ sche Handeln. Ist uns eine moralische Überzeugung in Fleisch und Blut übergegangen, denken wir nicht jedes 71 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

Mal neu über sie nach. Halte ich es zum Beispiel prinzi­ piell für eine gute Sache, Menschen, denen ich begegne, zu grüßen, werde ich es eben tun; auch manchmal zu ihrer Überraschung. Indem wir unsere moralische Überzeugung immer wieder praktizieren, wird sie uns zu einer moralischen Gewohnheit werden. Ethos eben. Eine Ge-Wohn-heit, in der wir wohnen und zu Hause sind. Oder »Spiel«, wie Schiller es nennt; denn der spielende Mensch spielt in heiterem Ernst hingegeben, ganz, frei, ungezwungen, mühelos und natürlich. Charakter ist also auch der Name für das, was für uns selbstverständlich ist, sich von selbst versteht, und was wir ohne langes Nachdenken einfach tun. Das ist doch selbstverständlich, heißt es dann, und nicht der Rede wert. Denn es kommt ja nicht auf die Rede an, sondern auf die Tat. Sie wiederum kommt, wie man so schön sagt, von Herzen. Dann, in der Tat, ist es ein echtes, authentisches Tun, nicht aufgesetzt und gemacht. Eine solche Praxis, meint Pascal in seinen Pensées, arbeitet stillschweigend und natürlich, einfach, leicht und ungekünstelt. Es geht »wie von selbst«. Denn es kommt eben von Herzen. So sollte es bei einem guten Charakter sein, der sich in seinem charakteristischen Verhalten artikuliert.

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6 Dein Temperament ausbalancieren

(Carl Gustav Jung) Denn in der Erreichung der Persönlichkeit liegt nichts Geringeres als die bestmögliche Entfaltung des Ganzen eines besonderen Einzelwesens

Im Sinne Carl Gustav Jungs dürfen wir es als unser besonderes Lebensprivileg erachten, der zu werden, der wir wirklich sind. Aus der Sicht eines Tiefenpsycholo­ gen ist dies eine herausfordernde Aufgabe. Denn viele Dinge sind uns verborgen, viele Dinge halten wir auch verborgen, und es ist ein rechtes Kunststück und eine große seelische Arbeit, das Unbewusste und Verdrängte ins Bewusstsein zu heben. Wer Licht ins eigene Dunkel bringen möchte, wird dabei auch mit seinen Ängsten, seinem Zaudern und Ausweichen konfrontiert werden. Deshalb sagt man ja gelegentlich, dass es dem Men­ schen leichter sei, zum Mars zu gelangen, als zur eige­ nen Seele vorzudringen. Der Teil der Selbstwerdung, der jedem Menschen neben der Entfaltung der Fähigkeiten und der Charak­ terbildung als weitere Aufgabe aus seiner unerschöpf­ lichen Persönlichkeit aufgetragen ist, ist die Ausein­ andersetzung mit dem eigenen Temperament. Etwas holzschnittartig kann man sagen, dass die Fähigkeiten 73 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

sich auf ein Was (Können) beziehen, der Charakter auf das Warum (Werte und Normen), das Temperament aber auf das Wie (die Art und Weise) des Verhaltens, Handelns und Kommunizierens. Das Temperament oder Naturell eines Menschen ist also die Basis sei­ nes Verhaltensstils. Für diesen Aspekt der Persönlichkeit, also für Naturell oder Verhaltensstil, möchte ich das DISGModell heranziehen.22 Es reicht für unsere Zwecke, zu erkennen, was die Aufgabe der Selbstwerdung ist, die uns durch unser Temperament gestellt wird, auch wenn ein anderes Persönlichkeitsmodell, das sogenannte Big Five-Modell, im Vergleich etwas bessere Testgütekrite­ rien aufweisen mag. DISG ist ein Akronym von vier Aspekten des Verhaltens aus den Anfangsbuchstaben der Worte: »Dominanz«, »Initiative«, »Stetigkeit« und »Gewissenhaftigkeit«. Wie jedes Modell darf es uns nicht zu einem starren Schema oder Denkgefängnis werden, in die wir den anderen Menschen oder uns selbst wie in Schubladen einsperren. Es soll vielmehr als Orientierungshilfe und Inspiration dienen, die wir an der lebendigen Erfahrung überprüfen. Und auch wenn wir dieses Modell hier nur in seiner einfachsten Form beschreiben, kann es schon eine wertvolle Hilfe sein, uns und andere besser zu verstehen, und zu entde­ cken, welche Herausforderung unser Temperament mit sich bringt. 22 Dieses Modell basiert vor allem auf den Einsichten von C.G. Jung, W. Marston u.a.

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Wir können uns das DISG-Modell in einer Art »Ich-Kompass« auf folgende Weise veranschaulichen:

Gewissenhaftigkeit

Dominanz

präzise

energisch

strukturiert

konsequent

analytisch

zielorientiert

besonnen

willensstark

vorsichtig

sachorientiert

hinterfragend

direkt

logisch

hartnäckig

Stetigkeit

Initiative

achtsam

begeistert

geduldig

flexibel

ermutigend

ideenreich

stetig

spontan

mitfühlend

kreativ

ausgleichend

gruppenorientiert

unterstützend

kommunikativ

(eigene Darstellung)

Dabei sind die rote und die gelbe Haupttendenz durch das gemeinsame Merkmal der Extraversion geeint, während die grüne und blaue Haupttendenz eher intro­ vertiert sind. Die grüne und die gelbe Hauptstärke sind durch einen starken und häufig primären Fokus auf Menschen- und Beziehungsorientierung gekennzeich­ 75 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

net, während bei der roten und der blauen Hauptstärke die Aufgaben- und Sachorientierung dominieren. Um einen vernünftigen Gebrauch dieser Visuali­ sierung zu machen, möchte ich folgende Gedanken hin­ zufügen: ●





Jeder Mensch vereint in sich alle vier Aspekte. Keiner ist ihm völlig fremd. Aber auch wenn wir alle vier in uns tragen, so favorisieren wir in der Regel einige von ihnen. Wir sind gleichsam aus allen vier Momenten komponiert, aber in unter­ schiedlicher Ausprägung.23 Jeder wird wahrscheinlich seine besonderen Sym­ pathien für die eine oder andere Seite haben. Das ist ganz normal. Dennoch sollten wir sagen kön­ nen: nüchtern betrachtet, sind alle vier Aspekte gleichwertig. Jede Seite hat ihre Stärken und ihre Schwächen. Zwar können berufliche und private Umstände unterschiedliche Aspekte mehr oder weniger her­ vortreten lassen bzw. erfordern. Überhaupt gibt es natürlich situative Schwankungen. Gleichzei­ tig wird in aller Regel aber eine Komfortzone erkennbar sein, in der man sich am liebsten auf­ hält und wie ein Fisch in seinem Lieblingsgewäs­ ser schwimmt.

Wir könnten dies noch weiter differenzieren. Zum Beispiel kann es sein, dass wir privat in entspannter Umgebung anders sind als etwa in der beruflichen Umwelt usw. 23

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Wenn man Farbbezeichnungen für die vier Aspekte verwendet, so soll damit nichts Farbpsychologisches gesagt werden. Sie dienen hier im Grunde nur zur Visualisierung aus didaktischen Gründen. Statt langer und umständlicher Sätze wie: »Dein Haupt­ aspekt, deine größte Ausprägung, deine höchste Präferenz, der stärkste Grad in deiner Verhaltens­ tendenz liegt im Feld D ›Dominanz‹“ sagt man einfach, kurz und anschaulich: du wirkst rot.

Ergänzen wir diese Aspekte noch um eine weitere wichtige Einsicht. Für die meisten Menschen scheint folgende Regel zu gelten. Wenn ich weiß, wo meine erste Stärke ist, dann gilt mit großer Wahrscheinlich­ keit, dass die zweite und dritte Stärke Nachbarfelder oder Flügel der ersten Stärke sind. Also könnte man in diesem Sinne beispielhaft seine erste Stärke im gelben Feld, seine zweite im roten Feld und seine dritte Stärke im grünen Feld besitzen. Nur wenige Menschen hingegen sind Kreuztypen, die ihre zweite Stärke in der Diagonalen zu ihrer ersten Stärke haben. Was ist aber dann die Diagonale für die meisten Menschen? Mit der Diagonalfrage nähern wir uns der Frage, was als Grundaufgabe der Temperamentsentwicklung angese­ hen werden kann. Hat jemand z.B. seine Hauptstärke in »grün«, was ist dann im Sinne der Diagonallogik sehr wahrschein­ lich »rot« für ihn? Wir könnten sagen, dies ist seine »Schwäche«. Es ist, das, was ihm eher fehlt. Eine andere Formulierung wäre zu sagen, dies ist sein »Schatten«, also der Teil der Persönlichkeit, der im Vergleich zu den 77 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

drei anderen Aspekten am wenigsten Licht zum Wach­ sen erhalten hat und daher in der Regel am wenigsten entwickelt ist. Es wäre auch denkbar zu sagen, dass es mein ambivalenter Bereich ist: Manchmal spüre ich, dass ich gerade diese Seite mehr brauche, andererseits versetzt sie mich auch recht schnell in Stress. Es wäre schließlich auch möglich zu sagen: Dies ist mein Poten­ tial, das darauf wartet, dass ich es noch entfalte. Es ist mein ungehobener Schatz, der darauf wartet, dass ich mich besonders um ihn kümmere, ihn ans Licht bringe und entfalte. Unterstellen wir, dass alle vier Grundaspekte gut und wertvoll sind. Nur ihr Übermaß, die Überdosis einer Facette macht Probleme. Doch hier müssen wir sofort innehalten. Denn das ist doch nur die halbe Wahrheit. Auch ein Untermaß ist ein Problem. Nicht nur ein Zuviel, sondern auch ein Zuwenig kann uns in Schwierigkeiten bringen. Unterstellen wir daher, dass es gut wäre, alle vier Ausprägungen des Temperaments auf gute Weise entwickelt zu haben, dass wir also eine ganze oder komplette Persönlichkeit im Blick auf das Temperament wären, die in keinem der Aspekte hinkt. Vielleicht gibt es genetische und epigenetische Anteile, die die Konstellation unseres Temperamentes bestimmen. Den größten Anteil dürften aber Erzie­ hung, Sozialisation und Bildung besitzen. Das aber bedeutet, dass das, was wir als natürliche Ausprägung unseres Temperaments betrachten, tatsächlich wesent­ lich ein Lernprodukt ist. Was aber erlernt wurde, kann durch weiteres Lernen umgestaltet werden. Es gibt 78 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

keine Verbotstafel, die bei unserer Geburt aufgestellt wurde, dass man irgendeine der vier Facetten nicht in einer anderen Ausprägung haben dürfte. Hier gibt es also Plastizität. Die Bildungsaufgabe hinsichtlich des eigenen Tem­ peraments ist also mithin folgende: ● ● ●





Verstehen, wer wir (geworden) sind. Annehmen, dass die aktuelle Konstellation sinn­ voll ist. Erkennen, dass die aktuelle Konstellation wahrscheinlich Dysbalancen in ihrer Ausprä­ gung besitzt. Erkennen, dass wahrscheinlich besonders ein Teil der vier Aspekte derjenige ist, der eher zu kurz gekommen und deswegen »problematisch« ist. Anerkennen, dass wir zwar immer von einer bestimmten Seite aus herkommen und sozusagen primär angelegt sind, aber doch uns dazu entschei­ den, im Sinne einer größeren Balance zu reifen und zu wachsen.

Dieses Reifen oder Wachsen wird praktisch bedeu­ ten, dem vernachlässigten Teil etwas mehr Spielraum in Handeln, Verhalten und Kommunikation einzuräu­ men, damit er besser aufleben und vertrauter werden kann. Grundsätzlich bieten sich dazu immer die drei klassischen Verhaltensboote des Nonverbalen (Mimik, Gestik, Körperhaltung), Verbalen (hier insbesondere spezifische Schlüsselwörter) und Paraverbalen (alles, was mit der Stimme zusammenhängt) an. Zum Thema 79 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

der persönlichen Veränderung findet sich mehr im letzten Kapitel dieses Buches. Ich werde also den schwä­ cheren Verhaltensstil dadurch stärken, dass ich mir die Erlaubnis gebe, diesen Anteil in der entsprechenden Körpersprache, genau passenden Stimme und mit tref­ fenden Schlüsselwörtern mehr zu zeigen.

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7 Über den Menschen hinausgehen?

(Blaise Pascal) Der Mensch übersteigt den Menschen unendlich.

Dass der Mensch den Menschen unendlich übersteigt, bedeutet zunächst dies, dass er sich niemals vollends einholen und komplett selbst verständlich werden kann. Aus vielen Gründen gibt es immer eine Zone des Nichtwissens. Eine bleibende Intransparenz umgibt alle Versuche des Menschen, sich ganz durchsichtig zu werden. Eine vollständige Definition des Menschen ist unbekannt. Er bleibt sich zuletzt ein Geheimnis. Aus diesem Grund ist der Mensch das Wesen, das über sich hinausgeht. Er geht über sich selbst hinaus; denn er ist immer schon mehr, als er von sich wissen kann. Er geht auch in dem Moment über sich hinaus, wenn er das, was er von sich und über sich weiß, verlässt, um weiter zu suchen, was es noch zu wissen gibt. So, wie er geht und steht, weiß er, dass er ein noch unabgegoltenes Geheimnis, ein uneingelöstes Versprechen ist. Werde, der du bist, ist auch eine Herausforderung, den Status quo als einen Status quo minus zu erkennen und also über ihn hinauszugehen. Über sich hinauszugehen, zu transzendieren, ist ein Wesenszug des Menschen. Der Mensch ist, sagt etwa 81 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

Hans Jonas, weit mehr Möglichkeit als gegebenes Fak­ tum. Wenn wir unsere Egozentrik und unseren Egois­ mus aufbrechen, uns dezentrieren, gehen wir über uns hinaus. Wenn wir jemanden bitten, uns zu verstehen, sich in unsere Lage zu versetzen, mit unseren Augen zu sehen, in unseren Schuhen zu laufen, bitten wir ihn, über sich hinauszugehen und den Perspektiventausch zu wagen. Denken ist immer der Versuch, über das Gegebene hinauszugehen, um es zu sehen: überhaupt erst einmal zu sehen oder neu zu sehen oder anders zu sehen als bisher. Wenn wir lieben, bleiben wir nicht ein­ fach bei uns selbst, sondern verlassen das Gehäuse des Egos und machen uns auf den Weg zu einem Du. Wir »brechen auf«. Wenn wir Ekstase erleben, verlassen wir uns selbst in unserer gewohnt-alltäglichen Weise. Wenn wir beten oder glauben, greifen wir über uns hinaus auf etwas, was größer ist als wir selbst. Diese Beispiele mögen genügen. Wie limitiert dieses über uns Hinausgehen auch sein mag, wie gut oder schlecht es uns auch immer gelingt, über uns hinauszugehen scheint jedenfalls zu unserer menschlichen Natur zu gehören. Auf gewisse Weise ist über sich hinausgehen also ein völlig normaler Teil unserer Selbsterfahrung und Selbstbeschreibung. Ein anderes Thema meldet sich aber in dem Moment zu Wort, wenn der Mensch mit sich und seiner Verfassung als Mensch grundsätzlich unzufrieden ist, wenn er an seinem inneren Wider­ spruch leidet. Wir können hier die verzweifelte Stimme Sören Kierkegaards in seiner Hiobsklage hören: 82 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

Mein Leben ist bis zum Äußersten gebracht; es ekelt mich des Daseins, welches unschmackhaft ist, ohne Salz und Sinn. […] Man steckt den Finger in die Erde, um zu riechen, in welch einem Lande man ist, ich stecke den Finger ins Dasein – es riecht nach nichts. Wo bin ich? Was heißt denn das: die Welt? Was bedeutet dies Wort? Wer hat mich in das Ganze hinein betrogen, und läßt mich nun dastehen? Wer bin ich? Wie bin ich in die Welt hineingekommen; warum hat man mich nicht vorher gefragt, warum hat man mich nicht erst bekannt gemacht mit Sitten und Gewohnheiten, sondern mich hineingestukt in Reih und Glied als wäre ich gekauft von einem Menschenhändler? Wie bin ich Teilhaber geworden in dem großen Unternehmen, das man die Wirk­ lichkeit nennt? […] Alles, was in meinem Wesen enthalten ist, schreit auf in Widerspruch zu sich selbst.

Das Dasein riecht nach nichts. Diese nihilistische Tönung des Daseins, der Schmerz und die Klage über die absurde menschliche Lage, all dies mündet in einen Schrei der Angst, wie ihn Edvard Munch in seinem berühmtesten Bild festgehalten hat. Eigentlich müsste man doch über diese Lage hinausgehen können. Eigent­ lich müsste das alles doch anders oder besser sein können. Die Angst, die in den eigenen Abgrund schaut, sucht, ob es noch einen festen Grund oder Halt geben könne. Der verzweifelte Christ Kierkegaard wirft sich in seiner existenziellen Entscheidung in die Arme Gottes. Hier wählt die von Sinnlosigkeit umspielte Freiheit in einem letzten Wagnis einen größeren Sinn, auf den sie setzt. Werde, der du bist, das kann der Mensch aus eigenen Kräften nicht vollenden. Damit es ihm gelingt, muss ihm ein Gott entgegenkommen. Die Natur des Menschen wird durch göttliche Gnade vollendet. Damit 83 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

der Mensch wahrhaftig er selbst werden kann, braucht er etwas, was über den Menschen hinausgeht. Doch eine Moderne nach dem »Tod Gottes«, was soll sie noch wählen? Das Dasein riecht nach »nichts«.

Bemooste Treppe hinauf zum Aso Schrein/Japan (Quelle: pixabay)

Nietzsche hat versucht, auf diese Problematik zu ant­ worten. Um der Erde ohne Hinterwelt und Himmel völlig treu zu sein, erfindet er sich einige Begriffe, wie etwa Übermensch, Kind, Dionysos und ewige Wieder­ kunft des Gleichen, die eine vollendete Bejahung der Gesamtwirklichkeit ausdrücken und befördern sollen. Für unsere Frage nach dem Werde, der du bist ist nun das Ideal des Übermenschen besonders wichtig. Nietzsches Grundbild vom Menschen ist das eines Überganges, einer Brücke, eines Seils, geknüpft zwischen Tier und Übermensch. Dieser »Inhumanismus« oder »Transhu­ 84 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

manismus« Nietzsches bedeutet, dass der Mensch, so wie er ist, nämlich gefangen in vielen Begrenzungen, etwas ist, das überwunden werden soll. Ihm gilt der alte Satz: Werde der, der du bist durch den anderen: Stirb und werde. Insofern ist der Mensch für Nietzsche ein uneingelöstes Versprechen. Noch steht aus, was er sein und werden kann. »Subhuman« verhält sich der Mensch, wenn er unter seinen Möglichkeiten bleibt und sich darin behaglich einrichtet. Den verächtlichen Terminus, den Nietzsche für ein solches Verhalten verwendet, lautet letzter Mensch. Der letzte Mensch ist einer, der nur noch blinzelt, weil er nicht mehr offenen Auges in die Fülle seines Werdens sehen kann. Die großen Fragen sind ihm entschwunden. Er lebt ein kleines und klein­ liches Leben mit ein wenig spießbürgerlichem Glück des Amüsements und der Unterhaltung. Entsprechend heißt es im Zarathustra: »Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit. »Wir haben das Glück erfunden« -sagen die letzten Menschen und blinzeln.« Während sich die letzten Menschen damit abge­ funden und darin eingerichtet haben, nichts Großes vom Leben zu wollen, sind die höheren Menschen diejenigen, die diese Sehnsucht noch in sich spüren können. Sie sind der Adressat für die Rede vom Über­ menschen. »Sub-human« und »trans-human« sind Optionen im Menschenleben selbst. Was also unterge­ hen soll, ist eine Existenzform der Mittelmäßigkeit. Was gesucht wird, ist ein kraftvolles Emporwachsen, 85 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

Aufblühen, Mächtig- und Kräftigwerden ohne falsche Rücksichten. Den höheren Menschen wird der »trans­ humane« Imperativ zugerufen: »der Übermensch sei der Sinn der Erde!« Mit der Bitte, der Erde treu zu bleiben, also keinen überirdischen Sinn in Betracht zu ziehen, sondern sich dazu zu entschließen, den Über­ menschen als den Sinn der Erde zu wählen, reagiert die Idee vom Übermenschen auf die Nachricht, dass Gott tot sei. Weil Gott tot ist, braucht es den Übermenschen an seiner Stelle. Der Übermensch ist das funktionale Äquivalent für die alte Gottesidee. Die Idee des Übermenschen ist also eine Antwort auf den Tod Gottes. Mit ihm reagiert der höhere Mensch auf diese Leerstelle und trägt, um dem Nihilismus zu entkommen, ein neues Absolutum an dieser Stelle ein. Der Übermensch ist ein utopischer Gottesersatz. Als funktionales Äquivalent für den toten Gott verzichtet er auf himmlische Transzendenz und richtet seinen Blick ganz auf die Erde, um ihr einen neuen Sinn ohne religiösen oder metaphysischen Trost zu geben. Als Zukunftsbild fordert der Übermensch dazu auf, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, um über sich hinauszugehen, sich zu überwinden. Über­ winden und Übermensch werden wollen, bedeutet, alle alten Dualismen in Polaritäten aufzulösen und eine so umfängliche Seele zu werden, dass sie alle scheinbaren Gegensätze in sich vereinen kann. Auf diese Weise ent­ wickelt diese Seele die Fähigkeit, die Gesamtwirklich­ keit, so, wie sie ist, ganz und gar bejahen zu können. Auf einem solchen Weg wird das Dionysische im Menschen 86 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

freigelegt, d.h. ein Maximum an lebenskünstlerischer Kreativität, das die große, nachnihilistische Gesundheit und Lebensfülle ermöglicht. Der Übermensch als ästhetisches Konzept indivi­ dueller Selbstbildung ist kein biologischer Begriff der Gattungssteuerung, sondern die künstlerische Auffas­ sung vom Menschen als Genie des Dionysischen. Er ist der Mensch, der das triviale Menschenleben durch unbegrenzte schöpferische Kraft überschreiten will. Lebenskunst ist das unschuldige Spiel mit der Welt in freier künstlerischer Souveränität. Das Werde, der du bist, die Aufgabe des Übermenschen, ist ein per­ manentes Überwinden, ein Über-sich-hinaus-Schaffen ohne weiteren oder anderen Zweck. Dieser Gedanke der Selbstüberwindung ist das Thema der Lebenskunst. Es geht darum, die Bereitschaft aufzubringen, zu gege­ bener Zeit die Zelte abzubrechen und über bis dahin festgelegte und als gültig geglaubte »Wahrheiten« hin­ auszugehen, sie in Frage zu stellen und zu transformie­ ren. So wie es diese Interpretation zeigt, kann Nietz­ sche als radikaler Entwurf im Rahmen des Humanis­ mus verstanden werden. Unter Humanismus möchte ich eine bestimmte Deutung des Menschlichen, des Werde, der du bist verstehen, die vielleicht ganz gut so zusammengefasst werden kann: Der Mensch ist von Natur aus ein problematisches Vernunftwesen, das seine Freiheit durch einen mühsamen Erziehungs- und Bildungsweg so kultivieren muss, dass seine Humani­ sierung gelingt. Sie gelingt aber erst dann, wenn sie in 87 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

Verantwortung für sich selbst, die soziale Mitwelt und die natürliche Umwelt mündet. Gegen die Gefahren einer Naturalisierung von Vernunft und Freiheit sowie einer Spiritualisierung von Leib und Körper hält der Mensch in dieser Humanisierung seine Mitte und sein Maß. Nietzsches Emanzipationsgedanke des Humanen im Übermenschen ist das Maximum menschenmögli­ cher Kreativität. Dorthin soll sich der Mensch bilden. In seiner Version des humanistischen Bildungsgangs dürfen weder Geist noch Moral die traditionell postu­ lierte Regentschaft behalten, sondern nur die »große Vernunft« des Leibes, aus der Moral und Geist entsprin­ gen und in dessen Regime sie sich als »Werkzeuge« oder »Organe« einbinden lassen müssen. Es scheint mir daher nicht richtig, wenn sich, wie dies gelegentlich geschieht, sogenannte post- und transhumanistische Strömungen auf Nietzsche als Ahn­ herren berufen wollen. Nietzsches Idee des Übermen­ schen ist eine sehr spezifische und äußerst radikale Variante innerhalb des Humanismus. Wie können wir davon Trans- und Posthumanismus unterscheiden, die ein vielfältiges Spektrum ineinander übergehender und fließender Ideen, Spekulationen und Konzepte bilden?24 Um eine komplizierte und sehr heterogene Vielfalt für meine Zwecke an dieser Stelle zu vereinfachen, genügt wohl folgende Unterscheidung. Als Transhuma­ Vgl. nur die zu J. Loh und S. Rosengrün angegebene Literatur sowie zum »digitalen Leviathan«: E. Zwierlein, Die Umwälzung der Welt.

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nismus sollen die Auffassungen bezeichnet werden, die den Menschen durch technisch-technologisches enhan­ cement erweitern, verbessern oder optimieren wollen. Dies ist im Grunde ein gnostisches Projekt der Selbst­ optimierung, weil es in den meisten Fällen um eine Verbesserung der seelisch-geistigen Eigenschaften und Fähigkeiten geht, indem der limitierende Faktor des Körpers manipuliert und überwunden wird. Der Leib wird als Körper zur beliebigen Manipulationsmasse technologischer Transformation, solange daraus eine Optimierung des Geistes folgt. Werde, der du bist ist hier kein kultureller Bildungsweg, sondern ein Appell der Machbarkeit und ein technologischer Imperativ, der sich auf ein ständig wachsenden Arsenal an körperli­ chen Interventionen25 bezieht. Im Unterschied zu einem solchen Transhumanis­ mus zielt der Posthumanismus nicht auf eine Optimie­ rung des Menschen, sondern (wenigstens am Ende eines längeren Weges) auf seine Abschaffung und Überwindung. Werde, der du bist heißt hier Einwilligen in die Bereitschaft, sich als Übergang zu denken, auf den etwas »ganz anderes« folgt. Der »ganz Andere«, klassisch: Gott, ist ersetzt durch etwas »ganz ande­ res«, irgendeine artifizielle Superintelligenz vielleicht. Sie löst den Menschen ab, ist womöglich der »nächst­ 25 Das soll biochemische Eingriffe in die Physiologie genauso gut umfas­ sen wie genetische Manipulationen oder den zerebralen Umbau durch Neuroenhancement. – Das Recht auf Kreatürlichkeit schließt sicher alle Interventionen auch in die tiefsten Dimensionen unserer Leiblichkeit mit ein, wenn sie auf die normale Teleologie des Leibes als Wiedergewinnung von Gesundheit oder Autonomie zielen.

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höhere« evolutionäre Sprung. Würde eine solche bei­ nahe selbst wieder göttlich wirkende Superintelligenz auf ihren eigenen armseligen Ursprung im Menschen zurückblicken, würde sie für ihn wohl nur Spott oder Mitleid empfinden. Oder aber, wenn Maschinen zu so etwas fähig wären, sich einer Abstammung aus solch primitiven Anfängen schämen. Der Humanismus anerkennt die Grundgegeben­ heit der menschlichen Lage in Leib und Seele, Körper und Geist als Interaktionsfeld und Erlebnisdualismus. Es kennzeichnet ihn eine grundsätzliche Selbstan­ nahme dieser Lage. Diese anthropologische Selbstan­ nahme wird begleitet von einer individuellen Selbstan­ nahme. Dass der Mensch über sich hinaus will und darin auch eine ständige Versuchung hat, legitime und illegitime Grenzen zu sprengen, erinnert ihn, so könnte man mit Platon sagen, an einen göttlichen Ursprung, der noch in ihm nachklingt. Um seiner Menschwer­ dung gerecht zu werden, muss er über sich hinaus. Um seinem Menschsein gerecht zu werden, muss er bestimmte Grenzen im Erkennen und Handeln respek­ tieren, damit er sich nicht ins Maßlose verliert und Tabus bricht, die zu seinem Glück gehören. Ich brauche einerseits die Kraft, Grenzen zu erproben, ob sie mich hemmen und fesseln. Niemand weiß, wie weit seine Kräfte gehen, bis er sie versucht hat, sagt Goethe. Ich muss mich ausprobieren. Ich brauche aber andererseits ein bestimmtes Maß an Einverständnis mit mir als Mensch und als Geschichte, um dem Schicksal des Ikarus zu entgehen. Ein bestimmtes Einverständnis mit 90 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

meinem Schicksal und meinem Gewordensein, um aus ihm heraus sinnvoll zu handeln. Von dieser Grundgegebenheit aus, die der Mensch nicht beseitigen, sondern nur kultivieren kann, unter­ nimmt das Werde, der du bist seinen persönlichen Bil­ dungsweg. Dieser Bildungsweg greift auf das zutiefst menschliche Bedürfnis zurück, dass der Mensch mehr aus sich und seiner Lage machen will, vielleicht sogar das Bestmögliche. So versucht der Mensch, seine leiblich-seelisch-geistigen Spannungen in eine gute Balance zu bringen und die ihnen innewohnenden Potentiale zu heben. Dieser Bildungsweg ist individuell angelegt, d.h. er ist ein individueller Freiheitsweg, er ist reversibel, d.h. er kann überschrieben und korrigiert werden, er ist autonom, d.h. er ist der Selbststeuerung oder Selbstbildung anvertraut, und er ist langsam, d.h. er ist ein Übungsweg, der Innehalten und sorgfältiges Überprüfen voraussetzt. Aber dieser Bildungsweg geht nicht über den Menschen hinaus, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass er seine Grundstruktur auflöst, einen Teil gegen einen anderen ausspielt, noch in dem Sinne, dass er den Menschen ganz hinter sich lassen will. So könnte man den Transhumanismus kritisch fragen: In wessen Interesse liegt es eigentlich, den Körper zu manipulieren, um die Möglichkeiten des Geistes zu steigern? Die Antwort scheint mir zu sein, dass sich diese neognostische Bearbeitung des Körpers zum Zwecke geistig-seelischer Optimierung aus dem Geist des Kapitalismus und des Szientismus speist, d.h. aus latenten kollektiven Mustern, die Individuen 91 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

zu etwas gebrauchen und abrichten wollen. Der kapi­ talistische und neoliberale Grundimpuls ist es, Leis­ tungsfähigkeit durch stimulierte Selbstmanipulation und Selbstdressur, durch gesellschaftlich zugemutete Selbstoptimierung zu steigern, um im Wettbewerb der Möglichkeiten, im Vergleich und Überbieten von anderen Leistungskonkurrenten, nicht abgehängt zu werden. Selbstwerdung als diese Selbstoptimierung ist Selbstausbeutung, um sich in einer allumfassenden Selbstvermarktung zu behaupten. Der szientistische Grundimpuls ist der, sich selbst als Objekt oder Mani­ pulationsmasse für schnelle, möglicherweise irreversi­ ble Eingriffe zur Verfügung zu stellen, als könnte der Körper, wie bei Descartes, schön sauber vom verblei­ benden Rest getrennt und beliebig bearbeitet werden. Nichts könnte falscher sein. Praktisch handelt es sich beim Transhumanismus um eine Form der Entfremdung, theoretisch um eine Art utopischen Terrors, der behauptet, etwas Besseres an die Stelle dessen setzen zu können, was uns als natür­ liche Selbstverständlichkeit gegeben ist. Es ist sicher problemlos möglich, das selbstverständlich Gegebene aufzugreifen und zu entwickeln, allerdings ohne das doch sehr fragile und komplexe Zusammenspiel in der menschlichen Grundstruktur zu stören oder zu beseitigen. Niemand aber hat zu der leiblich-seelischgeistigen Grundstruktur unseres Menschseins etwas »Besseres« an der Hand! Woher nehmen und nicht stehlen? Von woher wollte derjenige, der behauptet, es besser zu wissen, das beantworten? Er steht doch selbst 92 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

ganz in der Grundstruktur des Menschen und hat kei­ nen Standpunkt jenseits von ihr. Die utopische Selbst­ privilegierung eines angeblich besseren Standpunktes läuft, nüchtern betrachtet, in aller Regel darauf hinaus, dass jemand seine Interessen zum Nachteil anderer durchsetzt und andere im Namen eines angeblichen Ideals, das vielleicht nur er und einige Eingeweihte sehen können, einschüchtert und terrorisiert. Ich meine, dieses müsste erst recht auch die Kri­ tik am Posthumanismus sein. Denn die utopischen Phantasten wollen sich nicht nur aus der gegebenen Grundstruktur des Menschen lösen, wie im Transhu­ manismus, sondern letztlich vom Menschen selbst. Als Sciencefiction ist das in Ordnung. In dem Moment aber, wo sich daraus ein Programm für die reale Verän­ derung der Wirklichkeit ableiten lassen soll, stehen wir vor den Problemen, die bereits genannt wurden. Wenn Menschen einen Standpunkt jenseits des Menschen einnehmen, wird es nur komisch. Denn sie werden sich selbst doch nie los. Je unreflektierter dies bleibt, umso irrationaler und gefährlicher wird es. Und vom Gesichtspunkt der Praxis und Macht aus kann man solche Ambitionen wiederum nur als utopischen Terror bezeichnen. Im Namen eines unmöglichen Standpunk­ tes wird Herrschaft ausgeübt von solchen, die sich für privilegiert halten, einen solchen Standpunkt zu kennen. Tatsächlich aber sind sie Söhne des Ikarus und planen ein inhumanes Großprojekt, gleichen dum­ men Jungs, die mit brennenden Fackeln maßstabslos in eine Munitionsfabrik laufen, um der Zukunft ein Licht 93 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

anzuzünden. Tatsächlich ist ihr Standpunkt nichts auf dem man stehen könnte und nur ein Trojanisches Pferd. In ihm verbergen sich handfeste, partikulare Eigenin­ teressen, die in einem unmöglichen Ideal überhöht und vor eingeschüchterten anderen zu ihrem Nachteil verschleiert werden. Trans- und Posthumanismus treffen sich jedenfalls beide darin, dass sie den Menschen entmenschlichen, weil sie etwas Besseres an seine Stelle setzen wollen, für das sie kein Kriterium besitzen. Beide sind Varian­ ten von Dehumanisierung in unterschiedlicher Radi­ kalität. Sie wollen, dass der Mensch keine Zukunft hat, sondern endet. Wenn Menschen das Ende von Menschen ausrufen, herrscht bereits Terror und geht es nur noch um »die Zerstörung dessen, was wir sind« (M. Foucault). Menschlich bleiben heißt aber doch, dass der Mensch überschreitet, nicht dass man den Menschen überschreitet. Was bleibt? Die utopische Dimension ist bereits in die Grundstruktur des Menschen eingelassen. Der Mensch ist stets bereits über sich hinaus. Das greift das Werde, der du bist sinnvoll auf. Als Bildungsweg handelt es sich darum, von der Grundstruktur des Men­ schen auszugehen und mit ihr so zu experimentieren, dass der Mensch in ihr mehr zu sich selbst kommt und mehr zu sich selbst erwacht. Selbstwerdung ist Selbst­ kultivierung des Menschen im Rahmen der mensch­ lichen Lage, die weder transhumanistisch deformiert noch posthumanistisch verlassen wird. Der Mensch, der menschlich bleibt, geht über den Menschen in 94 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

diesem Sinne nicht hinaus. Wohin sollte das führen? Das Ganze, das wir selbst sind, ist ein Geheimnis und ohne vollständige Antwort. Das einzig angemessene Verhältnis zu sich selbst ist es, sich als bleibendes Geheimnis freizulassen. Wir müssen dem Sinn, der wir sind, beistehen und ihn entfalten, nicht aber ihn auflösen, zerstören oder verlassen.

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8 Wirklich ich selbst werden

(Romano Guardini) Ich soll sein wollen, der ich bin; wirklich ich sein wollen, und nur ich. Ich soll mich in mein Selbst stellen, wie es ist, und die Aufgabe übernehmen, die mir dadurch in der Welt zugewiesen ist.

Jeder Mensch ist ein Wesen, das dem Werde, der du bist dadurch folgen kann, dass es seine Fähigkeiten ausbaut, seine Potentiale hebt, seinen Charakter bildet und sein Temperament in eine gesunde Balance bringt. Ist das alles, um das es im Werdesein des Menschen geht? Wodurch unterscheiden sich die Menschen von­ einander? Ist »jeder Mensch« nur ein »jedermann«, ein »chacun«? Ist jeder Mensch nur ein spezifischer Fall oder ein Exemplar der Gattung Mensch? Eine Variation eines allgemeinen Menschencodes – und mehr nicht? »Aber wenn ich manchmal den Schlüssel finde und ganz in mich hinuntersteige, da wo im dunkeln Spiegel die Schicksalsbilder schlummern […]« (Hermann Hesse) – ja, was finde ich denn dort? Wenn wir uns von etwas anderem und insbeson­ dere auch von anderen, von jedem anderen Menschen unterscheiden, was ist dann dieses Unterscheidende? Reicht es, wenn wir sagen: die Raum-Zeit-Stelle, die du 97 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

im Weltgetriebe einnimmst, die ist es, die dich von allen anderen unterscheidet? Dies scheint uns vielleicht zu einem Individuum zu machen. Ist es aber dieses Indivi­ duelle, was uns »besonders« macht? Ist es womöglich das Geschlecht, die Sprache, die Kultur, in der wir stehen? Ist es irgendeine qualitative oder quantitative Kombination von Fähigkeiten und Eigenschaften, viel­ leicht in ihrer biografischen Ausprägung und Konstella­ tion, die das Einzigartige und Unverwechselbare eines Menschen bedeuten? Oder sind Fähigkeiten und Eigenschaften nur zufällige Ausdrucksfelder, in denen sich das Einzigar­ tige zeigt und konkretisiert? Denn alle Eigenschaften und Fähigkeiten können verlorengehen. Wir können die Hände verlieren, mit denen wir Klavier spielen, die Athletik des Sportlers kann verschwinden, der Scharf­ sinn des Redners, das Charisma des Schauspielers, die Phantasie des Poeten, das Talent des Malers, das Hören und das Sehen, das Denken und das Gedächtnis, all dies liegt nicht in unser Hand, all dies kann schwinden, ver­ gehen und untergehen. Gibt es nicht etwas Wesentliches oder Substantielles, das uns zu einzigartigen Menschen macht, so dass wir mehr sind als ein bloßes und ver­ gängliches Eigenschaftsbündel? Wenige Jahre vor seinem Tod berichtet Romano Guardini von einem Traum, in dem eine Stimme zu ihm oder in ihm sagte, dass jedem Mensch bei der Geburt ein Wort mitgegeben und in sein Wesen hin­ eingesprochen sei. Dieser Logos wird »das Passwort 98 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

zu allem, was dann geschieht«. Dieses Wort ist der wahre Name des Menschen, mit dem er sein Einver­ ständnis finden und das er als sein Selbst annehmen und freischaffen soll. Seine Überlegungen zur Selbst­ annahme folgen dabei einem hebräischen Verständnis von »Name«. Denn dort ist der Name nicht »Schall und Rauch«, wie in Goethes Faust. Er ist auch mehr, als das lateinische Wortspiel nomen est omen es besagt, dass der Name nämlich eine Art charakteristisches Vor-Zeichen, also sozusagen »Programm« für etwas sei, wobei es hier durchaus bereits eine Überschneidung zum hebräischen Denken gibt.26 Jesus lehrt im Vaterunser,27 Gott als Abba, also ver­ trauensvoll und vertraulich als »lieber Vater« anzuspre­ chen. Zugleich heißt es aber auch, dass wir beten sollen: »geheiligt sei dein Name«.28 Der Name bedeutet im Hebräischen zumeist den Charakter und auch die Beru­ fung bzw. das Wirken oder die Taten einer Person. Der Name sagt, was eine Person tut. Was jemand tut, besagt und zeigt, wer er ist. Wie lautet der Name Gottes? Bekanntlich fragt Moses Gott nach seinem Namen, um ihn den Israeliten mitteilen zu können. Gott antwortet, er sei JHWH, der Ich werde sein, der ich sein werde,

Auch wir kennen ja Beispiele für einen substantielleren Gebrauch des »Namens«, etwa wenn ein »guter Name« nicht herabgewürdigt werden soll oder wenn wir im Namen eines anderen mit dessen entsprechender Vollmacht auftreten. 27 Mt 6,9–14; Lk 11,1–4. 28 Vgl. dazu auch Ps 103,1. 26

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in dem Sein und Werden vollendet zusammenfallen.29 Gott ist der, der, über alles Begreifen hinaus, immer schon in Liebe voran- und mitgegangen ist und alles Gute wirkt und bereitet. Gott zeigt und bewahrheitet seinen Namen, d.h. sein Wesen, im Heilshandeln, dass er nämlich verlässlich befreit. Er ist immer fürsorgend bei den Seinen gegenwärtig. Gott muss nicht, wie die Menschen erst wesentlich werden, er ist es schon. Als Jesus beschnitten wird, soll ihm sein Name geben, der seine Person als Berufung oder Mission und Wirken ausdrückt: Jeschua. Jeschua bedeutet: Jahwe, der Herr, wird heilen, erlösen bzw. retten. Jesus wird sich, so die Ankündigung seines Namens, in der Tat, seinem Leben und Wirken, als der göttliche Heiland erweisen.30 Tritt jemand in einen christlichen Orden ein, so gibt es einige Orden, die bewusst auf eine Namensän­ derung verzichten. Andere stellen es frei, wiederum andere fordern sie. Gibt jemand seinen alten bürgerli­ chen Namen auf, erhält er einen neuen Namen. Der neue Ordensname symbolisiert die neue Wirklichkeit, in der sich der Mensch nun befindet. Diese Namens­ praktik greift auf die alte jüdisch-christliche Tradition zurück, dass jemand bei seinem neuen Namen geru­ fen wird. Gott ruft jemand bei seinem (eigentlichen) Ex 3,14; in präsentischer Variation: Ich bin, der ich (immer) bin. Gott ist im vollen Sinne das eigentliche Werdesein und die absolute Erfüllung des Werde, der du bist. – In der jüdischen Tradition ist der Name Gottes, oder einfach nur »der Name«, so erhaben, dass er unaussprechlich ist. Zugleich ist klar, dass der Name den göttlichen Wesenskern bezeichnet. 30 Mt 1,21; Lk 1,31; vgl. a. Apg 4,12.

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Namen bzw. gibt einen neuen, ewigen Namen, den der Gerufene selbst noch nicht kennt.31 Der neue, wahre Name offenbart die Fülle und Schönheit, das Besondere einer einmaligen und einzigartigen Person. Der wahre Name bezeichnet die Person, wie sie wahrhaft und wirk­ lich sie selbst ist. Während wir also in der Regel einen Namen als zufälligen Index benutzen, um eine Person zu identifi­ zieren, zeigt sich im hebräischen Verständnis bzw. in der jüdisch-christlichen Tradition, dass ein Name das Wesen der Person auf entscheidende Weise benennt. Hier bedeutet »Name« also im Vollsinne Artikulation und Vergegenwärtigung des Wesens einer Person. Der wahre Name entspricht dem wahren Wesen selbst. Er ist nicht ein Wort für eine Funktion. Denn eine Funk­ tion könnte ersatzweise durch ein Äquivalent ausgeübt werden, das dieselbe Funktion übernehmen könnte. Hier aber ist der Name nichtfunktionalisierbarer Sinn oder einzigartige Berufung, etwas, was nur dieser da ist und nur dieser da tun kann und keiner sonst. Es ist das, was wir philosophisch die Besonderheit und den Prozess der Besonderung nennen wollen. Das Sein des Menschen ist ein Werden: Werde, der du bist. Der Mensch ist in gewisser Weise die Geschichte seiner Selbstentdeckung. Dieses Werden Vgl. nur Jes 43,1; 56,5; 62,2 sowie Offb. 2,17; 3,12. H.U. v. Balthasar, Theodramatik II, 368: »Die Person leuchtet im Individuum dort auf, wo sie vom schlechthin einmaligen Gott ihren ebenso schlechthin einmaligen (weil Gott ihn gewählt hat) Namen zugesprochen hält«. Vgl. a. E. Brunner, Der Mensch im Widerspruch, 287f. 31

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seines Seins, das Wesen des Menschen, ist ein Pro­ zess zunehmender Besonderung. In der Besonderung kommt der Mensch immer mehr zu einer Ahnung und vielleicht auch klarerem Verständnis seiner Einzigartig­ keit, Unaustauschbarkeit oder Besonderheit. Allmäh­ lich erwacht er zu einem Wissen, dass er etwas werdend ist, was exzeptionell, unvergleichlich und ohnegleichen ist: er ist ein Unikat. Doch die zunehmende Klärung der Besonderheit oder Spezifik des eigenen Wesens gelangt an kein festes Ende. Wieso? Die Besonderung des eigenen Seins ist ein Weg der Humanisierung und ein Sinnweg der Selbstentde­ ckung. Aber er ist ohne Ende, weil er sich in der Zeit als Geschichte vollzieht, für die keiner ein Schlusswort findet. Am Ende der Reise müssen wir sterben, ohne dass wir in der Lage wären, auf das Ende der Reise zurückzuschauen und das letzte Blatt zu würdigen. So bleibt die Reise zu sich selbst als etwas Besonderes und Einzigartiges ein offener Prozess, der sich im Tod schließt. Das Denken kann uns keine Antwort geben. Es stirbt mit und steht nicht jenseits dieses Untergangs. Die letzte Gestalt, die ich im Leben gewinne, ist keine mehr von mir selbst wissbare Gestalt.32 Wer immer auch sich die eigene Geschichte der Selbstwerdung erzählen mag, eine komplette Autobiografie kann sich keiner geben. Die Geschichte meines eigenen Lebens ganz und einheitlich zu erzählen, ist mir selbst unmög­ Mit einer Zeile aus Rilkes Gedicht Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen (vgl. Kap. 2) können wir diesen Satz etwas vorsichtiger ausdrücken: Ich werde den letzten [Ring] vielleicht nicht vollbringen.

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lich. Ich habe kein letztes Wort für mich, weil der Tod es mir raubt. Das Ende unserer Geschichte kennen wir nicht. Wenn es eintritt, wird es uns nicht mehr geben. Zuletzt herrscht Selbstentzogenheit und Selbstverbor­ genheit. Wie können wir das Gefühl und das Ahnen der Einzigartigkeit dennoch ein wenig näher fassen? Die vermeintlich einfache Lebensregel Werde, der du bist entpuppt sich bei solchen Nachfragen und Über­ legungen schnell als die wohl größte und komplexeste Lebensaufgabe, die jeder für sich zu bewältigen hat. Am Beginn seines Romans Demian von Hermann Hesse steht der schlichte Satz, der aber doch zugleich eine gewaltige Frage mit sich führt: »Ich wollte ja nichts als das zu leben versuchen, was von selber aus mir heraus wollte. Warum war das so sehr schwer?« Hesse meint: »Das Leben jedes Menschen ist ein Weg zu sich selber hin, der Versuch eines Weges, die Andeutung eines Pfades. Kein Mensch ist jemals ganz und gar er selbst gewesen; jeder strebt dennoch, es zu werden, einer dumpf, einer lichter, jeder, wie er kann.« Ein schottischer Theologe des 13. Jahrhunderts, Johannes Duns Scotus, hat für unsere Frage nach der Besonderheit der Menschenwesen ein eigenartiges Wort gefunden, das sich schlecht übersetzen lässt und mit dem er versucht, die Sache etwas »lichter« (im Sinne Hesses) zu machen. Er spricht von einer haecceitas des Menschen.33 Wir können das vielleicht als das Dies-da-Sein oder als die Diesheit der Einzel­ 33

Eigentlich: aller Individuen.

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wesen wiedergeben. Ein merkwürdiges Wort für die sonderbare Sache des Besondersseins. Damit ist unter anderem gesagt, dass das einzelne Besonderssein etwas Ursprüngliches, Erstes, Selbständiges und nicht etwas irgendwie abgeleitet ist. Nun hilft uns allerdings ein neues Wort allein nicht weiter. Was ist dieses Besondere als wahres indi­ viduelles Sein außerhalb der denkenden Seele? Denn wer denkt, der wirft doch irgendein Wort oder einen Begriff über die Dinge und macht aus dem realen Sein ein intellektuelles. Aber wir haben die Dinge ja nicht anders als allein im Denken. Interessant ist jedoch an dieser Stelle, dass Duns Scotus in der über das Besonderssein der einzelnen Dinge nachdenkenden Seele nicht die logische Intellektualität als die passende, angemessene Erkenntniskraft annimmt. Das Beson­ derssein muss vielmehr von der intuitiven Anschauung her erfasst werden. Die intuitive Erkenntnis ist aber nicht nur mit zufälligen Dingen beschäftigt, insbesondere dann nicht, wenn sie die Liebe als Erkenntniskraft ins Spiel bringt. Die Liebe bringt ein neues Sehen, eine neue Schau mit sich, so wie es der mittelalterliche Gedanke ausdrückt ubi amor, ibi oculus: wo Liebe ist, da ist ein Auge. Oder wie Rilke es gleich zu Beginn in seinem Romanfragment Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge ausdrückt: »Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen – ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen.« 104 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

Liebe ist jenes Sehenlernen, jenes Wachwerden zu neuem Sehen, das immer tiefer geht und ein Inneres entdecken lässt, von dem man nichts wusste. Sie ist jenes geistige (An-) Erkennen und personale Gesche­ hen, in dem wir uns oder andere in ihrer Besonderheit sehen und den Prozess der Besonderung voranbringen. Das Besondere, als das sich der Mensch hierbei ent­ deckt, kann er mit dem Wort Person fassen. Person ist der Mensch, insofern er um seine (und andere) Beson­ derung und Einzigartigkeit weiß. Personalisierung ist der Prozess der Besonderung, in der ein Mensch immer einzigartiger wird und darum weiß. Die Person ist die nicht vergegenständlichbare Sinnhaftigkeit der »großen Frage«, als die sich der Mensch erfährt. Sie ist die Vorstellung einer Einzigartigkeit, um die im Akt der Liebe gewusst wird. Alles, was ich von mir sage, was andere zu mir und über mich sagen, alles, was ich erlebe und erfahre, sammelt sich in der Identitätsbildung des Werde, der du bist. Die Suche nach sich selbst muss sich durch eine Vielzahl von Irritationen und Deformationen, Ver­ stellungen und Verzerrungen hindurcharbeiten, um in die Nähe der einzigartigen Besonderheit des eigenen Wesenskerns zu gelangen. Das künstlerische Ringen von Anita Rée (1885–1933) beispielsweise ist dieser Suche eindrucksvoll gewidmet.

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Anita Rée, Selbstbildnis 1930, Ausschnitt (Quelle: Wikimedia Commons)

In zahlreichen Selbstporträts erkundet sie die Frage, wer sie ist und sein kann und sein soll. Dass ihre eigene exotische Erscheinung dabei immer auch ein unein­ gelöstes Versprechen, eine unbestimmte Leerstelle, eine geheimnisvolle Dimension ermöglicht, kommt der Sache entgegen. Jedes Selbstbildnis erforscht das Werde, der du bist, keine ermalte Antwort aber stellt die große Frage still. Jedes Porträt untersucht den Körper als Ausdruck einer seelischen und geistigen Besonder­ heit und wandert von Variation zu Variation. Stets muss man versuchen, eine Antwort zu finden; immer muss man erfahren, dass die Suche nicht aufhört. Melancho­ lie über die Enge der Welt fährt in den Blick, während das künstlerische Schaffen versucht, jede besondere Schönheit dem Vergessen zu entreißen. Alles Schaffen, das Besondere und Einzigartige zu zeigen, ist ein liebe­ voller Akt immer neuen Sehenlernens. Für die misanthropische Einschätzung, dass die Menschen und man selbst nichts Besonderes seien, 106 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

sondern nur beliebige Fälle des Gattungsallgemeinen, gibt es also ein probates Heilmittel, die Liebe. Wird jemand geliebt, hört er sofort auf, beliebig zu sein. Liebe entdeckt und unterstützt, sofern sie nicht selbst natu­ ralisiert wird, die Erfahrung der Besonderheit und der Besonderung maximal. Sie erzeugt dabei unter anderen zwei merkwürdige Dinge. Dem gegenüber, den sie liebt, macht sie einerseits ein Ewigkeitskompliment: Ich liebe Dich für immer und ewig. Das heißt, die Liebe kann nicht dulden und ertragen, dass das Geliebte sterben und für immer verlorengehen könnte. Der, der liebt, liebt über den Triumph des Todes hinaus, den er, soweit er liebt, nicht als endgültiges und letztes Wort für die geliebte Person hinnehmen kann. Während der Tod die große Vergleichgültigung ist, sieht die Liebe im Anderen etwas so unaussprechlich Schönes, für das sie die Ewigkeit erhofft. Andererseits sagt die Liebe dem Geliebten, dass sie immer ihn lieben werde, dass dieser da ganz einzigartig, besonders und unaustauschbar ist: dich will ich immer lieben. Der, der liebt, entdeckt den Anderen als das einzigartig Besondere. Die Liebe sieht die Besonderheit des Geliebten. In ihr rühren wir an die Einzigartig­ keit des anderen. Sie inspiriert durch die Erfahrung: »Niemand ist so wie Du für mich« den Fortgang der Selbsterkenntnis. Dieses Einzigartigkeitskompliment ist mit dem Erkenntnisakt der Liebe verbunden, die auf ein ganzheitliches Erfassen der Besonderheit des ande­ ren Menschen zielt. Vielleicht müssen wir den Gedan­ ken noch schärfer fassen. Lieben und Geliebtwerden 107 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

unterstützen nicht nur die Erfahrung des Besonderen, sondern sie sind die Erkenntnisform des Besonderen. Liebe ist die fühlende Erkenntnis des Besonderen und die bewusste aktive Förderung der Besonderung. In ihr habe ich nicht nur Zugang zum qualitativen Prinzip der Individuation, sondern sie ist dieses Prinzip. Liebe, so können wir sagen, ist das Sehen und Mitgehen der Besonderung, Theorie und Praxis einzigartiger Selbst­ werdung. Liebe als personales Erkennen des anderen ist das maßgebliche Prinzip der Besonderung. Nicht Raum und Zeit, nicht Eigenschaften oder Fähigkeiten, sondern die schöpferische Kraft der persönlichen Liebe, die ein Wesen ins Dasein zieht, und die schöpferische Kraft, die das besondere Sosein dieses Wesens sehen kann und begleiten will, ist das wahre Prinzip der Besonderung. Es ist allerdings kein Prinzip, das durch eine Definition wirkt. Denn das, worauf sich die Liebe bezieht, ist unde­ finierbar. Aber, so kann man das eigenartige Wort der haecceitas von Duns Scotus34 mit einem Gedanken von Wittgenstein weiterdenken, sie zeigt auf das Besondere: Dies da, das ich liebe, schau hin, dies da, das ist etwas ganz Besonderes. Was die Liebe antreibt, ist, dem Geheimnis der besonderen Person immer näher zu kommen. Fortlau­ fend mehr und mehr entdeckt die Liebe die Unikat­ Es ist sicher die große Problematik bei Duns Scotus, dass er das Personsein des Menschen nicht aus Liebe oder aus primärer Relationa­ lität verfasst denkt, so dass es »notwendig letzte Einsamkeit« (ultima solitudo) bleibt.

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struktur des anderen und fördert sie zugleich in einem ethischen Akt, weil sie den Weg der Selbstwerdung hilfreich unterstützt, immer klarer ans Licht zu gelan­ gen. Werde, der du bist: Die Liebe nimmt Anteil am existenziellen Drama der Selbstwerdung, das in der Geburt und Freilegung der Besonderheit eines Men­ schen besteht. Das Entfalten eines Individuums, das Werden einer Persönlichkeit, das in die Entdeckung des Besonderen einmünden würde, käme nämlich tat­ sächlich einer zweiten Geburt gleich. Aber was ist das »Eigene«, das mir und niemandem sonst beschieden ist (Hölderlin)? Die Liebe ist die Erkenntnisform, die alle Erkennt­ niskräfte so ausrichtet, dass sie das einzigartige Sosein eines Menschenwesens erkennen können, indem sie es mehr und mehr zeigen. Sie ist die Erkenntnisfähigkeit, eine einzigartig-einmalige reale Person so zu sehen, dass ihre Besonderheit aufscheint, die durch keine All­ gemeinheit und kein ideales Sein erklärbar ist. Das Erkennen der Einmaligkeit oder Besonderheit ist durch keine Abstraktion zu gewinnen. Das Individuum, d.h. das Unteilbare, ist eine Grenze für die Arbeit des Begriffs. Der Begriff will immer wieder »subsumieren«, also etwas unter etwas anderes fassen und einordnen. Diese Arbeit des Begriffs verstummt an der Grenze des Unteilbar-Einmaligen, das nicht noch einmal der Fall eines Allgemeinen ist, dem es untergeordnet werden könnte. Für das Begreifen gilt daher: individuum est ineffabile (das Individuum ist unaussprechlich), d.h. in der Sprache des Begreifens ist das einzigartig Beson­ 109 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

dere ein Ende und nicht sagbar. Wenn wir dennoch womöglich nicht anders können, als über Individuen uns mit Allgemeinbegriffen zu verständigen, müssen wir die Falschheit dieses Bruchs immer einrechnen. Das Besondere ist kein Mangel, weil angeblich nur das Allgemeine das Wahre wäre. Das Besondere ist im Gegenteil das wirklich Vollkommene. Es ist nicht defizitär, sondern positives, wahres, eigentliches Sein in konkreter Fülle. Allerdings als Werdesein, d.h. nicht fix und fertig gegeben, sondern als Freiheitsreise aufge­ geben. Eine einmalige Person in ihrer Einmaligkeit zu erkennen, verlangt eine Erkenntnisfähigkeit, die sich auf diese konkrete Person einlassen kann. Der liebende Akt des Erkennens ist diese Fähigkeit, der inneren Einmaligkeit nahezukommen. Er zielt nicht auf die allgemeine Wesenheit einer Person, sondern auf ihr Besonderssein, von dem er weiß und an das er sich wendet. Ob es, außer Gott, noch ein reales, allgemei­ nes Sein, eine gemeinsame Natur gebe oder ob das Allgemeine als Universales nur eine Abstraktion des Intellekts ist, lässt der Erkenntnisakt der Liebe offen und unbeantwortet. Vielleicht gibt es in der Natur zuletzt nur Einzeldinge.35 Jedenfalls spricht die Liebe so von und mit dem Geliebten, dass sie beständig auf das 35 In der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft und in der Einlei­ tung zur Kritik der Urteilskraft fordert Kant eine fortlaufende Spezifika­ tion, dass man immer weiter nach neuen Unterarten suchen solle – man könnte dann wohl damit rechnen, dass ein solcher Prozess genau dort idealiter enden würde: bei Einzelwesen.

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Besondere der anderen Person hinweist, aufmerksam macht und es zeigt. Sie spiegelt die Schönheit dessen, den sie liebt, indem sie liebt und sie ihm zeigt. Was die Arbeit des Begriffs nicht leisten kann, will die Arbeit der Liebe bewirken. Sie begleitet die innere Arbeit der Seele an sich selbst. Denn wir sind eine besondere Art des Werdens, eines Werdens, das sein besonderes Sein sucht. Die Liebe will das Gespür für sich selbst, die Sorge um sich, die Angst um sich als existenzielles Fragen und Ringen sichtbar machen: Wer bin ich (eigentlich)? Wird mir das Werden dessen, der ich bin, gelingen? Die Eigentlichkeit oder Besonderheit ist das Werde, der du bist als geheimnisvolle und gefähr­ dete Aufgabe. Die Liebe kümmert sich darum, dass diese Aufgabe nicht aus dem Blick gerät. Das ist das Werk der Liebe. Jeder Mensch als Mensch überhaupt muss sich darum kümmern, die Einheit und Ganzheit seines Lebens anzustreben. Das ist das Werk der Vernunft. Jeder Mensch jedoch als dieser einzigartige Mensch erobert sich in seinem ganzen Lebensentwurf zugleich ein zunehmendes Bewusstsein seiner Einzigartigkeit. Die Liebe geht diesen Weg mit. Sie lernt den anderen mehr und mehr kennen, macht sich mit ihm vertraut. Sie entdeckt die sinnhafte Ausrichtung des anderen und ermutigt ihn dazu, sich selbst treu zu bleiben. Sie fördert das Wachstum der Person und die Fruchtbarkeit der Selbstwerdung. In der Begleitung durch jemanden, der uns wirklich liebt, einen Partner oder einen guten Freund, finden wir allmählich mehr zu uns selbst. Die 111 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

Liebe öffnet sich nicht nur für den anderen, sie öffnet auch den anderen, dessen Wirklichkeit von sich selbst her sie sehen und der sie gerecht werden will. So entdeckt sie zwar die Besonderung, befreit den anderen durch ihre besondere Art der Kommunikation aber zugleich aus der Vereinzelung ins Mitsein. Mitsein ist Kommunikation Diese Kommunikation ist existentielle36 Kommunikation und wirkt wie eine Geburtshilfe des Selbst. Ihr Aufgabe und ihr Interesse ist die Selbstentdeckung und Selbstwerdung dessen, den sie liebt. Im Dialog mit ihm fördert und provo­ ziert sie das Werde, der du bist. Selbstentdeckung und Selbstwerdung sind in diesem Sinne auf existentielle Kommunikation angewiesen, d.h. auf eine Kommuni­ kation mit jemandem, der sagt, dass ihm besonders an mir gelegen ist. Warum also kommunizieren wir zuletzt? Was ist der tiefere oder eigentliche Sinn der Kommunikation? Nun der Mensch kommuniziert und muss kommuni­ zieren, weil er eine große Frage ist,37 die ihn in den Pro­ zess der Selbstwerdung verwickelt. Rede, damit ich dich sehe sagt Sokrates. Wir bringen uns zu Sprache, damit wir uns ans Licht bringen, zum Vorschein kommen, uns zeigen, sichtbar werden und angeschaut werden können. Kommunikation, die eine Form der Liebe ist, sucht das Beste des anderen ohne Interesse an Macht, Überlegenheit und Unterwerfung. Frei wendet sie sich 36 Existenz bedeutet hier meine nicht weiter auflösbare einzelne Besonder­ heit, die mir selbst als Aufgabe gegeben ist. 37 S. dazu E. Zwierlein, Magna quaestio. Der Mensch als große Frage.

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an den anderen, den sie auf einen Weg ohne Maskerade und Verstellung einlädt. Wer in solcher Kommunikation wächst, wächst im Menschsein. Die schöpferische Seite der Arbeit der Liebe ist ein Engagement. Sie engagiert sich für die Besonderung des anderen. Aber auch sie weiß für den anderen kein letztes Wort. Wer behauptet, dieses letzte Wort zu kennen und mit dem Stein der Weisen in der Tasche klimpert, ist zu den Rattenfängern und Scharlatanen zu rechnen. Wir müssen akzeptieren, dass die Besonderheit stets auch im Dunkeln und Verborgenen bleibt, dass immer ein Rest von Intransparenz fortbesteht. In gewisser Weise können wir allgemein für jeden Menschen sagen, was er werden soll. Das Reiseziel der Selbstwerdung ist Ganzheit und Einheit; denn der Mensch ist zerris­ sen, zerteilt und uneins mit sich und der Welt. Aber einem einzelnen Menschen können wir niemals sagen, was er als dieser besondere Mensch, als dieses Unikat werden kann und soll. Das können nur, wie Nietzsche es in der Götzendämmerung ausdrückt, die Schlucker und Mucker. Lieben als engagierte Wegbegleitung kann nur dabei helfen, das Feld der Besonderung emporzuarbei­ ten, freizulegen und sich dann in dieses unermessliche Reich zu vertiefen. Sie sorgt für Wachstum und Verwur­ zelung. Der Liebende geht mit dem Geliebten, der gute Freund geht mit dem Freund den Weg, so dass er sich in der Entdeckung seiner selbst, im Finden seiner Besonde­ rung und Einzigartigkeit immer mehr entdecken kann. Der gute Freund unterstützt die Selbstwerdung und 113 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

Berufung des Freundes, dieses einzigartige und uner­ setzliche Wesen zu sein und zu werden, was er ist. Eine solche Zuwendung der Liebe, in der sich Einzigartigkeit konstituiert, bleibt stets ein prekärer Vorgang. Weil er sich nämlich im Raum der Freiheit vollzieht, kann er mehr oder weniger gut gelingen und sogar ganz aus­ bleiben. Wenn wir genau wüssten, wohin wir wandern, wenn wir nach Hause wandern, könnten wir sagen, dass wir das Reiseziel kennen. Aber es ist zu schön und überragt all unsere Vernunft. Wer es ausdrücken wollte, würde es mit zu kleiner Münze in Umlauf bringen. Was wir also spüren, ist eine Sehnsucht nach dem ganz Anderen, in dem wir ganz wir selbst in unserer unaustauschbaren Besonderheit wären. Die Reise der Verwandlung ist ein glückliches Wandern, das frei auf dem Weg zu sich selbst ist. Wohin? Ich weiß es nicht genau. Quo vadis? Der Sinn des Lebens ist die Entwick­ lung der Seele (Thomas Morus). Welches Ziel? Das Leben ist der Weg des Reifens in Richtung auf ein Terrain, das wir Besonderung nennen. Wandern voll Sehnsucht nach dem Unbekannten, nach der »unbe­ kannten Nahrung«, wie Franz Kafka es einmal nennt, nach der blauen Blume, um es romantisch zu sagen. Die Frage der Besonderung dürfen wir nie aufge­ ben. Sie ist unser Heiligtum, das Intimste unserer Person. Es ist uns aber nicht gegeben, diese Frage defi­ nitiv zu beantworten. Wir können uns, da in ihr alles Geheimnis unserer Selbstwerdung verborgen liegt, nur, wie wir sahen, in sie vertiefen. Jeder strebt danach, 114 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

so Hermann Hesse im Demian, jeder unternimmt einen »Versuch und Wurf aus den Tiefen, seinem eigenen Ziele zu«. Das Unikat, das wir sind, schimmert am Grund des ewigen Selbst als Geheimnis. Ein Rätsel könnten wir lösen. Einem Geheimnis aber kann ich mich nur annähern. Diese Nähe öffnet Vertrautheit. Im Prozess der Personalisierung und Besonderung kann der Mensch seine Selbstwerdung immer weiter voran­ treiben, also sich gleichsam theoretisch und praktisch immer mehr in die »große Frage«, als die er sich ent­ deckt, verantwortend vertiefen und dieses Frage-Sein, soweit es eben geht, ausloten und erobern. Um es mit einem Wort Goethes zu sagen: Das schönste Glück des denkenden Menschen ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren. Das Wort »Geheimnis« hat nicht nur seine erfreu­ lichen Seiten. Kierkegaards Angst und der nihilistische Schwindel, den die Abgründe des Daseins mit sich brin­ gen, verbergen sich auch in diesem Wort. Wir streben nach Einheit, Ganzheit und Besonderung. Die Liebe unterstützt diesen Prozess. Aber die Freiheit bringt es mit sich, das wir nicht wissen können, was wird. Vielleicht gewinnen wir kein kohärentes Bild von uns selbst. Vielleicht sehen wir kein Muster, das sich in unserem Leben abzeichnet. Vielleicht bleibt uns unser Weg unverständlich. Unser Lebensgefühl und unsere Lebensform sind vielleicht die Grammatik einer im Grunde unmöglichen Existenz. Denn auch das zählt zu unseren Erfahrungen: der Schmerz, der Abbruch, das Unverständliche, die Inkohärenz, das Scheitern, der 115 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

Entzug, die Abgründe. Was in unserem Leben kommt woher? Was ist was? Was sind die aktiven Dinge, die von uns herrühren, was die passiven, die etwas mit uns machen? Und was heißt »von uns herrühren«? Sind Ich und Selbst nur nihilistische Leerstellen, virtuelle Fiktionen, narrative Illusionen, Phantastereien? Wer hat für all dieses Gespinst ein letztes lösendes Wort? Wir müssen wählen, wer wir sein wollen. Die, die so wetten, dass nichts mehr geht, wählen ihr Los ebenso wie die, die das Wagnis wählen, auf den Weg der Selbstwerdung zu setzen. Mit dem Ergreifen dieser Aufgabe geht der Aufruf einher, den »eigenen wahren Namen« zu entdecken, die »haecceitas« und das »Sosein« dessen, der ich eigent­ lich und wirklich und wahrhaft bin, also meine eigene Unikatstruktur, die Besonderheit, Einzigartigkeit und Unersetzlichkeit dieses einen Wesens, das ich werdend bin, immer besser zu bestimmen. Werde, der du bist oder Mensch, werde wesentlich, alle diese Werdens-, Verwandlungs- und Wachstumsimperative, die wir von Pindar, Meister Eckhardt, Pascal, Angelus Silesius, Goe­ the, Rilke, Heidegger, Guardini oder anderen hören, zielen auf eine umfassende Verwesentlichung: Werden, der man (bereits) ist (Selbstannahme), Werden, der man (noch nicht) ist (Potential), und immer noch wesentlicher und einzigartiger werden (Unikat). Man könnte vielleicht auch so sagen: Werde, der du bist ist in diesem Prozess ungefähr gleichbedeutend mit der Verantwortung für die Aufforderung: Entdecke den Sinn deines Lebens. 116 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

Wir sagten, die Liebe kann das Besondere nicht definieren. Sie muss auf das Besondere zeigen oder hinweisen. Sie macht darauf aufmerksam. Sie kann den wahren Namen nicht verleihen. Sie muss versuchen, den anderen mit seinem wahren Namen anzusprechen bzw. bei seinem wahren Namen zu rufen. Den Erkennt­ nisprozess, der mit diesen Bildern angedeutet ist, haben wir mit einem anderen Wort als den der Vertiefung bezeichnet. Vertiefung ist der eigentümliche Akt der Selbstbildung und Selbstwerdung. Zwischen Gabe, Vorgabe und Aufgabe ist dieser Weg der Vertiefung wohl am treffendsten von Rilke in seinen Briefen an einen jungen Dichter formuliert worden. Er sagt dort nämlich, dass wir die Fragen selbst lieb haben sollten wie verschlossene Stuben, zu denen wir keinen Schlüs­ sel besitzen, oder wie Bücher, die in einer uns gänzlich unverständlichen, fremden Sprache geschrieben sind, so dass wir sie jetzt nicht lesen und entziffern, sondern nur die Fragen selbst leben können mit der Aussicht, vielleicht, eines fernen Tages, in die Antworten hinein­ zuleben. Die Fragen »lieb haben« und »leben«, das bedeu­ tet: sich immer mehr in sie zu vertiefen. Die Liebe zeigt auf das Besondere, mit dem sie ihre Erfahrungen macht. Dadurch entsteht ein Land dieser Erfahrungen, das uns zu denken gibt. Denken aber ist Fragen. Jede neue Frage sucht danach, neues Licht auf dieses Land zu werfen. Jedes weitere Fragen ist ein Versuch, das Land genauer zu durchwandern, neu zu vermessen und besseres Kartenmaterial zu entwerfen. Fragen sind 117 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

Expeditionen in das unbekannte Land, den dunklen Erdteil des Werde, der du bist. Und indem wir das Reisegebiet an Hand der Fragen abschreiten, werden wir immer »erfahrener« und machen es uns mehr und mehr vertraut. Alles Fragen ist und bleibt aber zuletzt ungesichertes Denken. Wir vertiefen uns in diese Fragen. Wir lösen sie nicht. Dafür sind sie zu groß. Die Mitte unserer Mitte bleibt uns verborgen. Wir vertiefen uns aber nicht nur in die Fragen und unser Frage-Sein, sondern wir vertiefen uns durch sie. Wir geben auch unserem eigenen Leben immer mehr Tiefe. Wer sich in die Lebensfragen vertieft, vertieft zugleich sich selbst und sein Leben. Man muss durch die Fragen hindurchgehen, sie durchwandern und immer besser kennen lernen. Im guten Falle macht uns dies ein wenig menschlicher und verständiger. Werde, der du bist ist Selbstwerdung eines Wer­ deseins. Selbstwerdung geschieht im Zeichen zuneh­ mender personaler Besonderung: immer mehr und wahrhaftiger in meiner Einzigartigkeit ich selbst zu werden. Die Selbstwerdung wird getragen von der Liebe als Erkenntnisform des Besonderen und nimmt dabei selbst verschiedene Formen an. Sie begegnet uns als Selbstbefreundung, als Selbstbildung, als Selbst­ sorge, als Selbstentfaltung, als Selbstentwicklung, als Selbstformung, als Selbstbestimmung usw. Die Selbst­ werdung als Reise zu sich selbst kommt an kein Ende. Nie sind wir damit fertig. Immer geschieht Menschwer­ dung neu, Humanisierung und Besonderung. Stets sind wir unterwegs zu uns selbst. Das Abenteuer fordert uns 118 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

heraus bis zum letzten Atemzug. Ohne Zuwendung eines anderen und wohl auch des ganz Anderen wird diese Reise sinnloser Abbruch. Natur braucht, um zu werden, worauf sie aus ist, an dieser Stelle doch ein größeres Entgegenkommen, d.h. Gnade. Es ist einer der wenigen Punkte, in denen sich Aristoteles geirrt hat. Der geheimnisvolle Ruf, der uns zur Selbstwer­ dungsreise ruft, ist das Werde, der du bist. Er ist die letzte und tiefste Berufung. Wer nicht er selbst werden will, hat nicht wirklich gelebt. Wer nicht auf sein Selbst achtet, zeigt keine Selbstachtung. Wenn uns aber die Besonderung gelingen würde, so würde jeder von uns wohl seinen einzigartigen Vers in das große Gedicht der Welt einfügen, einen unverzichtbaren Ton in das universale göttliche Lied einschreiben oder eine uner­ setzliche Wellenlänge bilden, in die sich das weiße Licht im Prisma vielfarbig bricht. Vielleicht sind diese Bilder ohne einen Gottesbezug nicht verständlich zu machen. Sinnvolles Sagen setzt aber doch wohl ihrerseits eine sinnvolle Welt mit einem sinnvollen Antlitz voraus. Diese Wahl ist zu treffen. Jenseits von ihr herrscht nur eisiges Schweigen oder großes Geschwätz. Dem konnte auch Nietzsche nicht entkommen.38

Nietzsche sprach ja davon, dass wir Aufklärer, wir freien Geister des 19. Jahrhunderts unser Feuer noch von dem Christenglauben nehmen, der auch der Glaube Platons war, dass Gott die Wahrheit, dass die Wahrheit göttlich ist. Und er meinte, dass wir Gott solange nicht los werden, solange wir noch an die Grammatik glauben. – Nun es blieb Nietzsche nichts anderes übrig, solange er etwas sagen wollte, sich der Grammatik, der Sprache und ihren Sinn- und Wahrheitsimplikationen anzuvertrauen. 38

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Nietzsche wusste das. Er nahm die Verletzung solcher Voraussetzungen in Kauf, auch wenn er damit im Absurden landen musste.

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9 Du musst dein Leben ändern

(Herbert Spencer) Das große Ziel der Bildung ist nicht Wissen, son­ dern Handeln.

Die Überschrift des Kapitels39 zitiert den letzten Vers aus Rilkes Sonett Archaischer Torso Apollos. Ein Ster­ nenlicht bricht aus diesem Torso und keine Stelle ist an ihm, die den Betrachter nicht ansieht. Im Torso, unvoll­ endet, sieht der Dichter überall den Nachglanz von Vollendung und Vollkommenheit, die zur Forderung an jeden Betrachter und Leser werden: Mache dich auf den Weg. Strebe danach, du Torso, dich selbst zu vollenden. Werde ganz. Werde, der du bist ist ein Grundwort, das uns aus dem Torso des Lebens anspricht, aus den Bruch- und Stückwerken der menschlichen Existenz als kraftvoller Auftrag, beinahe als machtvoller Befehl entgegenblickt. Das Leben verlangt Formung (Apoll),40 Bildung, Arbeit an sich selbst, um lebendiger sein zu können und ein besseres Leben zu führen. Du musst 39 Da dieses Kapitel recht umfangreich ist, wird es durch einige Zwischen­ überschriften noch einmal untergliedert. 40 Zugleich ist er in Rilkes Sonett Archaischer Torso Apolls auch der Sonnengott des Lichts, der die Gabe des Sehens schenkt.

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dein Leben ändern ist eine Variation von Werde, der du bist. Das »muss« ist dabei ein Auftrag, den ich in mein »Wollen« aufnehmen soll: Ich will die Verände­ rungsnotwendigkeit als meinen Weg annehmen. Der Mensch kann sich verändern, weil er, nach Herders Wort, der erste Freigelassene der Natur ist. Er muss sich verändern, wenn er werden will, was er sein kann und soll: Werde, der du bist! Er nimmt sich selbst als Auftrag und Aufgabe, als Reise und Weg an, wenn er diese Herausforderung zu seinem eigenen Projekt der Freiheit macht und bejaht: ich will und werde.

Die Theorie bewährt sich am besten in der Praxis Gelegentlich finden wir Zitate, die mit Rilkes Appell spielen und ihn drehen: Du musst nicht (nur) dein Leben ändern, sondern du musst dein Ändern auch leben. Das ist gleichfalls ein Anliegen des Eingangszi­ tats von Herbert Spencer. Eine gute Theorie erkenne ich daran, dass sie sich in der Praxis bewährt. Kant sagt einmal, unsere Praxis sei so schlecht, weil wir keine gute Theorie hätten. Denn, so der Gedanke hier, die Praxis braucht ja Orientierung, Licht und einen Kompass. Wegweisung. Doch ob die Theorie wirklich eine gute Theorie ist, wird sich wiederum erst in einer gelunge­ nen, fruchtbaren, schönen und guten Praxis zeigen. Wir müssen uns also auf den Weg machen, um unseren Lebensweg unter den Leitstern des Werde, der 122 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

du bist zu stellen. Nun gibt es eine gewisse Übertrei­ bung, die einem solchen Weg auferlegt werden kann. Wenn beispielsweise Rilke sagt Geh in der Verwandlung aus und ein, dann kann das als ein bewusstes permanen­ tes Ändern, ein ständiges Transformieren des eigenen Lebens verstanden werden. Das, was sich unbewusst tatsächlich in uns vollzieht, nämlich ständiger Umbau und Wechsel, Werden, um unser provisorisches Sein zu halten, kann nicht ebenso ein ständiges Projekt bewusster Selbstwerdung sein. Jedes Leben vollzieht sich in eher konservativen und eher progressiven Phasen. Manchmal liegt der Akzent eher auf Selbsterhaltung, Ordnung und Struktur, manchmal mehr auf Selbstwer­ dung, Aufbruch und Prozess. Das Leben ist ein großes Ein- und Ausatmen dieser beiden Momente und gleicht im besten Fall einem fein austarierten Wechselspiel von Ebbe und Flut, von Sein und Werden. Das Werde, der du bist, spielt mit dieser Dialektik. Vielleicht darf der etwas stärkere Aspekt im Werdesein des Menschen auf seiner Veränderung liegen. Aber dann sollte er dem Rat des Augustinus folgen: Ein Stück des Weges liegt hinter dir, ein anderes hast du noch vor dir. Wenn du verweilst, dann nur um dich zu stärken, nicht aber um aufzugeben. Wer zu werden versucht, der er ist, tritt zu sich selbst ihn eine entscheidende Beziehung. Er wird zum Erzähler einer Erzählung, in der es um alles geht, was wichtig ist, und die er seine Sinn- und Identitätsge­ schichte nennen kann. Indem ich mir meine Geschichte erzähle, baue ich an meiner Selbstwerdung. Die nar­ rative Identität versucht in einem großen Fischfang 123 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

einzuholen, was alles an wirklichem Wichtigen in meinem Leben ist und wie es sich zu einem Ganzen zusammenfinden könnte. Es ist so ähnlich, wie Hegel es ausdrückt: Wenn man über sich nachdenkt, sich erinnert usf., dann zieht man den Reichtum hervor, der an sich in einem ist. Doch die Erzählung, die ein konkretes lebendiges Wesen über den Reichtum seiner eigenen Vielfalt erzählt, dieses »Erzähle dich selbst« ist kein bloßes Reden. Epiktet mahnt uns einmal auf entspre­ chende Weise: Nicht Sprüche sind es, woran es fehlt; die Bücher sind voll davon. Woran es fehlt, sind Menschen, die sie anwenden. Wenn wir auf die Fragen unseres Lebens durch unsere Selbstwerdung antworten, müssen wir unsere Antworten auch im Leben verantworten. Wir müssen mit unseren Antworten auf das Leben im Leben expe­ rimentieren. Das Werde, der du bist zielt also auf das Tun. Es repräsentiert gewissermaßen die ethische Seite dessen, was man erkannt hat. Es sagt: »Setze dein Leben dem Ein-Gesehenen aus und schaue, ob es dadurch ein stimmigeres Leben wird! Sei nicht nur im Denken unterwegs, sondern bewege dich im Leben, experimen­ tiere, wage, durchleuchte, prüfe!« Mit dem Werde, der du bist ist ja ein tiefes mensch­ liches Eigeninteresse angesprochen. Menschen wollen herausfinden, wie ein gutes oder gelungenes Leben für sie möglich ist. Darum forschen sie danach, herauszu­ finden, wer sie sind und was sie werden sollen. Es geht um viel, vielleicht um alles, worum es uns gehen kann, darum nämlich, ob das Leben glückt. Nietzsches »letzte 124 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

Menschen«, die mit dem »kleinen Glück« selbstzufrie­ denen Spießbürger, sozusagen postmoderne Narren, können sich am Ende mit ein wenig Selbstlektüre und Selbsterzählung zufriedengeben. In ihnen sind das Feuer und die Kraft des Fragens fast verloschen, in ihnen ist auch das Drama des Menschseins beinahe schon verblasst. Die aber die Spur der Humanisierung ernsthaft verfolgen, versuchen, die große Frage, die der Mensch ist, mit aller möglichen Leidenschaft zu erobern. Mit Leidenschaft sein Leben zu ändern, ernsthaft der Forderung Werde, der du bist nachzukommen, das zeigt sich nicht im Reden, sondern erst in der Tat. Ein bekannter Gedanke Senecas zur richtigen Auffas­ sung von Philosophie erinnert uns daran, dass uns die Philosophie lehrt zu handeln, nicht zu reden. Auch das Wort Christi aus Matthäus 7,16, dass wir an den Früchten erkennen werden, was es mit den Überzeu­ gungen oder Haltungen von jemandem wirklich auf sich hat, legt eine Idee nahe, wie man Theorie und Praxis überhaupt verbinden soll. Die Wirklichkeit von Worten wird an den Wirkungen in den entsprechenden Taten abgelesen. Wenn wir wissen wollen, was das genau bedeutet, was ein Mensch denkt oder sagt, sollen wir nicht mehr nur auf seine Worte schauen, sondern vor allem auf seine Taten und sein Leben. Dort, in den Wirkungen auf das Leben, zeigt sich das entscheidende Kriterium für die wahre Bedeutung einer Sache. Kafka sagt einmal, es ist schwer, die Wahrheit zu sagen, denn es gibt zwar nur eine, aber sie ist lebendig und hat daher ein lebendig wechselndes Gesicht. Die vielfältig wech­ 125 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

selnden lebendigen Gesichter der Wahrheit zeigen sich als solche im Leben, wo sie sich als Bekundungen der Wahrheit erweisen müssen. Die Wahrheit begegnet uns in der tatsächlichen Bewährung. Was die Theorie (in Wahrheit) wirklich wert ist, sagt uns die Praxis (in der Tat). Das Erkennen bestimmt nicht nur das Leben, das Erkennen ist zugleich für alles Erkennen auf das Leben angewiesen. Das Leben erläutert dem Erkennen anhand der Wirkungen des Denkens, was das Erkannte im Leben wirklich bedeutet und ob es »stimmt«. Charles Sanders Peirce, der Begründer des amerika­ nischen Pragmatismus, versteht die Bedeutung einer Überzeugung, im Rückgriff auf Kant und auf die oben genannte Bibelstelle aus Matthäus 7,16, im Sinne einer vom ihm so formulierten pragmatischen Maxime. Sie besagt, dass wir unsere Ideen und Begriffe dadurch klären, dass wir überlegen, welche möglichen prakti­ sche Konsequenzen sie denkbarerweise für uns haben werden; dann verstehen wir, was wir wirklich mit ihnen meinen. Wenn jemand beispielsweise theoretisch sagt, dass der Diamant der härteste natürliche Stoff sei, dann sagt er damit praktisch: wann immer du einen Diamant hast, wirst du damit alle anderen natürlichen Stoffe ritzen können, nicht aber mit allen anderen natürlichen einen Diamanten. Wir verstehen unser Denken erst dann richtig, wenn es sich in die Praxis begibt. Willst du dich erken­ nen, schau auf deine Früchte. Das Leben gewährt dem Erkennen eine Resonanz, die dem Denken weiterhilft. Die Wirkungen einer Überzeugung klären rückwirkend 126 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

die Bedeutung dessen, was das Denken gedacht hat. Das Denken verdeutlicht sich durch sein Umsetzungs­ echo in der Praxis. Schließlich wird aber noch etwas Weiteres deutlich, nämlich die grundsätzliche Verwie­ senheit des Erkennens auf das Leben. Das Leben ist der immer wieder neu Themen öffnende und gewährende Grund des Denkens. Ja, das Leben selbst, aus dem alle Themen hervorgehen, ist das erste und letzte Thema des Denkens und dabei auch die Frage, was beide füreinan­ der sind, worin also lebendiges Denken und denkendes Leben bestehen. Leben und Denken, Theorie und Praxis, Lebens­ kunde und Lebenskunst spielen zusammen. Die Theo­ rie entwirft der Praxis einen verständigen Weg, der sie orientiert. Die Praxis geht den Weg und erläutert der Theorie, ob ihre Vermutungen stimmen und was sie tatsächlich besagen. Wir können auf diese Weise noch einmal nachvollziehen, wie intim und konkret die Verbindung von Erkenntnis und Leben angelegt ist. Wir entdecken auch den Primat der Praxis bzw. des Lebens, aus dem das Denken hervorgeht und an dem es sich klärt und verdeutlicht. Vielleicht fällt von hier aus ein neues Licht auf das alte Wort primum vivere, deinde philosophari: zuerst leben, dann philosophieren. Das Leben ist, so scheint es, Subjekt und Objekt und Mittel und zuletzt der Prüfstein der Erkenntnis. Theorie muss sich mit ihrer Praxis verbinden, um Selbstwerdung zu verstehen und zu fördern. Ob ich dieses oder jenes wirklich bin oder sein kann, ob dieses 127 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

oder jenes wirklich zu mir passt oder nicht, ist in vielen Fällen durch Nachdenken allein nicht zu entscheiden. Was wir in der Selbstwerdung von uns denken und halten und glauben, muss in den Lebenstest gebracht werden. Erkenntnis und Leben sind so innig verknüpft, dass das Leben den Prüfstein für unsere Gedanken abgibt. Manchmal denken wir dieses oder jenes. Dann folgen wir diesen Gedanken im Leben und merken, dass es zu Wirkungen kommt, an die wir gar nicht zuvor gedacht haben. Vieles ist in Gedanken allein nicht zu erschließen. Wissen wir, ob es stimmt? Nun, dies muss sich zeigen, indem du das tust, was du darunter verstehst. So klären sich Überzeugungen, indem wir die Praxis befragen. Wir prüfen unsere Überzeugun­ gen, Einsichten und Vermutungen, indem wir sie wie Hypothesen einem Bewährungstest in der Praxis unter­ werfen. Die Früchte, also die Wirkungen, werden uns darüber belehren, was uns was bedeutet41. Das heißt, die Praxis klärt und entwirrt die Theorie, ihre Begriffe und Überzeugungen, die uns im Zusammenhang mit dem Werde, der du bist beschäftigen. Wir beginnen überhaupt erst uns zu verstehen, wenn wir auf unsere Praxis achten. Wenn wir auf sie schauen, gibt sie uns zu denken. An ihr und durch sie kommen wir uns auf die Spur und manchmal auch auf die Schliche. Willst du dich erkennen, achte auf deine Früchte. Die Theorie schärft sich ihr Sehen dadurch, 41 »Bedeutet« im doppelten Sinn: semantisch »bedeutet«, aber auch wie bedeutsam, wie lebensrelevant etwas für uns ist.

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dass sie durch die Praxis hindurchgeht. Das Bewusst­ sein findet zu sich selbst, indem es durch seine Objek­ tivierungen in der Tat hindurchgeht und in ihnen seiner selbst ansichtig wird. Hegel drückt diesen Gedanken in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts so aus: Die Geschichte des Geistes ist seine Tat, denn er ist nur, was er tut, und seine Tat ist, sich, und zwar hier als Geist, zum Gegenstande seines Bewußtseins zu machen, sich für sich selbst auslegend zu erfassen. Wir können diesen Gedanken Hegels, über den Umweg der Entäußerung zu sich zu finden, auch poetisch formulieren und die Selbsterkenntnis unter das Motto Friedrich Rückerts stellen: Wirke! Nur in seinen Werken kann der Mensch sich selbst bemerken.42 Wenn wir unser Leben aber ändern, bleiben wir dann wir selbst? Nun, wir sollen ja nicht einfach wir selbst bleiben. Denn so, wie wir selbst sind, sind wir immer noch in wartenden Möglichkeiten oder auch in Entfremdung und Illusionen. Es gehört zu den para­ doxen Provokationen des Menschseins, dass wir uns ändern müssen, um immer mehr wir selbst zu werden. Aktuell sind wir eine schlechtere Version von uns selbst als wir eigentlich im Guten sein könnten. Dann tauchen aber neue Fragen auf: Wie können wir »authentisch« sein, wenn wir uns ändern? Und woran können wir merken, dass wir auf einem richtigen Weg der Verände­ rung sind? In diesen »Werken« ist natürlich auch die Rückmeldung anderer an mich mitzudenken.

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Authentisch sein und authentisch werden Was bedeutet es, »authentisch« zu sein? Authentisch sind wir zunächst einmal, wenn wir ohne Fassade zei­ gen und sagen, was wir wirklich denken und fühlen. Wir verstellen uns nicht, sondern sind aufrichtig. Würde das alles sein, wäre das Wort »authentisch« nur ein Wort für die möglichst unverfälschte Wiedergabe dessen, was gerade »in uns los« ist. Eine solche Engführung des Wortes, sozusagen die Beschwörung des Aufrichtig­ keitskultes, kann geradewegs zu einer Immunisierung des Status quo werden: Ich bin (halt), wie ich (eben) bin. Man erwartet, dass man so hingenommen und angenommen wird, wie man eben ist. Auf diese Weise wird dem Werde, der du bist gerade die entscheidende Pointe geraubt. Denn ich bin ja jetzt schon so, wie ich geworden bin, und ich werde künftig jeweils der sein, der ich dann geworden sein werde. Es heißt ja nicht: Sei so, wie du gerade bist! »Authentisch« ist nicht nur eine jeweilige Momentaufnahme aus dem sich irgendwie vollziehen­ den Selbstwerdungsgeschehen. »Authentisch« ist nicht nur eine jeweilige präsentische Augenblicks-Wieder­ gabe: So bin ich jetzt gerade, dessen einziger ethischer Anspruch es wäre, das Jetzt getreu zu zeigen. Weil nämlich jeder Status quo ein Status quo minus ist, weil er hinter unseren Möglichkeiten zurückbleibt und von Verfälschungen und Entfremdungen durchzogen ist, ist in gewisser Weise niemand authentisch, wenn er behauptet, authentisch zu sein. »Authentisch« ist 130 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

also ein Wort, das man präsentisch-aktuell und eher explikativ verwenden kann: So, wie ich es jetzt gerade hier zeige, so ist es wirklich, so sieht es aus. Wer nur bei diesem Gebrauch bleiben wollte, verbaut sich gerade den Aufbruch zu mehr Authentizität. Denn es nützt der Authentizität wenig, wenn sie nur »Aufrichtigkeit« bleibt. »Authentisch« ist aber auch ein Wort, das futu­ risch und normativ verwendet werden kann: ich bin auf dem Weg, immer mehr authentisch zu werden. Authentizität ist also Aufrichtigkeit und Wahrhaftig­ keit. Ich teile nicht nur mit, was ich (jetzt) bin. Denn ich bin ja etwas, das erst werden muss. Mein Sein ist ein Werdesein. Es steht unter Ansprüchen, einen rich­ tigen, guten Weg für mich zu suchen. Ich bin nämlich auch unfertig, auch traumatisiert, auch unterwegs, auch heilungsbedürftig – im Blick auf was: nun im Blick auf das, was ich noch sein kann und sein soll, etwas, was aussteht und wodurch eine authentischere, bessere Version von mir erkennbar würde. So fassen wir Authentizität auf doppelte Weise auf. Zum einen sehen wir eine präsentische Auffassung von »authentisch sein«. Wenn jemand sagt: ich bin so, wie ich eben bin, fertig, aus, und dies »authentisch« nennt, dann scheint er sich doch sehr zu irren. Er müsste, wenn er seinen aktuellen derart Zustand einfrieren wollte, dann wohl eher sagen: ich bin fix und fertig und tot und ohne weitere Entwicklung. Tatsächlich aber ist Authentizität wie Menschsein selbst ein Weg oder eine Reise. Man muss darum auch von sich selbst sagen: ich bin meine Zukunft, meine Potentiale, die 131 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

noch ungehobenen Schätze in mir. Authentizität hat in dieser Hinsicht einen futurischen Sinn. Wenn wir in diesem Sinne Authentizität als einen Weg zu sich selbst, als einen Reisebegriff und als Prozess auffassen, macht es Sinn zu sagen, dass wir immer authentischer werden können. Dann macht es auch Sinn, »authentisch« in beiden Bedeutungen zu verwenden. Ich kann beides sagen: Ich bin jetzt, hier und heute, so, wie ich bin, und versuche das so klar und wahr zu sehen, zu sagen und zu zeigen, wie es mir aktuell möglich ist. Aber nicht um mich darin einzuschließen oder darin zu verharren. Auch nicht, um mit punktualisierten Zeugnissen meiner Authentizität eine immer weiterlaufende Kette mit neuen Gliedern von Augenblicken zu bilden. Vielmehr ist die präsenti­ sche Authentizität der Auftakt einer Verwandlung, der Beginn einer Reise. Heute besinne ich mich auf das, was jetzt ist, um künftig noch mehr und näher zu mir selbst zu kommen. Selbstannahme heute ist ein Meilenstein in der Selbstwerdung, ein Anfang, kein Ende: Ich bin so, wie ich bin; aber ich bleibe nicht so, wie ich bin; denn ich soll nicht so bleiben, wie ich bin. Außer, ich wäre am Ende und wollte mich begraben lassen. Gott kann so bleiben, wie er ist. Denn er ist immer vollkommen schön und gut. Wir nicht. Wir sind auf dem Weg. Wir bleiben uns treu, wenn wir uns verändern.

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Authentischwerden als innere Arbeit an sich selbst Der Weg der Selbstwerdung als ein Authentischwerden ist nichts, was leicht ist oder harmlos oder sich irgend­ wie von selbst macht. Im Kapitel über die Charakterbil­ dung haben wir von Kant gehört, dass er dem Menschen einen aufgeklärten Charakter wünscht. Er reagiert mit dieser Zielidee auf seine Beobachtungen, dass mit dem Menschengeschlecht nicht viel zu prahlen ist. So, wie die Menschen sich verhalten, ist mit ihnen nicht viel Staat zu machen und kein Blumentopf zu gewinnen. Der Mensch, so Kant, ist ein krummes Holz, aber er soll den aufrechten Gang erst einmal lernen. Gerade, aufrichtig werden, den aufrechten Gang gewinnen, das ist die Aufgabe. Doch den aufrechten Gang lernt der Mensch nur schwer. Nun kommt es aber nicht so sehr darauf an, was die Natur aus dem Menschen macht, sondern, was er aus sich selbst macht. Er muss die richtigen Mittel in die Hand bekommen, d.h. Erzie­ hung und Bildung, um den Weg des Selbstdenkens und Selbstaufklärung hin zu einem freien Menschsein zu nehmen. Dieser Weg ist schwer. Er braucht viel Arbeit und Einsatz, ein langer und mühsamer Weg der Selbstkultivierung. Aber das Ziel lohnt. Das Holz ist krumm, den aufrechten Gang kann man lernen: mit geradem Rückgrat durch das Leben zu gehen, aufrecht, aufrichtig, nicht geduckt, nicht gebeugt. Wahre, freie, gute Menschen. Diesen Gang müssen die Menschen erst allmählich lernen. Es ist der wahre Bildungs-Gang. 133 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

Bedeutende Psychologen, die über Sinnsuche oder Persönlichkeitswachstum, Selbstaktualisierung und Individuation, Selbstbildung und Selbstentfaltung gesprochen haben, wie etwa Carl Gustav Jung, Abraham Maslow, Ruth Cohn, Carl Rogers, Erich Fromm oder Viktor Frankl, haben immer wieder darauf aufmerk­ sam gemacht, dass die Suche nach einer Sinnerfüllung harte innere Arbeit ist. Wir sind nicht einfach reine, heile Natur, sondern durch viele und vielfältige Ver­ wundungen verletzt, deformiert, entstellt, missbraucht, gefährdet, gestört, ausgetrocknet, abgelehnt, entfrem­ det, beschämt, erstarrt, bestraft, entwertet, lächerlich gemacht – erlittene Lebensbeeinträchtigungen, Ver­ dunkelung der eigenen Lebensfreude, Schwächung des eigenen Selbstwertes, fundamentale Verunsicherung der Lebensfreude und des Urvertrauens. Die Aufgabe, der wir uns stellen, wenn wir dem Wort Werde, der du bist folgen, ist nicht leicht und verlangt Ausdauer. Frankl hat darum wie viele anderen darauf hingewiesen, dass wir durch mancherlei Kämpfe und Anstrengungen hindurch müssen, um die Reise der Selbstwerdung voranzubringen. Sich in die Selbstwer­ dung zu vertiefen und sich mit ihr vertraut zu machen, verlangt, wie die Psychologen sagen: Frustrationstole­ ranz. Ein alter lateinischer Spruch, eine Redewendung, die wohl von Seneca herkommt, meint etwas Ähnliches:

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per aspera ad astra,43 also ein Weg über Stock und Stein, auf rauer Bahn zu den Sternen. Wenn wir sagen, dass es neben dem Authentisch­ sein auch noch ein Authentischwerden gibt und dass dieses Authentischwerden Arbeit bedeutet, könnte sich noch einmal ein Einwand erheben. Denn wir neigen dazu, das authentisch zu nennen, was wir spontan und intuitiv sind und sagen. Scheinbar ohne irgendwelche »Arbeit«. Aber auch hier gibt es ein Missverständnis. Das meiste, was wir »spontan« nennen, ist es erst gewor­ den. Das, was wir »spontan« und »intuitiv« nennen, ist in sehr vielen Fällen ein Produkt des Lernens, des Ein­ übens, bis es uns gleichsam zur unbewussten Gewohn­ heit geworden ist. Es ist erarbeitete Leichtigkeit.44 Als plakatives Beispiel erinnere ich an das Autofahren. Es gab eine Zeit, da konnten wir es nicht. Dann haben wir es geübt und geübt. Nun ist es uns »in Fleisch und Blut« übergegangen und wir tun es quasi »automatisch«. Bei genauer Betrachtung trifft dieser Prozess wohl auf einen Großteil dessen zu, was wir uns als »spontane« oder »intuitive« Fähigkeit oder Eigenschaft zuschrei­ ben.

Manchmal auch: per ardua ad astra, also durch Schwierigkeiten und Widerstände hindurch zu den Sternen. 44 Und manchmal auch verinnerlichte Fremdherrschaft.

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Die angemessene Sprache der Selbstwerdung Werde, der du bist ist schwere innere Arbeit an sich selbst. Eine Facette dieser Arbeit betrifft einen subti­ len Zusammenhang, der sich nicht sogleich aufdrängt, nämlich der von Sprache und Selbstwerdung. Ist die­ ser Zusammenhang aber erst einmal entdeckt, wird sehr schnell verständlich, welche großen Herausfor­ derungen hier warten und welche Gefahren sich auf ebenso raffinierte wie machtvolle Weise in die Selbst­ werdung einschleichen können. Die Sprache nämlich, in der wir die Selbstwerdung auffassen und vergegen­ wärtigen, nimmt Weichenstellungen vor, die ihr Gelin­ gen ermöglichen oder gefährden. Wie bringen wir die Selbstwerdung zur Sprache? Vielleicht ist es ja unmöglich, die Geschichte des eigenen Lebens ganz und einheitlich zu erzählen. Nicht nur, wie wir sahen, weil wir kein letztes Wort für uns selbst haben werden, da der Tod es uns raubt. Vielleicht schon auch deshalb, weil wir mit der Art von Sprache, mit der wir uns gewöhnlich an Leben und Erfahrung heranpirschen, diese vertreiben. Vielleicht also sind die Dinge für uns unaussprechlich, ineffabile, weil wir sie mit unserer Sprache vertreiben. Im Chandos-Brief Hugo von Hofmannsthals heißt es etwa, dass dem Dich­ ter die Worte im Munde zerfielen wie modrige Pilze. Die Worte zerbröckeln. Keines sagt mehr aus, was es aussagen soll. Die Art der Sprache, mit der wir uns dem Leben und den Lebenserfahrungen zuwenden, scheint abgenutzt und ungeeignet, sie auf irgendeine Weise 136 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

adäquat zu wiederholen. Zwar ist das Wiederholen selbst schon ein Problem, weil Leben etwas anderes ist als Sprache. Aber die fundamentale Skepsis gilt doch der Sprachlosigkeit einer Sprache, die das Leben nicht näher bringt, sondern entfremdet. Ein Inhalt muss in irgendeiner Form vermittelt werden. An der Sprache kommen wir nicht vorbei. Hofmannsthal selbst sehnt sich nach einer neuen Sprache, die aus dem Denken des Herzens reifen würde. Was könnte das bedeuten? Wer über Selbstwerdung spricht, kann nicht die Sprache der Wissenschaft oder in den Präzisionsbedin­ gungen sprachanalytischer Philosophie sprechen wollen, ohne das Thema selbst auf fundamentale Weise in Gefahr zu bringen. Wir bedürfen nicht zuerst einer diskursiven, sondern einer evokativen Sprache, keiner Sprache, die registriert, beurkundet und verwaltet, sondern einer kreativen, schöpferischen, produktiven Sprache. Sprache, die »passt«, ist ein Werkzeug der Selbstwerdung, nicht ihr äußerer Bericht und bloßer Nachhall. Sprache, die der Selbstwerdung angemessen ist, ist Moment dieses Prozesses, wirksames Wort, das die Arbeit der Selbstwerdung betreibt. Emporformt, nicht konstruiert, sondern bildet. Die Sprachskepsis gilt der Vertotung der Sprache zur bloßen Wissenschaftsund Begriffssprache. Die Entfremdung der Sprache vom Leben, ihr Scheitern an der Erschließung dessen, was ist, ihr unzulängliches Zurückbleiben hinter dem, was zu sagen wäre und notwendig wäre, die Sprachlosigkeit der Sprache und die Unentzifferbarkeit des Seins, wird im wissenschaftlichen und begrifflichen Sprachfeld 137 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

besonders auffällig. Sprachskepsis muss den Sprach­ verfall als Herausforderung verstehen, das Spracher­ eignis wiederzugewinnen, die Energeia der Sprache. Sprache bewirkt, heilt, setzt in Gang. Sie schafft Einheit und Ganzheit, von der sie dabei und dann erzählt. Das lebendige Wort ist schöpferisches Wort. Für Hugo von Hofmannsthal scheint sich hier, wenn wir nur nahe genug am Erleben der Dinge bleibe, eine Art Epiphanie einstellen zu können, wie er sie im fiktiven Brief von Lord Chandos andeutet: Es ist ja etwas völlig Unbenanntes, und auch wohl kaum Benennbares, das, in solchen Augenblicken, irgendeine Erscheinung meiner alltäglichen Umgebung mit einer überschwellen­ den Flut höheren Lebens erfüllend, mir sich ankündet. Eine Gießkanne, eine auf dem Feld verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus, alles dies kann das Gefäß meiner Offenbarung werden. In einer Epiphanie, wenn ich geduldig mit den Dingen mitatme, kann es sein, dass sich plötzlich und beinahe präreflexiv, vorbegrifflich, kategorienarm ein wesentliches Zeigen, ein Zeigen des Wesentlichen ein­ stellt, das aus dieser Nähe und Verbundenheit strahlt und sich in meinen Körper, meine Seele, meinen Geist abschreibt. Es kommt zu einem Einbruch, zu einer Berührung mit etwas, das sich entzieht: das Unsicht­ bare wird sichtbar und verbirgt sich in dieser Sichtbar­ keit als gefühlte Bedeutung. Die Macht des Unsichtba­ ren durchströmt als Hintergründigkeit das, was sich 138 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

zeigt. Das Gewand der Materie zeigt einen Durchbruch von Licht.45 Die Materie wird transparent. Das Erleben ist umflossen von einer Aura (W. Benjamin). Auf ver­ hüllte Weise werden wir vom Unsichtbaren angesehen. Jedenfalls werde ich zuerst von etwas ergriffen, bevor ich es aufgreifen kann und sodann näher zu begrei­ fen suche. Es braucht also eine sprachkritische Aufmerksam­ keit, wenn wir unsere Selbstwerdung zu Wort bringen wollen. Ein sorgfältiger und differenzierter Umgang mit der Sprache und eine gelingende Selbstwerdung gehen Hand in Hand. Eine Sprache für das Werdesein des Menschen gibt dem Menschen eine Gestalt, deren Angemessenheit sie immer weiter klärt und aufklärt. Sie vermeidet zwei Übel: das Werdesein zu fixieren bzw. festzuhalten oder es ins Gestaltlose zu verflüssi­ gen. Es hilft, sich an das strenge Wort O. F. Bollnows zu erinnern: Erst in der Zucht der Sprache geschieht zugleich die Selbstwerdung des Menschen. Sprache, die authentisch zur Sprache bringt, wovon wir sprechen wollen, muss wohl aus dem Erleben und Ereignis der Selbstwerdung unmittelbar lebendig her­ vorgehen. Wir müssen uns also nicht nur auf Sprachge­ wohnheiten besinnen, in denen wir, wie auf gewohnten Bahnen, gerne immer laufen. Es kommt nicht auf vor­ gefertigte Bildungssprache, verschlissene Phrasen und Einbruch und Durchbruch sind nicht nur öffnend, sondern auch gefährdend; denn jeder Bruch weist auch auf die Brüchigkeit von allem hin. Unentzifferbar bleibt das Sein.

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mitgebrachte Stanzmaschinen an, sondern darauf, dass die Sprache aus dem Erleben unmittelbar erwächst. Eine solche Sprache konstruiert nicht, sondern erwächst organisch aus ihrem Bezug. Sie bildet sich und ent­ wickelt sich aus der Lebensspeisung. Lange bevor die eingeübte Sprache des Begriffs zum Einsatz kommt, muss eine Art poetischer, proteischer,46 mimetischer Sprache gesucht und ausgedrückt werden, die noch nahe ist, d.h. in Berührung mit dem Schock des Erlebens. Vor allem die wissenschaftliche Sprache, die vom Erleben des Lebens abgelöst ist, ist Gift für eine Sprache, die eine primäre Wiederholung der Selbst­ werdung sein möchte. Denn es ist der wissenschaftli­ chen Sprache ganz eigentümlich, dass sie neutralisiert, distanziert und verobjektiviert. In diesem Sinne sind sie alle, bildungssprachliche Versatzstücke, begriffliche Analyse und Wissenschaftssprache, tödlich für eine erste Sprachmimesis. Sie sind fern, verbraucht, abge­ standen und stürzen ungeeignet ins Leere. Bevor die harte Sprache ihr kritisch-aufklärendes Geschäft ver­ richtet, braucht es jedenfalls zuerst eine naive, erleb­ nisnahe, frische Wiederholung, die etwas zu sagen sucht, was »angemessen« ist wie ein »Maßanzug«, der erst zu schneidern wäre. Dies wäre keine Sprache, die einfach nacherzählt, sondern etwas schafft, krea­ tiv ist, schöpferisch emporbildet, Sprachausdruck aus Erleben emporformt. Eine solche Sprache nennen wir ein wirkliches Werkzeug der Selbstwerdung, nicht ihre 46

Ähnlich schwebten Henri Bergson »flüssige Begriffe« vor.

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bloße sprachliche Beurkundung. Man nehme sich, auf Menschenweise bescheiden, ein Beispiel an Gott: Er sprach und es ward. Das schöpferische Wort. Der Tod der Sprache ist, dass sie kein Leben mehr generiert. Sie soll nicht registrieren. Wer eine neue Sprache sucht, die nicht alt und müde geworden ist, eine passende Sprache für Leben und Erleben, die nicht begrifflich angemessen erfasst werden können, erlebt seine Abenteuer. Man versucht, mit dem Herzen zu denken und das Herz zu denken. Leben, das erlebt wird, bildet eine erste Ahnung und eine gefühlte Bedeutung, um die sich der sympathisierende Geist sein anfängliches Schauen als Wissen von und um die Dinge aufbaut. Erst daraufhin können wir sinnvoll fortsetzen, Intuition und Einfühlung allmählich verlas­ sen, indem wir ihre Einsichten in abstraktere Sphären mitnehmen. Dort werden sie starrer, nüchterner, objek­ tiver und in ihrem Gehalt begrifflich entfaltet. Aber auch diese Reflexion ist noch Nachhall des Nachhalls aus dem Zentrum der Dinge. Das wiederholende Denken erinnert sich.47 Dieser zentrifugale Weg des Verstehens ist ganz unerlässlich, wenn wir nicht in bloß raunender Sprachmagie bleiben wollen. Zuerst und zunächst aber brauchen wir Bilder, Symbole, Metaphern. In zentripetaler Richtung hin zum im Ereignis erlebten Leben in seinem ersten Aufscheinen für uns haben wir häufig nur ein Tas­ 47 Denken, das das erlebte Leben nachdenkt, wiederholt es, indem es sich dieses Anfangs erinnert und auch seiner Vermitteltheit, d.h. des Prozesses, der zu ihm führte.

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ten in dunkler Nacht. Wenn uns wenigstens ein paar Sterne leuchten, können wir froh sein. Das Besondere oder Unikat, das wir im Werdesein, im Werde, der Du bist, als Zielbild fassen können, scheint ein eigen­ tümliches Feld von Metaphern zu sein, die um eine unbekannte Sonne wie einem spezifischen Resonanz­ körper vibrieren, einen eigentümlichen Duft verströ­ men, eine eigenartige Atmosphäre verbreiten, einen besonderen Geschmack auslösen. Dies können wir (vor uns selbst) bezeugen und meditieren. Diese Metaphern sind ursprünglich und treffend. Klarer kann man es nicht sagen. Sie können nicht durch andere, besser Aus­ drücke ersetzt werden. Eine genauere »Übersetzung« lassen sie nicht zu. Unzulänglich bleiben wir zurück hinter dem, was zu sagen notwendig wäre. Näher aber kommen wir uns nicht.

Rückmeldungen und Resonanzen anderer Gelingende Kommunikation in der Selbstwerdung ach­ tet nicht nur auf eine angemessene eigene Sprache für sie. Sie braucht auch ein Ohr für das, was andere mir sagen können. Immer wieder in Fühlung mit seinem Innersten und Heiligsten zu kommen, die Selbstwer­ dung und eigenste Bestimmung zu suchen, verlangt nämlich zwei Luxusgüter: Zeit und aufmerksame Ruhe für mich selbst, aber eben auch gute Freunde und andere Menschen, mit denen ich mich austauschen kann. Ob wir dem Auftrag Werde, der du bist erfolgreich folgen, zeigt sich in der Praxis. Diese Praxis ist immer 142 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

auch eine soziale Praxis. Sie bewährt sich Umgang mit anderen Menschen und mit der Welt. Denn wir hatten bereits im letzten Kapitel gesehen, dass kein Mensch er selbst werden kann, wenn er dies nicht in einer personalen Gemeinschaft, im Für- und Miteinander mit anderen wird. Werde, der du bist ist kein Egoprojekt für solitäre Monaden. Menschsein ist Mitsein. Das eigene Werden der Person ist ohne Beziehung, ohne die ande­ ren nicht möglich. Die soziale Praxis hält aber auch ein wichtiges Werkzeug für die Arbeit der Veränderung bereit: die Rückmeldung der anderen. Wenn wir uns verändern und beobachten, ob Veränderung gelingt und was da gelingt, beobachten wir uns selbst. Eine Achillesferse der Selbstbeobachtung liegt auf der Hand: Derjenige, der sich selbst beobachtet, ist nicht derjenige, der sich nicht selbst beobachtet. Im Prozess der Beobachtung und Reflexion bin ich ein anderer als der, der unreflek­ tiert und spontan erlebt. Der Übergang vom Erleben zum Verstehen ist eine Kunst. Dass wir uns darüber hinaus auch noch gerne täuschen und etwas vorma­ chen, braucht nur erwähnt werden. Daher ist es sinnvoll, wenn wir uns Feedback holen. Ohne den anderen haben wir viele blinde Flecken. Sie können uns manchmal leichter als wir selbst sagen, was sich als roter Faden durch unser Leben zieht. Außerdem: Wie ich auf andere wirke, können mir eben nur diese anderen sagen. Zugleich tauchen natürlich zusätzliche Fragen auf: Ist der Feedbackgeber gut? Ist das Feedback qualitativ gut? Mischen sich nicht Täu­ 143 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

schungen, Interessen und Wünsche anderer in ihre Rückmeldung ein? Das ist möglich. Wir müssen daher für Feedback nicht nur offen und dankbar sein und es auch aktiv einholen, sondern wir sollen es auch unsererseits sorgfältig prüfen, damit es nicht zu einer unkritischen Identitätsbildung kommt. Die Rückmel­ dung anderer ist unersetzlich wertvoll. Ohne Bedacht sollte sie nie in die eigene Selbstwerdung aufgenom­ men werden. Aber den Impuls, den sie in uns bewirkt, können wir wieder mitnehmen, in die Resonanz des Lebens, das eigentliche Feedback, dem wir uns zuletzt anvertrauen müssen.

Verwandlung – Transformation – Veränderung (Quelle: pixabay)

Säen und ernten Wir sagten, dass sich das Wort in der Tat beweisen muss. Wenn Haltungen nicht durch entsprechendes 144 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

Verhalten eingelöst werden, bleiben sie »ungedeckte Schecks«. Die Worte »Tugend« und »taugen« hängen eng miteinander zusammen. Ob das, was jemand sagt, etwas taugt, muss sich erst noch zeigen und beweisen. Ob seine Haltung wirklich taugt, werden wir an sei­ nem Verhalten messen. Sagt ein Mensch, er liebe die Wahrheit und sage verlässlich die Wahrheit, wir aber bald entdecken, dass er leichtfertig mal dies, mal jenes behauptet und es mit der Wahrheit gar nicht so genau nimmt, so finden wir uns durch seine anfänglichen Worte getäuscht und betrogen. Die Werke sprechen ihr Urteil über die Worte und verraten uns, dass sie bereits unwahr gewesen sind. Wir können uns natürlich viele weitere Präzisierungen sowie Einwände und Ausnah­ men zu dieser Regel denken. Aber als Regel bietet sie ein gutes Orientierungswissen. Ich halte es für besser, A zu tun als B. Aber Zorn oder irgendein anderes Gefühl verleiten mich dennoch dazu, B zu tun. Ich weiß, dass A besser ist für mich und tue doch B. Wieso handle ich gegen meine Interessen? Tue ich immer das, was jetzt zu mir passt? Ich bin wütend geworden. Jetzt tue ich etwas aus Wut. Hätte ich vielleicht darauf aufpassen sollen, nicht wütend zu werden? Bin ich für die schiefe Ebene in meiner Seele verantwortlich? Habe ich eine Wahl? Ist da immer eine Alternative? Tun wir zu jeder Zeit das, was wir für das Beste halten? Sind wir in einen inneren Kampf verwickelt? Müssen wir immer der Vernunft folgen, damit wir das Beste tun? 145 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

Durch Arbeit an mir selbst und durch Rückmel­ dung anderer forme ich mich selbst, bilde mich in mei­ nem Werdesein. Ich säe und ernte. Ich bilde Gewohn­ heiten aus, in denen ich wohne. Ich ändere mein Leben. Ich reise von Informationen zu Transformatio­ nen. Damit die ausgebrachte Saat wirklich Ernte bringt, d.h. sich in uns als verlässliches Muster oder als Cha­ rakterzug einstellt, ist es unvermeidlich, die Saat zu wässern und zu pflegen, d.h. sie immer wieder zu wiederholen. Nur Übung, Selbstkultivierung, Ausdauer und Geduld, also Wiederholung, lässt uns allmählich in eine gute Ernte hineinreifen. Wenn wir uns so formen und kultivieren, beeinflussen wir uns durch Etablierung von Lebensgewohnheiten. Ein Leben unter dem Impe­ rativ Werde, der du bist muss eine solche Arbeit der Verwandlung leisten. Was wir dabei säen, werden wir ernten. Füttern wir uns mit negativen Gedanken oder ernähren wir uns von positiven Gedanken? Was ist unsere geistige Speise? Was stärken wir in uns? Ein bescheidenes Beispiel: Konsumieren wir viele schlechte Nachrichten und Hor­ ror, nähren wir unsere Angst. Die Menschen schauen dann unter die Betten und schließen ihre Türen doppelt ab. Wie man in den Wald ruft, so schallt es heraus. Nur, dass wir hier selbst der Wald sind. Womit wir uns intensiv beschäftigen, das beschäftigt uns intensiv, das prägt uns, das färbt auf uns ab: Auf die Dauer der Zeit nimmt die Seele die Farbe der Gedanken an. (Marc Aurel) Wir sagten: Wir verstehen unser Denken erst dann richtig, wenn es sich in die Praxis begibt. Willst du 146 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

dich erkennen, schau auf deine Früchte. Das Leben gewährt dem Erkennen eine Resonanz, die dem Den­ ken weiterhilft. Die Wirkungen einer Überzeugung klären rückwirkend die Bedeutung dessen, was das Denken gedacht hat. Das Denken verdeutlicht sich durch sein Umsetzungsecho in der Praxis. Das Leben wird am besten verstanden in der Tat. Wie wir das Leben anschauen, welche Werte wir für relevant halten, was für uns wichtig und unwichtig ist, wird es uns tatsächlich spiegeln. Das, was ich als Saatgut aussäe, wird auch dem entsprechen, was ich als Frucht erhalten werde. Es gibt spezifische Resonanz. So heißt es etwa: Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Der Sturm ist der entfaltete, ausgewachsene, ins Große gedachte Wind. Wer Wind sät, wird Sturm ernten – und nicht etwa Schokolade oder Sonnenschein. Gutes Denken muss Gutes denken. Woran aber erkenne ich, dass das Saatgut gut ist? In welchen Gewohnheiten kann ich wirklich so leben, dass sie meinem Werde, der du bist entgegenkommen? Wann ist eine Lebensveränderung richtig? Woran merken wir, ob die Selbstwerdung gelingt? Woran erkennen wir, dass wir uns selbst näherkommen, dass wir uns besser verstehen als zuvor?

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Experimentalphilosophie48 Werde, der du bist verlangt existentielles Wissen. Exis­ tentielles Wissen ist ein Wissen, das Intellektualität und Emotionalität umgreift. Es ist ein Wissen, das mir in keiner Weise mehr gleichgültig ist, sondern einen Prozess der Verwandlung auslöst oder doch zumindest auslösen kann. Es ist kein rein informatives, sondern ein transformatives Wissen, ein Wissen, das uns umformt und verwandelt. Ob wir den Antworten, die sich in unserer Selbsterkenntnis abzeichnen, wirk­ lich trauen können, zeigt nur der Weg in die Praxis. Dort wird aus der Theorie der Selbstwerdung existen­ tielles Wissen, in dem wir leibhaftig erfahren, ob wir die Antworten der Theorie in unserem Leben auch tatsächlich verantworten können. Ich muss erfahren, was es bedeutet, wenn ich dies oder jenes denke. An deinen Früchten wirst du dich erkennen können. Erst in der Praxis werden wir durch verwandelndes Wissen erfahren, ob wir von den Früchten leben können. Ich muss mich ausprobieren, sagt Michel de Mon­ taigne. Wir können uns selbst nicht verstehen, ohne uns auszuprobieren. Wir können nicht wir selbst wer­ den, ohne uns zu gestalten. Sich selbst verstehen und selbst werden heißt, sich selbst bestimmen. Existentielle Selbstbestimmung ist ein echtes Experimentieren. Wir wagen einen Entwurf von uns selbst, dann werden wir unsere Erfahrungen machen. Wir wagen einen 48

S. dazu E. Zwierlein, Auf dem Rücken des Tigers.

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Weg. Wir wagen einen Weg, auf dem sich bewährt, was wir glauben. Die Wahrheiten der Selbsterkenntnis und Selbstwerdung sind Versuche der Wahrwerdung. Selbstwerdung ist ein allmähliches Wahrwerden, das sich immer mehr für Wirklichkeit öffnet, wie sie von sich selbst her ist. Selbstwerdung ist ein allmähliches Wahrwerden, das die Wirklichkeit der Wirklichkeit an den Wirkungen meines Wirkens abliest. Wir sollen, mit einem Wort Nietzsches, Experimen­ talphilosophen werden. In den Unzeitgemäßen Betrach­ tungen formuliert er es so: Die einzige Kritik einer Philosophie, die möglich ist und die auch etwas beweist, nämlich zu versuchen, ob man nach ihr leben könne. Das Leben bildet für das Denken eine Art Laboratorium, in dem es mit sich selbst Experimente anstellt. Alle theoretischen Überzeugungen werden im Lebensvoll­ zug ausprobiert und durchgespielt. Alles Erkennen ist Versuch und Wagnis, am Probierstein des Lebens selbst die Lebensprobe zu bestehen. So muss das Denken seine Überzeugungen immer wieder in die Lebens­ wette einbringen, ob man von und mit ihnen wirklich leben könne. Das entscheidende Produkt des Philosophen, vor seinen Worten und Werken, ist sein Leben. Dies ist sein eigentliches Kunstwerk. Darauf zielt das Werde, der du bist. Darauf zielt alle Bildung und Selbstbildung. Das entscheidende Produkt des Experimentalphilosophen ist Werk und Wirken seines Denkens im Leben. Denn dort entscheidet sich die Fruchtbarkeit der Werke, Texte, Reflexionen und aller Selbsterkenntnis. Philosophie ist 149 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

nicht primär Theoriebildung, sondern der Versuch zu leben, zu erproben, womit sich leben ließe. Philosophie ist Lebenskunde und Lebenskunst: Leben in Philosophie übersetzen und Philosophie in Leben umsetzen.

Zeichen dafür, dass Selbstwerdung gelingt Woran lesen wir nun ab, ob dies gelingt? Wie könnten Kriterien aussehen, die zeigen, dass das Werde, der du bist mehr und mehr gelingt? Welche Ernte, wenn wir sie denn hätten, würde uns auf Dauer erfreuen und uns selbst heller und stimmiger machen? Wir sind wohl dann auf dem richtigen Weg, wenn wir eine Steigerung unserer Stimmigkeit und Selbstbe­ freundung erfahren. Wenn wir spüren, dass unsere Lebendigkeit zunimmt und sich in wachsender Kreati­ vität artikuliert. Selbstwerdung versöhnt uns auf sinn­ hafte Weise mit uns selbst und dem, was ist. Wir bewegen uns aus der Welt der Zwei, aus Zweifel und Zwietracht und Zwiespalt heraus. Wer sich auf die Eins, auf Einheit und Einklang versteht, hebt die Zwei auf und kommt ins Einverstehen. Zeichen dieser Gesundung, in der wir mit uns und der Wirklichkeit ins Reine kommen, sind Tenden­ zen eines schönen und guten Lebens. Unsere Liebesund Erlebnisfähigkeit wächst. Wir sind freier, offener, furchtloser, mutiger, selbstbewusster, gelassener. Wir können vertrauen, freilassen und anerkennen. Wir haben Freude an Wachstum und bedenken die Weis­ 150 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

heitsfrage des Wachsens: Wie weit lasse ich was wach­ sen? Wir lieben Wissen, das Weisheit wird, indem es uns persönlich prägt und leitet. Wir verstehen, dass Liebe das Fundament, der Weg und das höchste Ziel von allem ist. Wir kennen die Abgründe des Zynismus und Fanatismus und halten uns in der Mitte. Wir entwickeln ein Gespür für Echtheit ohne Fassade und Maskerade. Es zeichnet uns eine spontane Freude am Guten aus. Wir wollen ohne Feindbilder leben und ersehnen Frieden. Wir erfreuen uns daran, wenn Men­ schen aufblühen und Ketten abwerfen. Die Selbstbefreundung ist von einem Interesse an universaler Freundschaft mit allem anderen begleitet. Es ist der Versuch einer Beheimatung, einer Oikeiosis in der Welt. Alles ist Mitsein. Novalis spricht davon, dass eine gelingende Selbstwerdung den Widerstand der Dinge aufhebt. Die Dinge müssen sich nicht wehren, wenn man sich mit ihnen befreundet. Dann gewähren sie Zugang zu ihren Geheimnissen. Einem Zugriff aus Herrschaft und Unterwerfung, Gewalt und Gier müssen sie entfliehen. Wer hingegen die Welt durch die magische Oikeiosis der Freundschaft romantisiert, hebt den Widerstand der Dinge so auf, dass die Welt zur Heimat werden kann. Gelingende Selbstwerdung zeigt sich in einem komplexen Lebensgefühl, das zu einer Lebensform tendiert, worin Leben freundschaftlich ver­ standen ist. Um also zu verstehen, ob wir auf dem Holzweg sind oder nicht, betrachten wir die Wirkungen, die unsere Überzeugungen im Lebenstest hervorbringen. 151 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

Das praktische Kriterium hierfür könnten wir dann so beschreiben: Diejenigen Überzeugungen von uns selbst gehören am meisten zu uns, die uns auf lange Sicht fruchtbarer, kreativer, freier, wacher, stimmiger machen. Alle diese Begriffe brauchen natürlich eine weitere Klärung, weisen aber in eine Richtung. Die Überzeugungen gehören wirklich zu uns, von denen und mit denen wir lebendiger leben können. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Die Überzeugungen, die uns lebendiger machen, müssen noch einen zweiten Test bestehen. Sie müssen uns nämlich auch geistig klarer machen. Durch sie sollte unsere Selbst-Verständlichkeit wachsen. Alle Selbster­ kenntnis49 greift ja über das jeweilige Selbsterleben hinaus auf ihr eigentliches Ziel, immer mehr ich selbst zu werden. Selbsterkenntnis weist hier voraus auf das Selbstwerden als seine eigentliche Praxis. In einem Vorgang verstehe ich selbst mich immer mehr, indem ich mir selbst theoretisch und praktisch immer mehr gerecht werde. Selbsterkenntnis und Selbstwerdung ist der eine Prozess in seinem Doppelvollzug, allmählich zu sich selbst zu kommen und dabei immer mehr in die Einheit und Ganzheit aller Selbstvollzüge hineinzuwach­ sen. Wenn unser Leben allmählich, denn es ist doch ein langes Reifen und Aufwachen, Menschen sind ja keine Kippschalter, und immer nur vorläufig, denn Voll­ endung und Perfektion gehören nur Gott, wir aber sind 49

S. E. Zwierlein, Erkenne dich selbst!

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dem Guten nicht immer treu, wenn es also allmählich und vorläufig stimmiger und lebendiger, vitaler und biophiler wird, so denken wir uns diese Kriterien der Biophilie und Vitalität vielleicht nur für die großen und besonderen Ereignisse unseres Lebens. Das wäre allerdings eine Einseitigkeit. Groß ist es nämlich vor allem, im Kleinen das Große sehen zu können. Wir freuen uns über die großen Jahrgänge mit den herausragenden Weinen, die uns bezaubern. Warten wir aber nicht auf sie. Jahrhun­ dertweine sprechen nicht gegen die anderen. Es war gut, auch diese zu haben. Man konnte von ihnen leben. Und am Anfang des Jahres, wenn du deine Dinge tust im Weinberg, weißt du nicht, ob es ein Jahrhundertwein wird oder nicht. Gut ist der Weg der Selbstwerdung auch dann, wenn er unsere Fähigkeit, zu danken und uns zu freuen, vergrößert. Dankbarkeit und Freude begleiten uns in ganz alltäglichen Zeiten, die wenig exzeptionell schei­ nen. Dankbarkeit und Freude sind der Schlüssel dafür, dass es zu einem Durchbruch von Licht und Schönheit im Alltag kommen kann. Sie erzeugen eine Art von Sehenlernen, das die Transparenz der Dinge sieht. Der Alltag, nicht das Hamsterrad, ist nicht alltäglich. Er ist selbst das Besondere. Wir müssen die Routine unterbrechen. Selbstverständliches gibt es nicht. Das Gewöhnliche ist ganz außergewöhnlich. Der Sinn ist gegenwärtig. Die Fülle des Lebens ist bereits da. Nur wir sind es nicht. 153 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

Sinn – Natur – Gnade Dass die Realität sinnvoll ist, können wir nicht erzwin­ gen. Dass unsere Selbstwerdung ein sinnvolles Unter­ nehmen ist, liegt nicht nur in unseren Händen. Es liegt etwas verführerisch Falsches in den Sätzen, dass wir den Sinn schaffen oder erfinden müssen. Wenn das bedeu­ tet: Sinnbewegung ist Entwurf und Verantwortung, mag man keine Einwände erheben. Aber ein solcher Entwurf und eine solche Verantwortung vollziehen sich sinnvollerweise nur in und vor einem bereits als selbst­ verständlich angenommenen Sinnkontext und Sinnhori­ zont. Die Bewegung von Sinn beginnt nicht bei Null; denn dann kämen wir über Null nicht mehr hinaus. Die Sinnaufgabe baut stets auf einer Sinnvorgabe auf. Sonst ist sie von Anfang an: ohne Sinn. Doch nicht nur der Anfang, auch die Vollendung übersteigen unsere Kräfte. Eine vollendete Sinnerfül­ lung der Selbstwerdung liegt, wie wir gesehen haben, ebenfalls nicht in unserer Hand. Unser konstitutives Unvermögen, mit unserer Selbstwerdung nicht fertig werden zu können, ist nicht nur eine Existenzwunde unseres verletzten Menschenseins, sondern auch die Herausforderung, das Uneins-Sein zu versöhnen, die dauernd fortbestehende Aufgabe, sich mit sich selbst zu befreunden. Ich erwache zu mir selbst als persönliche Aufgabe und erlebe sie zugleich als Anspruch, dem ich nicht gerecht werde und zu guter Letzt nicht gerecht werden kann. Scham widerspiegelt diese Bruchstelle. Ich bleibe mir selbst etwas schuldig, nämlich das, was 154 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

eigentlich notwendig wäre (mich selbst). Ich bin nicht nur über mich hinaus, sondern ich bleibe auch hinter mir selbst zurück. Wir sind uns uns selbst schuldig. Für das Drama, das ich bin, habe ich selbst kein lösendes Wort. Ich erfahre mich als große Frage, die ich nicht zu beantworten vermag, aber auf die zu antworten und die zu verantworten ich mich verpflichtet fühle: Werde, der du bist. Der Natur muss etwas entgegenkommen, was sie vollendet und was die Alten Gnade nannten. Entspre­ chend haben wir im letzten Kapitel den Gedanken gestreift, dass die Natur durch die Gnade vollendet wird. Wir sahen, dass wir auf etwas aus sind, das unsere Kräfte übersteigt. Der Mensch ist eine so große Frage, dass nur ein Gott sie beantworten kann. Die spiritu­ elle Dimension kann an dieser Stelle wieder sichtbar werden. Alles Experimentieren wird irgendwann abge­ brochen werden. Die Früchte, die wir wachsen lassen, werden vielleicht gar nicht bis zu jener Ernte hin reifen können, in der wir uns selbst-verständlich, eins und ganz werden. Was bewahrt uns vor endgültigem Miss­ lingen? Wir brauchen ein freundliches Entgegenkommen. Vielleicht in der Art, wie es Rilkes Strophe aus seinem Gedicht Herbsttag festgehalten hat: Befiehl den letzten Früchten voll zu sein; / gieb ihnen noch zwei südlichere Tage, / dränge sie zur Vollendung hin und jage / die letzte Süße in den schweren Wein. Der Auftrag Werde, der du bist, in dem wir unterwegs sind zur Entdeckung und Aufklärung unse­ rer Einzigartigkeit oder Besonderheit, braucht Zeit. 155 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

Selbstwerdung, Selbstbildung, Veränderung, Bildung braucht Zeit und Geduld. Nietzsche meint, dass die Bildung täglich geringer werde, weil die Hast immer größer wird. Was hätte er wohl zu unserer Tempokratie gesagt? Wie kann ich mich ändern? Die erste Antwort muss lauten: Langsam! In seinen Briefen an einen jun­ gen Dichter sagt Rilke einmal, man müsse reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht ohne die Angst, daß dahinter kein Sommer kommen könnte. Er kommt doch. Aber er kommt nur zu den Geduldigen, die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge, so sorglos still und weit. Ich lerne es täglich, lerne es unter Schmerzen, denen ich dankbar bin: Geduld ist alles! Und an andere Stelle bittet er, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein. Ohne das richtige Maß an Geduld, Ausdauer und langem Atem wird sich die investierte Energie nicht amortisieren. Was zu schnell wächst, wächst sich dünn und bricht. Wir machen eine Reise. Auf dem Weg der Selbstwerdung sind wir uns immer beides: zugleich selbst-verständlich und selbstverborgen, sichtbar und unsichtbar, gegeben und aufge­ 156 https://doi.org/10.5771/9783495999639 .

geben, aussprechbar und unaussprechlich, alle Defini­ tionen überschreitend, immer Reisende auf der Reise zu uns selbst, ein utopisches Wesen, immer auf dem Weg zu uns selbst. Weg ist eines der Urworte, der gro­ ßen Metaphern, die wir besitzen. Der Weg ist das, auf dem wir gehen und fahren und so unsere Er-fahrungen machen. Wer erfahren ist, ist jemand, der viel herumge­ kommen ist und auf vielen Wegen sich kundig gemacht hat. Der Weg ist nicht nur außen, sondern auch innen: Das, was uns bewegt und in Bewegung bringt oder hält. Unsere Sinn-Orientierung, unserer Sinnen und Trachten folgt den Wegen, die unsere leiblichen und geistigen Reisen verfolgen; denn sinnan bedeutet so viel wie gehen, reisen, fahren, streben, sinnen oder trachten nach etwas. Unser Leben ist selbst ein Weg: vita via, eine Reise der Selbsterkenntnis und Selbstwer­ dung. Für diese Reise bleibt Pindars Spruch Werde, der du bist, das alte Bildungs- und Verwandlungsideal, ewig frisch und neu.

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Personenregister Apel, Karl-Otto 68 Aristoteles 42, 48, 66, 119 Augustinus von Hippo 17, 63, 123 Bach, Johann Sebastian 57 Balthasar, Hans Urs von 101 Benjamin, Walter 139 Bergson, Henri 140 Bollnow, Otto Friedrich 139 Brunner, Emil 101 Cohn, Ruth 134 Descartes, René 92 Duns Scotus, Johannes 103f., 108 Dürer, Albrecht 23f. Epiktet 124 Faulkner, William 34 Foucault, Michel 94 Frankl, Viktor 134 Fromm, Erich 134 Gide, André 34 Goethe, Johann Wolfgang von 20f., 28, 47, 55, 90, 99, 115f. Guardini, Romano 97f., 116 Habermas, Jürgen 68 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 57, 124, 129 Heidegger, Martin 116 Heraklit von Ephesos 17 Herder, Johann Gottfried von 11, 14, 122 Hesse, Hermann 97, 103, 115 Hofmannsthal, Hugo von 136ff.

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Hölderlin, Friedrich 109 Humboldt, Wilhelm von 71 Jesus von Nazareth (Christus; Jeschua) 21, 24, 99f. Jonas, Hans 82 Jung, Carl Gustav 73f., 134 Kafka, Franz 44, 114, 125 Kant, Immanuel 18, 30f., 37, 58, 63, 67f., 110, 122, 126, 133 Kierkegaard, Søren 54, 82f., 115 Lincoln, Abraham 57 Loh, Janina 88 Marc Aurel 146 Maslow, Abraham 134 Marston, William 74 Meister Eckhardt 116 Montaigne, Michel de 29, 148 Morus, Thomas 114 Moses 99 Munch, Edvard 83 Musil, Robert 55 Napoleon Bonaparte 21 Nietzsche, Friedrich 24f., 84f., 87f., 113, 119f., 124, 149, 156 Novalis (Georg Philipp Friedrich von Hardenberg) 43, 151 Pascal, Blaise 29, 37, 48, 50, 67, 72, 81, 116 Paul, Jean 32 Peirce, Charles Sanders 126 Pilatus (Pontius) 21, 24 Pindar 17, 116, 157 Platon 19f., 90, 119 Rée, Anita 105f. Rilke, Rainer Maria 33, 57, 102, 104, 116f., 121ff., 155f. Rogers, Carl 134 Rosengrün, Sebastian 88 Rousseau, Jean Jacques 57

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Rückert, Friedrich 129 Schiller, Friedrich 53, 68ff. Seneca, Lucius Annaeus 33, 57, 125, 134 Silesius, Angelus 34f., 116 Sokrates 21, 112 Vinci, Leonardo da 28 Vitruvius 28 Ware, Bronnie 52 Wintersohl, Luzie 15 Wittgenstein, Ludwig 55, 108 Zwierlein, Eduard 88, 112, 148, 152

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