Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik 9783787330812, 9783787315154

Vorwort – Einleitung: Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik I. KUNSTIDEAL UND KULTURPOLITIK. Otto Pöggeler. System und Ge

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Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik
 9783787330812, 9783787315154

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HEGEL-STUDIEN BEIHEFT 27

Hegel-Studien In Verbindung mit der Hegel-Kommission der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler

Beiheft 27

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik Herausgegeben von Annemarie Gethmann-Siefert und Otto Pöggeler

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Inhaltlich unveränderter Print-on-Demand-Nachdruck der Auflage von 1986, erschienen im Verlag H. Bouvier und Co., Bonn.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1515-4 ISBN eBook: 978-3-7873-3081-2 ISSN 0073-1578

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2016. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de/hegel-studien

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort Einleiturrg: Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik

I V

I. KUNSTIDEAL UND KULTURPOLITIK Otto Pöggeler (Bochum) System und Geschichte der Künste bei Hegel

1

Helmut Schneider (Bochum) Aus der Ästhetikvorlesung Hegels 1820/1821

27

Lucia Sziborsky (Düsseldorf) Schelling und die Münchener Äkademie der bildenden Künste. Zur Rolle der Kunst im Staat

39

Ännemarie Gethmann-Siefert (Bochum) Die Rolle der Kunst im Staat. Kontroverses zwischen Hegel und den Hegelianern

65

II. DIE BILDENDEN KÜNSTE UND DIE HISTORIE Heinrich Dilly (Stuttgart) Hegel und Schinkel

103

Werner Busch (Bochum) Wilhelm von Kaulbach — peintre-philosophe und modern painter. Zu Kaulbachs Weltgeschichtszyklus im Berliner Neuen Museum

117

Gregor Stemmrich/Annemarie Gethmann-Siefert (Bochum) Hegels Kügelgen-Rezension und die Auseinandersetzung um den eigentlichen historischen Stil" in der Malerei

139

Wolfgang Beyrodt (Bielefeld) Ansichten vom Niederrhein. Zum Verhältnis von Carl Schnaases Niederländischen Briefen zu Georg Förster

169

III. MUSIK UND POESIE Konrad Schüttauf (Bonn) Melos und Drama. Hegels Begriff der Oper

183

Jürgen Söring (Zürich) Hegel und die Romantheorie R. Wagners

195

IV. POESIE UND WELTKULTUR Hans-Georg Gadamer (Heidelberg) Die Stellung der Poesie im System der Hegelschen Ästhetik und die Frage des Vergangenheitscharakters der Kunst Dieter Bremer (München) Hegel und Aischylos

Clemens Menze (Köln)

Das indische Altertum in der Sicht Wilhelm von Humboldts und Hegels

213 225 245

Barbara Stemmrich-Köhler/Annemarie Gethmann-Siefert (Bochum)

Von Hammer, Goethe und Hegel über Firdausi. Literaturkritik. Geschichtsbild und kulturpolitische Implikation der Ästhetik

Karlheinz Stierle (Bochum)

295

Malerei und Literatur der italienischen Renaissance in Hegels Ästhetik

327

Ursula Rautenberg (Bochum) Ein Hegelianer unter Germanisten. Karl Rosenkranz' mediaevistische Studien

341

VORWORT

Der Band enthält Beiträge eines Kolloquiums, das im Dezember 1984 im Rahmen des Sonderforschungsbereichs der Deutschen Forschungsgemeinschaft Wissen und Gesellschaft im 19. Jahrhundert in Bochum stattfand. Es geht in den Untersuchungen erneut um die Frage nach der Aktualität der Hegelschen Ästhetik, um eine Frage, die seit geraumer Zeit philosophische Gemüter erregt hat. Um zu zeigen, daß diese Frage nicht allein philosophisch relevant ist, wird Hegels Ästhetik im Licht ihrer Rezeption, in der Brechung durch Kritik und alternative Konzeptionen, erörtert. Dieses generelle geistige Klima, das in den Anknüpfungs- und Bezugspunkten der Ästhetik virulent wird, legt ihre Wirkung in den Literatur- und Kunstwissenschaften fest und gehört damit als untrennbarer Bestandteil zur Philosophie der Kunst. In einer vorangehenden Dokumentation über das Verhältnis von Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels wurde der allgemeine Rahmen solcher Überlegungen abgesteckt.i In den folgenden Untersuchungen geht es darum, die kulturpolitische Situation in singulären Auswirkungen, in der Stützungswirkung, die sie für gewisse Tendenzen des Berliner Kunstbetriebes gewann, im Spiegel der Hegelschen Ästhetik zu erhellen. Die Beiträge bemühen sich darum, durch den Rückgriff auf die Zeugnisse zu Hegels Ästhetikvorlesungen einen unmittelbareren Einblick in die Verflechtungen von lebendiger philosophischer Lehre und wissenschaftlicher wie lebensweltlicher Relevanz zu vermitteln. Hegels Philosophie zeigt sich hier nicht von der Seite ihrer systematischen Stringenz, sondern von der komplementären Seite ihrer Geschichtlichkeit. Das gilt für die generelle Zuordnung von System und Geschichte der Künste, die O. PöGGELER darlegt, für ein Beispiel der Rezeption , das H. SCHNEIDER anhand der Wirkung der ersten Berliner Vorlesung entwickelt, für die Rolle der Kunst im Staat, die L. SZIBORSKY und A. GETHMANN-SIEFERT aus der Gegenüberstellung der Position SCHELLINGS und Hegels erhellen. In der speziellen Auseinandersetzung mit einzelnen Künsten, die nicht nur bei Hegel im Lichte einer philosophischen Deutung erscheinen, setzt sich dieselbe Linie fort. Philosophische Systematik bewährt sich am Phänomen Kunst, sie präfiguriert dieses Phänomen aber zugleich, weil sie an der Erstellung des allgemeinen Rezeptionsrahmens beteiltigt ist. H. DILLY entwickelt

1 Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels. Hrsg, von O. Pöggeler und A. Gethmann-Siefert. Bonn 1983 (Hegel-Studien. Beiheft 22.).

II

Vorwort

dieses Zusammenspiel von Deutung und Präsentation der Kunst in der Gegenüberstellung von Hegel und SCHINKEL. SCHINKEL versucht, durch das Museum das „System einer neuen präsentativen Kunstgeschichte" zu schaffen, „gebaute" mit „geschriebener Geschichte" zu verschmelzen. In der Kontroverse zwischen SCHINKEL und ALOYS HIRT zeigt sich, daß der gewählte klassizistische Rahmen nicht nur Schmuck und Präsentationsfunktion, sondern zugleich auch die Funktion der Geschmacksausrichtung übernehmen soll. SCHINKEL und WAAGEN sehen den Hauptzweck historischer Sammlungen darin, „im Publikum den Sinn für bildende Kunst, als einen der wichtigsten Zweige der menschlichen Kultur, wo er noch schlummert zu wecken, wo er schon erwacht ist, ihm würdige Nahrung und Gelegenheit zu immer feinerer Ausbildung zu verschaffen". W. BUSCH thematisiert die Problematik der Geschmacksbildung im musealen Rahmen und unter Ausrichtung auf ein klassizistisches Schönheitsideal an KAULBACHS Weltgeschichtszyklus im neuen Museum. Der „akademische Klassizist KAULBACH" unterwirft sich einerseits dem vorgezeichneten Schönheitsideal, schafft aber bildimmanent Raum für die Infragestellung der in Schönheit harmonisierten Weltgeschichte. Die Kunst selbst findet, wo sie ihren Inhalt der neuen Bewußtseinsform, der Geschichte, anschmiegt, zu neuen Formen einer reflexiven Darstellung. Die Einheit von Kunsterfahrung, historischer Forschung und lebendigem Vollzug, die der Hegelschüler H. G. HOTHO in eine „spekulative Kunstgeschichte" zusammenschmelzen wollte, beleuchten G. STEMMRICH und W. BEYRODT an Hegels Überlegungen zum „eigentlich historischen Stil" in der Malerei und am Verhältnis der Reisebriefe als Zeugnis der neuerwachten Kunstbegeisterung zur Kunsthistorie im frühen 19. Jahrhundert. Kunst und Kunstgeschichte, Kunst und Geschichte überhaupt verschmelzen zu einer Einheit, die die spätere kulturpolitische Konsequenz, das Heil des eigenen Staates und die bessere Zukunft aus der Geschichte und ihrer Repräsentation in der Kunst zu erwarten, nahelegt. Hegels Ästhetik findet ihren Kulminationspunkt in der Bestimmung der Poesie, denn Hegel entwickelt hier, wie H.-G. GADAMER darlegt, eine noch akzeptable Deutung seiner Grundthese vom Ende der Kunst im Hinweis auf die Verknüpfung von Kunst und Reflexion, Sinnlichkeit und Geistigkeit. Bezeichnenderweise finden sich zur „Poesie" auch die weitgreifendsten Auseinandersetzungen mit der Ästhetik. Selbst die Musikphilosophie Hegels wird erst da und darum diskutabel, weil Hegel seine Theorie der Musik mit Gedanken zur Poesie verknüpft. K. SCHüTTAUF zeigt diesen Zusammenhang an der Kontroverse um die Bedeutung der Oper auf; J. SöRING stellt in seinen Überlegungen zur Romantheorie R. WAGNERS die grundsätzliche Frage, wieweit sich Hegels Ästhetik mit WAGNERS Überlegungen vereinbaren ließe, der die Einheit des modernen Epos, des Romans und der Musik musikalisch realisieren will.

Vorwort

III

Hegel entwickelt in seinen Äsiheiikvorlesungen das ganze Spektrum der Poesie von der antiken Tragödie über die orientalische Poesie des Altertums und Mittelalters, die Symbiose von Orient und Okzident in der Poesie der Renaissance bis zur Auseinandersetzung mit dem germanischen Mittelalter. D. BREMER weist in seinem Vergleich Hegel undAischylos nach, daß Hegel seine Theorie der Tragödie, die er schon in der Jenaer Zeit vollendet, am Leitfaden der Oresiie entwickelt. In moderner Gestalt begegnet Hegel die alte Tragödie allenfalls im französischen Zerrbild, das die Substanz des Alten bis zur Unkenntlichkeit unter der modernen höfischen Staffage camouflierte. Mißverständnisse und Vorurteile trennen Hegel von HUMBOLDTS Sicht des indischen Altertums, wie C. MENZE im Hinweis auf HUMBOLDTS Intention der Bhagavad-Gita Übersetzung zeigt. Dennoch werden in der Frage nach der Ur-Poesie und Ur-Sprache, nach der „Poesie als Lehrerin der Menschheit" auch die Probleme thematisiert werden, die Hegels philosophische Beschäftigung mit der Kunst prädestinieren. Er greift beispielsweise auf VON HAMMERS und GOETHES Beschäftigung mit dem orientalischen Mittelalter unter derselben prinzipiellen Frage nach der Rolle der Poesie als „Lehrerin der Menschheit" zurück. In der explizit kulturtheoretisch motivierten Differenzierung von Ur-Poesie und Diuunliteratur, sowie in der Behauptung, daß eine „Übersetzung" der orientalischen in die europäische Kultur nur der poetischen Neuschöpfung gelinge, findet Hegel sein eigenes Anliegen wieder. Die Poesie vergangener Zeiten kann nicht ohne weiteres Gegenwartsrelevanz beanspruchen. Sie kann diese vor allem nicht, wie B. STEMMRICH-KöHLER und A. GETHMANN-SIEFERT zeigen, durch den HoMER-Verweis, durch ein klassizistisches ästhetisches Kriterium erschleichen. Ähnlich wie die Poesie des orientalischen Mittelalters motivieren die Wiederbelebungsversuche des eigentümlich „nationalen" Mittelalters Hegel zu Kritik und Ablehnung. Er geht in den Vorlesungen zwar auf die literarischen Werke des „schönen Rittertums", die Verknüpfung von Orient und Okzident in der Renaissancedichtung, ein, die K.-H. STIERLE in seinem Beitrag analysiert. Hier (wie beim Heldenbuch oder den Nibelungen) setzt Hegel sich mit negativem Ergebnis mit der Frage auseinander, ob die mittelalterlichen Epen jenen Ursprungsepen in Situation wie Funktion vergleichbar seien, die die „Bibeln der Völker" genannt zu werden verdienen. In der gedruckten Ästhetik finden die Werke TASSOS und ARIOSTS breitere Beachtung, weil HOTHOS Vorliebe für die Renaissance in der Malerei wie Dichtung über Hegel hinausgehend ästhetische Gesichtspunkte einbringt. Das „Mittelalter", das der antiken Schönheit naherückt, schafft den Übergang vom Epos zur Lyrik und bereitet das moderne Epos, den Roman vor. Dem germanischen Mittelalter widmet sich neben F. TH. VISCHER K. ROSENKRANZ in seinen Mittelalterstudien. U. RAUTENBERG zeichnet in ihrem Beitrag Ein Hegelianer unter Germanisten die Kontroverse zwischen der historischen Sprachwissenschaft zu Beginn des

IV

Vorwort

19. Jahrhunderts und jener „in den Rang patriotischen Tuns erhobenen Philologie" nach, an der ROSENKRANZ in vermeintlicher Hegeltreue anachronistisch festhält. In den Beiträgen des Bandes sind zwar nicht alle Hinweise entwickelt, nicht alle wichtigen Beispiele des Zusammenhangs von philosophischer Ästhetik und geschichtlicher Wirkung der Kunst im Umkreis Hegels erörtert. Es werden aber symptomatische Beispiele aufgegriffen, die über Hegel und seine Zeit Aufschluß geben, die seine Ästhetik als Diskussionsbeitrag und philosophisches Argument in einer umfassenderen Bemühung um die Kunst — sei es um die Sammlung, ihren Genuß, sei es um ihre wissenschaftlich-historische Erschließung — erscheinen lassen.

WELT UND WIRKUNG VON HELGELS ÄSTHETIK

Hegels Ästhetik beschäftigt auf unterschiedliche Weise Philosophen, Literatur- und Kunstwissenschaftler. In der Literatur- und Kunstwissenschaft gehört es bereits zu den Selbstverständlichkeiten, aus dem Ideen-Steinbruch der Hegelschen Ästhetik etwas Passendes für die eigenen Grundlegungsfragen auszuwählen und Hegel affirmativ oder kritisch auszubeuten. Die Philosophen — wie nicht anders zu erwarten — streiten auch heute noch ums Grundsätzliche. Rettet man die Geschichtlichkeit der Vernunft, wird Hegels Anspruch hinfällig, mithilfe des Systems der Philosophie alle wissenschaftliche Erkenntnis, alles Wißbare über die Kunst zu begründen. Auf diese Weise reduziert sich die Ästhetik auf mehr oder weniger treffende, auf belanglose oder erfrischend-erfreuliche Kunsturteile. Bezahlt wird diese Aktualität der Hegelschen Ästhetik aber mit dem Verlust der Begründungsdimension. Soll man diese Kosten hinnehmen, um die mit dem systematischen Anspruch verbundene These vom Ende der Kunst aufheben zu können? Oder soll man um den Preis dieser kaum je akzeptierten Grundlage das »Philosophische" an der Philosophie der Kunst retten? Anstelle einer endgültigen Antwort auf diese Fragen findet man bislang Variationen des Versuchs, entweder Skylla oder Charybdis der Hegelinterpretation zu umschiffen — mit dem bekannten vor-odysseischen Ergebnis. Angesichts der zahlreichen Deutungen, Uminterpretationen und »Aktualisierungen", die Hegels Ästhetik bereits erfahren hat, scheint überdies die Hoffnung vermessen. Neues hinzuzufügen, bislang ungelöste Probleme lösen zu können. Dennoch hat sich die Forschungslage in letzter Zeit derart gewandelt, daß man hinreichend begründeten Anlaß für die Annahme findet, man könne selbst in diesem Werk Hegels noch unbekannte Aspekte entdecken, neue Perspektiven der Deutung und Wirkung erschließen. Alle bisherigen Interpretationen, die Kritik ebenso wie die Aktualisierungsversuche, stützen sich auf den Text der Ästhetik, den der Hegelschüler HEINRICH GUSTAV HOTHO nach Hegels Tod (1835) publiziert hat. Seit man sich eingehender mit den Hegelschen Vorlesungen beschäftigt, vor allem, seit die Arbeit an den heute bekannten Zeugnissen zu den Berliner Ästhetikvorlesungen (aus den Jahren 1821, 1823, 1826, 1828/29)1 voranschreitet, zeigt sich, daß die gedruckte Fassung 1 Hegels Ästhetik wird nach Hothos Ausgabe zitiert, unter Hinweis auf die erste bzw. zweite Auflage {Ästh. ■'”)• Die Vorlesungen werden nach den Manuskripten unter Verwendung folgender Siglen zitiert: Hothos Nachschrift von 1823 {Hotho 1823. MS.); die Nachschriften v. Griesheims {Griesheim 1826. Ms.), Kehlers {Kehler 1826.

VI

Einleitung

der AstheHk die Auseinandersetzung unnötig kompliziert hat. Vielfach setzt man sich nicht mit Hegels, sondern mit HOTHOS redaktionell geschönten Ideen zur Kunst auseinander. Greift man auf die Zeugnisse zu Hegels Berliner v4sf/irf/I:por/esMn^£« zurück, dann läßt sich der Streit leicht entscheiden, ob Hegels philosophisches System oder ob seine „Kunsturteile" der eigentlich aktuelle oder aktualisierbare Teil der Ästhetik seien. Es zeigt sich nämlich, daß der Trend zum philosophisch-untermauerten endgültigen Kunsturteil erst in den ästhetischen Überlegungen der Hegelianer einsetzt, daß er sozusagen ein Produkt der „Anwendung" Hegelscher Grundlagen auf die Kunstwissenschaft ist. Solche Gedanken finden sich z.B. bei ROSENKRANZ, sie finden sich bei F. TH. VISCHER, sie finden sich vor allem aber in HOTHOS „spekulativer Kunstgeschichte". Hegel — so zeigt es sich an seinen Vorlesungen über die Philosophie der Kunst — erschien die Trennung von Philosophie, Wissen über die Kunst und lebendiger Kunsterfahrung sinnlos und unfruchtbar. Er hat zwar an seiner Absicht, die Ästhetik als Teil seines Systems der Philosophie zu entfalten, nie Zweifel gelassen. Gerade aus diesem Grund verzichtet er auf die Rolle des „Kunstrichters". Es geht in der philosophischen Frage nach der Kunst nicht um letztgültige Kunsturteile anstelle der bloßen Geschmacks-Vorurteile von Laien oder Kennern. Stattdessen geht es um eine Sicht der Kunst aus der philosophischen Erörterung ihrer Bedeutung für den Menschen, näherhin noch für den Menschen in einer jeweils bestimmten geistesgeschichtlichen Situation und Konstellation, die Hegel mit seiner Bestimmung der „Moderne" umreißt. Der geschlossene systematische Entwurf der Philosophie der Kunst, der die „Weltgeschichte" der Kunst als Geistesgeschichte erschließt, hat den Hegel-Leser und -Forscher seit 150 Jahren fasziniert und verärgert zugleich. Sieht man die Ästhetik aber in ihrer Entwicklung, sieht man sie also aus der Sicht der Zeitgenossen, Hörer und Gesprächspartner Hegels, so erscheint sie als eine — zumindest der Tendenz nach — umfassend-begründete Analyse Ms.), eines Anonymus aus dem Besitz der Stadtbibliothek Aachen (Aachen 1826. Ms.), Löwes (Löwe 1826. Ms.), eines Anonymus aus den vormaligen Beständen der Marbacher Bibliothek (Marb. Bibi. 1826. Ms.); Libelts (Jag. Bibi. 1828/29. Ms. Blatt) und Heimanns (Heimann 1828/29. Ms.); außerdem eine Ausarbeitung, in der Kromayer verschiedene Nachschriften von 1823 und 1826 zum eigenen Gebrauch zusammenschreibt (Kromayer 1823/26. Ms.). Die Nachschriften befinden sich (in der Reihenfolge der Nennung) im Besitz des Hegel-Archivs der Ruhr Universität Bochum, der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin; der Universitätsbibliothek Jena; der Stadtbibliothek Aachen; der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz (Löwe und Marb. Bibi.); der Jagiellonischen Bibliothek Krakau; in Privatbesitz L. Hommel; Schiller-Nationalmuseum. Deutsches Literaturarchiv, Marbach.

Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik

VII

der „heutigen", der zeitgenössischen geistesgeschichtlichen Einschätzung der Kunst. Konstitutiv für diese Überlegung ist Hegels Absicht, mit der prinzipiellen philosophischen Deutung der Funktion der Kunst in der Menschheitsgeschichte zugleich die geschichtliche Entwicklung selbst auf den Begriff zu bringen. Bereits zur Zeit seines Heidelberger Aufenthalts gerät Hegel in den Strudel der „neuen Welle", der begeisterten Wiederentdeckung der alten Kunst. Es gehört in Heidelberg schlicht zum guten Ton, die Sammlung alter deutscher und niederländischer Bilder zu besuchen, die die Brüder SULPIZ und MELCHIOR BOISSEREE und BERTRAM 1810 von Köln übersiedelten.2 Schon der bescheidene Musentempel im Palais Sickingen gewährte Raum, sich andächtig in christliche Kunst und Lebensart zu versenken. Die Geschichte der Künste sollte mit solchen Sammlungen und durch die neue extra-ecclesiale Präsentation, wie F. SCHLEGEL, der Mentor der Brüder BOISSEREE, betonte, „lokale und nationale" Grundzüge akzentuieren. Zunächst heißt das, daß die Kunstgeschichte die eigenen Quellen nun ohne den generalisierenden Rückgriff auf das antike Schönheitsverständnis erschließen kann, schon bald wurde aus dieser wissenschaftlich-bescheidenen Version der Repristination der eigenen Vergangenheit aber eine neue Art der Kunstbesessenheit. Die Kunst der Väter soll den deutschen Charakter bilden, neue Künstler aus vaterländisch-christlichem Geist hervorbringen. Von dieser Idee in ihrer über Kunst- und kunsthistorisches Interesse erweiterten Version war kaum jemand schwerer zu überzeugen als GOETHE und mit ihm Hegel. Beide können die neuentdeckte alte Kunst in ihrer Schönheit und in ihrem eigentümlichen Reiz wohl akzeptieren, bleiben aber skeptisch hinsichtlich der an diese Entdeckung vergangener Größe geknüpften Zukunftshoffnungen. Hegel hat seine Ästhetikvorlesung 1818 unter dem Eindruck dieser Bedeutungssteigerung der Kunsterfahrung in Heidelberg zum ersten Mal gehalten. Er kündigt ein Jahr später für Berlin an, die Ästhetik von nun an von der Religionsphilosophie getrennt behandeln zu wollen. Dazu hat ihn sicher nicht allein die Stoffülle bewogen, sondern auch der Gedanke, daß die Kunst nicht auf einen Inhalt verpflichtet werden dürfe, der durch irgendeine — und sei es die christliche — Religion seine Letztgültigkeit und Ausschließlichkeit erhält. Nicht nur die Ästhetik als die philosophische Behandlung der Kunst und ihrer Geschichte wird selbständig, auch die je-geschichtlich-verschiedene Einheit von schöner Gestalt und bedeutVgl. dazu u. fl. H.-G. Gadamer: Hegel und die Heidelberger Romantik. In: ,Ruperto Carola'. 30 (1961), 97-105; O. Pöggeler: Hegel und Heidelberg. In: Hegel-Studien. 6 (1971), 65-133; A. Gethmann-Siefert: Die Sammlung Boisseree. Anspruch und Wirkung. ln: Heidelberg im säkularen Umbruch um 1800. Hrsg, von F. Strack (in Vorb.). Zu Hegels Berliner Wirken vgl. Hegel in Berlin. Katalog der Ausstellung. Berlin 1981. 2

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Einleitung

samem Inhalt wird in ihrer Eigenständigkeit berücksichtigt, je mehr Hegel seinen Überblick über das in und durch Kunst Mögliche erweitert. In Berlin schließlich hofft Hegel, eine endgültige Gestalt der philosophischen Behandlung der Kunst zum Druck bringen zu können. Es gelingt ihm auch, im Lauf der Jahre seine Ästhetik zu vollenden, allerdings nicht in der Form eines abgeschlossenen Kompendiums. An die Stelle eines systematischen Grundrisses der Welt der Künste setzt Hegel ein „work in progress", ein im lebendigen Diskurs verschiedener Vorlesungen fortgehendes Argumentieren um die geschichtliche Bedeutung, um die Funktion der Kunst in Vergangenheit wie Gegenwart. Mehr noch als in Heidelberg wird in Berlin die kulturelle Situation der Stadt die Gestalt der Ästhetik geprägt haben. Steht Heidelberg für Hegels Aufbruch zu einer eigenständigen Philosophie der Kunst, so steht Berlin für die intensive Interaktion von System und Geschichte, von philosophischer Reflexion und kultureller wie politischer Wirkung der Kunst. Der Hegel-Biograph KARL ROSENKRANZ beschreibt Berlin als eine Stadt, die von einem einzigen öffentlichen Interesse, der Kunstbegeisterung, beherrscht wird. Hier mußten Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Kunst auf jeden Fall Aufmerksamkeit und mit Sicherheit, wegen ihrer Grundthese vom Vergangenheitscharakter der Kunst, Widerspruch erregen. HEINRICH HEINE berichtet beispielsweise in einem Essay Über Polen, daß in Berlin eine Reihe von jungen polnischen Studenten „mit edler Wißbegier und musterhaftem Fleiße in alle Teile der Wissenschaften eindrangen, besonders die Philosophie an der Quelle im Hörsaale Hegels schöpften". Daß auch die Asthetikvorlesungen Ziel dieser Wißbegier waren, zeigt eine Spur, die nach Polen führt. In der Jagiellonischen Bibliothek (Krakau) befindet sich eine Nachschrift von KAROL LIBELT, der Hegels letzte Ästhetikvorlesung besuchte. LIBELT verfaßt später selbst ein System der Wissenschaft, in dem die Ästhetik einen unverzichtbaren Stellenwert einnimmt. Ein weiteres Beispiel solcher Nachwirkung Hegels liefert uns THEODOR MUNDT. MUNDT stand als einer der Begründer der Literaturwissenschaft bislang nicht im Brennpunkt des philosophischen Interesses. Auch er hat aber nach Erscheinen der Hegelschen Ästhetik seine Ästhetik publiziert, die im Aufbau große Ähnlichkeiten mit Hegels Vorlesung von 1826 zeigt. Diese Ästhetik zeugt davon, daß Hegels Vorlesungen nicht nur direkt, sondern auch indirekt, außerhalb der Mauern der Universität, wirkten. MUNDT wird sich selbst beispielsweise kaum als Hegelschüler betrachten, gemeinhin wird er dem Sturm und Drang zugerechnet. Immerhin stützt er aber die antihegelsche Grundthese seiner eigenen Ästhetik, die These von der unabschließbaren Zukunft der Kunst, durch einen Hegel entlehnten systematischen Aufbau. Mit Hegels Philosophie der Kunst muß MUNDT in einem jener Diskussionszirkel in Berührung gekommen sein, die sich neben Hegels Vorlesungen bildeten und in denen man es

Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik

IX

sich zur Aufgabe gesetzt hatte, entweder Hegels Lehre gemeinsam besser zu verstehen oder sie treffsicherer kritisieren zu können. Ein Kuriosum unter den Nachschriften zu Hegels Berliner Astheiikvorlesungen, eine Kompilation der Hegelschen Vorlesungen von 1823 und 1826, gefertigt aus entliehenen Nachschriften von K. KROMAYER, zeigt, daß in solchem, neben dem Universitätsbetrieb laufenden Wissensaustausch auch Material zu Hegels Asthetikvorlesungen unter den Studenten ausgetauscht und weitergegeben wurde. Es muß gang und gäbe gewesen sein, Vorlesungsnachschriften nachzuarbeiten und sich, selbst wenn man nicht zu den Hörern der Asthetikvorlesung gehörte, eine „Hegelsche Ästhetik" für die eigene spätere Bibliothek herzustellen. Bei aller Kritik an Hegel, vor allem an seiner Grundthese vom Ende der Kunst, konnte man es immerhin für sinnvoll halten, sich Hegels Bestimmung der Kunst, seine Reflexionen zur Bedeutung der Kunst in der modernen Welt in einer zumindest für die eigene Existenz und Orientierung über die Studienzeit hinaus gültigen Form aufzubewahren. Die Philosophie der Kunst als Leitfaden des ästhetischen Genusses, als Brevier des bürgerlichen Kunstenthusiasmus? — Wohl kaum! Denn Hegel ordnet sich mit seinen Vorlesungen zur Philosophie der Kunst nicht unter jenes „Uebermaaß ästhetischen Getreibes", unter jene „Allherrschaft der Kunst" (Ros. 349), die seine Berliner Umwelt prägte. Er nimmt zwar während seines Berliner Wirkens regen Anteil an Kunst- und Kulturbetrieb, erscheint aber in seinen Astheiikvorlesungen als der beharrliche Mahner, der aus geistesgeschichtlicher Begründung vor einer Überbewertung der kulturellen Rolle der Kunst warnt. Die Kunst ist ihrer höchsten Vollendung nach etwas Vergangenes; die Gegenwart ist nicht in der Lage, ein Kunstwerk auszubilden; die Kunst vergangener Zeiten und Völker kann nur bedingt als Quell und lebendiger Grund unserer eigenen modernen Kultur anerkannt werden. Ganz und gar unzeitgemäß erscheint jener Versuch, die vergangene Kunst der eigenen Nation als zukunftsweisende Kunst zu wiederholen oder durch die modernen Medien — Theater und Roman — zu aktualisieren. Denn (so wiederholt Hegel in der letzten Vorlesung zur Ästhetik die Grundzüge seiner ersten Neukonzeption der Enzyklopädie von 1827) die Religion des Christentums wie der moderne Staat sind über die Kunst hinaus. Ihre Erfordernisse übersteigen prinzipiell alle Thematisierungs- und Orientierungsmöglichkeiten der Kunst. Hegel hatte diese Einsicht seit seiner Jenaer Zeit (etwa in der Kritik der griechischen Tragödie) entwickelt,^ er bekräftigt den dort gewonnenen Standpunkt in seinen Astheiikvorlesungen durch immer eingehendere Analysen verschiedener Kunstwerke. ^ Die Entwicklung von Hegels Ästhetik in Jena hat zuerst O. Pöggeler dargestellt in seiner Interpretation von Hegels Theorie der Tragödie und in einer entwicklungsgeschichtlichen Studie: Hegel und die griechische Tragödie. In: Heidelberger Hegel-Tage 7 962.

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Einleitung

Gemeinhin kritisiert man diesen gesamten Komplex als »Klassizismus" und meint, Hegels Ästhetik dann retten zu können, wenn man System und Kunstbeurteilung, wenn man die Begründung alles Historischen im absoluten Wissen und die gelungene Charakteristik der Kunst voneinander trennt. Bei näherem Zusehen zeigt sich aber, daß die Vorlesungen zur Ästhetik bei keinem Hörer den Eindruck erweckt haben, es gehe Hegel um eine eingehende ästhetische Bewertung der Künste oder einzelner Werke unter Hintanstellung des philosophischen Systems. Hegels These vom Ende der Kunst kann nicht ohne Verlust übersprungen werden — ein Eindruck, den allenfalls die Druckfassung der Vorlesung bestärkt haben mag, nicht aber die unmittelbaren Vorlesungszeugnisse der Hörer der Ästhetik. Positiv genommen hat Hegels systematische Rigidität eine weitere, ebenfalls überraschende Folge. Hegel kann sich aufgrund seines geistesgeschichtlichen Interesses mit den verschiedenen Künsten und den verschiedenen kulturpolitischen Bestrebungen um die Kunst ideologiefrei auseinandersetzen. Gegen die Kultur- und Kunstbegeisterung seiner Zeitgenossen, nicht zuletzt seines Schülers HOTHO, stellt Hegel das staatsbürgerliche Interesse, näherhin das Interesse des Einzelnen, seine Selbstverwirklichung durch eine adäquate Institution garantiert zu sehen. Gegen die Annahme, daß der Bürger des modernen Staates seine Humanitätserfahrung in der Kunst vollende (diese Annahme hat HOTHO unter seinem eigenen Namen publiziert, sie findet sich aber ebenso in emphatischen Beschreibungen der Gefühlswirkung der Kunst in Hegels Ästhetik), setzt Hegel in den Vorlesungen eine nüchterne Analyse der gesellschaftlichen Wirkung und Wirkmöglichkeit der Kunst der Gegenwart. Seine Mahnung, von der Kunst nicht oder nur bedingt die Erfüllung des »Bedürfnisses nach Vernunft" (sc. des Aufklärungsinteresses der modernen Welt) zu erwarten, leuchtete zumindest den Hörern seiner Vorlesung ein. Hegels Philosophie der Kunst erweckt und fördert Offenheit für die unvoreingenommene Betrachtung aller Erscheinungen der Kunst und der Künste, die weltgeschichtlich bedeutsam waren und es in der (historischen) Reflexion der Kunst vermittels philosophischer Ästhetik wieder werden können. Anders als die Verfechter der Zukunft der Kunst, zu denen sämtlich die Hegelianer zu rechnen sind, tritt Hegel für einen modifizierten Kosmopolitismus der Kunst- und Kunsterfahrung ein. Er kann beispielsweise mit GOETHE gegen die vaterländisch frömmelnde Tendenz der Mittelalterbegei-

Hrsg. von H.-G. Gadamer. Bonn 1964, (Hegel-Studien. Beiheft 1.) 285-305; Die Entstehung von Hegels Ästhetik in ]ena. In: Hegel in Jena. Die Entwicklung des Systems und die Zusammenarbeit mit Schelling. Hrsg, von D. Henrich und K. Düsing. Bonn 1980 (Hegel-Studien. Beiheft 20.). 249-270.

Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik

XI

sterung zu Felde ziehen und der Spätromantik die eigenen Anfänge kritisch entgegenhalten. Die anfängliche Offenheit für die Mythologie der Weltkulturen, der orientalischen ebenso wie der okzidentalen Welt, geht mit der Konversion zum Christentum unwiederbringlich verloren. Hegels Stellungnahme gegen die Konzentration auf die nordische Mythologie, auf die Quellen germanischen Geistes, und seine Forderung, »monumenta nationum", die Zeugnisse der Wc/fkulturen zu sammeln und präsent zu halten, gewinnt ihren Sinn aus dieser Kontroverse. Unter solcher Rücksicht zeigt sich Hegels These vom Ende, vom Vergangenheitscharakter der Kunst in einem neuen Licht. Sie steht für seine geistesgeschichtliche Gewichtung verschiedener Kulturerrungenschaften, gegen eine unbedacht-unkritische Verabsolutierung des schöngeistigen Kunstinteresses. Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik lassen sich nicht unmittelbar rekonstruieren. Weil Hegels eigene handschriftliche Notizen zu den Ästhetikvorlesungen bis auf unzulängliche Reste verlorengegangen sind, muß man versuchen, durch den Rückgriff auf die Nachschriften und auf mittelbare Zeugnisse ein Bild der Intention und Wirkung der Philosophie der Kunst zu entwerfen. Aufgrund der speziellen Probleme, die Hegels Ästhetik unter historischen wie philosophischen Gesichtspunkten aufwirft, gewinnt neben der Rekonstruktion der Ästhetik zugleich eine Rekonstruktion der spezifischen Situation Bedeutung. Selbst die kontroversen Positionen, die Ästhetik des Gefühls und die spätromantisch verengte Re-zentralisierung der Kunst auf die Religion, werden für die Auseinandersetzung mit Hegel unmittelbar relevant, weil sie in den heute bekannten Text der Ästhetik eingeflossen sind. HOTHO, der die Vorlesungen nach Hegels Tod zum Druck bearbeitet und die bis heute in allen bekannten Ausgaben maßgebliche Textgrundlage lieferte, verflocht Hegels Gedanken unlösbar mit Elementen der geistigen Umwelt, sogar mit den Tendenzen, gegen die Hegel sich explizit richtete. So sind die Gedanken der Ästhetikvorlesungen in der heute bekannten Ästhetik oft kaum wiederzuerkennen. Umgekehrt lassen die Vorlesungsnachschriften und zeitgenössische Reaktionen auf die Vorlesungen Hegels Überlegungen in einem Licht erscheinen, das den gegenwärtigen Leser überrascht.

1. Kunstidee und Kulturpolitik Unter dieser Rücksicht erscheint das Experiment vielversprechend, die Wirkung der Hegelschen Ästhetik anhand der Vorlesungszeugnisse zu analysieren und die Ästhetik zugleich aus dem geistigen, kulturellen und politischen Kontext zu erhellen, in dem sie ihre endgültige Form gewann. Solche Überlegungen fußen auf den entwicklungsgeschichtlichen Änalysen der phi-

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Einleitung

losophischen Interpretation der Ästhetik,* gehen aber über die hegelimmanente Deutung prinzipiell hinaus. Es geht darum (zunächst vorbereitend anhand symptomatischer Beispiele und Probleme), über den Ort der philosophischen Betrachtung der Kunst im kulturellen Leben Aufschluß zu gewinnen, die Wirkung zu beleuchten, die Hegels Unterfangen, die „Zeit in Gedanken gefaßt" darzulegen, im Bereich der Kunst, der Kunstrezeption und ihrer Einbettung in die allgemeine Bildung gehabt hat. Hegel versetzte sein Philosophenkatheder nicht in den Elfenbeinturm des subtilen Raisonnements und seines selbstgenügsam-selbstgefälligen Gespinstes und begrifflichen Filigrans. Der Philosoph Hegel hatte sich von Anfang an kulturpolitisch engagieren wollen, sprach für und diskutierte mit Studenten, die, wie er selbst, vom kulturellen Leben Berlins und seiner Ausrichtung auf die Kunst geprägt, mit ihm die Frage nach der Bedeutung der Kunst für ihre eigene geschichtliche, vielleicht akzentuierter: für eine verantwortete Existenz als Bürger eines modernen, auf Vernunft gebauten Staates teilten. Seine Vorlesungen sind der systematischen Ästhetik gewidmet, sie sind Teil seines Systems des philosophischen Wissens. Dennoch erscheint das philosophische Raisonnement und Argument in der Form lebendiger, individueller wie kulturpolitischer Orientierungsangebote. Hegel setzt im einzelnen begründende Überlegungen gegen die Zeittendenz, das politische Interesse in das ästhetische aufzuheben bzw. das staatsbürgerliche Interesse im Kunstinteresse seinen Höhepunkt finden zu lassen. Diese Tendenz wird durch philosophische Quellen und Grundansichten gestützt, mit denen Hegel sich schon früher auseinandergesetzt hat. ScHELLiNG, der Diskussionspartner Hegels in seiner Jenaer Zeit, scheint „katalysatorisch" Hegels eigene Überlegungen zur Kunst herausgefordert zu haben. Zugleich mit ersten Festlegungen der Bedeutung der Kunst findet sich aber schon in Hegels Jenaer Reflexionen eine Kritik an der romantischen Konzeption. Hegel destruiert die Hoffnung der Romantiker, die SCHELLING teilte, man könne eine neue Dichtung der modernen Welt, ein neues Epos, im Mittelalter vorgezeichnet finden. Die Idee eines solchen Epos sollte mittels der historischen „Vor-Konstruktion" soweit vorgefertigt werden, daß prototypische Werke der Vergangenheit — unter Einberechnung geschichtlich sich ändernder Inhalte — wiederholbar erscheinen. SCHELLING wandte sich mit den Frühromantikern vom geläufigen Paradigma, der antiken Kunst, zum schönen Mittelalter, zum Gesamtkunstwerk der Renaissance: DANTES Göttlicher Kommödie. Hegel stellte sich schon 1803 gegen SCHELLINGS Thesen Ueber

Dazu A. Gethmann-Siefert: Die Funktion der Kunst in der Geschichte. Untersuchungen zu Hegels Ästhetik. Bonn 1984 (Hegel-Studien. Beiheft 25.). *

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Dante in philosophischer Beziehung, die dieser im gemeinsam herausgegebenen Kritischen Journal der Philosophie veröffentlichte. Hier wird das Kunstwerk, das

in exemplarischer Weise alle Künste und spezifischen Möglichkeiten poetisch artikuliert, das die Bildung des Zeitalters durch den Entwurf des genialen Individuums zur allen gemeinsamen Mythologie verschmilzt, als das gesuchte Urbild moderner Poesie ausgezeichnet. Hegel meinte dagegen eindeutig zeigen zu können, daß die Mythologie in der modernen Welt eine andere Rolle zu spielen hat als in der vor-aufgeklärten Welt der Antike oder des christlichen Mittelalters oder auch der spätmittelalterlichen Wiederbelebung der Antike, der Renaissance. Diese und frühere Überlegungen zum Verhältnis von Kunst und Geschichte, zur epochalen Differenz der Funktion der Kunst in der Welt des antiken wie modernen Staates, erweitert Hegel in seinen Asthetilcvorlesungen. Zunächst wiederholt er seine Jenaer Polemik gegen ein modernes Epos nun explizit in Auseinandersetzung mit SCHELUNGS „Urbild". Das Programm des „neuen Epos der modernen Welt" führt sich schon dadurch ad absurdum, daß sein strukturelles Urbild, die Göttliche Komödie, ein Werk der katholischen Welt ist. Eine solche Festlegung der "Mythologie" führt zur Fixierung einer poetisch-vermittelten Weltanschauung auf Inhalte, die dem Vernunftbedürfnis der modernen Welt zuwiderlaufen. ScHELLiNGs historische Konstruktion der zukünftigen Kunst im Rückgriff auf mythologische Inhalte, die weltanschaulich festgelegt und eingeschränkt sind, wiederholt sich für Hegel in den unzähligen Versuchen der Spätromantik, die deutsche Vergangenheit wiederzubeleben. Seine Kritik an diesen Versuchen liegt prinzipiell durch die These vom Vergangenheitscharakter der Kunst fest. Umgekehrt gewinnt aber unter einer solchen Perspektive diese problematische These einen vertretbaren Sinn, nämlich den des Festhaltens an der Geschichtlichkeit der Kunst und ihrer Wirkung. Hegel erörtert in seinen Ästhetikvorlesungen eine ganze Reihe weiterer Beispiele, an denen er zu demonstrieren versucht, daß die Kunst zwar nicht das einzige Interesse des modernen Bürgers sein könne, daß sie aber außerhalb der undifferenzierten Kunstbegeisterung und der spätromantischen Fixierung auf das Christentum bleibende Bedeutung behält. ScHELLiNGs Jenaer Ästhetik® war für Hegel ohne Zweifel das auslösende Moment und der Anlaß, seine eigenen, vorher noch in die Religionskritik integrierten Überlegungen zur Funktion der Kunst im Kontext einer „Mythologie der Vernunft" erneut zu überdenken. Die Revision dieser Ansätze führt Hegel zur Ausbildung der Grundkonzeption seiner Ästhetik. Gegen

’ Eine Nachschrift dieser Vorlesung wurde unlängst publiziert: Schellings Ästhetik in der Überlieferung von Henry Crabb Robinson. Hrsg, von Ernst Behler. In: Philosophisches Jahrbuch. 83 (1976), 133-183.

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Ende der Jenaer Zeit Hegels (1807) liegt die Ästhetikkonzeption formal wie inhaltlich fest.* Im gleichen Jahr, in dem er mit der Phänomenologie eine geschichtliche Sicht alles Erkennens gegen SCHELLINGS spekulative Konstruktion der Historie setzt, entsteht SCHELLINGS Münchener Akademierede. Nicht von ungefähr finden sich hier Parallelen und symptomatische Modifikationen in der Festlegung der Rolle der Kunst im Staat, sc. ihrer Bedeutung für das Vaterland, die noch die späte Berliner Situation prägen, in die Hegel sich mit seiner philosophischen Tätigkeit nach 1819 gestellt sieht. In Berlin hat sich für Hegel die frühe Diskussion mit SCHELLING ZU einer kulturpolitischen Kontroverse mit institutioneilen Folgen für die Kunst und ihre gesellschaftliche Funktion ausgeweitet. In seiner Münchener Akademierede konzipierte SCHELLING einen doppelten Bildungszweck der Kunst, durch den er ihre Funktion im modernen Staat festlegt und die Kunst als unverzichtbares Moment der modernen Welt sichert. Er wiederholt und erweitert zu diesem Zweck einen Gedanken, der sich auch in Hegels Jenaer Reflexionen findet. Hegel gilt das Kunstwerk als »das allgemeine Gut sowie das Werk aller", oder, wie er es unter direkter Bezugnahme auf SCHELLING in der Differenz-Schrift formuliert, als »Produkt des Individuums, des Genies, aber der Menschheit angehörend" (GW 4. 75). Zwar betont auch Hegel in dieser Zeit noch, »der Geist des Volkes... muß sich zum Werke werden" (GW 6.315, vgl. 317). Anders als im Staat ist aber in der Kunst diese Möglichkeit nur bedingt realisierbar. SCHELLING setzt sich über die Gründe hinweg, die Hegel zu einer Entflechtung der strukturellen Identität von Kunstwerk und Staat nötigen. Für ihn bleibt auch in der Gegenwart die Möglichkeit erhalten, durch die Kunst einen Staat zu konsolidieren. Aus dieser Überzeugung heraus formuliert er in der Akademierede eine Vorstellung allgemeiner Bildung, die das Genie als Resultat dieser allgemeinen Kunstbildung erscheinen läßt. Die Kunstakademie setzt sich den Zweck, den Künsten durch die Beziehung auf Nation und Staat zum »öffentlichen Dasein" zu verhelfen. Aufgrund dieser Einbettung schafft die akademische Bildung den (einen) großen Künstler aus dem allgemeinen Bewußtsein, und reformiert dieses Bewußtsein zugleich. Interessanterweise greift SCHELLING in der näheren Erörterung dieser Doppelrolle der Kunst im Staat in der Akademierede nicht auf eine vor-romantische Diskussion zurück, nämlich auf die Funktion der griechischen Polis als Kontrastbild zur Gegenwart. SCHILLER hatte in den Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen das Ideal eines gelungenen Staates mit glücklichen Bürgern herangezogen, um das Ziel des modernen Schauspiels als »morali* S. o. Anm. 3; Schellings Akademierede wurde neu ediert und mit einem Kommentar versehen von L. Sziborsky: F. W. ]. Schelling: Überdas Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur. Mit einer Bibliographie zu Schellings Kunstphilosophie. Eingel. und hrsg. von Lucia Sziborsky. Hamburg 1983.

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scher Anstalt" konkret benennen und historisch exemplifizieren zu können. ScHELLiNG geht es im Verweis auf PERIKLES' „Lob Athens" nicht mehr um jene radikale Kritik der bestehenden Verhältnisse, die der junge HöLDERLIN und Hegel in ihrer ästhetischen und religionskritischen Weiterführung der SCHILLERschen Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen im Auge hatten. Das Ideal des Systemprogramms erscheint zu diesem späteren Zeitpunkt schon als Ideal der Kunst, als eine Festlegung ihrer geschichtlichen Rolle für die moderne Zeit. Diese bruchlose Übertragung des Ideals, nicht der Kunstgestaltung, wohl aber der Kunstfunktion, verdient — wenn man diese Kritik überhaupt sinnvoll einsetzen will — eher als Hegels Entwurf des Griechenideals den Vorwurf des „Klassizismus". In ScHELLiNGS emphatischem Aufruf, dem Vaterland ebenso wie in der griechischen Polis durch die Blüte der Künste zu neuem Aufschwung aller gesellschaftlichen Verhältnisse zu verhelfen, geht die Vorsicht und Skepsis verloren, die SCHILLER durch die historische Perspektive in die Debatte gebracht hatte. SCHILLERS Hinweis auf die unterschiedlichen Wege, die die Kunst unter den radikal verschiedenen historischen Bedingungen in Antike und Moderne zu wählen hat, um zum vergleichbaren Resultat zu kommen, wird in ScHELLiNGs Übertragung dieser Reflexionen auf die aktuelle Situation nivelliert. Damit geht aber SCHILLERS Kritik an der undifferenzierten Griechenlandsehnsucht verloren. Sein Hinweis, daß man sich in der modernen Zeit die Griechen nicht zurückwünschen wollen könne, selbst wenn sie damals mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln die höchste Möglichkeit der Kunst und Humanität in die Realität umgesetzt haben, bleibt unbeachtet. Ebenso wird die Aporie der Konzeption der ästhetischen Erziehung überspielt, die SCHILLER explizit thematisiert. Ästhetische Erziehung wird nötig, weil ein Staat die Moralität des Einzelnen je schon voraussetzen muß, die er vermittels der Institutionalisierung der Freiheit und Menschheit erst sichern soll. Ästhetische Erziehung bleibt als politische Bildung aber aporetisch. Sie muß sich auf das Individuum richten und die Situation der „Zerrissenheit" im Entwurf eines Ideals vorläufig ausklammern. In seinen ersten Reflexionen, die er mit SCHELLINGS Hilfe in Jena zum System der Philosophie runden will, hatte Hegel versucht, der Konsequenz dieser Epoche zu entgehen und mit der Poesie als „Lehrerin der Menschheit" in der Forderung einer Mythologie der Vernunft den Rückweg aus der Welt des schönen Scheins in die Veränderung der geschichtlichen Realität anzutreten. SCHELLING überspringt dies Problem der Diskrepanz von Philosophie und Kunst, Philosophie und Leben. Im Gegensatz zur Skepsis des gegenüber dem Kunstenthusiasmus seiner Zeitgenossen resistenten Hegel erhebt SCHELLING die Kunst nicht nur zum „Organon der Philosophie", sondern mutet ihr wesentlichen Änteil zu an der Schöpfung einer neuen Welt in den Umbruchswirren der nachnapoleonischen Zeit.

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Für ihn schaffen staatliche Institutionen wie beispielsweise die Kunstakademie als Lehr- und Bildungsstätte die äußeren Bedingungen für die neue künstlerische Produktivität, die die Vollendung der Kunst ebenso wie die öffentliche Begeisterung für die Kunst tragen soll. Eine öffentliche Institution des Staates fördert nicht nur die Kunst zur neuen Blüte, sondern erneuert die geistige und sittliche Kraft der Nation. Zwar will SCHELLING alles vermeiden, was dazu führt, die Wiederholung der Wirkung der griechischen Kunst in der antiken Polis als bloß klassizistischen Abklatsch mißzuverstehen. Er selbst aber übersieht die Differenz zwischen antiker und moderner Welt ebenso, wie er SCHILLERS und Hegels Überlegungen zur Kulturdifferenz nicht beachtet. Diese Überlegungen führen aber sowohl die Konzeption der ästhetischen Erziehung als auch Hegels frühen Ansatz, in der Poesie die Vermittlung einer Mythologie der Vernunft gewährleistet zu sehen, in Aporien. SCHELLING setzt an die Stelle dieser grundsätzlichen Schwierigkeit seine hochgemute spekulative und historische Konstruktion. Wie die Kunst die Philosophie mit einem adäquaten Gegenstand versorgt, so steht der Verweis auf das Griechenideal, die historische Bildung des Künstlers, dafür ein, daß die geniale Neuschöpfung der Künstler zur Repristination einer universalen Funktion der Kunst im „Vaterland" führt. SCHELLING meint zwar noch, daß die geniale Neuschöpfung als Produkt der konservativ-historischen Orientierung akademischer Kunstbildung zu erwarten sei. Diese Hoffnung geht aber spätestens im Zuge der programmatischen Ausrichtung der Berliner Akademie der Künste verloren, obwohl diese sich ansonsten das Münchener Programm einer überregionalen und alle Bereiche von Kunst über Handwerk bis Genuß umfassenden Wirksamkeit zu eigen macht. Hegel trifft somit in Berlin eine vergleichbare Situation an, wie SCHELLING sie in München zu schaffen suchte. Die Akademie der Künste will eine Kunst des Bürgers und für den Bürger in allen Bereichen sowohl der historischen Bewahrung (was zur Museumsgründung beiträgt) wie der tätigen Erneuerung in den gegebenen Bahnen realisieren. In den zehn Jahren, die zwischen dem Entwurf des Münchener und Berliner Programms liegen, hat sich allerdings der geistige Hintergrund der Bestimmung der gesellschaftlichen Funktion der Kunst entscheidend geändert. An die Stelle der Frage nach einer Zukunftsorientierung aus vergangenem, geglückten individuellen wie gesellschaftlichen Leben ist der Rückzug auf gesicherte weltanschauliche Grundlagen getreten. Die Offenheit der Forderung einer „Mythologie der Vernunft", die Anerkennung der geschichtlichen Relevanz der Mythologie aller Kulturen, ist der ausschließlichen Bemühung um die eigenen Ursprünge in germanischer Mythologie und mittelalterlichen poetischen Quellen gewichen. Finanzielle Engpässe in der Kunstförderung haben das ihre getan, aus anfänglicher Not eine Tugend zu machen. Die schmale Staatsbörse erlaubte es z.B. nicht, eine mit dem Reichtum

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anderer Hauptstädte Europas vergleichbare Antikensammlung zur Bildung des bürgerlichen Kunstgeschmacks und zur akademischen Anleitung angehender Künstler beizuschaffen. Auch Ausweichs- und Ersatzvorstellungen, wie etwa VON BUNSENS Vorschlag, wenigstens eine unter historischem Vollständigkeitsinteresse unschlagbare Sammlung von Abgüssen zusammenzutragen, ließen sich nicht realisieren. So verfiel man auf die Aufbereitung jener Quellen, die — wohlfeil zugänglich und politisch gefahrlos brauchbar— die Vergangenheit des eigenen Vaterlandes in seine religiös-königstreue Zukunft zu verlängern helfen sollten. Hegel trifft also seine eigene frühere Forderung nach einer Mythologie der Vernunft in der Gestalt ihrer größten Perversion wieder: in der ideologischen Verengung auf bestimmte ausgewählte Mythologien. Er selbst sieht sich dadurch in seiner frühen Skepsis bestätigt. Die Mythologie, die die Ideen zwar ästhetisch und geschichtlich lebendig hält, bleibt in ihrer faktischen Wirkung unberechenbar, solange die Geltung ihrer weltanschaulichen Inhalte nur durch die Kunst, durch das Kriterium anschaulicher und nicht durch Bildungsgrenzen eingeschränkter Nachvollziehbarkeit gesichert wird. Hegel wiederholt die ScHELUNckritik seiner Jenaer Überlegungen, seine Skepsis angesichts der »Versöhnungskapazität' der Kunst im Konflikt sittlicher (gesellschaftlicher, nicht moralisch-individueller) Orientierungen, in den Asiheiikvorlesungen deshalb durch die These vom Vergangenheitscharakter, vom Ende der Kunst ihrer höchsten Wirksamkeit nach. Er sieht sich angesichts der faktischen Auswirkung der Kunstprogramme darin bestärkt, die Sicherung der Orientierung des Bürgers nicht durch die Kunst sondern mit Hilfe des philosophischen Systems herzustellen und zu gewährleisten, das dem Bedürfnis nach Vernunft eher zu entsprechen scheint. Anders als SCHELLING will Hegel, um die Realitätsferne der »spekulativen Konstruktion' zu vermeiden, die Kunst nicht mehr als »Lehrerin der Menschheit' schlechthin ansehen. Die Philosophie der Kunst kann der Kunst in der modernen Welt keine Rolle zuschreiben, die den Bürger eines modernen Staates in einer Weise auf weltanschauliche Orientierungen verpflichtete, daß er sein »Bedürfnis nach Vernunft' dem nach Sicherung und Handlungsgewißheit opfern müßte. Wollte man nicht allein die inviduell-private, sondern die öffentliche Bildung auf Basis der Künste gewährleisten, wäre diese Konsequenz allerdings zwangsläufig. Hegel transformiert deshalb seine frühere Hoffnung, eine neue Mythologie möchte als Kunst-Religion die Zeiten wenden, in die — im Blick auf die historische und kulturelle Situation der Kunst wohlbegründete — Einsicht, daß die Kunst kein zureichendes Mittel zur Wende des Geschicks der Moderne sein könne. Das Diskrimen der Hegelschen Ästhetik, seine These vom Ende der Kunst, läßt sich nur um den Preis aufheben, daß man die ideologiekritische Intention mitaufgibt und HERDERS Hinweis, daß die Kunst verschiedener Zeiten und

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Lebensräume eigentümlich gebildet sei, zur Annahme einer kulturinvarianten Wirkung der Kunst nivelliert. Nur wenn man wie SCHELLINC die historische Einsicht, das Eigengewicht jeweiliger Kunstentwicklungen, unterschätzt und das „Wesentliche" der Kunst in der modernen Welt anhand ihrer Funktion in der Antike oder Renaissance etc. „vor-konstruiert", bleibt die Konstellation des ältesten Systemprogramms erhalten. Wie sich in der Polis der Griechen durch die „schöne Religion", die die Kunst stiftete, die Sittlichkeit aller, ein geordnetes Staatswesen institutionalisierte, so soll auch im Vaterland der Deutschen durch die Wirkung der Kunst jene ästhetische Erziehung vom Kleinsten bis zum Höchsten gelingen. Historische Rückgründung (der Blick auf das alte Kunst-Ideal) verliert die Kraft der gründlichen Infragestellung; die Darstellbarkeit gegenwärtiger Entfremdung im Licht vergangner Vollendung führt nicht mehr zur Zeitenwende. Es mutet wie eine List des Weltgeistes an, daß sich diese zunächst in der philosophischen Diskussion entgegengesetzten Positionen, die emphatischsystematische Konstruktion und historisch gebundene reflektierende Infragestellung, noch einmal unter geänderten Bedingungen begegnet sind. Die Jenaer Kontroverse zwischen SCHELLING und Hegel ist mit der Trennung der Gesprächspartner keineswegs abgeschlossen. Hegel sieht sich im Gegenteil durch die Transformation des philosophischen Dialogs in eine kulturpolitische Situation gezwungen, seine Kritik an SCHELLING im Entwurf einer ihrerseits durchkonstruierten geistesgeschichtlichen Konzeption der Kunst zu vollenden. An die Stelle des argumentierenden philosophischen Gesprächspartners tritt die Auswirkung der programmatischen Festlegung der Rolle der Kunst im modernen Staat, getragen durch die allgemeine Kunstbegeisterung und die institutioneilen Maßnahmen, die Künste in der Gesellschaft zu verankern. In Berlin befehden sich spätromantisch beeinflußte Kunstauffassung und -begeisterung, die die Historie durch ihre Konservierung im Museum in die „deutsche" Zukunft verlängert, und Hegels Philosophenkatheder. Hegel erinnert im Abstand von jeweils einigen Semestern an die Grenzen einer Erneuerung aus der Vergangenheit und die Unzulänglichkeit einer Humanisierung aus dem hehren Gefühl — sei es auch das Gefühl der Kunst und für die Kunst. M.a.W., Hegel trifft mit seinen Berliner Vorlesungen zur Ästhetik auf eine Situation, in der sich gleichsam seine frühe Verteidigung der eigenen und rudimentären Ästhetikkonzeption gegen SCHELLINGS frühromantische Metaphysik im generalisierten kulturpolitischen Rahmen einer kunstfiebrigen Metropole wiederholt. 2. Die Geschichte als die neue Mythologie Wie wenig Hegels Streit mit den Romantikern ausgestanden ist, zeigt die unmittelbare Rezeption der Ästhetik bei seinen Schülern. Das bekannteste

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Zeugnis der Wirkungsgeschichte der Ästheiikvorlesungen, die gedruckte tik, enthält präzise die Kapitulation vor dem Zeitgeist, die Hegel vermeiden wollte. HOTHOS Publikation der Ästhetikvorlesungen weist — seit 150 Jahren unkenntlich — die typischen Spuren des Amalgams zwischen spätromantischer Kunstauffassung und Hegelscher Philosophie des Geistes auf, Spuren der Vereinigung ursprünglich kontroverser Positionen. Wahrscheinlich ermöglicht erst die Aufarbeitung sämtlicher Quellen zu Hegels Ästhetikvorlesungen einen genauen Einblick in das Ausmaß der Veränderung, die Hegels Vorlesungen auf dem Weg zum gedruckten Werk erleiden. Die Nachprüfung im Einzelfall führt aber schon jetzt mit geradezu verblüffender Regelmäßigkeit zu Hinweisen auf eine Modifikation ursprünglich Hegelscher Ansichten in der Rezeption durch seine Schüler und Anhänger, die eindeutig das Gepräge der kulturpolitischen Situation jener Stadt tragen, gegen deren Kunstbegeisterung Hegel kritisch die Besinnung auf das geistesgeschichtlich Bewegende gesetzt wissen wollte. HOTHO repräsentiert in diesem Zusammenhang jene für die Restauration typische, zwar liberale, aber in der politischen Effektivität auf das Kunstinteresse restringierte Bürgerlichkeit. Die exemplarische zeitgenössische Rezeption der Philosophie der Kunst bestimmt seit 150 Jahren auch die Diskussion um Hegels Ästhetik. Dieser Tatbestand trägt allerdings nicht dazu bei, das von ROSENKRANZ beklagte Faktum zu ändern, daß in Berlin das ästhetische Interesse die gesamte Sphäre des öffentlichen Interesses zu besetzen droht. ROSENKRANZ nennt zugleich die Gründe für die Absenz des politischen Interesses. Durch die »melodramatische Gespanntheit polizeilicher Untersuchungen" wurde kein »politischer Pathos' hervorgerufen, »und die planvolle kirchliche Politik, welche in der Hauptstadt des Preußischen Staates eine Art von Surrogat für den Mangel an politischer Bildung abgab, war noch in Versuchen begriffen, die erst seit 1827 sich entschiedener gestalteten". Hegel hätte ROSENKRANZ' Einschätzung, daß mit der Zeit »dies Uebermaß ästhetischen Getreibes auch in Berlin" verschwinden werde, daß es durch eine »religiöse Cultur" abgelöst werde, kaum unterschrieben. Kunst wie Religion erscheinen ihm nicht hinreichend gesichert, die geschichtliche Orientierung des Menschen in vernünftiger und einsichtiger Weise zu gewährleisten. Dazu bedarf es der Philosophie. Dennoch (vielleicht aber auch gerade weil er eine Wachablösung der ästhetischen durch die religiöse Kultur nicht als Fortschritt zu erkennen vermag) integriert Hegel ästhetischen Genuß und Bildungswert der Kunst in das Interesse des modernen Staatsbürgers. Es ging ihm immer darum, die Konstellation von Kunst, Mythologie (Religion) und Staat jeweiliger Epochen her- und darzustellen, aus der eine geistesgeschichtliche Einschätzung der Funktion der Kunst in ihrer Situation gewonnen werden kann. Diese Sichtweise führt Hegel selbst zur skeptischen Einschätzung der unmittelbar staatspolitischen Relevanz der Kunst im Kontext der modernen Welt. Bereits

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durch die Bearbeitung der Vorlesungen zur Ästhetik geht diese Einschätzung verloren, wird zumindest weniger klar ersichtlich als in Hegels sonstigen Überlegungen, etwa in der Enzyklopädie, und auch weniger als in den Vorlesungsnachschriften. selbst will Hegels ästhetische Konzeption in seiner spekulativen Kunstgeschichte zur Grundlage der Kunsthistorie erheben. Er vertritt in der Argumentation für die Tragweite dieser spekulativen Kunstgeschichte die gegenüber der Position Hegels undifferenziertere und harmlosere Variante eines zur Politik hochstilisierten Kunstinteresses. Zugleich fröhnt er einem klassizistischen Kunstgeschmack, den er mit Hilfe Hegelscher philosophischer Argumente, mit Hegel nachempfundener Kunstreise- und Kunsterfahrung und mit seiner eigenen Fähigkeit zum journalistischen Kommentar öffentlichkeitswirksam darstellt. Freilich werden im Zuge solcher Überlegungen auch Hegels Vorlesungsäußerungen verzeichnet im Sinne eines — wie HOTHO selbst sagt — »bürgerlichen" Kunstgeschmacks mit ausgeprägtem Sinn für den großen, nämlich christlichen, Inhalt und klassizistischer Vorliebe für die aus der antiken Schönheit herrührende vollendete Form. Die Interessenverschiebung, die darin zum Ausdruck kommt, darf HOTHO allerdings nicht als individuelles Manko angerechnet werden; sie ist für die Hegelrezeption überhaupt bezeichnend. Paradoxerweise liegt die Diskontinuität der Ansätze in einer vermeintlichen Identität des Anliegens, nämlich der gemeinsamen Konzeption der Inhaltsästhetik. Die Verknüpfung von Kunst und Mythologie, mithin die gesamte Konzeption der Gehaltsästhetik, erweist sich als ein äußerst fragiles Gebilde, dessen Balance zwischen Aufklärung und Ideologie nicht leicht — ersichtlich schon von Hegels unmittelbaren Rezipienten und Diskussionspartnern nicht mehr — gehalten werden kann. HOTHO

Hegel versucht in der Ästhetik, seine frühe Konzeption der geschichtlichen Wirkung der Mythologie, die im Programm der »Mythologie der Vernunft" als dem umfassenden Medium wie Instrument der Aufklärung ihren Abschluß fand, als Prinzip einer Geschichte der Künste zu entwickeln. In diesem Sinn grenzt er über die Festlegung des Ideals hinaus durch die Bestimmung der drei Kunstformen epochale Gegebenheitsweisen der Form-Inhalt-Synthese strukturell voneinander ab, ohne die verschiedenen Gestaltungen der Kunst in den Künsten in ästhetischen (Wert-)ürteilen gegeneinander auszuspielen. Offensichtlich vermochte er diese komplizierte geistesgeschichtliche Konstruktion nicht einsichtig zu machen, zumindest setzt sie sich nicht gegen den Willen zum System alles Wissens und zur christlich garantierten Totalität alles Wahren durch. In einem Text, der von der Wirkung der ersten Berliner Ästhetikvorlesung von 1820/21 Zeugnis ablegt, zeichnet sich die Modifikation der Frage nach

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der Mythologie der Vernunft in der frühen wie in der späten Version der Berliner Asihetikvorlesungen ab.^ F. FöRSTER greift Hegels Überlegungen auf, daß die klassische griechische Kunst und Mythologie Elemente der symbolischen Kunstform integriert habe, und charakterisiert diesen geschichtlichen Prozeß zunächst anschaulich als den Zug des Bacchus aus Indien nach Griechenland. Hegels Überlegung, daß in der geschichtlich geglückten Wahl der menschlichen Gestalt als Bild des Gottes die Möglichkeit liege, die »vorherrschende Gewalt der Naturmächte" zu bändigen, sie zu Attributen des Geistigen herabzusetzen, wird zu einer dialektisierten Systematik der Geschichte weitergesponnen. Die griechische Kunst nimmt die Mittlerrolle zwischen der „nur sinnlichen" Erleuchtung des Orients und der aufgeklärten „Erleuchtung durch die Vernunft" wahr. So weit könnte man doch Hegelsches Gedankengut wiedererkennen. In der Schlußfolgerung nimmt FöRSTER aber in der Tat jene Hegel immer vorgeworfene „Systematisierung" der Geschichte vor, die das Kunstphänomen unter der Vorgabe der präfigurierten Entwicklung und ihres endgültigen Ziels verzerrt darstellt. Es wird nämlich jeweils bei einzelnen Kunstwerken der klassischen Kunst ein Vorschein auf die analoge christliche Darstellung exegesiert. Der Zug des Bacchus von Indien nach Griechenland endet mit der Elimination der noch „zu natürlichen" Mythologie der Griechen durch die geistige Deutung, die ihre anschaulichen Elemente in christlichem Kontext erhalten. Der Faun mit dem Dionysosknaben, den auch Hegel erwähnt, exemplifiziert diese zweite, nun endgültige Integration der symbolischen vermittels der griechischen in die christliche Weltanschauung. So heißt es, ein „gutmütiger Faun" wiege „den zarten Bacchusknaben auf dem sichern Arme" und schaue ihn „mit der behaglichen Freudigkeit eines Josephs an, was der griechische Gott nicht gedurft hätte" (264). Hier spielt Hegels Gedanke mit, daß in der christlichen Kunst, daß in der romantischen Kunstform generell, das geschichtliche Individuum statt der menschlichen Gestalt zum Bild Gottes werde. Nur Griechenland, wie es in der Kunst, nicht im gelehrten ^ Inzwischen wurde die Ausarbeitung eines Studenten von der ersten Berliner Vorlesung Hegels 1820/21 gefunden und wird demnächst im Suhrkamp Verlag erscheinen. Es ist diese Vorlesung, von der Hegel Creuzer berichtete, daß er sie baldmöglichst zum Druck vorzubreiten gedenke. Dies Vorhaben blieb bis zuletzt unausgeführt. Von Anfang an muß Hegels Vorlesung aber die Gemüter bewegt, zu Weiterführungen angeregt haben, wie der in diesem Band (27 ff) nachgedruckte Text zeigt. Bezeichnenderweise finden sich schon hier in Andeutungen jene Verschiebungen und Modifikationen der Hegelschen Gedanken — die sich auch aus dem Vergleich der sonstigen bekannten Nachschriften zu den Ästhetikvorlesungen mit einiger Schlüssigkeit entwickeln lassen — die von den Hegelianern perpetuiert werden. — Die Seitenangaben im folgenden Text beziehen sich auf die Neue Berliner Monatsschrift für Philosophie, Geschichte, Literatur und Kunst. 1 (1821), 4. Heft.

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Antiquitätenkrämertum gegenwärtig ist, bereitet den Übergang von der heidnischen Mythologie zum christlichen Gehalt vor. Jeder andere Bezug auf Vergangenes und Fremdes erscheint demgegenüber unzulänglich, als Verlust des Lichts der Vernunft an das »unterirdische Reich der Naturmächte,... das Nebelland der Sagen und der dunklen Zeichendeuterei". Man meint Hegelsche Worte aus den Asthelikvorlesungen anklingen zu hören, sie sind allerdings in einer Weise von der geistesgeschichtlichen Analyse getrennt, daß Hegels Behauptung, die schönste Kunst sei die der Griechen gewesen, und seine Zurückweisung der geistesgeschichtlich-kulturellen Äquivalenz des antiken und mittelalterlichen Epos (wie es schon die Jenaer ScHELUNckritik vorbereitet) zu einer Charakteristik der schönen christlichen Kunst der modernen Welt und ihrer Quellen geraten. Was FöRSTER ein wenig atemberaubend und verwirrend, aber wohl in der Meinung, Hegels Anliegen weiterzutragen, in seinem »Bacchanal" der Mythologieteleologie zusammenspielen läßt, wird in HOTHOS späterer Editionsarbeit in Hegels Ästhetikvorlesungen bereits zum endgültigen Bild der Hegelschen Geschichtssicht umgemünzt. Unter Ausschaltung der mittelalterlichen Wirrungen spiegelt sich die moderne christliche Welt in antiker Schönheit und integrierter Geistigkeit. In unscheinbaren Vermischungen und Klitterungen jeweils situationsbezogen konkreter Überlegungen liegt der Keim für das Hegelianische Spektrum inhaltlicher Modifikation, liegen folgenreiche Verständnisnuancen, durch die Hegels Ästhetik in der Rezeption in ein anderes Licht als das seiner geistesgeschichtlichen Analyse der Kunst rückt. In übereifriger Vermischung der bei Hegel sorgfältig getrennten Argumentationsstränge wird Hegels Behauptung, die Wiege der modernen europäischen Welt liege im antiken Griechenland, nicht im finsteren Mittelalter, zu einer hegelianischen These über die Zukunft der Kunst im preußischen Staat umformuliert. Die folgenden Schritte der Hegelianer sind mit Sicherheit durch HOTHOS Bearbeitung der Ästhetik motiviert (so wie umgekehrt HOTHOS Editionsstil nur im Lichte dieser Weiterführungen verständlich ist). Dennoch liegen die Bedeutungsverschiebungen zwischen Vorlesung und Rezeption sozusagen in der „Berliner Luft", wie das frühe Zeugnis der Wirkung Hegels in Berlin belegt. Eine solche Kontamination Hegelscher Gedanken mit dem Hegelianismus erscheint im Blick auf die kulturpolitische Konsequenz einer Kunst und Kunsterfahrung, die sich unter Rückgriff auf die Geschichte konstituiert, harmlos; sie mag allenfalls in der gegenwärtigen Bearbeitung der Ästhetikvorlesungen zu philologischer Schockwirkung gereichen. Problematisch wird der Versuch, Kunsterfahrung als Geschichtserfahrung, Kunst als Fortsetzung der eigenen Vergangenheit zu konzipieren, in der Version eines ästhetischpolitisierenden Hegelianismus, den FRIEDRICH THEODOR VISCHER in seiner Ästhetik vertritt. VISCHER münzt kurzerhand die Kunstgeschichte zum Feld jenes

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Konfliktaustrags um, den er den umstrittenen Schlußpassagen der Hegelschen Philosophie der Weltgeschichte entnimmt. Hegels aus philosophischen Vorurteilen gespeiste Erklärung der Notwendigkeit des Krieges aus der geistesgeschichtlichen Unumgänglichkeit des Konflikts, der durch das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen mit je eigentümlicher politischer Formation und dieser zugrundeliegenden Orientierungen entsteht, gilt nun auch als Prinzip der Kunstgeschichte. Die Kunst wird zum Kampffeld für den Konflikt der gegensätzlichen Kulturen, die aus der katholischen bzw. protestantischen Religion als ihrer jeweilig orientierenden Mythologie entstanden sind, nämlich der romanischen und germanischen Welt. Über den deutschen Geschmack, über eine Ausbildung jener Kunst, die mit SCHELLING im „Wesen der Nation selbst fundirt" sein soll, bahnt sich der Weg zur geistigen und kulturellen Vormacht des germanischen Prinzips in Europa. Was Hegel in der Philosophie der Weltgeschichte zumindest in der Hinsicht vorsichtig äußert, daß es nur dem feststellenden, nicht-wertenden Blick des Geschichtsphilosophen zugeordnet erscheint, weitet sich, als Prinzip der Kunstgeschichte formuliert, zu einem befremdlichen politischen Aktionismus. Die Jiberalen' Hegelianer reden einer politischen Kunst das Wort, die später unter der Herrschaft des Nationalsozialismus und gegenwärtig (in zwar inhaltlich modifizierter Form) im Marxismus ihr Unwesen treibt. Für F. TH. VISCHER zieht, ähnlich wie für SCHELLING, die Reformation der Kunstgeschichte eine neue Kunst der Gegenwart nach sich. Diese neue Kunst ist Quelle und Zeugnis eines neuen nationalen Selbstbewußtseins und gewinnt — nun eindeutig in ideologischer Verfestigung der romantischen Debatte um die Möglichkeit des modernen Epos — politische Durchschlagkraft. Die „Mythologie der Vernunft" gerinnt zum Mythos einer idealisierten und zur nationalen Zukunft stilisierten „eigenen" Vergangenheit unter Aufrechterhaltung des Leistungssinns der ursprünglichen Konzeption: der Legitimation folgerichtigen individuellen und politischen Handelns. Hegels Einbettung der Kunst in die Geistesgeschichte wird bei VISCHER zwar über das Bildungsinteresse hinausgehoben, auf das HOTHO die Kunst beschränkt hatte. Er greift aber nicht auf Hegels umfassendere Position zurück. De facto erscheint in solcher Wiederbelebung schon Hegels Ästhetik als jenes Schreckbild eines Totalitarismus, zu dem seine Rechtsphilosophie zeitweise umgebildet worden ist. ViscHERs Konzeption entspringt keineswegs der Verirrung eines durch Hegel mißgeleiteten Schülers. Die Verengung des Hegelschen Ansatzes, die für seine Ästhetik konstitutiv wird, kann aus kulturpolitischer Konsequenz verdeutlicht werden. VISCHER selbst bringt sie in seiner eingängigen These zum Ausdruck, daß die Kunst erst mit dem Sinken ihrer religiösen Interessen steigen könne. Heute sieht man in VISCHERS These den Abschluß einer Entwicklung zur „Liberalität", zur Befreiung der Kunst von den Fesseln der Weltanschauung, die bei Hegel selbst begonnen haben soll und die in der

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Anerkennung der Autonomie der Kunst ihre Vollendung findet. Wie man an ViscHER sieht, führt dieser Fortschritt dazu, die Metaphysik der Kunst endgültig zu destruieren. De facto steigt aber mit der Entthronung des christlichen Gottes nur ein neuer Gott auf den Altar der Künste: die Geschichte. Sie wird zum Inhalt und Zweck der Kunst zugleich. Die inakzeptablen Konsequenzen des Paradigmenwechsels zeigen sich, was die Seite des Zwecks, die Seite der geschichtlichen Wirkung der Kunst angeht, in VISCHERS „Kunstgeschichtsschreibung" in aller Deutlichkeit. Für die immanente Zwecksetzung der Kunst bleibt der neue Inhalt aber ebenfalls nicht folgenlos. Gegenläufig zum philosophischen Anspruch, die Kunst sei in ihrer Bedeutung allererst zu erschließen, erhebt man die Kunst selbst — allen voran die Malerei — zur unmittalbaren, umfassenden und ausschließlichen Repräsentation vergangener Geschichte wie gegenwärtiger, moderner Kultur. Damit erscheint das Kunstwerk nicht mehr als Phänomen der Geistesgeschichte, als anschauliche Manifestation eines Geschichtsbewußtseins, sondern es ist die Geschichte und erhebt als geschichtliches die Geschichte zu seinem Thema. Was Hegel noch durch die philosophische Analyse jeweils symptomatisch unterschiedlicher Inhalt-Form-Symbiosen in der ästhetischen (schönen) Gestalt darzulegen versucht, nämlich die Einheit von Kunst und Mythologie als Gegebenheitsweise einer Weltanschauung geschichtlicher Individuen und Völker, nivelliert sich zum ästhetischen Phänomen. Die Kunst, zunächst programmatisch die Malerei, assimiliert sich ihrer eigenen Gegebenheitsweise und ihrem Zweck. Sie wird zum geschichtlichen Phänomen, das vermittels seiner Inhalte die Geschichte in die Gegenwartskultur „aufhebt", Vergangenheit und Zukunft in einer neugebildeten Gestalt mit der herrschenden politischen Ordnung und ihren Notwendigkeiten verknüpft. Hier liegt eine konsequente Überzeichnung jenes programmatischen Ansatzes, den ScHELLiNG bereits in seinem DANTE-Aufsatz konstruiert, und den er selbst — vorbildlich für die Berliner Akademie der schönen Künste — in Bezug auf die Malerei weiterentwickelt hatte. „Geschichte" ersetzt die „Mythologie", die nach SCHELLING die Bildung der modernen Welt im genialen Entwurf der schönen Gestalt umfaßt. Nicht ferne Götter regieren das Handeln des Menschen und bestimmen seine Welt, sondern — der Tat wie dem Effekt nach gesehen — der Mensch selbst. In SCHELLINGS „historischer Konstruktion" blieb das Manko solcher Konzeption noch verdeckt. Wie aber, wenn das Genie nicht der von Gott oder den Göttern Begnadete, der lizensierte Gestalter der modernen Weltanschauung ist, sondern schlicht ein „modernes Individuum", wie Hegel mit SCHILLER formuliert: ein Rädchen in der Maschinerie des modernen Staates? Es zeigt sich, daß die profanisierte Form der Genialität die Garantien für die postulierte Universalität der Kunst nicht mehr zu erstellen vermag. Auch die „Geschichte", der neue Gott, vermag den Anspruch seiner Diktate nur aus der Unumgänglichkeit der

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Faktizität herzuleiten. So zeigt sich, daß die Geschichte da zum Inhalt der Kunst erhoben werden muß, wo der Universalitätsanspruch, der Anspruch darauf, in der modernen Welt unverzichtbar und belangvoll zu sein, zwar nicht aufgegeben wird, aber nicht mehr legitimiert werden kann (oder muß). Die unüberschaubare Mannigfaltigkeit des Möglichen täuscht bei scheinbar freier Stoffwahl darüber hinweg, daß Auswahl zugleich Dezision und Determination bedeutet, wenn die gewählte Welt-„Anschauung" als der überlegene Wert vergangener Zeiten und ihrer Menschen für die zukünftige nationale Tugend allen zur Nachahmung „^ngesonnen" wird. Im Kunstgebrauch zur Orientierungsstiftung gewinnt die „autonome" Kunst zugleich immer feste Gestalt. Sie zeigt sich selbst jeweils in der Version, die der ihr unterstellten Form von Begründungsleistung und Kapazität am nächsten kommt. In der Malerei beispielsweise erscheint sie als anschaulich vergegenwärtigte, gelebte, zugleich aber universale Geschichte. Es rücken automatisch Sparten der Malerei in den Vordergrund, denen Hegel wenig Beachtung schenkte. SCHELLING bevorzugt die Historien- und Landschaftsmalerei als die moderne, liberale Form der Vergegenwärtigung der Geschichte. Freilich werden wenige Jahre später auch an der liberalen Münchener ebenso wie an der reglementierten Berliner Akademie in den Preisaufgaben für das Fach Historienmalerei Gegenstände der religiösen Geschichte als der geistig und gefühlsmäßig bedeutsamen Geschichte ausgelobt. Der Weg aus der ,AHtäglichkeit" in das „Bedeutende" ist offensichtlich nicht schwer zu begründen, wenn die Garantien für die Relevanz des Inhalts an entsprechender Stelle abgerufen werden können. Die vielbeschworene „Poetizität" der Malerei gewährleistet keineswegs — so versucht Hegel in seinen Aslhelikvorlesungen zu zeigen —, daß die Geschichte, wenn sie Gegenstand der Kunst wird, der Kunst selbst wieder zur Universalität verhelfen könne. In seiner KOGELCEN-Rezension legt er diese Argumente in Bezug auf die Malerei explizit dar. Der „eigentlich historische Stil" vereint Unvereinbares, nämlich die subjektiv-vereinzelnde Charakteristik und die Intention, das „Grundwesen", die Substantialität menschlicher Weltanschauung, generell und universal auszusagen. Die Unterstellung, daß diese Malerei „poetisch" sei, kann, so läßt Hegel in verschiedenen Überlegungen durchblicken, nicht als hinreichende Charakteristik ihrer umfassenden Bedeutung und ihres unverzichtbaren Stellenwerts für die moderne Welt gelten. Die Dichtkunst selbst verflüchtigt ihre Inhalte in die Innerlichkeit subjektiver Empfindung. Wird sie in das Medium der Malerei transportiert, so sprengt der Inhalt ersichtlich die schöne Gestalt (wie Hegel es anläßlich der Bilder der Düsseldorfer Maler ausführt) oder die „Substantialität" des Inhalts geht verloren, gerade weil die Malerei ihre Eigentümlichkeit, das Charakteristische darzustellen, aufrecht erhält (so Hegels KüGELGEN-Rezension). Mit solchen Überlegungen greift Hegel ohne Zweifel in die Berliner Geschehnisse ein. Es geht

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ihm nicht um polemische Verunglimpfung einzelner „moderner" Werke und Künstler, sondern um die Frage, wieweit die Kunst ohne Grundlage in der christlichen Religion, ohne den anerkannt „großen" Inhalt, verpflichtende Weltanschauungsweisen vorstellen soll. Die Museumsgründung und das Selbstverständnis der maßgeblichen Gestalter bestätigt ihm ein kurzschlüssiges Geschichtsverständnis ebenso wie die nur „partiale" Bedeutung der Kunst. Hegel betont, daß es hier nur um die historische Bildung des Einzelnen zu tun sei, nicht um ein Surrogat staatsbürgerlichen Handelns, sondern um ein Mittel der Vorbereitung des Individuums zum mündigen Gebrauch politischer Vernunft. Die Rolle der Kunst im Staat entspricht nicht ihrem in Stein gegossenen Selbstverständnis. Kunst kann nur individuell auf klären, keine nationale Tugend durch Tradition fester Werte gewährleisten. Der Streit der Hegelianer geht dann vom Grundsätzlichen in die Einzelheiten. Es stellt sich etwa die Frage, ob — wie MAX SCHASLER anläßlich des KAULBACHSchen Weltgeschichtszyklus im Berliner neuen Museum meint — der symbolisch-historische Kunststil der „philosophische" Kunststil sein soll, ob man diesen Kunststil der Moderne als realistischen Idealismus definieren solle, oder ob er — wie VISCHER gegen SCHASLER und CARRIERE betont — nicht vielmehr „idealistischer Realismus" sei. Selten ist ein Streit um Nuancen im sichereren Bewußtsein geführt worden, jeweils die Intention Hegels zu treffen, selten ist er weiter am eigenen Ursprung vorbeigegangen. Hegel konnte aus guten Gründen die Dokumentation der eigenen geistesgeschichtlichen Ursprünge nicht mit der inhaltlichen wie formalen Ausrichtung der Gegenwartskunst gleichsetzen. Er entkleidet das komplizierte museale Geschehen einer im Kunstwerk tradierten, im architektonischen Rahmen re-präsentierten Geschichte des Geheimnisses seiner Komplexität, indem er es auf die Bildungsfunktion restringiert. Dabei kann man Hegel nicht vorwerfen, daß er mit den Grundlagen und der Geschichtserfahrung, die zum Ausbau des neuen Tempels der Musen führte, nicht vertraut gewesen wäre. Die Wege der Kunstgeschichte, die Reiseliteratur, die im Anschluß an G. FöRSTERS Ansichten vom Niederrhein entstand, war Hegel von frühester Jugend an vertraut. Die Erfahrung der Landschaft, so wird dort ausgeführt, schafft den Rahmen für die Erfahrung der Architektur, diese wiederum stellt den Lebensraum für die Werke der Malerei. HOTHO entwirft im Anschluß an Hegel seine spekulative Kunstgeschichte als Einheit von Kunsterfahrung (sc. des Reisens als erlebnismäßig motivierter Quellenforschung) und literarischer Vermittlung, die auf neue Unmittelbarkeit, auf den lebendigen Nachvollzug zugeschnitten ist. Er führt diese Konzeption des Er-fahrens, Reflektierens und Neuerfahrens im literarisch geschlossenen Entwurf in seinen Vorstudien über Leben und Kunst am Don Juan exemplarisch vor, wiederholt sie aber in zahlreichen kleinen Kritiken und Charakteristiken aktueller Kunstereignisse in Musik, Malerei und

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Schauspiel. Im Focus dieser „Kunstgeschichte" erhält die Kunst philosophische Würde. Hegel steht in der Grundkonzeption nicht dem Konzept seines Schülers HOTHO nahe, der in an F. SCHLEGEL erinnernder Manier die Charakteristik historischer Kunst mit dem gegenwärtigen Gesollten verknüpft, sondern trifft sich eher mit der Konzeption CARL SCHNAASES. Der junge Hegel hatte sich aus FöRSTERS Ansichten vom Niederrhein jene Gedanken notiert, die nicht nur für das Verhältnis von Kunst- bzw. Lebenserfahrung und Kunsthistorie interessant waren, sondern für die Frage nach der kulturellen Entwicklung eines Landstriches, einer Landschaft überhaupt. Als zur Zeit von Hegels Berliner Wirken der Kunsthistoriker CARL SCHNAASE, der häufig unter die Hegelianer mitverrechnet wird, seine Niederrheinreise den Spuren FöRSTERS anschmiegt, wird eben diese kulturgeschichtliche Dimension wieder thematisiert. Auch für SCHNAASE bilden Reisebriefe die Basis seiner Kulturgeschichte der Kunst. Hegel selbst legt in zahlreichen Kunst- und Bildungsreisen die Grundlage für die philosophische Ästhetik seiner Vorlesungen. Immer wieder greift er hier auf diese Einheit von Kunsterfahrung, Kultur- und (neuerstelltem) Erlebnisraum zurück, so beispielsweise in seiner Auseinandersetzung mit FR. VON RUMOHRS Italienischen Forschungen. Bereits in Heidelberg hatte Hegel Gelegenheit, in der Ausstellung der Brüder BOISSEREE einen Versuch der neuen Symbiose von Architektur und Malerei im bewußt komponierten Szenario kennenzulernen. Im großen Stil begegnet ihm auch in Berlin im neuen Museum der Versuch, die Erschließungsfunktion des Architekturerlebnisses für die Kunsterfahrung aufrechtzuerhalten, die Geschichte des Sehens zur Geschichte des Geschmacks überhaupt zu erweitern bzw. den Kennergeschmack als Ausrichtung der Möglichkeiten des Kunsterlebens zu institutionalisieren. In der Gestaltung des neuen Museums spiegelt sich der für diese „Engführung" relevante Übergang von einer durch kulturelle Erfahrung gestützten Kunstgeschichte zur Kunstpräsentation als (geplantem) Schlüssel der Geschichtserfahrung wider. Es wird auf dem Boden der Künstlichkeit wiederholt, was in den großen kunstgeschichtlichen Entwürfen als kultürlich Gewachsenes dargestellt worden war. Einst fungierte die (Kirchen-)Architektur als Lebensraum und vermittelte die Sinnerschließung jener Bildwerke, in der sich die Weltanschauung eines Kulturraumes niederschlug. Im Museum eignet sich die Architektur diese Funktion wieder an, stiftet den Rahmen, in dem die Kunst der Vergangenheit erfahrbar wird, so jedoch, daß sie selbst durch ihre formale Gestaltung den richterlichen Impuls mitthematisiert. Anders als Hegel finden die Hegelianer ihr Interessengebiet dort, wo die klassische Architektur aus sich den Kunstgeschmack prädestiniert als unübersehbares Discrimen zwischen großer — was zugleich heißt: staatsbürgerlich bekömmlicher — Kunst und Unkunst. Kunstrichterliche Ambitionen der Kunsthistorie ä la HOTHO oder VISCHER übergeht der Philosoph Hegel

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ebenso wie deren Sedimentierung im neuen Kunst-„Werk", in einer Architektur, die an die Stelle des historischen Kommentars den unmittelbar-auratisch-erlebbaren Vollzugsrahmen bereitstellt. Den Hegelschülern wird die „gebaute Geschichte der Kunst", zum Raum des eigenen Lebens und des staatsbürgerlichen Wirkens. Der steinerne Reflex neuzeitlicher, um die historische Dimension bereicherter Kunsterfahrung degeneriert zum Vexierspiegel inhaltlich überfrachteter und zugleich verarmter, nämlich der Zukunftsdimension beraubter Orientierungen. An solchen Überlegungen zur Kunst und Geschichte, die, wie später der Marxismus, ihrem Selbstverständnis nach Hegels „Erbe" antreten, sein geistiges Vermächtnis wirksam werden lassen wollen, wird die Tragweite jenes Streites um die geschichtliche Funktion der Kunst ersichtlich, in den Hegel in Berlin hatte eingreifen wollen. Zugleich wird ersichtlich, wie wenig sich Hegels Position im Lauf der Zeit hat durchsetzen können, wenn schon im Kleid seiner eigenen Lehre die konträren Positionen ins Extrem gesteigert wieder auftauchen. Zwischen Hegels eigener früher Forderung einer „Mythologie der Vernunft", der Bestimmung der Kunst (Poesie) als „Lehrerin der Menschheit" und dem spätromantisch gefärbten Hegelianismus einschließlich der (gedruckten) Ästhetik ist der Sinn der These vom Ende der Kunst anzusiedeln. Die Kunst, die nicht mehr als Träger geschichtlicher Revolution, zumindest nicht mehr als Grundlage der gesamten — auch politischen — Weltanschauung gelten kann, darf zugleich nicht zum Instrument politischer Herrschaft, Vorherrschaft oder zum Meinungsgängel degenerieren. Jede Form der Institutionalisierung der Kunst im Staat hat, da sie in der modernen Welt, anders als im klassischen „Idealfall" als nachträglicher Eingriff, nicht als organische Entwicklung des Kunstvollzugs geschieht, diesen Charakter willkürlicher Steuerung. Besonders das Museum kann, geht man von der Konzeption der Museumsgründer aus, als Beispiel für die fatale Wirkung des Mythologieersatzes „Geschichte" angeführt werden. Geschichte und Fortschritt verknüpfen sich zur Restauration. Im Museum gerinnt die Geschichte zum Erfahrungsraum, der durch geplante Gestaltung subjektives Erleben und wissenschaftlich garantierte Über-Individualität auf Dauer stellt und so eine historische Version dieser Kömbination petrifiziert. Während Hegel zum Museum, näherhin zur historischen Konzeption der Gemäldegalerie (zur Absicht einer historischen Hängung der Bilder) in der Vorlesung von 1828/29 Stellung nimmt, übergeht er den Gesamtrahmen. Das ist schon darum erstaunlich, weil ihm SCHINKELS Museumsbau (so will es unser Vorurteil) wegen seiner Verpflichtung auf das Klassische eher genehm sein müßte als die Malerei des finsteren Alters zwischen Antike und Moderne. Diese kritische Nuance des gezielten Lobes unter Betonung der geistesgeschichtlichen Gewichtung des Kunstvollzugs entgeht schon den Zeit-

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genossen und selbst den engeren Mitarbeitern und Schülern Hegels. Nicht das Museum als Werk der Architektur, lediglich seine Funktion für die Kunst wird hervorgehoben; und diese wiederum nur unter dem Gesichtspunkt des Rezipienten. Der Tempel des neuen Gottes dient und gehört allen, die in der Kunst die Selbstverständigung über die eigene geistesgeschichtliche Situation, über die Möglichkeiten humaner Existenz suchen. Solche Überlegungen zeichnet der spätere Herausgeber der Ästhetik, HOTHO, in seiner eigenen Nachschrift von 1823 explizit auf, wo Hegel darauf hinweist, daß in der gesamten christlich bestimmten Welt, in der gesamten romantischen Kunst also, der Mensch der Mittelpunkt sei, dem die Kunst zu dienen habe. Anstelle der Kunstkritik unter dem Deckmantel philosophischer Unantastbarkeit entwickelt Hegel seine geistesgeschichtliche Betrachtung der Kunst etwa im Stil der ScHNAASEschen Gesamt-Kultur-Historie der Kunst. Ihm geht es über das historische Interesse hinaus aber um das Interesse der Aufklärung und Nachaufklärung, in der Kunst eine Orientierung des Ungebildeten wie Gebildeten, nämlich die Vorbereitung des mündigen Vernunftgebrauchs, zu entdecken. Unbeschadet seines philosophischen Vorbehalts, besser gesagt: gerade durch seine These vom Ende der Kunst und mit der Behauptung, im modernen Staat habe die Kunst nur partielle Bedeutung, protestiert Hegel gegen eine bloße Geschmacksbildungsrelevanz der in der Architektur versteinerten Historie. Durch die Einschränkung der Rolle der Kunst im Staat und die darin liegende Begrenzung der Kunst wie des Museums auf individuelle historische Bildung hält Hegels These vom Vergangenheitscharakter der Kunst die Spannung zwischen Ideal und Ideologie. So ließe sich zumindest eine aktuelle Version des Vergangenheitscharakters der Kunst als Neubesinnung auf das Verhältnis vom System und Geschichte gewinnen, ln diesem Rahmen werden zugleich die inhaltlichen Abgrenzungen interessant, die Hegel in immer neuen Anläufen durchdenkt. Er prüft nämlich seine These, indem er jeweils hypothetisch davon ausgeht, einzelne Erscheinungen der Kunst in der „Moderne" möchten dem Anspruch genügen, die Weltanschauung des Menschen über die Kunst zu formieren und zur politischen Lebensform zu institutionalisieren.

3. Die Poesie und der „menschlichere“ Mensch der Moderne Der Krieg der Schellingianer und Hegelianer in Berlin nach Hegels Tod entscheidet sich nicht durch die Qualität der philosophischen Argumentation, sondern durch die Wirkung des Zeitgeistes für die ersteren, für die Romantiker. Zumindest in der Beschäftigung mit der Kunst zeigen sich die Hegelianer in einer SCHELLING zuneigenden Weise systemorientiert und stimmen unbedacht in die von Hegel abgelehnte inhaltliche Festlegung der

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Kunst auf Gott und Vaterland ein. Der gute Sinn der kritischen Einstellung der Philosophie der Kunst läßt sich nur mit Hegels eigenen Überlegungen gegen die kulturell bedingte Überfremdung wieder zur Geltung bringen. Wichtig wird dabei vor allem die Prüfung der Hegelschen Argumente für die Funktionsdifferenz der Kunst in der alten und neuen Welt, im durch substantielle Sittlichkeit geprägten vor-aufgeklärten griechischen Humanismus und in der auf das Prinzip der Subjektivität gegründeten nach-aufgeklärten Moderne. Warum kann die moderne, nicht-substantielle Geistigkeit nicht zugleich eine ihr entsprechende Kunst hervorbringen? Immerhin entfaltet sich im Zuge der Ausbildung des Selbstverständnisses der modernen Welt ein neues Verhältnis zur Geschichte. Die bildende Kunst der Vergangenheit wird „verwandelt bewahrt" im Museum, die Poesie aller Zeiten und Völker zur Kenntnis genommen und angeeignet. So möchte die Kunst der modernen Welt den substantiellen Bodensatz geschichtlicher Erfahrung zur Subjektivität sublimieren. Hegel sieht diesen Aspekt und versucht, ihm durch die ünterscheidung von lebendigem Kunstvollzug und dessen Wiederaneignung, dessen Neuvollzug durch die historische Reflexion, gerecht zu werden. Der ünterschied der modernen von der alten Welt liegt in der bloß substantiellen Gegebenheitsweise des Geschichtsbewußtseins hier gegenüber der subjektiven Vermitteltheit dieser Substantialität in der modernen Welt. Die Kunst bleibt strukturell und funktionell gleich, sie kann mit Hegel als substantielle Geschichtlichkeit charakterisiert werden. Die Defizite dieser Möglichkeit geschichtlicher Wahrheitserfahrung kennzeichnet Hegel aber schon an seinem exemplarischen Beispiel für die schöne, weil universal bedeutsame Kunst, nämlich an der griechischen Tragödie. Schon die antike Tragödie erscheint als Thematisierung eines Versöhnungsdefizits im Sinne einer Verwiesenheit auf die stützende Deutungsleistung der Religion (des griechischen Schicksalsglaubens). Erst recht kann diese Gegebenheitsweise geschichtlichen Bewußtseins unter Bedingungen der modernen Welt nicht als zureichend gelten. Andere Weisen des Explizitheitsgrades von Geschichtsbewußtsein (zumindest das „Bedürfnis nach Vernunft") verlangen geänderte Vermittlungen. Es wäre allerdings zu simpel, Hegels Einsicht im Sinne der Autonomie einer nicht mehr substantiellen Kunst, eines nicht mehr mit SCHILLERS Forderung nach der Realisation der Humanität verknüpften Kunstzwecks umzudeuten. Hegel geht es nach wie vor nicht um die „Autonomie" der Kunst, sondern darum, daß Kunst, die die Bildung ihrer Zeit anschaulich vergegenwärtigt, als konstitutives Moment einer geschichtlichen Kultur begriffen wird. Diese Kunst ist weder der getreue Spiegel der gegenwärtigen Welt noch autonom im Sinne der ünabhängigkeit von „ihrer" Zeit. Hegel stellt sich immer wieder die Frage, ob es die von SCHELLING und der frühen Romantik geforderte Kunst der modernen Welt geben möchte und

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welche ihrer Erscheinungen man als gelungene Beispiele ansehen dürfte. Ein wesentlicher Unterschied zwischen substantieller Kunst und Weltverhältnis, das ihr entspricht, zwischen der vor-romantischen und romantischen Welt, liegt für Hegel in der Tatsache, daß die moderne Welt zumindest gezwungen ist, die vergangene Kunst verwandelt zu bewahren, will sie sich über den Sinn der Kunst Klarheit und über die Variationen der geschichtlichen Bedeutungen der Kunst einen zureichenden Überblick verschaffen. Die Geschichte als ganze wird zum Thesaurus menschlicher Möglichkeiten, wird finalisiert auf die Humanisierung der eigenen Welt. Wenn Hegel in philosophisch-geistesgeschichtlicher Konstruktion die orientalische Poesie, HOMER und die Nibelungen unter dem Modell einerseits der Welt-Stiftung durch Kunst darstellt, andererseits unter dem Modell der Aneignung des Fremden in historischer Reflexion vergegenwärtigt, dann steht die scheinbare Ungeschichtlichkeit dieser Konstruktion für das Programm ein, daß Hegel letztgültig erst durch die Philosophie der Geschichte einzulösen meint. Er nutzt dabei Einsichten, die CORNELIUS in seinen Fresken realisiert, die KAULBACH aufgreifen wird und auf die V. HUGO hinweist: Die Kunst macht die Geschichte der Menschheit sinnenfällig als Kulturgeschichte. Dieser Gedanke formiert sich im Geiste Hegels jeweils durch unterschiedliche Versionen der Verknüpfung von Kunst und Mythologie. Er exemplifiziert die Zwangsläufigkeit dieser Verknüpfung, den Nerv seiner Inhaltsästhetik, so, daß die Konvergenz von Kunst und Kultur, von Kunstgeschichte und Kulturgeschichte, die mit der Antike historisch benennbar werden soll, als „Ideal", weil umfassende geschichtliche Funktion der Kunst erscheint. Diese Konstruktion enthält aber anders als bei den Hegelianern keine Wertung der Geschichte, etwa im Sinne der Aufwertung der klassischen Vergangenheit. Hegel versucht, die moderne Welt gegenüber der substantiellen, durch die Kunst gestifteten Sittlichkeit der Antike nicht bloß negativ zu fassen, verdünnt zur nicht-substantiellen Welt. Sie erscheint als eine Welt, in der die leitenden Orientierungen zugleich lebendig vollzogen werden und gelten, in ihrer Legitimität gerechtfertigt erscheinen. Die Kunst ist nur darum „vergangen", weil sie selbst diese Rechtfertigung nicht hervorbringt, weil sie im Stiften einer Weltanschauung lediglich unmittelbar orientiert und aus neuer Quelle leben läßt. Die geschichtliche Pluralität solcher Orientierungen der Gegenwart, die Vielschichtigkeit und Beliebigkeit der bekannten möglichen Symbiosen von Kunst und Mythologie läßt aber den Einzelnen hilflos. Soll nicht die politische Doktrin über die zulässigen „Substantialitäten" der Orientierungen entscheiden, dann bedarf es der zusätzlichen Verbindung der Kunst mit der Philosophie. Ohne die philosophische Reflexion kann die Kunst der Gegenwart ihren Anspruch, geschichtliche Wahrheit zu vermitteln, nicht aufrechterhalten. Die Moderne ist das Zeitalter der Philosophie, auch der Philosphie der Kunst.

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In diesem Sinne prüft Hegel dann in der philosophischen Ästhetik die Kunst, näherhin verschiedene Phänomene, die als Kunst gelten mögen und sich der weltanschaulichen Orientierung im Sinne des ScHELUNGSchen Entwurfs (im Sinne des „modernen Epos") für mächtig halten und zur Verfügung stellen. Die Kunst wird — so gesehen — in der modernen Welt zum beiherspielenden Phänomen, ihre Bedeutung wird „partial". Aber sie bleibt eine „substantielle" Orientierung in dem Sinn, daß sie an die Stelle belangloser Information über das Innenleben der Individuen die Frage nach der Humanität menschlicher Lebensmöglichkeit in einer Kulturwelt setzt. Da diese Version der Vermenschlichung der Welt durch die Kunst, der Verzwecklichung der Kunst unter die Humanität der geschichtlichen Kultur, schon bei den Hegelianern in jene Bahnen gerät, die gegenwärtig den gesamten Ansatz unakzeptabel erscheinen lassen, bleibt genau zu erörtern, ob und wieweit die Definition der Kunst als Kulturmoment nicht eo ipso nur Kunst als anschauliche Ideologie meinen kann. Hätte nicht eine nicht-substantielle „autonome" Kunst zumindest den Vorteil größerer Nähe zur rechtfertigenden Reflexion der Philosophie? Hätte sie nicht die allein hinreichende Distanz zum alltäglichen wie politischen Leben, die ihre kritische gegenüber der Orientierungsfunktion erfordert? Anhand der Hegelschen Überlegungen stellt sich diese Frage zunächst als die Frage nach Unterscheidungsmöglichkeiten der Verknüpfung von Kunst und Mythologie. Hegel gewichtet verschiedene in der Gegenwart als Mythologie, als Substantialität einer Weltanschauung vorgeschlagene und vorkommende Orientierungen, diskutiert aber dieses Problem in anderer Weise als seine Schüler und Nachfolger und auch als seine Kritiker. Es geht ihm in der Äsiheiik nicht allein um die Integration der Mythologie überhaupt in die Kunst, sondern immer noch um seine vor aller systematischen Verfestigung der Ästhetik im Systemprogramm von 1797 geforderte „Mythologie der Vernunft". Was die Mythologien der Weltkulturen als „vernünftig" auszeichnet, ob sich eine Hierarchie der Mythologien hersteilen lasse, entscheidet einerseits die philosophische Konfrontation der jeweiligen inhaltlichen Orientierung mit dem nachaufklärerischen „Bedürfnis nach Vernunft". Die ästhetische Kritik entscheidet andererseits, ob solche Gestaltung noch „schön" genannt werden kann; mit Hegel philosophisch thematisiert: ob sie in anschaulicher Aufklärung die Gebildeten und die Masse vereint. Es geht also in der Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Mythologie um eine Funktion der Kunst, die SCHILLER in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung formuliert hatte, die HöLDERLIN in engem Kontakt zu Hegel als Ideal der Volkserziehung hatte entwerfen wollen. Hegel wiederholt deshalb auch im Zuge seiner Auseinandersetzung mit der Kunst und Mythologie der Weltkulturen ein Problem, das er zu Beginn seiner eigenen philosophischen Reflexion schon in der KLOPSTOCKkritik angeschnitten hatte. Die Kunst muß eine „Gestalt" fin-

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den, die die möglichen Anschauungen und Meinungen zur Weltanschauung rundet; genauer, sie muß eine gestaltete Weltanschauung stiften, die, ohne die Vielen zu überfordern, die Gebildeten nicht langweilt und abstößt. Diese beiden Gesichtspunkte, die durch die Kunst vermittelten geschichtlich verschiedenen Weltanschauungsweisen und die Möglichkeit, in der modernen Welt Kunst und ihre inhaltliche Aussage (Mythologie) in vertretbarer Weise zu verknüpfen, erörtert Hegel als das Verhältnis von Form und Inhalt. Strukturinvarianz der Kunst (ihre Orientierungsfunktion oder der Anspruch auf geschichtliche Wahrheit) wie ihre kulturelle Varianz müssen gleichermaßen berücksichtigt werden. Diese Einsichten leiten Hegel in der Differenzierung verschiedener geschichtlicher Formen der Symbiose von Mythologie und Kunst, d.h. sie liegen der Definition der drei Kunstformen zugrunde. Hegel versucht hier kulturvariable, der jeweils geänderten geschichtlichen Situation abgelauschte Versionen der „substantiellen Subjektivität" sc. des in, durch und als Kunst gegebenen geschichtlichen Bewußtseins festzuhalten. Vielleicht kann gerade in der gegenwärtigen Diskussion um die Kunstautonomie Hegels Bestimmung der Kunst ein heilsames und nötiges Korrektiv gegen die Entsubstantialisierung abgeben. Letztlich entwirft auch die Autonomiethese die Kunst nur nach philosophischem Leistungssinn, nämlich dem der Kritik. Hegel kann demgegenüber zwei Einschränkungen geltend machen, die die Kunst als Kunst, nicht nur als Reflexionsphänomen spezifizieren. Die Gegebenheitsweise geschichtlichen Bewußtseins als Kunst bleibt die der vorreflexiven „Anschaulichkeit". Auf deren „Substantialität" aber kann nicht verzichtet werden, will man nicht zugleich den Anspruch aufgeben, alle Menschen auf eine noch nicht wissenschaftlich esoterische und damit auf ihre Art voraussetzungshafte Weise anzusprechen. Kunst bleibt nur als Weltanschauungsweise, als Vorschlag, die Welt im Ganzen auf eine bestimmte, durch die individuell-subjektive Sicht synthetisierte Weise zu sehen. Ohne „Substantialität" wenigstens im Sinne dieses Sinnangebots oder Deutungsvorschlages kann die Kunst nur unverbindliche, selbstgenügsame Spielerei — mit freilich überraschenden Möglichkeiten der Materialformung — bieten. Gerade Hegel betont, bewußt und gezielt über SCHELLING und die Romantiker hinausgehend, diesen bloßen Vorschlagscharakter subjektiv vermittelter Substantialität und — für die Moderne — zugleich das Bewußtsein von solcher Vorläufigkeit, mag er seine Einsicht auch als These vom Ende der Kunst durch eine mißverstehbare pejorative Konnotation der unvoreingenommenen Diskussion entzogen haben. Man könnte dieselbe Einsicht in den Vorschlagscharakter aller „Mythologie der Vernunft", die sie für Hegel gerade durch ihre Gegebenheitsweise als Kunst erhält, auch positiv formulieren mit seiner Behauptung der Angewiesenheit der Kunst auf die philosophische Reflexion.

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Auch diese Version erscheint selbst heute noch als heilsame und nötige Mahnung, weil die Philosophie das Bedürfnis nach Vernunft durch eine allzugroße Bereitschaft, erneut in den Mythos zurückzusinken, aufs Spiel setzt. Der Mythos und mit ihm die Mythologie, die inhaltlich-anschauliche, lebendig nachvollziehbare Deutung der Welt im Ganzen (bzw. als Mythologie der Vernunft: der Entwurf der humaneren Welt in Bild wie Wort) bleibt aber als geschichtliches Faktum vielschichtig, vieldeutig und kann keineswegs in jeder ihrer Ausformungen gleich-gültig sein. Hegels These vom Ende der Kunst enthält so als letzten Reflex einer vergangenen, unbefangenen und vernunftgläubigen Umgangsweise mit der Mythologie (der Form geschichtlichen Bewußtseins nicht nur in der Geschichte, sondern durch Geschichten) ein Bekenntnis zur aufklärerischen Behandlung der Mythologie. Wie die Aufklärung beharrt Hegel auf der Einsicht, daß „substantielle Sittlichkeit", daß inhaltlich ausformulierte Handlungsorientierung bzw. Lebensbewältigungshilfe dem Interesse an Freiheit und mündigem Vernunftgebrauch mehr oder minder entsprechen kann. Seine Forderung einer „Mythologie der Vernunft", in der er die Essenz seiner frühen Reflexionen zusammenschloß, gerät im Klima der künstlerisch-kulturbeflissenen Berliner Umwelt zur Anmahnung der Angewiesenheit der Kunst auf die — ihre Aussage präzisierende, ihre Orientierungen abstrakt prüfende — Reflexion. Es bleibt die Frage, wieweit Hegel in seinen späteren Ansätzen, in der inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Künsten, ihrer unterschiedlichen Funktion in abendländischer und orientalischer Kultur, diese frühe Bestimmung der Kunst bzw. Phantasie als Mittel zur Humanisierung der Welt offenhält, wieweit er sie gar so stringent zu formulieren vermag, daß sie dem gegenwärtig florierenden Überdruß an der Vernunft in Form klärend-prüfender Rationalität entgegengehalten werden kann. Die Mythologien liefern Weltanschauungsweisen, aus deren Kontrast und Konfrontation die Bürger moderner Staaten die eigenen Fragen nach dem ihnen zugemessenen „Ort" in der Geschichte und nach dem angemessenen Handeln wenn nicht zu beantworten, so doch zu artikulieren lernen könnten. Eine Version dieser geschichtlichen Vergewisserung entwickelt die Kunstphilosophie als Reflexion auf die Kunst; eine Möglichkeit enthält die Kunst selbst, die sich —weil substantiell — für Geschichte, für Fremdes aus fremder Kultur öffnet. Beides in eins gesetzt erörtert Hegel in zahlreichen Anläufen inanen Ästhetikvorlesungen, immer im Horizont der These vom Ende der Kunst, oder — wie man in weniger irritierender Formulierung denselben Sachverhalt umschreiben könnte — in Verfolgung seiner ursprünglich leitenden Frage, ob es eine Mythologie der Vernunft gebe und wie sie sich als solche (nicht durch bloße Einstimmung in das Zustimmungsansinnen jeglicher durch göttliches Vorbild sanktionierten Weitsicht) legitimieren ließe.

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Oft wurde kritisch bemerkt, daß Hegels Ästhetik, wo sie sich mit der Kunst der Gegenwart überhaupt ausführlich beschäftigt, vordringlich eine philosophische Analyse der Poesie entwickle. Auf dem gekennzeichneten Hintergrund gewinnt diese Konzentration einen neuen Sinn. Allein in der Poesie scheint die Festlegung der Kunst auf die vergangene Geschichte aufgehoben, allein hier wird das Zirkeln von Kunstgeschichte, Kunstkritik und Kunst, wird die Festlegung der Kunstinhalte auf Geschichte als Vergangen-Bewährtes, aufgehoben. Die Poesie ist die geistigste der Künste, betont Hegel. In der Poesie, im Wort der Dichter erscheint die Geschichte als Prozeß — und zwar als Prozeß der Freiheit des Handelns in Kollision mit der Notwendigkeit und quasi naturhaften Bedingtheit alles menschlichen Tuns. Die „Geschichte" als Inhalt der Poesie muß, anders als in den bildenden Künsten, nicht alte(s) Heilige(s) aufbehalten, sondern sie erhebt den Humanus zu ihrem neuen Heiligen: jenen Menschen, der um seine Humanität und deren Verwirklichung handelnd ringt. SCHILLER und GOETHE versuchen für Hegels Verständnis, im poetischen Entwurf die Überlegung durchzuspielen, wie man Religion/Mythologie und schöne Kunst als Errungenschaften humaner Kultur in der Frage nach der geschichtlichen Selbstverwirklichung des Menschen verfügbar halten könnte. Hegel wiederholt in seinen Vorlesungen bei der Behandlung der Poesie seine alte anfängliche Frage nach der Mythologie der Vernunft in Form einer geschichtlichen tour d'horizon. Die Urpoesie, die der Welt symbolischer Kunst zugehört, ebenso wie ihre klassische Version im HoMERischen Epos, die Fortbildung epischer Poesie unter Bedingungen der mittelalterlichen Welt sowohl des christlichen Glaubens wie der orientalischen Religionen, die reflektierteste Form der Poesie in Tragödie, Komödie und modernem Drama und in überraschender Wendung die Frage nach jenem alle Gattungen vereinenden Kunstwerk (dessen Urbild SCHELLING in DANTES Göttlicher Komödie gesehen hatte) — ein Kaleidoskop poetischer Entwürfe schließt sich in Hegels Asthetikvorlesungen zum System poetischer Weltanschauung. Allerdings ist es nicht um die an Hegel immer kritisierte Überfremdung der Geschichte durch das System zu tun. Die Frage nach der Möglichkeit einer vollendeten Kunst der Moderne wird zum Leitfaden der Frage nach der Bedeutung der Kunst für den Menschen, zu einem Leitfaden, der das Heterogenste unter eine sinnvolle Einheit faßt. Ist damit die Poesie die philosophische Kunst? Gelingt vielleicht erst in der Poesie die bruchlose Durchführung jener Hegelianischen Konzeption der „spekulativen Kunstgeschichte", die HOTHO in seinen Vorstudien über Leben und Kunst dahingehend definiert, daß Kunst und Wissenschaft „durch philosophisches Wiedererschaffen der Kunstwerke und ihrer Geschichte aufs Engste zu verschwistern" (279) seien? Hegels Asthetikvorlesungen schließen mit der kunstinternen Möglichkeit der Symbiose von Anschauung und Reflexion,

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dem Sprach-Werk, genauer noch einer ihrer selbst bewußten Form dieser Integration der Reflexion in die Kunstgestalt: mit dem modernen Drama. Auch hier vermeidet Hegel aber, die den Hegelianern geläufige Verschwisterung von Kunst und Philosophie zu betonen, die sich aus SCHELLINGS System des transzendentalen Idealismus nahelegt. Man kann die Kunst nicht als Organon der Philosophie sehen, Philosophie in Kunst, Kunst in Philosophie aufheben. Allerdings formuliert Hegel im Zusammenhang der geistesgeschichtlichen Darstellung der Poesie auch die einleuchtendste Version seiner These vom Vergangenheitscharakter der Kunst, die These von der Arbeitsteiligkeit, der Kompetenzdifferenzierung wie -integration in der Wahrheitsfrage. Er hält fest an der Differenz von Realität und Prüfung geschichtlicher Wahrheit, von lebendigem Vollzug und seiner Legitimation. Läßt man einmal dahingestellt sein, daß Hegel meint, er könne für die Philosophie diese Arbeitsteiligkeit wieder aufheben, Begriff und Realität zugleich entwickeln, dann erhält man in der Ästhetik (in der Religions-, Rechts- und Geschichtsphilosophie nur bis zu ihrem letzten nicht kohärenten Schritt der Auszeichnung der protestantischen Religion und des preußischen Staates) eine Version der Geschichtsphilosophie, die ihre Begriffe am lebendigen Phänomen gewinnt und prüft. Hegel entwickelt diese Version für die moderne Welt in der These, der „Humanus" sei der neue Heilige der Kunst. Die Virtuosität der Poesie als Freiheit des Umgehens mit aller historischen Wahrheit liegt in ihrem Medium: der Sprache. Diese Freiheit hat aber als Abseite das Problem, daß, weil alles Menschliche anschaulich-lebendig vermittelt werden kann, die anstehende Entscheidung des geschichtlichen Individuums, das Rechte zu tun, präzise auf jenem Forum dilatiert wird, das zum Vollzug des eigenen Menschseins anzuregen hätte. Hegel führt diese Gedanken anläßlich seiner Auseinandersetzung mit GOETHES West-östlichem Divan aus und zeigt, daß die moderne Möglichkeit der Poesie darin besteht, den Bürgern des modernen europäischen, christlich geprägten Staates, die ganze Welt, die Weltkultur zugänglich zu halten. In der Kunst wird der Mensch zum Weltbürger, ohne daß dies im wesentlichen Konsequenzen für seine Situation — etwa einer Aufhebung seiner Beschränkungen und Begrenzungen — zur Folge hätte. Die formale Vollendung der Dichtung GOETHES, die Hegel unter diesem Gesichtspunkt durchweg hervorhebt, steht für die Möglichkeit reflektierter Durchdringung der Geschichte, für die Vereignung des Fremden. Umgekehrt findet Hegel dann in jenem zweiten „unserer modernen Nationaldichter", in SCHILLER, das „wahre sittliche Pathos" der Alten wieder. Auch dieses Pathos erscheint aber, weil es unter die Bedingtheit des modernen Staatswesens gerückt ist, nicht als fraglos-unbedingte Orientierung. SCHILLER stellt nicht nur die wahre Leidenschaft für das Gute im Menschen wie in seiner Welt dar, er demonstriert zugleich die Gefährdung individuellen sittlichen

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Wollens, wo immer es sich zum allgemeinen Willen erhebt. Im modernen Drama wird, wie Hegel an SCHILLERS Dramen demonstriert, das »große Individuum" zum Verbrecher, sein Veränderungswille scheitert an den gegebenen Verhältnissen. Beide Beispiele zeigen, was Hegel dazu bewogen haben mag, die Poesie nicht als letztgültige Möglichkeit geschichtlicher Orientierung, wohl aber als die universale, weil anschaulich-vorstellende zu fassen. Der Vorschlagscharakter inhaltlicher Orientierung durch die Kunst (die substantielle Sittlichkeit, die sie repräsentiert,) kann unter komplexen institutionellen Bedingungen des Alltagslebens keine Handlungsorientierung hervorbringen. Der Mensch wird seiner menschlichen Möglichkeiten als geschichtlich-gewordener Vielfalt bewußt, ohne dadurch schon der bessere Bürger eines guten Staates sein zu können. Das schöne Handeln der dramatischen Personen, das schöne Menschsein gerundeter Erfahrungsmöglichkeit (wie es nach Hegel beispielsweise der West-östliche Divan formvollendet darstellt), schöpft aus der Welt-Kultur, aus der Welt-Geschichte, wird aber gerade durch die Vielfalt möglicher Orientierungen nicht mehr automatisch zum sittlich guten Handeln anleiten können. In der modernen Welt hat die Kunst die Fähigkeit eingebüßt, dem Menschen seine Götter zu stiften. Im Sinken der religiösen Interessen liegt für Hegel wie für den Hegelianer VISCHER die Befreiung der Kunst. Zugleich sieht er aber darin die analoge Emanzipation des Menschen von bestimmter, ihm geschichtlich zugewachsener Weltanschauung, die Möglichkeit der Kunst wie des Menschen also, alles geschichtlich Erfahrbare als Eigenes zu ergreifen. Die Entbindung von bestimmter Religion, die die Kunst stiftet — wie bei den Griechen — oder der sie dient — wie in der romantischen Kunstform — setzt frei, alle Mythologie als Inhalt der Kunst erneut zu sichten, sie vielleicht gar — historisch, philosophisch-ästhetisch oder poetisch — neu zu vollziehen. Diese Gesichtspunkte erörtert Hegel, wenn er in den Ästhetikvorlesungen die verschiedenen phänomenalen Möglichkeiten der Künste vorstellt. Die Kunst muß immer Weltanschauung sein, muß geschichtliches Bewußtsein (schön) gestalten. Damit gibt und fordert, stiftet und verpflichtet sie den Menschen, d.h. sie gibt Möglichkeiten des Menschseins vor und stellt sie jeweils als verbindlich auf. Wie bei aller geschichtlichen Wahrheit (auch Hegel macht hier inkonsequenterweise erst bei der geoffenbarten Religion des Christentums seine folgenschwere Ausnahme) bleibt die Pflicht zur Einstimmung aber an das Recht der Prüfung gebunden, an jenes Recht, das die »vernunftfordernde Vernunft" der Aufklärung als unverzichtbar gesetzt hat. So gesehen gibt es kein »modernes Epos", das den Menschen wie seine Welt in und durch Kunst vollendete. Es gibt aber unendliche Möglichkeiten humaner Existenz bzw. im Vergleich zur faktischen Existenz humanerer Existenz, die in der Kunst lebendig nachvollziehbar werden. Hegel erörtert exemplarische

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Beispiele in seinen Asihetikvorlesungen, und er charakterisiert sie jeweils so, daß seine Frage, inwiefern die Poesie die „Lehrerin der Menschheit" genannt werden könne, inwiefern die in der Kunst gegebene Weltanschaung die „Mythologie der Vernunft" sei, als der offensichtliche Leitfaden durchscheint. Da der „Humanus" der neue Heilige der Kunst sein soll, sieht Hegel sich mit seiner Frage nach den möglichen, diesem prinzipiellen Inhalt gemäßen anschaulichen Gestaltungen der Weitsicht an die geschichtlich gewordene Mythologie verwiesen. Sein Interesse an der orientalischen Religion entspringt aus dieser Frage nach der Mythologie der Vernunft und findet in seiner philosophischen Charakteristik der orientalischen Poesie endgültigen Ausdruck. Diese philosophische Charakteristik erscheint möglicherweise gegenüber der Poesie als unhistorische, wenig einfühlsame Überfremdung. Dennoch formuliert Hegel seine Vorbehalte unter der Perspektive der Gegenwartsrelevanz und kommt hierbei zu dem Schluß, daß die Ur-Poesie nicht im Sinne F. SCHLEGELS in die Transzendentalpoesie transformiert werden kann, weil eine Übersetzung ihrer Inhalte in das moderne Weltverständnis nicht in einer für alle verbindlichen Weise gelingt. HUMBOLDT hatte denselben Sachverhalt anläßlich seiner Bhagavad-Gita-Ühersetzung folgendermaßen dargestellt: Die Begegnung mit der Einheit von Philosophie und Poesie im indischen Altertum kann nicht generalisiert werden, sie verhilft (HUMBOLDT) zur Erhellung der eigenen Existenz, ohne daß man sie aber in die Erfahrungswelt des modernen Menschen schlichthin übersetzen könnte, ünter der Perspektive der Gegenwartsrelevanz erscheint eine Kultur, deren Prinzip nicht Freiheit des Individuums und deren Mythologie nicht die Ursprungsgeschichte der Befreiung repräsentiert, als inakzeptabel. Hier kann die Ur-Poesie nicht mehr als "Lehrerin der Menschheit" gelten, weil die Kulturgebundenheit poetischer Inhalte, die Individualität der Sprachen und Kulturen, nicht übersprungen werden darf. So gesehen bringen W. VON HUMBOLDT und Hegel dasselbe Argument gegen F. SCHLEGELS Position der Ur-oder Transzendental-Poesie vor, nur daß es für das gegenwärtige Hegelverständnis ungewohnt ist, Hegels Überlegung in der dazu nötigen Weise vom Klassizismusverdacht freizuhalten. Eindeutiger als in seiner Beschäftigung mit dem indischen Altertum gelingt es Hegel, seine Überlegung hinsichlich der „romantischen" Alternative zu formulieren, nämlich hinsichtlich der Wiederbelebung des europäischen wie orientalischen Mittelalters in der Kunst der Gegenwart. Schwerlich wird man bei Hegel die Mittelalterbegeisterung seiner Zeitgenossen und selbst Schüler entdecken. Aus der Verknüpfung von romantischer Geistesart und Hegelianismus entsteht bei K. ROSENKRANZ, F. TH. VISCHER und auch bei HOTHO der Versuch, das bei Hegel stiefmütterlich übergangene Mittelalter dem System der Philosophie der Kunst zu integrieren. Hegels philosophische Charakteristik führt, durch die Hegelianer zum Prozeß der Geistesge-

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schichte systematisiert, dazu, eine universalgeschichtliche Perspektive vom Mittelalter in die Zukunft Preußens zu errichten. Bei Hegel konnte ROSENKRANZ lediglich die Anleitung finden, eine (aus geistesgeschichtlichen Gründen) von der Zukunftshoffnung distanzierte Charakteristik des Mittelalters zu entwickeln. Er bedient sich darum auch ScHELUNGScher und, durch diesen vermittelt, romantischer Formeln. Der Titurel steht in der Weise für das deutsche Mittelalter einzig dar, wie es SCHELLING für die divina comedia beansprucht hatte. Die „historische Konstruktion" im Sinne SCHELLINGS kommt überdies zum Ziel, denn der Tiiurel hat in GOETHES Faust seinen modernen Nachfolger bereits gefunden. Es geht auch im Faust, so meint ROSENKRANZ es Hegel abzulauschen, um die Darstellung der Entzweiung zwischen wirklicher Welt der Bildung und der unsichtbaren Welt des Glaubens so wie um ihre poetische Versöhnung. Während ROSENKRANZ sich mit F. TH. VISCHER dem germanischen Mittelalter als dem Quell jener großartigen Kräfte der Vergangenheit zuwendet, der die Zukunft entschleiert, weil er gültige Werte gegen die Zerrissenheit der Zeit zu stellen weiß, neigt HOTHO eher dem schönen Mittelalter zu. So scheint es, als teile Hegel in seiner Ästhetik ein Anliegen, das SCHLEGEL bereits im Gespräch über die Poesie formuliert hatte. Es gälte demnach, als „Ziel des Romantischen eine neue Klassizität, die als eine Klassizität der Freiheit der antiken Klassizität der Natur entgegengesetzt ist", zu entwickeln. Hegel bleibt aber auch bei den Werken des schönen Rittertums ebenso wie bei der Renaissancemalerei seiner Skepsis treu. Im Don Quichotte wird das poetische Fazit über die ritterliche Welt, die romantische Abenteuerei, gezogen, denn CERVANTES hält hier der ernstgemeinten, wenn auch märchenhaft aufgezogenen Dichtung der ritterlichen Abenteuerei den ironischen Spiegel vor. Hegels und SCHLEGELS Kunstcharakteristik unterscheiden sich wiederum in ähnlicher Weise wie HUMBOLDTS und Hegels Auseinandersetzung mit der Ur-Poesie. Es geht Hegel nicht um die Entscheidung zu einer neuen Klassik, um die Möglichkeit schöner Kunst, sondern um ein Kunstwerk, das seiner Zeit gehört. Das Renaissanceepos findet aber nicht mehr wie das alte Epos das Wort für das, „was die Nation in ihren Taten ist". Wie wenig Hegel bei diesen Überlegungen die ihm allenthalben unterstellte Entscheidung für Griechenland im Blick hat, die ihn vorab gegen das europäische, das orientalische Mittelalter wie gegen jene geglückte Synthese beider im „schönen Rittertum" einnehmen würde, zeigt auch seine Stellungnahme zu FIRDAUSIS 5ähnäme. Hegel rückt bewußt von VON HAMMERS Versuch ab, mit Hilfe eines HoMER-Vergleichs die literarische Qualität der persischen Dichtung, ihren wahren „klassischen“ Rang angesichts der romantischen Indienphilie zu retten. Statt dessen greift er GOETHES Überlegung auf. Für GOETHE sind wie für Hegel die Dichter der persischen Blütezeit Dichter einer Spätzeit, einer schon komplexen Kultur. Die Kunst, in die nach Hegel die Prosa des Lebens, nach

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die ungeordnete Vielfalt einbricht, ist nicht mehr in der Lage, einen Naturstatus der Humanität und Religiosität zu thematisieren. Sie steht auf dem Reflexionsstandpunkt der sentimentalischen Dichtung, der die Werke dieser Kunst mit denen der Moderne kompatibel erscheinen läßt. Unter dieser Rücksicht erscheint der HoMER-Vergleich als Reklamation der Klassizität sinnlos und überflüssig. Es kann nur darum gehen, die Funktion der Kunst unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen festzulegen, um aufgrund solcher kulturgeschichtlicher (bei GOETHE) bzw. kulturphilosophischer (bei Hegel) Zusammenhänge die Grundlagen für ästhetische Vergleiche allererst zu schaffen. GOETHE und mit ihm Hegel vertreten die Möglichkeit, die moderne Poesie durch Wiederbelebung der orientalischen Dichtung zu bereichern. Für beide bietet der „Reflexionsgehalt" solcher Dichtung eine Schwierigkeit wie einen Vorteil. Diesen Vorteil betont Hegel explizit im Blick auf GOETHES Divan. GOETHE sieht in der Symbiose von Kunst und Reflexion zwar eine poetische Crux, hofft aber, sie zu bewältigen. Die Neu- und Umdichtung enthält wie die philosophische Bemühung um die Mythologie der Vernunft eine mythologiekritische Komponente. Die aktualisierende Neu- und Umdichtung verwandelt mythologische Inhalte in Phänomene der ästhetischen Religion, damit in jene aufgeklärte Religion, deren Heiliger der Humanus, deren Inhalte die „Mythologie der Vernunft" sind. Hegel hat als einer der wenigen Zeitgenossen diese Überlegung GOETHES verstanden, er hat sie in seinen Asthetikvorlesungen explizit aufgegriffen, um die eigene frühe religionskritische Position, die ein poetisches Ideal enthielt, nun in ihrer Realisation zu gewichten. GOETHE wiederholt, so heißt es beispielsweise in der Vorlesung von 1826, die symbolische Kunst auf dem Boden der romantischen Kunstform. Was das mittelalterliche persische Epos nicht vermochte, eine Nation in ihren Taten zu beschreiben und deren geschichtliche Welt im poetischen Wort zu stiften, das gelingt GOETHE zumindest unter einer Rücksicht. Er findet eine künstlerisch vollendete Form, die gedeutete Geschichte, die Weltanschauung einer fremden und vergangenen Kultur poetisch zur Disposition zu stellen. Hegels Gründe für dieses ästhetische Werturteil finden sich bezeichnenderweise nicht in der Behauptung, daß hier die klassische Schönheit wiedererstehe, wohl aber darin, daß im Sinne der alten Kunst die Welt als Ganze ihren Spiegel in der Poesie findet. Da dieser Spiegel zugleich die Reflexion der Mythologie qua ästhetischer Religion, qua „Mythologie der Vernunft" gewährleistet, scheint Hegel zum ersten Mal sein eigenes frühes Programm nicht nur übernommen, sondern verstanden und realisiert zu sehen. So wundert es nicht, daß er in seinen Vorlesungen einzig GOETHES Divan ein uneingeschränktes poetisches Lob zollt. Da er zugleich an seinen Bedenken hinsichtlich der „Universalität" des neuen Epos festhält, in ihm zumindest nicht die nationale Kunst der Zukunft sehen will, kann man GOETHE

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Hegel wie GOETHE allenfalls aufklärerischen Kosmopolitismus, Vernunftsgläubigkeit, nicht aber Klassizismus zum Vorwurf machen. Es versteht sich beinahe von selbst, daß diese Perspektive der Beschäftigung mit dem Mittelalter bei den Hegelschülern nicht auf Gegenliebe, nicht einmal auf Verständnis stößt. Hier hätte man ein Beispiel für eine philosophische Poesie, ein in sich kulturphilosophisches neues Epos. Hegels Anhänger aber sind so sehr an dem Berliner Rezeptionsklima, der unglückseligen Synthese von ursprungsorientierter Frühromantik und christlicher Kanalisierung der Ursprungsfrage in das Gültige und Garantierte an Mythologie und Poesie, verhaftet, daß es nicht einmal auffällt, wenn in HOTHOS Bearbeitung der Äsihetikvorlesungen diese Überlegungen Hegels nicht wiedererscheinen. HOTHO setzt an ihre Stelle eine angebliche Unübertrefflichkeit GOETHES als Dichter und eine Auszeichnung des Faust als der „absoluten philosophischen Tragödie". Damit spielt er auf ein noch heute gängiges Vorurteil an, daß nämlich die Tragödie — näherhin die griechische — die höchste Kunst sei, daß sie selbstverständlich durch GOETHE der deutschen Nation wiedergegeben werde und daß, ebenso selbstverständlich, Hegel diese Tendenzen unterstreiche. Hegel sieht sich im Gegenteil selbst in seiner Theorie der Tragödie zur Überprüfung seiner These vom Vergangenheitscharakter der Kunst herausgefordert. Zumindest eine Version der Wiederbelebung der antiken Tragödie hat ihn persönlich begeistert und zugleich zu der in der Ästheiikvorlesung üblichen Problematisierung unter geistesgeschichtlicher Perspektive gereizt. Es ist die Neubelebung der Tragödie in der Oper. Tragödie, Komödie und modernes Drama, das wahre sittliche Pathos und der Humor als Indiz der Fähigkeit des Menschen, mit dem Sittlich-Gesollten distanziert zu spielen, haben Hegel über die Ästhetik hinaus schon in seinen geschichtsphilosophischen Überlegungen und der Jenaer Zeit beschäftigt. In den Berliner Vorlesungen scheint er diese Überlegungen, mit ihnen alle sonstigen Charakteristiken der Künste, noch einmal zusammenzufassen in einer Frage, die die Gemüter noch heute bewegt: der Frage nach dem Gesamtkunstwerk. ScHELLiNG hat die poetische Gestalt dieses Gesamtkunstwerks bereits in seinem Dante-Aufsatz Umrissen: es muß das Wesentliche von Architektur, Skulptur und Malerei, es muß Musik und die verschiedenen poetischen Gattungen im geistigsten Medium, in der Sprache, auf neue Weise verschmelzen. Hegel entdeckt ein solches Gesamtkunstwerk in der Wirklichkeit, und zwar sowohl der Vergangenheit wie der Gegenwart, der Antike wie der Moderne. Seine Einschätzung der antiken Tragödie ist geläufig die, daß sie die reflektierteste Form der Kunst in der antiken Welt, die Darstellung der Kollision verschiedener in den divergenten Göttern des Götterkreises grundgelegten sittlichen Sphären und Orientierungen zum Inhalt hat. Ebenso bekannt ist Hegels Bestimmung der Komödie, seine Definition des objektiven Humors. In seiner Vorlesung von 1826, in derselben, die die

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ausführlichste Auseinandersetzung mit der Wiederbelebung der orientalischen Mythologie in moderner Dichtung enthält, geht Hegel auf eine merkwürdige Zwischenform ein. Er entdeckt eine formale Identität zwischen der antiken Tragödie und einer spezifisch modernen Kunst, nämlich der Oper, die die Einheit von Musik und Poesie darstellt. Im Drama ist an sich schon der ^oncrete lyrische Sänger" in Bewegung und Handlung, in den Dialog mit anderen gesetzt. Zur Dichtung „tritt sogleich die Geberde hinzu, das Sichtbare an dem Ausdruck. Mit der Geberde tritt sogleich die Umgebung ein, Scenen und Decoration und in dem jede Seite der künstlerischen Behandlung fähig ist, und wenn es nach allen künstlerischen Seiten der Behandlung sein soll, so tritt die Musik ein und mit Geberde verbunden der Tanz, alle Künste sind da vereinigt, die Natur des Menschen, die Architektur durch Malerei vorgestellt oder das Local selbst, Musik; Tanz und Pantomime" (Marb. Bibi. 1826 Ms. 89). Die Oper repräsentiert also, was Freunde Hegels, die seine Musikbegeisterung kannten, nicht verwundert hätte, das moderne Gesamtkunstwerk, die Synthese aller Ausdrucksmöglichkeiten der Künste in einem Werk. So heißt es ausdrücklich: „Wenn so das Drama nach allen seinen Seiten ein vollständiges Kunstwerk wird, so ist das die Oper, die Oper erscheint als das vollkommen künstlerisch ausgebildete Drama" (ebd.); und: wenn das Kunstwerk „ganz vervollständigte Totalität ist, so ist es die Oper".® Sicherlich hat die in Berlin jahrzehntelang aufgeführte Oper Ödipus auf Kolonos Hegel zu dieser Überlegung motiviert. Er hat aber zugleich die Gelegenheit wahrnehmen wollen, eine Persiflage auf die Gesamtkunstwerkskonzeption, die sich im nationalen Epos ihre Realisierung zu verschaffen sucht, zum Besten zu geben. Pointiert verweist er auf die Vergleichbarkeit von Oper und antikem Drama, in dem auch alle Künste ihren Ort fanden, durch ihr Zusammenspiel den ganzen Menschen anzusprechen vermochten. „Das Drama bei den Alten ist Oper gewesen". Der Autor, häufig als Stifter und Sprecher des Wortes, als „Auctor", der Inhalt als jenes wahre substantielle Pathos, und die Darstellung, zu der „Musik und Chor" gehören, „nicht bloßer Gesang, sondern auch Instrumente", choreographische Momente („es ist auch da getanzt worden vom Chor") waren schon vorhanden und werden in der modernen Oper noch »Vgl. Marb. Bibi. 1826. Ms. 90a; Hegels musikalische Pilgerfahrten werden u.a. dargestellt in: Dokumente zu Hegels Reise nach Österreich. Mitgeteilt und eingeleitet von Inge Blank. In: Hegel-Studien. 16 (1981), 41-55; zum Zusammenhang von Tragödiendeutung und Oper vgl. auch Hellmut Flashar: Die Entdeckung der griechischen Tragödie für die Deutsche Bühne. In: Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels. Hrsg, von O. Pöggeler und A. Gethmann-Siefert. Bonn 1983 (Hegel-Studien. Beiheft 22.), 285-308.

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durch Bühnenbild und Schauspielkunst als weiterer konstitutiver Momente ergänzt (vgl. Marb. Bibi. 1826. Ms. 90 a). Ähnlich wie es KAULBACH im Weltgeschichtszyklus des neuen Museums durchexerzierte, findet Hegel auch in der Oper eine formale Vollendung, die der Klassizität der Alten, zumindest ihrer synthetischen künstlerischen Kraft an die Seite gestellt werden kann. Genau wie in der Malerei kann diese »Klassizität" eines modernen Werks aber nur dem distanzierten Genuß genügen. Die Kunst fordert nicht mehr den ganzen Menschen, sondern den genießenden Kenner. Wo nämlich das moderne Drama seine antike Form wieder erreicht, ist der Inhalt gänzlich verloren. Die Oper »schweift deswegen gerne ins Märchenhafte und Mythologische aus. Der Ernst erdrückt sich so unter der Ausbildung aller Seiten." (Marb. Bibi. 1826. Ms. 89a) Die Oper fordert also im reflektierten Kunstgenuß eine Abstraktion von den Inhalten, die Hegel zugleich als Resultat der Wirkung des objektiven Humors gekennzeichnet hatte. Das Zurückgeworfensein der vollendeten Form auf ihre Autonomie unter Abstraktion von der Akzeptabilität, ja sogar des ernst gemeinten Rezeptionsangebot der Inhalte ist kennzeichnend für das vollendete Gesamtkunstwerk. Nur für die Oper bleiben Stoffe der antiken Tragödie möglich und zulässig, die unserem modernen aufgeklärten Geist eher »ein Greuel" sein müßten, nämlich solche Dinge wie, daß »Alceste für ihren Mann sterben will", »daß Iphigenie ihren Bruder schlachten soll". All dies ist »nicht für uns", führt zum Scheitern jener Wiederbelebungsversuche griechischer Tragödien auf deutschen Bühnen, wie sie Hegel noch vor Augen gewesen sein mögen. Auf der anderen Seite ist es aber »wohl für die Oper", weil in ihr alle menschenmöglichen Inhalte im Sinne eines unverbindlichen Spiels der Kunst mit ihren eigenen Möglichkeiten repräsentiert werden. So darf man Hegels zunächst als befremdlich erscheinende Bemerkung zur Oper, zum Gesamtkunstwerk als abschließende Polemik gegen die Erwartungen der Romantik lesen. Er setzt in seiner Charakteristik der Oper implizit eine durchaus bedenkenswerte Gegentheses gegen WAGNERS Versuch, mit der Romantheorie die Konzeption der Oper zu untermauern. Auch wenn die Musik jenes neue Epos der modernen Welt, den Roman, zum Gesamtkunstwerk rundet, findet dieses Werk selbst nicht zur harmonischen Gestalt zurück. Es kann nicht formale Vollendung (im Sinne klassischer Schönheit und im Sinne der Synthese aller künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten) mit belangvollem Inhalt, wahrem sittlichen Pathos (wie Hegel es SCHILLER zugesteht) verknüpfen. Schöne Kunst ist nur als autonomes Spiel mit Belanglosem möglich, wahres siHliches Pathos wird in der Kunst nicht mehr in der geschlossen-eingängigen Weise der Schönheitserfahrung zugänglich, ist damit nicht mehr unmittelbar nachvollziehbar. Hier wie dort bleibt die Kunst auf die Reflexion verwiesen, denn sie erfordert entweder die Abstraktion vom Inhalt oder die über die anschaulich-zwingende Identifikation hinaus-

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gehende Aneignung, will man die Kunst dem modernen Menschen, will man ihre Inhalte als intersubjektiv belangvoll „allen ansinnen". Substantieller Inhalt und (inter-)subjektive Vollziehbarkeit finden selbst in den Künsten, die formal vollendet sind, keine neue Synthese. Denkt man an SCHELLINGS Charakteristik der Divina Comedia DANTES als dem Urbild des neuen Epos der modernen Welt, die ohne Zweifel einen möglichen Hintergrund dieser Überlegungen der Äsihetikvorlesungen abgibt, dann gewinnt Hegels Bemerkung zur Oper einen genau angebbaren Sinn. Wenn die Kunst der Moderne alle Mittel der Kunst, alle ihre technischen und materialen Möglichkeiten zu einer neuen „Totalität" rundet, geht sie an der „Bildung ihrer Zeit" vorbei. Erreicht die Form die "Totalität", so verliert der Inhalt jede sittliche Verbindlichkeit, wird zum Spiel der Phantasie und bleibt lediglich als dieses Spiel unter Maßgabe der Freiheit und Unverbindlichkeit der Phantastik erträglich. Bleibt umgekehrt das sittliche Pathos erhalten, so gewinnt die Form der modernen Kunst eine Kargheit, die es verbieten würde, „Schönheit" als ihre Erscheinungsweise, Totalität als ihre Vermittlungsform zu beanspruchen (so entwickelt es Hegel komplementär in seiner ScHiLLER-Charakteristik). In Hegels Überlegungen zur Oper findet sich also, versteckt in einer Theorie der Tragödie bzw. ihrer Anwendung auf das moderne Drama, eine Argumentation, die alle seine sonstigen Überlegungen zum Vergangenheitscharakter der Kunst zusammenschließt und ihn letztlich dazu nötigt, die These vom Vergangenheitscharakter der Kunst nicht aufzugeben. Es zeigt sich auch hier wieder, daß Hegels kritische Stellung zur Kunstbegeisterung den Schülern im Zuge der Aktualisierung des Hegelschen Systems ein „aggiornamento" aufnötigt, das Hegels Intention konterkariert. Seine Perspektive der geistesgeschichtlichen Bestimmung der Kunst aus ihrer Funktion für den Menschen, nämlich im Prozeß der Geschichte als Realisation der Freiheit, wird im Klima der Spätromantik unzeitgemäß. Die Wirkung der Ästhetik mußte deshalb von Anfang an, bedingt durch die geschichtliche Situation der Rezeption, an Hegels Anliegen vorbei in der Assimilation solcher hegelfremder Prinzipien liegen. Rettungsversuche, die die Hegelianer für die Kunst vorzuschlagen haben, gehen an Hegels Überlegungen deshab prinzipiell vorbei. HOTHO hält beispielsweise an der Schönheit der Kunst fest, deren Glanz die bürgerlichen Verhältnisse verklärt (so z.B. in seiner Gharakteristik von GOETHES Idylle Hermann und Dorothea, aber auch in der Kritik des Willhelm Meister und der Wanderjahre). ROSENKRANZ erweitert umgekehrt den Kanon ästhetischer Charakteristika bis zum Einschluß des Häßlichen. Im Lichte seiner Überlegungen in den Berliner Ästhetikvorlesungen gewinnt Hegels Charakteristik des objektiven Humors, der Freisetzung der Kunst zum Spiel mit ihren eigenen Mitteln, einen Sinn, der sie auch nicht mehr mit VISCHERS Behauptung kom-

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patibel erscheinen läßt, die Kunst könne erst im Sinken ihrer religiösen Interessen frei zu sich finden. Zumindest die positive Konnotation dieser »Freiheit" der Kunst, ihrer Autonomie, die ihr auch in der modernen Diskussion zugutegehalten wird, mag Hegel aus guten Gründen nicht unterstellen. Hegels gute Gründe liegen im ernsthaften und unablässigen Bemühen um die Frage, ob und in welcher Weise die Kunst den modernen Bürger eines modernen Staates noch ansprechen kann. Diese Frage ist bis heute nicht endgültig beantwortet, sie wird sich wohl kaum im Sinne jener »Autonomie der Kunst" beantworten und endgültig entscheiden lassen, die man so gern als von Hegel und seinen Nachfolgern bestätigt — und mithin als wohlbegründet — ausgeben möchte. Ist Hegels Ästhetik, deren Bestand und Aktualität in der gegenwärtigen philosophischen Diskussion immer von der Vermeidbarkeit der These vom Ende der Kunst abhängig gemacht wird, bei der hier dargestellten Sachlage noch »zu retten"? Hegel zeigt in seinen eigenen Überlegungen, wie problemlos diese »Rettung" funktioniert, sobald man die Konzeption der Inhaltsästhetik aufgibt und die Frage nach der Kunst auf die der formalen Vollendung der schönen Gestalt beschränkt. Zugleich gibt er selbst in seiner Charakteristik der Oper als des modernen Gesamtkunstwerks polemisch die Argumente gegen ein solches Verfahren an die Hand. Könnte die geänderte Forschungslage nicht umgekehrt eher zu der entgegengesetzten Frage reizen, ob denn so viel Unrettbares in der These vom Vergangenheitscharakter der Kunst bleibt? Hegels sämtliche geistesgeschichtliche Charakteristiken einzelner Kunstwerke, also der gesamte »interessante", weil geschichtliche Ansatz der Ästhetik, bieten eine moderate Rekonstruktion seiner These vom Ende der Kunst an, vorausgesetzt, man klammert Hegels Annahme aus, in der Philosophie ließe sich das System des absoluten Wissens konstruieren. Dann bleibt die positive Version der These vom Ende der Kunst, die Notwendigkeit der Synthese von Kunst und Reflexion — sei es auf dem Boden der Anschaulichkeit und Vorstellung in der Poesie, sei es in der explikativ-begrifflichen Analyse der Philosophie. Hegels endgültige Stellungnahme läßt sich auch mit den Worten seiner anfänglichen Frage nach der »Mythologie der Vernunft" formulieren, denn Hegels Auseinandersetzung mit GOETHE und (SCHILLER) zeigt unverkennbar die Spuren der nachaufklärerischen Bemühung um eine ästhetische Religion, eine in und durch die Kunst vermittelte Weltanschauung, deren Mittelpunkt der neue Heilige, der Humanus, ist. Kunst, vor allem die Poesie als »Lehrerin der Menschheit" ist wie jeder (also auch der philosophisch begründete) Orientierungsvorschlag formal wie inhaltlich nicht evaluierbar ohne die Reflexion. Diese Reflexion kann in je verschiedener Rolle auf treten: als unmittelbar-anschauliche poetische Vorstellung, als Kunstkritik, als kunsthistorische Erschließung und/oder als philosophische Charakteristik, die nach Hegel alle genannten Momente zusammenfassen müßte. Die

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»Mythologie" als Inbegriff der Anschauung mit Orientierungswert kann dadurch jeweils als mehr oder weniger vernünftig erscheinen. Entweder wie bei GOETHE im gelungenen Entwurf ästhetischer Religion, die im individuellen Nacherleben ihr Telos findet (so Hegels DiP«n-Deutung) oder in der historischen Verdeutlichung oder in philosophisch-geistesgeschichtlicher Bestimmung der Funktion der Kunst. Kunst, auch die Poesie, wird aber niemals die endgültige Mythologie der Vernunft hervorbringen können. Diese fungiert als das philosophisch formulierbare, notwendig unterstellte »Ideal", das zur Festlegung der geschichtlichen Funktion der Kunst überhaupt dient, ihre Verzwecklichung auf den Menschen, auf ihren neuen Heiligen hin begründet. Liest man diese Einsicht »gegen" Hegels Annahme, die Philosophie könne sich als System des absoluten Wissens etablieren, dann kann man die berechtigte Kritik an der These vom Ende oder (wie Hegel den Vergangenheitscharakter des Ideals auch definiert) von der »Partialität" umgehen. Unterstellt man nämlich das Mißlingen der Konstruktion eines Systems des absoluten Wissens, bleibt die Arbeitsteiligkeit verschiedener Vermittlungsweisen geschichtlicher Wahrheit bestehen. Ihre »Partialität" bedeutet nicht mehr Verzichtbarkeit, sondern Unersetzlichkeit. Zugleich fällt der Zwang weg, hinter die Konzeption der Inhaltsästhetik zurückzugehen, um die Geschichtlichkeit der Kunst gegen ihre Finalisierung im System zu retten. Kunst bleibt und gibt Weltanschauung; deswegen ist sie ohne Reflexion nicht möglich. Sie kann nur im Medium der Sprache in ihrem Gehalt vermittelt werden. So findet sie entweder ihre Kommentare in Kunstkritik, kunsthistorischer oder -theoretischer oder/und philosophischer Deutung. Oder die Kunst selbst gibt sich explizit reflexiv: als sprachliche Weltdeutung und findet dann in der philosophischen Prüfung ihr Pendant. Annemarie Gethmann-Siefert

OTTO PÖGGELER (BOCHUM)

SYSTEM UND GESCHICHTE DER KÜNSTE BEI HEGEL

hat als Inhaber des philosophischen Lehrstuhls der Berliner Universität und als Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften versucht, den neuen Geist positivistischer Wissenschaftlichkeit mit dem Erbe aus Dichtung, Philosophie und Historie der GoETHEzeit zu verbinden. So konnte zur Geltung kommen, daß die Berliner Universität als eine philosophische gegründet worden war und alsbald zu jener Stätte wurde, die zusammen mit Institutionen wie dem Museum die Geisteswissenschaften zu einer sonst kaum gesehenen Entfaltung brachte. Der Roman, der im Sinne BALZACS die Seele einer modernen Stadt wie Paris erfassen wollte, das musikalische Gesamtkunstwerk, in dem RICHARD WAGNER die Phantasiewelt der nordeuropäischen Tradition auf die Bühne brachte, dazu SEMPERS architektonisch-technisches Gesamtkunstwerk zeigten DILTHEY den Wagemut, von der Kunst her eine neue Welt ans Licht heben zu wollen. Während DILTHEY sich so im Einverständnis mit seiner Zeit wußte, stellte NIETZSCHE in seinem Abseits alles auf den Gegensatz: am Ende seiner philosophischen Erkundungsfahrten komponierte er Ecce Homo so, daß in jedem einzelnen Abschnitt das Ceterum censeo hörbar wurde, WAGNERS Oper sei nichts als eine Flucht vor dem, was jetzt not tue. In diesem Streit NIETZSCHES mit WAGNER sah MARTIN HEIDEGGER 1936 in seiner Vorlesung über den Willen zur Macht als Kunst die Entscheidung über das, was künftig Kunst heißen solle. In der Oper, dem Gesamtkunstwerk WAGNERS, werde in der Tat die Architektur zum Theaterbau, die Malerei zur Kulisse, die plastische Gestaltung zur Gebärde des Schauspielers; was als Sage um Wirklichkeit gekämpft habe, werde in »Musik" getaucht und so zum beliebigen »Erlebnis", die Kunst zu leerer Theatralik. ScHELLiNG, zwei Generationen älter als DILTHEY, war erst im hohen Alter auf den Berliner Lehrstuhl berufen worden, weil der König und sein Kreis von der Philosophie nicht nur ein Gedanken-System erwarteten, sondern den Hinweis auf einen lebendigen Gott, der frei ist und in die Geschichte wirkt. In der Einsamkeit und in seinem Abseits hatte SCHELLING in der Philosophie der Welialter Zeit verstanden als Entfaltung der Ewigkeit einmal zur ewigen Vergangenheit, in der Gott einen dunklen Grund in sich und dessen Potenzen von dem unterscheidet, was er selbst ist, dann zur Zukunft, die die Wiederversöhnung zwischen Grund und Selbst bringen soll, und schließlich zur Gegenwart als dem Ineinanderspielen von Vergangenheit und Zukunft. Der Münchener Akademievortrag über die Gottheiten von Samothrake, WILHELM DILTHEY

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dann die Philosophie der Mythologie und der Offenbarung hatten diesen Ansatz bis ins historische Detail ausgeformt. Als SCHELLING unter größten Erwartungen diese Philosophie in Berlin vortrug, enttäuschte er und scheiterte er — nicht von ungefähr zur gleichen Zeit, in der auch der Maler CORNELIUS seine ehrgeizigen Pläne zur Ausgestaltung des Dombezirkes nicht ausführen konnte. SCHELLING ging zu der berühmten Aufführung der Antigone mit der Musik von MENDELSSOHN und diskutierte über die Aufführung mit. Der Blick auf das SoPHOKLEische Drama blieb jedoch geprägt durch die Perspektiven, die jener Hegel entwickelt hatte, dessen Philosophie SCHELLING hatte ausreuten sollen. Schließlich trieb man in Berlin nur noch seinen Spaß mit ScHELLiNGs Unsicherheit im Historischen. Als er z.B. einen Schweizer Studenten namens TSCHUDI fragte, ob er der Sohn des Geschichtsschreibers sei, soll dieser schlagfertig geantwortet haben: „Nein, ein Vetter". VARNHAGEN kommentierte spöttisch, SCHELLING müsse nie einen Blick in JOHANN VON MüLLER getan haben. Der Geschichtsschreiber JOHANNES VON MüLLER war in Berlin aber längst überholt und abgelöst durch Hegels spekulative Geschichtsphilosophie und den Widerspruch, den diese bei NIEBUHR und bei RANKE fand. Freilich hatte ALEXANDER VON HUMBOLDT auch mit Hegels Naturphilosophie schon seinen Spott getrieben und diesen Spott dem Philosophen gegenüber nicht einmal eingestanden. Die allzu vielen Lehrbücher der Hegelianer über Logik und Metaphysik oder über Anthropologie und Psychologie ließen die Gedankengänge Hegels überhaupt als ebenso realitätsfremde und künstliche wie tote Gespinste erscheinen. Doch auf dem Felde der Geisteswissenschaften konnte man auch zur Zeit des Auftretens von SCHELLING noch an Hegel anknüpfen, mußte man sich wenigstens noch die Mühe machen, Hegel zu widerlegen. In der Pädagogik, der Jurisprudenz, der Kunstgeschichte und der Theologie arbeiteten Hegelianer mit am Aufbau des Kosmos der Geisteswissenschaften und erzeugten den lautesten Streit. Hieß das schon, daß Hegel gesehen hatte, welche Entscheidungen sich vor der Kunst und für sie eröffneten? Wenn er in seinen Berliner Ästhetik-Vorlesungen schließlich das antike Drama wegen der Einbeziehung von Musik und Tanz als „Oper" charakterisierte und in der modernen Oper die Zusammenfassung der Künste vorstellte, dann gebrauchte er in positiver Wendung genau die Charakterisierungen, mit denen NIETZSCHE und HEIDEGGER sich gegen WAGNER wandten: es ist das Schicksal der Kunst, gerade mit ihren größten Leistungen diesseits der entscheidenden Aufgaben der Gegenwart zu bleiben und den Ernst des Lebens in einer entlasteten Weise als etwas schon Vollbrachtes vor Auge und Ohr zu bringen. Indem Hegel die Arbeit in den Geisteswissenschaften auf das neue Zusammenspiel z.B. von Museum und Kunstwissenschaft stellt, wird er für diese Wissenschaften (nach einer Formulierung LEON BRUNSVICGS) zum „Professor der Professoren". Es fragt sich, worauf dieser Erfolg — wenn

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es denn einer war — beruhte. War die Hegelsche Verknüpfung von System und Geschichte realitätsnäher als etwa die ScHELLiNGsche? Vielleicht läßt sich zeigen, daß Hegel in Berlin gar nicht der konsequente Systematiker war, den man in ihm sieht, daß er sich vielmehr nicht scheute, seine systematischen Konzeptionen zerbrechen zu lassen an den geisteswissenschaftlichen Forschungen und Fragestellungen, für die die Berliner Universität führend wurde. Indem Hegel die neu eingeschlagenen Wege auf seine Weise mitging, wurde seine Philosophie (wie der junge MARX formulierte) zu der „Weltphilosophie", von der man sich wenigstens noch absetzen mußte.

I. Wenn der Student Hegel wegen einer Erkrankung oder unter dem Vorwand einer solchen wochenlang dem Tübinger Stift fernblieb, dann las er zuhause in Stuttgart seine Lieblingslektüre, die griechischen Tragiker. Noch in den Berliner Vorlesungen über Ästhetik hielt er fest, wie sauer einem das Studium der schwierigen Chöre werden kann. Die Antigone wurde von Hegel mehrfach übersetzt; Hegel hat auch, einem Zug der Zeit folgend, die Chöre metrisch zu fassen versucht. Vielleicht hat der junge Hegel diese seine Versuche mit den ähnlichen Bemühungen HöLDERLINS koordiniert; jedenfalls konnte der Freund HöLDERLIN dem Tübinger Stiftler und Frankfurter Hauslehrer Hegel zeigen, wie ein junger Dichter neue Horizonte für Dichtung und Kunst suchte, ln Jena aber, in der Nähe Weimars, nach der Ausbildung der Klassik und dem „Braus" des ersten romantischen Sturms sagte Hegel den Hoffnungen ab, von der Kunst her könne sich wieder eine gemeinsame, politisch relevante Vorstellungswelt der Menschen, eine „neue Mythologie", bilden. Gerade weil Hegel sich auf diese Absage einfürallemal festlegte, konnte er der Erforschung der Mythologie durch den Heidelberger Freund CREUZER oder dem Sammeln alter Gemälde durch die Brüder BOISSEREE das größte Interesse entgegenbringen: es schien an der Zeit, den geschichtlichen Weg der Menschheit auch im Medium von Mythologie und Kunst zu verfolgen, aber mit Hilfe der neuen Forschung und des Museums, das alsbald in Berlin die gesammelten Gemälde in historischer Folge darbot. Wenn FELIX MENDELSSOHN-BARTHOLDY die Matthäus-Passion wieder aufführte, dann hielt Hegel zu Recht fest, daß diese Musik nun nicht mehr im kultischen Zusammenhang an ihrer Stelle im Kirchenjahr erklang und nicht in der Kirche selbst, sondern konzertmäßig in der Singakademie. Wenn die Kunst den Ort verlor, den ihr Schloß und Kirche bis zum Barock und Rokoko gegeben hatten, dann konnten die Liebhaber, Sammler und Forscher mit WINCKELMANN aufbrechen zur Würdigung des Geschichts- und Wesenzusammenhangs griechischer Kunst, aber auch zur Neuentdeckung der italienischen Malerei

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in ihrer geschichtlichen Konkretheit und der niederländisch-deutschen Malerei oder der europäischen Musik als in sich gegliederten Welten. Der schaffende Künstler selbst aber mußte sich nun unter ungewohnten Verhältnissen neu orientieren. Was ein neuer Anfang mit unabsehbaren Horizonten war, erschien Hegel insofern als ein Ende, als er nunmehr der Kunst endgültig und abschließend ihre Aufgabe in der geistigen Welt glaubte bestimmen zu können. Nicht nur System und Geschichte der Künste sollten übersehbar geworden sein, sondern die Aufgaben und die Geschichte des Geistes überhaupt. Für diese Geschichte gebrauchten damals diejenigen, denen es um das Ewige und Überdauernde im Zeitlichen ging, merkwürdig wenig Zeit. Hegel rechnete mit JOHANNES VON MüLLER aus, daß man die alttestamentliche Zeitrechnung nur von einer Variante der alexandrinischen Bibelübersetzung her aufnehmen und so auf gut 7 000 Jahre Gesamtgeschichte kommen müsse, um auch Platz genug zu haben für die Chinesen mit ihrer angeblich so alten Kultur. Hegel glaubte überdies wie GOETHE, daß man sich eigentlich nur von 3 000 Jahren Rechenschaft geben müsse, um nicht im Dunkeln unerfahren zu bleiben. Diese 3 000 Jahre der Geschichte des Geistes aber wurden von Hegel als ein großer, vollendet sich aufschließender Zusammenhang gefaßt. In diesem Zusammenhang entfaltete sich all das, was auch die Gegenwart bestimmt — im Bereich des Sittlichen die wechselnde Bedeutung von Familie und Staat, aber auch die Emanzipation der arbeitsteiligen, die Staaten übergreifenden Gesellschaft, im Bereich des Sichwissens des Geistes Kunst, Religion und Philosophie mit ihren Gestaltungen und Formen. Sicherlich hat Hegel nicht geglaubt, ein Staat wie Preußen bilde das Ende, nämlich die Vollendung der Geschichte; er hat vielmehr auf die Mängel Preußens hingewiesen und vor allem auch darauf, daß an den Flügeln der damaligen Pentarchie Gebiete lagen, die mit ihren überragenden Ressourcen einmal geschichtsbestimmend werden mußten: Rußland mit seiner unbürgerlich-archaischen, nämlich bäuerlich-adelig-despotischen Struktur, Amerika mit einer bürgerlichen Gesellschaft noch ohne eigentliche Staatlichkeit. Aber auch von Rußland und Amerika hat Hegel angenommen, daß sie sich, — wenn die Siedler in Amerika erst einmal die Ostküste mit der Westküste verbunden hätten — auf die Struktur hin entwickeln müßten, die Hegel als die differenzierteste der Geschichte in seiner Zeit sich hatte bilden sehen. Wenn Hegel den ganzen Bereich des absoluten Geistes als Religion ansprach, dann ging er davon aus, daß inzwischen eine absolute Religion auf den Begriff zu bringen sei, die nicht mehr die Religion eines bestimmten geschichtlichen Volkes sei, sondern alles geschichtlich Gewonnene in sich fasse. Als Hegel — am Ende seiner Jenaer Zeit — diese Verknüpfung von System und Geschichte erreichte, fand er — in der Vorrede zur Phänomenologie — dafür auch die berühmte Formel, die Substanz müsse Subjekt werden.

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nämlich sich in einem Prozeß so aufschließen, daß das Ganze vom einzelnen, subjektiven Vollzug zu erreichen und als sich entfaltendes Telos des Prozesses lebendige Gegenwart sei. Der junge Hegel, der mit der Aufklärung, mit KANT und der philosophischen Tradition überhaupt noch eine überzeitlichautonome Vernunft ansetzte, mußte seinen Freund SCHELLING fragen, warum man eigentlich so spät (nach dem Untergang griechischer Freiheit ein zweites Mal in der Revolution) dazu komme, die Rechte der Vernunft einzufordern. Von HERDER und von HöLDERLINS Rückgriff auf den Schicksalsbegriff der antiken Tragödie lernte Hegel dann, die geschichtliche Individualisierung als etwas Positives zu nehmen. Gerade von dieser Position aus aber konnte Hegel wieder die philosophische Tradition auf nehmen, die seit PLATON Zeit als Abbild der Ewigkeit bestimmte: der Jenaer Aufsatz Glauben und Wissen setzt SPINOZAS Denken sub specie aeternitatis dem jACOBischen Festhalten an der Endlichkeit und Sukzessivität der Zeit entgegen. Ewigkeit aber ist nicht mehr jene gesetzlich bestimmte Rhythmik, in der das Ineinander von Tag, Monat, Jahr und Weltenjahr ähnlich dem Reich der Töne geradezu zahlenmäßig bestimmt ist; sie ist auch nicht mehr das in sich selbst Stehende und Ruhende, aus dem Zeit, sofern sie sich überhaupt öffnet, immer schon herausgefallen ist. Die Zeit wird mit dem Raum von Hegel als das „Dialektische" interpretiert, das sich selber auf hebt; so wird ihr, sofern sie die Zeit des Geistes ist, die Möglichkeit der Verewigung zugesprochen: in jedem Fremden und Getrennten findet der Geist nun „unendlich" sich selbst. Diese philosophische Begrifflichkeit aber fällt zusammen mit dem, was die religiöse Tradition zu sagen hat: Ödipus hat für alle Griechen mit dem Lösungswort „der Mensch" die orientalische Sphinx getötet; doch das Bild des Dichters und die Gestalt des Bildhauers, die den Göttern geliehen wurden, überspielten noch die Härte der Zeit und Endlichkeit. Der Satz vom Tode Gottes meint ebendies, daß der Mensch in seiner Sterblichkeit der Ort ist, an dem nunmehr das Göttliche erscheint. Indem das Göttliche sich diesem Tode anheimgibt, wird es erst ganz lebendig, nämlich geschichtlich in einem letzten Heraustreten seiner Tiefe. Das Christentum des Neuen Testaments, so sagt Hegel in seiner Geschichte der Philosophie, bliebe geistlos, wenn man es nicht philosophisch und das heißt als eine trinitarische Religion interpretierte. Freilich sei die allegorische bzw. typologische Auffassung der Mythologie und der Historie eine große „Lüge" gewesen; davon habe — nach den Ansätzen z.B. in DANTES typologischem Realismus — erst der Erfahrungsstandpunkt der Neuzeit befreit. Dieser aber setzte voraus, daß zur Freiheit im religiösen Sinn auch Freiheit im politischen Sinn gewonnen wurde: setzten die Römer den Einzelnen mit seinen neuen Rechten in eine abstrakte Beziehung zu dem einen Kaiser und Gott, so gingen die „germanischen" Völker aus von der Freiheit und Selbständigkeit der Einzelnen und ihrer genossenschaftlichen Solidarität. Seit

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dem 14. Jahrhundert entwickelte sich aus diesen Ansätzen das Miteinander von Herrschaft und Landschaft, also das moderne Repräsentationssystem oder die konstitutionelle Monarchie. Hegel schwankt freilich in der Bestimmung des Endes des Mittelalters: eine auf sich isolierte Renaissance hat er noch nicht gekannt; am Ende seiner Berliner Zeit betonte er die Bedeutung der Reformation, doch ließen die philosophiegeschichtlichen Vorlesungen die Neuzeit erst am Ende des 16. Jahrhunderts mit BACON und BöHME, mit DESCARTES und SPINOZA beginnen. Hegel sieht die Geschichte so als Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit; man darf aber nicht übersehen, welche Opfer er für diesen Fortschritt selbstverständlich einfordert: den unterlegenen und untergegangenen Völkern ruft er noch nach, daß sie ja auch kein weltgeschichtliches Recht gehabt hätten; den Indianern wird als Schicksal zugesprochen, ihrer schwachen Konstitution wegen beim Kommen der Europäer zu unterliegen, während die stärkeren Neger in dieser oder jener Weise Sklaven seien und bleiben müßten, da sie den Weg von ihren Fetischen zur freieren Auffassung des Schönen und Heiligen nicht zu gehen vermöchten; kein Zweifel wird daran gelassen, daß das statarische China und Indien mit seinem Kastenwesen zu ihren eigenen Gunsten von den Europäern kolonisiert werden mußten.1 Welche Rolle sprach Hegel der Kunst in dieser Geschichte zu, die auch bei einem möglichen Übergang nach Amerika und Rußland eine europäisierte Weltgeschichte bleiben sollte? Der Gymnasiast Hegel hat übereifrig exzerpiert, was die Kompendien, Sammlungen und Zeitschriften der Spätaufklärung über Kunst zu sagen hatten; der Student mußte sich erst von diesem neuen Alexandrinismus befreien, ehe er mit dem Freunde HöLDERLIN fragen konnte, was Dichtung und Kunst beitragen könnten zu einem künftigen neuen „Gemeingeist". In Jena beteiligte Hegel sich am Ausgriff der Romantiker auf die alteuropäische Dichtung und Malerei und das Orientalische. Freilich suchte Hegel die potenzierte und universal ausgestaltete ästhetische Reflexion an die Aufgaben der Geschichte zurückzubinden, damit sie nicht in Unverbindlichkeit und Leere ende. Jenen, die wie HöLDERLIN und NOVALIS eine bessere Zukunft als Wiederkehr einer großen Vergangenheit erhofften, stellt er die Frage, ob diese Hoffnungen nicht bloßer Traum blieben. Aus dem 1 Über die „Lüge" der magischen Naturauffassung und der typologischen Allegorese der Geschichte sowie über die „Geistlosigkeit" des Urchristentums vgl. die Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie (Werke. Band XV. 6 f, 111). Hans Freyer hat in der Katastrophenzeit des Zweiten Weltkrieges mit Hegel und Dilthey gezeigt, wie aus der europäischen Geschichte heraus die Geschichte zur einen Weltgeschichte sich zusammenschloß: Weltgeschichte Europas. Wiesbaden 1948. Zur historischen Ausbildung dieser historischen Sicht vgl. Heinz Gollwitzer: Europabild und Europagedanke. München 1951; Geschichte des weltpolitischen Denkens. 2 Bde. Göttingen 1972 und 1982.

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Heidelberger Freundeskreis ging Hegel nach Berlin, weil er mit dabei sein wollte, wenn dort ein neuer Großstaat über die Organisation der Bildung seine innere Einheit suchte. Der Minister VON ALTENSTEIN hatte Hegel eine Stelle in der Akademie versprochen, und als dieser Plan sich nicht realisieren ließ, sagte Hegel in seiner Ästhetik-Vorlesung in Trotz oder Resignation, wenn er Präsident der Akademie wäre, würde er Monumenta Nationum sammeln: nicht nur Monumenta Germaniae Historica, sondern die »Bibeln" aller Völker. (Für solche Editionsunternehmen nahm Hegel in seiner HUMBOLDT-Rezension Akademie oder »Regierung" in die Pflicht, obwohl doch HUMBOLDT in diesem Zusammenhang neben der freien Vereinigung der Gelehrten niemals die Regierung direkt beansprucht hätte.) Freilich machte Hegel zwischen HOMER und den altindischen Epen oder den Lusiaden des CAMOES einen Unterschied: nur in Griechenland hatten die Dichter dem Volk die Götter geschaffen, hatte ein Bildhauer wie PHIDIAS das von HOMER Erschaute gestaltet. Als die Griechen nach Kleinasien ausschwärmten, bewahrten sie das alte Mykene in den Sagen, lösten aber die Götter von den kultischen Stätten. So konnte entstehen, was Hegel mit der GoETHEzeit die griechische »Kunstreligion" nannte. Hegel machte vor allem in der zweiten Hälfte seiner Jenaer Zeit — so in der großen Strukturanalyse der Phänomenologie — geltend, daß diese Kunstreligion in sich die Tendenz zur Selbstaufhebung getragen und deshalb im Spott der Komödie über die schönen Götter geendet hatte. Wenn nach dem Credo der GoETHEzeit bei den Griechen Kunst und Religion zusammenfallen, dann kann die orientalische Kunst zu einem »Vor", die christliche Kunst zu einem »Nach" werden. Hegel suchte denn auch in seiner Ästhetik zu zeigen, daß die orientalischen Völker auf verschiedenen Entwicklungslinien Elemente der Kunst entfalteten, die erst von Griechen in ein sich selbst tragendes schönes Ganzes gefügt wurden. Zweideutig scheint die Rolle des anderen exemplarischen Volkes, der Juden, zu bleiben: sind sie zuerst nur das negative Gegenbild zum Vorbild der Griechen, so fällt ihnen schließlich die Äufgabe zu, als ein Volk des Unglücks in der Spätantike das allgemeine Unglück, den Tod der Götter, auszusprechen und so die Geschichte weiterzutreiben. Diese Einordnung der jüdischen Geschichte läßt über die Frage hinweggleiten, ob sich ein Volk nicht auch religiös verstehen könne, ohne für den Äusdruck dieses Verständnisses vor allem die Kunst einzusetzen. Wenn für das Christentum der sterbliche und geschichtliche Mensch zu dem Ort wird, an dem Göttliches erscheint, dann wird das Sichhalten an den schönen Schein der Kunstgestalt zu einem Stehenbleiben vor der Geistigkeit des Lebendigen, die Tod und Leben zusammennimmt. Noch gegenüber GOETHES Büste von RAUCH hat Hegel verhüllt ausgesprochen, daß auch der größte Künstler seiner Zeit sich selbst fremd wurde, als sein Leben zum Ort des Äufbrechens der neuen Kunst wurde — auch das »Werk"

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der Kunst vermag allein nicht „gerecht" zu machen. Hege! suchte zu zeigen, daß die christliche Zeit Kunst gebrauchen konnte, aber in ihr keine letzte Heimat mehr hatte. Da Hegel bis in die ersten Jenaer Jahre die schöne, poetische und mythologische Religion des freien Volkes suchte, gehörte der Zusammenhang von Architektur, Plastik, Dichtung, Musik und Tanz in den religiösen Vollzug (das sog. Systemfragment von 1800 etwa stellt diesen Zusammenhang wie eine Panathenäenprozession dar). Als die „Phantasiereligion", die die „moralische" Religion in sich aufgenommen hatte, nicht mehr der „positiven" christlichen Religion entgegengestellt wurde, konnte die christliche Religion als eine geschichtsbezogene schließlich zu der absoluten Religion werden, die sich die Religionsgeschichte im ganzen integriert. Wenn auch die erste Auflage der Enzyklopädie von 1817 Kunst noch als Phase der Religionsgeschichte faßte, so mußten die späteren Auflagen die Entzweiung von Kunst und Religion in der christlichen Zeit vom Systematischen her zu fassen suchen. Dazu diente die Unterscheidung zwischen der Anschauung in der Kunst, der Vorstellung in der Religion und dem Begriff in der Philosophie, wie Hegel sie schon am Ende der Jenaer Jahre entwickelt hatte. Das in der Kunst Angeschaute wird als die Idee des Schönen oder als das Ideal gefaßt — als die Idee in individuo, die in der Handlung, dem „Drama" des Göttlichen in unterschiedliche Gestalten auseinandergeht und so in einer Tragödie wie der Antigone ihre höchste Darstellung finden kann. Hegel hatte die Idee des Schönen in Nürnberger Entwürfen in die Logik selbst aufnehmen wollen, ihre Entwicklung dann aber der Realphilosophie, nämlich der Ästhetik, überlassen. In Jena hatte Hegel die Künste noch mit Hilfe der üblichen Extreme des Plastischen und Musikalischen geordnet; in Berlin beschränkte er die eine Kunst, die nun nicht mehr im Plural der schönen Künste neben anderen Künsten auftritt, auf die fünf Künste, die sich inzwischen als die exemplarischen durchgesetzt und Gartenkunst oder Tanz zu Randphänomenen gemacht hatten. Läßt die Kunst die Welt dem Menschen zur Heimat werden, so führt sie von der architektonischen Gestaltung der Umwelt über Plastik und Malerei bis zum Erklingen der Innerlichkeit in der Musik und schließlich zur Poesie, die immer schon Ausgangspunkt wie zusammenfassendes Ende und Übergang zur Prosa gewesen war. Diese Künste vollziehen in ihrer Reihenfolge insofern den Gang der Geschichte nach, als sie in den sich folgenden großen Epochen jeweils den „Altar" zu stellen vermögen: im Orient in Tempelturm, Pyramide und Säule, in Griechenland allein in der plastischen Statue, im Mittelalter im Altargemälde, das freilich auch — wie schon der Genter Altar — die Landschaft, das Porträt und das Stilleben und so die Welt in sich aufnimmt. Als die schöne Bilderwelt des Katholizismus untergegangen war, konnte das Geheimnis christlichen Lebens in einer weiteren Verinnerlichung in der Musik erklingen. Dieser sakralen Musik konnte in der Oper

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die Begegnung mit den Mächten des Lebens als etwas Eigenständiges entgegentreten. Hegel macht darauf aufmerksam, daß in GOETHES Iphigenie die Göttermaschinerie des EURIPIDES zugunsten der Innerlichkeit aufgelöst wurde: Orest soll nicht das Bild der Schwester Apolls holen, sondern dem Bild der Schwester in seiner Seele neue Gegenwart geben. In der Oper aber gestattet Hegel auch das, was der Zeit fremd geworden war — z.B. das Menschenopfer oder den Deus ex machina. Während die antike Tragödie durch den Spott der Komödie in Frage gestellt worden war, hat die Oper in sich das Element der Unwirklichkeit, der Phantastik und des schönen Scheins. Gerade deshalb verteidigt Hegel das Märchenhafte als Inhalt der Zauberflöte und die Stoffe aus Tausend-und-eine-Nacht; auf den Ernst des Inhalts und das ehrliche Wort kommt es nicht an, wenn die Kunst Musik, Gebärde, Tanz und Kulissenbild vereint. Dagegen geben avantgardistische Künste wie die Stillebenmalerei eine Musik der Farben; die Instrumentalmusik emanzipiert sich vollends vom Wort und isoliert auf ihre Weise abstrakte Schönheit; die kleinen Gedichte des Westöstlichen Divans holen sich für ihr versöhntes Spiel Anregungen aus allen Zeiten. Wenn Hegel die Geschichte auf 7 000 und die eigentliche Geschichte des Geistes und der Kunst auf drei Tausend Jahre beschränkte und von der Zukunft nichts wesentlich Neues mehr erwartete, dann liegt dieser Versuch für uns heute in größerer Ferne, als ARISTOTELES es für Hegel tat. Wir wissen zwar nicht, ob das, was wir als Weltall kennen, eine einmalige Geschichte hat oder rhythmisch pulsiert (ob es überhaupt etwas Letztes ist); wir haben keine eindeutige Antwort auf die Frage, ob das Leben in diesem All mannigfach zerstreut ist, ob es nur wenige Evolutionen gibt oder gar nur die eine, zu der wir gehören, ob das Leben auf Bewußtsein und Geist angelegt ist oder nicht, usf. Doch die Physiker glauben das Echo des Urknalls zu hören, mit dem vor etwa zwölf Milliarden Jahren dieses unser All begann, und durch mehrere Milliarden Jahre verfolgt man die Spuren des Lebens auf der Erde. Menschen mag es etwa seit zweieinhalb Millionen Jahren geben — die Zahlen ändern sich bei diesen Annahmen schnell; was aber befähigte die Lebewesen, die zu der seltsamen Species Mensch hinführten, in den Millionen Jahren davor zum Überleben? Man kann zwar schwerlich abweisen, daß es schon in der Natur eine Tendenz zum „ästhetisch" geformten Sichdarstellen gibt — etwa bei den Blütenpflanzen, die in der Evolution durch das Zusammenspiel mit den Insekten Raum bekamen, oder in den Lockrufen der Vögel. Doch von der Kunst im eigentlich menschlichen Sinn haben wir genauere Überlieferungen erst für eine letzte Sekunde in der Geschichte des Lebens — für die letzten 35 000 Jahre etwa, als der Mensch die Höhle entdeckte, sie mit Bildern bedeckte, als er die Toten bestattete und Male errichtete, auf Schwirrhölzer hörte und sich zum Tanz ordnete. Dieser Mensch, der den Neandertaler ablöste, könnte sich auch noch im Völkergemisch einer Großstadt wie New

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York bewegen, ohne daß er sonderlich auf fiele. Vor etwa 10 000 Jahren erreichten die Menschen durch die Bebauung des Bodens und die Viehzucht eine neue Seßhaftigkeit (zuerst in Vorderasien und — ohne Viehzucht — in Mittelamerika). Sie entdeckten z.B. auch die Keramik — ein Krug, aus Ton geformt, zerspringt nicht wie die Steinplatte über dem Feuer, man kann in ihm Knollen kochen und wundersam in Eßbares verwandeln, mit dem Opferguß das Leben selbst in ein geheiligtes transformieren. Krüge gibt es überall auf der Welt; die griechischen Vasen stellen mit ihrer Malerei eine andere Welt zu den Motiven der Tempelgiebel und -friese. In der Entfaltung der Kunst gibt es aber auch große Unterschiede. Stellten Male sich zum Steinkreis zusammen, trat der Gott von der Säule herab, dann konnte im Westen die Architektur als Steinbau von Tempel und Kirche alle Künste um sich versammeln. Ostasien dagegen kannte den sakralen Steinbau nicht; neben den Tempeln aus Holz waren Gartenkunst, Schriftkunst und Malerei führend und verwiesen letztlich nicht auf den Gott (den „Angerufenen", das »gegossene Bild"), sondern auf eine offene Weite, deren Rhythmen es sich zu fügen galt. Es ist für uns unmöglich geworden, die Kunst der einzelnen Kulturen von den Chinesen und Indern bis zu den Griechen und zum christlichen Europa auf eine durchgehende Entwicklungslinie zu bringen. Mag WiNCKELMANN etwas Richtiges gesehen haben, wenn er die Kunst der Griechen als Entfaltung des Stils eines Volkes ansprach — das Römische und Spätrömische läßt sich nur vordergründig als Annex oder bloße Imitation des Griechischen betrachten, zeigt vielmehr eine ganz andere Weise, der Kunst einen Raum im Leben zu geben. Wir heute können die Künste nicht mehr auf die fünf großen, die Hegel nannte, beschränken, da die Mitte dieser Norm, die dem Vertrauen entstammt, daß der Mensch — bis hin zur geraden griechischen Nase — mit seiner Gestalt die notwendige Spitze der Evolution des Lebens sei. Die Kunst unseres Jahrhunderts weiß sich dem, was Hegel ausschloß oder gar nicht kannte, näher als PHIDIAS oder RAFFAEL: dem Fetisch des Negers, den Linien der Eiszeit, den Gipsausfüllungen der Hohlstellen von verbrannten Menschen in der pompejanischen Asche. Die Philosophie kann die Aufgaben der Kunst und des Geistes überhaupt deshalb nicht endgültig bestimmen, weil sie weder eine Philosophie der Substanz noch des Subjekts sein kann: jene Zeit hindert sie daran, die auch den Begriff und seine Zusammenhänge verortet (und nicht mit ihrem Trennen und Zerstreuen durch den Begriff, wie Hegel sagt, getilgt werden kann). Die Kunst mag nach einer ihrer Seiten hin Vermittlung erreichter Orientierung und dazu Entlastung des Lebens sein — wie ARISTOTELES es für die Musik am Ende seiner Politik gezeigt und Hegel es in anderer Weise mit der Kulturpolitik seiner Zeit wiederholt hat. Kunst war aber immer schon und ist heute mehr denn je auch anderes — Ringen um neue Orientierung und Gegenbewegung gegen das Bestehende. Hegel hat

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sehr wohl gesehen, daß die Europäisierung, in der die Substanz Subjekt wird, auch eine Fesselung im einmal Erreichten und Stabilisierten bedeutet. Dem baltischen Adeligen VON UEXKüLL schrieb er (»scherzend", wie sein Biograph ROSENKRANZ meinte), Europa sei »bereits eine Art von Käficht geworden, in welchem nur zwei especen von Menschen sich frei zu bewegen scheinen: der eine, der selbst mit Herz und Seele den Verschließern angehört, der andre, der unter dem großen Drahtgewölbe sich einen Fleck sucht, wo er weder für noch wider dessen Drähte zu agieren oder zu reagieren hat". Inzwischen gibt es die Weiten Rußlands oder Amerikas, die Hegel den Europamüden noch empfehlen konnte, nicht mehr, und die Zufluchtsräume der »Wilden" sind allenfalls als Reservate erhalten; der Käfig der Technik, der gesellschaftlichen Konditionierung und der Aufrüstung der großen wie der kleinen Mächte überspannt die ganze Erde. Die Frage muß nicht nur sein, wie Kunst nach Auschwitz und Hiroshima noch möglich sei; gefragt werden muß auch, welchen Sinn sie hat vor den drohenden Atomschlägen. Können Hegels Thesen uns in dieser Situation noch etwas bedeuten?

II. Können wir Hegels Verflechtung von System und Geschichte des Geistes überhaupt noch aus einer Aufgabenstellung verständlich machen, die als eine einmal mögliche anzuerkennen ist, wenn sie auch nicht mehr die unsere sein kann? Als Hegel in Heidelberg und Berlin wieder zur Universität kam, hat er — in einer epochal repräsentativen Weise — in konsequenter Arbeit die Disziplinen der Philosophie des Geistes ausgebildet. Die Geschichte der Philosophie behielt weiterhin ihr traditionelles Gesicht; die Rechtsphilosophie bekam im Winter 1817/18 in Heidelberg zur Zeit der hektischen Bemühungen um Verfassungen für die europäischen Staaten der Nachkriegszeit ihre endgültige Gestalt. Von ihr löste sich 1822/23 die Philosophie der Weltgeschichte als eine selbständig vorgetragene Disziplin ab. Die Ästhetik wurde in Heidelberg skizzenhaft vorgetragen, hatte dann in ihren Berliner Versionen einen besonders breiten Erfolg. Um die Religionsphilosophie bemühte Hegel sich seit 1821 in besonders stark wechselnden Ansätzen. Die systematische Anlage dieser Disziplinen des objektiven und absoluten Geistes ist jedoch unterschiedlich: die Rechts- und Geschichtsphilosophie entfaltet in der Abhandlung der abstrakten Rechtsfähigkeit und in der Umwandlung der Moralphilosophie zu einer Handlungslehre die Elemente, die sich zur Idee des Guten versammeln; dann werden die exemplarischen Institutionen der Sittlichkeit — Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat — vorgeführt als Weisen der Realisierung des lebendig Guten, die Weltgeschichte mit ihren unterschiedlichen »Reichen" wird an das äußere Staatsrecht angehängt. Die Ästhe-

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tik beginnt mit dem Ideal als der Idee des Schönen, entfaltet dieses Ideal in seiner Geschichte als symbolische, klassische und romantische Kunstform und schließt die Darstellung der fünf großen Künste an. Die Religionsphilosophie gibt zuerst den religiösen Standpunkt an: die Erhebung zum Ewigen (1821 in Anknüpfung an die Idee der Phänomenologie, 1824 aus der Polemik gegen SCHLEIERMACHER, seit 1827 unter Berufung auf die Vorgaben der Enzyklopädie). Auf diese Entfaltung des Begriffs der Religion folgt die Geschichte der besonderen Religionen und schließlich die Darstellung der christlichen als der absoluten Religion. Kult, Vorstellung, Gemeindebildung als Realisierungsweisen der Religiosität werden nicht (wie die Institutionen der Sittlichkeit oder die einzelnen Künste) in einem gesonderten systematischen Teil dargestellt. Die Berliner Enzyklopädie spricht im einleitenden § 14 klar aus, daß die Philosophie das als System fasse, was die Geschichte der Philosophie (und überhaupt die Geschichte des Geistes) im Element der „Äußerlichkeit" darstelle. Die Anmerkung zum § 562 hält fest, „daß die Geschichte der Religionen mit der Weltgeschichte zusammenfällt", da sie ja den Volksgeistern in ihrer Endlichkeit, Zufälligkeit und Naturnotwendigkeit nur das Sichwissen des Geistes als eines ewigen gebe; die Religionsphilosophie müsse aber die „logische Notwendigkeit" im Fortgang der Bestimmung des Absoluten durch die Religionen erkennen. Hegel hat auf dem Weg seines Denkens für den Versuch, den Verlauf der Weltgeschichte zu erfassen, allerdings unterschiedliche Konzeptionen entwickelt. Zuerst ging er davon aus, daß die untergegangene Verwirklichung der Freiheit bei den Griechen durch die französische Revolution und die deutsche Revolution des Geistes zurückgeholt werden solle. Dann besann sich Hegel darauf, daß die moderne Geschichte ihre eigenständigen Grundlagen habe, und so sprach er in der Schrift über die Verfassung Deutschlands von drei Formen des Weltgeistes in Hinsicht auf seine politische Verfaßtheit: dem orientalischen Despotismus, dem antiken Republikanismus in seiner Ausartung in der Herrschaft einer neuen Republik über die Welt, dem System der Repräsentation als dem Prinzip der europäischen Geschichte. Als Hegel die Überzeugung der GoEXHEzeit aufgab, die Griechen hätten in bleibender Vorbildlichkeit „die" Natur durch Kunst aufgefaßt, stellte er die orientalischen Religionen unter den Titel der „Natur"Religion. Hegel hatte schon in Frankfurt bei der Darstellung des Judentums beachtet, wie ein unglückliches Volk alles Schöne von sich stieß und die Götterbilder der verbindenden Theophanien als Stein und Holz behandelte, wie andere Völker aber zu Sonne, Mond und Sternen verehrend aufblickten und das Verbindend-Schöne in den Göttern fanden. Hegel hat dann das neugefundene Zend-Avesia verarbeitet, das von KLEUKER auf Grund einer neuplatonischen Interpretation übersetzt worden war: ZARATHUSTRA ist nach der alten Auffassung vor schon 3 000 Jahren aufgetreten; indem Licht und

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Dunkel, Gut und Böse unterschieden wurden, begann Geschichte als Geschichte des Geistes. Vom Hochland des Iran soll dieser Geist dann einerseits nach Indien, andererseits nach Ägypten und Vorderasien herabgestiegen sein, um sich dort zu neuen Gestalten fortzubilden. Als Hegel in Heidelberg im Rahmen der Rechtsphilosophie die Weltgeschichte gliederte, griff er auf das Schema von den vier Reichen zurück. Freilich kannte er auch die Unterscheidung nach Kindheit, Jugend, Mannes- und Greisenalter. Als Hegel die Geschichtsphilosophie verselbständigte, erarbeitete er sich in neuer Weise eine Kenntnis jener Kultur, die VOLTAIRE polemisch gegen die biblische Chronologie ausgespielt hatte; der chinesischen. So kam er dazu, den Anfang der Geschichte des Geistes nach China zu verlegen. Er sprach nunmehr davon, daß der Geist wie die Sonne im Osten aufgehe, um schließlich nach langem Lauf im Westen in sich niederzugehen. Verführt aber das eindrucksvolle Bild nicht dazu, aus einer fragwürdigen Analogie heraus dort einen Weg anzusetzen, wo keiner gewesen war — von den Chinesen zu den Indern, von den Indern zum Nahen Osten?^ Entscheidend ist nach Hegels Auffassung dann auch der Nachweis der „logischen Notwendigkeit" in der Geschichte des Geistes. Mögen wir die Philosophie der Weltgeschichte auf schlagen oder die Ästhetik, die Religionsphilosophie, die Geschichte der Philosophie: immer behauptet Hegel, daß die einzelnen Volksgeister oder epochalen Zusammenhänge mit den Religionen, Künsten und Philosophien sich um die Akzentuierung einer der Grundbestimmungen organisieren, die in der Logik dargestellt werden. Auch die Weltanschauungen, in denen etwas symbolisch, klassisch oder romantisch ästhetische Relevanz gewinnt, sind nichts als die verwirklichende Entfaltung der Idee des Schönen nach deren einzelnen Momenten hin. Hegel kann sogar von dem Sichentfalten und Ordnen der logischen Bestimmungen als von einer ewigen Geschichte sprechen, einem innertrinitarischen Leben Gottes vor der Schöp-

2 Zum einzelnen vgl. meine Aufsätze Die Entstehung von Hegels Ästhetik in Jena. In: Hegel in Jena. Hrsg, von D. Henrich und K. Düsing. Bonn 1980. 249-270 (Hegel-Studien. Beiheft 20.); Idealismus und neue Mythologie. In: Europäische Romantik I. Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Bd 14. Hrsg. v. K. R. Mandelkow. Wiesbaden 1982,179-204. Zum folgenden vgl. Lu de Vos: Die Logik der Hegelschen Rechtsphilosophie: Eine Vermutung. In: Hegel-Studien. 16 (1981), 99-121; Walter Jaeschke: Die Religionsphilosophie Hegels. Darmstadt 1983. 133-147. — Für eine richtige Lektüre der Phänomenologie muß man sehen, daß dieses Werk nicht Hegels Sozial- und Geschichtsphilosophie ist (wie Kojeve den letzten Jahrzehnten der Hegelrezeption hat weismachen wollen), sondern eine Einübung in spekulative Bestimmungen, gerade auch in der Phänomenologie des Selbstbewußtseins; vgl. dazu das Kapitel über Hegels Phänomenologie des Selbstbewußtseins in meinem Buch Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes. Freiburg/München 1973. 231-298.

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fung, usf. Der Widerspruch gegen Hegel hat sich denn auch von RANKE bis BURCKHARDT und DILTHEY an dieser logischen Konstruktion der Geschichte entzündet, in der die Geschichte um die Gottunmittelbarkeit ihrer Epochen oder die Faktizität der Volksgeister gebracht werde. Hegel hat auch sonst sich auf die Logik im Aufbau der Philosophie des Geistes berufen. Das Kompendium der Rechtsphilosophie verweist auf eine Parallelität zwischen bestimmten systematischen Entwicklungen und der Urteilslehre; doch bleiben diese Ansätze fragmentarisch. Gibt es nicht auch Widersprüche? Ist z.B. die Idee des Guten in der Logik mit ihrem Reflexionsstandpunkt das lebendig Gute, das sich als Sittlichkeit entfaltet? Die Religionsphilosophie bemüht auch die Gottesbeweise zur Gliederung der Religionen; die Enzyklopädie spricht am Schluß davon, daß die absolute Religion und die Philosophie „Schlüsse" seien. Ist damit nur festgelegt, was Hegel auch sonst über die Bedeutung logischer Verhältnisse wie die von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem oder Wesen, Erscheinung und Schein sagt, und bleiben diese logischen Stabilisierungen der Systematik im Vagen? Hegels pauschale Thesen sind denn auch Thema ebenso kontroverser wie ausschweifender Interpretationen geworden. Verhält es sich anders, wenn die Geschichte des Geistes allgemein als Subjektwerdung der Substanz bezeichnet aber auch den konkreten Entwicklungen logische Notwendigkeit bescheinigt wird? Als Hegel im September 1800 seine Berner Abhandlung über die „Positivität" der christlichen Religion zu überarbeiten begann, betonte er, eine solche Untersuchung über das Verhältnis des Göttlichen zum Menschlichen „würde, wenn sie durch Begriffe gründlich geführt werden sollte, am Ende in eine metaphysische Betrachtung des Verhältnisses des Endlichen zum Unendlichen übergehen". Eben eine solche Metaphysik entfaltete Hegel in Jena; bei diesem Übergang zur spekulativen Philosophie traf er sich mit ScHELLiNG, doch Stellte er der Metaphysik der Substanz oder der Idee eine Logik voraus, die durch eine dialektische Entwicklung der Grundbegriffe und der Formen des Denkens zum spekulativen Prinzip hinführte. Als Hegel in der zweiten Hälfte seiner Jenaer Zeit den Begriff des Lebens in seine Logik und Metaphysik einführte und Logik und Metaphysik zu der einen spekulaLl.v., Philosophie verschmolz, nannte er (am Schluß der Realphilosophie von 1805/06) die folgenden Titel für die sechs oder zweimal drei Kapitel dieser spekulativen Philosophie: Sein, Verhältnis, Leben und Erkennen; wissendes Wissen, Geist, Wissen des Geistes von sich. Während das Sein in das Nichts nur umschlägt, hat eine Relation wie Substanz-Akzidens den Gegensatz von vornherein in sich; so kann die Einheit der extreme heraustreten, die Substanz als Kraft gedacht werden, die ständig zu den Akzidenzien herausgeht und sie auch in sich einbehält, die nach ihrer erfüllten Weise hin „Leben" ist, das durch ein Erkennen more geometrico nicht einzuholen ist. Entfalten die ersten drei Kapitel logische oder formale Begriffe, die auf isolierte Aspekte

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gehen, so zeigen die weiteren drei Kapitel, wie diese Begriffe zu einem Ganzen zusammentreten, wie von diesem Ganzen her metaphysische Entitäten erfaßt werden können, z. B. der sittliche Geist eines Volkes und dessen religiöses Wissen von sich. Zur spekulativen Philosophie als der „eigentlichen" Wissenschaft des Geistes tritt eine Einführung in den Umgang mit den spekulativen Bestimmungen, die Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins oder Phänomenologie des Geistes. Deren „Gestalten" entsprechen den (exemplarisch ausgewählten) spekulativen Bestimmungen: die sinnliche Gewißheit übt den Umgang mit den Bestimmungen des Seins ein, Wahrnehmung und Verstand tun das Gleiche für das Verhältnis; wie das Leben sich zum Selbstbewußtsein erhebt, zeigt die Phänomenologie des Selbstbewußtseins. Den „metaphyischen" Kapiteln der spekulativen Philosophie entsprechen in der Phänomenologie dann die Kapitel über Vernunft, (sittlichen) Geist, Sichwissen des Geistes in Religion und absolutem Wissen. Die Phänomenologie hat die spekulativen Bestimmungen immer nur eingehüllt in die Gestalten der Erfahrung und deren Geschichte, doch so, daß die Phänomenologie Geschichte im eigentlichen Sinn des Wortes gar nicht erreicht. Am Schluß der Phänomenologie macht Hegel deshalb darauf aufmerksam, daß der Geist in die Zufälligkeit entlassen werden muß, die der Natur und der Geschichte zukommt; entsprechend muß die spekulative Philosophie als Phänomenologie und Logik in die Realphilosophie übergehen. Erst in der Realphilosophie ist von der Geschichte als dem zufälligen Geschehen die Rede (in dem z.B. PARMENIDES in einer ganz bestimmten Situation den Seinsbegriff akzentuiert). Was diese mit Zufall durchsetzte Geschichte einbringt, erfaßt die Phänomenologie nur als „begriffene Organisation" (die z.B. der sinnlichen Gewißheit und der Erfahrung des Seins den bestimmten Ort am Anfang anweist). Erst wenn die Geschichte, die dem Zufall Raum gibt, zusammengenommen wird mit der Organisation dessen, was die Geschichte erbringt (was sich aber auch unabhängig von ihr in eine „Geschichte" als Ordnung einbringen läßt), ergibt sich die „begriffene Geschichte". Da die Phänomenologie mit ihren Gestalten auf die Grundbestimmungen der Logik verweist, geht das Begreifen in der begriffenen Organisation auf die logische Notwendigkeit in der Entfaltung der spekulativen Bestimmungen zurück. Die sinnliche Gewißheit als die erste Gestalt der Phänomenologie macht z.B. am Gebrauch des Wortes „Dieses" die Erfahrung, daß wir schlechthin Individuelles meinen, aber im Gesagten schon etwas Allgemeines haben — dieses Dieses und jenes Dieses. Hinter dieser Erfahrung steht die logische Notwendigkeit, daß wir die Seinsbestimmungen nur zusammen mit den Bestimmungen der Relation gebrauchen; das „Dieses" wird so zu dem einen Ding mit den vielen allgemeinen Eigenschaften. Der Weg vom Sein zur Relation und dann zum Leben und selbsthaften Leben führt zur Teleologie als der höchsten logischen oder formalen Bestimmung, die illustriert wird durch das

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„unglückliche Bewußtsein" und die „Anerkennung" in ihm: der Mensch muß anerkennen, daß er (über vielfache Vermittlungen) aus Gott lebt, Gott, daß er Mensch werden muß; das Leben tendiert zum Selbst, das Selbst hat seinen Grund im Leben, usf. Von solcher „Anerkennung" aus läßt sich die christliche Religiosiät begreifen (und noch das absolute Wissen als Vereinigung des weltlichen Wissens mit dem Durchgriff der Religion auf einen letzten Sinn). Vor der christlichen als der absoluten Religion stehen in der Geschichte der Menschheit viele andere Religionen, die sich um andere, niedere logische Bestimmungen kristallisieren. Die „Naturreligion" geht sofort in eine Reihe von Religionen auseinander (die iranische, jüdische, indische, phönizische, ägyptische). Kann diese Reihe aus der „logischen Notwendigkeit", die hinter den phänomenologischen Entwicklungen steht, verständlich gemacht werden? Bewußtsein, Selbstbewußtsein und Vernunft sind nur Aspekte des Geistes; ihre Abfolge ist keine Geschichte in der Zeit. Aber von den Momenten z.B. des Bewußtseins (sinnliche Gewißheit, Wahrnehmung, Verstand) sagt Hegel in der Einleitung zur Phänomenologie der Religion, daß sie einen Verlauf bildeten, der sich auch in der Zeit darstelle. Diese Momente ließen sich als Punkte von Linien (d.h. von Bewußtsein, Selbstbewußtsein und Freiheit des Selbstbewußtseins) denken, die jeweils in einen Knoten ausliefen. Fasse man die Linien an diesem Knoten zu einem Bund zusammen, dann liege z.B. die erste der Bestimmungen des Bewußtseins, die sinnliche Gewißheit, neben der ersten Bestimmung des Selbstbewußtseins, der Behauptung der Selbständigkeit als eines Herrseins und einer Herrschaft, usf. Die erste natürliche Religion, die Religion des Lichtwesens, behauptet nun in der Weise der sinnlichen Gewißheit, das Göttliche sei das Licht und sei so unterschieden vom Dunkel des Bösen; von dieser iranischen Religion trennt sich die jüdische, indem sie dem Herrn des Selbstbewußtseins einen Akzent gibt und diesem das Licht (als sein Kleid) zuspricht. Die Religionen der Pflanze und des Tiers folgen der Wahrnehmung, indem das Licht zum Inneren der einen Substanz wird, die in das äußere der vielen Akzidenzien ausstrahlt und zum beseelten Leben wird. Diese „wahrnehmende" Auffassung des Göttlichen kann mit dem Kampf im Selbstbewußtsein kombiniert werden (wie in den sich bekämpfenden Tierreligionen Vorderasiens) oder mit dem Herrschafts-Knechtsschafts-Verhältnis (wie im Indischen, wo die unschuldige „Blumenreligion" sich mit dem Kastenwesen verbindet). Folgt die Religiosität dem Bewußtsein als Verstand, dann wird sie zur ägyptischen Religion des Werkmeisters. Diese Phänomenologie der Naturreligion gibt nur die „begriffene Organisation" der Geschichte; sie gibt nicht die wirkliche Geschichte mit Einschluß der Zufälligkeit, sondern eine Ordnung der möglichen Gestaltungen vom Typischen her. Hegel ist sich auch darüber im Klaren, daß jede Religion alle logischen Momente als Aspekte des Geistes enthält; doch gibt die einzelne

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Religion jeweils einem Moment die Führung. So kennen auch die altorientalischen Religionen Weisen der „Menschwerdung" Gottes, aber die Menschwerdung hat in ihnen noch Jeeine Wahrheit", wie Hegel in der Einleitung zum Kapitel über die Naturreligion sagt; wenn die Menschwerdung dort wirkliche Wahrheit gewänne, nämlich zur leitenden Bestimmung würde, dann wäre nicht nur der Despot, sondern jeder Mensch frei (wie nach der Lehre des Christentums). Religiosität gestaltet sich aber nicht nur unter der Führung des Bewußtseins als Naturreligion, sondern auch unter Führung des Selbstbewußtseins als Kunst-Religion, schließlich als absolute Religion. Während nun die Religiosität in der Naturreligion in eine Vielfalt von Religionen auseinanderfällt, vermag das Griechentum das Auseinanderfallende zu Strukturmomenten der einen neuen Religion zu machen. Von der sinnlichen Gewißheit aus sucht diese Religion Gott zuerst „abstrakt" im Stein der Statue; das aber ist ein Anfang, der entfaltet werden muß. Ähnliches gilt für das christliche Finden des Göttlichen in „diesem" Menschen, dem historischen Jesus. Als Hegel die Phänomenologie des Geistes endlich vorlegen konnte, beklagte er, daß in dem überstürzt geschriebenen Werk vieles inkonsequent geblieben sei — er hoffte auf eine zweite Auflage. Trotz mancher Inkonsequenz in der Systematik durfte Hegel aber glauben, daß der Nachweis der logischen Notwendigkeit in der Geschichte des Bewußtseins bruchlos in Übereinstimmung zu bringen sei mit der bekannten Weltgeschichte und der Geschichte der Religionen. Die Geschichte des Geistes beginnt nach Hegels damaliger Sicht ja auf dem Hochland von Iran, um von dort nach Osten und Westen herabzusteigen, schließlich nach Griechenland überzugehen. Von dieser Koordinierung der Spekulation und der Empirie konnte Hegel in Berlin nicht mehr ausgehen, denn inzwischen hatte er seine spekulative Philosophie und auch seine Sicht der Geschichte entscheidend umgestaltet. Die Wissenschaft der Logik enthält nicht mehr die sechs Kapitel, die von der Phänomenologie vorausgesetzt wurden; damit ist aber der logische Hintergrund der phänomenologischen Bewegung aufgegeben (Hegels System muß die Phänomenologie entweder als eigentümliches früheres Werk auf sich beruhen lassen oder aber uminterpretieren). Trotzdem bleibt Hegel bei der Forderung, der Fortgang der Geschichte sei logisch zu rechtfertigen; seine Hinweise bleiben aber fragmentarisch und ohne letzte Konsequenz. Die orientalischen Religionen können z.B. dem Sein zugeordnet werden, die griechische Religion dem Wesen, das scheinen muß; aus anderen Hinsichten sind aber auch andere Parallelisierungen zwischen Logik und Geschichte möglich. Die Weltgeschichte wird neu gesehen, seit Hegel nach eingehenden Studien in seiner ersten geschichtsphilosophischen Vorlesung von 1822/23 den Anfang mit den Chinesen macht und von ihnen zu den Indern fortschreitet (schließlich sogar die Neger und Eskimos berücksichtigt). Vertraut man den Verspre-

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chungen, die Hegel weiterhin gibt, dann muß man enttäuscht in seiner Systematisierung und ihrem logischen Hintergrund ein Trümmerfeld finden, wo die Konsequenz im ganzen immer nur gefordert und angedeutet, nie gegeben wird, wo manches nur durch immer neue Hilfsgerüste vor dem Einsturz bewahrt bleibt. Freilich haben „Forschungen" unserer Zeit aus den überlieferten Arbeiten Hegels einen Über-Hegel herauspräpariert, bei dem keine Frage offen, keine Lücke ungeschlossen bleibt. Aber wer sich so an Hegel verliert, ist kein Philosoph — er sieht nicht einmal die Erfahrungen, die Hegel zu verarbeiten suchte, geschweige daß er die Erfahrungen mitmachte, die heute möglich sind.

III. Wer in den letzten Jahrzehnten von der Philosophie her über Kunst und Dichtung nachdachte, war fast genötigt, über Hegels Lehre vom Ende der Kunst sich zu äußern; die Weigerung, sich auf dieses Thema einzulassen, konnte nur noch übertroffen werden von dem heroischen Entschluß, nicht über KAFKA ZU schreiben oder über BECKETT. Daran kann kein Zweifel sein: seit Hegel mit der Publikation der Phänomenologie seinen endgültigen philosophischen Ansatz erreicht, betont er auch, daß der Begriff, und zwar gerade der Begriff von den Aufgaben des Geistes, die Zeit tilge; weil das, was wesentlich ist, in der Geschichte hervorgetreten ist, kann das Aufgetretene in eine Ordnung gebracht werden, die auf ihre Weise Äternität beansprucht. Sieht die Kunst die „Idee" als Ideal und damit anschaulich in individuierten Gestalten in der nicht aufzuhebenden Zeit, dann bleibt sie hinter den Möglichkeiten des Begriffs zurück. Diese „alexandrinische" Philosophie des absoluten Geistes, lebt freilich von einer Theoretisierung des Geistes, die auch in die Philosophie des subjektiven Geistes Widersprüche hineinträgt: die Reihenfolge Anschauung, Vorstellung, Begriff wird im „theoretischen Geist" entwickelt, der vom praktischen unterschieden ist, nicht aber im „freien Geist", der Theorie und Praxis in sich vereint (wie das z.B. für Kult und Kunst gilt), und trotzdem sollen Anschauung, Vorstellung und Begriff den absoluten Geist gliedern. Daß eine Philosophie dieser Art der Praxis und der Zukunft nicht gerecht wird, haben die Philosophen der Tat alsbald herausgestellt (wobei MARX in seinen Pariser Manuskripten das von Hegel beanspruchte „System" nur der Zukunft und der Tat als Ziel setzt und so letztlich beibehält). Als BRUNO BAUER die Posaune über Hegel den Atheisten und Antichristen geblasen hatte, war klar, daß sich von Hegel her auch ein Ende der Religion proklamieren ließ. Eine Lehre vom Ende der Politik und vom Ende der Religion wird heute (sieht man von den Aper9us KOJEVES ab) allenfalls als eine Zwiespältigkeit im Hegelschen Ansatz oder als die metaphysischen Eierscha-

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len dieses Ansatzes diskutiert. Warum die Aufregung über das sog. Ende der Kunst? Offenbar hat Hegel hier einen wunden Nerv getroffen: was HOMER gesungen, PHIDIAS und RAFFAEL gestaltet haben, das ist in der Tat ausgesungen und verklungen. Der Glaube, daß Jesus der Christus sei, kann viel bruchloser in eine begriffliche Interpretation überführt werden; eine solche Überführung versucht die Dogmatik, seit der Apostel Paulus Christus nicht mehr nach dem Fleische kennen wollte. Der philologische oder museale Umgang mit HOMER, PHIDIAS und RAFFAEL ist dagegen etwas ganz anderes als das Schaffen ihrer großen Werke, das eine Epoche veränderte. Hat die Kunst heute überhaupt noch die Wirkung, die ihr einst zukam? Die These, daß der Künstler nicht mehr das Publikum der Alten finde, wurde schon von dem Gymnasiasten und dem Studenten Hegel zum Gegenstand des eigenen Fleißes gemacht. Wenn Hegel schließlich in seinem endgültigen System die Geschichte als Verewigung verstand, dann gewährte ihm gerade diese metaphyische Position eine hohe Sensibilität für die Geschichte. So konnte er die Geschichte, die die Kunst erleidet, zu seinem Thema machen. Wenn Hegel 1818 in das kunstarme Preußen ging, dann deshalb, weil dieser neue Großstaat auf »Intelligenz gebaut" werden, durch Bildung seine innere Einheit gewinnen sollte; so konnte die Bemühung um Kunst dort zu einem wichtigen Anliegen werden. Hegel sah aufmerksam nach Bayern hinunter, wo er selbst einst gewirkt hatte: in München waren nicht nur unter der Beteiligung von JACOBI und SCHELLING die Akademien der Wissenschaften und der Künste reorganisiert worden; auch die Universität wurde nach dort gezogen, und der Bereich des Königsplatzes und der Ludwigstraße wurde zum glanzvollen Muster der neuen künstlerischen Gestaltung einer Hauptstadt. Hegel konnte sich freilich damit zufrieden geben, daß der preußische Kronprinz eine bayrische Prinzessin heiratete und so zeigte, wer den Ton angab. Gegenüber Paris schien Berlin zuerst noch unterliegen zu müssen. Wenn Hegel eine seiner Bildungsreisen nach Paris machte, dann brachte auch er damit zum Ausdruck, daß Berlin im Reigen der europäischen Hauptstädte diesem Vorbild nacheiferte. Jenen, die wie SCHLEIERMACHER oder SAVIGNY an der Berliner Universität zu den Männern der ersten Stunde gehörten, mußte Hegel als ein Eindringling erscheinen, der einen Platz usurpierte, der ihm nicht zustand. Wenn Hegel nur im Kultusministerium VON ALTENSTEINS eine Verbindung zur Politik gewann, dann zeigte sich auch daran, wie schmal die Brücke blieb, auf der Hegel stand; er gehörte in schroffer Einseitigkeit auf die Linie HARDENBERGS (der allenfalls auf kulturpolitischem Gebiet noch eine Chance blieb), nicht auf die Linie des FREIHERRN VOM STEIN. Wenn der Freund NIETHAMMER nach dem Sturz NAPOLEONS in Bayern ausgeschaltet wurde, dann erinnerte Hegel ihn an die Tradition, der die gemeinsamen philosophischen und kulturpolitischen Bemühungen entstammten: nächst Gott und NAPOLEON habe NIETHAMMER am meisten dem Minister VON MONTGELAS ZU danken!

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Hegel zog so eine Linie von der Aufklärung zum Idealismus und dem Versuch, das Erbe der Französischen Revolution anzutreten. So mußte Preußen mit seinen Reformen als Fortführung dessen erscheinen, was in Frankreich begonnen hatte und sich in Deutschland zuerst in den Rheinbundstaaten geltend machte; Hegel hat keinen Zweifel daran gelassen, daß Preußen auch zur Zeit seiner eigenen Wirksamkeit in Berlin ein Nachholbedürfnis hatte. Verfassungsstreit und Demagogenverfolgung verschoben weitere Reformen im politischen Bereich auf eine unabsehbare Zukunft; Hegel gab den Plan einer Staatspädagogik auf, da die Reform der Schulen eine Sache der Verwaltung geworden war, und er überließ bald seine rechtsphilosophischen Vorlesungen seinen Schülern, um vorrangig Geschichts-, Kunst- und Religionsphilosophie auszuarbeiten. Dabei hatte er auf kunstphilosophischem Gebiet das größte Echo, das unmittelbar über die akademische Sphäre hinauswirkte. Wenn er das Bündnis mit GOETHE suchte, dann muß auch dieser Brückenschlag recht verstanden werden: es ging nun nicht mehr darum, den neuen Bildungsroman und das Iphigenienideal reiner Menschlichkeit aus der kleinen Residenz Weimar in die Salons einer Großstadt mit rationalistischer Tradition zu übertragen. Vielmehr wurde GOETHE eingebaut in Bestrebungen, der Kunst einen beschränkten Platz in einem Staat zu geben, der sich auf rationale Politik und die Verwissenschaftlichung der Welt stützte.^ Wenn Hegel in Berlin wider seinen Wunsch und Willen von einer mehr praktischen, nämlich kulturpolitischen Tätigkeit und von staatsrechtlichen Fragen durch das politische Geschehen abgedrängt wird, dann bleibt doch seine Ästhetik verbunden mit den Fragen der Rechtsphilosophie. Die Rechtsphilosophie vereinigt in sich juristische, ökonomische und historische Über^ Hegels Bedeutung für die deutsche Geschichte kann nicht gesehen werden, wenn man nicht mit zwei Traditionen bricht: a) Statt die bekannte Linie von Weimar nach Jena und Heidelberg als eine repräsentative Linie noch einmal zu ziehen, muß man sehen, daß es damals geistige Zentren gab, die ganz anders orientiert waren — z.B. in der kleinen Residenz Homburg oder in der Handelsstadt Frankfurt an bürgerlichen Traditionen, der Nähe zum revolutionären Frankreich sowie einem anderen theologischen Ernst. Vgl. dazu die Sammelbände Homburg vor der Höhe in der deutschen Geistesgeschichte und „Frankfurt aber ist der Nabel dieser Erde“; Mainz — Zentralort des Reiches, hrsg. V. Ch. Jamme und mir, Stuttgart 1981, 1983, 1985. b) Man darf die Reformen in Preußen nicht als Vorklang der nationalen Bewegung der Freiheitskriege sehen, sondern muß zuerst einmal darauf achten, wie sich von Frankreich her über die Rheinbundstaaten eine Welle nötiger Reformen bis nach Preußen zieht. Nicht von ungefähr ist Hegels Rechtsphilosophie, angeblich die Anpassung des Philosophen an Preußen, in der vollen systematischen Entfaltung erstmals im badischen Heidelberg zur Zeit der heftigsten Diskussionen über neue Verfassungen vorgetragen worden. Vgl. Hegel: Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft (1817/18). Hamburg 1983.

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legungen; so kann sie zeigen, wie sich in einer vielhundertjährigen Entwicklung vom Prinzip des »Eigentums' her ein Privatrecht bildete, das einen wirtschaftlichen Prozeß regelte, der eine immer größere Eigenständigkeit gegenüber der politischen Sphäre bekam. Der einzelne ordnete sich dann in das Ganze der arbeitsteiligen Gesellschaft dadurch ein, daß er gemäß dem Recht der freien Berufswahl durch die eigene Leistung sich seinen Platz bestimmte. Was sich so als »bürgerliche Gesellschaft' emanzipierte, sollte durch ein Repräsentationssystem oder eine konstitutionelle Monarchie wieder an der politischen Sphäre beteiligt werden. Auch dem alten Adel wurde (wie dem Monarchen) eine Rolle in diesem System zugedacht, die wenigstens durch negative Abhebung von der neuen Auffassung bestimmt war: der Adel kann, da er vom Eigentumserwerb freigestellt und deshalb nicht erpreßbar ist, zeigen, was eine unabhängige Vertretung politischer Interessen ist (so bekommt er gar eine eigene Kammer). Wenn aber der einzelne im Prinzip durch Arbeit seinen Platz in der Gesellschaft sich bestimmt, dann muß er sich durch Bildung für diese Arbeit qualifizieren. Der Staat muß dafür sorgen, daß die entsprechenden Bildungseinrichtungen für alle zur Verfügung stehen und abgesichert werden. Nach Hegels Auffassung werden Gymnasium und Universität die maßgeblichen Bildungseinrichtungen für die tragende gesellschaftliche Schicht (die Universitäten sind nach Hegels Worten für die Protestanten die Kirchen...). Da die Jugend Idealen folgt, muß sie humanistisch gebildet werden — am Griechentum als dem Jugendalter der Menschheit, in dem der einzelne sich noch unmittelbar mit den Anliegen der ganzen Gemeinschaft identifizieren konnte. Die komplizierte arbeitsteilige Gesellschaft der Moderne gestattet eine solche Identifizierung nicht mehr; in sie weist die Universität ein, an der die Altertumswissenschaft eine spezialistische Wissenschaft neben anderen ist. Über die »Kulturpolitik' muß der Staat auch der Kunst, Religion und Wissenschaft ihren Raum abgrenzen, und zwar so, daß deren Tätigkeit einerseits Selbstzweck und autonom ist, andererseits doch für Bildung und die nötige geistige Orientierung sorgt, welche Grundlage des gemeinsamen Lebens sind (wie Hegel im § 270 der Rechtsphilosophie festhält).'* * Man kann Hegel nicht als Philosophen der Französischen Revolution behandeln, wenn man nur ein Minimum von Verfassungsgeschichte berücksichtigt: statt der Nationalversammlung im Sinne von Sieyes fordert Hegel im Sinne der Verfassungsentwicklung in den deutschen Ländern eine neue »korporative' Repräsentation. Dabei wird ihm offenbar das Modell der Entwicklung in seinem Heimatland Württemberg exemplarisch; vgl. dazu meinen Vortrag Hegel und der Stuttgarter Landtag. In: Kant oder Hegel? Hrsg, von D. Henrich, Stuttgart 1983, 59-79. — Hegel, in der Jugend gebildet durch den Geist der Aufklärung, hebt in seinen letzten Berliner Jahren die Bedeutung der Reformation heraus, die Wort und Buch an die Stelle des Bildes setzte und pragmatisch Religion und Landesherrschaft verknüpfte zu den Landeskirchen.

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Nachdem die Kunst sich in der Säkularisierung aus dem Bann von Kirche und Schloß gelöst hatte und heimatlos geworden war, gaben die Sammlungen und dann auch die öffentlichen Museen den zerstreuten Werken in neuen Zusammenhängen wieder einen Platz. Zusammen mit dem Museum entstand die Kunsthistorie, so daß in wenigen Generationen von WINCKELMANN und Hegel bis heute jener Zusammenhang von Denkmalpflege, Museum und Kunstgeschichte (bzw. Archäologie) aufgebaut wurde, der unser heutiges Leben bis hin zur Lenkung der Touristenströme prägt. Der schaffende Künstler fand nun den Glanz der Kunst der Vergangenheit im Museum vor, aber für seine eigene Kunst konnte er keine gemeinsame Vorstellungswelt mehr voraussetzen und keine Koordination der verschiedenen Künste durch einen gemeinsamen Kult oder gemeinsame politische Repräsentationsbedürfnisse erwarten. Die Kunstakademien in den Residenzstädten oder Quasiresidenzstädten konnten schulebildend wirken (wie bei der »Düsseldorfer Malerschule", auf die Hegel sich in seinen Vorlesungen kritisch bezog); diese Akademien und Schulen arbeiteten aber nur noch unter dem Widerspruch der großen, einsamen Künstler und bald auch der Sezessionen. Neben den Kunstausstellungen waren es die Kunstvereine, die auf neue Weise zwischen Künstler und Publikum vermittelten und den modernen Kunstmarkt vorbereiteten (auch Hegel war Mitglied eines solchen Kunstvereins). Die Kunstkritik konnte sich an diese neuen Formen der Vermittlung von Kunst anschließen. Wenn die Kulturpolitik der Kunst einen neuen Freiraum zu sichern suchte, dann zeigten sich Konsequenzen bis in die Rechtsgestaltung, die nach der Französischen Revolution sich wenigstens programmatisch an der Durchsetzung staatsbürgerlicher Rechte orientierte. Hegel bezog sich auf diese Bestrebungen, vertrat aber auch das Recht eines Landes wie England, die Eigin Marbles im Britischen Museum aufzustellen.

Groethuysen hat von der französischen Geschichte her die Ausbildung des bürgerlichen Bewußtseins untersucht, aber so, daß er den notwendigen Übergang der Französischen Revolution einerseits zu egalitären sozialistischen Tendenzen, andererseits zum Konservativen nicht in sein Revolutionsverständnis einbezog; vgl. zuletzt: Philosophie der Französischen Revolution. Darmstadt und Neuwied 1975. Stephan Strasser hat sich für die bürgerlichen Anfänge an den italienischen Städten orientiert (mit Sombart) und dann die bürgerliche rationale Regelung des Lebens nicht mehr konservativ, aber vom Unverfügbaren im Leben her (mit Levinas) zu begrenzen versucht, vgl. Jenseits des Bürgerlichen. Freiburg/München 1982. Stephan Skaiweit hat die Epocheneinteilung, etwa den von Hegel noch nicht berücksichtigen Einschnitt der »Renaissance", von der heutigen Forschung her in Frage gestellt und kritisch diskutiert: Der Beginn der Neuzeit. Darmstadt 1982. Vgl. dazu meine Besprechung Dachte Hegel bürgerlich und humanistisch? In: Hegel-Studien. 19 (1984), 346-358.

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Läßt man den Kummer über das „Ende der Kunst", das doch kein wirkliches Ende war, dann zeigen sich die Seiten, die an Hegels Ästhetik heute aktuell sind, in der Verbindung der Besinnung auf den Wesenswandel der Kunst in der Zeit der Ausbildung der bürgerlichen Gesellschaft mit kulturpolitischen Fragen. Der Gebrauch des Terminus „Kulturpolitik" scheint freilich ein Anachronismus zu sein. Dieses Wort taucht zwar schon seit 1840 vereinzelt auf; es wird um 1900 auch in den Debatten des Reichtstags über die Kulturarbeit im Ausland gebraucht. Es ist aber erst in aller Munde nach dem Ersten Weltkrieg, als z.B. C. H. BECKER über „Kulturpolitische Aufgaben des Reiches" schrieb, als bedeutende Pädagogen wie SPRANGER den Titel gebrauchten, neben ihm aber auch der Titel „Bildungspolitik" stand. Unverkennbar ist, daß die Kulturphilosophie des Neukantianismus vorausgesetzt wurde. So konnte der Terminus dann auch polemisch in rein negativer Weise gebraucht werden — etwa von HEIDEGGER, der in der Kulturpolitik eine Verabredung der Gruppen der „liberalen" Gesellschaft sieht, die das geistige Schaffen so in ihre Zwänge nimmt, wie das der Totalitarismus des Nationalsozialismus wenigstens in Ansätzen auf anderem Feld etwa auch mit der „Schwängerungsführung" versuchte. Hält man sich von positiven und negativen Wertungen fern, dann scheint der Gebrauch des Titels für die Umbruchszeit um 1800 immer noch fragwürdig, da damals zwar so bedeutende Institutionen wie das Museum oder das Gymnasium geschaffen wurden, aber nicht programmatisch unter dem Titel einer Kultur- und Bildungspolitik. Ein Anachronismus scheint auch darin zu liegen, daß WILHELM VON HUMBOLDT und VON ALTENSTEIN so häufig als preußische „Kultusminister" angesprochen werden, obwohl der eine doch nur Sektionschef im Innenministerium war, der andere einen anderen offiziellen Titel hatte. Der Titel „Kultusminister" ist aber keineswegs erst später auf die Arbeit dieser Staatsmänner zurückübertragen worden, spricht doch z.B. STäGEMANN, der langjährige Redakteur der Preußischen Staatszeitung, in seinen Briefen an VARNHAGEN schon 1816 von dem Berliner Minister des Kultus oder dem Ministerium des Kultus und Unterrichts. Der Titel weist auf die Zeit zurück, wo der Unterricht noch ein Anhängsel an den Kultus, nämlich den Gottesdienst, war und die „Pädagogen" vorzüglich von den Theologen gestellt wurden. Neu kam später auf, daß man bei dem Kultusminister das Wort Kultur oder gar Kulturpolitik assoziierte und ein Ministerium dieser Art als zuständig für eine Kulturpolitik im weitesten Sinn ansah. Die neu entstehenden Institutionen der Kultur wurden in sehr verschiedener Weise dem Kultusministerium zugeordnet oder nicht zugeordnet. IFFLAND verhinderte z.B., daß das Berliner Theater (nun nicht mehr Wanderbühne und nicht mehr Hofoper, sondern vom Anspruch her Nationaltheater der Bürger) dem Kultusministerium unterstellt wurde. Offenbar befürchtete er stärkere Abhängigkeit als bei der „Polizei", also der Gewerbeaufsicht. So gerieten Theater und Oper dann aber als Hoftheater in neue

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Abhängigkeiten bzw. in die alten Zuordnungen. Für das Berliner Museum hatte der Kultusminister VON ALTENSTEIN durchaus eine Zuständigkeit; schon dadurch, daß entscheidende Bestände des Museums in königlichem Besitz waren, ergab sich aber auch ein Vorspracherecht des Generaldirektors beim König selbst. Auch heute pflegt eher das Innenministerium zuständig zu sein für die Koordination der Angelegenheiten von Museen, die in der Trägerschaft von Kommunen, Stiftungen oder Ländern sind. Neue Differenzierungen ergaben auch neue Titel; so kennt Baden-Württemberg heute (wie ähnlich Niedersachsen) einen Minister für Kultus und Sport neben dem Minister für Wissenschaft und Kunst! In Nordrhein-Westfalen scheint man die Wissenschaft (nämlich die Universitäten) mit der Forschung zusammenzusehen; im Bund dagegen läßt man die Wissenschaft bei der Bildung und stellt die Forschung zusammen mit der Technologie, d.h. den Großprojekten der Forschung. Fehlt hier die Kunst in den Namen der Ministerien, so wird deutlich, daß es immer noch offen ist, wo die Kunst in der Verwaltung der gemeinsamen Anliegen ihren Ort hat.® Vielleicht läßt sich Hegels Umgang mit Kunst am ehesten von der Frage her auf schließen, welchen neuen Ort er der Kunst im gemeinsamen Leben zu geben suchte. Er wußte, daß man antike Stoffe opernhaft oder in der iphigenienhaften Verinnerlichung GOETHES umformen kann; wenn er aber daran zweifelte, daß z.B. die Antigone (wie HöLDERLIN es wollte) in originalgetreuer Übersetzung auf die Bühne zu bringen sei, dann mochte mitschwingen, daß nicht bloßes Theater werden sollte, was sich Hegel und HöLDERLIN als etwas Normatives in einsamen Jugendjahren erarbeitet hatten. Zehn Jahre nach Hegels Tod wurde dann doch die Antigone in getreuer Übertragung aufgeführt und in Programmen vorgestellt, die durch Hegels Gedanken bestimmt waren; MENDELSSOHN hatte eine Musik komponiert, die antike Schicksalsergebenheit mit BACHscher Leidensmystik (und einem Echo aus dem Freischütz) verband. Behielt Hegel nicht dennoch Recht, da Oper (und ® Am 28. August 1816 schreibt Stägemann, das Karlsbad habe den „Minister des Kultus" in seiner Gesundheit wieder gefestigt, am 5. Oktober 1818 spricht er von Altensteins Bemühungen um die „Einrichtungen für den Kultus und Unterricht", usf. Vgl. Briefe von Stägemann, Metternich, Heine und Bettina von Arnim nebst Briefen, Anmerkungen und Notizen von Varnhagen von Ense. Leipzig 1865. 37, 40, 70. Zum Terminus „Kulturphilosophie" vgl. Wilhelm Perpeet: „Kulturphilosophie". In: Archiv für Begriffsgeschichte. 20 (1976), 42-99; zum Terminus „Kulturpolitik" vgl. die Hinweise bei Bernhard vom Brocke: Preußen — Land der Schulen, nicht nur der Kasernen. In: Preußen —eine Herausforderung. Hrsg, von W. Böhme. Karlsruhe 1981, 54-99, vor allem 78. —Zum folgenden vgl. die einschlägigen Beiträge in dem Sammelband Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels. Hrsg, von O. Pöggeler u. A. Gethmann-Siefert. Bonn 1983 (Hegel-Studien. Beiheft 22.).

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Oratorium) nun ein Pendant zum Museum und zur Malerei eines CORNELIUS wurden? Der Anspruch, die Antigone zeige Familie und Staat als tragende Pfeiler der Gemeinschaft, überspielte gerade Hegels Entdeckung, daß inzwischen die bürgerliche Gesellschaft zwischen beide getreten sei und beide umgeformt habe. Wenn Hegel 1827 auf der Rückreise von Paris den Begleiter COUSIN in Brüssel zurückließ und sich selbst unermüdlich zum Besuch des EvcKschen Altars in Gent aufmachte, dann lernte er dort, diese Gemälde mit dem olympischen Zeus des PHIDIAS ZU vergleichen, von dem ja ein antiker Lobredner gesagt hat, man könne, hätte man ihn gesehen, nie ganz unglücklich werden (obwohl er doch nur Schicksalsergebenheit und nicht Fügung in die Vorsehung und Geschichte lehrt). Was auf diesem Stiftungsaltar als flandrische Landschaft, stillebenhaftes Element, Porträt, heilige Geschichte zusammentrat, das zeigte Hegel die Welt jenes Bürgertums, das inzwischen zur tragenden geschichtlichen Kraft geworden war. Man darf sich aber nicht darüber täuschen, daß diese Sicht die große Kunst von der Wirklichkeit der Geschichte her und damit in gewisser Weise von außen sieht und sich deshalb auch leicht mit professoraler Gelehrsamkeit verbinden kann. Als Hegel 1819 und 1820 Dresden zum Sommerurlaub besuchte, konnte er die Antiken und CORREGGIOS Heilige Nacht verbinden, weil er die Antiken nach damaligem Gebrauch im Fackelschein sah. Er besuchte die Gedächtnisausstellung für den gerade ermordeten Maler VON KüGELGEN und zeigte in einem fragmentarisch bleibenden Feuilletonartikel, wie in KüGELGENS Porträts und seinen Ansätzen zur religiösen Malerei die Überlieferung der großen Kunst sich in fragwürdigen Nachklängen verläuft. Bezeichnenderweise besuchte Hegel den abseitigen Freund des bekannten Malers nicht, obwohl dieser gerade in Preußen schon seinen Ruhm gefunden hafte: Hegel konnte die seltsam verzerrten Landschaftsbilder FRIEDRICHS schon deshalb nicht schätzen, weil er sich an der lieblichen Elbtallandschaft freuen wollte. Wenn der Künstler nicht mehr zurückgreifen kann auf eine gemeinsame Vorstellungswelt und einen verbindlichen Auftrag, dann kann er auch — wie BALZAC das geschildert hat — in lebenslanger, einsamer Arbeit ein „Meisterwerk" schaffen, in dem jeder andere nur die wirren Linien und Farben eines Verrückten findet. Aber auf diesen gefährdeten Wegen kann auch eine neue Verbindlichkeit für die Gestaltung der Welt des Sichtbaren und Hörbaren unter neuen Erfahrungen gefunden werden — bei FRIEDRICH etwa unter der Erfahrung der Übermacht der Elemente. Gegen diesen Weg hat Hegel eingewandt, der Künstler müsse die gemeinsame Vorstellungswelt schon vorraussetzen, sonst könne er sie nicht gestalten — er müsse mit seiner Zeit „katholisch" sein, das bloße Wieder-katholisch-werden helfe nicht mehr, wenn die Zeit dafür abgelaufen sei. Dieser Einwand geht aber an den wirklich schöpferischen Versuchen vorbei und verkennt, daß auch die alte „Mythologie" erst in gewagten Vorstößen in ihrer Verbindlichkeit hat er-

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kämpft werden müssen. Daß sie immer schon etwas Vorgegebenes war, ist doch nur ein Schein für jene, die auf sie als etwas Ausgestaltetes und Überliefertes schauen. In Hegel lebte zudem die Furcht PLATONS, man könne die Bestimmung der Leitvorstellungen der Polis nicht dem schwankenden Element des Dichtens, Musizierens und Gestaltens überlassen. Wenn der junge Hegel aus der Nähe zu HöLDERLIN im „ältesten Systemprogramm" eine neue Mythologie fordert, dann ist auch das schon eine Mythologie der Vernunft oder der Ideen! Der Jahrtausende alte Versuch, aus Kunst und Dichtung den eigentlichen Sinn erst herauszuarbeiten, ist in dieser Forderung umgekehrt worden zu einem Weg in die Zukunft. Hegels Philosophie der Kunst im ganzen bleibt als eine alexandrinische Variante in den Bahnen der Zeit, in der GOETHE schließlich Kunst als eine andere „Natur" bestimmt, die dann bei Hegel zur geschichtlichen Vernunft wurde, SCHOPENHAUER die Kunst zwar zur Verneinung des Lebens einsetzte, sie so aber gerade auf die Schau der „Ideen" verpflichtete. Die Kunst aber, die schöpferische Kunst ist und nicht nur Erholung für den Politiker oder den Philosophieprofessor, verträgt diese Gängelung nicht; der Philosoph kann ihre gewagten Wege zu Neuem nicht inhaltlich seiner Kontrolle unterwerfen, wenn er einmal Ernst gemacht hat mit der Begrenztheit, Endlichkeit und Überholbarkeit jedes konkreten Verständnisses von Leben und Welt.^

* Zu der Frage, ob und wie die Motive der idealistischen Philosophie der Kunst noch heute leitend sein können, vgl. mein Buch Die Frage nach der Kunst. Von Hegel zu Heidegger. Freiburg/München 1985.

HELMUT SCHNEIDER (BOCHUM)

AUS DER ÄSTHETIKVORLESUNG HEGELS 1820/21

1. Die Quelle 1821 erschien in Berlin die Neue Berliner Monatschrifi für Philosophie, Geschichte, Literatur und Kunst in zwei Halbjahresbänden zu je sechs Heften — der einzige erschienene Jahrgang. Die Zeitschrift wurde im Verlag von ERNST HEINRICH GEORG CHRISTIANI herausgegeben, der auch als Redakteur genannt wird. Der eigentliche Herausgeber und Redakteur war jedoch der Hegelschüler FRIEDRICH FöRSTER, durch dessen Vermittlung Hegels Gedankenwelt so deutlichen Eingang in die Zeitschrift fand, daß der Hegelschüler HINRICHS aus Heidelberg bei Hegel anfragte, ob dieser selbst die Redaktion leite und ob auch die Heidelberger Hegelschüler sich an der Zeitschrift beteiligen könnten (vgl. Briefe. 2.252 f). Hegel antwortete zurückhaltend, gab aber immerhin zu, daß von seinen Gedanken in der Zeitschrift Gebrauch gemacht worden sei. Die Mitarbeit der Heidelberger begrüßte er (Briefe. 2.256 f). Aus späteren Briefen von HINRICHS kann man jedoch entnehmen, daß daraus nichts wurde (Briefe. 2. 260, 265). Die beabsichtigte Tendenz der Zeitschrift ist im ersten Heft so angegeben: „In diesem Sinne ist auch diese Zeitschrift eine protestantische, und wird sich ganz dem Geiste der Preußischen Regierung anschließen, die in Religion, Kunst und Wissenschaft jede freiere Untersuchung unterstützt und beschützt."! Ein Teil der Beiträge ist anonym oder nur mit Chiffren gekennzeichnet. In drei Aufsätzen über verschiedene Themen finden sich ohne jeden namentlichen Hinweis auf Hegel längere Passagen, die nur aus dem Umkreis der Ästhetikvorlesung Hegels im Wintersemester 1820/21 stammen können. Hegels Vorlesungen in Berlin fanden also bereits 1821 in einer für ein breites Publikum bestimmten Zeitschrift eine bisher nicht bekannte und dokumentierte Breitenwirkung, die an Hegelsche „Kulturpolitik" denken läßt. Es handelt sich um folgende Aufsätze, aus denen wegen der Seltenheit der Zeitschrift die entsprechenden Abschnitte referiert werden, vor allem ausführlicher der erste: a.) Der Zug des Bacchus aus Indien nach Griechenland, eine archäologische Erläuterung zu dem Bacchanal W. SCHADOW S im neuen Schauspielhause zu Berlin (Bd 1. 4. Heft, 257-280); b.) Der Carneval zu Berlin

1 Neue Berliner Monatschrift. 1 (1821), 2.

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1821 (Beschluß) (Bd 1. 6. Heft, 473-495); c.) Die romantische Kunst (Bd 2. 9. Heft, 183-200). a.) Der erste Aufsatz über den Zug des Bacchus enthält als Einleitung (257—264) aus Hegels Vorlesung über Ästhetik den Abschnitt über die klassische Kunst. „Homer und Hesiod, sagt Herodot, haben den Griechen ihre Götter gegeben". Das Suchen nach den Ursprüngen der griechischen Götter in der Dunkelheit von Mythen und Symbolen hat zwar bei CREUZER, BöTTIGER, HIRT und HEYNE eine akzeptable Form bekommen. Besser als diese erschlossen aber WINCKELMANN und GOETHE mit künstlerischem Gemüt die griechische Welt und die griechische Kunst. Dichter und Bildner sind die maßgeblichen Former des griechischen Geistes, einerseits in der literarischen Darstellung der Götter, andererseits in der Plastik. Dichter und Bildner stellten eine Entwicklung dar, in deren Verlauf sich ein dreifacher Sieg in der Götterwelt vollzog: das Phantastische, Ungemessene und Maßlose der elementarischen Gewalten wurde gebändigt oder an die entlegene Grenze der Erde verwiesen; die neugeschaffene Götterwelt über das bloß Lebendige, Tierische erhoben; die geheimen Zeichen des Symbols in der wirklichen Erscheinung des Gottes geoffenbart. Dieser dreifache Sieg der neuen über die alten Götter bildet das Gliederungsschema, nach dem hier die griechische Kunst in ihrer Einbettung in die Entwicklung der Religionen abgehandelt wird. Die religiöse Entwicklung ist das treibende Moment, die Kunst ist nur Reflex davon. (In den folgenden näheren Ausführungen dieses dreifachen Sieges findet sich eine Umstellung der ursprünglich geplanten Reihenfolge. Die Überwindung des Tierischen steht am Schluß). Die Frage nach der geographischen Herkunft der griechischen Götter, die durch den Rahmen der Abhandlung schon angesprochen wird {Der Zug des Bacchus aus Indien nach Griechenland) durchzieht die Ausführungen. Sie erfährt eine Antwort im Blick auf den ersten Punkt, die Bändigung der elementaren Gewalten, d.h. der ungebändigten Kräfte der Natur; Asien, näherhin Indien, war die Heimat dieser alten Götter der Griechen. Der Orient (Asien) als das Land des Aufgangs der Sonne verehrte das Licht. Das Abendland kann aber in höherem Sinn das Land des Aufgangs genannt werden, weil hier dem Menschen die Augen des Geistes aufgingen. In diesen Prozeß gehört die Überwindung und Beschränkung der Naturgötter bei den Griechen. Dadurch stand die Natur den Göttern nicht mehr gegenüber, sondern wurde in das Göttliche auf genommen. Die Überwindung ist also nicht gleichbedeutend mit Vernichtung, sondern man könnte mit Hegel eher von „Aufhebung" sprechen, auch wenn er es hier nicht ausdrücklich tut im Sinne einer einschränkenden Bewahrung auf höherer Ebene. Beispiele dafür sind; Zeus, der Gründer gesetzlicher Ordnung, führt als natürliches Element noch den Blitz;

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Apollon erleuchtet als Sonne die Welt, aber auch die Rätsel der Zukunft. Bacchus wird zwar noch von den berauschten Satyrn umgeben, bringt aber als geistiges Element mit dem Weinstock Gesang und Festspiel. So wird der „Götterkreis" gebildet: „Indem so ein jeder der griechischen Götter Theil nimmt an dem Reich des Geistes und der Natur, tritt er in eine Welt mannigfaltiger Begegnisse, die sich nicht mehr in das Ungewöhnliche und Phantastische verlaufen, sondern in einem durch die Kunst geschlossenen, jedoch nicht verschlossenen Kreise sich mäßig bewegen". Der Jupiter, den PHIDIAS nach zwei Versen HOMERS bildete, zeigt die Wirklichkeit des Gottes, die durch das Zusammenwirken von Dichter und Bildhauer in Vorstellung und Darstellung entstand. Die Suche nach der Herkunft der griechischen Götter führte andere Gelehrte nach Ägypten mit seinen geheimen Symbolen. Das ist jedoch überflüssig. Die griechischen Mysterien, in die sich der alte Naturdienst zurückgezogen hatte, waren nicht geheim, sondern allen Athener Bürgern zugänglich. Auch hier liegt also eine Aufhebung des alten, geheimen Naturdienstes vor. Der dritte Sieg über die eingewanderten alten Naturmächte bestand in der Entfernung des Tierischen, das Inder und Ägypter als Ausdruck des Göttlichen verehrten. An dessen Stelle trat die Menschengestalt, die nicht mehr bedeutendes Symbol, sondern unmittelbarer Ausdruck des Gottes wurde. Im Gegensatz zu den Indern, die überhaupt kein Fleisch aßen^, und den Juden, die das Blut der Tiere zu essen vermieden, wurden in Griechenland den Göttern Opfertiere geschlachtet (Prometheus). Herkules tötete im Sinne dieser Symbolik mit der Keule den kaledonischen Eber, Ödipus durch seinen Geist die Sphinx. Die Plastik konnte diese Überwindung des Tierischen strenger durchführen als die Dichtung, die davon berichtet, daß Zeus sich bei seinen Abenteuern oft in tierische Gestalt entäußerte. Die Verbannung in Tiergestalt war aber auch eine häufige Bestrafung durch die Götter. Die Aufzucht und Pflege der Kinder der Götter wurde von den Göttern ferngehalten und dem tierischen Gefolge übertragen, z.B. Chiron oder Amalthea oder einem Faun. Auch von Bacchus hielt man die Elemente des Taumels und 2 Hier ist besonders interessant eine Stelle über die indische Religion, in der Hegel auf einen Ausdruck aus der Phänomenologie des Geistes zurückgreift, der dadurch eine Interpretation erfährt. „Man hört wohl das unschuldige Blumenleben der Indier rühmen, die sich der Fleischspeisen enthielten; und wie sie selbst von Milch und Reis sich nährten, so auch ihre Götter für so genügsam hielten, daß sie blutige Opfer nicht begehrten" (Bd 1. 262/263). In der Phänomenologie des Geistes hatte Hegel geschrieben: „Die Unschuld der Blumenreligion, die nur selbstlose Vorstellung des Selbst ist, geht in den Ernst des kämpfenden Lebens, in die Schuld der Thierreligion, die Ruhe und Ohnmacht der anschauenden Individualität in das zerstörende Fürsichseyn über" (GW 9. 372).

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der Begeisterung fern, indem man diese Seiten seinem Gefolge zuschrieb. Damit bricht der Abschnitt über die klassische Kunst ab. Es fehlen die Auflösung der klassischen Kunst und der Übergang zur Romantik. Im Rahmen des Themas war das aber auch nicht nötig. Es folgt nun der zweite Teil des Aufsatzes, der das Bacchanal W. SCHADOWS im neuen Schauspielhaus beschreibt (265/266). Ein dritter Teil behandelt den Zug des Bacchus aus Asien nach Griechenland anhand der antiken schriftlichen und archäologischen Quellen (266-280).

Bezug zu Hegel Die gedanklichen Elemente des ersten Teils finden sich fast alle wieder in HOTHOS Ausgabe von Hegels Ästhetik, aber in anderer Anordnung. Die hier mitgeteilte einfache Gliederung nach den drei Stufen der Überwindung der alten Götter scheint jedoch direkt von Hegel zu stammen, nicht auf den Nachschreiber zurückzugehen. Kein Nachschreiber würde den Gedankengang so umformen. Andererseits scheint eine stilistische Bearbeitung trotz der vielen Passagen, die eindeutig auch im Wortlaut als von Hegel stammend zu erkennen sind, wahrscheinlich zu sein. Der Nachschreiber hat wohl eigene, erläuternde oder verbindende Gedanken hinzugefügt. Hat Hegel vielleicht für diesen Aufsatz eine Zusammenfassung seiner Sicht der klassischen Kunst geliefert und dabei den Stoff in Kurzform so gegliedert, wie er es nie wieder vorher oder nachher getan hat? Auch der Zusammenhang, in den diese Ausführungen gestellt wurden — der Zug des indischen Bacchus — war Hegel durchaus vertraut. Hegel verstand in seiner Jenaer Zeit den indischen Bacchus als Metapher für das Wesen der Kunst überhaupt, das dem Geiste noch unangemessen ist. „Die Kunst erzeugt die Welt als geistige und für die Anschauung — sie ist der indische Bacchus, der nicht der klare sich wissende Geist ist, sondern der begeisterte Geist — der sich in Empfindung und Bild einhüllende, worunter das Furchtbare verborgen ist. — Sein Element ist die Anschauung — aber sie ist die Unmittelbarkeit — welche nicht vermittelt ist — dem Geiste ist diß Element daher unangemessen".^ Es entspricht auch durchaus Hegels Überzeugung, daß die von HERODOT konstatierte Zurückführung der griechischen Götter auf HOMER und HESIOD sich mit der Herkunft aus anderen Traditionen in Einklang bringen läßt. „Beides aber, Tradition und eignes Bilden, läßt sich durchaus vereinigen. Die Tradition ist das Erste, der Ausgangspunkt, der wohl Ingredienzien überliefert, aber noch nicht den eigentlichen Gehalt und die ächte Form für die Götter mitbringt. Diesen Gehalt nahmen jene Dichter aus ihrem Geist, und

■3 G. W. F. Hegel: Jenaer Systementwürfe III.: GW 8. 279.

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fanden in freier Umwandlung für denselben auch die wahre Gestalt, und sind dadurch in der That die Erzeuger der Mythologie geworden, welche wir in der griechischen Kunst bewundern".'» Der Text gehört auf jeden Fall in den Umkreis der Äslhetikvorlesung Hegels im WS 1820/21. HOTHO hat allerdings diese erste Vorlesung Hegels in Berlin genauso wie die Heidelberger Vorlesung über Ästhetik von 1818 bei seiner Kompilation überhaupt nicht verwertet.s Es gibt Gründe, die es verbieten, den Text in die Heidelberger Zeit zu verlegen: einmal die Charakteristik der Menschengestalt nicht mehr als Symbol, sondern als unmittelbarer Ausdruck des Gottes. Hier liegt der wesentliche Wandel des Symbolbegriffs, den Hegel zu Anfang seiner Berliner Zeit durchmachte*. b) Ein zweites Bruchstück aus Hegels Asthetikvorlesung findet sich im zweiten Teil eines Aufsatzes über den Carneval zu Berlin 1821 (474-483), der u.a. im Ballsaal des neuen Schauspielhauses stattfand. Als Einleitung zu einer deshalb gegebenen Beschreibung des neuen Schauspielhauses dient der Abschnitt über Architektur aus Hegels Vorlesung. Symbolische und klassische Baukunst werden einander gegenübergestellt, die gotische Baukunst genauso wie die symbolische für die Gegenwart abgelehnt. Die neue Baukunst soll sich an den heiteren griechischen Formen orientieren. c) Der dritte Beitrag auf der Grundlage von Hegels Äslhetikvorlesung hat den Abschnitt über die romantische Kunst zum Inhalt (185—199). Hegels Lehre vom Ende der Kunst klingt an, wenn der Verfasser feststellt, daß in der Kunst schon alles in höchster Vollendung vollbracht wurde. Die Wahrheit der Kunst im Element der Vorstellung (Poesie) genügt dem Geist nun nicht mehr, er verlangt nach der Wahrheit im Element des reinen Gedankens. Die klassische Kunst hat das Reich der Schönheit vollendet, indem sie eine Menschwerdung Gottes im Stein war, in den sich gegenseitig begrenzenden Steinskulpturen. Der Geist befreit sich nun von den Schranken der sinnlichen Form, die Freiheit des Gedankens und das Christentum werden zum Prinzip der modernen Welt und der romantischen Kunst. Die absolute GeAsf/i.''" 2. 68 f. — Zusammenstellung des Quellenmaterials zum indischen Bacchus bei F. Creuzer: Symbolik und Mythologie der allen Völker, besonders der Griechen. Bd 3. 1. Abt. Leipzig-Darmstadt 1812. 129-141. 5 »Der heidelberger Vorlesungen aus dem Jahre 1818 bedurfte ich nicht, da Hegel sich in seinen späteren Manuskripten nur ein oder zwei Mal ausführlicherer Beispiele wegen auf sie bezieht; in dem gleichen Maße konnte ich der ersten berliner Vorträge im Winter-Semester 1820/21 entbehren" (Asf/i.' l.XI). * Darüber ausführlicher H. Schneider: Neue Quellen zu Hegels Ästhetik. In: Hegel-Studien. 19 (1984), 9-44 (passim). *

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schichte des Geistes wiederholt sich am einzelnen Bewußtsein. In drei Stufen vollzog sich die Umbildung der Lehre Jesu zum Christentum. Zunächst lösten Subjektivität und Innerlichkeit im Christentum die antiken Götter ab. Hierauf trat im Mittelalter der christliche Geist in Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, um sie zu überwinden. Im dritten Zeitalter, der Gegenwart, wird die Auferstehung des Geistes gefeiert. Am Beispiel PETRARCAS will der Verfasser die Züge der romantischen Kunst aufweisen. Als eigene Abhandlung läßt er daher sofort einen Aufsatz über Glaube, Liebe, Freiheit, drei Canzonen von Fr. Petrarca folgen (201—224), nachdem er bereits eine Besprechung der PETRARCA-Übersetzung durch KARL FöRSTER vorangestellt hatte (169—182). Auch hier kann man den Einfluß Hegels noch spüren.

2. Die Überlieferung der Quelle durch die Brüder Förster Die Ermittlung der Verfasserschaft der drei Aufsätze ist nur indirekt möglich, da die Verfasser nur mit Chiffren genannt werden. Die Signierung des Aufsatzes über PETRARCA mit F. F., d.h. FRIEDRICH FöRSTER, erlaubt eine Entschlüsselung der Verfasserschaft der drei Beiträge. Der Aufsatz über PETRARCA gehört zu dem Aufsatz über romantische Kunst, der also auch von FRIEDRICH FöRSTER stammen muß. In diesem Aufsatz wiederum erfolgt ein Rückverweis auf den Aufsatz über die klassische Kunst, den FöRSTER für sich in Anspruch nimmt (Bd 2, 191/192). Die Chiffre -r, mit der der Aufsatz über die klassische Kunst gekennzeichnet ist, läßt sich vielleicht dadurch erklären, daß FöRSTER hier mit seinem Bruder ERNST engstens zusammenarbeitete und einen gemeinsamen Aufsatz vorlegte, so daß die Chiffre -r als Schlußbuchstabe des gemeinsamen Familiennamens J^öRSTER" ZU verstehen ist. Vielleicht verwandte FRIEDRICH FöRSTER aber auch zwei verschiedene Chiffren für sich selbst. Eine Beteiligung ERNST FöRSTERS ist jedoch unverkennbar. Der ganze zweite Teil des Aufsatzes über den indischen Bacchus stammt von ERNST FöRSTER. Er kam 1819 als Student nach Berlin. FRIEDRICH FöRSTER nahm als begeisterter Anhänger Hegels seinen Bruder mit in Hegels Vorlesungen. Ernst konnte diesen jedoch nur wenig abgewinnen und fand mehr Geschmack an den Vorlesungen SCHLEIERMACHERS und vor allem an BöECKHS Vorlesung über Encyclopädie der Philologie. Im Rahmen des dazu gehörenden philologischen Seminars entstand dann die Seminararbeit De expeditione Bacchi ex India in Graeciam, deren Inhaltsangabe durch ERNST FöRSTER selbst überliefert ist und die genau dem zweiten Teil des Aufsatzes über SCHADOWS Bacchanal entspricht. ERNST FöRTER war in der zweiten Jahreshälfte 1820 nicht in Berlin, kam aber Anfang Januar 1821 nach Berlin zurück. Er berichtet zwar vom Besuch der Vorlesung Hegels über Naturphilosophie in diesem Wintersemester, nicht aber vom

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Besuch der Vorlesung über Ästhetik. ’’ Bereits im März 1821 wurde er wegen des Verdachts demagogischer Umtriebe verhaftet. Sein Studium an der Universität trat in der Folgezeit immer mehr in den Hintergrund gegenüber der Malerei. Auch Hegel scheint er nicht weiter gehört zu haben, wie Hegel selbst feststellte, als er 1822 ein Zeugnis für ihn ausstellte.* Auch die persönliche Bekanntschaft ERNST FöRSTERS mit WILHELM SCHADOW, die durch den Maler KARL ZIMMERMANN vor Herbst 1820 zustandekam, spricht für die Verfasserschaft der Brüder FöRSTER. ZIMMERMANN war im Herbst 1820 beim Baden ertrunken. Zuvor noch hatte ERNST FöRSTER bei einem Besuch im Atelier Zimmermanns, des Mitarbeiters von SCHADOW, das bereits angefangene Ölgemälde gesehen, das für das neue Theater bestimmt war’ und in unserem Aufsatz als eine Hälfte des Bacchanals von SCHADOW erwähnt (266). Es legt sich nahe, auch den Abschnitt über die Entwicklung der Architektur im Aufsatz über den Berliner Carneval FRIEDRICH FöRSTER zuzuschreiben, obwohl hier wiederum ein andere Chiffre für den Verfasser auftaucht (-r-st.). Wenn man sie nicht als Abkürzung für „FöRSTER" lesen will, dann vielleicht als Abkürzung für den Herausgeber, Redakteur und Verleger der Zeitschrift, ERNST HEINRICH GEORG CHRISTIANE Über seine Person und seine Lebenumstände ließ sich bisher nichts in Erfahrung bringen. Vielleicht hat er den Aufsatz gezeichnet, weil er eine Redaktion vornahm. Der erste, anonyme Teil des Aufsatzes über den Berliner Carneval (Bd 1, 303—343) mit dem Untertitel Briefe nach Rom enthält jedoch ein biographisches Detail, das sehr gut auf FRIEDRICH FöRSTER zutrifft. Der Verfasser erwähnt nämlich beiläufig, daß er auf der Pariser Königlichen Bibliothek ein Tagebuch WINCKELMANNS sah (306). FRIEDRICH FöRSTER hielt sich in den Befreiungskriegen 1815 in Paris auf, wo er an der Rückführung der geraubten deutschen Kunstschätze beteiligt war und so sicher auch Gelegenheit hatte, die Manuskripte der Pariser Bibliothek kennenzulernen. Die Briefe nach Rom richteten sich an einen Maler, wie eine Stelle angibt (306). Die Kenntnis der Hegelschen Ästhetik klingt auch in diesem Teil öfters an. Ausführungen über die Architektur im Sinne Hegels finden sich ferner in den Aufsätzen Bericht an Göthe: über die Kunstausstellung in Berlin, im Herbste 1820 (Bd 1, 33—59; 151—171), wo der Aufsatz über das neue Schauspielhaus und über die Geschichte der Architektur schon angekündigt wird, sowie in einer Besprechung der Encyclopädie des Bauwesens von B. HUNDESHAGEN, die vom gleichen Verfasser stammt (Bd 1, 496—508). Der Bericht über die Kunstausstellung läßt sich mit Sicherheit FRIEDRICH FöRSTER zuschreiben, da der Verfasser von sich sagt: „Ich bin beschäftigt, die Ge7 Ernst Förster: Aus der Jugendzeit. Berlin-Stuttgart 1884. 174/175, 205. ^ Hegel: Berliner Schriften. 1818-1831. Hrsg. v. J. Hoffmeister. 759. ’ Ernst Förster, a.a.O. (s. Anm. 7) 179. Das Ölgemälde wurde in die Decke des Proszeniums eingelassen. Das Bild ist im 2. Weltkrieg zerstört worden.

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schichte der Farbenlehre aus den seit ihrem Werke erschienenen Lehrbüchern fortzuführen, und es findet sich, daß immer der alte Kohl wieder aufgewärmt worden ist" (Bd 1, 45). FRIEDRICH FöRSTER war gerade um diese Zeit mit der Geschichte der Farbenlehre beschäftigt und konnte sich so bei einem Besuch in Weimar mit GOETHE darüber unterhalten.Durch diesen Querverweis läßt sich also trotz verschiedener Verfasserchiffren auch der Aufsatz über das neue Schauspielhaus und die Geschichte der Architektur für FRIEDRICH FöRSTER sichern. Auch der Stil spricht für einen einzigen Verfasser aller genannten Beiträge. Der Zug des Bacchus aus Indien nach Griechenland, eine archäologische Erläuterung zu dem Bacchanal W. Schadow's im neuen Schauspielhause zu Berlin. Von -r. und HESIOD, sagt HERODOT, haben den Griechen ihre Götter gegeben, und darin liegt mehr Aufschluß über Ursprung und Heimath der griechischen Götterwelt, als wenn die gelehrten Antiquitätenkrämer bald in den rohen Elementen der Natur, bald in den Sagen von Königen und Helden, bald in mystischen Zeichen schwer zu deutender Symbole den ersten Anklang des Göttlichen suchen, und auf solchen Wegen von dem heitern Götterleben des Olymps und von den schönen Gestalten der plastischen Kunst, ohne den Sinn und die Erscheinung dieser aufzufassen, sich in das unterirdische Reich der Naturmächte, in das Nebelland der Sagen und zu dunkler Zeichendeuterei verlieren. Daß jedoch auch diese Weise der Untersuchung einen belehrenden und erfreulichen Gang nehmen kann, haben die Arbeiten des trefflichen und gründlichen CREUZERS, der Fleiß BöTTIGERS, HIRTS, HEYNES und anderer gerühmter Archäologen bewiesen, obwohl uns diese gelehrten Herren die griechische Welt nicht so lebendig aufschlossen, als es WINKELMANN und GOETHE thaten, die das Marmorbild nicht in Sauerstoff und Wasserstoff und allerhand antiquarische, ägyptische, asiatische Gasarten verflüchtigten, die griechische Schönheit nicht anatomisch behandelten, sondern mit künstlerischem Gemüth als ein Ganzes und Lebendiges auffassen. Die griechischen Dichter und Bildner haben diesen dreifachen Sieg erfochten, daß sie das Phantastische, Ungemeßne und Maßlose der elementarischen Gewalten bändigten, und in den Tartarus oder an die entlegene Grenze der Erde verwiesen, daß sie ferner ihre neugeschaffene Götterwelt über das bloß Lebendige, Thierische erhoben, und die geheimen Zeichen des Symbols offenbarten in wirklicher Erscheinung des Gottes. HOMER

£. Scheuch: Der Dichter und Historiker Dr. Friedrich Förster (1791—1868). Diss. Wien 1933. 70.

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Asien wird die Heimath der alten Götter, die als die ungebändigten Kräfte der Natur erscheinen, genannt, hier finden wir die Menschheit im Kindesalter noch überwältigt vom Anschauen der Natur, die hier ihren Schooß freiwillig den Bedürfnissen des Menschen öffnete, daß er nicht in harter Arbeit ihr abzwingen mußte, wonach ihm verlangte; desto mehr staunte er die Wunderkraft dieser ewigen, unermüdlichen Schöpferin an. Nach der Sonne war der Blick der Orientalen gerichtet, die Wärme fühlte man als die wohlthätige Erweckerin alles Lebens, mehr aber ehrte man das Licht, als die Macht, die der sinnlichen Anschauung die Welt offenbarte. Wenn der Orient das Land des Aufgangs genannt, und es vornehmlich auf den Aufgang der Sonne bezogen wird, weshalb die Orientalen sich dem Dienste dieses Gestirns ergeben hätten, so hört man oft lächerlicher Weise so davon reden, als ob die Orientalen unmittelbar bei dem Aufgang wohnten, und nicht eben so, wie wir im Abendlande, die Sonne hinter fernem Gebirg oder entlegenem Meeresrand aufsteigen sehen; der Dr. WALTHER nannte in seinen Vorlesungen Asien, das heiße Clima des Aufgangs, wo Gott der Herr die Welt erschaffen. Das Land des Aufganges kann Asien nur insofern genannt werden, als hier dem Menschen zuerst die Augen aufgingen; in einem höheren Sinn kann das Abendland, das Land des Aufgangs genannt v^erden, wo dem Menschen das Auge des Geistes aufgeschlossen ward; wie Asien in der Erleuchtung durch die Sonne nur sinnlich, so erkannte das Abendland in der Erleuchtung durch die Vernunft den gegenwärtigen Gott im Geiste. Ehe dies aber vollendet wurde, mußte Griechenland die vorherrschende Gewalt der Naturmächte beschränken; die Aufgabe, die der delphische Gott den Griechen zurief, war: die Welt des Geistes zu erkennen. Nicht in der blinden Gewalt der Elemente konnten sie den Wiederschein des Geistes finden, dessen besonnene Ueberlegenheit über jene rohen Kräfte sie dadurch geltend machten, daß sie geschickt und listig die eine durch die andere zu zwingen und zu verderben wußten. So gehorchten die Cyklopen, dies alte Riesengeschlecht, in strenger Dienstbarkeit dem erfindungsreichen Vulkan, und wurden selbst dazu gebraucht das Element zu bändigen, mit dem sie früher den Himmel bedroht hatten. Durch diese Unterordnung des Natürlichen unter das Geistige, Göttliche, geschah es, daß in Griechenland die Natur keine abgeschlossene Gültigkeit für sich, dem Gott gegenüber, behielt, und wenn es scheinen könnte, daß jene Unterwerfung eine Zurücksetzung und Vernichtung der Natur gewesen, so ist vielmehr einzusehen, daß jetzt das Natürliche aufgenommen wurde in das Göttliche, und daß ihm die Ehre erwiesen wird, von den Göttern auf gleiche Weise wie das Geistige verwaltet zu werden. Zeus, der den Blitz führt, ist auch Gründer gesetzlicher Ordnung, Apollon, der mit strahlendem Gelock die Welt erleuchtet, löst auch die verhüllten

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Räthsel der Zukunft und Bacchus, umschwärmt von dem lärmenden Gefolge berauschter Satyrn, bringt mit dem Weinstock Gesang und Festspiel. Indem so ein jeder der griechischen Götter Theil nimmt an dem Reich des Geistes und der Natur, tritt er in eine Welt mannigfacher Begegnisse, die sich nicht mehr in das Ungewöhnliche und Phantastische verlaufen, sondern in einem durch die Kunst geschlossenen, jedoch nicht verschlossenen Kreise sich mäßig bewegen. Aus zwei Versen HOMERS, die den Zeus als Vater der Götter und Menschen nennen, der nur mit den Augenbraunen winken darf, wenn der Olymp erzittern soll, konnte PHIDIAS den olympischen Jupiter bilden; denn darin war der Gott als ein wirklicher ausgesprochen. Aus tausend Beiwörtern, die dem Brahma gegeben sind, und die man auch auf christlichen Kanzeln und Lehrstühlen, wo sie von Gott nichts wissen, als daß er der Unbegreifliche, Unaussprechliche, Unermeßliche sey, konnte es nicht zur Vorstellung, noch weniger zur Darstellung kommen, denn diese verlangt einen lebendigen und wirklichen Gott. Die Gelehrten, die die griechischen Götter aus der individualisirten Gestaltung einer bewegten, aber geordneten Welt, in die die Dichter und Künstler sie gestellt hatten, zurückführen in den Taumel der Elemente, gehen nach Indien; in einem andern Lande kehren diejenigen ein, die den griechischen Gott in der Einsamkeit geheimer Symbole aufsuchen. Aegypten, das noch heutiges Tages so manchen Reisenden anlockt, die unentdeckten Quellen des Nils in unwirthbarem Gebirge zu suchen, woran der Welt gar nichts verloren ist, wenn sie es auch nun und nimmermehr erfährt, — dies Land ist es auch, wohin die Archeologen am häufigsten gezogen sind, um Geheimnissen auf die Spur zu kommen, denen wir gern bei den unentdeckten Nilquellen ihre bescheidene Stelle lassen. Vornehmlich hoffen sie hier die Weihe der Mysterien zu empfangen, denn in diesen, meinen sie, liege Weisheit, Kunst und Leben der Griechen verborgen. Verborgen mag dies Alles da wohl liegen, und eben deshalb wird es keiner da finden; warum aber sollen wir uns mit dem Verborgenen vergeblich abmühen, wo ein Volk sein Leben so offen entfaltet hat? „Dichter lieben nicht zu schweigen, wollen sich der Menge zeigen," sagt der Dichter selbst, dies gilt von den Philosophen eben so, ja sogar die Religion ist offenbart worden, und wenn man von einem Volke sagen muß, daß es privatisirt hat, dann braucht man nichts mehr davon zu wissen. Allerdings ist es erwiesen, daß in die griechischen Mysterien sich der alte Naturdienst zurückgezogen hatte, doch wurden sie so wenig geheim gehalten, daß zu Athen jeder Bürger aufgenommen werden konnte, eine Ehre, die die Weiseren, und zwar SOKRATES zuerst, verschmäheten. Das griechische Leben aus den Mysterien erklären zu wollen, heißt eben so viel, als bei den Logenbrüdern um die Erfindung des Pulvers sich erkundigen.

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Wer nicht Freude und Beruf an einer öffentlichen Wirksamkeit findet, zieht sich gern zur Geheimniskrämerei zurück. Auch bei einigen öffentlichen Festen mag der Dienst, den man den Elementen weihte, das Bestimmende gewesen seyn; da erging sich das Volk selbst als elementarische Masse in wilder Bewegung und dithyrambischen Gesängen, die Kunstdarstellung dagegen forderte Gesetz und Schönheit. Einen dritten Sieg, den die griechischen Dichter und vornehmlich die Bildner über die eingewanderten Götter erfochten, war dieser, daß sie von ihnen das Thierische, als bloß Lebendiges entfernen. So wenig, wie in dem Elemente, oder dem Symbol, konnten sie in dem Thierischen ein entsprechendes Gegenbild des Geistes, des Göttlichen finden, denn wenn dieses auch als ein Lebendiges, das die Entwicklung seiner in sich selbst hat, dem Geistigen näher steht, als das Elementarische, so mußte der Dienst der Indier und Aegypter, die das Göttliche in Hunden und Affen verehrten, den Griechen als unwürdig erscheinen. Gelehrte Forscher, die von dem olympischen Zeus zurückspüren bis zu den Ochsen am Nil, sollen uns nicht aus jenem Stier den Gott deuten wollen, den der Grieche dichtete und formte, der nur in der Menschengestalt, die nicht ein Symbol, ein Zeichen des Geistes, das noch für sich eine eigenthümliche Bedeutung hat, sondern der unmittelbare Ausdruck desselben ist, den Gott darsteilen konnte. Man hört wohl das unschuldige Blumenleben der Indier rühmen, die sich der Fleischspeisen enthielten, und wie sie selbst von Milch und Reis sich nährten, so auch ihre Götter für so genügsam hielten, daß sie blutige Opfer nicht begehrten. Auch nach Mose Gesetz war es verboten Blut der Thiere zu essen, und in Aegypten wurden die Hunde und Katzen aus den Magazinen versorgt, während bei großer Hungersnoth die Menschen zu Tausenden starben. Herkules dagegen beginnt in Griechenland sein gefeiertes Heldenleben damit, daß er das Land von Bestien befreit, und die Jagd auf den caledonischen Eber führte die rüstige Jugend von nah und fern zusammen. Den Göttern wurden Thiere geschlachtet, und schon Prometheus hatte listig den Zeus um das beste Theil betrogen, da er den größten Haufen der Knochen, nach welchem der Gott griff, schelmisch unter dem ausgebreiteten Fell verbarg, während er die Fleischtheile unscheinbar zusammengedrückt hatte. Einen Sieg von tieferer Bedeutung erfocht Oedipus, der nicht mit der Keule, wie Herkules, drein schlug, sondern durch die geistige Waffe des Witzes das halbmenschliche Scheusal zertrümmerte; das Wort, das das Räthsel löste, war: „der Mensch", er war es, aus dessen Anschauen Griechenland die Frage gelöst hat, die der Weltgeist ihm zu lösen aufgab. Zwar deuteten die Griechen auch noch den Vogelflug und die Eingeweide, aber höhere Wissen-

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Schaft von dem Zukünftigen offenbarte der delphische Gott durch den Mund seiner Priesterin. Diese Ueberwindung und Zurücksetzung des Thierischen, führte die griechische plastische Kunst so streng durch, daß sie ihre Gebilde ganz dem natürlichen Bedürfniß enthob, und aus geistiger Anschauung ein ideales Reich der Lebendigkeit erschuf, in der wir das ungetrübte Götterleben ausgegossen finden. Die Dichter, die die Götter mit den Menschen in Feindschaft und Liebe zusammenführten, konnten sie nicht in jener olympischen Heiterkeit erhalten, wie der Bildhauer, bei HOMER schreit Mars, wie zehntausend Krieger und die Abentheuer, auf die Zeus ausgeht, zwingen ihn oft, seiner Gottheit sich so zu entäußern, daß er die Gestalt des Schwanes oder Stieres wählt; doch ist ihm als solcher nie ein Tempel erbaut worden, da vielmehr die Thiergestalt es war, in die die Götter den bannten, der ihren Dienst verletzte, oder sonst ihnen unwürdig begegnete. Was nur entfernt an die Bedürftigkeit des Lebens erinnerte, durfte dem griechischen Gott nicht nahen, selbst die Auferziehung und Pflege des Kindes, das befriedigende Geschäft der mütterlichen Liebe, das durch das Christenthum eine so hohe Bedeutung gewann, wurde von dem Thun der Götter ausgeschlossen; wo dergleichen mit ihnen in Berührung kam, wurde es dem thiermenschlichen Gefolge übertragen. Chiron, der Centaur, lehrte den Sohn der Thetis den Bogen spannen, Amalthea nährte den jungen Zeus in verborgener Grotte, ein gutmüthiger Faun wiegt den zarten Bacchusknaben auf dem sichern Arme, und schaut ihn mit der behaglichen Freudigkeit eines Josephs an, was der griechische Gott nicht gedurft hätte. Um die gefährliche Gunst der Gaben des Bacchus anzudeuten, erlaubten sich die Künstler nicht, dem Gott selbst ein Zeichen des Taumels oder wilder Begeisterung zu geben, aber mit einem reicheren Gefolge, wie keinen anderen Gott, sehen wir diesen ausgestattet, und während er selbst sich die selige Ruhe erhält, tobt und tummelt sich um ihn herum das ziegenfüßige, gehörnte, weintaumelnde, lärmende Gefolge.

LUCIA SZIBORSKY (DÜSSELDORF)

SCHELLING UND DIE MÜNCHENER AKADEMIE DER BILDENDEN KÜNSTE Zur Rolle der Kunst im Staat Friedhelm Nicolin zum 60. Geburtstag Stellen wir die Frage nach kulturpolitischen Implikationen der Kunstphilosophie und nach der Rolle der Kunst im Staat mit Blick auf SCHELLING, so versetzt uns dies in eine andere Situation, als sie bei Hegel gegeben ist. Hegel hielt seine Ästhetik-Vorlesungen zuerst in Heidelberg (1818) und dann viermal, im Abstand von jeweils fünf bis sechs Semestern, an der frequentierten Mittelpunkts-Üniversität Berlin. Die starke Öffentlichkeitswirkung seiner Vorlesungstätigkeit fand ihre Fortsetzung in der Gesamtausgabe der Werke, die unmittelbar nach Hegels Tod von seinen Schülern begonnen wurde, und in der ab 1835 auch die von HOTHO redigierte Ästhetik in drei Bänden erschien. ^ SCHELLING hat seine Vorlesungen über Philosophie der Kunst viel früher und nur zweimal gehalten: 1802/03 in Jena^ und 1804/05 in Würzburg. Danach blieben sie bis zu ihrer Veröffentlichung im Rahmen der von SCHELLiNGS Sohn betreuten Ausgabe seiner Werke, also bis über die Jahrhundertmitte hinaus, im Verborgenen. ROBERT ZIMMERMANN schrieb das schmale SCHELLINGkapitel seiner 1858 erschienenen Geschichte der Ästhetik als philosophischer Wissenschaft noch ohne Kenntnis dieser Vorlesungen. ^ Gleichwohl war SCHELLINGS Kunstauffassung der Öffentlichkeit auch im frühen 19. Jahrhundert zugänglich. Im System des transzendentalen Idealismus von 1800 hatte er der Kunst die einzigartige Funktion zugesprochen, ,örganon und Dokument der Philosophie" zu sein, und — wie FRIEDRICH SCHLEGEL — die Forderung nach einer „neuen Mythologie" wiederholt, die das soge1 Siehe dazu neuerdings Christoph ]amme: Editionspolitik. Zur Jreundesvereinsausgabe" der Werke G. W. F. Hegels. In; Zeitschrift für philosophische Forschung. 38 (1984), 83-99.

2 Aus diesem Semester stammt die einzige bisher bekannt gewordene Nachschrift. Sie wurde von Ernst Behler herausgeben: Schellings Ästhetik in der Überlieferung von Henry Crahh Robinson, ln: Philosophisches Jahrbuch. 83 (1976), 133-183. 3 Geraume Zeit nach Erscheinen der Vorlesungen (1859) publizierte Zimmermann (Wien 1875): Schellings Philosophie der Kunst. Ein Nachtrag zu meiner Geschichte der Ästhetik. In: Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Klasse der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. 80 (1875), H. 1-4, 627-676.

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nannte „älteste Systemprogamm" von 1796/97 erhoben hatte. SCHELLING verkündete das potentielle Ende der Philosophie in der Erwartung, daß sie „nach ihrer Vollendung... in den allgemeinen Ozean der Poesie zurückfließen" werde, von dem sie einst „ausgegangen" war (III. 629)^, und er sah das „Mittelglied" dieser Rückkehr, unter Berufung auf die vormals existierende Mythologie, in der Hervorbringung einer neuen (vgl. ebd.). 1803 waren dann ScHELLiNGs Vorlesungen über die Methode des akademischen Studium erschienen. In der vierzehnten und letzten dieser Vorlesungen hatte SCHELLING seinen Begriff von einer „Wissenschaft der Kunst" dargelegt und im Rahmen seiner Identitätsphilosophie das Programm skizziert, das er in seinen Vorlesungen über Philosophie der Kunst durchführte.* Im Schlußabschnitt der vierzehnten Vorlesung bezieht SCHELLING die Kunst auf die Geistesarbeit des Philosophen und des Naturforschers, auf die Welt der Religion und schließlich auch auf das politische Leben. Er betont zunächst, daß es einem „unmittelbar" oder „mittelbar" an der Staatsverwaltung Teilhabenden nicht zur „Schande" gereiche, wenn er „für die Kunst empfänglich" sei und eine „wahre Kenntnis von ihr" habe. J^ürsten und Gewalthaber" ehre nichts mehr, „als die Künste zu schätzen, ihre Werke zu achten und durch Aufmunterung hervorzurufen" (V. 352). Dann fährt SCHELLING fort: „Wenn es auch nicht allgemein eingesehen werden könnte, daß die Kunst ein notwendiger und integranter Teil einer nach Ideen entworfenen Staatsverfassung ist, so müßte wenigstens das Altertum daran erinnern, dessen allgemeine Feste, verewigende Denkmäler, Schauspiele, so wie alle Handlungen des öffentlichen Lebens nur verschiedene Zweige Eines allgemeinen objektiven und lebendigen Kunstwerks waren." (Ebd.) Skeptisch gegenüber dem, was vom Bewußtsein der eigenen Zeit her möglich scheint, verweist SCHELLING auf die exemplarische Bedeutung der Antike, die es erlaubt, nicht nur der Kunst eine konstitutive „Rolle" im idealen Staat zuzuweisen, sondern diesen selbst als JCunstwerk" zu deuten. In dieser abschließenden Bemerkung des Jenaer Vorlesungszyklus leuchten SCHELLINGS Gedanken zur Beziehung von Kunst und Staat nur einen Augenblick lang auf. Die Münchener Akademierede Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur nimmt das Thema wieder auf und verleiht ihm eine grundsätzliche Bedeutung.

Schelling-Zitate hier und im folgenden mit römischer Band- und arabischer Seitenzahl nach Schelling: Sämmtliche Werke. Hrsg, von K. F. A. Schelling. Stuttgart und Augsburg 1856-1861. 5 Nach einer Mitteilung von Karl Schelling dienten die Gedanken über die Kunst, die Schelling in der letzten der Vorlesungen über die Methode des akademischen Studium entwickelte, auch als Einleitung in seine Vorlesungen über Philosophie der Kunst. *

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Erst diese Rede von 1807 sicherte SCHELLINGS Kunstphilosophie eine breite öffentliche Wirkung,* weit über den unmittelbaren Eindruck hinaus, den sie bei mehr als fünfhundert Zuhörern, darunter Kronprinz LUDWIG und Minister MONTGELAS, hinterließ. Sie führte zu erneuten Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern der Schellingschen Philosophie, sie fand die ausdrückliche Zustimmung GOETHES, sie begeisterte die deutschen Künstler in Rom, die im Aufbruch der romantischen Bewegung nach einer Erneuerung der Kunst strebten, und sie mag nicht zuletzt die kulturpolitischen Intentionen des bayerischen Königshauses bestärkt haben. SCHELLING hielt diese Rede anläßlich des Namenstages von König MAXIMILIAN I. JOSEPH, bei einer öffentlichen Versammlung der Akademie der Wissenschaften, in einer von Erwartungen geprägten Situation: Die Neugründung der Akademie der bildenden Künste stand kurz bevor, und außerdem war Bayern durch die politischen Ereignisse in den Besitz bedeutender Kunstschätze gelangt — Anlaß genug, das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft zum Thema zu machen.

I. Die Münchener Rede fußt auf dem Ganzen von SCHELLINGS Kunstphilosophie, als deren „Gipfel" TILLIETTE sie bezeichnete, aber sie setzt einen anderen Akzent. SCHELLING enthüllt das „wahre Wesen" der Kunst in einer praktischen Absicht: Ihre „versiegten Quellen" sollen nicht nur für die Reflexion, sondern auch für die Produktion wieder geöffnet werden. Durch Analyse und Kritik der verschiedenen Ausformungen der Nachahmungslehre legt SCHELLING —in einem groß angelegten Gedankengang über die Entwicklung der Plastik in der Antike und über die italienische Malerei bis zur Hochrenaissance — das „wahre Vorbild" und den „wahren Urquell" der bildenden Kunst frei: die Natur. Er legt sie frei, indem er das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur eben nicht im Sinne der gängigen Lehre als Nachahmung der natura naturata, sondern als Nachahmung der natura naturans bestimmt. Mit der Rückbindung der Kunst an ihren ontologischen Grund, die den defizienten Modus der Natur als eines bloßen Objekts der Nachahmung verwirft, erweist SCHELLING Schritt um Schritt seiner Analyse, daß Natur und Kunst gleichen Wesens sind: Sie sind freie Produktion, Hervorbringen von Schöpfung. Aus dem so bestimmten Wesen der Kunst legitimiert sich die emphatische Forderung nach ihrer Erneuerung, die SCHELLING, der romanti* Zum folgenden vgl. die Auszüge aus Briefen von Caroline, Goethe, G. Schick und F. Tieck im Anhang zu F. W. ]. Schelling: Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur. Hrsg, von L. Sziborsky. Hamburg 1983. (Philos. Bibi. Bd 344.)

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sehen Bewegung verpflichtet, an seine Zeit richtet. Anhaltspunkt für die mögliche Verwirklichung dieser Forderung ist ihm die Entwicklung der italienischen Malerei bis zu ihrer Blüte in der Hochrenaissance. Wie die ersten Künstler jener Epoche gerade nicht die Werke der Antike zum Vorbild nahmen, wodurch „das Schöne frei und urkräftig sich wieder erzeugen sollte" (VII. 325), so gilt es jetzt, ihnen gleich, die Kunst neu und „mit eigentümlicher Kraft" zu erschaffen (VII. 326). Eben dazu aber bedarf die Kunst nicht nur des Künstlers, sondern „eines allgemeinen Enthusiasmus für Erhabenheit und Schönheit" (ebd.), der sich in der ganzen öffentlichen Stimmung zeigen muß. ScHELLiNG erinnert an die Zeit der MEDICI, in der die Kunst als neuerschaffene zur Blüte gelangte. Er beruft sich auf die „Verfassung", die PERIKLES „im Lob Athens schildert"^, und bringt damit seinen Hörern und Lesern wie auch dem sogleich apostrophierten Repräsentanten des Staates einen Zustand vor Augen, in dem das politische, gesellschaftliche und kulturelle Leben sich aus der übereinstimmenden Staatsgesinnung aller Einzelnen herstellt und schöpferisch ausgestaltet. SCHELLING zitiert Vergangenes als ursprünglich Gelungenes und verknüpft es — als erneut zu Realisierendes — mit seiner Gegenwart: Er blickt im Umbruch der NAPOLEONischen Zeit auf eine „neue jetzt sich bildende Welt, wie sie teils schon äußerlich, teils innerlich und im Gemüt vorhanden ist" und die „eine gänzliche Erneuung verkündet" (VII. 327). Seine politische Intention tritt eindeutig hervor in diesem Bekenntnis:„... wir haben bei jener Hoffnung eines neuen Auflebens einer durchaus eigentümlichen Kunst hauptsächlich das Vaterland im Auge" (VII. 328). Im Verweis auf das „vollkräftige Gewächs der Kunst unseres großen ALBRECHT DüRER, das so „eigentümlich deutsch" und doch zugleich dem verwandt sei, was sich zur gleichen Zeit in Italien „zur höchsten Reife" entwickelte, im Verweis auf die durch KANT initiierte „Revolution der Denkart", auf die deutsche „Geisteskraft" überhaupt (vgl. ebd.), sucht SCHELLING das allgemeine Bewußtsein zu stärken, jenes öffentliche Klima der Begeisterung gleichsam herzustellen, dessen die Wiedererschaffung der Kunst so dringend bedarf. SCHELLING transformiert die Forderung nach einer neuen Mythologie in die Forderung nach einer Erneuerung der Kunst. Wie die Mythologie nur Werk eines Geschlechts sein kann, sofern dieses „Individuum und einem einzelnen Menschen gleich ist" (V. 414; vgl. III. 629), so soll auch die bildende Kunst vom Geist aller getragen sein. SCHELLING vertritt eine klassische Kunstauffassung gegen den Klassizismus seiner Zeit, den er als falsche Nachahmung ebenso verwirft wie jene Bestrebungen der romantischen Malerei, welche die frühchristliche Kunst des Mittelalters zum Vorbild nimmt. Im Engagement der Frühromantik tritt SCHELLING ein für eine neue Kunst, in der

^ Vgl. Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges. Buch 2, Kap. 35-46.

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Hoffnung, daß Gleiches als Anderes, aus „eigentümlicher Kraft", noch einmal entstehen könne. SCHELLING unterscheidet sich hier nicht nur von Hegel, der später vom Vergangenheitscharakter der Kunst sprechen wird, sondern auch von den Hegelschülern®, die diese These Hegels zu überwinden trachten durch eine Konzeption, deren Kritik SCHELLING bereits vorwegnimmt: „Aus der Asche des Dahingesunknen Funken ziehen, und aus ihnen ein allgemeines Feuer wieder anfachen wollen, ist eitle Bemühung." (VII. 327f) SCHELLING widersteht den Ideologien klassizistischer und romantischer Art, indem er die Kunst zurückzuführen sucht auf ihren wahren Ermöglichungsgrund: die natura naturans.

II.

Forderung nach einer Renovatio der Kunst, die sich an die Künstler seiner Zeit ebenso richtet wie an den Staat, findet ihren Niederschlag in der Konstitutionsurkunde der Akademie der bildenden Künste. Die Neugründung dieser Akademie am 13. Mai 1808 (nach einer längeren Vorgeschichte®) ist für Bayern ein kulturpolitischer Akt von weitreichender Bedeutung. War bis zu diesem Zeitpunkt die Pflege der Künste von den zufälligen Interessen des jeweiligen Fürsten abhängig, so nimmt der Staat jetzt mit einer eigenen Institution nicht nur die Sorge um die Erhaltung und Förderung der Künste und der künstlerischen Berufe in seine Pflicht, sondern er sucht, darüberhinaus, die Kunst für die „Bildung" des ganzen Volkes einzusetzen. Beide Intentionen werden in der Gründungsurkunde verankert. Nach EUGEN VON STIELER, der als Syndikus der Anstalt 1909 zu ihrem hundertjährigen Bestehen eine Jubiläumsschrift herausgab, kommt KöNIG MAXIMILIAN I. als Staatsoberhaupt das große Verdienst zu, durch die Errichtung der Akademie Möglichkeiten für die „Hebung" der darniederliegenden Künste bereitgestellt zu haben. Ein kaum geringeres Verdienst ist auf ideeller Ebene SCHELLING zuzuschreiben. Er hat die Gründungsurkunde der Akademie entworfen und darin deren Aufgaben und Ziele formuliert. Das bedeutet aber: SCHELLING hat die „Rolle", die die Kunst fortan im bayerischen Staat einnehmen sollte, in konstitutiver Weise mitbestimmt. ScHELLiNGs

»Siehe dazu den Beitrag von Annemarie Geihmann-Sieferi in diesem Band 65 ff. ® Vgl. dazu Eugen von Stieler: Die Königliche Akademie der bildenden Künste zu München. Festschrift zur Hundertjahrfeier. München 1909. 1-16, sowie die Beilagen I-VI. Ferner Nikolaus Pevsner: Academies of Art. Fast and Present. Cambridge 1940. Repr. New York 1973. 210 f.

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Auf die bisher wohl wenig beachtete und m.W. noch nicht thematisierte Tatsache, daß SCHELLING als Verfasser der Konstitution der Akademie angesehen werden muß, hat STIELER als erster hingewiesen.i“ Er stellte durch einen Handschriftenvergleich zwischen Sitzungsprotokollen, die SCHELLING als Generalsekretär der Akademie zu führen hatte, und dem erhalten gebliebenen „Vorschlag" für die Gründungsurkunde die Autorschaft SCHELLINGS fest.Dies wird bestätigt durch einen erst später zugänglich gewordenen Brief von SCHELLING an COTTAH, in dem er selbst seine Urheberschaft bezeugt. SCHELLING schreibt am 15. Mai 1808: „... Schon seit 2 Monaten war hier die Organisation der Akademie der bildenden Künste im Werk; ich hatte den Auftrag erhalten, die Konstitution derselben zu entwerfen, und hatte damit sowohl als mit manchem andern daraus folgenden, Geschäfte sehr viel zu schaffen, dagegen aber auch das Vergnügen, die meisten meiner Ideen bestätigt und nun verwirklicht zu sehen. Vor einigen Tagen hat der König die Organisation unterzeichnet: ich bin durch dieselbe zum beständigen General-Sekretär der Akademie der bildenden Künste... ernannt worden." Einer Schlußbemerkung, die SCHELLING seinem Entwurf hinzufügte, ist zu entnehmen, daß er sich bei der Abfassung der Gründungsurkunde an anderen Kunstakademien (durchaus kritisch) orientiert und seinen Plan mit dem Direktor der Akademie, PETER LANGER, abgestimmt hat.n Daß LANGER die Verfassung der Akademie in kultur- oder bildungspolitischer Hinsicht mit i°Ebd. 18. Der Hinweis Stielers ist wieder abgedruckt in: SchelUngiana rariora. Gesammelt und eingeleitet von Luigi Pareyson. Torino 1977. 311. 11 „Ich glaube jedoch behaupten zu dürfen, daß dieses Verdienst dem Philosophen Friedrich Wilhelm Schelling, dem ersten Generalsekretär der Akademie gebührt. In den Akten des oberbayerischen Kreisarchivs findet sich ein Entwurf ohne Datum und Unterschrift, der den ganzen Wortlaut der Konstitutionsurkunde in der indirekten Redeform eines Vorschlages enthält. Eine Vergleichung der Handschrift dieses Entwurfs mit den ersten Protokollen der Akademie, die Schelling führte, weist auf ihn als den Vater der Urkunde." {SHeler, 18; vgl. Pareyson, 311.) 12 Schelling und Cotta. Briefwechsel 1803-1849. Hrsg, von H. Fuhrmans und L. Lohrer. Stuttgart 1965. Zitat 31. 12 „Der Verfasser dieses Entwurfes hat, um der erhaltenen gütigen Aufforderung nach Kräften zu entsprechen, vor Abfassung desselben die Konstitutionen der berühmtesten Kunstakademien, sowie die besten, ihm bekannten Schriften über deren Einrichtung zu Rathe gezogen. — Er glaubt dafür stehen zu können, daß keine — soweit seine Einsicht reicht — mögliche und zur Emporbringung der Künste wahrhaft wirksame Einrichtung bei irgend einer der früheren Akademien getroffen worden sei, worauf nicht in dem vorstehenden Entwurf Rücksicht genommen wäre; so wie er sich dagegen bestrebt hat, die Einrichtungen derselben, welche der gesunde Verstand oder die Erfahrung als unnütz und fehlerhaft gezeigt haben, soweit er es verstand, aus diesem Plane zu entfernen. Überdem hat er die sämtlichen Punkte

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beeinflußt haben könnte, kann ziemlich sicher ausgeschlossen werden. Hingegen dürfte feststehen, daß die Organisation des Unterrichts und die praktisch-handwerklichen Zielsetzungen desselben auf die Vorschläge LANGERS zurückzuführen sind.i< Die letztgenannten Aspekte bleiben im folgenden außer Betracht, da die uns zunächst interessierende Frage nur diese ist: Welche seiner Jdeen" konnte SCHELLING — ungeachtet der Vorgaben, die er zu beachten hatte — in die Verfassung der Akademie einbringen und insofern als „bestätigt" und „verwirklicht" ansehen? Oder anders gefaßt: Wie konkretisiert sich SCHELUNGS Forderung nach einer Erneuerung der Kunst und nach einer diesem Ziel dienenden Veränderung des allgemeinen öffentlichen Bewußtseins in dem jetzt geschaffenen institutioneilen Rahmen? Bereits die Willenserklärung des Königs in der Einleitung der Urkunde verrät ScHELLiNGschen Geist. Unter Berufung „auf die zahlreichen und bedeutenden Kunstschätze Unsers Reiches, und auf die ausgezeichneten, durch die Geschichte bewährten Kunstanlagen der unter Unserm Zepter vereinigten Völker" gibt der König seine Absicht kund: „Es ist vielmehr Unser Wille, daß die wohlthätigen Einflüsse der schönen Künste sich auf Unser gesammtes

desselben mit dem Herrn Direktor Langer besprochen und über die Anordnung des Unterrichtes auch handschriftliche Mitteilungen desselben benutzt." (Stieler, 18; Pareyson, 311 f) 1'* Johann Peter Langer, Direktor der Düsseldorfer Akademie, war bereits 1806 als Direktor der neu zu gründenden Akademie nach München berufen worden. Er erhielt sofort den Auftrag, einen „Plan für die künftige Einrichtung dieser Anstalt auszuarbeiten. Als alter Praktiker im Kunstunterricht faßte er diese Aufgabe vor allem dahin auf, einen ins einzelne gehenden Lehrplan festzustellen und Vorschläge für die Besetzung der Lehrstellen zu machen" (Stieler, 16). Tatsächlich weist Langers Plan — als „Beilage VI" ebd. abgedruckt — keine eigentlichen Bildungsperspektiven oder konstruktive Vorschläge in kulturpolitischer Hinsicht auf. Nach einer kurzen Einleitung, in der zwar die Rede davon ist, „daß Sinn und Liebe für das Schöne den Menschen zur höchsten Ausbildung führe", aber auch von dem „Nutzen, den Gewerb und Handel" aus einem „blühenden" Zustand der Künste ziehen könnten, wird der „Zweck" der Akademie folgendermaßen bestimmt: „Die Akademie der bildenden Künste muß einen zweifachen Zweck haben, nehmlich Künstler im höchsten, strengsten Sinn zu bilden und zweitens im Allgemeinen den guten Geschmack der Formen des im gemeinen Leben Anwendbaren, Nothwendigen und Nützlichen zu vervollkommen; damit der Handwerker und Verziehrer einen gewissen Kunstbegriff mit seiner Arbeit verbinde und so alles mit mehr Zierlichkeit und Genauigkeit mache. Nicht nur die äußere Form seiner Werke, sondern auch die übrigen wesentlichen Eigenschaften der Bequemlichkeit und Dauerhaftigkeit werden dabei gewinnen." (Ebd. XVIII) Unmittelbar anschließend geht Langer zu dem über, was Stieler zutreffend charakterisiert.

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Volk in einem ausgedehntem Maße als bisher verbreiten, und dieses mächtige Bildungsmittel, mit den übrigen zusammenwirkend, die Neigung zum Schönen und Wohlgestalteten vermehre, und so unmittelbar die NationalGeschicklichkeit erhöhe, mittelbar aber den Geist, und die Sitten Unsers Volkes veredle. Denn die Liebe für Maß und Schicklichkeit, welche die Kunst einflößt, geht endlich auf das Leben über" (P. 314).is In diesem Sinne umreißt der erste Artikel der Urkunde den »Zweck" der Akademie, der sich in den eigentlichen Ausbildungszweck und eine weitergreifende volkserzieherische Zielsetzung auseinanderlegt: Sie ist „Lehr- und Bildungsanstalt“ für die angehenden Künstler, und sie ist zugleich eine „KunstVerbindung oder Gesellschaft", die auf das gesamte öffentliche Leben wirken soll. Als Lehr- und Bildungsanstalt hat sie die Aufgabe, »die Erhaltung und Fortpflanzung der Künste, welche nur durch lebendige, ja persönliche Überlieferung möglich ist, zu sichern"; als Kunst-Verbindung hat sie »den Künsten ein öffentliches Daseyn, eine Beziehung auf die Nation und den Staat selbst zu geben, wodurch sie fähig werden, ihrerseits vortheilhaft auf das Ganze zurückzuwirken, den Sinn für Schönheit und den Geschmack an edleren Formen allgemein zu verbreiten" (P. 314f). SCHELLINGS Forderung nach Wiedererweckung der Kunst geht in die Grundkonzeption der Akademie der bildenden Künste ein: In ihrer Funktion als Lehr- und Bildungsstätte schafft sie die äußeren Bedingungen für eine neue künstlerische Produktivität; in ihrer Funktion als Kunst-Verbindung bereitet sie den Boden, aus dem jene »öffentliche Begeisterung" für die Kunst erwachsen könnte, deren sie zu ihrer »Erhebung" bedarf. Freilich liegt hier auch das Problem: Einerseits wird der Kunst als einer öffentlichen Institution die Kraft zur geistigen und sittlichen Erneuerung der Nation zugemutet, andererseits ist — wie die Rede von 1807 betont — eine solche Erneuerung als »Veränderung... in den Ideen", als »neues Wissen" und »neuer Glaube" (VII. 328) Bedingung für die Neuerschaffung der Kunst aus »eigentümlicher Kraft". Die Problematik der erst zu stiftenden neuen Mythologie, deren Lösung SCHELLING im Transzendentalsystem »von den künftigen Schicksalen der Welt, und dem weiteren Verlauf der Geschichte" erwartete (III. 629), wiederholt sich hier auf einer anderen Ebene und in einem engeren Rahmen. Anders als Hegel, der bereits in Jena der Hoffnung auf den Wiedergewinn einer »gemeinsamen, politisch relevanten Vorstellungswelt" von der Kunst her absagte^*, scheint SCHELLING Ich zitiere hier und im folgenden nicht nach Slieler (Beilage VII), sondern nach dem Wiederabdruck der Urkunde bei Pareyson: Schellingiana rariora (s. Anm. 10). 313-327. (P und Seitenzahl). 15 Vgl. Otto Pöggeler in diesem Band, 3; ferner O. Pöggeler: Die Entstehung von Hegels Ästhetik in ]ena. In: Hegel in Jena. Hrsg, von D. Henrich und K. Düsing. Bonn 1980. (Hegel-Studien. Beiheft 20.) 249-279.

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an dieser Hoffnung noch festzuhalten, indem er — staatlichen Auftrag erfüllend — die praktische Wirkmöglichkeit der »bildenden Künste" in den Zielsetzungen der Akademieverfassung konkretisiert.Angesichts der realen Gegebenheiten und Möglichkeiten verschärft sich jedoch die innere Problematik seiner Forderungen: Durch welche Kunst soll die »Beziehung auf die Nation und den Staat" dokumentiert, soll das Volk einer ästhetischen Erziehung teilhaftig werden, die — im Geiste SCHILLERS — den Sinn für Schönheit weckt und Geist und Sitten veredelt? Sind es die in den Königlichen Sammlungen repräsentierten »Schätze" einer vergangenen, nicht allein »vaterländischen" Kunst, die sich durch die Initiative LUDWIGS in noch ungeahntem Maße vermehren sollten? Oder ist es die aus gegenwärtiger »Erschlaffung" erst herauszuführende künftige Kunst? Und weiter: Welche Möglichkeiten stellt die Akademie als Lehr- und Bildungsstätte der Künstler tatsächlich bereit, die zur Erneuerung der Kunst führen könnten? Vorläufige Antworten auf beide Fragen lassen sich aus den weiteren Bestimmungen der Urkunde gewinnen, aus deren Fülle wir nur diejenigen herausgreifen, an denen grundlegende Bildungsvorstellungen und -ziele deutlich werden. — Der praktische Unterricht, der alle Zweige der bildenden Künste umfaßt, soll »dem Geiste nach... auf die Erlernung der Künste im höchsten und strengsten Sinne gehen" — ein Anspruch, der deutlich die Kunstauffassung ScHELLiNGS wiedergibt. Diesem Verständnis von Kunst entspricht es, wenn der Akademie die »Bildung' von »tüchtigen ausübenden Künstlern" aufgetragen wird, »welche fähig sind, das, was sie gedacht, mit Richtigkeit, Wahrheit und Schönheit darzustellen" (P. 315; Hervorhebung von mir). Nicht Lehrpläne sollen den Unterricht bestimmen, »vielmehr wollen Wir, daß ihm ganz die Freiheit und Lebendigkeit erhalten werde, die besonders bei der Kunst so nothwendig und wesentlich ist". Der Lehrer hat jeden »gleichförmigen Mechanismus" zu vermeiden und dem Schüler die »Freiheit" zu lassen, »sein besonders Talent, und die Eigenheiten seiner Ansicht der Gegenstände, so wie die Art, sie nachzuahmen", entfalten und zeigen zu können (P. 316). Diese allgemeinen, auf die konkrete Unterrichtspraxis bezogenen Bestimmungen sind durchaus geeignet, die schöpferische Eigenkraft jedes Einzelnen zu fördern, was — im Sinne von SCHELLINGS Rede — für die Herausbildung einer »eigentümlichen Kraft" unerläßlich ist. Übrigens weisen diese Zielsetzungen voraus auf die Vorstellungen, die CORNELIUS erst später entwickeln wird (siehe unten).

Daß Schelling sich dabei im Rahmen der Konstitutionen anderer Kunstakademien bewegt, ist für unsere Fragestellung nicht von Belang. Vgl. Pevsner (oben Anm. 9), 211.

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Im Vergleich zu anderen Akademien erscheint das Münchener Programm von 1808 fast revolutionär.!® Es zeigt Affinitäten zu den Bildungsideen WILHELM VON HUMBOLDTS; es trägt der gegen die Praxis der damaligen Kunstakademien gerichteten Kritik der Künstler des Aufbruchs!® Rechnung, indem es die freie Entfaltung der künstlerischen Fähigkeiten ermöglicht und damit zugleich die traditionelle Bindung der Künstlerausbildung an die Bedürfnisse und Anwendungsmöglichkeiten in Handel und Gewerbe hinter sich läßt. Allerdings steht diesem fortschrittlichen Programm in seinen freiheitlichen Grundsätzen eine detaillierte Festlegung von Klassenstufen, Aufgaben und Einzelzielen (vgl. P. 316 ff) gegenüber, die der Verwirklichung des Intendierten hinderlich sein mußte. Wie das Klassensystem im Rahmen des bisher an Akademien Üblichen verbleibt, so auch das für die Ausbildung der praktischen Fähigkeiten notwendige Studium der Natur und der alten und neueren Meisterwerke, wobei die Plastik der Antike als „erste und vornehmste Schule des Künstlers" (P. 326) eine Vorrangstellung einnimmt. Die „Sammlung der Antiken und Abgüsse" soll der Akademie in ihrem eigenen Gebäude unmittelbar zur Verfügung stehen (vgl. ebd.); andererseits werden die Königlichen Sammlungen in München und Schleisheim den Schülern jederzeit zum Kopieren zugänglich gemacht (vgl. P. 325). Der Gefahr jedweder „blinden" Nachahmung scheint die folgende, unter der beiläufig anmutenden Überschrift „Hilfsmittel und Attribute der Akademie" zu findende Bestimmung entgegen wirken zu wollen: „Außer den eigentlichen Kunst-Büchern soll noch eine Sammlung der vorzüglichsten klassischen Dichter alter und neuer" Zeit zur Lektüre vorhanden sein^®, damit die Schüler „mit dem poetischen Geiste, hauptsächlich des Alterthums, vertraut" werden können, „ohne dessen Kenntnis ihnen auch die KunstWerke selbst, mehr oder weniger, unverständlich bleiben würden" (P. 326; Hervorhebung von mir). Verstärkt wird dieses Bildungsangebot durch die in den Lehrplan aufgenommene Verordnung von „Vorlesungen über die Mythologie, und die allgemeinen Kunst-Gegenstände, verbunden mit einer !® So jedenfalls sieht es Pevsner, der andererseits darauf hinweist, daß die Details der Neuorganisation im Horizont des „Ancien Regime" (des 18. Jhdts.) bleiben. Vgl. ebd. !®Zur Kritik der Kunstakademien vgl. ebd. 200-205. Genannt werden u.a. die in Rom lebenden Künstler Asmus Jacob Carstens, Joseph Anton Koch, Eberhard Wächter, Gottlieb Schick, Franz Pforr, Friedrich Overbeck, Peter Cornelius. Vgl. ferner exemplarisch den Brief von Carstens an Heinitz, abgedruckt in: Kunsttheorie und Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Bd 1: Kunsttheorie und Malerei, Kunstwissenschaft. Hrsg, von W. Busch und W. Beyrodt. Stuttgart 1982. 13-18. 20 Diese Bestimmung ist für Pevsner ein weiterer Beweis für die Fortschrittlichkeit des Münchener Programms. Vgl. ebd. 211.

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anschaulichen Geschichte der allmähligen Ausbildung der vornehmsten Kunst-Ideale", die alljährlich im Wintersemester zu halten sind (P. 318) — ein Vorhaben, das JOHANN HEINRICH MEYER in seiner Rezension (1813) besonders hervorhebt. Diese — über die praktische Ausbildung hinausgehenden — Anordnungen dürften in besonderer Weise mit SCHELLINGS Intentionen in Einklang stehen, bieten sie doch die Möglichkeit, zu einer produktiven geistigen und künstlerischen Auseinandersetzung anzuregen. Wenn es gelänge, dadurch bei den Schülern die in der Rede geforderte »Veränderung in den Ideen selbst' zu bewirken, ein »neues Wissen" und einen »neuen Glauben" hervorzurufen, könnte bloßer Nachahmung eine Kraft entgegen gesetzt werden, die die Perpetuierung des Klassizismus zu verhindern vermöchte. — Umso befremdlicher ist es, daß SCHELLING selbst die Vorlesungen, deren Thematik ganz auf ihn zugeschnitten ist, nicht gehalten hat; sie wurden erst 1827 durch SCHORN aufgenommen, der sie allerdings kunsthistorisch anlegte. Der Erneuerungswille, der die Statuten der Akademie durchwirkt, findet eine besondere Spiegelung in einer Bestimmung, die über die eigene Tätigkeit der Akademie hinausweist. Sie gilt besonderen Schulen außerhalb der Hauptstadt, und es ist interessant zu sehen, wie diese auch an anderen Akademien anzutreffenden Einrichtungen hier dem differenzierten Bildungszweck der neuen Kunstakademie zugeordnet werden. Das Bestreben um die Hebung der Künste soll durch die Verordnung zur Errichtung von »Provinzial-Kunst-Schulen" in Augsburg, Innsbruck und Nürnberg auf eine breite Basis gestellt werden. Dient diese Maßnahme vorwiegend der künstlerischen Ausbildung des begabten Nachwuchses, so die gleichzeitig verfügte Errichtung von »Zeichnungs-Schulen" in jeder »nur einigermaßen bedeutenden Stadt" der Verbreitung von höherem »Kunst-Fleiß und Geschmack" unter den bürgerlichen Ständen und den Handwerkern (vgl. P. 321). Hier wird »die Zeichnung als ein Zweig des allgemeinen öffentlichen Unterrichts behandelt" und damit gleichsam ein Grundstock für die ästhetische Erziehung des Volkes gelegt.

Kehren wir von hier aus zurück zu den öffentlichen Wirkungsmöglichkeiten der Akademie selbst. Sie hat beispielsweise ein besonderes Gewicht auf den Unterricht im Fach Baukunst zu legen, in den auch die »mechanischen Arbeiter und Handwerker" einzubeziehen sind. Die Höherführung dieser

Der Kommentar Meyers lautet; »Wenn es mit diesen Vorlesungen ernstlich genommen, und sie, wie nicht zu bezweifeln, einem tüchtigen, dem Unternehmen gewachsenen Manne übertragen werden: so sind zuversichtlich die ersprießlichsten Folgen davon zu erwarten." Die Rezension erschien in den Ergänzungsblättern zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung. 1 (1813), Bd 2, 69-72. Wiederabdruck in Pareyson (Anm. 10), 337-342. Zitat: 339.

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— gegenwärtig „entarteten" — Kunst ist deshalb von besonderer Wichtigkeit, weil gerade die öffentlichen Bauwerke einen unmittelbaren Einfluß „auf den Geist und Geschmack einer ganzen Nation" ausüben (vgl. P. 318). Unter diesem Aspekt wird auch die Ausgestaltung künftiger Bauten durch Skulptur und Malerei bereits festgelegt, wodurch zugleich den angehenden Künstlern zu ihrer „Ermunterung" und „Förderung" schon frühzeitig Gelegenheit gegeben sein soll, unter Anleitung oder Aufsicht ihrer Lehrer größere Arbeiten an öffentlichen Gebäuden auszuführen (vgl. P. 322). Außerdem sollen die Gemeindevorsteher angewiesen werden, sich bei Bestellungen von Gemälden für Kirchen und andere Gebäude, von Büsten, sonstigen Denkmälern und Grundrissen öffentlicher Bauten an die Akademie zu wenden (vgl. P. 322 f).22 Diese Bestimmungen konkretisieren den Bildungsauftrag der Akademie in spezifischer Weise. Die künstlerischen Produkte, die sie erstellt, sind eingebunden in den allgemeinen Lebensvollzug des Volkes im Staat, die Kunst gewinnt eine unmittelbare gesellschaftliche Funktion. Demgegenüber setzt die einer üblichen Praxis folgende Anordnung von Preiswettbewerben, die jährlich für die Schüler der Akademie und alle drei Jahre für die einheimischen und auswärtigen Künstler stattfinden sollen, einen anderen Akzent. Die mit den Wettbewerben verbundenen Ausstellungen der Werke, sowie die öffentlich vorzunehmenden Preisverleihungen (vgl. P. 323 ff), präsentieren die Kunst mittelbar, in einem besonderen gesellschaftlichen Rahmen. Dieser Rahmen hebt sie aus dem alltäglichen Leben heraus und verleiht ihr gleichsam ein „Mehr" an Bedeutung. Durch die öffentliche Präsentation von wechselnden Kunstwerken erfüllt die Akademie einen Teil des Bildungsauftrags, der ihr in ihrer Funktion als „Kunst-Gesellschaft" zugewiesen ist (vgl. P. 328). Unsere Frage, welche Kunst es sei, durch die das Volk gebildet oder (im Sinne der Rede) zur geistigen Erneuerung geführt werden solle, erfährt hier eine klare Antwort: Es ist nicht die überkommene, sondern die gegenwärtig und künftig aus „eigentümlicher Kraft" entstehende. Als „Kunst-Gesellschaft" hat die Akademie noch weitere Aufgaben. Akademisch und verfassungsmäßig alle „Rechte und Vorzüge einer gelehrten Gesellschaft" genießend, soll sie ebensowohl der Weiter- bzw. Höherbildung ihrer eigenen Mitglieder dienen: „Wir wollen, daß jener edle, und den Künsten so heilsame Wetteifer, auch unter den Lehrern und schon gebildeten Künstlern erhalten werde, und daß nach erlangter Reife in der Kunst der Einzelne durch die Vereinigung mit gleichgebildeten Männern das Mittel finde, seine wissenschaftlichen Begriffe von der Kunst immer mehr zu Hier wird eine Anregung aus Christian von Mannlichs „Vorschlag zur Verbesserung der Kunstschulen" (1801) übernommen. Vgl. Siieler, Beilage II.

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erhöhen und zu erweitern." (P. 327) Das meint keinesfalls eine Beschränkung auf die Künstler Bayerns, oder gar nur auf die der Akademie. Zwar soll diesen ein vereinigendes Zentrum gegeben sein und eine Auszeichnung gesichert werden, „deren Zuerkennung die öffentliche Erklärung wirklicher Meisterhaftigkeit in sich schließt" (ebd.). Aber die Willenserklärung sucht möglichem Provinzialismus oder falschem Nationalgefühl, überhaupt jeder Einseitigkeit, die sich in Unterricht und künstlerischer Ausübung nieder schlagen könnte, vorzubeugen durch die Forderung, „daß Unsere Kunst-Akademie in Wechselwirkung mit allen gleichzeitigen Kunst-Bemühungen trete und auf das Zeit-Alter wirke, um hinwiederum von ihm gefördert zu werden" (ebd., Hervorhebungen von mir). Unübersehbar reflektiert diese Erklärung Intentionen ScHELLiNGS. Sie wird dadurch unterstrichen, daß der gesonderte Abschnitt über den „Zweck der Akademie als Kunst-Gesellschaft" die Forderung in modifizierter Weise wiederholt, und zwar in unmittelbarem Anschluß an jene, die sie verpflichtet, „auf den Gemeingeist zu wirken". Es heißt dort: „Ferner hat sie sich mit Instituten von gleichen Zwecken, mit Künstlern und Kunst-Freunden aller Länder und Völker in thätige Wechselwirkung zu setzen, und so sich immer in der Kenntniß des Merkwürdigsten und Wichtigsten, was überall in den Künsten sich hervorthut, zu erhalten." (P. 328; Hervorhebung von mir.) Die Absichtserklärungen zur internen Weiter- und Höherbildung der Akademie gehen über das begründete staatliche und nationale Interesse hinaus; sie eröffnen Perspektiven, die man fast kosmopolitisch nennen könnte. Werden die Intentionen innerhalb dieses weit gesteckten Rahmens realisiert, gelingt der immanente Bildungsprozeß der Akademie und lassen sich die freiheitlichen Unterrichtsformen durchsetzen, dann könnte sie fähig werden, den Erneuerungsprozeß der Kunst in Gang zu bringen und dadurch ihren Bildungsauftrag gegenüber dem Volk in der geforderten Weise zu erfüllen. Bleibt auch die innere Problematik der doppelten Forderung nach Erneuerung bestehen, sofern man die hier vorgestellten kultur- und bildungspolitisch entscheidenden Aussagen der Urkunde noch einmal an SCHELLiNGS Rede mißt (s.o.); mögen diese auch im einzelnen Eingrenzungen und Einschränkungen gegenüber dem Anspruch der Rede zeigen, wie sie wohl jeder Versuch, „Ideen" für die Praxis zu konkretisieren, mit sich bringen muß, so ist gerade angesichts dieser Schwierigkeiten auf die Überzeugung zu verweisen, daß der „inneren Einrichtung" einer Kunst-Adademie „richtige Begriffe zum Grunde liegen" müssen, wenn sie als wirksames Mittel des Staates „für die Erhaltung und allgemeinere Ausbreitung der Künste" zur Geltung gebracht werden soll (P. 314). EUGEN VON STIELER beurteilte die Konstitution der Münchener Akademie nach ihrer hundertjährigen Geschichte so: „Sie ist das Werk eines großen, freien und weitblickenden Geistes, der es verstanden hat, für das Verhältnis des Staates zur Kunst Gesichtspunkte zu

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schaffen, die wir heute nach 100 Jahren noch als die allein richtigen anerkennen müssen "23 ScHELLiNG selbst hat die Akademieverfassung nach ihrer amtlichen Bekanntgabe noch einmal eigens durch einen Artikel im Morgenblatl (18. Juli 1808) für das Publikum interpretiert.2^ Schon der hier von ihm gewählte Habitus eines neutralen Berichterstatters, der sich von dem Vorhaben faszinieren läßt, zeigt, wie sehr ihm an einer verstärkenden Wirkung, am Auslösen einer Bewegung, am Erregen von Teilnahme gelegen war. (Seine Anonymität wurde freilich zu seinem Mißfallen durch ein Versehen der Redaktion, die den Beitrag mit „S." Unterzeichnete, gelüftet.) ScHELLiNG beginnt mit den immer wieder gegen Kunstakademien überhaupt erhobenen Einwänden.2s Er gibt solchen Vorbehalten recht, sofern sie sich auf die Konzeption und Realität von Anstalten beziehen, die, „anstatt der Kunst wo möglich ein freies Leben zu verschaffen, sie engherzig zurückdrängten und vom Gemeinsinn abschlössen" (VII. 553). Von dieser Folie hebt er die neue Münchner Konstitution als ein Werk „reifer Überlegung" ab. Er verweist auf eine gewisse Affinität zu den Statuten der Kunstakademie in Wien, die „einen weit liberaleren Geist athmen als das Reglement für die Akademie der bildenden Künste und mechanischen Wissenschaften zu Berlin" (VII. 554). Auffallend ist, wie ausführlich SCHELLING beim Durchlaufen der Einzelbestimmungen auf die projektierten Vorlesungen eingeht (VII. 557 ff). Auch sie stellt er möglichen Fehlansätzen gegenüber. Skeptisch beurteilt er z.B. die in Berlin festgesetzten Kollegien über die Theorie der Künste. In der „bisher gewohnten Allgemeinheit" gehalten, scheinen sie ihm für den Künstler ohne Nutzen; sollten sie sich aber auf das „Specielle der Kunst" einlassen (hier nennt er beispielhaft die Abhandlungen von R. MENGS2*), SO ist nach seinem Dafürhalten „praktische Anweisung von weit größerer Wichtigkeit". Für

23Ebd. 19. 2^ In dem schon (oben Anm. 12) zitierten Brief an Cotta schreibt Schelling: „Für das Morgenblatt schicke ich selbst eine Annonce von der Organisation der Akademie; und wenn die Konstitution gedruckt ist, habe ich mir vorgesetzt, einen besondern Aufsatz über dieselbe, nebst einer Vergleichung zwischen dieser und den Verfassungen andrer Akademien der Künste, für das nämliche Blatt zu schreiben." Schelling und CoHa. 32. Am 9. Juli 1808 schickte Schelling den Aufsatz an Cotta (vgl. ebd. 35). Er erschien unter dem Titel: Über die Verfassung der neuen königl. Akademie der bildenden Künste in München im Morgenblatt (Nr 171, Nr 172, Nr 173). Wiederabdruck: VII. 553-568. 25 Vgl. oben Anm. 19. 25 — den er in der Rede (VII. 325), entgegen Goethes und Meyers Auffassung, u.a. für die falsche Nachahmung verantwortlich macht.

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abträglich hält er auch mit Gelehrsamkeit angefüllte „Vorlesungen über die Alterthümer", weil sie entweder „gelehrte Künstler" erziehen oder ganz unnötig (weil wirkungslos) sind. Demgegenüber sieht SCHELLING den „höheren Endzweck" der in München vorgesehenen Vorlesungen über Mythologie nicht in der historischen Kenntnis. Die „tiefere Einweihung" in den Geist der Mythologie, um die es hier vielmehr geht, erscheint SCHELLING als „das kräftigste Mittel, den Künstler von dem Historischen und der bloß moralischen Charakteristik... zum Symbolischen und zur Naturcharakteristik zu erheben; denn zu dem Standpunkte, auf welchem er das Höchste der Kunst einsieht, muß er allerdings erhoben werden..." (Hervorhebung von mir). Er muß „erfahren", daß das Historische nur als „Hülle einer Idee" zu fassen ist. Ein solches Eintauchen der Schüler in den „Geist ächter Symbolik" kann allerdings nicht durch bloßes „Hererzählen mythologischer Dichtungen" geschehen, sondern nur dadurch, „daß die Mythologie als ein Ganzes lebendiger Kunstideale dargestellt und behandelt wird".27 Die Züge des denkerischen Selbstporträts, das SCHELLING hier entwirft, sind nicht zu verkennen. Zu diesen Auffassungen paßt es, wenn SCHELLING an späterer Stelle (VII. 565 f) nicht nur den möglichen Einfluß von Geschäftsleuten, sondern auch das „Zudrängen von Gelehrten" zur Akademie kritisch bewertet. Selbst bei der von ihm gelobten Wiener Institution sieht er die „Reinheit des Zweckes" dadurch beeinträchtigt, daß „der akademische Rath zur Hälfte aus Gelehrten zusammengesetzt" ist. Dem konfrontiert er den bei der bayerischen Akademie gefundenen „Ausweg", daß nur „die Leitung sämmtlicher literarischer Angelegenheiten" einem Gelehrten in der Stelle des ständigen Generalsekretärs anvertraut ist. Ein weiteres Mal kommt SCHELLINGS eigentlicher Impuls zum Vorschein in der außerordentlichen Betonung, mit der seine Besprechung die neben der Akademie im ganzen Lande zu errichtenden Schulen mit künstlerischer Zielsetzung erwähnt (VII. 560 f). In einer Argumentation, die auf unsere moderne bildungspolitische Problematik vorausweist, macht er sogar geltend, daß diese vielen Schulen ebensoviele Lehrer benötigten und daß daher für die an der Akademie gebildeten Künstler nicht spätere Beschäftigungslosigkeit zu befürchten sei. Der Sinn des Ganzen aber ist ihm dieser: „Wird zwischen den Kunst- und Zeichnungsschulen und der Akademie eine solche Vgl. in den Vorlesungen zur Philosophie der Kunst Schellings Ausführungen über die Mythologie (bes. V. 405-451) und über deren Beziehung zum Symbolischen und Historischen in der Malerei (ebd. 554-568). Siehe dazu die Interpretation von Dieter Jähnig: Schelling. Die Kunst in der Philosophie. Bd 2: Die Wahrheitsfunktion der Kunst. Pfullingen 1969.188-200. Jähnig arbeitet u.a. den Unterschied zwischen der Mythologie-Auffassung von Goethe und Karl Philipp Moritz und von Schelling andererseits heraus.

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Verbindung gestiftet, daß diese verschiedenen Anstalten nach Einem Geiste, jede in ihrer Art, geleitet werden, so ist Bayern derjenige Staat, worin zuerst etwas für die Kunst nach einem durchgreifenden Zusammenhänge geschieht. Staatsanstalten, welche nicht zuletzt auf die Nation zurückwirken, und die große Masse des Volkes zur Basis haben, aus der doch immer wieder Künsten und Wissenschaften neue erfrischende Kräfte kommen mußten, schweben ohne Haltung, und behalten etwas Fremdartiges, nicht ins Ganze Eingreifendes mitten im Staate." Die geplanten Wettbewerbe und Preisverleihungen (VII. 562 f), die Aufgabe der Akademie als Kunstgesellschaft, die „den Geist der Freiheit und des Fortschreitens in ihr rege" erhalten, „jeder Einseitigkeit oder beschränkten Nationalität" in Unterricht und Ausübung Vorbeugen soll (564), ihre Rolle als „öffentliche Instanz" der Kunstförderung und ihre Beteiligung an der Verwaltung der Kunstschätze (567) — all dies stellt SCHELLING seinen Lesern vor, um es dann insgesamt als einen charakteristischen Zug der ganzen Verfassung zu bezeichnen, daß sie „die Beziehung der Künste auf das öffentliche Leben anerkennt, und die Kunst im Wesen der Nation selbst fundirt" (ebd.).

III. Unter großen äußeren Schwierigkeiten, die länger fortdauern sollten, nahm die Akademie noch im Jahr der Neugründung ihre Unterrichtstätigkeit auf. Auf die Einzelheiten ist hier nicht einzugehen.28 Auch die damals berufenen Lehrer der Akademie sollen hier nicht vorgestellt werden. Nach STIELERS Urteil waren sie fast alle klassizistisch geprägt. Insgesamt ist wohl zu sagen, daß es, um einen Neubeginn im Sinne SCHELLINGS ZU initiieren, anderer Künstler bedurft hättet® — solcher, die selbst von der Idee einer neuen Kunst durchdrungen waren, wie CORNELIUS; erst unter dessen Direktion (1825-41) wurde später etwas von dem verwirktlicht, was die Konstitution gefordert hatte. Wir konzentrieren uns im folgenden auf die tätige Mitwirkung SCHELLINGS, auf die Frage, ob und inwieweit seine Aktivitäten dem von ihm mitverant-

28 Vgl. dazu Siieler, 41 ff. 29 Obwohl von den neuen Ideen ergriffen (vgl. Siieler, 31 u. 45 f; Pevsner, 212), war Langer nach Pevsners Auffassung unfähig, sie in die Praxis umzusetzen; seine Ernennung zum Direktor der Akademie habe sich als Fehler erwiesen (ebd.). Nach Stieler war Langer nicht dazu geeignet, die Kunst „ins Volk zu tragen"; dazu „hätte es eines Bahnbrechers bedurft, der die Kunst vom Banne des Klassizismus befreite und ihr neue Wege wies" (ebd. 28).

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werteten Konzept entsprachen, und schließlich darauf, ob dieses Konzept sich in der Praxis durchsetzte. Auf die innere Organisation der Akademie, die in den ersten Jahren erfolgte, hatte SCHELLING keinen Einfluß. Sie war Sache des Direktors LANGER. Der Generalsekretär hatte unter anderem Anträge und Berichte, aber auch die Programme für die Preisaufgaben und Preiserteilungen zu verfassen, in denen ,das motivierte Urtheil der Akademie" bekannt gemacht wurde. (P. 330) Wie SCHELLING das ihm Obliegende im Sinne öffentlicher Bildungsarbeit durchgeführt hat, ist aus den Programmen für die Kunstausstellungen 1811 und 1814 zu entnehmen, ferner aus offiziellen und inoffiziellen Zeitungsberichten, die er verfaßte. Das Programm für die erste Kunstausstellung im Jahre 1811, mit dem die Akademie nach dreijähriger Lehre zum erstenmal an die Öffentlichkeit tritt, richtet sich an alle Künstler des Staates Bayern. Unter Berufung auf die Verfassung, nach der die Akademie als eine freie Kunstgesellschaft allen Künstlern des Landes »einen Punkt der Vereinigung, ein Ziel der Auszeichnung sichern" will (P. 364), werden die Künstler eingeladen, mit ihren Werken an der Ausstellung teilzunehmen. Es müsse, so SCHELLING, »dem Künstler ein erhebender Gedanke seyn, in einer so allgemeinen Versammlung nicht zu fehlen; hier wo die Erzeugnisse des baierischen, des schwäbischen, des tyrolischen und des fränkischen Künstlers neben einander gesehen werden, muß sich ein höherer Vergleichungspunkt für alle bilden; die Auszeichnung, die unter vielen gewonnen wird, hat höhern Reiz, als die unter wenigen; ein neuer Wetteifer wird zwischen allen entstehen, um wenn es unmöglich wäre, den Geist alter Zeiten zurükzurufen, den früh' erworbenen Kunstruhm ihres Geburtslandes oder ihrer Vaterstadt wenigstens auf verhältnismäßiger Höhe zu erhalten." (P. 365; Hervorhebungen von mir.) Weiterhin sollen auch Arbeiten der »akademischen Zöglinge" ausgestellt werden, um der Öffentlichkeit einen »Beweis" von den bisherigen Unterrichtserfolgen zu geben. Allerdings sind diese Arbeiten noch vom Preiswettbewerb ausgeschlossen. Nach dem Katalog, den SCHELLING erstellte, umfaßte die Ausstellung 402 Werke; SCHELLING hat alle beurteilt und manche sehr anschaulich charakterisiert. In einem in der Augsburger Allgemeinen Zeitung veröffentlichten Bericht (vgl. P. 384-395), den SCHELLING anonym erscheinen ließ, sind einige seiner Urteile festgehalten. Eine besondere Würdigung erfährt das Gemälde des in Rom lebenden Künstlers ANTON JOSEPH KOCH, das SCHELLING für die »Krone" der Ausstellung im Fach Landschaftsmalerei hält: »Die Staffage, die dichterische Behandlung des Ganzen erinnern lebhaft an Hrn. KOCH den Historienmaler; nur wer zugleich für höhere, geistige Verhältnisse den Sinn geübt, kan das Lebendige auch der allgemeinen Natur und ihrer Erscheinungen so tief empfinden. Studium der Natur wäre in Bezug auf Hrn. KOCH ein schlechter Ausdruck. Der Mann, der dis Bild verfertigt, hat die Natur

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nicht blos zum Behuf seiner Arbeiten betrachtet; er hat mit und in ihr gelebt;... und ist so auf eine seltene Art mit ihr eins geworden." (P. 388 f)3° Dieses Urteil drückt aus, was SCHELLING von Künstler und Werk erwartet. Sollte in KOCHS Bild die vordergründige Nachahmung der Natur überwunden, sollte die Kraft lebendiger Natur zu spüren sein? SCHELLING schrieb diesen Bericht vor allem, um auf die Bedeutung dieser ersten Ausstellung nach zwanzigjähriger Pause aufmerksam zu machen. Die „Hauptabsicht" des Neubeginns — „eine heilsame Bewegung der Geister" hervorzurufen (P. 384) — sieht SCHELLING erfüllt, dafür zeuge die starke Teilnahme des Publikums und die lebhafte Bewegung unter den Künstlern. Vorausweisend nimmt SCHELLING an, daß „mit diesem ersten Versuche einst in der Kunstgeschichte Baierns ein eigner Zeitabschnitt bezeichnet werden wird". Der Bericht schließt in der hoffnungsvollen Zuversicht: „... und auch unsere Zeit wird sich noch jener Begeisterung fähig zeigen, die man so gern als ausschließliches Eigenthum jener frühem Zeiten ansehen möchte!" (P. 391; Hervorhebung von mir.) Schwingt hier das Pathos der Rede von 1807 ganz leise mit, so kräftiger in einer amtlichen Mitteilung der Akademie der Künste „an die Künstler Baierns" vom 25. November 1811. Sie hebt die Bedeutung dieser ersten Ausstellung vor allem dadurch hervor, daß der Künstler durch den Eindruck, den er von „den Kräften seiner Zeit" gewinnt, zur Erfahrung der eigenen Kraft gelangt; von ihm allein, von „dem Eifer und dem Verstand des Einzelnen" hängt jedoch ab, „wie viel" er sich von der „allgemeinen" Kraft aneignet (vgl. P. 393). Das unterstreicht der Aufruf am Schluß: „Künstler Baierns! Die Empfindung, wie viel, nach einer im Ganzen wenig begünstigenden Zeit noch immer die vaterländische Kunst vermag, vor allem aber jenes wesentliche Gefühl, daß die Wurzel noch lebendig ist und nicht am längst dorrenden Stamm einige künstliche Früchte... nur wie angeheftet stehen, hat sich eines jeden bemächtiget. Dieses Gefühl zu erhalten, neu zu erhöhen und durch die That zu bekräftigen sey aller gemeinsames Bestreben!" (P. 394 f; Hervorhebungen von mir.) Noch scheint der Gedanke, daß die Kunst aus „eigentümlicher Kraft" neu entstehen könne, in SCHELLING lebendig; daß dies erkannt und produktiv angeeignet werde, ist sein Anliegen. — Programm, Bericht und Aufruf zeigen deutlich, daß SCHELLING den öffentlichen Bildungsauftrag der Akademie engagiert vertritt. Wo immer nur möglich

30 Vgl. den Brief von Schelling an Cotta (13. Okt. 1811), mit dem er den Katalog der Ausstellung übersendet und das Gemälde von Koch als einziges mit folgenden Worten erwähnt: „... verwundersam herrlich und in der That etwas bis jetzt einziges, nur gleichsam bruchstücklich in den Hintergründen altdeutscher z.B. Dürer'scher Gemälde erschienenes" {Schelling und Cotta. 54). 31 Vgl. ebd. 54 f.

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hebt er Positives heraus, in dem offensichtlichen Bestreben, eine Bewegung zu verursachen, die Künstler und Publikum gleichermaßen ergreift. In den Briefen an WAGNER in Rom spricht SCHELLING allerdings eine andere Sprache. Am 17. April 1810 schreibt er z.B., daß Deutschland »einem alle Kunst verleiden" könne, und er fordert seinen Adressaten auf, bald ein Werk nach München zu schicken, »daß man wieder sieht, was ein Kunstwerk heißt und was sich in unsrer Zeit leisten läßt" {Pliit 2. 205)^3. Wohl in Anspielung auf die innere Organisation der Akademie heißt es am 4. November desselben Jahres:»... wenn ich nicht die klarste Anschauung hätte, daß in Verhältnissen wie die hiesigen, jeder Funke von Kunst durch die conventioneilen Formen und Erbärmlichkeiten erstickt werden muß, so sagte ich: Freund, schnüre Dein Bündel und komme heraus" (ebd. 231). Hier scheint es, als habe SCHELLING durchaus gesehen, daß die Zielvorstellungen der Konstitution unter den gegebenen Voraussetzungen nicht verwirklicht werden konnten. Das Programm der Kunstausstellung, die für das Jahr 1813 geplant war, aber wegen der Zeitumstände erst 1814 stattfinden konnte, hat nicht mehr den werbenden und appellativen Charakter des ersten. Zur zweiten Ausstellung waren neben den bayerischen auch die »auswärtigen" Künstler eingeladen; grundsätzlich sollten alle Werke angenommen werden. Außerdem wurden erstmals Preisaufgaben ausgeschrieben: Im Fach Historienmalerei »Das Opfer Noahs nach der Sündfluth", mit der Begründung, »daß Gegenstände der religiösen Geschichte dem Geist und Gefühl des Mahlers nothwendig näher liegen, als die der Mythologie oder der politischen Historie" (P. 411); für die Landschaftsmalerei »ein Gemählde, die wiederkehrende Beruhigung der Natur nach einer großen, ungemeinen Bewegung darstellend", wobei Wert auf die Annäherung »an den Charakter einer historischen Composition" gelegt war, um dem Künstler die Möglichkeit zu geben, sich »aus dem Unbestimmten und Alltäglichen wieder zum Bedeutenden und Poetischen" zu erheben; schließlich für die Bildhauerkunst »Theseus, der den Fels hebt, unter dem seines Vaters Schwert verborgen liegt" (P. 412). Die Aufgaben bewegen sich im Rahmen der Themenstellungen, die auch an anderen Akademien anzutreffen sind.34 Ob SCHELLING an ihrer Festsetzung mitgewirkt hat, läßt sich nicht ermitteln; er schickte das Programm unter anderem an COTTA, WAGNER und GOETHE (vgl. P. 424). In den sehr eingehenden und ausführlichen Beurteilungen der Werke kommt die Kunstauffassung SCHELLINGS deutlich zum Ausdruck. Zwei Bei32 Seinen »Tadel" gab Schelling nur versteckt zu verstehen; vgl. den Brief an Cotta vom 11. Nov. 1811. Ebd. 56 f. 33/1HS Schellings Leben. In Briefen. Bd 1-3. Hrsg, von Gustav Leopold Pütt. Leipzig 1869-70. Hier und im folgenden zitiert als Plitt, mit Band- und Seitenzahl. 34 Vgl. dazu Pevsner, 168 f.

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spiele mögen dies belegen. In der Begründung für den Preis zur Aufgabe ,Noah" schreibt SCHELLING: ,... wenn alle Vergangenheit schon als solche etwas Poetisches hat, sollte der Geschichts-Mahler um so weniger unterlassen, die große Entfernung der Zeit durch innerliche Mittel ... fühlbar zu machen ... Dadurch allein kann er sich gleichsam den Schranken seiner Kunst entschwingen, die ihm alles nur als Gegenwärtiges und Gleichzeitiges darzustellen erlaubt; aber indem er die Kluft der Zeiten überwindet, Ereignisse der Tage, die nicht mehr sind, mit der ganzen Kraft der Wirklichkeit, die ihnen als gegenwärtigen zukam, vor das Auge bringt, und hinwiederum das nun Gegenwärtige als ein der Zeit nach weit Entferntes, längst Vergangenes kenntlich zu machen weiß, erhebt er sich in das Reich freier, allvermögender Dichtkunst." (P. 429) Hier setzt SCHELLING den ideellen Maßstab für die Historienmalerei. Es ließe sich auch sagen: SCHELLING entwirft eine Theorie derselben, indem er zentrale Gesichtspunkte seiner Kunstphilosophie am aktuellen Gegenstand zu konkretisieren sucht (vgl. z.B. VII. 301; V. 556 ff). Wie völlig anders werden später die Hegelianer, z.B. SCHASLER und FRIEDRICH THEORDOR VISCHER die Aufgabe der Historienmalerei bestimmen!^® Zur Aufgabe der Landschaftsmalerei schreibt SCHELLING: ,... Aber in der Natur selber ist Bewegung und Wechsel, und wenn in der Natur wie im Leben jene Momente die entzückendsten sind, wo eine heftige Bewegung oder der furchtbare Aufstand einer Masse von Kräften der sanften Gewalt einer höhern Macht unterliegt, oder ersinkt: so kann man behaupten, daß die Landschaft in der Darstellung eines solchen Übergangs eigentlich auf ihrem Gipfel sey." (P. 431 f) Diese Stelle korrespondiert mit der Deutung der Niobeplastik, die SCHELLING in der Rede von 1807 vorgetragen hat: Der Kampf menschlicher Leidenschaften in der höchsten Not existentieller Bedrohung wird durch die mächtigste Kraft, .,die ewige Liebe", gemäßigt. Indem das Kunstwerk diese Spannung zum Ausdruck bringt, gelangt es zu höchster Vollendung (vgl. VII. 314). Ein Vergleich der Texte um die Kunstausstellungen von 1811 und 1814 zeigt, daß SCHELLINGS Engagement sich wandelt. Die gewiß öffentlichkeitswirksamere motivierende Kraft, die Begeisterung und Bewegung des Geistes entfachen will, tritt zurück zugunsten einer philosophisch inspirierten didaktischen Bemühung um die Werke selbst, die in substantieller Weise zu sagen sucht, wie wahre, gelungene Kunstwerke zu sein hätten. Eben hierin zeigt sich noch einmal SCHELLINGS Einsatz für die Erneuerung der Kunst, an die er im Stillen möglicherweise schon nicht mehr glaubte. Gegen Ende der Beurteilungen hebt SCHELLING „den Geist und die Einrichtung" der Akademie hervor, deren Ziel es sei, die „aus einem irrigen Begriff 35 Vgl. den Beitrag von Werner Busch in diesem Band.

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von der Natur und falscher Ansicht des Idealischen hervorgegangenen Urtheils eher mit Werken als mit Worten zu erwiedern." (P. 438) Auch dieser Passus weist zurück auf SCHELLINGS Rede, in der er die falsche Nachahmung der Natur ebenso verwirft, wie die falsche Nachahmung der klassischen Kunst. Erneut erteilt er dem Klassizismus seiner Zeit, der in den Bauten LEO KLENZES sich gewaltiger erneuern sollte, als SCHELLING 1814 bereits wissen konnte, eine entschiedene Absage. So vermochte er beispielsweise die Glyptothek, mit deren Bau auf Betreiben LUDWIGS KLENZE 1816 begann, nicht gutzuheißen. In einem undatierten Brief (von 1817 oder 18) an WAGNER bezeichnet er diese als ein „Gebäude völlig ohne Styl, ohne Consequenz, das sich nicht einmal mit den besseren Gebäuden aus den Zeiten LUDWIG XIV. vergleichen läßt" (Plitt 2. 423). Daß SCHELLING von der weiteren Entwicklung der Baukunst unter KLENZE wohl wenig erwartete, sagt der lapidare Satz; „Wie es nun gegenwärtig in Ansehung der Kunst bei uns steht, können Sie leicht ermessen, wenn Sie wissen, das der Meister jenes kostbaren Gebäudes an des alten braven GäRTNER Stelle Hof-Bau-Intendant und allein-dirigierender Baumeister geworden ist" (ebd.). Auf die Kunstpolitik LUDWIGS hatte SCHELLING keinen nachweisbaren Einfluß, genau so wenig wie auf die Ausbildung junger Künstler in der Akademie; die Möglichkeit, Einfluß zu nehmen durch die ihm zugedachten Vorlesungen, hat SCHELLING ungenutzt gelassen (s.o.). Daß er über die praktische Ausbildung andere Vorstellungen hegen mochte, als sie in diesen Jahren in München realisiert wurden, läßt sich einem Brief an seinen Bruder KARL vom 17. Januar 1817 entnehmen, wo unter anderem von einer in Stuttgart geplanten Akademie der Künste die Rede ist. SCHELLING plädiert dafür, „daß es ein völlig freies Institut wäre" {Plilt 2. 382). Den in der Verfassung der Münchener Akademie grundgelegten Gedanken, daß dem Schüler im Unterricht die „Freiheit und Lebendigkeit erhalten werde" und nicht durch einen bestimmten Lehrplan" einzuengen sei (vgl. P. 316), weitet SCHELLING noch dahingehend aus, daß man „jedem Studirenden die Wahl seines Lehrers" überlassen solle. Überraschenderweise stimmt er in dieser Ansicht vollkommen mit CORNELIUS überein. Die Frage, ob SCHELLING die Möglichkeit, als Generalsekretär der Akademie öffentlich zu wirken, voll ausgeschöpft hat, ist schwer zu beantworten. STIELERS Feststellung, daß sich in den Akten jedenfalls „keine besonderen Versuche SCHELLINGS" finden, „auf den Gemeingeist in künstlerischem Sinne zu wirken, noch solche, sich mit den Künstlern aller Länder und Völker in tätige Wechselwirkung zu setzen"^^, mag zutreffen. Indessen wurde der Kontakt mit ausländischen Künstlern damals schon fast ganz vom Kronprin-

^^Stieler, 35.

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zen LUDWIG wahrgenommen, den der Landschaftsmaler und Galeriedirektor DILLIS auf zahlreichen Reisen begleitete. DILLIS hatte auch die Ankäufe der Kunstwerke zu tätigen, u.a. die Sammlung der Brüder BOISSEREE.^^ Damit wurde schon mehr als das erfüllt, was der Akademie als Kunstgesellschaft aufgetragen war: sich — außer mit Künstlern — auch mit ,Kunst-Freunden, Kennern und Vorstehern großer Kunst-Sammlungen" in Verbindung zu setzen (vgl. P. 328). SCHELLING pflegte Künstler-Kontakte in seinen privaten Briefen. Wiederholt hat er sich gegenüber WAGNER beklagt, daß er wegen der Bindungen, die ihm sein Amt auferlegte, nicht nach Italien reisen könne (vgl. Pliti 2. 204; 230; 385). Daß er jedoch im Rahmen der ihm verbleibenden subjektiven und objektiven Möglichkeiten versuchte, ebenso »auf den Gemeingeist" wie auf die Künstler selbst zu wirken, nicht zuletzt durch philosophisch begründete Hinweise darauf, wie »Ideen" in einem Kunstwerk zu verwirklichen seien, sollten die herangezogenen Texte von 1811 bis 1814 belegen. Den Willen SCHELLINGS, in bildender Absicht auf das Bewußtsein seiner Zeit einzuwirken, zeigt in diesen Jahren auch die Konzeption seiner Allgemeinen Zeitschrift von Deutschen für Deutsche, die 1813 erschien, nicht zuletzt aber sein Ringen um die Weltalterphilosophie, an der er seit 1810/11 arbeitete. Gegenüber COTTA äußert SCHELLING am 19. August 1814, daß er in diesem Werk »alle Ansichten" zu »dem Punct geführt" habe, »wo sie schlechterdings in's Leben eingreifen müssen". Es dränge ihn, »die erkannte Wahrheit auch an's Herz" seiner Zeitgenossen zu legen, »etwas zurückzulassen, das für mein ganzes Volk ist"3®. HARALD HOLZ hat in diesem Zusammenhang von SCHELLINGS »Popularphilosophie" gesprochen®’, — eine Bezeichnung, die wir hier nur für zutreffend halten, wenn sie nicht allein auf die Form der Mitteilung, sondern vor allem auf die Intention des Wirksamwerdens zielt. — Das Anliegen der Zeitschrift ist ähnlicher Art. Die Ankündigung nennt als den »Hauptgesichtspunkt" die Beziehung der Wissenschaften und besonders der Philosophie auf das »Leben und die ernsten Angelegenheiten der Menschheit". In der Siehe dazu Sulpiz Boisseree. Hrsg, von Mathilde Boisseree. 2 Bde. Stuttgart 1862. Bd 2. 483-486 (Brief von Bertram an Sulpiz Boisseree vom 28. Juni 1826); 489 f (Schreiben von Dillis »An die Herren Gebrüder Boisseree und Bertram' vom 27. Januar 1827); 490-493 (Sulpiz Boisseree an Bertram; Briefe vom 5., 6. und vom 12. Februar 1827, wo es heißt: »... heute morgen hat der König den Vertrag unterschrieben; und gegen 12 Uhr haben Melchior und ich mit Dillis gleichfalls ... diese für unser ganzes Leben entscheidende Urkunde unterzeichnet.') Schelling und Cotta. 87 f. Harald Holz: Das Weltalter-Programm und die Spätphilosophie, ln: Schelling. Einführung in seine Philosophie. Hrsg, von H. M. Baumgartner. Freiburg/München 1975. Vgl. 108 f.

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Vorrede zum ersten Heft stellt SCHELLING die doppelte Absicht der Zeitschrift so vor: daß sie zur Darstellung bringe, ,was Herz und Geist der Zeit" in wissenschaftlicher, religiöser, sittlicher und künstlerischer Hinsicht sei, und daß sie auf die Zeit wirke, indem sie ihr ,Aluster und Beyspiele des höheren und besseren Geistes in allen Fächern" vor Augen stelle und indem sie ihr zum »Urtheil und Bewußtseyn" über noch ungewisse, ungeklärte Bestrebungen und Ziele verhelfe.'*® Daß SCHELLING insbesondere die »bildenden Künste" heranziehen und Fragmente seiner Ästhetik publizieren wollte, teilte er COTTA am 5. April 1812 mit.** Dieses Vorhaben konnte jedoch nicht ausgeführt werden. Die Zeitschrift stellte bereits nach einem Jahr ihr Erscheinen ein. Bekanntlich ist auch die Philosophie der »Weltalter", die SCHELLING gegenüber COTTA immer wieder ankündigte, von ihm nicht zum Druck befördert worden. ScHELLiNGS letztes öffentliches Bemühen um die Kunst bzw. um das Verständnis bestimmter Kunstwerke fällt in das Jahr 1816. Es hängt durchaus noch zusammen mit einem Unternehmen bayerischer Kunstpolitik, zeigt uns aber SCHELLING in einer anderen Position als bisher. WAGNER hatte 1812 für den Kronprinzen die Sammlung der »Äginetischen Kunstwerke" erworben und über diese einen Bericht verfaßt, der zunächst nur für LUDWIG gedacht war. Auf SCHELLINGS Anregung wurde die Abhandlung 1817 veröffentlicht, wohl auch in Anbetracht dessen, daß die Werke später in der Münchener Glyptothek zu sehen sein würden. Mit LUDWIGS und WAGNERS Einverständnis hat SCHELLING den Bericht redigiert und herausgegeben. Er fügte ausführliche Anmerkungen und Zusätze bei, in denen er zum Teil von WAGNERS Ansichten abwich. Aus brieflichen Äußerungen an WAGNER (Z.B. vom 22. Dezember 1816; vgl. Plitt 2. 377 ff), insbesondere aber aus den Ausführungen selbst geht hervor, daß SCHELLING sich intensiv mit kunstgeschichtlichen Fragen des Stils und seiner Herkunft, der Deutung der Figuren u.a.m. auseinandergesetzt hat. Das Ganze erschien bei COTTA unter dem Titel: fohann Martin Wagners Bericht über die Aeginetischen Bildwerke im Besitz Seiner Königlichen Hoheit des Kronprinzen von Baiern. Mit kunstgeschichtlichen Anmerkungen von Fr. W. J. Schelling. (IX. 111-206) An seinen Bruder KARL schrieb SCHELLING am 7. Januar 1817, daß er diesen Kunstwerken, die von der »höchsten Merkwürdigkeit" seien, »einen besondern Fleiß" zugewandt habe, und daß er glaube, »etwas geleistet" zu haben, was seines »Namens Gedächtnis auch in der Kunst-Geschichte erhalten" solle (Plitt 2. 381). In SCHELLINGS Vorbericht zu der Abhandlung ist nur noch in abgeschwächtem Sinn von der »gesammten *° Allgemeine Zeitschrift von Deutschen für Deutsche. Hrsg, von Schelling. Nürnberg 1803. (Vgl. Werke. XIII. 316) — Die Ankündigung ist abgedruckt bei Pareyson (oben Anm. 10) 400-402. Schelling und Cotta. 71.

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deutschen Kunstwelt" die Rede, die dereinst den „Genuß" des Anblicks dieser Kunstwerke haben werde. Der Charakter seiner Anmerkungen läßt erkennen, daß ScHELLiNG sich ins Wissenschaftliche zurückgezogen hat.

Da nach STIELER die Protokolle der Akademie zwischen 1815 und 1825 verloren gegangen sind^z, ist über SCHELLINGS weitere Tätigkeit für die Akademie vorläufig nichts in Erfahrung zu bringen. — 1820 ging er mit königlicher Erlaubnis aus gesundheitlichen Gründen nach Erlangen. Dort war ihm freigestellt, Vorlesungen zu halten oder nicht. 1823 wurde er von seinem Amt als Generalsekretär entbunden (vgl. Schelling an Karl, 3. November 1823; P/iff 3.14 f). WAGNER trat SCHELLINGS Nachfolge an, hat das Amt selbst jedoch, wegen beständiger Abwesenheit, nicht ausgeführt; es wurde lange Zeit vertretungsweise verwaltet. 1824 starb PETER LANGER; es gelang LUDWIG noch im gleichen Jahr, beim König die Berufung von CORNELIUS zum Direktor der Akademie durchzusetzen. CORNELIUS arbeitete bereits seit 1819 im Auftrag des Kronprinzen an den Fresken der Glyptothek und leitete im gleichen Zeitraum die Düsseldorfer Akademie. 1825, im Todesjahr MAXIMILIANS L, trat CORNELIUS sein Amt in München an. 1827 berief LUDWIG I. SCHELLING als Professor an die durch ihn von Landshut nach München verlegte Universität, ernannte ihn zum Generalkonservator der Wissenschaftlichen Sammlungen und zum Vorstand der neu konstituierten Akademie der Wissenschaften. Diese Daten markieren für SCHELLING den Beginn eines anderen öffentlichen Wirkens, auch in bildungspolitischer Hinsicht^^^ — füj- dje Akademie der bildenden Künste den Beginn ihres Aufschwungs, für München und den bayerischen Staat den Anfang einer allgemeinen Kunstentwicklung, deren Breite und innere Vielfalt hier nicht darzustellen ist. Es soll abschließend noch kurz gezeigt werden, daß die in der Akademie-Verfassung grundgelegten, von SCHELLING mitgeprägten Bildungsvorstellungen durch CORNELIUS der Verwirklichung näher gebracht wurden — und zwar zu einer Zeit, in der SCHELLING die Idee einer Erneuerung der Kunst aus „eigentümlicher Kraft", wie es scheint, bereits hinter sich gelassen hatte. Von eben dieser Idee aber war CORNELIUS noch durchdrungen, als er 1819 von Rom, wo er seit 1809 dem Kreis um OVERBECK, den „Nazarenern", angehört und gleichzeitig intensive Kontakte mit den „Hellenikern" (KOCH, WAGNER und THORWALDSEN) gepflegt hatte, in sein „Vaterland" zurückkehrte. Er nahm die doppelte Herausforderung an, die ihm durch LUDWIG und den preußischen Staat entgegengebracht wurde. Die Aufgabe, in einem öffentlichen Gebäude — der Glyptothek — ein monumentales Werk in FreskomaleVgl. Stieler, 58. ^■5 Vgl. hierzu Hans Rail: König Ludwig I. und Schelling. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte. 17 (1955), 419-433.

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rei auszuführen, gab ihm die Möglichkeit, seine Ideen in künstlerischer Arbeit zu realisieren. Das Fresko galt ihm als paradigmatische Werkgestalt einer neuen nationalen Kunst.Als Direktor der Düsseldorfer Kunstakademie konnte CORNELIUS sein Wollen um die Erneuerung deutscher Kunst in einem institutioneilen Rahmen durchsetzen, den er zuvor, wie seine Freunde in Rom, scharf abgelehnt hatte. Noch Ende 1814 beurteilte er in dem berühmt gewordenen Brief an GöRRES (ob in Kenntnis oder Nichtkenntnis der Münchener Verfassung wissen wir nicht) den Geist der „fatalen Kunstakademien" in Deutschland als grundsätzliches Hemmnis für eine „freie Entwicklung" der Kunst, da ihre „maschinenmäßige Richtigkeit" nur den „Lügengeist" gegenwärtiger Kunst in ihrem negativen Eklektizismus" befördere.Das hier Angegriffene hatte SCHELLING, in einer weniger scharfen Kritik, in der Konstitution der Münchener Akademie zurecht als überwunden erklären können (vgl. oben SCHELLINGS Bericht im Morgenblatt). — Als Direktor der Münchener Akademie konnte CORNELIUS dann beides miteinander verbinden: die innere Reform der Akademie in bezug auf Lehre und Unterricht und die Durchsetzung seiner künstlerischen Vorstellungen, denen die Bestrebungen LUDWIGS L, München zu einer Metropole der Kunst auszubauen, entgegen kamen. In Übereinstimmung mit den Ideen der Nazarener sah CORNELIUS die richtige Form der künstlerischen Ausbildung — wie auch SCHELLING dies vertreten hatte — in einem freien und lebendigen Verkehr zwischen Meister und Schüler; der junge Künstler sollte sich einem selbstgewählten Lehrer anschließen, „ihm bei der Ausführung seiner Arbeiten helfen und dadurch in seinen Geist und seine Art der Kunstausübung" eingeführt werden.£s war die Idee der alten Meisterschulen, die CORNELIUS ZU verwirklichen suchte. Dazu brauchte er Lehrer, die gleiche Ziele verfolgten, und Aufträge, die es gestatteten, große Werke in künstlerischer Zusammenarbeit zwischen Meister und Schüler auszuführen. Es gelang ihm, u.a. SCHNORR VON CAROLSFELD und HEINRICH HESS nach München zu holen.Durch das nach und nach ganz erneuerte Kollegium war eine wesentliche Voraussetzung dafür gegeben, der ausdrücklichen Forderung des Statuts von 1808 zu entsprechen, den Unterricht in JFreiheit und Lebendigkeit" durchzuführen und die nachwach** Vgl. dazu im ganzen Magdalena Droste: Das Fresko als Idee. Zur Geschichte öffentlicher Kunst im 19. Jahrhundert. Münster 1980. Zitiert nach Stieler, 65. *‘’Stieler, 70; vgl. Pevsner, 213. Außer den Genannten hatte Cornelius dem König Overbeck, Philipp Veit, Anton Joseph Koch und Martin Wagner zur Berufung vorgeschlagen. Die Klasse für Architektur übernahm Friedrich Gärtner, die für Bildhauerei etwas später (1835) Ludwig Schwanthaler. Vgl. Stieler, 71 ff.

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senden Kräfte auf ihre individuellen „Eigenheiten" hin zu fördern. Allerdings stand einer endgültigen Realisierung immer noch das Klassensystem entgegen, das CORNELIUS bestehen ließ^® und das erst nach intensiven Bemühungen seines Nachfolgers FRIEDRICH GäRTNER (1841—1847) abgeschafft wurde.Jene Bestimmung, die Studierenden frühzeitig unter Anleitung ihrer Lehrer größere Arbeiten an öffentlichen Gebäuden ausführen zu lassen, wurde dadurch verwirklicht, daß die genannten Künstler mit ihren Schülern beteiligt waren an der Gestaltung bedeutender Bauten und Kirchen — ganz im Sinne der von SCHELLING formulierten Zweckbestimmung der Akademie, „den Künsten ein öffentliches Daseyn, eine Beziehung auf die Nation und den Staat selbst zu geben".

Siehe dazu Pevsner, 214, der auch darauf hinweist, daß Cornelius bei seiner Neuorganisation der Düsseldorfer Akademie drei Klassen einrichtete (ebd. 213). «9 Vgl. SHeler, 96-108.

ANNEMARIE GETHMANN-SIEFERT (BOCHUM)

DIE ROLLE DER KUNST IM STAAT Kontroverses zwischen Hegel und den Hegelianern Während es in der heutigen Ästhetik üblich ist, die gesellschaftliche Rolle der Kunst von ihrer geschichtlichen Funktion säuberlich zu trennen, weil durch beide Bestimmungen alternative weltanschauliche Positionen indiziert werden, erörtern Hegel wie seine Schüler und Anhänger beides in ein und demselben theoretischen Zugriff. Es geht Hegel in seinen Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Kunst sowohl um die Bestimmung der geschichtlichen Funktion der Kunst als auch um die daraus abgeleitete Festlegung ihrer kulturellen Funktion in der Gesellschaft bzw. im modernen Staat. Diese Konnexion findet sich bei Hegels Schülern eher noch verstärkt. Bei ihnen wird häufig sogar die spekulative oder historische Bemühung um die Kunst mit beruflicher oder privater Initiative im kulturellen Betrieb verknüpft. Aus heutiger Sicht ist man geneigt, Hegel selbst auf das Vorurteil festzulegen, das sich anscheinend in seiner These vom Ende der Kunst ausdrückt: Er habe gemeint, es gäbe keine für die Gegenwart oder gar Zukunft interessante Entwicklung der Kunst mehr. Scheinbar bieten die Schüler Hegels hier einen flexibleren Standpunkt, eine größere Offenheit ihrer philosophischen und theoretischen Bemühungen, denn sie sind einhellig der Meinung, daß man Hegels These vom Ende der Kunst zugunsten der tatsächlich unabschließbaren Zukunft der Kunst vernachlässigen, ja totschweigen müsse. Für die Frage nach der kulturellen Funktion der Kunst, in der sich nicht erst im Neukantianismus, sondern schon bei Hegel und seinen Schülern die Fragen nach der Geschichtlichkeit und der Gesellschaftlichkeit der Kunst zusammenschließen, vertreten also die Hegelianer einen Standpunkt, der sich dem heutigen Bemühen um eine Aktualisierung der Ästhetik des deutschen Idealismus eher fügt als der Standpunkt Hegels. Es handelt sich hierbei allerdings um einen Schein von Äktualität, der sich bei näherem Zusehen destruiert. 1. Der Beitrag der Kunst zur Bildung des Staatsbürgers charakterisiert in seiner Hegelbiographie die Situation in Berlin zur Zeit der Hegelschen Vorlesungen über die Philosophie der Kunst folgendermaßen: „Das ästhetische Interesse war damals in Berlin das einzig KARL ROSENKRANZ

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öffentliche. Ein politisches existierte nicht... bis zur Julirevolution waren die Kunstgenüsse in der That der einzige gemeinschaftliche Mittelpunct der Berliner Gesellschaft" {Ros. 349). Dies „Uebermaaß ästhetischen Getreibes" ist aber nur die eine, die individuelle Seite der ,damalige(n) Allherrschaft der Kunst" (ebd.). Neben die Flucht vor der Politik in die Kunst tritt eine intensive Bemühung, die Öffentlichkeitsrelevanz der Kunst selbst institutionell zu stützen, in die Welt des Staates die Welt der Kunst sichtbar und wirksam einzufügen. Dies Bemühen wird von den Hegelianern mitgetragen, zumindest aber eindeutiger, als es sich in Hegels Ästhetikvorlesungen äußert, unterstützt. H. G. HOTHO beispielsweise sieht seine im Sinne Hegels entwickelte „spekulative Kunstgeschichte" wesentlich in Einheit mit seiner beruflichen Tätigkeit am Museum und seinen journalistischen Kommentaren zu allen wichtigen künstlerischen Ereignissen. Ähnlich emphatisch und ähnlich motiviert verwenden F. TH. VISCHER und etwa K. ROSENKRANZ fachwissenschaftliches Interesse der Kunsthistorie oder Germanistik mit Hilfe der Hegelschen Systematik zu einer öffentlichkeitswirksamen Verteidigung der Kunst, zur Festlegung ihrer Rolle im modernen Staat. Auch hierin scheint Hegel seinen Schülern ein Vorbild gewesen zu sein, denn er erörtert die Rolle der Kunst im Staat im Zusammenhang seiner Rechtsphilosophie. Nur steht seine Bestimmung der von den Hegelianern tatsächlich durchgesetzten Öffentlichkeitsrelevanz der Kunst entgegen. In Hegels Heidelberger Vorlesung über Naturrecht und Staatswissenschaft von 1817/18 findet sich eine Erörterung der öffentlichen Bedeutung der Kunst und ihrer kulturpolitischen Institutionalisierung. Eine vergleichbar ausführliche Behandlung der Rolle der Kunst im Staat enthalten die aus den Vorlesungen der Berliner Zeit entstandenen Grundlinien allerdings nicht mehr. Man mag dies als Ausdruck größerer Vorsicht interpretieren oder sogar als Desinteresse aufgrund fehlgeschlagener Hoffnungen, aktiv in den Berliner Kulturbetrieb einzugreifen. Bestehen bleibt, daß die Modifikation der Rechtsphilosophie nur die Positionsänderung widerspiegelt, die sich auch in den Berliner Asthetikvorlesungen herausbildet und die Hegel abschließend in seiner Überarbeitung des Systems der Philosophie fixiert (durch die Neugestaltung der Enzyklopädie 1827 und 1830) und für die Bestimmung der Kunst verbindlich formuliert. In der Heidelberger Vorlesung über Naturrecht und Staatswissenschaft von 1817/18 geht es Hegel darum, Kunst, Religion und Wissenschaft, „welche die Anschauung, das Gefühl, Vorstellung und Wissen des absoluten Wesens des Staates sind", hinsichtlich ihrer Bildungsfunktion zu definieren. Seine Überlegung läuft darauf hinaus, daß jedem dieser Bereiche, damit auch der Kunst, „in einem Volke seine ausdrückliche Bestimmung, Sphäre und Stand gewidmet werden muß" (§ 158, Ms. 244). In der weiteren Ausführung (in WANNENMANNS Notizen zur Erläuterung des Paragraphen) folgt die Begründung: „der Geist muß sich als Wirklichkeit darstellen" (Ms.

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245), daher „muß das religiöse, wissenschaftliche Kunst-Leben nicht für sich allein dasein, sondern es muß Staats-Leben sein". Eingestandenermaßen geht es hierbei nur um einen Aspekt der genannten Phänomene, nämlich den der „öffentlichen Erziehung und Bildung der Individuen zu Staatszwecken", die, formell genommen, die „ganz allgemeinen Angelegenheiten des Staats sind, die sich aber konkret (an und für sich) in Kunst, Religion und Wissenschaft" bzw. durch diese in unterschiedlicher Reflektiertheit vermitteln. Der Staat wird zum „Tempel der Vernunft" nur, wenn diese „absoluten Angelegenheiten eines Volkes", wenn „Kunst, Religion und Wissenschaft" ihre Funktion erfüllen und das Wesen des Staates allgemein nachvollziehbar und akzeptabel übermitteln. Freilich wird schon hier die höchste Weise, „wie die Vernunft real ist", nicht mehr in die Kunst verlegt, sondern fällt der Philosophie zu. Aber Hegel erwägt ebenso, wie die Sorge für die beiden anderen Aggregatzustände dieses Wissens, nämlich Anschauung/Gefühl und Vorstellung, institutionell gesichert werden möchte. Jrüher sorgten für Religion die Gottesfurcht und für Kunst und die Wissenschaften die Fürsten; aber so ist nicht notwendig für diese Momente gesorgt." Bedauerlicherweise sind die „Staaten/ unserer Zeit... noch weit entfernt, allgemeine Anstalten für diese Sphären einzurichten", nämlich „Universitäten und Akademien der Wissenschaften", die an die Stelle der Privatinitiative der Fürsten bzw. der früheren Funktion der Klöster treten sollten, also eine der Religion unterstellte Wissenstradition ablösen müßten. Es wäre nur plausibel, wenn Hegel sich hier, wie geraume Zeit vor ihm ScHELLiNG, Gedanken machte, auf welche Weise die Bildungsfunktion der Kunst im Staat und für den Staat zu gewährleisten wäre. Aus seinen frühen Überlegungen zur Religionskritik und den daraus folgenden und daran anschließenden Gedanken zur Kunst während seiner Zusammenarbeit mit ScHELLiNG in Jena erschienen solche Überlegungen nicht abwegig. Denn selbst wo die Bildung des Menschen zum Bürger eines Staates (citoyen) als das Höchste gilt, spiegelt sich noch Hegels frühes Engagement für eine Realisierung der „Menschheitsforderung" (im Sinne SCHILLERS oder KANTS) durch eine angemessene institutionelle Absicherung des Menschen wider. Entsprechend der Konzeption der ästhetischen Erziehung möchte Hegels Überlegung nämlich darauf hinauslaufen, eine Bildungsfunktion der Kunst im Staat zumindest als Hinführung des Einzelnen zum modernen Stand der Humanität (zum Staatsbürger) zu postulieren. Erstaunlicherweise bleibt es in den Überlegungen aus der Heidelberger Zeit bei der angeführten dürftigen Bemerkung, aus der zudem nicht hervorgeht, ob Hegel aus seinem Bedauern angesichts des Fehlens solcher allgemeinen Anstalten, in denen die Bildungsfunktion der Kunst, der Prozeß der ästhetischen Erziehung auf Dauer gestellt würde, Konsequenzen zieht (was sich etwa in SCHILLERS Vorbild, nämlich in MIRABEAUS Schrift: Sur l'education

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findet). Hegel hätte in Berlin ergänzend zu den beiden genannten Anstalten in der Neubesinnung auf die Rolle der Kunstakademien im preußischen Staat eine Annäherung an seine Vorstellung finden können, daß der Staat ,3llgemeine Anstalten für diese Sphären" einrichtet. Dennoch schweigt er zu diesen Bemühungen, durch die zumindest die erste Späre, die Kunst, eine entsprechende Funktion erhalten soll. Hatte er schon in Heidelberg nur die Universitäten und Akademien der Wissenschaften ausdrücklich genannt, eine eigene „Anstalt" für die Kunst aber nicht mitaufgeführt, so verstärkt sich dies Ungleichgewicht in den späteren Vorlesungen zur Rechtsphilosophie. In Berlin kommt Hegel nur noch auf die Rolle der Religion im Staat eingehend zu sprechen und schiebt die Erörterung der Bildungsfunktion der Kunst lediglich in eine Nebenbemerkung zum Paragraphen 270. Nun meint er, es könne, wo es um die Durchführung des Prinzips des Staats nach einer Idee geht, von Kunst, d.h. von ihrem Prinzip „und der Anwendung des Rechts des Staats auf sie nur beiläufig gesprochen werden". Diese Erwägung verliert ihre Bedeutung zusätzlich noch dadurch, daß sie von einer zunächst bedeutsameren Stelle an eine unbedeutende gerückt wird. In Heidelberg steht die Frage nach der Bildungsfunktion der drei Sphären Kunst, Religion und Wissenschaft als der abschließende Höhepunkt des inneren Staatsrechts da. Sie erscheint als der Teil der Institutionalisierung der Sittlichkeit zur Gesetzlichkeit des Handelns und zur Objektivität, der für eine Traditionsbildung des individuellen Handelns im Sinne der Idee des Staates zuständig ist. Eine solche Gewichtung der kulturellen Funktion der Kunst stimmt auch mit Hegels Plänen beim Übergang nach Berlin überein. Denn seine Tätigkeit an der Universität sollte es ihm nach eigenem Wunsch und Vorstellen ermöglichen, im kulturpolitischen Bereich zu wirken. Stattdessen tritt aber gegen Hegels ursprüngliche Absicht doch die Vorlesungstätigkeit, also die philosophisch-theoretische Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten der Zeit, an die Stelle des geplanten gestalterischen Wirkens. Die Gründe, warum Hegel die Rolle der Kunst im Staat, ihre „Bildungsfunktion", nun beiseite rückt, allenfalls beiher behandeln will, liegen auf der Hand, wenn man Hegels Stellungnahme zu den vorhandenen „allgemeinen Anstalten" für die Einrichtung und Aufrechterhaltung der Funktion der Kunst aus seinen Ästhetikvorlesungen extrapoliert. ScHELLiNG konnte in München das Programm der Kunstakademie im Sinne seiner These, das Wesen der Nation sei auf Kunst fundiert, aktiv gestalten, wenn er sich auch mit den Resultaten, den Kunstwerken und ihrer Intention, im einzelnen nicht anfreunden und zufriedengeben mag. Hegel wird in Berlin an einer vergleichbaren Einflußnahme auf Kunst und Kultur nicht allein durch sein „ästhetisches Vorurteil", die These vom Ende der Kunst, gehindert. Für ihn stellen sich die vorhandenen Institutionen des Kulturbetriebs, allen voran die Akademie der Schönen Künste, der allgemeinen aufklärenden

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Erziehung zum Staatsbürger als Hemmnisse entgegen. In einer national und religiös orientierten und damit gebundenen Kunst kann die geforderte Aufklärung über das Wesen des Staates, kann die Einsicht in die Institutionalisierung menschenwürdiger Lebensbedingungen und die Kritik an gewachsenen Institutionen, nicht in der nötigen Klarheit und Allgemeingültigkeit begründet werden. Solche Institutionen sinken auf die Ebene der Klöster oder der Fürstenwillkür herab, wie es Hegel in der frühen Rechtsphilosophie darstellt, weil sie Bindungen nicht begründen, sondern fordern bzw. als bedingungslos akzeptabel hinstellen müssen. Sie sind damit dem wissenschaftsfordernden Geist der Moderne zuwider, sie setzten — formuliert man es im Sinne der Rechtsphilosophie — erneut bourgeoise Privat- oder Gruppen(Stände)-egoismen an die Stelle des Gemeinwohls, des menschengerechten Staates. Spricht Hegel also nur „beiläufig" von solchen Einrichtungen, wobei der besondere Akzent nun auf denen der Religion liegt, so steckt ohne Zweifel hinter dieser Verschiebung des Interesses jener Fortschritt in der systematischen Konzeption der Philosophie des absoluten Wissens, der sich in der Ästhetik durch die These vom Ende der Kunst manifestiert und der in den späteren Überarbeitungen der Enzyklopädie (1827) und daran anschließend auch in den Ästhetikvorlesungen dadurch bedeutsam wird, daß Hegel die verschiedenen Sphären: Kunst, Religion und Staat auch hinsichtlich ihrer Geschichte voneinander trennt. Hier heißt es dann, daß die Religion in der Vergangenheit der Kunst als ihre Vorstufe liege und ebenso in der Zukunft als ihre Ablösung. Ähnlich gilt für den Staat, daß er zwar — in der kulturell entsprechenden Vorform der griechischen Antike — durch die Kunst gestiftet werden konnte, daß aber in der modernen Welt die Kunst im Staat ihren Nachfolger findet. Sowohl die Konstitution eines Staates wie auch die eingeschränktere Funktion der „ästhetischen Erziehung" liegen nicht mehr in der Macht der Kunst. „Ästhetische Erziehung", faßt man sie als Bildung des modernen Menschen auf, degeneriert zur institutionell gestützten formellen Bildung des Staatsbürgers. Hegels Äbrücken von SCHILLERS Konzeption der ästhetischen Erziehung und damit von einer universellen Bildungsfunktion der Kunst im Staat erscheint — so gesehen — als Resultat seiner Vorstellung des Verhältnisses von System der Philosophie und dessen jeweiliger Konkretisierung in den Realphilosophien, hier der Ästhetik. Es steckt hinter dieser zunächst unscheinbaren Interessenverschiebung in der Festlegung der Bildungsfunktion der Kunst bei näherem Zusehen Hegels grundlegende Vorstellung von der geschichtlichen Funktion der Kunst, die zugleich deren Gesellschaftlichkeit, deren Rolle im Staat aufgrund einer philosophischen wie historischen Verortung mitfestlegt. Hegel muß (das läßt sich auch an der gesonderten Entwicklung der Bedeutung der Kunst in den Ästhetikvorlesungen zeigen) eine konkrete Vorstellung von der Einrichtung, der institutioneilen Verortung dieser Funktion der Kunst gehabt haben, die mit ihrer Bedeutung

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im System der Philosophie zusammenhängt. In frühen Reflexionen hatte Hegel in Anknüpfung an SCHILLERS Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen die Rolle der Kunst für geschichtliches Erkennen und Handeln überhaupt durch sein Programm der Wiederholung einer ^schönen Religion", sc. der »Mythologie der Vernunft", festgelegt. Die Kunst erscheint hier als einer der Grundpfeiler der Polis — des »Volkes", sofern es sich eine Verfassung gegeben hat. Sie bildet nicht nur formell, sondern inhaltlich die »Sittlichkeit eines Volkes" durch Stiftung eines tradierten Sets orientierender Handlungsmuster in der Anschaulichkeit der schönen Göttergestalt. Ein solcher »Staat" ist nach Hegels eigener Charakteristik Kunst-Werk im Doppelsinn des Erwirktseins durch Kunst und der Erscheinungsweise als Kunstgestalt. Diese Vorstellung schiebt er aber in den Berliner Vorlesungen zur Rechtsphilosophie beiseite und betont in der Philosophie der Weltgeschichte (vgl. Bd 1.173) lediglich noch, daß im »Staats-Leben als solchen... die Notwendigkeit einer formellen Bildung und damit die Entstehung der Wissenschaften sowie einer gebildeten Poesie und Kunst überhaupt" liege. Hegels Festlegung sowie die daraus beinahe zwangsläufig folgende Vernachlässigung der Sphäre der Kunst in der rechtsphilosophischen Analyse des modernen Staates wird in ihrer Tragweite nur auf dem Hintergrund des Werdegangs der Hegelschen Gedanken zur Kunst im Lauf der Systementwicklung einsichtig. Mit der Distanzierung von seinen eigenen früheren Versuchen in der Jenaer Zeit hatte Hegel eine Trennung von Antike und Moderne entwickelt, die seine frühere Annahme einer utopischen Funktion der auf Kunst basierenden antiken Polis für die Situation der Zerrissenheit, die Moderne, verabschiedet. Nur von der Antike darf als von einer Epoche gesprochen werden, in der die Kunst im Staat eine umfassende Orientierungsfunktion beanspruchen konnte und ausfüllte. Ebensowenig wie sich der moderne Staat nach dem Modell »kleiner Demokratien" rekonstruieren läßt, kann die Kunst als Religionsstifterin die »Sittlichkeit eines Volkes" — situationsbezogen formuliert: ein rechtskonformes und konsistentes Handeln des Individuums in Gemeinschaft und Staat — garantieren. Daraus entwickelt Hegel in den Ästhetikvorlesungen seine Vorstellung, wie die Kunst im modernen Staat wirksam wird, auf die hier nur kurz hingewiesen werden kann mit Hegels geläufiger Bestimmung des »Vergangenheitscharakters" der Kunst. Folgt man der gegenwärtigen wie der zeitgenössischen Diskussion um Hegels Ästhetik, dann steht anscheinend gerade diese These einer unvoreingenommenen Bestimmung der Funktion der Kunst im modernen Staat im Wege. Die These vom Ende der Kunst wird nämlich als Eingeständnis gedeutet, daß die Kunst in der modernen Welt überhaupt keine entscheidende Bedeutung habe, daß ihre Rolle verzichtbar oder zumindest nur so eingeschränkt bedeutsam sei, daß die kulturpolitischen Bestrebungen an der Kunst vorbei an ihr Ziel — den gebildeten Staatsbürger — kämen. Gegenüber diesem vermeintlichen Einge-

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ständnis Hegels bilden die Stellungnahmen der Hegelschüler und Hegelianer eine anscheinend progressivere Konzeption. Hegels Schüler gehen allesamt von der These vom Ende der Kunst ab, um von einer unabschließbaren Zukunft der Kunst zu reden und — wie es HOTHO am unverblümtesten und geradezu verblüffungsresistent formuliert — von einer generellen Funktion der Kunst bei der Bildung zum Staatsbürger. Allerdings wird der Staatsbürger in HOTHOS Auffassung (gegen Hegel) zum Bourgeois, d.h., er erscheint als jener im Privatinteresse befangene und handelnde Bürger, dem durch die Kunst die höchsten Möglichkeiten des Menschseins vor Augen gehalten werden. Hegels eifrigster Schüler verknüpft die philosophische, die kunsthistorische, feuilletonistische Beschäftigung mit der Kunst, um ein solches Bildungskonzept zu verwirklichen.! HOTHO kann deshalb nicht nur die Möglichkeit, die sinnvolle Aufgabe der Kunstakademien und des um sie gerankten kulturellen Geschehens unterstreichen, er selbst wirkt beruflich in diesem Kontext und engagiert sich auf den verschiedenen Vermittlungsebenen für die Kunst der Gegenwart. Ein vergleichbares und für das heutige Verständnis ebenso schwer begreifliches Beispiel der .^nationalen" Orientierung der Kunst liefert F. TH. VISCHER. In einer Auseinandersetzung mit HOTHOS Konzeption der Kunstgeschichte betont VISCHER nämlich, daß es in der Gegenwart darum zu tun sein müsse, eine „deutsche" Kunstgeschichte zu schreiben, in der die Historie teleologisch auf die Kunst der Gegenwart ausgelegt wird, die Kunst der Gegenwart aber 1 Hothos Umdeutung des (Hegelschen) Citoyen zum Bourgeois erscheint wiederum als Konsequenz der Brechung Hegelschen Gedankenguts in der Rezeption durch die Hegelianer. Dies Beispiel findet tendenziell ein Komplement in der Rechtsphilosophie. ln der Diskussion und Weiterführung der Rechtsphilosophie wird — sozusagen als Generalfall dieser Eigenart der Ästhetikrezeption — Hegels Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft ausgeblendet. Die Sphäre der antagonistischen Privatinteressen, in die sich die antike Sittlichkeit des Volkes, die vorreflexiv-ungesicherte aber lebendige Konsistenz des Gemeinschaftshandelns in der Polis, wegen ihrer Hinfälligkeit im Konfliktfall aufgelöst hatte, wird übersehen zugunsten des unproblematisierten staatsbürgerlichen Handelns. Für die Bestimmung der Rolle der Kunst im Staat hat das die bei Hotho ersichtliche Konsequenz. Die Kunst muß nicht erst in der Sphäre der antagonistischen Privategoismen ihre Versöhnungskapazität bewähren — woran sie nach Hegels Theorie der Tragödie bereits scheitert —, sondern kann gleich den Staatsbürger „bilden". Die politische und gesellschaftskritische Brisanz der Hegelschen Anfänge geht in dieser Umdeutung endgültig verloren, während sie umgekehrt in Hegels späterer Konzeption erhalten bleibt. — Zu Hotho vgl. die nähere Untersuchung der Konzeption seiner spekulativen Kunstgeschichte: Kunst als Bildungserlebnis und Kunsthistorie in systematischer Absicht — oder die entpolitisierte Version der ästhetischen Erziehung des Menschen. In: Kunsterfahrung und Kulturpoltilc im Berlin Hegels. Hrsg, von O. Pöggeler und A. Gethmann-Siefert. Bonn 1983, 229 ff.

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getreu dem Programm der Berliner Akademie der schönen Künste als Vermittlung der Kulturwerte der eigenen Nation konzipiert werden muß.^ Man könnte solche Versuche nicht nur mit Hegels Bestimmung der bloßen formellen Bildungsfunktion der Kunst im Staate kritisieren, sondern zugleich durch die Implikationen seiner These vom Ende der Kunst ad absurdum führen. Es scheint nämlich, daß die Kunst — so verstanden — Hegels philosophische These vom Vergangenheitscharakter der Kunst bestätigt, weil sie nicht mehr dazu beiträgt, den Bourgeois-Geist zugunsten des umfassenden Selbst- und Staatsbewußtseins der Moderne aufzuheben. Obwohl die Hegelianer, wie sich an HOTHO und VISCHER aber auch M. SCHASLER, M. CARRIERE u.a. zeigt, von einer kulturellen Funktion der Kunst nicht nur ausgehen, sondern diese per force gestalten wollen, gehen solche Versuche an der Möglichkeit vorbei, die Kunst in dem Sinn zu bestimmen, den Hegels Ästhetik durch den Rekurs auf die Funktion der Kunst in ihrer „Epoche", in der Hoch-Zeit der antiken Polis programmatisch als ihren Leistungssinn festlegte. Die Wiederholung der umfassenden, nämlich staatsstiftenden Funktion der Kunst erscheint Hegel unter Bedingungen der modernen Welt wegen der im modernen Staat herrschenden Interessenantagonismen unmöglich. Umgekehrt haben die Hegelschüler und Anhänger in ihrer These von der Zukunft der Kunst diese — im Blick auf die Gegenwart — kritische Bedeutung der Kunst aus dem Blick verloren. Die Bildung des Staatsbürgers durch die Kunst läßt eben jene Basis „unversöhnt" bestehen, die die Kunst nach Hegels Konzeption versöhnen können müßte, wollte man ihr weiterhin eine universale Bedeutung zuerkennen. Auch nach Ansicht der Hegelschüler „bildet" die Kunst den Menschen zur Humanität, allerdings so, daß sie an der Sphäre antagonistischer Gruppenegoismen, an der bürgerlichen Gesellschaft vorbei den Staatsbürger anspricht. Versöhnung geschieht hier per Handstreich durch eine inhaltliche Festlegung der Kunst wie des Staatsbürgers auf Religion und Nation. Daneben aber bilden der Staat selbst wie

2 Vgl. dazu Vischers Rezension von Hothos Geschichte der deutschen und niederländischen Malerei in den Jahrbüchern der Gegenwart 2. (1844). Hotho hatte Vischer um diese Rezension gebeten, bedankt sich anschließend (am 23. April 1845) überschwenglich (die Handschrift der Briefe findet sich in der Universitätsbibliothek Tübingen). Aus dem letzten Brief geht hervor, daß Vischer seine Ausführungen nicht allein als Freundlichkeit gegen einen ehemaligen Lehrer meinte, sondern daß Hotho und Vischer sich als Kampfgenossen in Sachen Ästhetik verstehen und ihr öffentliches Wirken in diesem Sinn einrichten. — Vischer vertieft diese Ansicht in Abhandlungen, die durch die Bearbeitung von Robert Vischer vorliegen: Vorträge von Friedrich Theodor Vischer. Für das deutsche Volk herausgegeben von Robert Vischer. Erste Reihe: Das Schöne und die Kunst. Zur Einführung in die Ästhetik. Stuttgart 1897/21898.

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dessen Organisation eine eigene kunstunabhängige Sphäre. Damit bestätigen die Hegelianer Hegels These vom Vergangenheitscharakter der Kunst im Vollzug, sehen den von Hegel herausgestellten Sachverhalt aber nicht mehr als defizitär an. In einer christlich und darin zugleich national orientierten Kunst stiftet nämlich die Kunst weder Religion noch Nationalbewußtsein, sie dient diesen lediglich. D.h., sie stellt sich unter die Botmäßigkeit bestimmter Gruppeninteressen, um sie durch ihre Vermittlungskapazitäten zum allgemeinen Interesse aufzuwerten. Hegels geistesgeschichtlich fundierte Skepsis, die ihn nur von einer formellen Bildungsfunktion der Kunst im Staat ausgehen läßt, ja selbst die Einschränkung dieser Funktion zur Beinahe-Bedeutungslosigkeit, erscheint im Vergleich mit solchen Konzeptionen als vorsichtig und hellsichtig zugleich. Sie enthält nämlich neben der Festlegung der Leistungsfähigkeit der Kunst zugleich die Einsicht in die ideologische Gefährdung einer inhaltlich ohne weitere Legitimation steuernden Vermittlungsleistung der Künste im Staat. Es legt sich deshalb nahe, gerade in Hegels Vorsicht und in der geringfügigen Modifikation der Bestimmung der Funktion der Kunst von einem öffentlich-allgemeinen zu einem öffentlich-beiläufigen Interesse das feinere Gespür für die Möglichkeiten wie Gefahren zu sehen. Zumindest die Gefährdung, die ideologische Anfälligkeit eines nur formellen Mittels der Bildung, unterstellt Hegel zutreffend. Sie liegt darin, daß die Offenheit für beliebige Inhalte auch zur Verpflichtung auf zufällig-gültige Inhalte genutzt werden kann. In der emphatischen Kunst- und Kulturbetriebsamkeit seiner Schüler und Anhänger geht diese Einsicht Hegels verloren. Hegel kombiniert in der Ästhetik in symptomatischer Weise Gedanken zur faktisch-historischen Situation mit seiner Konzeption der Geistesgeschichte d.h. er verknüpft philosophische und kulturpolitische Beurteilung der Kunst. Die kulturpolitische Stellungnahme der Hegelianer, die sich von der Hegels unterscheidet, obwohl jeweils unterstellt wird, man folge Hegel in seiner Bestimmung der Kunst, läßt sich in der angedeuteten Tendenz an einigen Beispielen verdeutlichen, die die damalige Diskussion um die Bedeutung der Kunst bestimmt haben. Wenn man Hegel in seinen Überlegungen folgt, wie der Kunst im Kontext der Institutionalisierung der Sittlichkeit im Staat eine konstitutive Rolle zugeschrieben werden kann, so bedeutet die Bevorzugung des Hegelschen Standpunktes nicht, daß die Grundlage der These vom Ende der Kunst — die Philosophiekonzeption — zwangsläufig mitübernommen werden soll oder muß. Am Beispiel dieser fingierten Kontroverse kann man Hinweise darauf gewinnen, wie eine Aktualisierung der Hegelschen Ästhetik aussehen muß, wenn sie die Einsichten, die in der Ästhetik aus der geistesgeschichtlichen Perspektive gewonnen werden, vom überfrachteten Systemkonzept Hegels trennt, d.h. wenn man die Ästhetik versuchsweise so liest, als sei sie nicht im System des absoluten Wissens gegründet.

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2. Systematische Bestimmung, Geschichtlichkeit und „Zukunft" der Kunst Gegen die Ästhetik wird vor allem der Vorwurf erhoben, daß Hegel der Realität eine ungeschichtliche Konzeption der Geistesgeschichte, nämlich deren Jogische" Konstruktion, überstülpe. SCHELLING soll demgegenüber in seiner philosophischen Ästhetik trotz der spekulativen Konstruktion die Geschichte, die phänomenale wie historische Vielfalt der Kunst berücksichtigen. Im näheren Vergleich erweist sich allerdings gerade Hegel als derjenige, der im Einzelnen dem geschichtlichen Phänomen den größeren Kredit einräumt, zumindest einzuräumen versucht. Hegels erste explizite Äuseinandersetzung mit der Kunst fällt in seine Jenaer Zeit, in die Zeit der intensiven Zusammenarbeit mit SCHELLING Hier ist es Hegel, der in aphoristischen, oft kaum verstehbaren Bemerkungen die Einwände gegen SCHELLING geltend macht, die man später seiner eigenen systematischen Konzeption der Ästhetik Vorhalten wird. Er erörtert nämlich jene Beispiele aus der Geschichte des Geistes und der Kunst, die SCHELLINGS spekulative Konstruktion einer Zukunft der Kunst (sc. der Notwendigkeit des neuen Epos) aus historischen Gründen als undurchführbar erscheinen lassen. Hegel gewinnt in der Auseinandersetzung mit SCHELLING während der Zusammenarbeit seine Einsicht, daß die Kunst zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Epochen des Geistes, einen unterschiedlichen Stellenwert besitzt. Zunächst formuliert er diese Einsicht in einigen bruchstückhaften Überlegungen, in denen er für eine Differenzierung im Mythologiebegriff, für den Unterschied zwischen geistiger und Naturmythologie eintritt. Die Tatsache aber, daß verschiedene Mythologien einen unterschiedlichen geistigen Entwicklungsstand indizieren, daß sogar im Griechentum die Symbiose von Natur- und geistiger Mythologie die Kunst an die Grenze ihres Versöhnungspotentials bringt,^ läßt Hegel nicht ruhen. Erst als er ein System gefunden zu haben meint, in dem die historische Pluralität als solche belassen und zugleich aus ihrem Prinzip verstanden sein soll, schließt er auch seine experimentierenden Versuche innerhalb der Ästhetik ab. Ällerdings kann man diesen Abschluß ebensowohl als einen bloß natürlichen Abbruch ansehen, denn er fällt in Hegels letzte Lebenszeit, in die Zeit nach der Überarbei3 Vgl. dazu O. Pöggeler: Hegel und die griechische Tragödie. In: Heidelberger Hegel-Tage 1962. Hrsg, von H.-G. Gadamer. Bonn 1964, 258 ff (Hegel-Studien. Beiheft 1.); zur Abgeschlossenheit nicht nur des Systems der Philosophie sondern auch der Ästhetik siehe ders. Die Entstehung von Hegels Ästhetik in ]ena. In: Hegel in Jena. Die Entwicklung des Systems und die Zusammenarbeit mit Schelling. Hrsg, von D. Henrich und K. Düsing. Bonn 1980, 249 ff (Hegel-Studien. Beiheft 20.). Im Zusammenhang habe ich die Entwicklung der Ästhetik dargestellt in: Die Funktion der Kunst in der Geschichte. Bonn 1983 (Hegel-Studien. Beiheft 25.).

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tung der Enzyklopädie (1827/30). Aufgrund der hier vorgenommenen Verschärfung des Systemgedankens überarbeitet Hegel nämlich seine letzte Asthelikvorlesung nochmals und gestaltet sie grundlegend um. Das ist allerdings nicht das einzige Indiz, dafür daß für Hegel selbst die Ästhetik zwar prinzipiell als abgeschlossen, im Einzelnen aber als rekonstruktionsbedürftig gilt. Wo immer Hegel seine Systematik in der Durchkonstruktion einer Geschichte (sei es die der Religion, die des Rechts, die der Kunst) entfaltet, kann die formale Festlegung des Systemgedankens, die logische Konstruktion, nicht in eine eindeutige „spekulative Konstruktion" der Historie übersetzt werden. Im Gegenteil entsteht der Zwang, die Konstruktion der Historie stets zu verbessern, weil sich durch die logische Grundlegung kein eindeutiger Gang des Konstruierens vorschreiben läßt. Dieser Zwang zum Experiment an der Historie bei vorgegebener prinzipieller Konzeption wird besonders in den Vorlesungen zur Ästhetik deutlich. Fatalerweise ist und bleibt die Grundthese dieser Durchführung die These vom Ende oder differenzierter vom Vergangenheitscharakter der Kunst. Die Kunst hat in der modernen Welt eine nur „partiale" Bedeutung. Sie stiftet nicht die gesamte herrschende Weltanschauung, sondern „illustriert" bestenfalls das in Religion und Staat besser, weil einsichtiger und begründet, verwirklichte Wesen des Geistes. Hegel gibt auch hierfür zwei Argumente an, nämlich einmal seine in der Enzyklopädie entwickelte und in der Ästhetik bloß „lemmatisch" vorausgesetzte teleologische Konzeption der Geistesgeschichte, die über Anschauen, Vorstellen zum Wissen des Absoluten führt. Das andere Argument ist ein spezifisch historisches über den Stellenwert dieser jeweiligen Form des Sich-Wissens des Geistes in verschiedenen Kulturen. Hegel entwickelt es in seiner Darstellung der romantischen Kunstform, d.h. in der Behandlung der Kunst, die der christlichen Religion und Mythologie zugehört. Es lautet, daß in dieser Kultur insgesamt das Bild, das die Kunst entwirft, nicht mehr die primäre Vermittlung des geschichtlichen Bewußtseins, sondern nur noch eine beiherlaufende Vermittlung liefert. Wie das Andachtsbild der christlichen Religion nur für die Vorbereitung des Einzelnen, für seine Vorstellung des Gottes und seine Einstimmung in den kultischen Vollzug (die Andacht) eine Bedeutung hat, so kommt auch der Kunst im modernen Staat lediglich post factum eine illustrative Bedeutung, nicht aber eine universal-erneuernde oder kritische Potenz zu. Hier ließe sich ein anscheinender Bruch in der Ästhetik noch einmal verschärfen. Während nämlich zur Zeit der Berliner Tätigkeit Hegels die christliche Kunst allenthalben geschätzt und nach ihrer Wiederentdeckung als unverzichtbares Kulturgut möglichst breitenwirksam vergegenwärtigt werden soll, macht Hegel in den Vorlesungen beharrlich dieselbe Skepsis geltend. Die Tatsache, daß derartige Kunstwerke schön sind, daß sie zum Muster und Vorbild der weiteren daran anknüpfenden Kunst werden sollen.

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scheint ihm geistesgeschichtlich unbedeutsam zu sein. Wo nämlich diese Bilder lebendig wirken, an ihrem eigentümlichen Ort in den Kirchen, müssen sie nicht schön sein. Dieser Anforderung unterliegen sie erst in der historischen Brechung, in der reflexiven Wiederaneignung des Vergangenen als des eigenen kulturellen Ursprungs. An sich tut die größte Primitivität der Andacht die gleichen Dienste — und auf die Andacht kommt es wesentlich an, wie Hegel in den Vorlesungen immer betont. Die ästhetische Sicht und Wertung ist eine Verfremdung. In „historischer Reflexion" und deren Sedimentierung im Kulturbetrieb sind diese Bilder nicht nur nicht mehr an ihrem Platz, sie werden zudem aus falscher Perspektive absolut gesetzt. Statt daß der Betrachter, eingedenk der historischen (und weltanschaulichen) Distanz, sich den jeweiligen konkreten Stellenwert verdeutlicht, setzt er die Werke einer ästhetischen Wertung aus. Dadurch gewinnen sie keinesfalls die Universalität ehemaliger Bedeutung für die Zukunft zurück, sondern sie verlieren zudem den eingeschränkten Bildungswert, den Hegel ihnen unter Offenhaltung und bei Berücksichtigung der historischen Distanz zugesteht. An die Stelle einer Vergewisserung über die eigene Vergangenheit tritt eine Restriktion der Zukunft einer Kultur (des Individuums und seines, sc. des deutschen, Volkes) auf eine Vergangenheit. Hegel vermag diese kulturelle Identität der Deutschen nicht zu entdecken. Schon in einem Aufsatz aus der Gymnasialzeit (1788) Über einige charakleristische Unterschiede der alten Dichter (von den neueren) hatte Hegel zu bedenken gegeben, es seien die „berühmten Thaten unserer alten, auch neueren, Deutschen . . . weder mit unserer Verfassung verflochten, noch wird ihr Andenken durch mündliche Fortpflanzung erhalten. Bloß aus den Geschichtsbüchern zum Theil fremder Nationen lernen wir sie kennen, und auch diese Kenntnis ist nur auf die polizierteren Stände eingeschränkt" {Dok. 48 f). Den letztgenannten Mangel mag die Mittelaltersehnsucht der Romantiker behoben haben, die dazu führte, daß das mittelalterliche Gedankengut in Neudichtungen, Übersetzungen und Bühnenfassungen verbreitet wurde. Aus den genannten Gründen bleibt aber Hegel dabei, daß diese Vergangenheit mit der gegenwärtigen politischen Situation nicht korrelierbar ist. Meines Erachtens gewinnt, recht gelesen, die These vom Ende der Kunst ideologiekritischen Charakter gegenüber der angeblich fortschrittlichen, weil historisch orientierten Einstellung der Diskussionspartner Hegels, sei es in der frühen Zeit SCHELLING mit seiner romantisch gefärbten Kunstauffassung, seien es in der Berliner Zeit die Anhänger und Schüler, die Hegel im Sinne der Spätromantik auslegen. Hatte eingangs die Kontroverse mit SCHELLING Hegel dazu gedient, die ersten Schritte auf dem Wege der Formulierung dieser Einsicht zu tun, so findet er in den Vorlesungen in Berlin hinreichend Gelegenheit, sich mit der spätromantischen Verfestigung solcher Einsichten auseinanderzusetzen, die nach und nach den gesamten Kulturbetrieb prägen.

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Es sei zunächst dahingestellt, daß sich gegen Hegels Sicht der Kunst weitere Argumente verbringen lassen, die es erlaubten, seine eigene Intention gegen die Art der Durchführung (die zugestandenermaßen dogmatisch verzerrt) ins Recht zu setzen. Hier soll nur die Anfangskontroverse mit ScHELLiNG in ihrer endgültig sedimentierten Form dargelegt werden, nämlich im Rezeptionsprozeß, dem die Ästhetik unterliegt. Es kann nämlich an einigen Punkten — und zwar an solchen Beurteilungen der Werke der Kunst, die jeweils für Hegel den Charakter des experimentum crucis für die Geschichtskonzeption hatten — gezeigt werden, daß die Deutung der geschichtlichen Funktion der Kunst, aus der die These vom Ende der Kunst resultiert, eine offenere Konzeption der Geschichte unterstellt als die stillschweigende Umdeutung der Hegelianer in die These von der Zukunft der Kunst. Mit Hegel: Diese Zukunft der Kunst, so wie sie im kulturellen Berlin durch die entsprechenden Bildungsinstitutionen (Akademie der Künste, Museum, Kritikorgane und Vereinswesen) gestaltet wird, wiederholt nur die eigene, überwundene „deutsche" Vergangenheit in Religion wie Staatsverfassung. Hegels Zeitgenossen, mit ihnen und allen voran seine Schüler und Anhänger verstellen sämtlich die Zukunft der Kunst durch die Übernahme eines anachronistischen Konzepts, das sich schlagworthaft durch das Programm der Berliner Kunstakademie kennzeichnen läßt: Man fordert die Wiederbelebung der eigenen, deutschen Vergangenheit zum Zwecke einer zukünftigen religiösen und vaterländischen Malerei und erweitert dies Programm auf alle Künste durch die Übernahme der Forderung nach einem neuen Epos. Die Progressivität der These vom Ende der Kunst besteht demgegenüber darin, daß die „deutsche“ Vergangenheit als Zukunft der Kunst ausgeschlossen wird. Gegenwart und Zukunft können nicht durch die Wiederbelebung jener Kunst und ihrer Orientierungsleistungen reformiert werden, die man aus dem Mittelalter übernimmt, um die heterogenen Elemente des preußischen Staates zu einer kulturellen Einheit gewaltsam zu verschmelzen. Diese, wenn nicht Progressivität, so doch kritische Potenz der Hegelschen Ästhetik aufgrund ihrer Grundthese ist nicht leicht ersichtlich. Zunächst treten auch hier jene Bedenken in den Vordergrund, die es nahelegen, Hegel wiederum eine unzureichende Geschichtskonzeption zu unterstellen. Hegel hat z.B. nie einen zureichenden Begriff des Mittelalters entwickelt, so daß er sich die historischen Erkenntnisse und Kenntnisse seiner Zeit zunutzegemacht hätte. In der Ästhetik hat das zur Folge, daß die Epochen der Kunst rein begrifflich, nicht historisch konzipiert werden. Dennoch zeigt sich gerade in der Ästhetik der heute noch „aktuelle" Sinn einer solchen Konzeption. Selbst die scheinbar klassizistische Deutung des Mittelalters, die anachronistische Darstellung der Renaissance als dessen Höhepunkt, hat zumindest eine Komponente, die die Ästhetik im Gegensatz zur Konzeption der Hegelianer kritisierbar und damit in der Kritik aktualisierbar hält.

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K. STIERLE hat in einer Abhandlung zum Renaissancebegriff^ gezeigt, daß Hegels Einschätzung der Renaissance anachronistisch die Renaissance mit der eigenen Gegenwart verknüpft. Auf diese Weise ergibt sich für sein Verständnis die geistesgeschichtliche Kontinuität zwischen Antike und Moderne, die er gegenüber der Unlebendigkeit der germanischen Vergangenheit für die eigentliche Basis des aufgeklärten Zeitalters hält. Die Renaissance gilt zwar auch in der Malerei und Poesie als jener Höhepunkt des Mittelalters, der die gesamte Epoche erschließt, sie einer geistesgeschichtlichen Gewichtung im Sinne Hegels allererst zugänglich macht. Eine gegenläufige Tendenz zu dieser geistesgeschichtlichen Konzeption setzt aber schon lange vor Hegels Berliner Vorlesungstätigkeit ein durch die Akzentuierung des gotischen Mittelalters, durch eine Rückwendung, die der Literatur jenseits der klassizistischen Verengungen einen neuen Spielraum eröffnen sollte". Hegel hat diese Rückwendung, die die Romantiker in ihrer Spätphase zur einzigen, eigentlichen und eigentümlichen Resource zukunftsträchtiger Möglichkeiten der Kunst hochstilisierten, in keiner Phase seines Denkens mitvollziehen wollen. In seiner Auseinandersetzung mit SCHILLER konnte Hegel schon in seinen frühen religionskritischen Überlegungen eine Bestimmung der geschichtlichen, näherhin utopischen Funktion der Kunst durch den Hinweis auf die griechische Antike gewinnen. Hier wurde die Renaissance der Antike zur Chance, ein Bild möglicher Vollendung zu gewinnen. Dieses Bild gestaltet Hegel zum Entwurf einer auf Kunst und ihre Wirkung gegründeten Kultur und er meint, damit SCHILLERS kantianisierende Konzeption der ästhetischen Erziehung durch die unverzichtbare historische Konkretheit zu vollenden. Der Hinweis auf die griechische Kultur fungiert als Handlungsorientierung in der Situation der „Zerrissenheit". Er legitimiert sich also keineswegs historisch im engeren Sinn, sondern allenfalls im Sinn einer teleologischen Geschichtskonzeption. Notwendig wird ein solcher Rückgriff, weil Hegel meint, daß nicht nur die formale Vernunftforderung, sondern darüberhinaus die konkrete Perspektive ihrer geschichtlichen Wirkung vonnöten ist, um das aufklärerische, anthropozentrische Weltbild durchzuhalten, d.h. um eine Geschichte zum Zwecke der Humanisierung der Natur nicht nur konzipieren, sondern handelnd durchsetzen zu können. Diese revolutionäre Komponente des Vergangenheitsverweises löst Hegel in späteren Überlegungen (seit 1803) explizit auf zugunsten der historisch-tragfähigeren Konzeption verschiedener Epochen der Kunst, die sich begrifflich (nicht rein chronologisch) voneinander trennen lassen. ^ K. Stierle: Renaissance. Die Entstehung eines Epochenbegriffs aus dem Geist des 19. Jahrhunderts. In: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. Hrsg, von R. Warning und K. Stierle. München 1985 (Poetik und Hermeneutik. 12.)

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Hatte aber der Anachronismus einer Renaissance der Antike als Zukunft der Moderne noch den plausiblen Sinn, das Anliegen der Aufklärung nicht nur übernehmen, sondern in Geschichte umsetzen zu können, so verliert mit Aufgabe dieser Konzeption die Kunst überhaupt ihren umfassenden gesellschaftlichen Stellenwert. In dem Anliegen, das Hegel im sog. „ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus“ (1797) in Weiterführung SCHILLERS formuliert hatte, stimmt er mit der Frühromantik noch überein. Eine Mythologie der Vernunft kann durch die Kunst nur so vermittelt werden, daß sie vergangene wie fremde Mythologien der Welt unter dem Gesichtspunkt der Legitimität, damit unter Anerkennung der Vernunftforderung prüft und zum Zwecke der Einrichtung der Vernunftsmündigkeit als deren Vermittlung benutzt. Durch die Ablösung von der Renaissance des Griechentums entsteht dann das romantische Programm einer Renaissance des Mittelalters bzw. einer Vergegenwärtigung der nicht nur zeitlich fernen, sondern insgesamt fremden (sc. der orientalischen) Kultur und ihrer Grundlage, der Mythologie. Wo diese Tradition, wo die Frage nach den Mythologien der Welt auf die nach der Mythologie der preußischen Eigenwelt restringiert wird, wendet sich Hegel von der Gemeinsamkeit mit den Romantikern ab. So kann der historische Nachfolger sowohl der Konzeption der Renaissance des Griechentums wie der des Orients, nämlich die Konstruktion einer eigenen Epoche (des Mittelalters), die zum Quell wie zur Zukunft der eigenen Kultur wird, bei Hegel keine Gegenliebe finden. Der Hauptgrund liegt darin, daß hier eine historische Epoche im engeren Sinn geistesgeschichtlich überfrachtet wird. Nicht der gestaltete Entwurf einer vergangenen oder fremden Kultur — in Hegels Worten; das Ideal — sondern deren historische Faktizität wird wiederbelebt. Gewinnt man aber aus einem derartigen Rückblick seine Gegenwartsorientierung, wird — jedenfalls stellt es sich in Hegels Einschätzung der Berliner Situation so dar — die „deutsche" Vergangenheit zur deutschen Zukunft. Es ist bezeichnend, daß Hegel sich gerade in seinen Asthetikvorlesungen mit dieser Tendenz auseinandersetzt. Dadurch erscheint nämlich seine anachronistische, sachlich überholte Konzeption der Frühzeit noch in ihrer letzten Konsequenz als Trotz gegen einen Geschichtsbegriff mit restaurativen (kultur-)politischen Konsequenzen. Durch den Protest gegen die Erhebung der historisch aufgegriffenen Vergangenheit zur Zukunft versucht Hegel zumindest, eine unvoreingenommene Geschichtskonzeption durchzuhalten. Bei aller berechtigten und notwendigen Kritik an Hegels Geschichtsverständnis enthält sein Entwurf eine größere Offenheit für eine wirkliche Zukunft der Kunst als die romantisch beeinflußte Konzeption seiner Schüler und Anhänger. Das läßt sich an zwei Beispielen demonstrieren, nämlich an Hegels Auseinandersetzung mit der Malerei und deren Anspruch auf Gegenwartsrelevanz sowie mit dem Programm und den Realisationsversuchen des modernen Epos in der Poesie.

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Annemarie Gethmann-Siefert 2.1 Die Zukunft der wiederentdeckten Malerei

Für Hegel selbst gilt nicht die Poesie, sondern die Malerei als die in ausgezeichneter Weise „christliche" Kunst; sie wird damit auch zu der Kunst, die er für die Epoche des Mittelalters eingehend diskutiert. Hegel hat sich trendgemäß um eine umfassende Kenntnis der alten deutschen und niederländischen Malerei bemüht, nachdem ihm durch die Ausstellungen der Brüder BOISSEREE erstmals ein Bezug zu diesen Bildern eröffnet worden war. In der Ästhetik bieten ihm diese Bilder, die mit Pinseln gemalt zu sein scheinen, die „in Nacht getaucht" (Nohl. 358) waren (wie Hegel in einer frühen Bemerkung festhält), den ersten Einstieg, das Licht der philosophischen Reflexion über die Kunst auch auf das mittlere Alter zwischen Antike und Moderne zu lenken. Es sei dahingestellt, daß auch in der Bestimmung der mittelalterlichen Malerei, die Hegel im ersten Kreis der romantischen Kunstform behandelt, der Höhepunkt in der Renaissance-Malerei angesetzt wird. Jedenfalls liegt darin nicht ein „Klassizismus" der Ästhetik, sondern lediglich das Indiz für Hegels begriffliche Geschichtskonstruktion (vgl. dazu in diesem Band 1 ff; 294 ff). Zahlreiche Kunstreisen und Hegels begeisterte Briefe nach Berlin zeugen allerdings von einem Interesse, das der Leser der Ästhetik in der philosophischen Behandlung der Malerei nicht wiederzuentdecken vermag. So wird auch hier der gängige Vorwurf für triftig gehalten, daß Hegel zugunsten seiner Systemwilligkeit die Realität selbst der eigenen Erfahrung unterdrücke. Hegels Bemerkungen zur Bedeutung dieser Malerei, die zur Zeit seines Berliner Wirkens in den Mittelpunkt nicht nur des Kunstinteresses, sondern des öffentlichen Interesses rückt, nehmen sich sehr spärlich und sicher schon für den Zeitgenossen befremdlich aus. Er bleibt nämlich bei seiner schon früh gefaßten Meinung, daß die christlichen Themen solcher Bilder für die Kunst „problematisch" seien, weil sie Häßlichkeit, Grelles, Grausames, Abstoßendes zum Thema der Kunst und zum Inhalt einer „schönen Form" erheben müssen. Für Hegel liegt darin der untrügliche Beweis, daß die Kunst der romantischen Kunstform sich überhaupt mit einem Inhalt abzumühen hat, der sie formal zerbricht. Nicht wegen ästhetischer Bedenken, sondern aus diesem Grund wendet er sich angelegentlich gegen die rein ästhetische Deutung solcher Werke, die sie zum Muster einer zukünftigen Kunst erheben will, denn dadurch verlieren die Bilder ihre „Lebendigkeit". Einen Anknüpfungspunkt für den Vorwurf, daß Hegel die Geschichte der Künste zugunsten seiner Systemkonzeption unterdrücke, findet man vor allem in seiner Überlegung, ob es sich bei den Werken der niederländischen Malerei um Kunstwerke im echten Sinn handele. Auf der einen Seite betont Hegel nämlich, daß die Vollendung der Malerei mit solchen Bildern wie etwa denen VAN EYCKS erreicht sei. Problematisch erscheint andererseits, daß in das

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Andachtsbild rein Weltliches Eingang findet, wie etwa die Gestalten der Stifter, durch die sich die „Täglichkeit des Alltäglichen" in die Kunst einschleicht. Ungeachtet dieses Vorbehalts betont Hegel aber, daß selbst die Genrebilder, die sich dieser Täglichkeit des Alltäglichen nun voll und ganz widmen, einen Glanz der Schönheit über endliche Dinge ausgegossen haben, mithin eine formale Vollendung in ihrem Medium erreichten, die kaum wiederzuerlangen ist. Dennoch meint er, könne man auch hier nicht von Kunstwerken im Vollsinn reden, denn das inhaltliche Interesse dieser Bilder stellt den Bourgeois in seiner Privatsphäre, in seiner eingeschränkten Welt dar. Während der religiöse Gehalt über die Kunst hinausweist und sie als zureichende Vermittlung des Absoluten auflöst, unterfordert dieser privatweltliche Gehalt die Möglichkeiten der Kunst, wie sie Hegel in der Kunst der griechischen Polis vorgezeichnet sieht. An Hegels Kritik an der zeitgenössischen Malerei, die er in seinen Vorlesungen anläßlich der Ausstellung ihrer Bilder auf der Akademie-Ausstellung von 1826 und 1828 vorbringt, läßt sich der Tenor solcher Kritik eindeutig erhellen. HOTHO hatte in der Druckfassung der Ästhetik Hegels Kritik zu einer scharfen Polemik zugespitzt, die mit den vor- und umsichtigen Überlegungen der Vorlesungen nicht übereinzubringen ist.^ Hegel sieht in diesen Bildern ein Beispiel für seine These, daß die Malerei zwar die ausgezeichnete Kunst der romantischen Kunstform sein konnte, für die Gegenwart aber von bloß historischem Interesse sein sollte. Wo die Bilder der alten Maler chronologisch dargeboten sind (in der neuen Galerie des Museums), vermitteln sie einen Einstieg in die Erkenntnis der eigenen, geistigen Vorgeschichte. Insoweit ist eine Beschäftigung mit ihnen sinnvoll. Wo das Anliegen dieser Malerei wiederholt werden soll (vor allem in der religiösen Malerei und im Genre), gehen sie an der Wirklichkeit vorbei. Die Innerlichkeit des Gefühls, das Prinzip der neuen Zeit, führt durch die statarische Darstellung in der Malerei zu Bildern, die »süßlich und fade" aussehen. Der religiöse Inhalt solcher Bilder muß selbst erst historisch wieder erschlossen werden und fungiert keineswegs im Sinne jener »Mythologie der Vernunft", die durch die 5 Vgl. dazu A. Gethmann-Siefert: Die Kritik an der Düsseldorfer Malerschule bei Hegel und den Hegelianern. In: Düsseldorf in der deutschen Geistesgeschichte. Hrsg, von G. Kurz Düsseldorf 1984. G. Stemmrich hat nachgewiesen, daß die Ansicht der Ästhetik mit einer Kritik aus Schorns Kunstblatt übereinstimmt. In den Vorlesungen begründet Hegel aber dieses ästhetische (Un-)Werturteil durch seine geistesgeschichtliche Konzeption. Diese Begründung wird aus der Darstellung in der Druckfassung der Ästhetik nicht ersichtlich und sie fällt auch in der fast wörtlichen Wiederholung dieser Kritik der Düsseldorfer Malerschule in Hothos Geschichte der deutschen und niederländischen Malerei weg.

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Kunst für alle anschaulich werden kann und muß. Auch die alten und neuen Genrebilder unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt. Die Bilder der alten Niederländer halten das Bewußtsein wach, daß hier ein Volk seine Welt durch Arbeit dem Meere abgerungen und sich durch Kampf politisch selbständig gemacht habe. Sie tradieren daher — durch und vermittels der Schönheit endlicher, belangloser Dinge — das gemeinsame geschichtliche Interesse zumindest eines „Völkerindividuums". Dagegen findet sich im neuen Genre der nur noch individuelle Geschmack an der Gemütlichkeit einer zierlich zugerichteten Bürgerwelt. Weltgeschichtliche Perspektiven gehen allerdings beiden ab. Aufgrund dieser Überlegung zieht Hegel selbst zwei Schlußfolgerungen, die von seinen Anhängern nicht mitvollzogen werden. Zunächst betont er, daß die Poesie die zeitgenössische Kunst sei, weil hier die Anschaulichkeit ein reflexions-affineres Medium, die Sprache, gewinnt. Zweitens verneint er die Frage nach der Zukunftsdimension der christlichen wie der weltlich orientierten Malerei, denn die formale Vollendung, die zum Muster neuer Bilder werden möchte, stellt für Hegel selbst keineswegs eine solche zukünftige Möglichkeit dar. An dieser Stelle spaltet sich sein Schüler H. G. HOTHO von Hegels philosophischer Konzeption ab und entwickelt eine spekulative Kunstgeschichte, die die Hegelsche Bestimmung des Ideals mit der historischen Aufarbeitung des „mittleren Alters" in der Malerei zum Behuf einer Auseinandersetzung mit der Gegenwartskunst verschmelzen will. In der Kunst, die derart auf ihrem geistesgeschichtlichen Hintergrund erhellt wird, sieht HOTHO die Möglichkeit, den Menschen zum Bürger zu bilden. Er redet hier nicht wie Hegel von einer nur formellen Bildung, die über die eigene geistige Geschichte informiert, sondern postuliert eine inhaltliche Bildung, die auf die in dieser Geschichte vorfindlichen Ideen hin orientiert. Seine spekulative Kunstgeschichte entfaltet das System dieser staatsbürgerlichen Bildung durch Kunst, auf das die Eingangskritik, es werde hier eine Vergangenheit zur Zukunft erhoben, zutrifft.* HOTHO unterstreicht nämlich, daß die künstlerische Größe der deutschen Vergangenheit, daß vor allem die religiöse Orientierung der alten Malerei zur Wiederbelebung der christlichen Weltanschauung in der Moderne führen könne. Diese Christlichkeit steht dann als Garantie dafür, daß die „Bildung des Gefühls", als die HOTHO Hegels anscheinende Verpflichtung der Kunst auf ihren „großen" (sprich religiösen) Inhalt versteht, recht geleitet wird.

* Hotho äußert ein Bekenntnis zur Restauration im Morgenblatt für gebildete Stände. 1828. Korrespondenznachrichten Nr. 211,844; vgl. dazu Kunst als Bildungserlebnis (a.o. Anm. 1), 260 f.

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Diese kulturpolitische Einbettung der Hegelschen Konzeption vermittels der Historie und der Kunstkritik enthält eine Aporie. Hegels anachronistische Mittelalterkonzeption degeneriert nämlich in HOTHOS Geschichte der Malerei zu einem „Klassizismus" im echten Sinn. Die Werke der Renaissance und dann die dieser nahestehenden Werke alt-deutscher und niederländischer Maler werden zum Muster der Schönheit und Vollendung. In jeder seiner einzelnen Studien und Auseinandersetzungen, selbst in den Kritiken zeitgenössischer Werke, setzt HOTHO dieses Modell voraus, um über Wert und Unwert endgültig zu entscheiden. Er formuliert diesen Anspruch seiner Konzeption der spekulativen Kunstgeschichte explizit; Die Verknüpfung von Philosophie, Historie und Kritik verfügt über die Fähigkeit, ein abschließendes Urteil über jedes vorkommende Werk zu fällen, sie wird zur Kunstrichterin. Die Universalität dieses Anspruches der Reflexion gegenüber der geschichtlichen Wirklichkeit meint HOTHO auf Hegels Philosophie der Kunst gründen zu können. De facto hat er aber dessen Anliegen so verzerrt, daß der Philosophiegehalt seiner historischen Betrachtung der Malerei zur klassizistischen Aufwertung der alten gegenüber der modernen Kunst führt. Die Vollendung des Alten wird zum Maß für die Moderne und zum Stimulanz für alle zukünftige Malerei. In der Renaissance-Malerei sieht HOTHO wie sein Lehrer Hegel diese Verknüpfung von Klassizität und christlicher Art vorgezeichnet, die er — anders als Hegel — zu wiederholen auffordert. FRIEDRICH THEODOR VISCHER bringt diese Konzeption HOTHOS auf den Begriff: es ist die längst fällige Bemühung um eine deutsche Kunstgeschichte, die sich zum Ziel setzt, eine neue deutsche Kunst zu entwickeln. Der Kuriosität halber seien VISCHERS Bemerkungen, die er in der Auseinandersetzung mit HOTHOS Geschichte der Kunst publiziert, hier angefügt und sein Bild dieser neuen Malerei geschildert. VISCHER betont, es sei „längst eine Forderung der National-Ehre, daß wir eine Geschichte der deutschen Malerei in die Welt geben". Zweck dieses Versuchs ist es, die neue Malerei der Deutschen, nämlich eine „Malerei der christlich-germanischen Bildung", die sich von der „unnationalen" klassischen oder romantischen Orientierung fern hält, als Ziel der Kunstentwicklung darzustellen.Der Stil dieser Malerei wird im folgenden charakterisiert: „derbe, selbst etwas wilde und rohe Formen, aber frisch und tüchtig, feurig bewegt oder behaglich ruhend, phantasievoll humoristisch, freundlich gefühlvoll in herrlichen, mit wenigen Strichen kräftig gegebenen ächt deutschen Landschaften gelagert, schiffend, wandernd, in Lauben schmausend.

7 Deutsche Kunstgeschichte. In: Jahrbücher der Gegenwart. 2 (1844), 833 ff. Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diese Abhandlung.

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vor Burgen fechtend u.s.w." (836 f). Die „Burschenherrlichkeit" nimmt ViscHER explizit als Illustration dieses nationalen Stils her (vgl. 837), und ein Beispiel, was noch weiterhin darunter zu verstehen sei, findet sich auch in seinen Vorträgen über Das Schöne und die Kunst, die sein Sohn ROBERT VISCHER „für das deutsche Volk herausgegeben" hat. VISCHER lobt dort die „vorzüglichen Kompositionen von RETHEL". „ES sind Zeichnungen im markigen Stil der Holzschnitte ALBRECHT DüRERS, in denen RETHEL „die Zustände im Frühling 1848" geißelt; mit VISCHER; sie „ganz außerordentlich, genial behandelt". „Wenn nun ein Demokrat vom reinsten Wasser sagt: ,Das sind reaktionäre Bilder, die mag ich mir nicht ansehen', so würden wir das eben borniert nennen" (39 f). Die Wahrheit, die VISCHER in diesem Zyklus RETHELS sieht, liegt nicht in den Inhalten, sondern in der Darbietungsweise, nämlich in der „deutschen", markigen Form, in der sie dargestellt sind. Auf diese ist auch sein „Ideal von Kunstgeschichte" abgezweckt, die die Kunst so darstellen soll, daß sie erscheint als „eine Blüthe" die „ihre Wurzel tief in dem gesammten nationalen, politischen, religiösen Leben des Volkes hat" (839). An HOTHOS Geschichte der deutschen und niederländischen Malerei bemängelt VISCHER sogar noch, daß ästhetische Vorurteile und Vorlieben ihm dieses Unternehmen einer national orientierten Kunsthistorie verunklären, obwohl es immerhin als eines der wenigen Beispiele für diese Konzeption gelten darf. VISCHER scheut sich nicht, eine Umorientierung der Kunstgeschichte vorzuschlagen, neue Zäsuren und Epochenunterschiede zu fordern (1040 f). Die Geschichte der Malerei kulminiert darin, daß die Deutschen das antike Formgefühl in sich aufnehmen „und zwar in seiner Reinheit, im ausgesprochenen Widerspruch gegen die theatralische Entstellung desselben durch die Franzosen" (sic! 1041). Falsche Renaissance und Romantik werden überboten in einer letzten dritten Epoche, die sich auf die großen „geschichtlichen, insbesondere nationalen Aufgaben" besinnt und zudem dem „deutschen" Charakter entspricht (vgl. 1044, 1055 f). VISCHER spielt ebenso wie HOTHO die neukonzipierte Kunstgeschichte zur Kunstrichterin hoch (vgl. 1053). Gestalten, die dem „deutschen Nationalcharakter" nicht gerecht werden, sollten in deutscher Kunst nicht Vorkommen. Interessanterweise kann VISCHER im gleichen Atem behaupten, daß das politische Interesse und, „so paradox es klingt, auch das Moralische" aus der Kunst ausgeschlossen seien (Das Schöne und die Kunst. 38). Im „markigen Stil" sowie in der sinnlich-sittlichen Wirkung der Farbe, auf die er sich mit GOETHE beruft, den sieht er Fortgang der Geschichte des Geistes gewährleistet, den er seiner Konzeption der Kunstgeschichte unterlegt. Er meint selbstverständlich, daß eine solche Kunstgeschichte im Sinne Hegels geschrieben sei, weil sie im Sinnlichen, nämlich der Kunst, den „reinsten Ausdruck der Geschichte des Geistes" (841) nachzeichnet. Gegenwart und Zukunft der Kunst liegen auch hier aus vermeintlicher Hegeltreue eindeutig fest.

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beruft sich mit seiner Schematisierung der Kunstgeschichte auf eine in der gegenwärtigen Interpretation äußerst umstrittene Reflexion Hegels zum Abschluß der Philosophie der Weltgeschichte. Auch Hegel teilt die faktische geschichtliche Welt der Gegenwart in die romanische und die germanische Welt. Seine Überlegung mündet sogar in eine Apologie des Krieges als des notwendigen und unausweichlichen Konfliktes der Völkerindividuen, insofern sie sich als Nationalstaaten geschichtlich konkretisieren. Man kann mancherlei gegen Hegels Überlegung einwenden. Vor allem seine Konzeption eines organischen Werdens der Geschichte, einer substantiellen Fundiertheit jedweder geistesgeschichtlichen Entwicklung, führt zu Aporien. Hegel selbst hält sich in der Philosophie der Weltgeschichte in seinen Schlußfolgerungen hinsichtlich der Prävalenz der verschiedenen substantiell begründeten Weltsichten, die er für die neuere Zeit als romanisch bzw. germanisch charakterisiert, vorsichtig zurück. Bezeichnend für diese Zurückhaltung ist sein Stehenbleiben beim Konflikt. Ohne die geistesgeschichtliche Aufhebung, die man gegen Hegel vielleicht als dem Zwang zur Reflexion auch noch der organisch gewachsenen Institution lesen möchte, bleibt der Konflikt das letzte Wort der „Geschichte selbst", nicht die Aufhebung durch Assimilation oder Vernichtung. Hegel setzt diese letzte vermittelnde Aufhebung dann nicht mehr in die Macht der substantiell-geschichtlichen Entwicklung, sondern konzipiert sie nur auf der Ebene des Begriffes. Anders bei ViscHER. Zumindest seiner prinzipiellen Bestimmung der Kunst liegt die (klassizistische) Hochschätzung des Germanischen zugrunde. Auf dieses Prinzip — bei Hegel: die als bloß faktisch-vorliegend gekennzeichnete Vernunftaffinität einer auf Intelligenz, weil zuvor auf begrifflich legitimierbare Religiosität (Protestantismus) gebauten Staatsorganisation — gründet ViscHER die Zukunft der Kunst. Die Kunst muß sich aus der „schönen Religion" der romanischen Welt, muß sich vom Katholizismus befreien, um der germanischen Welt zu genügen. Merkwürdig zwiespältig wird hier die Charakteristik einer Kultur aus ihren fundierenden Prinzipien, wie sie Hegel seit seiner frühen Polis-Charakteristik in den religionskritischen Schriften durchgängig als Einheit von Mythologie und Institution bestimmt, zur politischen Ermächtigung einer faktischen Kultur, anderes aus dem Spiel zu setzen. Freilich hält sich diese Überlegung VISCHERS in der Konstellation der Kunstgeschichte. Hier wird der „Krieg" der verschiedenen Nationalitätsprinzipien nur in sublimierter Form durchgeführt, so nämlich, daß sich Repräsentationen geschichtlichen Geistes in der Kunst gegenseitig aufheben. Peinlich eindeutig werden diese Überlegungen, wenn sie die verdeckte Schwäche der Hegelschen Rechtsphilosophie offenkundig werden lassen, nämlich eine — bei Hegel noch unbeholfen-unschlüssige — Normativierung faktischer Institutionen zu dem im absoluten Wissen Legitimierten. Wo ViscHER

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Hegel auf der Ebene des Faktischen (vergleichbar seiner Bestimmung der griechischen Tragödie) den Konflikt als das »letzte Wort" der substantiell-organisch aufgefaßten Geschichte bestehen läßt, trifft VISCHER, will man sein Vorgehen generell charakterisieren, die Entscheidung des »absoluten Geistes" über die Geltung verschiedener gesamtkultureller Orientierung selbst, und zwar im Bereich des Faktischen, der Historie. Unter dieser Vorraussetzung wird die Aufgabe der Kunstentwicklung wieder zur gesellschaftlichen Aufgabe der Durchsetzung politischer, weil geistiger Vormacht auf dem Feld der ästhetischen Überlegenheit. Vordergründig handelt es sich um nichts weiter als um eine Schülerschaft, einen Hegelianismus. Hegels Schema der Philosophie der Weltgeschichte taucht als Schema einer Sondergestalt der Kulturgeschichte, als Prinzip der Kunstgeschichte wieder auf. Ist die letztere (aufgrund der Erschlüsselung der Gesamtgeschichte) prinzipiell durchschaut, dann setzt sie programmatisch die Zukunft des Phänomens nicht — wie VISCHER meint — frei, sondern fest. Durch den Gesamtkontext der Philosophie der Weltgeschichte, der hier als Hintergrund mitzitiert wird, und durch die kulturpolitischen Rahmenbedingungen werden VISCHERS Überlegungen konsequenzreich. Eine Kunst mit dieser Zukunft läßt sich ohne Anstrengung und ohne sonderlich komplizierte Vermittlungsschritte für politische Aktionsprogramme vernutzen. 2.2 Mittelalterliche Poesie und modernes Epos Wo immer Hegel sich mit der alten deutschen Poesie befaßt, vergleicht er Gedicht, »Situation" und Handlung mit dem alten Epos HOMERS. Anscheinend weicht er also, statt sich an der zeitgenössischen Bemühung um ein neues Epos der modernen Welt zu beteiligen, auf eine eingehende Analyse des »schönen" antiken Epos aus. Seine Bemerkungen zum Artusmythos, zum Parzival, zu den Nibelungen nehmen sich neben dem Lob HOMERS lapidar aus, belegen sie doch allenfalls, daß die Helden dieser Dichtung Zeitalter und Selbstherrlichkeit der antiken Heroen nicht wiederholen können. Hegel scheint auf geschickte Weise ein direktes Urteil zu vermeiden, das ihn in Dissens mit dem Geschmack seiner Zeitgenossen brächte. Dieses Urteil legt sich aber nahe, weil das Heroenzeitalter als die »hohe Zeit" des Epos den Hintergrund für die Beurteilung der mittelalterlichen Poesie bildet. Auch hier findet die übliche Klassizismuskritik Nahrung, aber auch hier geht sie am Sinn der Darstellung vorbei. Hegels Behandlung der mittelalterlichen Poesie impliziert nämlich eine dezidierte Stellungnahme zur Frage nach Sinn und Möglichkeit des neuen Epos. Es geht weder in der Charakteristik der mittelalterlichen Gedichte noch in der des vollendeten Epos um eine ästhetische Wertung. Man findet in den Ausführungen der Ästhetik zum alten Epos die eingehende Analyse der

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kulturellen Funktion des Epos in seiner Epoche. So enthält Hegels scheinbarer Rückzug eine Antwort auf die Frage nach der geschichtlichen bzw. gesellschaftlichen Funktion des alten Epos, in die auch die Charakteristik der mittelalterlichen Poesie ausmündet. Hegel hatte im Zuge seiner Auseinandersetzung mit SCHILLER die Einsicht begründet, daß sich das schöne Griechenland nicht wiederbeleben lasse, weil die Kunst in der Moderne vor andere Aufgaben gestellt sei als in der antiken Polis. Diese Unwiederholbarkeit des Alten unter geänderten Bedingungen bestätigt sich besonders eindeutig am Beispiel des Epos. Der gewählte Hintergrund der Interpretation begründet also keine bloß ästhetische Skepsis oder Polemik — weder gegen die mittelalterliche Poesie, noch gegen die zeitgenössischen Versuche, im Mittelalter die Wurzeln der deutschen Kultur und in dessen Poesie das Heilmittel gegen die Wirren und Orientierungslosigkeit der eigenen Zeit zu finden. Dieser Hinweis illustriert bestenfalls die Einsicht, die Hegel anläßlich einer ästhetisch für bedenkenlos, ja vollendet gehaltenen Kunst schon entwickelt hatte, an einem Beispiel, dessen ästhetische Wertung nicht positiv ausfällt. In der Auseinandersetzung mit der griechischen Kunst hatte Hegel im Zuge der Entwicklung seiner Ästhetik nach und nach mehrere Phasen der gesellschaftlichen Wirksamkeit unterschieden. Das Heroenzeitalter, die Epoche des Epos, gilt als die Phase der antiken Geschichte, die durch das Wirken großer Individuen geprägt ist. Diese Wirkung ist nur vor der Ausbildung einer verfaßten Gesellschaft sinnvoll und umfassend denkbar. Schon in der antiken Tragödie zeigt sich, daß die Unterstellung eines zwar gottgeleiteten, aber selbstbewußten, selbstherrlichen und gesetzestiftenden Handelns des großen Individuums innerhalb einer verfaßten Gesellschaft (in der Polis) zum Konflikt führen muß. Dasselbe Interpretationsschema verwendet Hegel zur Deutung des Mittelalters. Er inkriminiert vor allem den Anachronismus einer Konzeption heroischen Wirkens unter den herrschenden, fixierten gesellschaftlichen Bedingungen. Diese „Situation" ist der Grund dafür, daß die herangezogenen Epen, daß also die Vergegenwärtigungen dieses „Handelns" in der Poesie, auch ästhetisch disqualifiziert werden, daß Neudichtungen dieser Art und eines angeglichenen Stils zumindest auf Vorbehalte, wenn nicht Widerwillen stoßen. Wie untergeordnet dieser Gesichtspunkt bleibt, zeigt sich vor allem an Hegels permanenter Verknüpfung der Charakteristik mittelalterlicher Poesie mit der Frage nach dem Sinn ihrer Wiederbelebung. Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Indizien. Hegel geht im Zuge der Darstellung der mittelalterlichen Dichtung meist kritisch auf den Kunstgeschmack ihrer Entdecker, der Romantiker und allen voran der Brüder SCHLEGEL, ein. Durch ihre Kapriziosität haben sie zwar viel Neues zutage gefördert, taten aber — so Hegel — manchen Mißgriff. Die gesamte Richtung, die Romantik, charakterisiert Hegel dann generell durch den Hinweis

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auf ihre Frühform, nämlich als „jene Periode, deren Mittelpunkt Jena ist" {Aachen 1826. Ms. 24). Das heißt aber, daß er noch in seiner Berliner Zeit diese Versuche mit SCHELLINGS philosophischer Aufarbeitung, mit dessen Frage nach dem neuen Epos in Beziehung setzt. Aus dieser Perspektive seiner eigenen früheren Diskussionen mit SCHELLING muß ihm die spätere Konzentration der Romantik auf das Mittelalter als Verengung erscheinen. SCHELLING führte in der Suche nach dem Urbild des modernen Epos DANTES Göllliche Komödie an, also ebenfalls ein Beispiel aus jener späten Wiedergeburt antiken Geistes im Mittelalter, der Hegel auch in der Malerei den größten Kredit einzuräumen bereit ist. Die Romantiker hatten zunächst die auch Hegel interessierende Frage nach dem neuen Epos im Hinblick auf das Griechentum erörtert (so F. SCHLEGEL — wie Hegel im Anschluß an SCHILLER), sie dann aber zur Frage nach den Mythologien der Welt, also nicht allen nach der christlichen Mythologie des „mittleren Alters" erweitert. In diesem Horizont erscheint die spätere Konzentration auf das national interessante „deutsche" Mittelalter als Verkümmerung, und Hegel polemisiert in seiner anscheinend bloß ästhetischen Kritik sowohl gegen die Verengung dieser ursprünglichen Fragestellung als auch vor allem gegen den Versuch, diese eingeschränkte Orientierung an die Stelle der geistesgeschichtlich motivierten Frage nach den Mythologien, die Weltkulturen stiften, zu setzen. Tendenz und Inhalt der Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Poesie werden besonders deutlich greifbar in der Kritik des Nibelungenliedes, näherhin in den Versionen dieser Kritik, die sich in Schülernachschriften der Berliner Ästhetikvorlesungen und in der Druckfassung der Äslhetik finden. Die Ästhetik betont in diesem Zusammenhang, daß „wir selbst ohne Gelehrsamkeit" uns in ,/Ien Gedichten Homers... heimathlicher empfinden können" als in dem Nibelungenlied, mit dem wir uns „zwar geographisch auf einheimischem Boden" befinden {ÄsthJ 1. 351;" 1. 342). Die Begründung für dieses Urteil wird nicht genau ersichtlich, und es scheint so, als läge einzig in der ästhetischen Vorbildlichkeit der HoMERischen Epen der Grund für die Bevorzugung. In den Vorlesungen hat Hegel allerdings die fehlende Begründung geliefert und die Stellungnahme der Druckfassung weit differenzierter ausgearbeitet. Zunächst einmal behandelt er die ganze Fragestellung im Kontext der Auseinandersetzung mit HERDERS Forderung, solche Bücher zu sammeln, in denen der Geist eines Volkes sich ausdrückt. Hinzu kommt die Fragestellung der Romantiker, wie weit sich hier — mit HERDER: in der nordischen Mythologie {Aachen 1826. Ms. 74) — das Vor- und Urbild für ein neues deutsches Epos finden lasse. Wenn Hegel durchgängig kritisiert, daß die SCHLEGEL sowohl den HoLBERGschen Lustspielen wie den Nibelungen wie den altitalienischen Stücken einen „allzu hohen Standpunkt" angewiesen haben (vgl. Kehler. 1826. Ms. 35; Aachen 1826. Ms. 20; hier wird auch SCHELLING noch im Kontext der Romantiker genannt), so geht es ihm eigentlich

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darum zu betonen, daß das Nibelungenlied im Gegensatz zum Epos der Griechen keinen Zusammenhang mit der Geschichte und Tradition des Staats hat. «Wir haben kein solches Epos wie die Griechen in ihrem HOMER, das Nibelungenlied hat keinen Zusammenhang mehr mit unserer Zeit, ist ganz partikulair" (Marb. Bibi. 1826 Ms. 83; vgl. Kehler 1826 Ms. 397/398). Die Begründung bleibt Hegel hier nicht schuldig: «Das Geschichtliche ist nur das Unsrige, wenn es der Nation geschehen ist, der wir angehören, wenn wir diese Zeiten und Zustände als Folgen betrachten können, wovon jenes Geschichtliche wesentlich ein Glied ausmacht, so hat das Geschichtliche für uns noch eine wirkliche Gegenwart" (Marb. Bibi. 1826. Ms. 23 a). Für das Nibelungenlied kann diese wirkliche Gegenwart nicht gefolgert werden, denn die geographischen Zustände bleiben — im Gegensatz zu HOMERS Schilderungen — schon so vage, daß wir sie nicht als die unseren betrachten dürfen. Die Interessen der handelnden Personen sind «von unserem Zustand abgeschnitten" (Kehler. 1826. Ms. 112); «unser Nibelungenlied betrifft keine Bildungsstufe, die wir noch haben" (Aachen. 1826. Ms. 196). Auf diesem Hintergrund werden dann auch die Charaktere im Nibelungenlied Umrissen und hier fällt in der Tat das Wort von den Helden, die als «kahle Charaktere, nur einseitig dargestellt" erscheinen (Jag. Bibi. 1828/29. Ms. 80), das HOTHO beredt auszugestalten weiß zu: «kahlen, fahlen, wenn auch kräftigen Individualitäten" (Aslh..' 1. 305). Die Episode mit der Tarnkappe, bei der Hegel zunächst nur zu bedenken gibt, daß hier die Tapferkeit des Helden geschmälert werde, wird in der Druckfassung beurteilt als das «Werk einer rohen, barbarischen Zauberei, welche weder von Siegfrieds noch König Günthers Tapferkeit einen großen Begriff giht“'(Asth.' 2. 94). Durch dies Stichwort interpoliert HOTHO unterderhand ein scheinbares Interesse an der Entgegensetzung von «deutschem" und «schönem" Heroentum und die Doppeldeutigkeit der Charakteristik «barbarisch" wird genutzt, um den Rückgriff auf die ästhetische Wiedergeburt des schönen Griechentums im «schönen Rittertum" vorzubereiten. Hegel wendet sich in der Tat dieser weiteren Stufe zu, aber auch hier ist sein Grund für die ästhetische Beurteilung geschichtsphilosophischer Natur. Zunächst begründet er seine Behauptung, man habe gegenwärtig eine eindeutigere kulturelle Konnexion zum alten griechischen als zum alten deutschen Epos. Die Einflüsse der römischen Welt auf die gegenwärtige Kultur, insbesondere auf die Verfassung, verknüpften als Zwischenglied griechische Antike mit deutscher Gegenwart. Auch im Griechentum mündet das Epos in eine Form der Kunst, die die Bedingungen der verfaßten Gesellschaft widerspiegelt, nämlich in die Tragödie. Hier stellt sich das Handeln unter den Bedingungen staatlicher Institutionen und Gesetze dar. Dasselbe geschieht im Rittertum durch den Übergang zum «schönen Rittertum", nun aber unter den Bedingungen der christlichen Kultur. In dieser Poesie werden nämlich die Heroen

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unter Berücksichtigung der Tatsache dargestellt, daß ihre Handlungen in einer Welt stattfinden, deren Gesetze bereits vor ihrem Handeln feststanden und nicht durch ihr Handeln gesetzt werden. Hegel charakterisiert diese Art des Handelns zwar generell als „Abenteuerei", will damit aber eine strukturelle Charakteristik des heroischen Handelns unter festgeschriebenen gesellschaftlichen Bedingungen geben, die eine ästhetische Wertung entsprechender Gedichte nicht beeinflußt oder als Grund für eine pejorative Kritik genommen werden darf. Während das Nibelungenlied „keine Bildungsstufe" betrifft, „die wir noch haben" (Aachen. 1826. 196), kann etwa der Cid das „Ritterthum in seiner höchsten Schönheit" darstellen; und auch die Werke etwa Camoens, Tassos sind „Bibeln", die jeweils einen besonderen Charakter nach dem besonderen „Volkscharakter" haben. Diese Dichter sind „große Dichter" und „Nationaldichter gewesen," weil zumindest „die Seite der Äußerlichkeit, die zur Gestaltung des Ideals gehörte, ihrem Volk angehört" (Aachen 1826. Ms 74), während jenes Deutschland, in dem die Taten der Nibelungenhelden zu Hause sind, „aus einer Geschichte genommen [ist], die kein Interesse für uns hat" (}ag. Bibi. 1828/29. E 49). Das „schöne Rittertum" findet allerdings für Hegel wie für die Romantiker den adäquatesten Ausdruck in CERVANTES' Gestalt des Don Quijote. Hier wird die Stellung des heroischen Individuums zur Gesellschaft in treffender und gültiger Konsequenz dargestellt. Während das „schöne Rittertum" seine Taten in eine geträumte Welt verlegte, sich also auf die eigene Innerlichkeit beschränkte, zeigt sich in Don Quijote zugleich die Art der Welthabe eines solchen auf Innerlichkeit angelegten Heroentums. Die Welthabe wird von Hegel als „Weltlosigkeit" des Handelns in Konfrontation mit den realen geschichtlichen Bedingungen als Irrwitz charakterisiert. Nur in der Phantasie, im Selbstbewußtsein des Individuums und eben im Epos existiert die Tat des Helden als weltbewegende Tat. In der Wirklichkeit zeigt sie sich als „verrückte", widersinnige Anmaßung nicht vorhandener Macht. ARIOST und CERVANTES stellen „diese Auflösung des Rittertums" dar. „Im Don Quijote ist es eine edle Natur, in welcher das Rittertum bis zur Verrücktheit" gelebt wird (Hotho 1823. Ms. 184). So wird auch noch CERVANTES' Dichtung zu den „Bibeln" der Europäer gerechnet, „die Epos sind" (Kehler 1826. Ms. 399). Zur „Verrücktheit" wird das Rittertum „teils durch Umstände, teils durch den inneren Widerspruch, der im Ganzen liegt" (Aachen 1826. Ms. 150). Auch dies fixiert Hegel, wie es deutlicher nicht geht: Wenn nämlich „in einem Staat die gesetzliche Ordnung übermächtig ist, und in keinem Verhältnis mit dem Heroenleben steht, so wird die Selbständigkeit eine bloß angemaaßte, und lächerliche, und fällt ins Gebiet des Komischen" (Kehler 1826 Ms. 86; dasselbe Aachen 1826. Ms. 54 f). Bloße Abenteuerei und Lächerlichkeit (vgl. Marb. Bibi. 1826. Ms. 16) liefern das Indizium jener anachronistischen Welthaltung, die das Heroentum als Ganze darstellt, nämlich der ,Abenteuerei".

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Durch seine Darstellung des mittelalterlichen Epos schließt Hegel eine Wiederholung dieser Auflösungsform als sinnlos aus. Ein neues Epos, das diese Vergangenheit zur Zukunft erhebt — und sei es auch das „christliche Epos", die Göttliche Komödie — wäre ein Unding. Hegels Schüler nehmen diese Stellungnahme nicht zur Kenntnis. Für sie gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten, in der eigenen Vergangenheit Vorbilder zu finden. Man kann die „deutsche Vergangenheit" durch Dichtung und/oder historische Aufbereitung wiederbeleben oder fordern, daß die Kunst der Gegenwart das „neue Epos" selbst hervorbringt. Hier nährt besonders GOETHES Arbeit an der Fortsetzung des Faust die Hoffnung auf eine Realisation dieses Epos der Deutschen. Die Diskrepanz zwischen Hegels Auffassung und der seiner Schüler wird durch HEINRICH GUSTAV HOTHO in Hegels Ästhetik selbst hineingetragen. Selbst in der Beurteilung etwa der Nibelungen, in der HOTHO mit Hegels Auffassung übereinzustimmen scheint, verschiebt sich der Sinn der Vorlesungsäußerungen in der Druckfassung der Ästhetik zu einer ästhetischen Wertung, zum Vorzug des „schönen" Rittertums gegenüber dem barbarischen. Bei Hegel selbst erschien die anachronistische Verschmelzung aller Erscheinungen des mittleren Alters zwischen Antike und Moderne durch eine kulturphilosophische Überlegung plausibel. Er begründet nämlich die Ausblendung der „nordischen Mythologie" mit dem Hinweis, daß die deutsche Kultur der römischen und, durch diese vermittelt, der antiken näherstehe als dem Mittelalter. HOTHO funktioniert diese Überlegung kurzerhand um zur Angabe einer Quelle für Orientierungsmuster sowohl der Kunst wie des Handelns. Daß für diesen Zweck das „barbarische" Rittertum nicht in Frage kommt, liest HOTHO in Hegels Vorlesungsäußerungen hinein, weil es mit seiner eigenen Hochschätzung der Renaissance in der Malerei übereinstimmt. Das dort entwickelte Modell wiederholt sich in der Ablehnung jener „barbarischen" Helden, die etwa in den Dichtungen RAUFACHS wiederbelebt werden und der Empfehlung echt deutscher Art in national bekömmlicher Kunst, wie etwa der Minna von Barnhelm, die er zum wiederholten Genuß vorschlägt.® FRIEDRICH THEODOR VISCHER konstruiert in seiner Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen im zweiten Band die geschichtliche Schönheit, und zwar jeweils in drei Stufen: im Altertum, im Mittelalter und in der Neuen Zeit. Für ihn trägt 8 Hotho setzt sich im Morgenblatt für gebildete Stände eingehend mit Versuchen der dichterischen Wiederbelebung des Mittelalters auseinander, gewinnt ihnen aber wenig Geschmack ab. Statt dessen verweist er auf die bessere Repräsentation des Nationalgefühls in klassischen Werken; So heißt es z.B. zur Minna von Barnhelm: „Dieß Lustspiel ist echt deutsch, national, preußisch und deshalb schon sollte man nicht aufhören, es jährlich mehrmals zu geben" (Morgenblatt für gebildete Stände. 1828. Korrespondenzbericht Nr. 17).

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das Mittelalter als Ganzes germanischen Charakter und ist geprägt durch einen „heroischen Naturzustand", durch den rauhen Himmel, ein nicht kulturaffines Klima. Hier zwingt bereits die Natur selbst den geistig beflissenen Menschen dazu, sich auf das eigene Innere zurückzuziehen, läßt dieses aber nur in roher, wenig gebildeter Form zum Ausdruck gelangen. Auf diese Weise entwickelt VISCHER eine allgemeine Kulturbeschreibung des Mittelalters, in die er im wesentlichen die schon von HERDER und SCHILLER entwickelten Differenzierungen der verschiedenen Klimata einsetzt. Er will sich damit von Hegel unterscheiden, der in der Einheit der romantischen Kunstform ,4ie weltlich freie moderne Weltanschauung mit der mittelalterlichen zusammenfaßt, die wir vielmehr als zwei geschiedene Ideale auseinanderhalten" (Bd2. 564). Dennoch verwendet VISCHER jene Charakteristik des schönen Rittertums, die sich bei Hegel findet, wenn er die „phantastische Subjektivität" (Bd 2. 568) zum Prinzip der mittelalterlichen Phantasie wählt. Das gesamte Mittelalter lebt aus dem unüberbrückbaren Gegensatz von romanischen und germanischen Völkern, die gemeinsam das Ideal des Mittelalters auf je ihre Weise verwirklichen. Allerdings nehmen die romanischen Völker orientalische Traditionen auf, und folglich findet sich nur bei ihnen im Ausgang des mittleren Alters jene Wiederbelebung der Antike, die zum schönen Rittertum führt. „Der deutsche Geist dagegen vertieft bei eckiger Form und schwerer Härte der Individualität die massenhaften Stoffe zu subjektiver Einheit und verklärter Innerlichkeit" (Bd 2. 590), welche zum „germanischen Volksgeist", zu den „markigen Menschen" (a.a.o. 593) und damit zu jenem Charakter der Phantasie führt, den VISCHER als Ziel der Malerei in der Auseinandersetzung mit HOTHO beschrieben hatte. Auch in der systematischen Ästhetik schließt VISCHER seine Überlegungen dahingehend ab, daß er Bedingungen dafür entwickelt, wie sich die bildende Phantasie als Volkskraft des germanischen Volkes gegen die modernen Wirren wieder durchsetzen kann. Er fordert dabei, alle romanischen Elemente der Phantasie zu überspringen, durch Rückkehr zum „antiken Ideal der reinen Objektivität" und zur „echten Natur" (Bd 2. 613) das germanische Mittelalter in die Moderne zu überführen. Bezeichnenderweise soll dies durch die Wiederbelebung des mittelalterlichen Geistes in der Poesie gelingen. Den ersten Wurf hatte hier schon GOETHE im Faust getan, war aber nur durch die eigene Gesundheit der im Stoff selbst steckenden Ironie entgangen (vgl. Bd 2. 619). Das moderne Ideal muß sich von jeglicher romantischen Krankhaftigkeit frei machen und das benutzen, was die Romantiker in ihrem Versuch der Mittelalterbelebung gerade ausgelassen haben. Die Möglichkeiten des mittelalterlichen Stoffes umreißt VISCHER abschließend emphatisch: Man soll die Aufklärung weiterführen zu „konkretem Gedankengehalt", dieser muß als „erfüllteres Pathos" den Gestalten unterlegt werden. Das geschieht folgendermaßen: „Versetzt

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sie in die Geschichte, gebt ihnen den Schauplatz, wo sie sich zum Charakter schmieden... beutet vorzüglich die historischen Kämpfe des Mittelalters und seines Übergangs in die neuere Zeit aus, und ihr bekommt Colorit, Schatten, Lokalfarbe" (Bd 2. 617). Es geht nicht um Weltliteratur denn „die Aufstopplung aller poetischen Schätze aller Nationen aus allen Zeiten muß die eigene Produktivität erdrücken. Ein Übersetzervolk kann nicht Dichtervolk sein" (Bd 2. 620). Deshalb muß die Besinnung auf das germanische Ideal an die Stelle des Kosmopolitismus der Klassiker treten. Kosmopolitismus ist ein „Zeichen schwachen Nationalgefühls" und auch die undifferenzierte historische Orientierung der Gegenwart ist einer solchen Nationalphantasie nicht förderlich. Die „Stile aller Zeiten und Völker umgeben uns in der Literatur, in Museen, in Kunstgeschichten; da wird der Künstler an seiner Auffassungsweise irre" (Bd 2. 622). Die „Fäulnis", der „Verwesungsprozeß der Romantik" kann nur durch eine Naivität, durch einen ungebrochenen Instinkt wieder rückgängig gemacht werden, der dem des Mittelalters gleicht. Das Fremde wird nicht als Fremdes angeeignet, sondern ohne weiteres in das Eigene übersetzt. Auf ähnliche Weise wie die Kunst, aus germanischem Prinzip entsprungen, die kulturelle Herrschaft der unaufklärbaren, weil Jcatholischen" romanischen Welt bricht, möchte wohl das wiederbelebte Mittelalter die neue Zeit zu dem von VISCHER verherrlichten deutschen Ideal zurückführen. In VISCHERS Bestimmung der therapeutischen Funktion des Mittelalters für die Gegenwart findet sich nicht nur die Fortsetzung seines Prinzips der Kunstgeschichte, nämlich die Wiederholung des Konflikts der Völkerindividuen als Kampf der romanischen und germanischen Kultur. Er spricht zugleich unverhohlen aus, daß die Durchsetzung des germanischen Prinzips in der Kunst- und Kulturentwicklung nur Erfolg haben kann, wenn die mittelalterliche Vergangenheit über die Kunst für das gesamte Leben wieder bestimmend, wenn sie zukunftsmächtig wird. VISCHER spricht im Zuge seiner Argumentation zwei Themen mit an, zu denen die Hegelianer und auch Hegel je verschieden Stellung bezogen haben. Zunächst spielt er auf Diskussionen um GOETHES Faust an, auf die Stilisierung des Faust zum neuen Epos der modernen Welt, die Hegel in seinen Ästhetikvorlesungen, wenn auch aus gerade den konträren Gründen zu VISCHER, nicht mitvollzogen hat. Damit hängt die Anspielung auf GOETHES Kosmopolitismus zusammen, die VISCHER als die Schwäche, Hegel aber als die Stärke der GoETHEschen Dichtung interpretiert hat.

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3. Kunst und Mythologie: Der Klassizismus der Ästhetik als Kosmopolitismus. Im Zuge der national gefärbten Verengung des Interesses an der eigenen Geschichte modifiziert sich die frühromantische Diskussion, in die Hegel in seiner Auseinandersetzung mit SCHELLING in Jena eingegriffen hatte. In jenem Jener Kreis von Männern", auf den Hegel in der Ästhetik verweist, hatte man die von SCHELLING in ihrer Zwangsläufigkeit konstruierte Heraufkunft des „neuen Epos" zunächst einmal durch das Interesse an den Epen, an den Bibeln der Welt fördern wollen. Nach der Ausblendung des Interesses an der orientalischen Mythologie und Poesie bleibt die Frage nach dem modernen Epos an Urbilder aus der eigenen Geschichte zurückverwiesen. De facto erwartete man von GOETHES Faust diese neue Zukunft der Kunst. Als einer unter wenigen bringt Hegel dem Faust nicht das „national" gefärbte Interesse an einem modernen christlichen Epos entgegen, dessen Tendenz schon SCHELLING in seiner Jenaer Ästhetik, vor allem in seinem Dante-Aufsatz formulierte. Hegel wendet sich stattdessen jenem Werk GOETHES ZU, gegen das VISCHERS Vorwurf des „schwachen Nationalbewußtseins" geradezu formuliert zu sein scheint: dem West-östlichen Divan.^ Während die Hegelianer an die spätromantische Tradition bzw. an die zur Mittelalterbegeisterung verengte Bemühung um die Mythologien der Weltkulturen anknüpfen, um eine Erneuerung der deutschen Kunst aus deutscher Quelle zu gewährleisten, greift Hegel auf den ursprünglichen Ansatz der Mythologiediskussion zurück. Er selbst hatte im Kontext der Anfänge dieser Überlegungen die Forderung nach einer neuen Mythologie der Vernunft gestellt, und es läßt sich auf der einen Seite zeigen, daß diese Forderung seinen Begriff des Kunstwerks noch in den Berliner Vorlesungen bestimmt. Auf der anderen Seite läßt sich zumindest an einzelnen Beispielen belegen, daß Hegel da, wo er in den Ästhetikvorlesungen die Frage nach der Gegenwartsbedeutung der Kunst erörtert, seine früheren Überlegungen explizit wieder aufgreift und sie unter den geänderten kulturpolitischen Bedingungen seiner Berliner Zeit sowie unter Rückgriff auf die nun naheliegenden Beispiele bekräftigt. Hegel führt so z.B. GOETHES West-östlichen Divan als den poetischen Versuch an, mithilfe der Kunst eine fremde Kultur zu erschließen, die Eigentümlichkeit der orientalischen Welt über eine Integration ihres Lebensgefühls in den eigenen (deutschen) Erfahrungshorizont zu vermitteln. Aus der Sicht VISCHERS unternimmt Hegel hier nicht weniger als den ^ Hothos Eingriff in Hegels Ästhetik wird u.a. dargestellt in einer Abhandlung von A. Gethmann-Siefert und B. Stemmrich-Köhler: Faust „die absolute philosophische Tragödie“ und die „gesellschaftliche Artigkeit“ des West-östlichen Divan. In: Hegel-Studien. 18 (1983), 21 ff.

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Versuch, die Quellen, die zum „schönen Rittertum" der romanischen Welt geführt haben, gegen die germanische Rein- und Derbheit ins Feld zu führen. 3.1 Der Bourgeois als Citoyen Bezeichnenderweise findet GOETHES Divan selbst bei Freunden und Verehrern kaum Resonanz. Hegel ist einer der wenigen, die überhaupt Stellung nehmen, und beinahe der einzige, der positiv zu diesen Versuchen GOETHES in all ihren Implikationen steht und noch hinsichtlich der von GOETHE selbst skeptisch betrachteten, unumgänglichen Vermittlung von Gefühl und Reflexion optimistisch urteilt. Vor allem Hegels Asthetikvorlesung von 1826 kann als Beleg für diese Einschätzung angeführt werden. Hier behandelt Hegel den Divan als Abschluß der symbolischen Kunstform; er sieht in GOETHES Gedichten eine Wiederholung der symbolischen Kunstform auf dem Boden und unter Berücksichtigung der Bedingungen der modernen Welt. Diese Konstruktion ist aufschlußreich für die Rolle, die Hegel der Kunst in der modernen Welt zugedacht hat. Er ändert den Leistungssinn der Kunst nicht, sondern indiziert auch durch die Kombination von moderner Welt und symbolischer Kunstform die nur „partiale" Bedeutung der Kunst im und für den Staat. Insoweit bleibt er seiner Grundthese treu. Andererseits weiß er aber dieser „partialen" Bedeutung der Kunst in Übereinstimmung mit GOETHE einen Horizont zu eröffnen, der weit über alles hinausführt, was die spätromantisch-deutschtümelnde Tradition und in ihrem Einflußbereich die Hegelianer der Kunst Zutrauen. Im Gegensatz zu den Hegelianern betont Hegel, daß GOETHE im Divan — allenfalls sonst noch in seinen Liedern, weil der Divan das Lied mit dem umfassendsten, wieder „epischen" Inhalt ist — nicht aber im Faust poetisch das Höchste geleistet habe, und er begründet dies ästhetische Urteil sogleich mit dem geistesgeschichtlichen Argument, daß es an dieser Stelle in der und durch die Kunst gelungen sei, den Bourgeois zum Weltbürger, die Privategoismen zum Kulturinteresse zu läutern. Selbstverständlich beabsichtigt Hegel durch solche Überlegungen nicht, seine grundsätzliche, systematisch fixierte Position aufzuheben und etwa die „Zukunft" der Kunst zu behaupten, wenn er den Vergangenheitscharakter begründen will. Es geht ihm im Gegenteil darum, die Bildungsfunktion der Kunst nach ihrer besten Möglichkeit dieser systematischen Konzeption zu integrieren. Sein Lob des Divan bedeutet also, daß er hier eine inhaltlich umfassende Wirkung der Kunst unterstellt. Alles, was in der Geschichte der Weltkulturen schon einmal realisiert worden ist, nicht nur die schöne Antike, das mittlere Alter bis hin zur Wiedergeburt dieser Schönheit, sondern auch Kulturen, die sich auf alternative Mythologien (Weltanschauungen) gründen, werden in und mit Hilfe der Kunst nachvollziehbar. Dennoch steht dieser inhaltlich universalen Funktion eine formal-partiale gegenüber, denn

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Hegel hält in seinen Ästheiikvorlesungen durchgängig die These aufrecht, daß die Art der Vermittlung, die Bildungsweise und selbst ihre kulturell-wirksame institutionelle Einrichtung, „bloß formell" bleibe, ln der Kunst, besonders durch die Poesie, mag also der Wissensanspruch des aufgeklärten Bewußtseins befriedigt werden. Dennoch kann das Sicherungsbedürfnis bzw. der Begründungszwang der „vernunftfordernden Vernunft" nicht eingelöst werden. An diesem Beispiel zeigt sich, daß Hegel selbst (eindeutig trotz der systematischen Restriktion ihrer Bedeutung) der Kunst inhaltlich eine weit größere Freiheit zugesteht als seine Schüler und Nachfolger. Bezeichnenderweise tritt das genannte Werk GOETHES in allen Ästhetiken der Hegelianer in den Hintergrund. Weder ROSENKRANZ noch VISCHER noch HOTHO in seiner GOETHE Begeisterung gehen auf den Divan ein. Sie fügen sich der Tradition des wohlwollenden Totschweigens, für die die Reaktion der Brüder BOISSEREE bezeichnend gewesen sein mag:i° Das Erscheinen des Divan löst allenfalls Erleichterung darüber aus, daß GOETHE nach der Publikation dieses Oeuvres Slemmrich-Köhler: Die Rezeption von Goethes west-östlichem Divan im Umkreis Hegels. In: Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels. Hrsg. V. O. Pöggeler u. A. Gethmann-Siefert. Bonn 1983, 381 ff. ln einer größeren Zur DiPfln-Rezeption vgl. ß.

Studie legt Stemmrich-Köhler die weiteren Implikationen der Diran-Begeisterung Hegels dar, u.a. das interessante Problem, das Hegel auch in seiner Ästhetik erörtert, nämlich die Frage der Bedeutung der dramatischen Personen. Hegel hat hier einige ein wenig unschlüssig aussehende Anmerkungen in seinen Vorlesungen, daß die dramatischen Personen sich über die Alltagswelt hinausheben sollten. Als Beispiel führt Hegel meist Shakespeares Charaktere an. In Goethes Divan findet sich nun eine Alternative zur Darstellung der Heroen und Könige in der antiken Tragödie und im modernen Drama, nämlich die Person des gebildeten Kaufmanns, der den Weltbürger repräsentiert. Die Implikationen dieses Bezugswechsels sind bislang kaum berücksichtigt. Vor allem Hegel selbst bleibt sich in den Asthetikvorlesungen durchweg über die reformerischen wenn nicht revolutionären Implikationen dieses Bezugspunktwechsels unklar. Eigentlich müßte sich eine solche Konzeption bruchlos an seine frühen Überlegungen zur Ausbildung einer Mythologie der Vernunft durch die Kunst anschließen lassen. Durch den „Systembau" scheint Hegel sich an dieser Stelle wirklich die Augen verdunkelt zu haben, so daß er nicht alle Möglichkeiten dieser neuen Dichtung sieht. Die Phase seiner Dican-Begeisterung ist denn auch relativ kurz. In der letzten Vorlesung von 1828/29 rückt die Auseinandersetzung mit dem Divan beispielsweise von der zentralen Stelle am Ende der symbolischen Kunstform wieder weg, und Hegel wiederholt lediglich im dritten Teil seine Begeisterung angesichts der poetischen Vollkommenheit. Diese Begeisterung zeichnet nun den Divan nicht in der hier dargelegten Weise aus, denn die formale Vollendung hatte Hegel auch der niederländischen Malerei bescheinigt, um zugleich anzuzweifeln, ob man diese formal vollendeten Bilder „Werk" im Vollsinn nennen dürfe.

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endlich wieder Zeit und Geist dafür frei hat, an dem deutschen Epos, dem Faust 11, weiterzuarbeiten. Im Zuge der hier konstruierten Kontroverse zwischen Hegel und seinen Schülern, gerade jenen also, die seiner Philosophie zur Wirkung verhelfen wollten, zeigt sich Hegel selbst als Apostat.“ Überdies findet sich in Hegels eigenen Äußerungen jeweils ein vertretbarer Sinn der These vom Ende der Kunst, der die These seiner Schüler von der Zukunft der Kunst diskreditiert. Die Stellung zur eigenen Vergangenheit sollte nicht die — gar kulturpolitisch gestützte — Wiederholung desselben unter geänderten Bedingungen sein, sondern der Neuvollzug mit dem Bewußtsein der historischen Differenz. Da es Hegel grundsätzlich nicht wie seinen Schülern um die Bildung des „deutschen" oder irgendeines Gefühls und Gemüts des Menschen, sondern um die geistesgeschichtliche Relevanz der Kunst überhaupt geht, bleibt dies Bewußtsein für seine Ästhetik konstitutiv. Mithin läßt sich die These vom Ende der Kunst nicht wegleugnen, sondern es muß ihr ein Sinn unterlegt werden, der von der hier umschriebenen Wiederholung der Vergangenheit als Zukunft abweicht. Hier entsteht eine weitere Schwierigkeit. “Hothos Eingriff in Hegels Ästhetik, den er durch die generelle Zuordnung des ästhetischen Lobs („poetisch das Höchste ...") an dieser Stelle vornimmt, darf wohl als der extremste, weil folgenreichste Fall dieser Kontroverse zwischen Hegel und den Hegelianern gelten. Hotho ordnet nämlich das ästhetische Lob, das Hegel einzig dem Divan zollt (eine entsprechende Reaktion auf den Faust ist nicht belegbar), zunächst der Goetheschen Dichtung schlechthin zu, um es dann auf den Faust zuzuspitzen, den er die „absolute philosophische Tragödie" nennt. Ohne jeden Zweifel knüpft er damit an Traditionen an, in denen Hegel in Jena durch seine Gespräche mit Schelling gestanden und mit denen er sich auseinandergesetzt hat. Nur führt Hotho diese Tradition in jener Form in die Ästhetik ein, die sie durch die mannigfachen Brechungen der romantischen Entwicklung gewonnen hat. — Hotho charakterisiert den Faust in Hegels Ästhetik im Sinne der von Schelling vorgeschlagenen und in der Romantik geläufigen Konstruktion des neuen Epos. Bei Schelling heißt es, daß in dieser Kunst das „Individuum den ihm offenbaren Theil der Welt zu einem ganzen bilde und aus dem Stoff seiner Zeit, ihrer Geschichte und ihrer Wissenschaft sich eine Mythologie erschaffe" (G. W. 4. 487). Dieses „Ganze der Geschichte und Bildung seiner Zeit" nennt Schelling den „Mythologischen Stoff" der Moderne (4.488), und schon für ihn erscheint der Faust neben Dantes Göttlicher Komödie als die bislang einzige Realisation dieser Konzeption. Durch die Charakteristik des Faust als „absolute philosophische Tragödie" interpretiert Hotho diese Konzeption im Sinne der systematischen Philosophie Hegels. Im Faust findet sich die „tragisch versuchte Vermittlung des subjektiven Wissens und Strebens des Absoluten, in seinem Wesen und seiner Erscheinung" (Ästhl'^^' 3. 564). — Dieses Interesse am Faust wird von den spätromantisch beeinflußten Hegelschülern allgemein auch Hegel selbst unterstellt. Van Ghert berichtet beispielsweise — Hegels positive Einschätzung voraussetzend — von seiner Rede zum Faust, die er Hegel zugänglich machen werde {Briefe. Bd 3.4).

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In der Druckfassung der Ästhetik erscheint das Diran-Beispiel, das unter Rücksicht der Frage nach einer Zukunft der Kunst ausgezeichnet wird, in Form eines klassizistischen ästhetischen Werturteils. GOETHE, dem es in der Iphigenie gelingt, die griechische Tragödie für die moderne Welt wiederzubeleben, hat „poetisch das Höchste" geleistet. Abgesehen davon, daß dies in Hegels Ästhetikvorlesungen allenfalls SCHILLER, nicht aber GOETHE zuerkannt wird, hat es mit diesem Urteil eine eigentümliche Bewandtnis. Hegel äußert es nämlich nicht anläßlich der Charakteristik der Iphigenie oder sonstiger Dichtungen GOETHES, sondern nur im Blick auf den Divan. Der Grund für diese Äußerung wird in den Vorlesungen eindeutig mitgenannt. Im Divan gelingt die Repräsentation einer fremden — entweder historisch vergangenen oder alternativ-andersartigen — Kultur durch die Kunst. Wenn überhaupt, dann könnte dieser Versuch als Beispiel für ein modernes Epos gelten. Hegel charakterisiert den Divan deswegen immer in einem Sinn, den auch die Hegelianer durchaus übernehmen, ohne aber die geistesgeschichtliche Dimension zu berücksichtigen. Im Divan überbietet GOETHE die Qualität seiner lyrischen Lieder (so in der letzten Ästhetikvorlesung: Jag. Bibi. Ms. 151 a; Heimann 1828/29 Ms. 137; 28. 3. 29). Der Divan ist die Wiederholung jener Epopöen, die die Morgenländer — „darin glückselig" —zu allen Zeiten gehabt haben. Ähnlich wie sich im „schönen Rittertum" nordische Mythologie und harmonische Form vereinen, erscheint auch der Divan als eine Weiterführung der Möglichkeiten des „mittleren Alters" in der Gegenwart. Jene Einflüsse, um die sich die Frühromantik bemüht hatte, werden hier nicht im Sinne der diskursiven Aufarbeitung, sondern in der unmittelbar-lebendigen Vergegenwärtigung durch die Poesie wirksam. Die „Lieder der Völker", die in ihrer umfassenden Bedeutung Epen gewesen sind (die Objektivität einer Weitsicht und -habe, nicht die Spiegelung der Welt in subjektiver Innerlichkeit boten), finden in GOETHES Divan ihre Fortsetzung. Deshalb auch Hegels Urteil: „GOETHE in seinem westöstlichen Divan, nachdem ihn in seinem Alter das Morgenland berührt hat, hat er das Höchste in der Poesie geleistet" (Kehler 1826. Ms. 376; vgl. Äachen 1826. Ms. 191). Im Divan verknüpft sich die „Freiheit des Geistes", das Prinzip der der Moderne mit dem Gefühl zu einer neuen Möglichkeit des Weltvollzuges. Hegel schwächt zwar seine eigene Beurteilung des Divan in der letzten Vorlesung von 1828/29 wieder ab, zumindest in den Vorlesungen von 1826 (nach E. SCHULIN Z. Zt. seiner größten Orientbegeisterung) scheint er aber im Divan ein solches neues Epos der Deutschen gesehen zu haben. Gegen die Romantiker geht es hier nicht um die Wiederholung der germanischen — oder romanischen — Vergangenheit als zukunftseröffnender gegenwärtiger Möglichkeit, sondern um die Wiederholung der „symbolischen Kunstform" auf dem Boden der Moderne. Damit argumentiert Hegel prinzipiell, denn an die Stelle des Prinzips der romantischen Innerlichkeit tritt in diesem Epos

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die vergeistigte „Substantialität". Die Zukunft läge, wäre sie überhaupt möglich, in einem strukturellen Bruch mit der romantischen Kunstform. GOETHES Kosmopolitismus ermöglicht diesen Bruch. Der Divan eröffnet nämlich eine Möglichkeit geschichtlicher Wirkung der Kunst in der Gegenwart, die Hegel mit GOETHE prinzipiell als Vermittlung fremder Kulturen bestimmt, als lebendige und gelebte, damit nachvollziehbare Vermittlung alternativer Lebensformen gegenüber den Erfahrungsmustern des christlich orientierten Abendlandes. Im Gegensatz zum germanischen Purismus VISCHERS kann Hegel in dieser Bemühung GOETHES mehr entdecken als eine Entwicklung des Gefühls. Sein eigenes frühes Postulat einer Mythologie der Vernunft wird von GOETHE realisiert. Hegel wie GOETHE gemeinsam ist dabei — zumindest scheint in diesem einzelnen Fall des Zusammentreffens von Hegel Orientbegeisterung mit einem Kunsterlebnis jener frühe Hegel wiederzuerstehen, der das „älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus" entwarf — der Verzicht auf den Absolutheitsanspruch der christlichen Weltanschauung, den GOETHE durch die Überschreitung der Kulturgrenzen des Abendlandes als selbstverständlich voraussetzt. Ebenso wichtig wird, weil konstitutiv für dieses neue Epos, aber der Verzicht auf eine national zugeschnittene Vergangenheit. Transponiert man diese Überlegung Hegels in VISCHERS Bestimmung des Mittelalters aus den konträren Prinzipien des romanischen und germanischen Geistes, so zeigt sich, daß Hegel diese Differenzierung, die er selbst in seiner Philosophie der Weltgeschichte entwickelt hat, aus guten Gründen nicht in der Weise VISCHERS auf seine begriffliche Erhellung der Geschichte der Kunst übertragen will. Hegel bindet genau umgekehrt die Dimension der orientalisch-morgenländischen Einflüsse, die nach VISCHER die „romanische" Phantasie bestimmen und zum „schönen Rittertum" geführt haben, bewußt in die Grundlagen der eigenen Gegenwartskultur ein. Da für ihn nur hier eine „Neudichtung" entstanden ist, die eine eingehende Erörterung lohnt, sieht Hegel in dieser vergegenwärtigten „Fremdheit" im Eigenen sicher die zukunftsträchtigere Möglichkeit, wenn nicht — wie sich an der Exzeptionalität der Difan-Interpretation vor allem der Vorlesung von 1826 zeigt — die einzig gegenwärtig relevante Möglichkeit der poetischen Wiederholung von Vergangenem und kulturell Fremdem. VISCHER hätte sich wohl nicht träumen lassen, daß ausgerechnet Hegel sich jenen Kosmopolitismus der Kunst zuschulden kommen läßt, der ein ungefestigtes Nationalgefühl indiziert. Ein solcher Verdacht konnte durch HoTHOs Bearbeitung der Ästhetik nicht aufkommen, denn HOTHO hat Hegel gleichsam vorsorglich dadurch vor diesem Verdacht geschützt, daß er Hegels Wertschätzung des West-östlichen Divan auf GOETHES Dichtung allgemein, vor allem auf den Faust übertrug. In der Ästhetik wird der Faust zur „absoluten philosophischen Tragödie" und die Charakteristik des Faust als philosophische

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Tragödie steht für die Einlösung des romantischen Programms eines neuen Epos auf dem Boden und mit Mitteln der Hegelschen Ästhetik. Hegel geht es stattdessen um die aus seinem eigenen frühen Postulat der Mythologie der Vernunft abgeleitete Gegenwartsbedeutung: eine einsichtig, nachvollziehbar vermittelte Mythologie, oder, wie er unter Einbeziehung seiner These, die Mythologie stifte die Kulturen der Welt, sagt, um jene Weltanschauung, die in einem Kulturraum (Volk) bestimmend ist. Auch hier stehen sich gegenüber: die Fixierung auf christliche Mythologie als die restaurative Version der Herrschaft der Mythologie in der Kunst und die Offenheit für alle geschichtlichen Mythologien. Da die Akzeptation der Bedeutung der Mythologie für die Kunst durch die Entscheidung zur Inhaltsästhetik unumgänglich ist, kann es nicht darum gehen, Mythologie zu vermeiden, zu ersetzen, sondern nur, sie „vernünftig" erscheinen zu lassen. Hegel selbst nimmt durch seine Verpflichtung auf den Standpunkt der deutschen Klassik (sc. GOETHES) den späteren Einwand VISCHERS gegen seinen Schüler HOTHO etwa, aber auch gegen M. CARRIERE vorweg, daß die Kunst nur mit dem Sinken ihrer religiösen Interessen steigen könne. Er gibt zugleich die nationalen Interessen dieser religiösen Dimension preis und interpretiert zudem die religiösen Interessen selbst, die Notwendigkeit weltanschaulicher Inhalte, in einer Weise, die der Verpflichtung auf die „vernunftfordernde Vernunft" der Nachaufklärung adäquat bleibt. Die Kunst — darin liegt ihre Gegenwartsbedeutung — kann und soll alles jenes allgemein zugänglich machen, zur Erfahrung stellen, was in geschichtsphilosophischer Reflexion als Stufe der geistigen Entwicklung darstellbar wird. 3.2 Gefühlsbildung versus Geschichtsbewußtsein Hegel hat zwar auch in der Entscheidung geschwankt, ob man den Divan als Beispiel für ein „modernes Epos" gelten lassen könne, und sah letztlich seine These vom Ende der Kunst nicht aufgehoben. Seine Beschränkung der Funktion der Kunst im modernen Staat räumt der Kunst aber auf jeden Fall einen breiteren Spielraum in der modernen Welt ein als die hegelianische Beschränkung der Kunst auf die Gefühlsbildung des deutschen Bourgeois, die mit der These von der Zukunft der Kunst für sich wirbt. Durch diese Bestimmung der Kunst, mit der sich die Hegelianer insgesamt dem Standpunkt der Romantik anschließen, wird die subjektive Innerlichkeit zum Höchsten in Kunst wie Philosophie erreichbaren Standpunkt. Hegels These vom Ende der Kunst löst sich bei den Hegelianern also letztlich durch eine Änderung des Philosophieverständnisses auf, und zwar automatisch.12 12 C. L. Michelet legitimiert diesen Standpunkt explizit in seiner Auseinandersetzung mit Hotho und Vischer. Vgl. C. L. Michelet: Hotho gegen Vischer: Über Metaphysik des Schönen. In: Der Gedanke. 2 (1861), 93 f.

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An die Stelle des geistesgeschichtlichen Interesses an der Kunst tritt die Darstellung ihrer psychologischen Wirkung, die FRIEDRICH THEODOR VISCHER und stärker noch als dieser MORITZ CARRIERE im Sinne eines metaphysischen Systems durchkonstruieren. CARRIERE setzt analog zur individuellen und weltgeschichtlichen Entwicklung drei Epochen der Kunst an, die den Weltaltern des Geistes im Individuum und in der Gesamtgeschichte, nämlich dem Alter der Natur, des Gemüts und des Geistes, entsprechen (vgl. Die Kunst. Bd5. 1). Das Ende der universellen Geistesgeschichte liegt in einem neuen deutschen Reich. Auch für CARRIERE manifestiert sich in Kunst und Wissenschaft das Gefühl der eigenen Nationalität. Es bleibt der „nationale Gedanke an der Arbeit", der schließlich zur politischen Herrschaft Deutschlands in Europa führen muß (Bd 5. 666). Hier degeneriert Hegels geistesgeschichtliche Behandlung der Kunst zum roten Faden einer Abfolge von ästhetischen Exposes zu einzelnen Kunstwerken im Stil von DIDEROTS Salons. Scheinbar hegelgetreu ist nur die Abzweckung der Bewertung auf das Schöne statt auf das Interessante, Charakteristische etc.. Die Kennzeichnung des deutschen Wesens bleibt auch hier — gut 40 Jahre nach Hegels Tod — erhalten. Nur geht CARRIERE davon aus, daß das Charakteristische des germanischen Wesens sich in der Vollendung wieder mit dem Schönen der Antike verknüpft. BACH wie DüRER vertreten z.B. ,4as durch und durch nationale Element, das vor allem nach Wahrheit trachtet, und dem dann aus der harten Kraft des Charakteristischen und Tiefsinnigen die Schönheit hervorbricht" (Bd 5. 31). CARRIERE konstruiert den Sinn der Gegenwartskunst mit Hilfe einer verflachend-psychologisierenden Umdeutung SCHILLERS wie Hegels als Interpolation des Gefühls, Gemüts in das Zeitalter der Wissenschaft. An die Stelle der Erweiterung der Mythologie zur Freiheit des Geistes tritt eine anscheinend im Sinne Hegels vorgebrachte Polemik gegen den Dogmatismus des Katholizismus zugunsten der protestantischen Religionen. Diese (wie die Wissenschaft) werden in einer mittleren Stufe des Geistes, nämlich dem Gefühl und Gemüt, zur Poesie gestaltet. Die mittlere Stufe gilt wegen ihrer Zwischenstellung dann gleichermaßen als die Vermittlung, in der der Geist durch die moderne Poesie wirksam wird. Auch in diesem Versuch erscheint die Zukunft der Kunst als ahistorisches Konstrukt einer begrifflich vorgefertigten Geschichtesdeutung. Damit nicht der Eindruck entsteht, als solle hier die inhaltliche These vom Ende der Kunst gegen die inhaltliche von der Zukunft der Kunst verteidigt werden, sei abschließend ein Hinweis versucht, wie man Hegels These reformulieren kann. Zunächst ging es nur darum zu zeigen, daß die Behauptung von der Zukunft der Kunst nicht automatisch die größere Fortschrittlichkeit für sich beanspruchen darf. Kunst, die sich von den vorgegebenen inhaltlichen Fixierungen des Wahren (des Absoluten) trennt, die ihre religiösen Interessen und — gegen die

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Hegelianer — auch ihre nationalen fahren läßt, wirkt prinzipiell anders, als es die Hegelianer deuten. Durch die notwendige Symbiose von Kunst und Mythologie, wie Hegel sie letztlich in der D/ean-Auseinandersetzung interpretiert, wirkt das „Ideal" orientierungsstiftend. Nur sind solche Orientierungen, sind Neueröffnungen von Erfahrung, „tentativ", nicht automatisch allgemein, allgemein verständlich und -verpflichtend. Bei Anerkennung dieser Einschränkung — der „Partialität" — und unter Absehung von Hegels unhaltbarer Systemzumutung an die Philosophie läßt sich Hegels Kritik an der Funktion der Kunst in der Gesellschaft universalisieren. Kunst darf nicht bestehende Orientierungen illustrieren und verallgemeinern, sondern sie muß solchen ideologischen Fixierungen dadurch kritisch entgegenwirken, daß sie ihre Möglichkeiten zur Neuschöpfung menschlichen Selbst- und Weltverständnisses ausschöpft. Sobald der „Geist" in Religion und Staat keine prinzipiell tragfähigere Sicherung erfährt als in diesen Vorschlägen, müßten die Vorschläge auch nicht aufgrund ihres Vorschlagcharakters und ihrer Vermittlungsweise (der Anschauung) nach Art Hegels abqualifiziert werden. Wie sich der dogmatische Zwang des Systems auf die Bestimmung der Geschichtlichkeit der Kunst bislang ausgewirkt hat, wird in den Hegelkritiken hinlänglich dargestellt. Wie er sich auswirken könnte — nämlich als Verzicht auf das System der Orientierungen, die durch absolutes Wissen gesichert sind — mag sich anhand der Überlegungen Hegels zur Kunst seiner Zeit gezeigt haben. Hier wird als Kritik lediglich der „Kunstgriff" nötig, Hegels Einsichten auf eine geänderte Philosophiekonzeption zu übertragen. Nötig wird dieser Schritt aber immerhin. Denn Hegels Systemkonzeption selbst erscheint in der Gegenwart als ein „Ideal" der Philosophie, das vorrauszusetzen ist — wie VON HUMBOLDT ermutigend sagt: das gegen die Faktizität gefordert werden muß. Zugleich muß aber das Diskrepanzbewußtsein von Faktizität und Ideal erhalten bleiben. Wo nicht das Wissen das geschichtliche Leben des Menschen steuert, sondern die Bemühung um begründete Einsicht, wo die Vernunftforderung als Aufgabe erhalten bleibt, da findet auch die Kunst ihre unverzichtbare Rolle. Ihre Allgemeinheit liegt im Anschauungscharakter, der Status des Wissens, ihre Verwiesenheit auf Begründung — mit Hegel; auf die philosophische Reflexion — liegt im Vorschlagscharakter ihrer Orientierungsstiftungen.

HEINRICH DILLY (STUTTGART)

HEGEL UND SCHINKEL Als Georg Wilhelm Friedrich Hegel im Wintersemester 1828/29 seine Vorlesungen über die Aesihetik erneut vortrug, machte er unter anderen folgende Bemerkung: die meisten Gallerien" erscheinen als ein sinnloses Durcheinander, aus welchem man sich nicht herauszufinden vermag. Das zweckmäßigste für das Studium und den sinnvollen Genuß wird deshalb eine historische Aufstellung seyn. Solch eine Sammlung, geschichtlich geordnet, einzig und unschätzbar in ihrer Art, werden wir bald in der Bildergallerei des hier errichteten königlichen Museums zu bewundern Gelegenheit haben, in welcher nicht nur die äußerliche Geschichte in der Fortbildung des Technischen, sondern der wesentliche Fortgang der inneren Geschichte in ihrem Unterschiede der Schulen, der Gegenstände und deren Auffassung und Behandlungsweise deutlich erkennbar seyn wird."i Diese Marginalie hielt der Bearbeiter und Herausgeber der Vorlesungen über die Aesihetik, HEINRICH GUSTAV HOTHO, für derart wichtig, daß er in einer Fußnote ihr Datum festhielt. Es war der 17. Februar des Jahres 1829, an dem sich Hegel öffentlich in die Diskussion über die Einrichtung eines ersten öffentlichen Museums in Berlin gemischt hat. Sowohl der Zeitpunkt, als auch der Inhalt dieser Überlegungen sind geeignet, die Passage über Hegel und SCHINKEL im Ausstellungskatalog Hegel in Berlin in Zweifel zu ziehen: sicher kannte der Professor der Philosophie den Oberbaurat persönlich, doch recht ungewiß erscheint mir, ob dessen Bauten — wie es im Katalog heißt — nach Hegels Geschmack waren. Und selbst wenn der „strenge Baukörper" des Alten Museums mit seiner „kolossalen Säulenhalle jonischer Ordnung" den Beifall des Gelehrten gefunden haben sollte,^ dann konnte die Zweckbestimmung des Gebäudes wohl schwerlich dessen Zustimmung gewinnen. SCHINKELS präsentative Darstellung der Geschichte der bildenden Kunst widersprach der diskursiven, wie sie Hegel in seinen Kollegs entwickelt hatte. So erscheinen Hegels Auslassungen vom 17. Februar 1829 als ein letztes Plädoyer für ein Museumskonzept, das gegen 1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel's Vorlesungen über die Aesihetik. Hrsg, von Heinrich Gustav Hotho (Asth.^ 3. 102). 2 Hegel in Berlin. Preußische Kulturpolitik und idealistische Ästhetik. Zum 150. Todestag des Philosophen. Hrsg, von Otto Pöggeler. (Ausstellungskatalog) Berlin und Düsseldorf 1981/82. 216.

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SCHINKELS gebaute Kunstgeschichte nicht durchgesetzt werden konnte.^ Offenbar aber boten schon damals Steine die härteren Argumente als Worte, Sätze, Denk- und womöglich auch Mitschriften, wie etwa die aus Hegels Vorlesungen über die Aestheiik. Zur Erhärtung dieser These muß ich im folgenden erstens die Planungs-, Bau- und Einrichtungsgeschichte des Alten Museums in Berlin kurz rekapitulieren, um darin den Stellenwert von Hegels Bemerkungen ausmachen und erläutern zu können. Zweitens muß ich Hegels Aussagen mit denen der Autoren von Denkschriften zur Einrichtung des Museums, insbesondere aber mit der dann erfüllten Planung SCHINKELS vergleichen, um daran zeigen zu können, wie sehr sich das imaginäre Museum Hegels von dem gebauten SCHINKELS unterschied. Während SCHINKEL, unterstützt von der Einrichtungskommission, einen romantisch-ästhetischen Begriff von Kunstgeschichte verwirklicht hat, hielt Hegel es für angebracht, seinen aufklärend-historischen Begriff von der Kunst entgegen zu halten. Drittens möchte ich ein paar Sätze über den Widerspruch zwischen gebauter und geschriebener, zwischen präsentativer und diskursiver Darstellung der Geschichte der bildenden Kunst verlieren. Innerhalb der Bauaufgabe Museum tritt er bis heute immer wieder zu Tage.

I. Schon zwei Jahrzehnte vor Hegels Ruf an die Friedrich-Wilhelms-Universität war in Berlin die Idee, in einem öffentlichen Gebäude das zu zeigen, was man zur bildenden Kunst rechnete, vorgetragen und begrüßt worden. Der Altertumsforscher ALOIS HIRT hatte sie 1797/98 in die Welt der ästhetischen Gemeinschaften Berlins gesetzt. Über die Jahre der französischen Besetzung und über die Monate der Befreiung von der Diktatur NAPOLEONS war HIRTS Vorschlag nicht vergessen worden. Ja, durch den Raub der bekanntesten Kunstwerke, erst recht durch deren triumphale Rückführung nach Berlin, dann durch den demonstrativen Ankauf der Galerie des römischen Aristokraten GIUSTINIANI und der bürgerlichen Sammlung des Kaufmanns SOLLY durch König FRIEDRICH WILHELM III. hatte HIRTS Idee eine materielle Grundlage gefunden und bald darauf auch breite gesellschaftliche Unterstützung gewonnen.

3 Obwohl im folgenden lediglich auf die Situation um 1830 eingegangen werden soll, wäre allerdings auch zu bedenken, ob nicht Hotho mit der Hervorhebung dieser Passage in den Jahren um 1837/38 noch einmal an ein ideales Museumskonzept zu erinnern wünschte.

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In der Zeit, als Hegel in die preußische Residenzstadt an der Spree übersiedelte und unter anderen auch HIRT wissenschaftlich und persönlich schätzen lernte, war auch schon der institutionelle Rahmen und der architektonische Raum der neuen Einrichtung abgesteckt: unter Einbeziehung benachbarter Gebäude sollte der ehemalige Marstall — inzwischen Sitz der beiden Akademien — so umgestaltet werden, daß darin auch originale Kunstwerke, sowie Kopien und Abgüsse der Werke ausgestellt werden könnten, die für die bedeutendsten der Geschichte gehalten wurden. Unter einem Dach sollten Wissenschaftler und Künstler, wenn schon nicht Zusammenarbeiten, so doch einander und auch dem interessierten Publikum begegnen, und so auf breiter, öffentlicher Ebene zur Weiterentwicklung anschaulichen und begrifflichen Denkens angeregt werden. Der Kostenvoranschlag war um 1820 erstellt; mit einigen Umbauten war schon begonnen worden, da hatte KARL FRIEDRICH SCHINKEL im Herbst 1822 eine imponierende Idee. SCHINKEL, der schon zwischen 1815 und 1818 das Sicherheitsbedürfnis der wiedererstarkten Monarchie dadurch architektonisch zur Sprache gebracht hatte, daß er die „kleine Kanonierwache" neben dem Zeughaus zur Neuen Wache „aufs stattliche" vergrößert und so einen städtebaulichen Akzent sondergleichen gesetzt hatte,^ schlug eine noch weiter gehende architekturikonologische Maßnahme vor: er wünschte den nördlich vor dem Schloß gelegenen ehemaligen Lustgarten, der schon im 18. Jahrhundert zum Exerzierplatz degradiert und inzwischen verödet war, zu einem öffentlichen Platzraum umzugestalten. An seiner vierten Seite sollte dieser Platz nicht wie bisher durch Gebäude des internationalen Handels und Verkehrs — den sogenannten Packhof — geschlossen werden, sondern durch ein Bauwerk, das unmißverständlich „Kunst" sagte. Die preußische Monarchie — repräsentiert durch das Schloß — sollte sich wenigstens optisch nicht allein auf die Kirche — gekennzeichnet durch den alten Dom an der Ostseite des Lustgartens —, nicht nur auf das Militär — vergegenwärtigt durch das Zeughaus im Westen —, sondern auch auf die Kunst beziehen. An Stelle des ohnehin zu klein gewordenen Packhofes sollte an der Nordseite des Platzes der Neubau des Museums treten. Diese Maßnahme wurde vom Kronprinzen, dann auch vom König, und schließlich von den Mitgliedern der Museumskommission schnell akzeptiert, ein Vorgang, der zeigt, wie sehr SCHINKELS Entwurf den allgemeinen Vorstellungen vom gebauten Ausdruck des Staates entsprach. SCHINKEL hatte offenbar ein außerordentliches Gespür für die Veränderungen im anschaulich-repräsentativen Denken: war doch der König längst nicht mehr einer der größten Unternehmer innerhalb seines

•* Paul Ortioin Rave: Karl Friedrich Schinkel. Bearbeitet von Eva Börsch-Supan. Zweite stark veränderte Auflage. München 1981. 31.

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Staatsgebietes, so daß man den Zoll- und Handelshof als sichtbares Zeichen dem Amtssitz des Königs gegenüber hätte bewahren müssen. Hatte doch die Kunst auch im preußischen Staat eine bedeutend kompensatorische Rolle gewonnen, wie HERMANN LüBBE gezeigt hat.® Selbstverständlich hatte SCHINKEL die Kosten für die baulichen Veränderungen so veranschlagt, daß die Verlegung des Packhofes und der Neubau des Museums nicht teurer zu stehen kämen als der Umbau des Akademiegebäudes. So brauchte das Projekt nicht an jenem Trauma zu scheitern, das in Preußen seit dem Tode FRIEDRICHS I. nicht mehr berührt werden durfte, — die Finanznot. Ein paar Hindernisse legte jedoch der Vater des Berliner Museumsgedankens dem tatkräftigen Oberbaurat in den Weg: ALOIS ITRT hielt einzelne Bauformen für unangebracht. Die monumentale Rotunde, den kolossalen Portikus und die steile Freitreppe verursachten seiner Ansicht nach nur schwerlich zu bewältigende Konstruktionsprobleme und auch hohe Folgekosten der Materialerhaltung. Der Gelehrte argumentierte vornehmlich technologisch, gab aber auch zu erkennen, daß er der Meinung war, hier werde mehr für den äußeren Rahmen der Kunstwerke, ja für den Selbstzweck des Gebäudes getan, denn für die inzwischen gesammelten Bilder und Statuen. FRIEDRICH WILHELM III. jedoch genehmigte am 24. April 1823 „den von dem Geheimen Ober-Baurath SCHINKEL vorgelegten Plan" mit einer einzigen Einschränkung: „die in der Zeichnung zur Verzierung des Äußeren angedeuteten Basreliefs" sollten „wegbleiben".* HIRTS Bedenken wurden nicht berücksichtigt. Unmittelbar danach wurde mit der Regulierung des Baugeländes begonnen; die notwendigen Fundamentierungsarbeiten wurden eingeleitet; der Grundstein zum Museum konnte am 9. Juli 1825 gelegt und das Richtfest schon am 9. November des folgenden Jahres gefeiert werden. Unterdessen hatte sich ALOIS HIRT auftragsgemäß „im Verlaufe von zwei Sommern angestrengter Arbeit" damit beschäftigt, „die große Masse von Gemälden zu sichten, die Verzeichnisse davon zu entwerfen und nach Klassen zu ordnen."7 Er berichtete dem König darüber und beklagte sich zugleich über die mangelnde Informations- und Kooperationsbereitschaft des Architekten. Im Oktober 1825 konnten sich SCHINKEL und HIRT dann auf eine „historische Aufstellung, welche bei der herrlichen Sammlung das Eigenthümliche ausmacht", grundsätzlich verständigen.* Doch im Frühjahr des ^Hermann Lübbe: Wilhelm von Humboldt und die Museumsgründung 1830. In: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz. 17 (1981), 87-109. * Kabinetsordre vom 24. April 1823 an die Staatsminister Freiherr von Altenstein und Graf von Bülow. In: Aus Schinkels Nachlaß. Reisetagebücher, Briefe und Aphorismen. Mitgetheilt von Alfred Freiherrn von Wolzogen. Bd 3. Berlin 1863, 249 f (Wolzogen). ^Hirt's Bericht an den König vom 15. Mai 1824. Wolzogen, 251. ^Schinkels und Hirls Bericht an den König vom 31. Octobre 1825. Wolzogen, 257.

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folgenden Jahres wurde HIRT erneut brüskiert: für die hohe Spesensumme von 1800 Talern wurde allein der Architekt, nicht aber auch der Gelehrte beauftragt, „nach Paris und London zu reisen und dort von der Einrichtung der Museen ganz genaue Kenntnis, behufs der künftigen Einrichtung" der Berliner Sammlungen zu nehmen.® SCHINKEL trat die Dienstreise an und nutzte sie dazu, sich über den Dekor der ausländischen Museen zu informieren. Obwohl FRIEDRICH WILHELM dann zunächst nicht geneigt war, die Verwendung edlerer Materialien zum Schmucke des Bauwerks zu genehmigen, fand SCHINKEL doch einen Weg, den Bauherrn davon zu überzeugen, daß wenigstens die Fensterbänke aus Marmor geschnitten, die Säulen aus Granit gemeißelt und die Wände im zweiten Geschoß mit dunkelroten Papierbahnen tapeziert werden sollten. Darüber wie die Gemälde gehängt und die Bildwerke aufgestellt werden müßten, hatte sich SCHINKEL in seinem mit einem Antrag verbundenen Reisebericht wohlweislich ausgeschwiegen. Zum Skandal wurde jedoch kurz danach etwas anderes. Für die von HIRT entworfene und vorschnell am Architrav des Museums montierte Inschrift zog sich der Kontrahent SCHINKELS den "begründeten Tadel" der historischphilologischen Klasse der Akademie der Wissenschaften zu.i° Dies bedeutete für den Altertumswissenschaftler den seidenen Faden. HIRT zog sich aus dem Kreis der für die Einrichtung des Museums Verantwortlichen zurück. Bevor aber noch die Akademie ihr endgültiges Urteil gesprochen hatte, waren KARL FRIEDRICH SCHINKEL und GUSTAV FRIEDRICH WAAGEN — der Mitarbeiter HIRTS und Freund Hegels — mit einer neuen Denkschrift über die „Aufgaben der Berliner Galerie" hervorgetreten. Darin stellten sie im August 1828 den „vornehmsten und eigentlichen Hauptzweck" der Sammlungen noch einmal zur Diskussion. Sie erkannten ihn darin, „im Publikum den Sinn für bildende Kunst, als einen der wichtigsten Zweige menschlicher Kultur, wo er noch schlummert zu wecken, wo er schon erwacht ist, ihm würdige Nahrung und Gelegenheit zu immer feinerer Ausbildung zu verschaffen.SCHINKELS und WAAGENS Überlegungen verschoben die Akzente der Debatte über die Funktion des Museums. Die Ausdifferenzierung und Suprematisierung des Bildungsgedankens über den künstlerischen und wissenschaftlichen Zweck des Gebäudes entsprachen wohl den inzwischen gesetzten baulichen Tatsa^ Kabinetsordre an den Staats- und Finanz-Minister von Motz vom 21. März 1826. Wolzogen, 263. 1° Gutachten der historisch-philologischen Klasse der Academie vom 21. December 1827 wegen der Inschrift am Museum. Wolzogen, 281. ^^Schinkel und Waagen über die Aufgaben der Berliner Galerie. Denkschrift von Waagen verfaßt und vermutlich an Altenstein gerichtet. Datiert „Berlin im August 1828". In: Friedrich Stock: Urkunden zur Vorgeschichte des Berliner Museums. Beiheft zum Jahrbuch der preußischen Kunstsammlungen. 51 (1930), 210.

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chen, widersprachen aber den in das Museum gesetzten Hoffnungen der bis dahin noch durch HIRT vertretenen ästhetischen Gemeinschaft. In diese Zeit des Umdenkens fällt die eingangs zitierte Sentenz Hegels. Der Philosoph, der sich früher lediglich privat über die Kunstsammlungen in Berlin und Potsdam geäußert, dabei jedoch darauf geachtet hatte, daß seine Meinung auch öffentliche Ohren fand,i^ hielt es jetzt offenbar für wichtig, an das alte Konzept einer historischen Hängung und Aufstellung zu erinnern. Ob Hegel mit seiner Marginalie zu der Vorlesung vom 17. Februar 1829 auch einen Sitz in der Einrichtungskommission beanspruchte, kann aufgrund fehlender Belege nicht behauptet werden. Welch großer Kenner der europäischen Kunstsammlungen Hegel war, mußte, wenn schon nicht dem Herrscher, so doch dessen Minister bekannt gewesen sein. In der dann seit Mai 1829 tagenden Museumskommission hatte der Philosoph aber weder Sitz noch Stimme. Auch als Außenstehender wurde er offenbar nicht gehört. Dafür wurde der Rat eines anderen Außenseiters befolgt. CARL FRIEDRICH VON RUMOHR, den Hegel immer wieder lediglich als Kunstkenner zitiert hatte, ist zum Paten der Berliner Aufstellung und Hängung geworden, die dann WILHELM VON HUMBOLDT — seit Mai 1829 Vorsitzender der Kommission — nach der Einweihung des Alten Museums im August des Jahres 1830 in seiner bekannten Beschreibung der Präsentationsformen gerechtfertigt hat.

II. Wie schließlich die von dem Auswahl- und Einrichtungsgremium gebilligte Präsentation der Kunstwerke erfahren werden konnte, läßt sich heute noch aufgrund der Skizzen SCHINKELS, anhand des Berichtes von WILHELM VON HUMBOLDT, mit Hilfe der Erinnerungen CARL VON RUMOHRS und einiger zeitgenössischer Kritiker rekonstruieren. Im Oktober 1824 berichtete Hegel in den Briefen an seine Frau über den so freien Zugang zu den Kunstsammlungen in Wien. Er fügte hinzu: Jch werde meinen Bekannten, die Lust haben könnten, Kunstwerke zu sehen, den Rat geben, die Dukaten und Taler, die für alles und jedes, — selbst die Grabstätte Friedrichs des Großen, sondern auch seiner Hunde in Sanssouci erforderlich sind — zusammenzunehmen, die Reisekosten nach Wien damit zu bestreiten und dann hier die herrlichsten Schätze, mehr in der Tat, als sie dermalen in Berlin sehen können — zu sehen. — Lies hiervon einiges meinem so lieben, werten Freunde Geheimen Rat Schulze vor, — eben daß er recht meinem Dank daraus ersehe für das, was mir durch sein wohlwollendes, herzliches Interesse alles Liebes und Gutes geworden..{Briefe. Bd 3. 72). 12

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Die gesonderte Aufstellung der Skulpturen und die eigene Hängung der Gemälde hatte SCHINKEL — wie damals allgemein üblich — von vornherein beabsichtigt und durch die Zweigeschossigkeit des Bauwerks deutlich gemacht. Doch entgegen der ursprünglichen Absicht, das Sockelgeschoß als Warenlager zu vermieten und damit einen Teil der Folgekosten des Neubaus abzufangen, sollte dieses dann ebenfalls museal genutzt werden. Die Kommission unter WILHELM VON HUMBOLDT entschied, hier die Abteilungen der Münzen, der Medaillen und der Kleinkunstwerke unterzubringen. Die um eine klare Unterscheidung zwischen Architektur, Skulptur und Malerei bemühte Sprache des Gebäudes wurde somit untergraben. Während Kunsttheoretiker, wie etwa Hegel, Münzen, Elfenbeine, Miniaturen und andere Kleinkunstwerke diskursiv in die drei genannten Kunstgattungen einbezogen, legten die Pragmatiker hier präsentativ den Grundstein für eine weitere Gattung: das Kunstgewerbe. ALOIS RIEGL sollte sie dann gegen Ende des 19. Jahrhunderts sehr anschaulich den „vierten Trakt", ja den „Hintertrakt" der Kunstgeschichtsschreibung nennen. Auch innerhalb der von den architektonischen Formen ermöglichten drei Abteilungen wurden dann noch Maßnahmen getroffen, die mit Hegels Vorlesungen über die Aeslhetik nicht in Einklang gebracht werden können. So betrachtete die Kommission die ägyptischen Altertümer nicht als eine notwendige Entwicklungsstufe der bildenden Kunst. Aus dem Kunstmuseum wurden sie ins Schloß Monbijou verbannt. So wurde auch das komplexe Problem künstlerischer Originalität durch die Unterscheidung zwischen Originalen und Abgüssen zu Gunsten des Singularitätsgedankens verschoben. Und dadurch, daß man — wie auch von SCHINKEL schon vorgesehen — den Kuppelraum mit Bildwerken aus den Sammlungsbeständen bestückte, beraubte man die im ersten Geschoß erfahrbare Geschichte der Plastik um wichtige Marksteine. Die größten Schwierigkeiten bereitete jedoch die Visualisation der Geschichte der Malerei. Ihre Historie erschien nämlich mit den Gemälden aus Alois Riegl: Historische Grammatik der bildenden Künste. Aus dem Nachlaß hrsg. von Karl Maria Swobodaund Otto Pacht. Graz und Köln 1966. 207. — Etwa 30 Jahre nach Riegl und etwa 100 Jahre nach Eröffnung des Alten Museums notierte Aby M. Warburg in sein Notizbuch noch deutlicher und durchaus in Hegel'schem Geiste: „Kunstgewerbliche Schöpfungen haben ja das Unglück, als Erzeugnisse aus der niederen Region des hantierenden Menschen, im besten Falle als technisch interessante Schöpfungen im Souterrain des Museums zur Geschichte der menschlichen Geistigkeit abgesondert zu werden: wer käme so leicht auf die Idee, so kostbare Prunkstücke als nervöse Auffangsorgane des zeitgenössischen inneren und äußeren Lebens nachzuempfinden?" Vgl. Ernst H. Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt am Main 1981. 355.

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den Sammlungen SOLLY und GIUSTINIANI allein nicht darstellbar. Man mußte den König bitten, aus dessen Schlössern repräsentative Werke wählen und dann ins Museum am Lustgarten überführen zu dürfen. Darüberhinaus wußte offenbar keines der Kommissionsmitglieder, wie man die Geschichte der Malerei auf dem gegebenen Grundriß räumlich ausbreiten sollte. An welcher Stelle konnte man die Abfolge einsetzen lassen? Wo wäre ihr Ende zu finden? Wie sollte es möglich sein, in den großen Sälen ohne Ober-, jedoch mit Seitenlicht die Verzweigungen in verschiedene epochale, regionale und nationale Schulen sichtbar zu machen? Das erste Problem wurde aufgrund der Großzügigkeit FRIEDRICH WILHELMS 111. schnell gelöst. Mehr als 260 Gemälde stellte er dem Museum zur Verfügung ohne daß VON ALTENSTEINS Befürchtungen eingetreten wären. Die Entfernung der Bilder riß nämlich keine allzu großen Löcher in die edel tapezierten Wände der ohnehin nicht voll genutzten Residenzen in Berlin und Potsdam. Auch wurde man erst nach Eröffnung des Museums darauf aufmerksam, daß ein Bereich der Malerei ganz außer Acht geblieben war. Während man nämlich jüngst geschaffene Bildhauerarbeiten durchaus auszustellen und somit in die Geschichte zu integrieren gedachte, war niemand darauf gekommen, auch aktuelle Gemälde, die das Königshaus eifrig sammelte, für das Museum in Anspruch zu nehmen.i'* Der zweite Fragenkomplex konnte aber auch von der Einrichtungskommission nicht gelöst werden. Nicht ohne Genugtuung berichtete nämlich zwei Jahre nach der Eröffnung des Alten Museums CARL FRIEDRICH VON RUMOHR, daß ihn im Jahre 1829 »ein Schreiben von Sr. Excellenz dem Staatsminister VON HUMBOLDT" erreicht habe, »in welchem die Meldung enthalten war, daß S.K.H. der Kronprinz wünschen, die von S.M. dem Könige ernannte Commission zur Auswahl und Anordnung der Gemälde u. s. f. möge" zu ihm »sich in Beziehung stellen." Mit derselben Post seien ihm damals die Protokolle zugegangen, auf Grund derer er schnell festgestellt habe, daß er »wohl mit Einzelnem, aber nicht mit dem Ganzen einverstanden" sein konnte. VON RUMOHR habe daraufhin die Kommission daran erinnert, daß es ja bestimmte Galerien gäbe, in denen »man nur eben darauf gesehen" habe, »ein jedes Bild für sich selbst in seinen besten Vortheil zu setzen." Diese Museen Schon kurz nach der Eröffnung des Museums am Lustgarten hat sich eine Gesellschaft von Künstlern, Gelehrten und Kaufleuten gebildet, die im Museum die nationale deutsche Kunst und auch die modernsten Werke vermißten. Ihr Sprecher war der Maler Karl Wilhelm Wach. Seine Eingaben wurden jedoch abschlägig beschieden. Vgl. Heinrich Dilly: Kunstgeschichte als Institution. Studien zur Geschichte einer Disziplin. Frankfurt am Main 1979. 219 f. ^^Carl Friedrich von Rumohr: Drey Reisen nach Italien. Leipzig 1832. 278; zum Folgenden vgl. 285, 289, 283, 290.

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wirkten wie „Bilderbuden". Andere wieder, in denen man nach historischen Gesichtspunkten gehängt habe, ermüdeten, ja erdrückten den Besucher durch die „unaufhörliche Reduplication des Gleichartigen" sowohl in „der Manier", als auch „in den Gegenständen." Daher sollte man in Berlin sich die Aufgabe stellen, „den ästhetischen Zweck mit dem kunsthistorischen und systematischen zu verbinden." Allerdings sei diese Verknüpfung aufgrund der, seiner Ansicht nach, verfehlten Ankaufspolitik HIRTS nur schwerlich zu erreichen. Dennoch unterwarf sich VON RUMOHR den Gegebenheiten und machte den Vorschlag, „die deutsche und italienische Sammlung auf dem Puncte sich begegnen zu lassen, wo sie einander entgegengekommen sind, oder auf eine für die Kunstentwickelung entscheidende Weise sich berührt haben." Demnach sollen die Gemälde von JAN und HUBERT VAN EYCK, von ANTONELLO DA MESSINA und der venezianischen Malerfamilie BELLINI im Nordflügel des Neubaus eine Art Focus bilden, von wo aus die Bilder der italienischen Schulen nach Osten und die der deutschen und niederländischen nach Westen hin ausgebreitet werden sollten. Auch für die Hängung im einzelnen gab VON RUMOHR noch einige Tips. So sprach er sich dafür aus, Portraits über Genrebilder und über Landschaften zu hängen, Stilleben aber möglichst zu isolieren. Und er legte der Kommission nahe, die Gemälde des 17. und 18. Jahrhunderts nicht mehr nach Schulen zu trennen, sondern „nach der Gelegenheit neben einander hinzustellen", — was auch immer dies heißen mochte. Wenn VON RUMOHR, und dann auch die Einrichtungskommission damit auch der Wechselwirkung zwischen nord- und südeuropäischer malerischer Praxis nicht voll Rechnung getragen haben, so konnte der Museumsbesucher in Teilbereichen eine chronologische Folge ziemlich sicher erkennen. Die Symmetrie des Gebäudes unterstützte immerhin während der Betrachtung der Leinwände im einen Flügel die Erinnerung an die Werke im anderen. Daß aber VON RUMOHR und die von W. VON HUMBOLDT geleitete Einrichtungskommission dennoch nicht nach historischen Gesichtspunkten, sondern nach romantisch-ästhetischen Kriterien vorgegangen sind, belegen folgende Tatsachen. Erstens fehlten Beispiele aus den Epochen vor dem Quattrocento und aus der Moderne. Zweitens wurde außer der eben angedeuteten noch eine andere Geschichte der Malerei präsentiert. VON RUMOHR hatte nämlich empfohlen, die sechs südlich der nördlichen Galerie zum Hof hin gelegenen Räume mit Gemälden von CRIVELLI, den VIVARINI und mit „ähnlichen Abnormitäten" zu bestücken. Er meinte damit Werke, die ALOIS HIRT erworben hatte, und durch die — wie er es formulierte — die Berliner Sammlung zu einem „Stapelplatz und Mittelpunct alter Trockenheiten (vieilles croütes) und moderner Entartungen" geworden seien. Diese Abteilung wurde dann euphemistisch als die der „kunsthistorischen Merkwürigkeiten" bezeichnet. Sie war das Gruselkabinett der romantischen Ästheten die den „Freunden

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classischer Bildung" zu zeigen gedachten, was sie gefördert hatten, als sie den Hofrat HIRT vor der Kritik etwa der beiden SCHLEGEL geschützt hatten. Unter „sehr leichten Abänderungen" war die Kommission VON RUMOHRS Vorschlägen gefolgt. VON HUMBOLDT hatte dem Gelehrten auf die „verbindlichste Weise" gedankt, und der König hatte „durch ein sehr gnädiges Handschreiben Höchstseine Zufriedenheit und Anerkennung" ausgedrückt und ihm nach friderizianischer Gepflogenheit „eine kostbare Tabatiere" geschenkt. Der Bericht des Ministers Wilhelm Freiherrn von Humboldt an den König vom 21. August 1830 bestätigt diese Anordnung der Kunstwerke. Für eine Rekonstruktion der Präsentationsformen geht aus ihm noch hervor, daß die Rahmen der Gemälde nach Entwürfen von SCHINKEL gefertigt worden sind. Er belegt zudem, daß man offenbar erst in letzter Minute an die Einrichtung eines Kupferstichkabinetts gedacht hat, das dann in einem der Räume des zweiten Geschosses untergebracht wurde. Wohin man mit der umfangreichen Sammlung der Gipsabgüsse ziehen sollte, war nicht klar; VON HUMBOLDT sprach sich entschieden gegen deren Aufstellung im Museum aus, konnte dies aber dann doch nicht verhindern, zumal das erste Stockwerk sehr viel mehr Raum bot, als man für die bis dahin gesammelten antiken Bildwerke benötigte. VON HUMBOLDTS Bericht bekräftigte aber auch, daß vor allem eines Desiderat geblieben war: wollte man nämlich den Anspruch aufrecht erhalten, die bildende Kunst in einer „systematischen und in allen ihren einzelnen Theilen übereinstimmenderen Weise" zu zeigen, „als dies bei den meisten anderen großen Sammlungen" der Fall sei, dann mußte man eine ganze Reihe von Gemälden und Bildwerken erst erwerben.i* Zieht man die vielen Aufteilungen, insbesondere aber die Zweiteilung der Gemäldegalerie in eine repräsentative und in eine Abteilung „von an sich seltenen und kostbaren Bildern, bei welchen aber das historische und antiquarische Interesse zu einseitig vorwaltet", in Betracht,i^ dann stellte das am 3. August 1830 eröffnete Museum am Lustgarten keineswegs jenes homogene Gebilde wissenschaftlichen und künstlerischen Geistes dar, als das es auch heute noch in den Arbeiten über KARL FRIEDRICH SCHINKEL und in den Geschichten der öffentlichen Museen gerühmt wird. Aber auch im Jahre 1830 scheint die Eröffnung des Berliner Museums nicht zum Ereignis, ja nicht einmal zu einem Berliner Ereignis geworden zu sein. Der Korrespondent des Kunstblattes berichtete zwar, daß „die Kunstausstellung und das neue Museum dem Publicum" geöffnet worden seien, und daß „hier die neue Kunst, dort die Kunst der früheren Jahrhunderte den begierigen Blicken in

Bericht des Ministers Wilhelm Freiherrn von Humboldt an den König vom 21. August 1830. Wolzogen, 301. I’’ Wolzogen, 306.

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großer Fülle und Schönheit" sich eröffneten.i® Er vergaß aber über dem Schwärmen für das innige Verhältnis zwischen dem Volk und FRIEDRICH WILHELM III. vollkommen, über die neue Institution gegenüber dem Schlosse überhaupt Näheres mitzuteilen. Auch das bisweilen in ästhetischen Fragen sehr viel entschiedenere Morgenblali für die gebildeten Stände ließ seine Leser lediglich so viel wissen: „Von Berlin selbst ist wenig zu schreiben, da Alles, was geistig lebte, im Gedanken nach Paris flog. Zufälligerweise trafen die ersten Nachrichten von dort am Geburtstage unseres Monarchen hier ein. Sie konnten das frohe Fest nicht stören, erhöhten vielmehr die Freude, einen König zu besitzen, dessen angestammter Gerechtigkeitssinn uns die sicherste Bürgschaft dafür ist, daß Scenen, wie die Pariser, nie bei uns eintreten werden. Die Feierlichkeiten des 3. August nehmen mit jedem Jahre zu, indem die öffentlichen Vergnügungsorte nicht die Gelegenheit vorübergehen lassen, durch besondere Veranstaltungen Besucher herbeizulocken. Daß von Obrigkeitswegen etwas geschähe, liegt nicht im Sinn unsers Staats, und die Freude macht sich so selten laut."i® Wenn auch die Nachrichten über die Juli-Revolution den 60. Geburtstag FRIEDRICH WILHELMS und die auf eben diesen Tag gelegte Einweihung des Museums überschatteten, so scheint selbst nach dem Sinken der öffentlichen Aufmerksamkeit für die Ereignisse in Frankreich die Freude über den Berliner Neubau nicht so groß gewesen zu sein, wie man es auf späteren Jubiläen wahrmachen wollte, indem man den guten Willen der Planer rühmte, das Resultat jedoch nie mit diesem verglich. Ihrem Ärger über die „Bretterverschläge", über das „Baumeln" der Bilder vor „rot geblümten Tapeten", über die unerträgliche Akustik und die unangenehm berührende Enge in den „Behältnissen", wie sie SCHINKELS Kabinette nannten, sowie über die überall einseitige Beleuchtung der Gemälde machten noch zwei Jahre später Leipziger Kunstfreunde in einer anonym erschienenen Broschüre Luft.^o Auch sie vermochten offenbar das ursprünglich intendierte System einer neuen präsentativen Kunstgeschichte in SCHINKELS Museum nicht zu erkennen. Georg Friedrich Wilhelm Hegel hat sich zu diesen Aufteilungen und Anordnungen nicht geäußert. Trotz der zeitraubenden Ehren des Rektorats, das er damals innegehabt hat, wird er es nicht versäumt haben, das Museum L® Kunstblatt. Beilage zum Morgenblatt. 1830, 397. Morgenblatt für die gebildeten Stände. 1830, 219. 20 Des Herrn Directors Dr. Waagen Bilder-Taufe und Aufstellung der Gemälde im Kgl. Museum zu Berlin. Leipzig 1832. 6. — Die beiden anderen, bisher publizierten Kommentare zum Alten Museum in Berlin aus der Feder Immermanns und Spikers bestätigen lediglich die Intentionen der Kommission bzw. das Resultat der Arbeiten. Vgl. Karl Friedrich Schinkel 1781-1841. Katalog der Ausstellung im Alten Museum vom 23. Oktober 1980 bis 29. März 1981. Berlin 1980,144.

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zu besuchen, wenn es nicht sogar zu seinen Pflichten zählte, an der Eröffnung teilzunehmen. Sein Schweigen ist ein weiteres Indiz dafür, daß das Museum die Erwartungen nicht erfüllt hat, die auch er in diese Einrichtung gesetzt hatte. Denn bis in den September 1830 galt, was MARIE HEGEL über „ihren Hegel" 1829 geschrieben hatte: „wo etwas Schönes zu hören und zu sehen ist, muß er dabei sein.'^i Womöglich hatte er tatsächlich nicht genügend Muße, um die nunmehr öffentlich zugänglichen Werke studierend zu genießen. Diese dürften ihn interessiert haben, nicht aber der architektonische Rahmen und die mit dem Bau dieses Museums aufkommende Debatte über einen der Kunst offenbar notwendigen Rahmen: die neue Aura, die der Ausstellungsort dem jeweiligen Werke verleiht. Die Einrichtung und die Architektur des Alten Museums dürften ihn vielleicht an einen anderen Ästheten und Kollegen erinnert haben: an KARL WILHELM FERDINAND SOLGER, den übrigens auch SCHINKEL ZU seinen Freunden gezählt hatte. In den Vier Gesprächen über das Schöne und die Kunst, die SOLGER 1815 als das Werk publiziert hatte, an dem ihm am meisten gelegen war, wurden die Malerei und die Bildhauerei theoretisch als die beiden „körperlichen Künste" sehr viel enger miteinander verknüpft, als etwa in Hegels Ästhetik.22 Die Ärchitektur, die von SOLGER in einem dialektischen Verhältnis zur Malerei und zur Plastik als Drittes betrachtet wurde, bildete den Erfahrungsraum, in dem die beiden körperlichen Künste als Zeichen der Natur — so die Bildhauerei — und als Signatur der Freiheit — so die Malerei — „stattfinden" konnten. In SOLGERS Erwin hätte Hegel auch Stichworte und Metaphern finden können, wenn er nach verbalen Änalogien zur Präsentation der Skulpturen vor freistehenden Säulen oder zur seitlichen Lichtführung in den Kabinetten der Gemäldegalerie gesucht hätte. Hier war durchaus von „Leibern" und von der „vollkommenen Rundung der Gestalten" die Rede, wenn über die Bildhauerei im allgemeinen gesprochen wurde. Und im Zusammenhang mit Gemälden waren SOLGER Formulierungen willkommen, wie etwa, daß auf den Bildern Körper „im Lichte schwimmen", oder daß diese sich auf der Seele abbildeten, wie „das Licht sie zugetragen" habe. Äuch in den kurzen Streiflichtern, die SOLGER auf die Ärchitektur wirft, finden sich Stellen, die sich sehr viel leichter auf SCHINKELS Gebäude und Entwürfe übertragen lassen als etwa die Passagen Hegels: „Wer die Säulenbündel altdeutscher Kirchen, und die himmlisch hoch sich wölbenden Zweige, in welche sie auseinander treiben, recht lebendig anschaut, dem wird das Sprießen und Drängen nach oben und

21 Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen. 396. ^^Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Erwin. Vier Gespräche über das Schöne und die Kunst. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1907. München 1970. 266.

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das pflanzenartige Wachstum nicht verborgen bleiben. In der jonischen Säule dagegen, zeigt sich am lebendigsten die üppige und weiche Fülle, der man mit dem Auge die darunter verschlossene Lebenswärme anzufühlen glaubt. Darum eben bestimmt also das schöne Bauwerk so ganz unser Gemüt und setzt dasselbe in eine durchaus eigentümliche Verfassung, weil das Gemüt selbst nach seinen allgemeinen Gesetzen, in die gegenwärtige, aus sich selbst treibende Gestaltung mit aufgeht."^3 Und schließlich: im Freundeskreis von SOLGER wurde in eben dem Tone über bestimmte Kunstwerke und Kunstkreise gesprochen, den auch VON RUMOHR angeschlagen hatte, wenn etwa FRIEDRICH VON RAUMER sich über die „albern gewordene Rumpelkammer" Byzanz ausließ,^« oder wenn etwa SOLGER selbst, wie folgt, über einen Besuch der Gemäldegalerien in München und in Schleißheim äußerte: „Einige Bilder von VANDYCK und einige einfache sehr ausgezeichnete Darstellungen von RUBENS ausgenommen, bin ich vor allen übrigen vorbeigegangen, ohne daß Auge und Sinn gefesselt worden, ja von nicht wenigen ward es zurückgestoßen. So wird meine schon früher gefaßte, hier bestätigte Ansicht von RUBENS sehr ketzerisch erscheinen: ja er ist ein gewaltiger Mensch, voll der mannigfaltigsten Gedanken, der höchsten und kühnsten Ausführung; aber wenn ich auch leichter als man soll, den häufigen Mangel an Geschmack übersehen will, so mag ich doch von aller Kunst nichts wissen, sobald das Kunstwerk nicht schön ist. RUBENS geschundener Marsyas ist gräßlich, sein besoffener Silen ekelhaft, sein hochgerühmter bethlehemischer Kindermord eines der widerwärtigsten und abscheulichsten Bilder in der Welt."35 In derartigen Geschmacksbekenntnissen romantisch-ästhetischer Herkunft lagen die Hindernisse für eine historisch orientierte Präsentation der zusammengetragenen Kunstwerke. Wohl war es in der Kürze der Zeit — und an der mangelnden Zeit für Reflexion mag vieles gelegen haben — gelungen, innerhalb der einzelnen Abteilungen chronologische Ordnungen herzustellen. Diese aber waren von einer Kunstgeschichte ebenso weit entfernt, wie die Chronologie von der Geschichte.

III. Während der weiteren Lektüre der erhaltenene Akten, Berichte und Kommentare zur Eröffnung des Alten Museums am Lustgarten wird wohl unter anderem auch darauf zu achten sein, ob schon damals eine Sentenz die Runde 23A.a.O. 271. Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Solger's nachgelassene Schriften und Briefwechsel. Hrsg, von Ludwig Tieck und Friedrich von Raumer. Leipzig 1826. Bd 1. 471. 25A.a.O. 448/9.

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gemacht hat, die heute immer wieder in derartigen Fällen der Enttäuschung geäußert wird. Erfüllt nämlich ein Museumsgebäude die historischen Wünsche nicht, dann trösten sich die Kunsthistoriker damit, daß sie das Bauwerk kurzerhand zum Kunstwerk für sich, jedoch nicht für die Werke erklären. Beides brauchte sich nicht zu widersprechen. Doch bleibt es vorerst ein Rätsel, weshalb gerade zu der Zeit, in der für eine Geschichte der Kunst eigens Räume nicht nur entworfen — wie etwa zur Zeit der Großen Revolution — sondern tatsächlich auch gebaut worden sind, die von WINCKELMANN bis Hegel in der Weltgeschichte verräumlichte Geschichte der bildenden Kunst wieder auf die Fläche zurückverbrannt wurde. Die Lösung des Rätsels wird wohl im Bereich politischer Zug- und Sachzwänge, aber auch in den tiefen Gräben ideeller Mißverständnisse zu suchen sein. In der Folgezeit — und auch schon am Alten Museum in Berlin — hat man sich dann zunächst damit beholfen, daß man den universalhistorischen Anspruch in eigens geschaffenen Fresken an den wettergeschützten Wänden des Gebäudes festhielt. Mit zumeist historisierenden Reliefs aus der Künstlergeschichte meinte man später den Anspruch des Historischen an den Kunstmuseen aufrecht erhalten zu können. Zur Zeit der von den Künstlern, aber auch von der allgemeinen Geschichte abstrahierenden Stilgeschichte wurde dann auf derartige Hinweise verzichtet. In weißgetünchten, grauoder oliv-bespannten Räumen reihte man Bilder an Bilder, Skulpturen neben Skulpturen und entsprach so der kategorisierenden Sprache der Gelehrten. Für kurze Jahrzehnte kamen gebaute und geschriebene Kunstgeschichte einander entgegen. Heute jedoch, wo die Kunstgeschichtsschreibung die Distanz zwischen den einzelnen Bildern, Bildwerken und auch architektonischen Entwürfen immer feiner, somit aber auch immer weiter zu ermessen gelernt hat, tut die gebaute Geschichte der Kunst so, als ließe sich die Kunst in den Werken finden und eben nicht in den weiten Räumen der Weltgeschichte, um nicht zu sagen; in den engen Kabinetten einer eurozentrisch geprägten Menschheitsgeschichte.

WERNER BUSCH (BOCHUM)

WILHELM VON KAULBACH — PEINTRE PHILOSOPHE UND MODERN PAINTER Zu Kaulbachs Weltgeschichtszyklus im Berliner Neuen Museum Wandbilder im Obergeschoß des Treppenhauses des Berliner Neuen Museums gehören zu den großen Freskounternehmungen des 19. Jahrhunderts. Die Zeitgenossen haben sie je nach Standpunkt bewundert oder kritisiert, in jedem Falle aber haben sie sich intensiv mit den Bildern und ihrer Konzeption auseinandergesetzt. Uns ist derartige Kunst ausgesprochen fremd geworden, es fehlt uns vollkommen der Schlüssel zu ihrem Verständnis. Gemeinhin pflegen wir sie abzutun, indem wir ihr hohles Pathos vorwerfen. Andererseits hat in der deutschen Kunstgeschichte die Kunst des deutschen 19. Jahrhunderts durchaus Renaissance. Die reichlich vorhandenen Primärquellen werden mit zweierlei Zielsetzung durchforstet. Von positivistischem Standpunkt aus wird ein Bild der deutschen Kunstentwicklung entworfen; KAULBACH bekommt seinen Platz in der Geschichte der Münchener Kunst und in der Geschichte der Historienmalerei, er wird zwischen CORNELIUS und PILOTY verankert, in ein Verhältnis gesetzt zur Düsseldorfer Malerschule. Von historisch-kritischem Standpunkt aus werden die restaurativen Tendenzen einer derartigen historischen Geschichtsmalerei hervorgehoben. Das eine Mal interessiert mehr die Form, das andere Mal mehr der Inhalt, beide Male wird die Darstellung mit einer Flut von häufig genug identischem historisch-faktischen Material gepolstert. Was in beiden Fällen verabsäumt wird, ist eine Analyse der Struktur dieser Werke. Es wird nicht versucht darzustellen, in welcher Form in der Struktur der Fresken geschichtliche Erfahrung aufgehoben ist, inwieweit sie in ihrer Erscheinung etwas vom Kunstproblem ihrer Zeit preisgeben. Um diesem Problem auf die Spur zu kommen, wollen wir uns hier allein einer scheinbar gänzlich randständigen Frage zuwenden. Wir möchten klären, in welchem Verhältnis Rahmen und Bild bei KAULBACHS Fresken zueinander stehen, oder genauer, wie sich die sechs Hauptbilder zu den sie rahmenden dekorativen Nebenszenen, insbesondere zu dem die gesamten Fresken fortlaufend überfangenden arabesken Kinderfries verhalten. Zu unserer Frage sehen wir uns durch die zeitgenössische positive Kritik des KAULBACHschen Zyklus gedrängt. Man stellt schnell fest, daß diese positive Kritik fast ausschließlich von direkten oder indirekten Hegelschülern stammt. KAULBACHS

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Wir verzichten, um unser Argument zuspitzen zu können, ganz bewußt im folgenden auf viererlei: weder soll das höchst komplexe Progamm der KAULBACHSchen Bilder in extenso vorgestellt werden, noch soll eine Darstellung des KAULBACHSchen Geschichtsbegriffes und seine Ableitung versucht werden (wir vermuten vorläufig in KAULBACHS Denken eine gewisse Synthese aus Gedanken von FRIEDRICH THEODOR VISCHER und MORIZ CARRIERE), noch auch sollen die KAULBACHschen Bilder kunsthistorisch im einzelnen analysiert werden, und schießlich soll auch nicht der tagespolitische Bezug dieser Bilder aufgezeigt werden, der sich besonders am letzten Bild des Zyklus, der Darstellung des Reformationszeitalters, nachweisen ließe und die preußische Religionspolitik nach Verabschiedung der Verfassung von 1850 zu reflektieren hätte. Primär wollen wir uns auf MAX SCHASLERS Abhandlung Wandgemälde Wilhelm von Kaulbachs im Treppenhaus des Neuen Museums zu Berlin (Berlin 1854) stützen. SCHASLERS wenig später erschienene Aufsätze in der Zeitschrift Die Dioskuren zum Problem der Historienmalerei in der Gegenwart verstärken und klären die Argumentation der früheren Abhandlung, sie sind hier mit heranzuziehen. 1 Von KAULBACH stammt die Bemerkung: „Geschichte müssen wir malen, Geschichte ist die Religion unserer Zeit, Geschichte allein ist zeitgemäß"; zu Recht hat ein Sammelband zum Historismus den letzten Teil dieses Satzes zu seinem Titel gemacht.^ Kein Zweifel, KAULBACH meint diesen Satz stolz positiv: Thema der Zeit ist die Geschichte, die von der sie prüfenden Philosophie ihren höheren Sinn empfängt. Doch man kann den Satz auch als Bankrotterklärung lesen: die Kunst der Gegenwart hat kein Thema, ihr bleibt als Surrogat die Geschichte. Behauptet sei vorab, daß KAULBACH diese Dimension seiner Bemerkung wohl bewußt gewesen ist, bewußter vielleicht als seinen Apologeten, den Hegelschülern, so bewußt vielleicht wie Hegel selbst. Dieses Bewußtsein macht die romantische, sprich moderne Tendenz des akademischen Klassizisten KAULBACH aus.

1 S. vor allem Max Schasler: Über Idealismus und Realismus in der Historienmalerei. Eine Parallele zwischen M. v. Schwinds „Kaiser Rudolph, der gen Speyer zum Sterben reitet" und Ad. Menzels „Friedrichs II. und Josephs II. Zusammenkunft in Neisse". In: Die Dioskuren. 3, 40/41, 15. August/1. September 1858; ders.. Was tut der deutschen Historienmalerei not? Randglossen zu den Protokollen der siebten Hauptversammlung der „Verbindung für historische Kunst". In: Die Dioskuren. 7, 3,19. Januar 1862 und 7, 3, 6. April 1862. 2 A. Teichlein: Zur Charakteristik Wilhelm von Kaulbachs. In: Zeitschrift für Bildende Kunst. 11 (1876), 264; „Geschichte allein ist zeitgemäß“. Historismus in Deutschland. Hrsg, von M. Brix und M. Steinhäuser. Lahn/Gießen 1978.

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An den Berliner Museumsfresken hat KAULBACH mit Gehilfen von 1847 bis 1865 gemalt. Die Entstehungsgeschichte weist jedoch sehr viel weiter zurück. Die Vertragsverhandlungen mit FRIEDRICH WILHELM IV. fanden 1842/43 statt, doch hatte KAULBACH schon 1835 mit Kronprinz MAX VON BAYERN über einen Weltgeschichtszyklus gesprochen. Bei zweien der sechs Berliner Bilder handelt es sich um Wiederholungen. Die Hunnenschlachi wurde im Karton 1834 vollendet und in den folgenden Jahren in Grisaille, genauer in Sepia, für den Grafen RACZYNSKI ausgeführt, das Bild langte 1837 in Berlin an. Ab 1838 liegen erste Detailzeichnungen zur Zerstörung Jerusalems vor, 1841 gab LUDWIG I. die Ölfassung in Auftrag, die 1847 vollendet war. Das riesige Bild bildete dann das Zentrum, den auch gedanklichen Kern der in den folgenden Jahren errichteten Neuen Pinakothek, deren Außenwände KAULBACH bis 1853 mit großen Fresken überzog; es ist darauf zurückzukommen. MAX SCHASLERS Analyse der Berliner Fresken, die 1854, also bereits zur Halbzeit des großen Unternehmens, nach Vollendung der ersten der beiden Wände, erschien, ist zum Schluß der schematische Aufriß der ersten Wand beigegeben; wir entnehmen ihm die Verteilung von Hauptbildern, Nebenszenen mit rahmenden Arabeskpilastern und bekrönendem Fries (Abb. 1). Eine Vorstellung vom Anbringungsort der Fresken vermitteln ein Längsschnitt durch das gesamte Treppenhaus (Abb. 2) und eine Photographie vom Treppenabsatz des ersten Stockwerkes aus (Abb. 3) in Publikationen aus der Zeit um 1900. Den Arbeitsprozeß begleiteten Stichpublikationen aller Bestandteile der Fresken in reiner Umrißzeichnung, darin den Entwurfkartons ähnelnd. Schaut man nun in die eigentlich kunsthistorische Literatur, beginnend mit OSTINIS KAULBACH-Monographie von 1906, und sucht nach Abbildungen der KAULBACHschen Fresken, so findet man fast ausnahmslos Wiedergaben der sechs Hauptbilder, gelegentlich einzelner Nebenbilder, nicht abgebildet werden Pilaster, Zwischenfries und der durchlaufende Puttenfries^. Durch diese bis heute gültige Form der Rezeption wird nicht nur das Verständnis der Gesamtkonzeption verhindert, sondern auch das historisch adäquate Verständnis des Einzelbildes unmöglich gemacht. Äußere Gründe für diese zu völliger Fehleinschätzung führende Isolierung der Einzelbilder kommen hinzu: die Fresken sind im 2. Weltkrieg zerstört worden und waren zuvor in der Tat in ihrer Gesamtheit schwer zu photographieren, der Puttenfries war für den im Treppenhaus stehenden Betrachter kaum gut zu erkennen (vgl. ^ Fritz von Ostini: Wilhelm von Kaulbach. Bielefeld/Leipzig 1906 (Künstler-Monographien. Hrsg, von H. Knackfuß. Bd 84). Bei Werner Hofmann: Das irdische Paradies. Motive und Ideen des 19. Jahrhunderts. 2. Aufl. München 1974. Abb. 68 etwa sind zwar die seitlichen Bildfelder zu einem der Hauptbilder mit abgebildet, es fehlt jedoch auch hier der zugehörige Ausschnitt aus dem überfangenden Fries.

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3. Photographie des Treppenhauses des Berliner Neuen Museums (nach: Max Oshorn: Berlin Leipzig 1909, Abb. 140 [=Berühmte Kunststätten. Bd 43.])

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Abb. 3). Die zeitgenössischen Kommentatoren dagegen wußten um die Bedeutung des Gesamtzusammenhanges; liest man die eigenständigen Abhandlungen aus der Entstehungszeit, so stellt man mit Erstaunen fest, daß dem bekrönenden Fries nicht nur besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird in seinem Verhältnis zu den Hauptbildern, sondern daß er häufig gar für den wichtigsten Teil des gesamten Freskenprogrammes gehalten wird, man ihn zudem künstlerisch für am gelungensten hält. Noch die ausgesprochen hegelianisch angehauchte Analyse von VICTOR KAISER aus dem Jahre 1879 behandelt ausführlich und zuallererst den gesamten Puttenfries, um die Analyse allein des ersten Hauptbildes anzuschließen.< Das sollte stutzig machen. Zitieren wir MAX SCHASLERS präzise Beschreibung der im Gesamtprogramm sich durchdringenden vier verschiedenen Zyklen, nicht ohne allerdings zuvor SCHASLERS generelle Charakterisierung der Aufgabe KAULBACHS angeführt zu haben. Aufgabe des Künstlers sei es, nicht einfach historische Ereignisse, Tatsachen zu schildern, sondern das wahrhaft Historische zur Darstellung zu bringen.s Das wahrhaft Historische zeige sich im Gedankeninhalt der materiellen Tat und dessen Einfluß auf die Entwicklung des Menschengeschlechts. Dadurch werde die materielle Tat, von der der Künstler ausgehe, zum Symbol. Die Tatsachen und Personen des Historienbildes seien also nur Träger oder Repräsentanten von Ideen. Der Künstler habe durch den materiellen Schleier des Tatsächlichen zu schauen und dahinter den Weltgeist zum Vorschein zu bringen (16). Das Symbolische nun zeige sich in der künstlerischen Praxis nicht im Gegenständlichen, sondern im formal Kompositorischen (20). Das abstrakte, oder besser, abstrahierende Lineament allein könne das rein Gedankliche, die Idee anschaulich werden lassen. Daher überzeugten die Kartons, so SCHASLER und andere, ja noch die Nachstiche, die allein vom Lineament beherrscht werden, mehr als die farbige, materielle Umsetzung im Fresko (18, 19, 43). KAULBACHS Stil ist nach SCHASLER daher symbolisch-historischer Stil zu nennen, oder wie es an anderer Stelle heißt: philosophischer Kunststil (22). Übrigens nennt auch BAUDELAIRE6 im Salon von 1859 KAULBACHS Kunst philosophisch. Auch er meint damit die durch formale Stilisierung angestrebte Verweisungsdimension der Gegenstände. Vom Treppenhaus des Berliner Museums öffnen sich Zugänge zu allen Abteilungen der menschlichen Kulturgeschichte, wie sie sich vor allem in Kunst und Altertümern niederschlägt. Die Fresken im Treppenhaus dienen Victor Kaiser: Kaulbach's Bilderkreis der Weltgeschichte. Berlin 1879 (im folgenden zit. Kaiser). ^ Max Schasler: Wandgemälde Wilhelm von Kaulbachs im Treppenhaus des Neuen Museums zu Berlin. Berlin 1854. 8-11; im folgenden Text mit Seitenzahl zit. ^Baudelaire: Oeuvres compleles. Brügge 1968. 1047 (Bibliotheque de la Pleiade. 1, 7.). ->

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also der Sinngebung der gesamten künstlerischen Hinterlassenschaft der Geschichte. Das Thema, so SCHASLER, könne also nur lauten: Darstellung der gesamten Kulturentwicklung der Menschheit in ihrer künstlerischen und religiösen Bedeutung (25). In den Hauptbildern müßten die Hauptphasen der kulturgeschichtlichen Entwicklung durch ihre nationalen Vertreter zur Anschauung gebracht werden, in den Zwischenbildern und Pilasterarabesken ihre jeweiligen primären Antriebskräfte. Dadurch ergebe sich ein zweiphasiges Geschichtsbild. Die alte Geschichte (Antike und Mittelalter) habe als bewegende Elemente primär Religion und Kunst, sie werde also von Empfindung und Anschauung getragen, die neue Geschichte dagegen habe als bewegende Elemente primär Wissenschaft und Industrie, sie werde von Verstand und Reflexion getragen (29). Zu verschiedenen Zeiten seien also die primären kulturgeschichtlichen Antriebskräfte unterschiedlich, und verschiedene Nationen primäre Träger dieser Kräfte. SCHASLER faßt zusammen: „Für die künstlerische Darstellung dieser so gegliederten Idee kam es also darauf an, in den sechs Hauptbildern die Knotenpunkte der Entwicklung nach diesen beiden Seiten, der nationalen Vertretung und der besonderen, in der zur Darstellung kommenden Zeitepoche vorwaltenden Entwicklungssphäre, zur Anschauung zu bringen. Die Zwischenbilder konnten keine andere Bestimmung haben, als einerseits die einfachen Bewegungselemente selbst (Religion, Kunst, Wissenschaft u.s.f.) in verschiedener Symbolgestaltung, andererseits die persönlichen Hauptvertreter der jedesmaligen Culturentwicklung (MOSES, SOLON, KARL DER GROSSE u.s.f.) darzustellen; und was die rahmenartigen Arabesken der die Hauptbilder umgebenden Pilasterstreifen betrifft, so lag es nahe, für jedes Bild diejenigen Darstellungen zu wählen, welche, obwohl nicht den Hauptstoff der jeweiligen Culturentwicklung bildend, doch zur Abrundung und Ergänzung des ideellen Inhalts der Hauptbilder nothwendig waren. Der Fries endlich, welcher über die in sich verschlungene Reihe der dramatischen Gesammtdarstellung hinläuft, mußte alle diese verschiedenen Elemente, sowohl in Rücksicht auf die nationeilen Vertreter wie auf die besonderen Sphären ihrer Vertretung, als ein fortlaufendes Arabeskenspiel des Weltgeistes, also in humoristischer Form zu Anschauung bringen. Denn der Humor macht jene ernsthaften Unterschiede der grösseren oder geringeren Wichtigkeit in der Reihe der culturgeschichtlichen Thatsachen, Personen und Völker nicht; er ist die Ironie der Geschichte, die sich über die im Verhältnis zu den erreichten Zwecken colossalen Anstrengungen der Menschheit lustig macht." (30) Im Fries (Abb. 4) tummeln sich in arabesken Pflanzenformen Kinder- und Tiergestalten und geben einen fortlaufenden ironischen Kommentar zur darunter sich ereignenden Welt- und Kulturgeschichte der Menschheit ab. Deren punktuelles Pathos relativiert sich angesichts des natürlichen Flusses der Zeit, versinnbildlicht durch den gleichförmigen Rhythmus der Arabeske.

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Die handelnden Personen der Geschichte werden also einerseits als Träger der Ideen des Weltgeistes begriffen, andererseits als Marionetten der Natur. In der Realität scheint dieser Widerspruch unaufhebbar. Kann die Kunst mit ihren Mitteln die Gegensätze versöhnen? Die Frühromantiker hätten das ohne zu zögern bejaht und auf die den universalen Zusammenhang stiftende Funktion der Ironie verwiesen. KAULBACH, SO unsere These, scheint das zu bezweifeln. Die Hegelianer, anders als Hegel, scheinen der Kunst in ihren Abhandlungen der fünfziger Jahre immer noch ohne allzu große Komplikationen diese Fähigkeit der Versöhnung zuzuschreiben. In ihren Konzeptionen differieren sie um Nuancen, tragen den Kampf um diese Nuancen jedoch mit großem, gelehrtem, systematischem Apparat aus. Immer jedoch handelt es sich um die als notwendig erachtete Synthese von Idealismus und Realismus. SCHASLER hat innerhalb weniger Jahre gleich zwei Konzepte anzubieten. Das erste in der KAULBACH-Abhandlung ist etwas komplizierter (20 f). Zu wahrem Stil komme man nur durch extreme künstlerische Stilisierung; zwei Möglichkeiten gebe es, je nach Thema, religiösem oder historischem. Die religiösen Themen seien schon vom Inhalt her symbolisch, ihre ernsten Dramen, nur der Empfindung zugänglich, könnten nur in extremer Stilisierung unter Ausschaltung aller Individualität zum reinen symbolischen Stil gelangen, CORNELIUS sei der Hauptvertreter dieses Stils. Die historischen Themen mit ihrem nur innerweltlichen Ernst müßten durch symbolische Gestaltung in eine humoristische Travestie verwandelt werden. Reinheit des Stils garantiere hier der unvermischte Humor. KAULBACH habe diese Reinheit eigentlich nur in seinem Fries erreicht. Im übrigen ähnelt diese Konzeption sehr der RosENKRANZschen Rechtfertigung der Karikatur in seiner Ästhetik des Häßlichen von 1853.^ Vom systematischen Standpunkt aus war die ScHASLERsche Lösung nicht sehr befriedigend, so sehr sie hilft, die extremen Stilisierungen der deutschen

4. Wilhelm von Kaulbach: Entwurf zum ersten Teil des Kinderfrieses im Treppenhaus des Berliner Neuen Museums (nach: Ostini, op. cit. (Anm. 3), Abb. 78), 1863/65 ^ Karl Rosenkranz: Aesthetik des HfljS/ic/ien.Königsberg 1853/Stuttgart-Bad Cannstatt 1968. 170, 387, 390 ff, 413.

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Historienmalerei in der Nachfolge PETER VON CORNELIUS' ZU verstehen. Vier Jahre später 1858 in einem Aufsatz in den Dioskuren mit dem Titel Über Realismus und Idealismus in der Historienmalerei geht die Rechnung von der philosophischen Logik her besser auf.» Realismus und Idealismus treffen sich schlankweg in der Mitte, wenn SCHASLER natürlich auch, wie es sich für einen Hegelianer gehört, dieses Zusammentreffen und Verschmelzen dialektisch als neue Einheit der Gegensätze begreift. Das Ergebnis nennt sich realistischer Idealismus. Übergewicht in der einen wie der anderen Richtung sei zu vermeiden. Zu viel Idealismus führe zu abstraktem, leblosem Spiritualismus, zu viel Realismus zu bloßem Materialismus. Was im Himmel, wenn diese saloppe Bemerkung des Kunsthistorikers in Parenthese gestattet sei, sollten die Künstler praktisch damit anfangen, denn auf die Praxis waren SCHASLERS Bemerkungen gemünzt; er setzte sich in seinem Aufsatz mit den Bemühungen der neugegründeten „Verbindung deutscher Kunstvereine für historische Kunst" auseinander, die zu ersten praktischen Kunstaufträgen geführt hatten. Mit dem Vorwurf des blassen Idealismus wollte er MORITZ VON SCHWINDS abgeliefertes Werk, mit dem des plumpen Realismus das von ADOLPH MENZEL treffen. Bei FRIEDRICH THEODOR VISCHER heißt das Zauberwort, bezeichnenderweise vor 1848, nicht realistischer Idealismus, sondern idealistischer Realismus^, was ihm von MORIZ CARRIERE den von SCHASLER auf MENZEL gemünzten Vorwurf des Materialismus eintrugio. In der Tat, VISCHER, der sich sein vormärzliches Pathos wie sein Schüler, der Kunsthistoriker ANTON SPRINGER bis allenfalls in die Mitte der fünfziger Jahre erhielt, wollte die Kunst allein auf die innerweltlichen Dinge beschränken, diese allerdings von ihr im Lichte der Unendlichkeit betrachtet wissen.Wie das zu geschehen habe, beschreibt VISCHER in seiner Ästhetik folgendermaßen: „Der Maler nimmt die Welt zu einem tiefer verarbeitenden Durchdringungsprozesse in sein Inneres herein, löst ihre Objektivität in der subjektiven Stimmung verzehrender auf, um sie

^Schasler op. cit. (Anm. 1), 143 f. ^ Vgl. bes. Friedrich Theodor Vischer: Die Abdankung Karl V. von Louis Gallail und der Kompromiß der flandrischen Edeln von Carl de Bi'efve. Gedanken bei Betrachtung der beiden belgischen Bilder (1844), in: ders.: Kritische Gänge. Bd 5, Hrsg, von Robert Vischer. 2. verm. Aufl. München 1922, 89-95.

Moriz Carriere: Ueber Symbol personificirende Idealbildung und Allegorien der Kunst mit besonderer Rücksicht auf Kaulbachs Wandgemälde in neuen Museum zu Berlin. In; Augsbur-

ger Allgemeine Zeitung. Beilage zu Nr. 63. Montag, 3. März 1856, 1001-1003 und Beilage zu Nr. 64. Dienstag, 4. März 1856, 1017-1022. ”Dazu auch Werner Busch: Die Antrittsvorlesung Friedrich Theodor Vischers bei Über-

nahme des Lehrstuhls für Ästhetik und Literaturwissenschaften an der Universität Tübingen 1844. In: Kritische Berichte. 9 (1981) 35-50, bes. 42.

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als eine durchbildete, durchkochte wieder zu objektivieren".Prozeßbeschreibung ist dies, denkt man vor allem an die psycho-physischen Erklärungsmodelle am Ende des Jahrhunderts und VISCHERS eigene weitere Entwicklung, erstaunlich differenziert und sprachlich grandios, als Gebrauchsanweisung für den Künstler kann natürlich auch dieses Rezept nicht taugen. Auch SPRINGER wandelte sich; mit Blick auf KAULBACH kreierte er 1858 gar einen „humoristischen Idealismus", ganz offensichtlich als Folge der Lektüre von ScHASLERs KAULBACH-Abhandlung.^^ Wir wollen das hier nicht weiter fortführen, etwa auf die Ausdeutung des CARRiEREschen Begriffes der „personifiziertenden Idealbildung" (s. Anm. 10) ebenso verzichten, wie auf die Nachzeichnung von ROSENKRANZ' Rechtfertigung des Häßlichen als einer Secundogenitur des Schönen (Aesthetik, 386 f). In ihrer Konsequenz für die Kunstpraxis laufen all diese Konzepte schlicht auf dasselbe hinaus. Mit KAULBACH — kein Wunder — setzen sich all die genannten Theoretiker auseinander, man denke nur an ROSENKRANZ' ungemein treffende Interpretation von Kaulbachs Narrenhaus in der Ästhetik des Häßlichen.^* Alle diese Denker können die idealistische, wie auch immer Hegelsche Basis ihres Kunstbegriffes nicht aufgeben; anders ausgedrückt: sie mögen auf das Kernstück klassizistischer idealistischer Kunsttheorie, das Imitatio-Konzept, nicht verzichten. Was sie im Gegensatz zu Hegel nicht sehen, ist, daß sie zum einen die Kunst mit ihren Vorstellungen überfordern; was allerdings noch schwerer wiegt, ist, daß sie zum anderen die historische Inadäquatheit ihrer Forderungen nicht erkennen. Dabei haben sie das sich stellende Problem nicht selten benannt. VISCHER 1841: „Die Kunst biegt sich auf sich zurück und macht sich selbst zum Gegenstand.VISCHER 1842: „Reflektierend und wählend steht jetzt der Künstler über allen Stoffen, die jemals vorhanden waren und sieht den Wald vor Bäumen nicht"i*. Spätestens seit Hegel wußten sie alle, daß man in der Gegenwart im Zeitalter der Reflexion angelangt war — SPRINGER: „wir Kinder der Reflexion" {Springer, 111). Und in der Tat ist Stilisierung, die sie alle in der einen oder anderen Form den Künstlern anempfahlen, eine 12 Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Vierter Teil. Die Kunstlehre. Bildnerkunst/Malerei. 2. Aufl. München 1923. 228. Anton Springer: Geschichte der bildenden Künste im neunzehnten Jahrhundert. Leipzig. 1858. 108-124: „Der humoristische Idealismus" (zuerst in: Die Gegenwart. 12 [1856], 719-26). Im folgenden zit: Springer. Aesthetik des Häßlichen, 308 f. Ausführlich zu Kaulbachs Narrrn/iöMs; Werner Busch: Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts. Habilitationsschrift. Bonn 1979. 124-211 (im Druck). 15 Friedrich Theodor Vischer: Overbecks Triumph der Religion. (1841). In: Kritische Gänge. Bd 5. 7. 15 Friedrich Theodor Vischer: Der Zustand der jetzigen Malerei. (1842). In: Kritische Gänge. Bd 5. 37.

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adäquate künstlerische Form der Reflexion. Nur sahen sie einseitig in der Stilisierung der Form einen Verweis auf das Ideal, auf transzendente Symbole oder den Weltgeist, nicht aber auf real erfahrene Gegenwarts- und Kunstprobleme. Daß KAULBACH dagegen in der Stilisierung eben diese realen, innerweltlichen Probleme reflektierte, wenn er auch vorgab, mit dem Weltgeist ins Gespräch zu kommen, das sei an einer etwas genaueren Untersuchung seiner Vorstellung von Ironie zu belegen versucht. Zu Recht haben seine Hegelianischen Exegeten betont, daß das Verhältnis von Fries zu Hauptbildern, von Rahmen zu Bild ironisch sei. Bei den Hauptbildern des Zyklus wird die Moderne mit der letzten Darstellung, der Reformation (Abb. 5), eingeläutet. Früh hat man gesehen, daß allein bei diesem Bild das Licht von rechts kommt, das Licht der neuen Zeit, das Licht der Gegenwart aus der Zukunft, und man hat auch gesehen, daß dieses Licht nur noch auf eine weitere Figur des begleitenden Zyklus' historischer Gestalten fällt: auf den direkt links vom Bild der Reformation erscheinenden FRIEDRICH II., den Großen (Kaiser, 10,11, 29). Das erhellt KAULBACHS Epochenverständis, das etwa dem FRIEDRICH THEO-

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5. Wilhelm von Kaulbach; Das Zeitalter der Reformation. Fresko im Treppenhaus des Berliner Neuen Museums (nach: Ostini, op. cit. (Anm. 3), Abb. 78), 1863/65

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verwandt ist. VISCHER hatte Hegels Konzeption der dritten Stufe der Epochenabfolge kritisiert: Hegel sah die Gegenwart weiterhin im christlich-romantischen Zeitalter verharren; VISCHER warf Hegel vor, er habe die Moderne, die der Gegenwart „die Welt erst geschenkt hat", nicht begriffen, er habe die „ungeheure Kluft", die uns von der mittelalterlich-christlichen Welt trenne, nicht wahrgenommeni^ und die Selbstauflösung des Christentums seit der Reformation, verstärkt noch durch die Aufklärung, den zentralen Säkularisierungsprozeß nicht realisiert.Die ungeheure Kluft, die die Moderne seit der Reformation von der vorherigen Geschichte trennt, deutet KAULBACH durch die paradoxe Lichtführung an, ihre weitere historische Vertiefung nach der Reformation vertritt FRIEDRICH II., die Verkörperung der Aufklärung. Im Lichte der Aufklärung steht auch die Gegenwart. Das Versprechen der Aufklärung wartet auf seine Einlösung im gegenwärtigen Zeitalter. Im Fries darüber zieht KAULBACH die Konsequenzen aus den Verweltlichungsprozessen in Reformation und Aufklärung in kulturgeschichtlicher Hinsicht. Der Fries endet scheinbar ganz optimistisch — nachdem er zuvor allerdings schon auf die Irritation durch die moderne Technik hingewiesen hatte — jenseits des Reformationsbildes über der Personifikation der Kunst in der Gegenwart mit drei GOETHE, HUMBOLDT und JAKOB GRIMM vertretenden Putten. Der Natur- und der Sprachwissenschaftler stellen dem Dichter das Material der Poesie zur Verfügung. Auf dem Reformationsfresko taucht KAULBACH selbst auf; als DüRERS Farbenreiber, der den an den Aposteln malenden Vater der deutschen Kunst darauf hinweist, daß LEONARDO, RAFFAEL und MICHELANGELO ZU einem Besuch eingetroffen sind. Auch dies scheint positiv gemeint: erst in der Gegenwart scheint die Vereinigung deutscher und italienischer Kunstqualitäten möglich zu sein, KAULBACH selbst sieht sich vor die Aufgabe gestellt, diese Synthese zu leisten. Bei der Forderung nach Vereinigung unterschiedlicher Kunstqualitäten zu neuem Ideal handelt es sich allerdings um einen alten Topos klassizistischer Kunsttheorie, und gerade über klassizistische Kunsttopik macht KAULBACH sich in seinem Fries mehrfach lustig. So parodiert er die Xeuxis-Anekdote vom Künstler, der täuschend ähnlich malt,i^ und den Topos vom Naturenthüllen^o — was vor ihm schon REMBRANDT^I und, KAULBACH wohl vertraut, WILLIAM HOGARTH im 18.

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17 Friedrich Theodor Vischer: Kritische Gänge. Bd 4.174 f; Busch, op. cit. (Anm. 14), 38 f.

18 Dazu Willi Oelmüller: Friedrich Theodor Vischer und das Problem der nachhegelschen Ästhetik. Stuttgart 1959. 71. 1^ Erwin Panofsky: Idea. Leipzig 1924. 5 ff; Renesselaer W. Lee: Ut pictura poesis: The Humanistic Theory of Painting. New York 1967. 10 f. 20 Vgl. Wolfgang Kemp: Natura. Ikonographische Studien zur Geschichte einer Allegorie. Phil. Diss. Tübingen 1970, Bamberg 1973. 164-69. 21 ]. A. Emmens: Rembrandt en de regels van de Kunst. Utrecht 1968. 147 ff, 200 f.

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Jahrhundert getan haben.22 Damit fällt auch ein Licht auf das von KAULBACH für GOETHE und sich selbst reklamierte Eklektizismuskonzept. Ein solches Konzept trägt nur, solange man sich bruchlos eins weiß mit der adaptierten Tradition, nicht begonnen hat, über ihr Anders- und Vergangensein zu reflektieren. Aus der Erfahrung der grundsätzlichen Andersartigkeit der Moderne nach dem Sündenfall historischer Erkenntnis resultiert für die Kunst ein unaufhebbares Dilemma: definiert sie sich per se als idealistische, so hat sie in der prosaischen Moderne keinen Ort mehr. Sie kann dann nur so tun, als habe es den Bruch mit der Vergangenheit nicht gegeben; ein Künstler wie KAULBACH hat den Glauben an eine ideale Kunst in der Gegenwart verloren. Für ihn resultiert aus der Erfahrung dieses Verlustes ein gelegentlich auch in seiner Kunst durchbrechender hochgradiger Zynismus; zugespitzt formuliert: er zeigt bewußt Bildbetrug. Ein Blick auf seine Pinakothekfresken lehrt das.23 KAULBACH konnte die Neue Pinakothek als einen Schrein um sein Meisterwerk Die Zerstörung Jerusalems, das er als eines der Hauptbilder in Berlin wiederholte, begreifen. Ab 1850 hatte er die Möglichkeit, diesen Schrein von außen mit Fresken zum Gang der neueren deutschen Kunst, die im Inneren mit seinem Werk im Zentrum ausgebreitet war, zu schmücken. Das Schmuckresultat empfanden seine Zeitgenossen nicht nur als skandalös, sondern es mußte auf sie geradezu schizophren wirken.2^ Das erste Fresko Der Kampf mH dem Zopf (Abb. 6) macht sich über seine gesamten Kunstgenossen und die von seinem Auftraggeber LUDWIG initiierte, von seinem verehrten Lehrer CORNELIUS getragene neue deutsche Kunstblüte regelrecht bösartig lustig. Die gesamte neuere Entwicklung wird als albernes Kasperletheater abgetan — und das auf einem riesigen Fresko, der höchsten Kunstaufgabe überhaupt und als Fassung, als Rahmen um sein eigenes Meisterwerk. Dieser Frontalangriff auf alle seine Freunde, Mitstreiter und Gönner und last not least auf sich selbst ist in der Tat nur als ironischer Zynismus zu bezeichnen. Nun mag eingewendet werden, KAULBACH lasse auf den folgenden Pinakotheksfresken sich selbst sehr viel besser abschneiden, schreibe den Entwicklungsgang der neueren deutschen Kunst zu seinen Gunsten um. So richtig diese Beobachtung ist, sie hebt das Problem nicht auf. Wie auf dem Reformationsfresko 22 Werner Busch: Nachahmung als bürgerliches Kunstprinzip. Ikonographische Zitate bei Hogarth und in seiner Nachfolge. Phil. Diss. Tübingen 1973, Hildesheim 1977. 123-129. 23 Eine Interpretation dieses Zyklus' habe ich versucht in: op. cit. (Anm. 14), 107118. 2"* S. bes. Julius Schnorr von Carolsfeld: Über Kaulbachs Darstellungen der neueren Kunstgeschichte. In: Augsburger Allgemeine Zeitung, Beilage zu Nr. 298. Sonntag, 24. Okt. 1852, 4765-67.

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6. Wilhelm von Kaulbach: Der Kampf mit dem Zopf, Tafelbildfassung des ersten Freskos an der Außenseite der Neuen Pinakothek in München. München: Bayerische Staatsgemäldesammlungen, 1847/53 angedeutet, schätzte KAULBACH seine Rolle in Kunst, Kunstgeschichte und Kunstöffentlichkeit wahrlich nicht gering ein; er hatte, allen Debatten zum Trotz, ungeheuren, auch finanziellen Erfolg, war für mindestens zwei Jahrzehnte der angesehenste öffentliche deutsche Maler. Und sicher tat er auch einiges für sein Ansehen, war ausgesprochen geschickt in Verhandlungen und in Gesellschaft, dennoch kam sein Zynismus immer wieder zum Ausbruch, seine Zeitgenossen formulierten sehr genau: „Nicht die gesunde Farbe der Entschließung hat der Gedanke bei KAULBACH, sondern die angekränkelte Blässe eines sophistisch-zersetzenden Räsonnements. KAULBACH ist der Maler der Aufklärung, welche mit der Vergangenheit bricht, die Überlieferung verneint." (Kaiser, 6) Besser hätte man es nicht ausdrücken können. Sein Zynismus mag individuelle Veranlagung gewesen sein. Die Erfahrung der Moderne in der künstlerischen Darstellung jedoch als ironische Diskrepanz zwischen Rahmen und Bild, als Stellvertretern von Wirklichkeit und Ideal, anschaulich werden zu lassen, dieser Versuch der Veranschaulichung des Bruches, der einen Verzicht auf ganzheitliche Welterklärung impliziert, findet sich seit der Frühromantik in verschiedenen Formen. Die Parodie auf die eigene Klassizität und Idealität als mit der realen Existenz des Künstlers unvereinbar findet sich allerdings auch schon bei den deutschen Klassizisten des späten 18. Jahrhunderts. Wenige Beispiele als Beleg mögen genügen. Wenn ASMUS JACOB CARSTENS Anfang der 1790er Jahre in streng klassizistischem Stil sich prügelnde Philosophen (Abb. 7) zeichnet, dann ist das nicht, wie die Sekundärliteratur es gerne möchte, eine Feierabendlaune eines ansonsten ernsten Künstlers, sondern Ausdruck der erfahrenen und nicht

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mehr aufhebbaren Diskrepanz von Kunstideal und Künstlerrealität, die Karikatur wird Reflexions form des Ideals.Kein Zufall also, daß auch in KAULBACHS Berliner Fries PLATO und ARISTOTELES im Streit um die Unsterblichkeit (sic!) handgreiflich werden. Warum das Ideal im bürgerlichen Zeitalter, gemessen an der Erfahrungsrealität, nur komisch wirken kann, das ist von HEINE oder VISCHER, aber auch von anderen, auf die griffige Formel gebracht worden: der Held im Frack — als dem Korsett der bürgerlichen Konvention —

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7. W. Müller nach Asmus Jakob Carstens: Die Schlägerei der Philosophen. Taf. 26 des Carstens-Werkes, op. cit. (Anm. 25), 1849

Zu Carstens und seinem Verhältnis zur Karikatur vgl. Werner Busch: Der sentimentalische Klassizismus bei Carstens, Koch und Genelli. In: Kunst als Bedeutungsträger. Gedenkschrift für Günter Bandmann. Hrsg, von Werner Busch, Reiner Haussherr und Eduard Trier. Berlin 1978, 317-343, bes. 318, 321, 326. — Wir bilden den Nachstich von Georg Wilhelm Müller ab, der 1849 in einem Stichwerk nach Carstens' Werken vorlag, Kaulbach also direkt bekannt sein konnte: Carstens' Werke, Zeichnungen in der Grossherzgl. Kunstsammlung in Weimar, Gestochen von W. Müller, Text von Chr. Schuchhardt, Weimar und Leipzig 1849 (2. Aufl. 1869, Hrsg, von H. Riegel).

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wirkt lächerlich und wie auf einem Kostümfest.Wenn JAKOB BURCKHARDT als Humanist 1887 die künstlerische Allegorie gern rechtfertigen möchte, andererseits aber begreift, daß die ebenso prosaische, wie abstrakte bürgerliche Rechts- und Wirtschaftsordnung Allegorisierung nicht mehr zuläßt, ein Dämon des Börsenkraches nur lächerlich wirken kann^^ (die Erfindung dieses allegorischen Dämons stammt bezeichnenderweise aus einer auf KAULBACHS Zerstörtes Jerusalem gemünzten Karikatur von 1873)^8, dann ist damit genau unser Problem beschrieben, dem sich im übrigen HEINZ SCHLAFFER in seinem Buch mit dem passenden Titel Der Bürger als Held in größeren literarischen Zusammenhängen gewidmet hat,^^ ohne allerdings die hier angedeutete ganz tagespraktische Dimension in den Blick zu bekommen. Die Frühromantiker hatten gehofft, durch Ironie auf einer höheren Ebene die Widersprüche aufheben zu können. In unserem Zusammenhang seien nur zwei wichtige und ebenso berühmte Beispiele aus der frühromantischen Malerei zitiert, deren eigentliches Thema sich aus der Spannung von Rahmen und Bild ergibt, einer Spannung, die im romantischen Sinne ironisch zu nennen ist. Die Einzelblätter aus PHILLIP OTTO RUNGES vierteiligem Tageszeiten-Zy\dus (Abb. 8) bestehen jeweils aus der Darstellung einer naturmystischen arabesken Einkleidung einer Tageszeit im Innenbild und einer christlichen Ausdeutung dieser Konzeption im ebenso arabesken, aber deutlich vom Mittelbild getrennten Rahmen.Der höhere Sinn, die Erfahrung des universalen Zusammenhanges, wie der Romantiker sagen würde, soll resultieren aus der Reflexion der letztlich widersprüchlichen Teile. Der reflektierende Betrachter soll durch Vertiefung in die Naturprozesse auch der versteinerten christ26 Der Hinweis auf das notwendig Unheroische des Fracks ist im 19. Jahrhundert seit der Romantik geradezu topisch. Heinrich Heine: Gemäldeausstellung in Paris 1831. In: INerke. Bd 3. Schriften über Frankreich. Hrsg, von Eberhard Galey. Frankfurt 1968. 26. Vischer verwendet das Bild mehrfach, nur ein Nachweis: Vischer: Der Zustand der jetzigen Malerei (1842). In: Kritische Gänge. Bd 5. 38. Über das Unheroische des bürgerlichen Zeitalters wohl am ausführlichsten Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästh.^'‘^ 1. 230/246-250/266. 27 Jakob Burckhardt: Die Allegorie in den Künsten (1887). In: Gesamtausg. Bd 14. Vorträge. Hrsg, von Emil Dürr. Berlin und Leipzig 1933. 424. 28 Neuer Freier Kikeriki. Jg. IV, Nr. 20, 17. Mai 1873. Heinz Schlaffer: Der Bürger als Held. Sozialgeschichtliche Auflösungen literarischer Widersprüche. Frankfurt a. M. 1973. Schlaffer geht auf die Problematik im HegelKreis, für den sie zentral gewesen ist, nur kurz ein: 128, 136, 142. 80 Die Literatur zu Runges Tageszeiten ist Legion, es sei nur auf die Standardmonographie verwiesen: Jörg Traeger: Philipp Otto Runge und sein Werk. Monographie und kritischer Katalog, München 1975. 110 ff.

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8. Philipp Otto Runge: Der Tag, aus der Serie „Die Zeiten", Kupferstich, 1805

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liehen Bildersprache ihr Leben zurückgeben, den Mythos neu stiften. Nicht anders verhält es sich bei CASPAR DAVID FRIEDRICHS Tetschner AltariAhh. 9).3i Das Innenbild zeigt ein Kreuz im Gebirge, nicht Christus selbst am Kreuz, sondern nur ein Bildwerk, die Natur ist Reflexionsraum des nur zu erinnernden Ereignisses Kreuzigung, der geschnitzte Rahmen liefert die christlichsymbolische Interpretation des Innenbildes durch die Darstellung der tradierten christlichen Zeichen. Das Symbol hat auf Grund seiner Traditionsmächtigkeit in der Realität Bestand, wie die verfaßte Kirche, die Stellvertreterin Gottes auf Erden. Der unmittelbare Glaube hat sich jedoch verflüchtigt. Die „Rede des toten Christus vom Weltengebäude herab, daß kein Gott sei" aus JEAN PAULS Siebenkäs ist das allerdings in seiner Ironie und Verzweiflung sehr viel direktere literarische Pendant zu FRIEDRICH und RUNGE. Ohne daß das hier ausgeführt werden könnte,^^ go ist doch darauf aufmerksam zu machen, daß der Rahmen auch weiterhin bei Nazarenern, Spätromantikern und Klassizisten ironische Reflexionsform des allein nicht mehr lebensfähigen Innenbildes sein kann. KAULBACH steht in dieser Tradition. Er kannte dieses Verfahren sicher nicht allein von den Frühromantikern, sondern von seinen Lehrern, Mitarbeitern und Freunden CORNELIUS, SCHWIND, GENELLI und NEUREUTHER. Am ehesten mag er an SCHWINDS Symphonie (Abb. 10) gedacht haben, die 1849 im Karton fertig war und die mit den Mitteln der Arabeske zwar nicht zu einer Versöhnung, aber doch zu einem, wenn auch labilen Gleichgewicht, zu einer Koexistenz in der Kunst von Allegorischem und Realem, von Natur und Geschichte kommt. Ganz geht das allerdings nicht ohne verräterische Absurditäten ab, neben einem von Zeus in Adlergestalt entführten Ganymed gibt es dann auch eine Allegorie des bürgerlichen Badekuraufenthaltes. MARX kommentiert Entsprechendes im 18. Brumaire mit der Bemerkung, daß das unheroische Bürgertum sich während seiner Revolutionen wohl der klassischen Ideale und Kunstformen bediene, um die beschränkten Inhalte seiner Kämpfe zu verbergen, doch nach Erreichen der Ziele die Verkleidung gleich wieder ablege, um sich der ihm eigenen Prosa zu widmen. Und er drückt auch aus, was genau gleichzeitig KAULBACH von ganz anderer Warte aus genauso empfunden haben muß; Es gilt das gleiche wie für Runges Tageszeiten (s. Anm. 29), auch für Friedrichs Tetschner Altar sei nur auf die Standardmonographie verwiesen, wenn auch gerade in den letzten Jahren die Deutung des Tetschner Altares in verschiedenen Arbeiten vorangetrieben wurde: H. Börsch-Supan und K. W. jähnig: Caspar David Friedrich. Gemälde, Druckgraphik und bildmäßige Zeichnung. München 1973. Kat. Nr. 167. 32 ]ean Paul: Werke. Bd 1. Wiesbaden o. J. 890-94 (2. Bändchen. Erstes Blumenstück.). 33 Hinweise hierzu bei Busch, op. cit. (Anm. 13), 74-77; zum folgenden den Deutungsversuch in diese Richtung, 77-85,

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9. Caspar David Friedrich: Tetschener Altar, Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, Gemäldegalerie, 1808

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10. Moritz von Schwind: Die Symphonie. München. Bayerische staatsgemäldesammlungen, 1852

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„Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirn der

Lebenden". 34 Entlastung von dem Alp finden idealistische Künstler offenbar

nur noch durch Ironie, Parodie und Zynismus. Denn Kunst steht offenbar allein noch als Kunstgeschichte zur Verfügung, Historienbilder des 19. Jahrhunderts sind nicht mehr Geschichtsbilder, sondern Geschichtswissenschaftsbilder, religiöse Bilder nicht mehr Kultgegenstände, sondern Kunstreflexionen über die Geschichte des religiösen Bildes. Will der Künstler den Bankrott des Thematischen nicht zu seinem eigentlichen Thema machen, so bleibt ihm nur eins, er muß den Prozeß der Naturerfahrung und des Kunstmachens selbst zu seinem Thema erklären und dafür Darstellungsformen finden. KAULBACH kam nicht so weit. Er blieb Klassizist und Idealist, wenn auch ein zweifelnder. Sein Zweifel brachte keine transzendentale Ironie mehr, keinen idealistischen Humor, sondern innerweltliche, subjektive ironische oder zynische Interpretation hervor, die, weil die Konvention der Kunst es erforderte, so tat, als ginge es um mehr, nicht ohne allerdings hier und dort, wie um sich selbst zu behaupten, bewußt die Konvention zu brechen. Insofern ist KAULBACH sowohl peintre-philosophe als auch modern painter.^s

^*Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In; Karl Marx-Friedrich Engels: Werke. Bd 8. Berlin 1960. 116, 114. 35 Im Sinne von John Ruskins Modern Painters. 1843.

GREGOR STEMMRICH/ANNEMARIE GETHMANN-SIEFERT (BOCHUM)

HEGELS KÜGELGEN-REZENSION UND DIE AUSEINANDERSETZUNG UM DEN „EIGENTLICHEN HISTORISCHEN STIL" IN DER MALEREI Im Herbst 1820 besucht Hegel die Dresdener Kunstausstellung. Ein Zeugnis für die Bedeutung, die dieser Besuch für ihn gehabt haben mag, findet sich in seinem Nachlaß: eine Rezension von vier der ausgestellten Werke mit religiösen Themen des Malers GERHARD VON KüGELGEN.I Diese Überlegungen Hegels wurden immer schon zu seiner Astheiikvorlesung in Beziehung gesetzt, meist als ununterschiedener Bestandteil den Ausführungen zur Malerei integriert. So geschieht es jedenfalls in HOTHOS Druckfassung der Ästhetik. Aber auch ROSENKRANZ, der in seiner Hegelbiographie den größten Teil der KüGELGEN-Rezension abdruckte, geht davon aus, daß HOTHO diese Bemerkungen zurecht und korrekt in die Ästhetik eingefügt habe. Er führt Hegels Text als Beleg dafür an, daß und wie sich Hegel selbst „von ephemeren Genüssen" Rechenschaft ablegte. Im Verweis auf HOTHOS Bearbeitung der Ästhetikvorlesungen erklärt ROSENKRANZ, daß Hegel „solche Reflexionen mit populärer Wendung in seine Vorlesungen zu verflechten wußte" {Ros. 352). Doch die „Verflechtungen", welche ROSENKRANZ im Auge hat, sind zum Teil der Editionstätigkeit HOTHOS zuzuschreiben. An der Auswahl des Zitates, das ROSENKRANZ abdruckt, wird zudem offensichtlich, daß ihm — wie zuvor schon HOTHO — eine entscheidende Absicht Hegels entgangen ist; denn ROSENKRANZ zitiert den gesamten Text mit Ausnahme des Schlußabschnittes, in welchem Hegel den „Unterschied des eigentlichen historischen Stils" (532) erläutert. Es läßt sich nicht nur zeigen, daß der HegelText darauf angelegt ist, diesen Unterschied herauszustellen, sondern auch, daß Hegel sich damit auf eine entsprechende Unterscheidung aus A. W. iVgl. G. W. F. Hegel: Berliner Schriften 1818—1831. Hrsg, von ]. Hoffmeister. Hamburg 1956, 531 ff; Ros. 351 f; zitiert wird nach einer Transkription, die für die historisch-kritische Hegel-Ausgabe erstellt wurde und die uns die Herausgeber (C. Jamme und F. Hogemann) freundlicherweise zur Verfügung gestellt haben. Die Zitate enthalten den Text in moderat normalisierter Form (Streichungen werden nicht mitgeteilt, Einschübe über oder unter der Zeile stillschweigend in den Text integriert). — Es ist nicht bekannt, ob diese Aufzeichnungen einen bestimmten Anlaß — etwa der Publikation oder des Gebrauchs in der folgenden Ästhetikvorlesung — hatten.

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Berliner Vorlesungen 1801/2 bezieht, von denen er in der Vermittlung durch ScHELLiNG bereits in Jena Kenntnis nehmen konnte.^ Damit stellt Hegel seine KüGELGEN-Rezension in den Kontext der Auseinandersetzung um eine adäquate Einteilung der höchsten Bildgattungen, die in Deutschland durch GOETHE/MEYERS Traktat Über die Gegenstände der bildenden KunsP eingeleitet wurde; auf diesen Traktat bezieht sich A. W. SCHLEGEL, um gegen die darin herrschenden Einteilungsprinzipien kritisch seine eigene Aufteilung abzusetzen. SCHELLING wiederum übernahm und modifizierte SCHLEGELS Gedanken. Hegel äußert sich nachweislich in der Zeit der gemeinsamen philosophischen Arbeit mit SCHELLING in Jena nicht nur erstmals explizit zur Kunst, sondern er legt überdies die Grundkonzeption seiner späteren Ästhetik mit der Phänomenologie des Geistes abschließend fest.'* Weil er sich auch in anderen Punkten immer wieder auf Überlegungen aus der Jenaer Zeit, ja sogar auf frühere Gedanken beruft, verwundert es nicht, wenn Hegel in seiner KüGELGEN-Rezension solche Überlegungen wieder aufgreift und dazu Stellung bezieht. Mit einigen Modifikationen versehen finden sich die Gedanken der KüGELGEN-Rezension auch in den Ästhetikvorlesungen. Durch die Art und Weise, wie HOTHO die KüGELGENkritik in der Druckfassung der Ästhetik mitverwendet, wird Hegels Intention jedoch nicht ersichtlich. HOTHO nimmt nämlich diese (wie viele sonstige) Äußerungen unmittelbar als ästhetische Wertung ohne die Rücksicht Hegels, eine geistesgeschichtliche Gewichtung eines gesamten Faches der Malerei zu erarbeiten, zu erkennen oder mitzuteilen. SCHLEGELS

2 Vgl. dazu £. Behler: SchelUngs Ästhetik in der Überlieferung von Henry Crabb Robinson. In: Philosophisches Jahrbuch. 83 (1976), 133-183. 3 Vgl. Propyläen. Eine periodische Zeitschrift. Hrsg, von J. W. Goethe. Bd 1, 1. St. (Tübingen) 1798, 20-54; vgl. dazu: Kunsttheorie und Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts in Deutschland I. Kunsttheorie und Malerei. Hrsg, von W. Busch und W. Beyrodt. Stuttgart 1982, 69-91. Zur Entwicklung der Ästhetik in Jena siehe O. Pöggeler: Die Entstehung von Hegels Ästhetik in Jena. In: Hegel in Jena. Hrsg, von D. Henrich und K. Düsing. (Bonn) 19, 249-270; (Hegel-Studien. Beiheft 20.). A. Gethmann-Siefert analysiert in ihrer Untersuchung über Die Funktion der Kunst in der Geschichte Hegels verstreute Jenaer Bemerkungen zur Kunst auf dem Hintergrund der Schellingschen Ästhetik. So gesehen erscheinen Hegels Reflexionen als Hinweis auf die neuralgischen Punkte der spekulativen Konstruktion des geschichtlichen Phänomens Kunst. Unter Zugrundelegung des Willens zur systematischen Ästhetik erscheinen die verstreuten Bemerkungen ferner, bezieht man Schellings Überlegungen als deren Negativfolie ein, als die Grundpfeiler seiner eigenen Ästhetikkonzeption, näherhin als Hegels Motivation dazu, die Geschichtlichkeit der Kunst stärker zu berücksichtigen als es Schelling gelungen ist.

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1. Hegels Kritik an von Kügelgens portraitmäßiger Historienmalerei Hegels Rezension der religiösen „Historien'-bilder GERHARD VON KüGELGENS scheint auf die Erklärungen zum „Unterschied des eigentlichen historischen Stils" angelegt, mit denen der Text abschließt, bzw. abbricht. So gliedert Hegel seine Kritik in drei aufeinander bezogene Punkte: der erste betrifft die Zusammenstellung und Zuordnung der Gemälde, der zweite VON KüGELGENS spezifische Art der portraitmäßigen Auffassung und der dritte den in dieser portraitmäßigen Auffassung nicht beachteten „Unterschied des eigent[lichen] historischen Styls" von der Darstellung des „Grundcharakters" bei den großen Meistern der (Renaissance-)Malerei. Die Ausführlichkeit der Behandlung der einzelnen Punkte nimmt ihrer Reihenfolge entsprechend zu, so daß schon daraus ersichtlich wird, worauf es Hegel am meisten ankommt, bzw. in welchem Punkt er noch um die nötige Klarheit ringt. Es handelt sich bei den von Hegel angeführten Gemälden um vier „Brustbilder in Porträt-Größe und Format (,) von Christus, Johannes dem Taüfer u. dem EvangeUisten] und vom verlornen Sohn". Hegels erster Kritikansatz betrifft die Zusammenstellung; zum einen bemerkt er generell, daß nicht zu erkennen sei, „was ein Porträt von den andern sagen soll", zum anderen spezifiziert er diese Kritik in der weiteren Erklärung: „vollends [nicht] vom verlornen Sohn und Joh[annes] dem Evang[elisten] von welchen jener wenigstens kein Heiliger ist". An dieser Stelle bleibt unklar, warum Hegel den verlorenen Sohn zusammen mit Johannes dem Evangelisten anführt, da er nur für den verlorenen Sohn den Grund angibt, warum dieser sinnvollerweise nicht mit den anderen Gestalten zusammengebracht werden sollte. Diese Unklarheit wird aber zu Anfang des dritten Kritikpunktes beseitigt, der sich einleitend auf diese beiden Gestalten bezieht. Der zweite Kritikpunkt betrifft die Verquickung zweier verschiedener Versionen von Portraitmäßigkeit, nämlich einer quasi kollektiven Charakteristik und einer im strikten Sinn modernen, individuellen. Die genannten Gestalten sind zunächst „porträtmässig" in dem Sinn, daß sie „Charaktere, Physiognomieen eines andern Volks, einer andern Zeit, — einer andern Welt" zeigen. In dieser Rücksicht könnten sie durchaus „in sich ruhende eigenthümliche Gestalten ausdrücken". Zugleich zeigen VON KüGELGENS Portraits aber den „Grundton moderner Gesichtsbildung", wie Hegel über der Zeile zur zusammenfassenden Charakteristik der im einzelnen explizierten Merkmale einfügt. VON KüGELGEN verknüpft also zwei Möglichkeiten künstlerischer Darstellung, die Hegel im folgenden aus der Geschichte der Malerei belegt anhand der Antipoden möglicher und — wie er in den späteren Astheiikvorlesungen betont hat — formal vollendeter, also „schöner" Darstellung christlicher Inhalte. Für die moderne Gesichtsbildung verweist Hegel

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auf die Portraits DüRERS und HOLBEINS, die einen „Theil ihrer Vortreflichkeit in diesem geistreichen Fleiß" haben, „der in die kleinste Parthie hinein den Reflex eines denkenden, bethätigten, vielgeschäftigen Lebens bringt." Gestalten dieser Art und Darstellung sind im eigentlichen Sinn geschichtliche Individuen, und zwar „moderne" Individuen einer — wie Hegel es mit SCHILLER auch ausdrücken möchte — Reflexionskultur. Der „Blik, besonders Mund und dessen ganze Umgebung enthält eine Ausarbeitung ... der Muskeln, daß moderne Reflexion, geistige Thätigkeit, Empfindung, — viel Gedacht- Gesprochenhaben" zum Ausdruck kommt. Der Maler bringt gerade in diese Partie des Gesichts dann den „Ton eines vielseitig bewegten u. durchgearbeiteten, nach vielen Richtungen und Verhältnissen hingegangenen — an sich haltenden, überlegten und geaüsserten Benehmens". Dieser modernen Gesichtsbildung und ihrer endgültigen Individualisierung des Portraitmäßigen — die kollektive kulturelle Färbung muß nicht unbedingt nur auf diese Weise ihren Ausdruck finden — steht als prinzipiell andere Möglichkeit und Version die Gesichtsbildung der antiken Plastik gegenüber, in der gerade die Durchbildung der Mundpartie den grundlegenden Unterschied in der Auffassung signalisiert. Wo nicht — wie meist — diese Partie durch den Bart bedeckt wird, erscheint sie in nicht nur momentaner Ruhe, „sondern so, daß man sieht, diese Parthie hat das ganze Daseyn hindurch geruht". Der modernen Gesichtsbildung und ihrer Spiegelung des geschichtlich bewegten individuellen Lebens in malerischem Ausdruck steht „das Großartige, der Bildung der Antike" entgegen, „ebenso wie das Einfache, Reine RAFFAÄLScher Figuren". Das Resultat der Bemühung VON KüGELGENS ist nun nicht — wie intendiert — eine gelungene Synthese dieser Unterschiede der Portraitmäßigkeit, da jede dieser in der Geschichte der Malerei entwickelten Darstellungs- und Auffassungsweisen eine eigene Weitsicht und einen eigentümlichen Weltvollzug stilistisch dokumentiert und auf sie fixiert bleibt. Hegel erkennt und markiert in VON KüGELGENS Portraits eine Problematik, zu deren Bewältigung sich im 19. Jahrhundert eine neue Bildgattung — das Kunstgeschichtsbild — herausbildete®; die Absicht bloßer Fortschreibung der kunstgeschichtlichen Tradition religiöser Historienmalerei entpuppt sich in VON KüGELGENS Bildern unfreiwillig als eine Reflexionsform der Kunstgeschichte. Auf diese grundlegende Problematik geht Hegel im dritten Kritikpunkt seiner KüGELGEN-Rezension ein und erläutert als Alternative zur portraitmäßigen Vergegenwärtigung von (Kunst-)Geschichte die beiden grundsätzlichen Möglichkeiten der Malerei, geschichtliche Weitsicht zu vermitteln, im Zusammenhang mit der Frage nach einer verbindlichen ästhetischen Aus5 Vgl. dazu: Bertold Hinz: Zur Dialektik des bürgerlichen Autonomiebegriffs. In: Autonomie der Kunst. Zur Genese und Kritik einer bürgerlichen Kategorie. Hrsg, von M. Müller, H. Bredekamp, B. Hinz. Franfurt^ 1974, 173-198.

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drucksform. Zu dieser Form erscheint das Portrait nicht fähig, ja sie geht, folgt man den Asthetikvorlesungen, durch das »Portraitmäßige", das HistorischVereinzelnde in diesem Darstellungsprinzip gegenwärtiger Malerei verloren. Hegel wendet dieselbe Überlegung schon in seiner KüGELGENkritik an.® In der Darstellung des verlorenen Sohnes und Johannes des Evangelisten erscheint der Ausdruck „als ein Zustand — als eine historische Situation — als ein Momentanes". Und Hegel folgert: Der „Grundlage der Physiognomie sieht man an, daß sie ganz anderer Zustände des Glücks usw. fähig und jener Ausdruck ein nur vorübergehendes seyn kann". Dieser historisierenden Individualisierung, die den Grundton moderner Gesichtsbildung ausmacht, steht die Idealität solcher Portraits gegenüber, die noch an die Gestaltung der antiken Plastik erinnern, sie aber — in Christus — mit einer historischen Person von universaler Relevanz verknüpfen. Hier wird im „Grundchärakter" bzw. „Grundwesen" das „Ewige Unvergängliche" dargestellt, und zwar „in einem Ausdruk, der das Ganze durchdringt, so daß nichts vor und nach, nichts andres in diesem Charakter seyn kann". Hegel charakterisiert dieselbe Diskrepanz von Form (Portraitartigkeit in ihrer Zuspitzung durch die moderne Gesichtsbildung) und Inhalt (christliche Religion) in seiner ÄstheHkvorlesung anhand der Stifteraltäre. Auch diese kombinieren mit dem Zweck der Andacht, der Vermittlung des Grundwesens in den zentralen Gestalten des christlichen Glaubens, die „Täglichkeit des Täglichen" in den beigefügten Portraits der Donatare. Eindeutiger tritt die Problematik einer solchen Kombination in Bildern zutage, in denen Situation und Grundwesen an einer einzigen Gestalt zugleich aufscheinen müßten. Hier gibt es für Hegel wenige gelungene Beispiele, eines davon findet er in CORREGGIOS Darstellung der Maria Magdalena, der schönen Sünderin. Wichtig bleibt, daß das „Grundwesen" tonangebend

^W. Busch behandelt das von Kügelgensche Bild des Verlorenen Sohnes in seiner Habilitationsschrift Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts (Bonn 1979) im Kontext der Entwicklungen, die zum Ende bzw. Verlust der traditionell verbindlichen Ikonographie führten. Er greift in diesem Zusammenhang den von Jennifer Montagu geprägten Begriff des „Einfigurenhistorienbildes" auf (den diese zuerst auf Bilder von Grenze angewandt hatte; vgl. ]. Montagu: Charles le Brun's Conference sur l'Expression Genhaie et Particuliere. Diss. London 1959), der in seiner Paradoxie treffend das Anliegen bezeichnet, unter bewußter Ausschaltung traditioneller Ikonographie Erzählzusammenhänge in der psychologisierenden Darstellung einzelner Figuren aufscheinen zu lassen bzw. zu „portraitieren". Busch erklärt: „Die Psychologisierung durch Isolierung führt notgedrungen zu Individualisierung, die sich der Traditionseinbindung widersetzt" (32). — Der Versuch, das Thema des verlorenen Sohnes im Sinne einer psychologisierenden Aktualisierung für die Kunst zu „retten", schließt sich selbst aus der Tradition aus.

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ist, die Situation zu einer Totalität vervollkommnen kann. „In CORREGGIO'S Magdal[ena] ist diese ewige Tiefe und frommes Sinnen einer edlen Seele vielmehr das Grundwesen, und daß sie leichtsinnig gewesen, liegt hinter dem ganzen Charakter ihres Geistes — man weiß es mehr nur sonst woher, historisch — diese Seite ist das momentane, ein Fehler, der vergänglich ist, ein vorübergegangenes." Im Unterschied zu den Werken der großen Meister gelingt diese Integration der Situation in das Grundwesen in der Moderne, in den Bildern des „eigentlich historischen Stils" nicht mehr. Wird der Ausdruck des Grundcharakters aber nicht erreicht, so geht die Darstellung über in die einer historischen Situation. Umgekehrt kann Hegel erklären, wofern dieser Ausdruck erreicht wird, daß nicht die Situation den Inhalt gibt, sondern daß sie allenfalls den Hintergrund liefert, die Form „eines erhöhten, deutlichen Ausdruks oder bloß der Aüßerung dessen, was sie in Allem, durch und durch, und immer sind". Für eine solche Darstellung kann Hegel dann selbst historische Personen, z. B. ALEXANDER, anführen, der, in einer bloß historischen Situation dargestellt, diese Situation im Sinne des „Grundwesens" durchbrechen wird. Sein Gesicht wird zu „einem Spiegel, der noch unendUich] viel anderes darstellen kann", obwohl er jeweils in eine Situation gestellt erscheint — wie Hegel durch „ein Erstaunen, Huld, usf." andeutet. Die ausgezeichneten Beispiele, die Hegel in dieser Rücksicht anführt, bleiben aber die religiösen Bilder, die durch ein „Sich-Innerlich-Machen gegen das Äußerliche" gekennzeichnet sind, die die „Innerlichkeit im Äußerlichen" rein darstellen {Marb. Bibi. 1826. Ms. 72). Die christlichen Mutter-Gottes-Darstellungen bieten für Hegel immer wieder den Änlaß, eine solche Erörterung in den Asihetikvorlesungen vorzutragen. Solche Bildnisse der Maria als Mutter Gottes bleiben aufgrund ihrer eigentümlichen Geschichtlichkeit im Kult aller Historizität im Sinne individueller Vereinzelung enthoben. Von Maria heißt es daher vor Äbbruch des Textes; „In welche Situation sie sonst komme, so behält sie diesen Grundcharakter". Demgegenüber gilt bei der Darstellung historischer Individuen und zufolge der Übertragung dieser Darstellungsweise (des „Portraitmäßigen") in die Bilder christlichen Inhalts, daß durch die Mittel der Malerei „Grundwesen" und „eigentlich historischer Styl" sich gegenseitig tilgen. Hegel wird in den Asihetikvorlesungen gerade diese und ähnliche Versuche religiöser Bilder aufgrund der in der KOCELGEN-Rezension erarbeiteten Differenzierung kritisieren.^ Die exemplarische Geschichte Christi und seiner Gemeinde, die sich in Bildern als Realisation des „Grundwesens" ihren Ausdruck verschaffen ^ Vgl. dazu G. Slemmrich: Hegels Rezeption und Kritik der Düsseldorfer Malerschule (Ms.) sowie A. Gethmann-Siefert: Die Kritik der Düsseldorfer Malerschule hei Hegel und den Hegelianern. In: Düsseldorf in der deutschen Geistesgeschichte. Hrsg, von Gerhard Kurz. Düsseldorf 1984, 275 ff.

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konnte, wird — wo und weil der kultische Rahmen fehlt — zur Historie und unterliegt damit jener Vereinzelung, die den Rahmen universeller Geltung der Kunst (ursprünglich repräsentiert im Gottesdienst bzw. durch den Ort der Bilder in der „Andacht") zu ihren Ungunsten abgestreift hat. Hier spielen in den Aslheiikvorlesungen deutlich ersichtlich zwei Argumentationsstränge ineinander, nämlich Hegels Annahme, die Malerei sei die eigentlich christliche Kunst und mithin außerhalb des Kultraums der Kirchen nicht mehr lebendig, nicht mehr an ihrem Ort, und sein Versuch, diese geistes- bzw. kulturgeschichtliche These mit Hilfe einer Analyse der Darstellungsmittel der Malerei zu explizieren. Zwar mag man dem „Religionsvorurteil" Hegels dann ebenso skeptisch gegenüberstehen müssen wie seiner dogmatischen Überschätzung der Philosophie, es bleibt aber bestehen, daß das Zusammenspiel der genannten Argumente, das schon die KüGELGEN-Rezension enthält, in den Nachschriften der Ästhetikvorlesungen deutlicher zum Tragen kommt, als es die Druckfassung der Ästhetik darstellt. Die Druckfassung der Ästhetik ist in einer für den Bearbeitungsstil HOTHOS symptomatischen Weise ausführlicher als die Bemerkungen sowohl der KüGELGENrezension, auf die HOTHO sich stützt, als auch die Bemerkungen der Vorlesungen. Es heißt in der Ästhetik: „Der KüGELGENsche Kopf des verlornen Sohnes drückt zwar sehr schön den Schmerz, die tiefe Reue und Zerknirschung aus, aber daß dieß gerade die tiefe Reue des verlorenen Sohnes seyn solle, ist nur durch eine ganz kleine Heerde Schweine im Hintergründe angedeutet. Statt dieser symbolischen Hinweisung sollten wir ihn mitten unter der Heerde sehen oder in einer anderen Scene seines Lebens." {Ästh.' 3. 79)® Auch HOTHO hat offenbar VON KüGELGENS Bild genau gekannt, das der König von Sachsen, „zum fortwährenden Andenken"’ für seine Galerie angekauft hatte, denn auf eine Herde Schweine im Hintergrund gibt Hegel keinen Hinweis. Während Hegels Kritik sich gegen den bloß momentanen, als „historische Situation" zu verstehenden, und deshalb unangemessenen Ausdruck der Reue des verlorenen Sohnes richtet, erklärt HOTHO schlichtweg das Gegenteil: der Ausdruck der Reue sei sehr gut getroffen, es fehle nur die ausgestaltende Darstellung der Situation. Auch an anderer Stelle zeigt sich, daß HOTHO die Trennung zwischen Situation als bloßer „Form ... der Äußerung" eines Grundcharakters und dem Grundwesen selbst nicht in der Schärfe aufrechthält, wie es die KüGELGEN-Rezension intendierte. So verknüpft er beispielsweise beide Überlegungen

®In der zweiten Auflage der Ästhetik wird diese Passage leicht verändert: „Der kügelchensche Kopf ..." (Ästh. “ 3. 79) ’Vgl. F. Ch. A. Hasse: Das Leben Gerhard von Kügelgens. Leipzig 1824. 336 (im folgenden zit.: Hasse).

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im Blick auf VON KüGELGENS Darstellung des verlorenen Sohnes und vermißt die »Einheit des ganzen Charakters", den der verlorene Sohn »außerhalb dieser Situation haben würde, und des Zustandes, in welchem er uns dargestellt ist" (Asth} 3. 100). Hier scheint das, was Hegel als Charakteristikum verschiedener Darstellungsmöglichkeiten der Malerei gegeneinandersetzt, einerseits in ein Portrait verlegt, andererseits als Differenz zwischen Darstellung im Bild und Bildsemantik, die nur durch die Legende vorgegeben ist. Im Portrait zeigt sich, so gesehen, eine »absolute Situation", die jeweils mit der Situativität bildlicher Darstellung zugleich gegeben sein müßte. HOTHO faßt diese „absolute Situation" als »absolute Momente für die Charakteristik", wenn er Hegels Kritik der KüGELGEN-Rezension dahingehend modifiziert, daß dem verlorenen Sohn die »vollständige allgemeine Persönlichkeit" fehle, so daß er für uns „nur in der bekannten Reihe von Situationen [existiert], in welchen ihn die Erzählung schildert" (Asfh.' 3. 79 f). Hier scheint es nun, als würde durch die geforderte Wahl der „absoluten Momente für die Charakteristik" das gewissermaßen nur kontingente Defizit der VON KüGELGENSchen Darstellung des verlorenen Sohnes aufhebbar. Die Frage, wieweit sich diese Modifikation auf Hegels eigene Differenzierung der Gedanken der KüGELGEN-Rezension in den Berliner Asthetikvorlesungen stützen kann, ist nicht generell zu beantworten. Überlegungen, die hier sachlich weiterführen, finden sich vordringlich in den Vorlesungszeugnissen von 1821 und 1829/29. In seiner ersten Berliner Asthetikvorlesung von 1821 geht Hegel mit Sicherheit noch von den Ansätzen der KüGELGEN-Rezension aus und entfaltet sie in mehreren Hinsichten. Interessant ist die nähere Bestimmung der „absoluten Situation." Hegel betont zwar, daß die Darstellung der Situation das „Ganze der Begebenheit" auffassen müsse. (Wie in einem Nachlaßfragment von ca. 1820/21 und in der letzten Asthetikvorlesung bringt Hegel als Beispiel Schlachtenstücke und die Darstellung des Sieges; also des Handlungstelos im Sinne des situativen Übergangs zu ihm; der Sieg wird in prägnanten Momenten, sc. noch kämpfenden Parteien, bereits ersichtlich; s. u. 167). Dieses Ganze muß aber nicht mit dem „Grundwesen" zusammenfallen. Hegel behält diesen Fall einem Motiv vor, nämlich der Madonnendarstellung. Er verlegt methodisch den sog. „Unterschied des historischen Stils" in eine Person, für die es eine charakteristische Grundsituation gibt: die Maria als Mutter. Als Person kann Maria „viele andere Situationen gehabt haben" und sie ist ästhetisch auch in der Malerei in solchen anderen Situationen dargestellt worden, allerdings um den Preis des Verlustes der Charakteristik der Person durch eine „absolute Situation". In der Maria (als Mutter dargestellt) findet Hegel die Integration von situationsbezogener Personalität und Charakter — dem Indiz einer ganzheitlichen, obzwar unbewußten Empfindungsweise. Beides definiert die „absolute Situation". Im folgenden konzediert Hegel einmal, daß auch die Reue der Magda-

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lena — und zwar vor allen anderen CORREGGIOS' Magdalena — als absolute Situation" in seinem Sinn gelten darf, abgeschwächt findet sich eine solche Darstellung dann bei Heiligen, Aposteln, Engeln. Das argumentative Band, daß diese Verknüpfung plausibel erscheinen läßt, vor allem Hegels immer wieder bemühtes Beispiel gerade weiblicher Personen (nämlich der Maria und Magdalena; für die weiteren Gestalten wird der Zusammenhang nicht ausgeführt) für solche „absolute Situation", liegt in SCHILLERS Konzeption der schönen Seele. Hegel selbst setzt daher konsequent schon aus diesem formalen Grund VON KüGELGENS Verlorenen Sohn von einer solchen Darstellungsweise ab. Hier heißt es, wo HOTHO formuliert, Zerknirschung und Schmerz seien „sehr schön" ausgedrückt (Asth.' 3. 79), sie seien „merkwürdig ausgedrückt", jedoch sei darin „keine absolute Situation zu finden". An der Unmöglichkeit, solchen Bildern gegenüber die Integration von Situation und Grundwesen überhaupt zu fordern, hält Hegel auch in der Vorlesung, die der KüGELGEN-Rezension am nächsten steht, fest: Die „Wahl der absoluten Momente für die Charakteristik" (ebd.) kann „Grundwesen" und „Situation" nicht zusammenschmelzen, denn der verlorene Sohn „interessiert" nicht als Person, sondern allenfalls durch seine — in der Legende ausgebreiteten — Situationen. Hegel verweist auf den guten Sinn, kultische Personen, Christus oder die Apostel, als Portraits darzustellen. Dieser Sinn, mit Hegel das „Recht", als selbständige Gestalt (Portrait) dargestellt zu werden, liegt nicht in der Individualität selbst, in der Zufälligkeit ihrer Gesichtsbildung, sondern sozusagen in der „Idealität", dem allgemeinen Interesse an der Vergegenwärtigung solcher Personen in kultischem Rahmen. Wo das im strikten Sinne Portraitartige, nämlich die Zufälligkeit individueller Gesichtsbildung, auf im abgeleiteten Sinn interessante Personen, wie die des verlorenen Sohnes, übertragen wird, kritisiert Hegel auch weiterhin dieses Vorgehen malerischer Darstellung. Es ist „unangemessen", „Johannes den Täufer, oder den verlorenen Sohn als Bruststück zu zeichnen ... da sie uns nicht in ihrer ganzen Individualität, sondern nur durch einzelne Szenen ihres Lebens interessieren." Im vorliegenden Fall einer „Kunst-Rezension" und ihrer Integration in die Philosophie der Kunst gewinnt über die systematischen Gesichtspunkte hinaus auch das jeweils gewählte Beispiel ein Eigengewicht. Hegels Konstruktion der Malerei als Einheit gegenläufiger Elemente und Darstellungsmomente gelingt für den Fall, daß bestimmte Prägungen des von Hegel auch sonst umschriebenen „großen, bzw. weltgeschichtlichen Individuums" gewählt werden. Die „schönen Seelen" sind — ihrer selbst und ihres Weltbezuges unbewußt — solche „Ideale". In der ersten Berliner Vorlesung wählt Hegel einen weiteren Bezugspunkt, der ein Licht auf die gemeinte Einheit von Form und Inhalt wirft. Er greift an der Stelle, an der er in der KüGELGENRezension die ALEXANOERdarstellung erwähnt hat, auf die Darstellung des

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Herkules oder des NAPOLEON (DAVID), also auf die „weltgeschichtlichen Individuen" der Antike und Moderne zurück. Für das moderne weltgeschichtliche Individuum (NAPOLEON) erscheint es Hegel symptomatisch, daß seine weltgeschichtliche Bedeutung für das Verhältnis der Staaten zueinander und die individuelle, bzw. „dramatische" Bestimmtheit solcher Bedeutung in der malerischen Darstellung nicht zu vermitteln sind: Hegel verweist auf die zeremonienhaften und einförmigen Darstellungen DAVIDS, welche die auf das Individuum bezogene „dramatische" Vorstellungsweise um seiner politischen Repräsentanz willen sterilisieren. Die Situation des modernen Individuums kann die Malerei nicht bewältigen, und selbst im Bereich der Vorstellung erscheint das weltgeschichtliche Individuum schließlich nur als „abstrakter Mittelpunkt" eines Ganzen, das nicht in seiner Individualität resultativ aufgehoben ist. So ist es schon bezeichnend, daß das moderne „weltgeschichtliche Individuum" (NAPOLEON), —worauf Hegel ausdrücklich hinweist —, „große Gegenstände aus seinem Lebenslauf, etc." bei einem Maler in Auftrag gibt, denn darin wird bereits das Bewußtsein eines Mangels ersichtlich, der dem antiken Heroen fremd bleibt, eine Angewiesenheit auf Repräsentationsformen, die den „weltgeschichtlichen Status" eines Individuums anschaulich zur Geltung bringen. Herkules dagegen gilt Hegel als dasjenige Individuum, in welchem die „heilsgeschichtliche" und „weltgeschichtliche" Bedeutung noch ununterscheidbar sind; analog zu Christus wird er in den Olymp aufgenommen, ohne daß er als ideale Götterstatue in situationsloser Ruhe darstellbar wäre. Vielmehr bringt er durch seine Taten die griechische substantielle Sittlichkeit an ihr Ende. Es handelt sich um die Vorstellung eines Individuums, das sich im Sinne einer Integration von Jdealität" (Grundwesen) und „Situation" (d.i.: die Substantialität des Heroen und seiner Epoche), ja des „Dramatischen" der Situation, verstehen läßt.

Vergleicht man Hegels Aussagen der Vorlesung (1821) zu Herkules und NAPOLEON mit dem ALEXANDEpbeispiel der KüGELCEN-Rezension, so erscheint das ALEXANDERbeispiel als ein Grenzphänomen zwischen dem antiken und modernen „weltgeschichtlichem Individuum"; keiner dieser Kategorien läßt es sich eindeutig zuordnen, vielmehr scheint es diese Alternative noch offenzuhalten, und nur im Sinne solcher Offenheit wird die Konfrontation von Maria und ALEXANDER als heilsgeschichtlichem und weltgeschichtlichem Individuum plausibel. Die Differenzierung zwischen antikem und modernem „weltgeschichtlichen Individuum" dagegen führt dazu, daß der „Unterschied des historischen Stils" in Hegels erster Berliner Vorlesung nur noch als Gegensatz von „absoluter Situation" (Mariens) und nicht-absoluten Situationen in ihrer unspezifischen Gesamtheit behandelt wird. HOTHO hat also noch am ehesten einen Anknüpfungspunkt für seine Integration der KüGELGEN-Rezension in die Ästhetik in Hegels erster Berliner

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Vorlesung finden können. Hegel führt diese Argumentation erst in der letzten Vorlesung durch eine erneute Auseinandersetzung mit dem Charakteristischen weiter, in der HOTHO dann das Motiv für die Übertragung der Bestimmung der „absoluten Situation" in seine Formulierung, es gehe um die Wahl der „absoluten Momente für die Charakteristik", gefunden haben mag. Wenn es lediglich darum geht, eine ästhetische Form zu finden, die Grundwesen und historische Situativität vereint im Sinne ihrer wechselseitigen Explikation, kann die von Hegel im „Unterschied des historischen Stils" entwickelte Spannung beispielsweise in jedem echten Genrebild als aufgehoben gelten, obwohl hier von einem „historischen Stil" nicht die Rede sein kann. Doch HOTHO faßt die Hegelschen Bemerkungen zur „absoluten Situation" offensichtlich von vornherein im Sinne ihrer möglichen Generalisierbarkeit auf, d.h. ihrer Anwendbarkeit auf alle von Hegel in irgendeiner Weise ausgezeichneten Kunstepochen und Bildgattungen. Nur so ist zu verstehen, daß HOTHO Hegels Kritik an dem „gewöhnlichen Charakter" der von KOGELGENschen Darstellung des verlorenen Sohnes, bzw. an der vermeintlich „absoluten Situation" editorisch zu einer Konfrontation mit der Genremalerei ausgestaltet. Er bezieht sich dabei implizit — aber offensichtlich — auf zwei Bemerkungen Hegels, die dieser in ganz anderen Zusammenhängen geäußert hat; zum einen Hegels Kritik der „Alltagsgesichter" in sog. lebenden Bildern, die alte Gemälde^o mit modernen Schauspielern nachstellen, was HOTHO offenbar als gleichbedeutend mit Hegels Kritik an dem „Grundton moderner Gesichtsbildung" in von KüGELGENS Darstellungen ansieht, zum anderen die Hegelsche Kritik der „gewöhnlichen Charaktere" in der zeitgenössischen Genremalerei der Düsseldorfer Malerschule, die dem Vergleich mit der historischen Authentizität niederländerischer Genremalerei nicht standzuhalten vermögen. Während HOTHO jedoch einerseits die Hegelsche Bestimmung der „absoluten Situation" im Sinne der „absoluten Momente für die Charakteristik" gänzlich unabhängig von dem „Unterschied des historischen Stils" auffaßt, um sie auf die „flüchtigsten Momente" beziehen zu können, die von den niederländischen Genremalern dargestellt werden, entwickelt er zugleich ein Verständis des „Unterschiedes des historischen Stils", das auf der Einteilung der Charaktere in solche beruht, bei denen sich der Ausdruck gesteigerter Innigkeit mit der Schönheit der Formen verbinden läßt, und solchen, bei 1° Vielleicht wußte Hotho, daß im Hause Gerhard von Kügelgens „lebende Bilder" geschätzt wurden; so berichtet Wilhelm von Kügelgen von einer Privatvorstellung der Darstellerin Hendel-Schütz etwa 1814-15 im Hause seines Vaters. Vgl. W. v. Kügelgen: ]ugenderinnerungen eines alten Mannes. Hrsg. v. A. Stern. Leipzig o.J., 252; zur Mode der lebenden Bilder siehe A. Langen: Attitüde und Tableau der Goethezeit. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft. 12 (1968), 194-258.

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denen dieser Ausdruck nur die Sache momentaner Situationen sein kann. Zur ersten Kategorie zählt er Maria, den Jünger Johannes, die Frauen, die Christus begleiten, die Kindergestalten Christi und Johannes des Täufers; zur zweiten die „übrigen Figuren, Apostel, Heilige, Jüngern, Weisen des Alterthums usf." Symptomatisch ist, daß HOTHO unbedacht selbst die „Weisen des Alterthums" in dem Sinne an dem Kriterium der „gesteigerten Innigkeit" mißt, daß er ihnen diese in bestimmten momentanen Situationen zutraut. Greift man auf korrespondierende Bemerkungen Hegels in seiner ersten Berliner Ästhetikvorlesung zurück, so ergibt sich ein anderes Bild; Hegel erklärt, daß ein und derselbe Zustand der „befriedigten Seele" in verschiedenen Charaktertypen und Alterstufen dargestellt werden kann im Sinne einer Idealität, die mit der antiken Charakterisierungsweise harmoniert. Doch ist in dieser Beziehung der „Unterschied des eigentlichen historischen Stils" von vornherein dispensiert von seiner möglichen Funktion der Einteilung von Charakteren. Hegel selbst hat eine solche schematisch-dialektische Argumentationsweise in seinen Ästhetikvorlesungen kaum je angewandt. Durch seine Darstellungsweise verkennt HOTHO, daß der von Hegel herausgestellte „Unterschied des historischen Styls" die Vergegenwärtigung von heilsgeschichtlicher und realbzw. weltgeschichtlicher Geschichtserfahrung betrifft, daß mithin bei Auflösung des kultischen Rahmens für alle christlichen Bilder der Moderne die genannte Diskrepanz bestehen bleiben muß. 2. Hegels Kügelgen-Rezension im zeitgenössischen (Dresdener) Kontext Für Hegels Beschäftigung mit den vier letzten Werken GERHARD VON KüGELGENS läßt sich eine Reihe äußerer Umstände benennen, — sei es auch nur in dem Sinne, daß Hegels kunstkritische Reflexionen gerade die Relevanz solch äußerlicher Umstände bestreiten wollten. GERHARD VON KüGELGEN war nämlich im Frühjahr des Jahres auf einer Landstraße bei Dresden ermordet worden, so daß die Kunstausstellung im Herbst des Jahres — obwohl es sich um eine reguläre Akademieausstellung handelte — zugleich als Gedächtnisausstellung zu betrachten ist. Die Gemälde VON KOGELGENS erlangten im Kontext der Ausstellung ohnehin schon dadurch eine hervorragende Stellung, daß sie aufgrund ihrer Thematik bei weitem zu den anspruchvollsten gehörten und die Aufstellungsordnung die Gemälde der Akademieprofessoren, zu denen auch VON KüGELGEN zählte, als Kulminationspunkt der Ausstellung erscheinen ließ.Dazu kam jetzt der rege Anteil, den die Öffentlichkeit nicht nur 11 Vgl. G. F. Koch: Die Kunstausteilung. Berlin 1967. 225 f; Marianne Prause: Die Kataloge der Dresdener Akademie-Ausstellungen 1801-1850. Bd 1 u. Reg. Bd. Berlin

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Dresdens sondern ganz Deutschlands an allem nahm, was mit dem „Fall" GERHARD VON KüGELGENS zusammenhing. Die spektakulären Ereignisse — der Mord, die Fahndung nach dem Mörder, der verwickelte Prozeß — ließen sich anscheinend sinnfällig zu den letzten Werken des Meisters in Beziehung setzen, zumal diese ausnahmslos religiöse Themen behandelten, die als Ausdruck der religiösen und frommen Gesinnung des Künstlers gesehen wurden; die religiösen Gemälde, insbesondere die Darstellung des verlorenen Sohnes, wurden als vorauseilender Reflex der Innerlichkeit des Künstlers in Hinblick auf seine Ermordung gewertet und zugleich im Sinne einer allgemeinen Zeitkritik als Aufruf zur religiösen Umkehr. Dem an VON KOGELGEN verübten Mord und der zur Trostfunktion stilisierten Malerei VON KüGELGENS konnte damit eine überindividuelle Bedeutung beigemessen werden. Vermittels der religiösen Erhebung kann die Kunst die Zeitenwende herbeiführen. Der Kunstgelehrte und Freund VON KüGELGENS, KARL AUGUST BOTTIGER, hatte in seiner Grabrede diese Stilisierung eindringlich gefördert, indem er insbesondere auf das letzte „Bild, woran er noch wenige Stunden vor seinem letzten abendlichen Erholungsgang ... einige vollendende Pinselstriche that... das lebensgroße Bild des verlornen Sohnes" (Hasse, 412) eingeht und schließlich VON KüGELGENS eigene „Auslegung", sein „sursum corda"i^, zitiert. Anläßlich der Kunstausstellung publizierte BöTTIGER dann eine „Würdigung des verlornen Sohnes aus dem Gesichtspuncte des Künstlers", die Hegel bekannt gewesen sein dürfte; darin läßt BöTTIGER zwar eine ästhetische Kritik an dem „gewaltsamen Ausdruck" anklingen, die jedoch verdeckt bleibt, weil die ästhetischen Defizite zugleich als „der sprechendste Beweis von der zur Wehmut ... über ein ausgeartetes Geschlecht verstimmten Aufregung seines Innern" (334 f) gewertet werden.

1975: Kat. der Dresdener Akademieausstellung 1820, Nr. 549-553. „Nr 549 — Eine Madonna mit dem Kinde, Oelgemälde, Eigene Erfindung. Aus dem Nachlaß des verstorbenen Prof, von Kügelgen. Nr 550 — Der verlorene Sohn. Alla prima in Oel gemalt. Eigene Erfindung von demselben. (Letzte Arbeit dieses Meisters) Nr 551 — Johannes der Evangelist, eben so, s. Anm. 11 von dems. Nr 553 — Christus. Eben so, von dems." Vgl. Hasse, 412: „Unbändiger Stolz, der an allem, was heilig ist, rüttelt, und die selbstsüchtigste Genußgier sind die Hauptquellen aller Missethat in einer versunkenen Welt. Wie dieser... bußfertige Sohn zum Vater seine Augen und Hände aufhebt, so müssen wir ... die Verzeihung des allerbarmenden Vaters anflehen. Hinauf die Herzen!"; Böttiger erklärt: „Mit solchen Beschäftigungen und Ueberzeugungen reift man schneller für eine bessere Welt." 12 Erst der spätere Biograph von Kügelgens, Constantin von Kügelgen, bemerkt, daß Böttiger als Klassizist im Grunde nicht die „romantische" Wende seines Freundes

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Hegel mag sich durch die verfehlte, Kunst und Künstler, Zuständlichkeit und Zeitkritik verwechselnde Weise der Kunstbetrachtung provoziert gefühlt haben. In seiner eigenen Rezension der Werke VON KüGELGENS hat Hegel wahrscheinlich eine anonym erschienene kritische Rezension dieser Werke verarbeitet, die den zeitgenössischen Biographen VON KüGELGENS (HASSE) ZU der Erklärung veranlaßte; Jedes gesunde Auge wird diesem Urtheile widersprechen" (335). „KüGELGEN'S verlornem Sohn sey es mit seiner Reue so wenig Ernst, als BATTONIS Magdalena!" lautet dieses Urteil, das Hegel aufgreift als Überleitung von seiner Erklärung über den momentanen Ausdruck des verlorenen Sohnes zu dem des »Grundcharakters" in CORREGGIOS Magdalena: »Von einer büssenden, betenden, knienden Magdalena, auch von einem jungen Künstler, machte eine empfindende Frau die Bemerkung, daß die Busse sie nicht durchdrungen u. [daß], wenn sie aufgestanden, sie wieder seyn könne was vorher". HASSE konnte allerdings nicht nur das anonym vorgetragene Urteil, sondern auch den Vergleich nicht akzeptieren, dem er einen anderen Vergleich entgegenstellt, der zugleich das kritische Urteil ad absurdum führen soll; HASSE vergleicht VON KüGELGENS Verlorenen Sohn mit BATONIS Verlorenem Sohn — stellt also Bilder mit gleichem Thema gegenüber— und kann so scheinbar neutral die spezifischen Qualitäten beider Werke heraussteilen. BATONIS Verlorener Sohn ist zwar malerischer komponiert, drückt jedoch nicht den Seelenschmerz aus wie VON KüGELGENS Darstellung. Die größere »Innerlichkeit" wird durch diese Art der Konfrontation eo ipso der ästhetischen Kritik entzogen, weil sie sich ja mit deren Mitteln nicht ermessen läßt — eine Vorgehensweise übrigens, die auch in der Auseinandersetzung mit den Bildern der Düsseldorfer Malerschule ständig wiederzufinden sein wird. Hegel geht es dagegen in seiner Gegenüberstellung von CORREGGIOS Magdalena und VON KüGELGENS Verlorenem Sohn nur dem Anschein nach um einen »ästhetischen" Vergleich, tatsächlich aber um die Bestreitung nicht der künstlerischen Qualität, sondern der Darstellbarkeit des gewählten Sujets. Als religiöses Bild müßte der Verlorene Sohn wie CORREGGIOS Magdalena eine Darstellung des »Grundwesens" geben, als Darstellung einer historischen Szene, wenn nicht einer »Handlung" muß die Darstellung aber zur historischen werden. Dieser fehlte auf der einen Seite der kultische Rahmen, der die alten Bilder christlichen Inhalts immer mit einer universal akzeptierten grundlegenden Vorstellung verknüpfte und die ikonologischen Anspielungen in eindeutiger Weise verständlich werden ließ. Auf der anderen Seite erscheinen die »historisch"-portraitmäßigen Darstellungen religiöser Inhalte

gutheißen konnte, ihm jedoch als Freund treu geblieben sei; dies scheint offenbar als Wendung der Kritik an dem Werk in eine Zeitkritik von seiten des Künstlers möglich gewesen zu sein.

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als Überforderung der technischen Mittel der Malerei. Diese Gesichtspunkte ergeben sich aus der Gegenüberstellung verschiedener Magdalenendarstellungen, wenn man Hegels textliche Anspielungen verfolgt. In Hegels Hinweis auf die Unterschiedlichkeit und vordringlich die Insuffizienz der Magdalenendarstellung spielt ohne Zweifel die Behandlung dieses Themas im Aiheneum der Brüder SCHLEGEL hinein. Die „empfindende Frau", von der Hegel berichtet, könnte die Luise aus diesen Gesprächen sein, die die verschiedenen Magdalenendarstellungen der Dresdener Galerie, (von FRANCEScHiNi, BATONI und CORREGGIO), ausführlich bespricht; geht man davon aus, daß Hegel von BATONIS Magdalena spricht, so würde ihre ungenaue Beschreibung als „knieend" im Sinne einer bloß äußerlichen Darstellung ihrer Büßfertigkeit und Reue zu verstehen sein. Die Unterscheidung von Grundwesen und momentanem Ausdruck eines Charakters war in ihrer Relevanz für die Kunstbetrachtung längst zu deutlichem Bewußtsein gekommen; sie wird einleitend in dem Gemäldegespräch ausführlich behandelt.i“* Für Hegel spezifisch aber ist die Systematisierung dieser Unterscheidung als „Unterschied des eigentlichen historischen Styls" und die Betrachtung der kunstgeschichtlichen Entwicklung im Lichte dieser Unterscheidung. So beobachtet Hegel bereits an Stifteraltären die Spaltung der Darstellung in das religiöse Ideal und eine zeitgenössische Weltlichkeit, der „diese religiöse Richtung nur etwas momentanes ist" (Kehler 1826. Ms. 349), in VON KüGELGENS Werken aber das Symptom einer portraitmäßigen „Aufhebung" solcher Spaltung, die sich umso mehr als Inkonsistenz kunsthistorischer Reminiszenzen geltend macht. Mit dem weiteren Beispiel für ein typisches Thema des „eigentlich historischen Stils" greift Hegel in eine Debatte um die Malerei im Kontext der Querelle des Anciens et des Modernes ein. Hegel gibt als dieses Beispiel „ALEXANDER" in der Situation an, auf die er mit „eine Huld" anspielt. Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich bei diesem Beispiel um ein Historienbild LEBRUNS, das eine Huldbezeichung ALEXANDERS darstellt, und das im Zentrum der Auseinandersetzung um die Fortschritte in der künstlerischen Entwicklung seit der Renaissance stand. Es handelt sich um das Bild der Familie de Darius, das auch unter den Titeln La Tente de Darias und Les reines de Ferse aux pieds d'Alexandre bekannt ist; das Bild ist 1600/01 im Auftrag und im Sinne einer Anspielung auf die hochherzige Gesinnung LUDWIG XIV. gemalt

1'* Vgl. Die Gemälde. In: Atheneum. Hrsg, von A. W. und Fr. Schlegel. Bd 2, 1. St. (Berlin) 1799, 39-137, bes. 40.

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worden und hat LEBRUN den Posten des Hofmalers eingetragen.Dargestellt ist die Situation, als ALEXANDER mit seinem Freund HEPHAISTION nach dem Sieg bei Issus das Zelt der persischen Königinnen betritt und die Mutter des DARIUS ALEXANDER und HEPHAISTION verwechselt, so daß ALEXANDER — als HEPHAISTION der Huldigung der Königin ausweicht — erklärt, sie habe sich nicht geirrt, denn auch HEPHAISTION sei ALEXANDER. Dieses Bild zählte lange Zeit zu den berühmtesten Bildern des 17. Jahrhunderts und ist wiederholt nachgestochen worden; Hegel konnte 1815 bei seinem Besuch der Schleißheimer Galerie eine Miniaturkopie gesehen haben, die von den Kommentatoren der Sammlung als besonders gelungen bezeichnet wurde.i* In der Querelle wurde als entscheidender Fortschritt dieser Darstellung gegenüber der Malerei der Renaissance die zur Perfektion gebrachte Einheit der Szene hervorgehoben. Mit dem in seiner KüGELCEN-Rezension beschworenen „Grundwesen" kritisiert Hegel implizit eine darartige Fortschrittskonzeption, die meint, die Darstellung von Grundcharakteren durch szenische Vereinheitlichung in der Historiendarstellung überbieten oder ersetzen zu können. In diesem Zusammenhang ist eine Unterscheidung von Szene und Handlung interessant, die Hegel ansatzweise in einem Nachlaßfragmenti^ entwickelt. Hier nämlich geht Hegel aus von der „vornehme(n) moderne(n) Zeit", in der die Malerei „verführerisch" erscheint, um dieses Phänomen entwicklungsgeschichtlich auf seine Voraussetzungen in christlichen Legendendarstellungen zurückzuführen, für die Hegel auch hier wieder auf das Beispiel der „büßende(n) Magdalena" verweist. In den Legendendarstellungen tritt das Interesse an der subjektiven Empfindungs- und Vorstellungsweise an die Stelle der Vergegenwärtigung der christlichen Handlung kat' exochen, der Versöhnungstat Christi. Damit sind einerseits Voraussetzungen geschaffen, unter denen eine Empfindungs- und Vorstellensweise für politisch-propagandistische Zwecke in der Gegenwart in Anspruch genommen werden können; Hegel verweist auf das Beispiel der vaterländischen Historienmalerei. Andererseits erkennt Hegel, daß die Empfindung eines szenisch explizierbaren Gehaltes bedarf, um überhaupt Gegenstand der Malerei werden zu können; dies wird verdeutlicht am Beispiel der Schlachtenstücke. Was im „Unterschied des eigentlichen historischen Styls" strikt ge-

Vgl.; Parallele des Andens ei des Modernes. Par M. Perrault de l'Academie Francaise, Mit einer einl. Abhandlung von H. R. Jauss und kunstgeschichtlichen Exkursen von M. Imdahl; Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste. Hrsg, von M. Imdahl, W. Iser, H. R. Jauss. Bd 2. München 1964, 2. Exkurs, 65 ff. Vgl. J. S. V. Rittershausen: Die vornehmsten Merkwürdigkeiten der Residenzstadt München für Liebhaber der bildenden Kunst. München 1787. 12. Berliner Schriften. 1818-1831 Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 1956, 712 f.

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schieden wurde, wird hier in seiner Kompatibilität — der Explikation des Empfindens und Vorstellens — erkennbar. Es läßt sich zeigen, daß Hegel in seiner letzten Astheiikvorlesung beide Unterscheidungen im Sinne ihrer möglichen und notwendigen Korrelation aufgreift.

3. Hegels „Unterschied des historischen Stils" im Kontext der Auseinandersetzung um die Historienmalerei Die Gedankensplitter, die in Hegels KüGELCEN-Rezension als Reflex einer zeitgenössischen Auseinandersetzung eingehen, erscheinen durch die Konfrontation von Idealität (Grundwesen) der Malerei und „eigentlich historischem Styl" zugleich als Hegels Stellungnahme im philosophischen Streit um die Bedeutung der Kunst. Hegels Überlegung zum „Unterschied des eigentlich historischen Styls" in der Malerei, bzw. zu ihrer Fähigkeit, ein Ideal darzustellen, geht wahrscheinlich auf A. W. SCHLEGELS Einteilung der Historienmalerei in eine eigentliche und uneigentliche zurück, — Hegel gebraucht dieselben Beispiele (Magdalena, Maria, Alexander), die SCHLEGEL zur Explikation seiner Unterscheidung verwendet.!® Darüberhinaus darf man Hegels Position als Kritik sowohl von SCHLEGELS wie SCHELLINGS Auffassung lesen, und es läßt sich ein Abglanz der GoETHESchen Position wiederentdecken, weil Hegel SCHLEGELS wie SCHELLINGS Kritik an GOETHE teilweise aufhebt. SCHLEGEL unterscheidet im Bereich der Historienmalerei als der traditionell höchsten Bildgattung die symbolischen Darstellungen, deren Paradigma die Caritä als Darstellung der Mütterlichkeit ist, von den historischen Darstellungen im gewöhnlichen Sinne. Während die symbolischen Darstellungen „allgemein gemeynt" sind und etwas bedeuten, das „aus der menschlichen Natur überhaupt herfließt, was sich daher im Leben immerfort wiederhohlt und erneuert und durch sich selbst ohne weiteres verständlich ist" (218), sind die eigentlich historischen Darstellungen an der „individuelle(n) Bestimmtheit" ihrer Gestalten orientiert und daher auf die Darstellung bekannter Situationen aus der Geschichte oder Mythologie angewiesen. Da die rein symbolische Gattung, wie SCHLEGEL erklärt „nicht die umfangreichste" sein könne, verdeutlicht SCHLEGEL die kunsttheoretische Relevanz seiner Unterscheidung vor allem an den Übergängen von einer Gattung in die andere; schematisch lassen sich die von SCHLEGEL angesprochenen Fälle in drei Arten der Darstellung gliedern. Die erste Art betrifft symbolische Dar-

August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst. Erster Teil 1801-1802. Die Kunstlehre. Heilbronn. 1884. 215 (im folgenden mit Seitenzahl zit.).

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Stellungen, in denen bestimmte historische Individuen dargestellt sind; (als Beispiele nennt SCHLEGEL RAFFAELS Schule von Athen und Parnaß als symbolische Darstellungen der philosophischen und poetischen Anlage des Menschen). Die zweite Art des Überganges sind Darstellungen und Themen aus einer Mythologie, die „aufgrund ihrer bedeutsamsten Vollendung" unmittelbar, d.h. unabhängig von der Kenntnis mythologischer oder geschichtlicher Zusammenhänge, verständlich sind; Magdalena als „Bild der Reue über gemisbrauchte Jugend und Schönheit" und Maria als „Bild der reinen Weiblichkeit" (218 f) werden als Beispiele angeführt. Als „eigentlich historisches Bild" werden dagegen alle diejenigen mythologischen Darstellungen bezeichnet, die zu ihrem Verständnis historische Kenntnisse voraussetzen; sie werden daher in Verbindung mit der eigentlichen Historienmalerei gebracht. Die dritte Art des Überganges bilden die Idealcharaktere, die zwar eine individuelle Bestimmtheit besitzen, jedoch auch ohne ihre Darstellung in bekannten historischen und mythologischen Situationen unmittelbar erkannt werden können; Magdalena, Maria, Christus, heidnische Götter und die Apostel werden als Beispiele angeführt. SCHLEGELS weitere Überlegungen zur Historienmalerei zielen darauf ab, die historischen Darstellungen insgesamt dem „Natur"-status der symbolischen anzunähern, bzw. gleichzusetzen. Zum einen erklärt SCHLEGEL, die Geschichte sei nur das „Vehikel, vermittelst dessen der Künstler das mahlerisch Große und Schöne entfaltet" (226), das der eigentliche Gegenstand seiner Kunst sei, zum anderen fordert er, „daß die historische Notiz, welcher der Mahler fordert, uns dergestalt geläufig geworden sey, daß wir sie fast mit zu den durch die Natur gegebenen Anschauungen und Begriffen zählen" (223 f). SCHELLING übernahm von SCHLEGEL die Einteilung der Historienmalerei in symbolische und historische Darstellungen von vorherein mit dem Interesse beide Gattungen „symbolisch" zusammenzuschließen: „Die Malerei als schlechthin symbolisch kann allgemein historisch heißen insofern, als das Symbolische, indem es ein anderes bedeutet, zugleich es selbst ist, und also eine von der Idee unabhängige, historische Existenz hat" (§ 96, 211 f).i’ Er unterscheidet deshalb nur noch „symbolisch-historische" und „historischsymbolische" Darstellungen und führt als Beispiele der ersten Art — wie SCHLEGEL — RAFFAELS Schule von Athen und Parnaß an und für die zweite Art die Historienmalerei in der gewöhnlichen Bedeutung. Indem SCHELLING das Historische im Sinne seiner „höhere(n) Potenz" (199) symbolisch versteht, kann er für die Historienmalerei generell eine Integration der symbolischen Bedeutung der Darstellung und der historischen Existenz des Dargestellten in

Friedrich Wilhelm ]osefvon Schelling: Philosophie der Kunst. Darmstadt 1960 (Repr. d. Ausg. 1859). § 96, 211 f (im folgenden mit Seitenzahl zit.).

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Anspruch nehmen. Die historischen Gegenstände sind wesentlich als Gegenstände ihrer symbolisch-ästhetischen Darstellung zu verstehen. Damit umgeht ScHELLiNG SCHLEGELS Aufspaltung der Gegenstände in ästhetische und historische. Da für ScHELLiNG das Symbolische in der Malerei sich in dem Verhältnis findet, „in welchem der Ausdruck des Absoluten erreicht" ist, ist die Malerei in der Gegenwart auf Anleihen bei den Mythologien der Vergangenheit angewiesen; die „vollkommenste symbolische Darstellung" sieht er „durch bleibende und unabhängige-poetische Gestalten" dieser Mythologie gegeben. Seine Beispiele sind Maria, Christus, die heilige Cäcilie und vor allem Magdalena, denn diese bedeute die Reue nicht nur, „sondern ist die lebendige Reue selbst" (199). SCHLEGEL und SCHELLING entwickelten ihre Konzeption der Einteilung der Historienmalerei im Rekurs auf GOETHE/MEYERS Traktat Über die Gegenstände der bildenden Kunst, in welchem die Madonna als Symbol der Mutterliebe als der höchste Gegenstand der Malerei propagiert wird. GOETHE/MEYER teilen den Bereich der „vorteilhaften Gegenstände in fünf Klassen, die einerseits hierarchisch gestuft zu denken sind, unter anderen Gesichtspunkten aber auch im Sinne einer Neben-, bzw. Gleichordnung aufgefaßt werden können. Dies liegt daran, daß die Einteilung — inexplizit — auf einer Parallelisierung verschiedener Einteilungskriterien beruht, so daß man, wie GOETHE in einem Brief an W. v. HUMBOLDT verdeutlicht, „in macherlei Rücksichten, sich hin und herbewegen"2o muß. So wird die generelle Forderung, daß der dargestellte Gegenstand sich im Werk „selbst ganz ausspreche" (21) parallelisiert mit der Bedeutung und dem Rang des Gegenstandes wie auch mit der dieser Bedeutung entsprechenden Behandlungs- und Darstellungsweise; plausibel wird diese Parallelisierung der Kriterien jedoch ausschließlich für die höchste Gattung, die „symbolischen Darstellungen", während sich die Einteilung der anderen vier Gattungen im Sinne der Einschätzung der wechselseitigen Integrationsmöglichkeiten der Einteilungskriterien ergibt. So wird die Historienmalerei auf den zweituntersten Platz verwiesen, weil sich der traditionelle Status des Gegenstandsbereiches der Historienmalerei nicht verträgt mit dem Postulat der Selbstaussprache. Die unterste Stufe nehmen die „rein menschlichen Darstellungen" ein, die dritte und vierte Stufe die „Charakterbilder" und „Erfundene (poetische im engeren Sinn) mythische und allegorische Darstellungen", wobei der allegorische Gehalt „nur dem Scheine nach verborgen" (39) sein darf.

20 Siehe Fr. Bratanek: Goethes Briefwechsel mit den Gebrüdern von Humboldt. Leipzig 1876. 62; vgl. Walter Scheidig: Goethes Preisaufgaben für bildende Künstler 1799-1805. Weimar 1958. 15.

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und SCHELLINGS Konzeptionen der Einteilung der höchsten Bildgattungen sind als Revision der GOETHE/MEYERSCHEN Abwertung der Historienmalerei zu verstehen, bzw. als Re-Definition des traditionellen Status der Historienmalerei im Sinne des Status der symbolischen Darstellungen. SCHLEGEL kritisiert den Grundsatz der Selbstaussprache des Gegenstandes in der künstlerischen Darstellung und orientiert sich zugleich selbst daran, wenn er die Wahl von Gegenständen aus der Geschichte fordert, die so bekannt sind, daß sie als quasi-naturhafte Erscheinungen sich selbst ganz aussprechen und ihre ästhetische Betrachtung freisetzen. SCHELLING dagegen konfundiert die Bestimmungen des Symbolischen und Historischen und bezieht die darzustellenden Gegenstände — in kritischer Distanz zu dem Postulat der Selbstaussprache — einerseits auf „Verständlichkeit an und für sich" (208) und geht andererseits — in Entsprechung zu SCHLEGELS Bekanntheitsforderung — von einem Kreis der Historie aus, der als allgemeingültig anzusehen ist, weil er als Bildungsgut allgemein präsent und in der Kunst nur zur neuen Ganzheit (sc. zur Totalität einer Mythologie, einer Anschauung der Welt im Ganzen) gestaltet wird. SCHELLINGS Dilemma besteht nun darin, daß er einerseits dem Umstand Rechnung zu tragen hat, daß es in der Gegenwart keine universelle Mythologie mehr gibt. Jede ältere Mythologie degeneriert „zum Gebrauch herabgesunken" zur „bloßen Formalität"(87). Andererseits muß er aber ein Kriterium finden, das, soll Kunst überhaupt noch eine Bedeutung haben können, die geschichtliche Erfahrung, den „Kreis der Historie" (58) zu einer neuen Mythologie verschmilzt. Unter Rücksicht der „historischen Construktion", die SCHELLING in seinem Aufsatz Ueher Dante in philosophischer Beziehung bemühte, wäre er genötigt, eine Hypothek auf die Zukunft als Garant des Gelingens aufzunehmen.^i In der spekulativen KonSCHLEGELS

21 Vgl. Philosophie der Kunst. 86; diesen Punkt hat Hegel bereits in den Überlegungen seiner Jenaer Zeit — also während der Diskussion mit Schelling — kritisiert. Vgl. dazu A. Gethmann-Siefert: Die Funktion der Kunst in der Geschichte. Bonn 1984.192 ff. Auch in seinen Berliner Ästhetikvorlesungen geht Hegel scharfsichtig gerade auf diesen Punkt ein, und zwar in jener generellen Frage nach dem neuen Kunstwerk der Moderne. Die Urbildlichkeit der Göttlichen Komödie lebt davon, daß Schelling die herrschende Mythologie des Christentums als die maßgebliche ansetzt. Hegels Dante-Kritik, daß die Göttliche Komödie nur auf dem Hintergrund des Katholizismus Allgemeingültigkeit erlange, läßt sich als generelle Kritik an Schellings Mythologiekonzeption lesen. Die Allgemeinverbindlichkeit katholisch-christlicher Mythologie kann nicht als Basis und Entwicklung einer Kunst der modernen Welt angesehen werden. Überträgt man die Überlegungen zum Epos auf die Malerei, die Hegel ja als die christliche Kunst kat'exochen bestimmte, so bedeutet das, daß auch hier Schellings konfundierende Verknüpfung von Historie und Mythologie infragezustellen ist, weil sie von dieser Voraussetzung lebt.

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struktion seiner Ästhetik findet er gleich zwei Auswege. Zunächst fallen das Symbolische und Historische in der Kunst zu zwei Möglichkeiten des Symbols zusammen: sie erscheinen jeweils in „symbolisch-historischer" oder „historisch-symbolischer" Darstellung. Von dieser grenzt SCHELLING noch einmal einen Bereich der „vollkommensten und symbolischen Darstellungen" aus, in denen Bedeuten und Sein (die Vorstellung einer bedeutungsunabhängigen, historischen Existenz) in offenbar noch größerem Maße als in den „historisch-symbolischen" und „symbolisch-historischen" Darstellungen zu symbolischer Einheit gebracht erscheint. Hier orientiert SCHELLING sich an den symbolischen Gestalten des Christentums, die selbst für die symbolische Aufhebung der Mythologie, für die Unabhängigkeit des Symbols und seiner Bedeutung von der historischen Varianz möglicher Mythologien (Weltausdeutungen), einstehen (vgl. 58, 86). SCHELLING kann also den „Wechsel auf die Zukunft", zu dem ihn seine „historische Construction" nötigt, spekulativ nur durch die Auszeichung einer bestimmten — der christlichen — Mythologie einlösen. ScHELLiNGS Konzept des Symbolischen läuft darauf hinaus, die (später von Hegel gestellte) Frage, in welchen grundsätzlich zu unterscheidenden Weisen sich in der Malerei ein Verhältnis zur Geschichte darzustellen vermag, ins Irrelevante zu verschieben. Hegels KüGELCENkritik läuft umgekehrt auf den Nachweis hinaus, daß es eine grundlegende Alternative für die Darstellung von Charakteren in der Historienmalerei gibt, die sich nicht aufheben läßt. Damit wird implizit SCHELLINGS Konzeption des Symbolischen kritisiert, die eine solche Unterscheidung nicht zuläßt, bzw. sie weg-konstruiert. SCHELLING faßt nicht wie Hegel das Verhältnis von Charakter und Situation ins Auge, sondern fragt nach der symbolischen Einheit von (historischem) Sein und (a-historischer) Bedeutung. Im vollkommensten Maße sieht er diese Einheit in Gestalten der christlichen Mythologie, Magdalena und Maria verwirklicht. Hegels Rede von dem „Grundwesen", das in diesen Gestalten zum Ausdruck kommen kann, aber enthält eine Kritik an dieser äußerlichen, den Gegenstand der Darstellung symbolisch auf spaltenden Betrachtungsweise. Magdalena bedeutet ihm nicht zum einen die Reue und ist dann zum anderen die lebendige Reue selbst, sondern ist zu betrachten und von der Malerei darzustellen in ihrem „Grundwesen" (— „diese ewige Tiefe und frommes Sinnen einer edlen Seele" —), das sich weder im Sinne einer bestimmten Bedeutung, noch im Sinne ihrer historischen Existenz angemessen verstehen läßt.^^ Hegel legt deshalb anders als SCHLEGEL oder SCHELLING in der Beschreibung von CORREGGIOS Magdalena nicht den Akzent auf „die Reue", sondern erwähnt

So heißt es in der Kügelgenrezension: „Correggios heil(iger) Franziskus usw. sie sind nur diß durch u. durch und immer, was sie hier und itzt sind".

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nur beiher, daß dies Sujet durch eine äußerliche Auffassung der Reue sozusagen unter seinem Aussagewert (dem „Grundwesen") verkauft werden kann. Während SCHLEGEL die Darstellung der reuigen Magdalena auf ihren Bild- und Bedeutungscharakter festlegt (als „Bild der Reue über gemisbrauchte Jugend und Schönheit") und damit „allgemein" versteht, geht SCHELLiNG nur insofern einen Schritt über SCHLEGEL hinaus, als er die Vorstellung aufspaltet in eine allgemeine Bedeutung und ihre historisch-individuelle Existenz, — Magdalena bedeute nicht nur die Reue, sondern sei die lebendige Reue selbst. Für Hegel bleibt dieser Ansatz der kunsttheoretischen Überlegungen bei der Bedeutung völlig unakzeptabel: Magdalena bedeutet nicht ihren Grundcharakter und ist deshalb auch nicht ihr Grundcharakter. SCHELLiNGS Weise, die historische Existenz und individuelle Bestimmtheit zu denken (im Sinne ihrer höheren symbolischen Potenz), ist von vornherein an der Bedeutung orientiert, die sich „symbolisch" als historische Existenz vorstellen läßt, bzw. so, daß die historische Existenz in symbolischer Bedeutung terminiert. Was ScHELLiNG im Symbolischen zur Einheit gebracht erscheint. Allgemeines (Bedeutung) und Besonderes (historisch-individuelle Existenz), denkt Hegel in anderer Weise als das „Grundwesen" ohne daß dieses historisch, individuell oder symbolisch angemessen zu verstehen wäre. Das Grundwesen wird von Hegel im Gegenteil so bestimmt, daß es unvergänglich, nicht historisch erscheint und quasi als „Substantialität der Innerlichkeit" über jede nur individuelle Bestimmtheit und abstrahierbare Bedeutung hinausweist; die Einheit des Allgemeinen und Besonderen ist nicht symbolischer, sondern substantieller Art. Das geistige Grundwesen erscheint im Medium der Empfindung existentiell definit, „so daß nichts vor und nach, nichts andres in diesem Charakter seyn kann"; bei aller Verschiedenheit der heiligen Charaktere ist dies allen gemeinsam. Für eine genauere Einschätzung des Verhältnisses Hegels zu den Auffassungen der Historienmalerei von SCHLEGEL und SCHELLING ist eine Klärung der Frage erforderlich, warum Hegel seine Überlegungen zum „Unterschied des historischen Stils" nur in seine erste und letzte Ästhetikvorlesung — in unterschiedlichen Modifikationen — ansatzweise integriert, bzw. warum das ALEXANDERbeispiel der KüGELGEN-Rezension in keinem der Vorlesungszeugnisse auftaucht. Es ist auffällig, daß Hegel seine Überlegungen zum „ünterschied des historischen Stils" vor allem in den beiden Vorlesungen zur Sprache bringt, in denen er sich explizit auch mit der Frage nach der möglichen Integration des „Charakteristischen" in seine Systematik befaßt. In dieser Frage findet eine ümgewichtung des systematischen Stellenwertes statt. Indem das Charakteristische von der intentio recta der Begriffsbildung — der Differenzierung des anthropomorphen Charakters der Kunst in unterschiedlichen Epochen und Kunstformen — auf die systematische Ebene

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der formalen Bestimmung der Wahrheitserfahrung durch Kunst versetzt — als „Zweckmäßigkeit des Besonderen zur Hervorhebung des Allgemeinen" bestimmt — wird, gewinnt der kulturgeschichtliche Aspekt der Kunst ein verstärktes Interesse. So erklärt Hegel in seiner letzten Ästhetikvorlesung: „In der Malerei malt sich der Geist der Völker der Zeiten und Individuen ab" (Jag. Bibi. Ms. 133). Dies findet seine Entsprechung in der Anhebung der Bedeutung der „dramatischen" Malerei, bzw. des „Dramatischen" in der Malerei, für die Hegel zwar keine „Ideale", bzw. „absolute Situationen" anzugeben vermag, die jetzt aber auf die jeweiligen kulturellen Zustände bezogen werden im Sinne einer möglichen Generalisierung seiner Einschätzung der niederländischen Genremalerei, die sich gegenüber der universellen Geltung christlicher Vorstellungen nur auf ein Völkerindividuum bezieht.

4. Der Ort der Kügelgen-Rezension in Hegels letzter Ästhetikvorlesung Hegel entfaltet in seinen Vorlesungen zur Asiheiik drei prinzipielle Argumentationszusammenhänge, die es erlauben, seine Überlegungen zur Historienmalerei im Kontext zu analysieren. Der erste, primär in diesem Zusammenhang virulente Gesichtspunkt liegt in Hegels Charakteristik der Malerei als der eigentlich christlichen Kunst. Implizit steckt in dieser Charakteristik aber Hegels frühe Stellungnahme zur These der Romantiker, es gäbe ein neues Epos der Moderne und zu SCHELLINGS historischer Konstruktion dieses Epos auf dem Boden der christlichen Weltanschauung als der Mythologie der Moderne. Die explizite Betonung, daß die Malerei die christliche Kunst sei, läuft im Wesentlichen darauf hinaus, zu zeigen, daß an die Stelle der Poesie, an die Stelle des neu zu schreibenden Epos, die bestehende Religion und ihre Explikation in der Theologie zu setzen ist. Darin liegt der grundsätzliche Bruch mit der Auffassung der Frühromantiker, daß die Poesie, oder mit SCHLEGEL die Transzendentalpoesie, die höchste Möglichkeit geistigen Ausdrucks bereitstelle. Schon die Thematisierung der Gottesvorstellung in der christlichen Religion reicht über das Wirkfeld der Mythologie hinaus, rückt nach Hegels eigener Systemkonstruktion — jedenfalls als protestantische, von der schönen Religion abgehobene Theologie — in die Nähe der Philosophie. Im Kontext der Malerei behandelt Hegel den Gesichtspunkt seiner Kritik an der romantischen Konzeption einer Einheit von Mythologie und Geschichtsbewußtsein nicht explizit. Hier betont er nur die geänderte „Substantialität" der Kunst, die in der christlichen Religion ihre Subjektivierung in der

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Geschichte eines Religionsstifters findet. Im Kontext der Behandlung der Poesie wird dieses Problem allerdings wieder aufgegriffen, weil hier der Inhalt der christlichen Malerei, die Historie als erzählte Geschichte, seinen eigentlichen Ort findet. Hegels Argumentation läuft auch hier doppelgleisig. Einmal verweist er auf das Epos überhaupt, nämlich auf das HoMERische Epos, in dem sich der Geist eines Volkes — mit SCHELLING: das Bewußtsein, daß das Individuum sich aufgrund der Bildung seiner Zeit zu erarbeiten in der Lage ist — seinen Ausdruck schafft. Hier ist das »Grundwesen" im Sinne der sittlichen Substantialität realisiert; und zwar so, daß Geist der Zeit, historische Situation und Kunstausdruck zusammenfallen. Das alte Epos bildet die Mythologie als Weltanschauung, als Geschichtsbewußtsein aus, es spricht aus, »was ein Volk in seinem Wesen ist". HOMERS Epos stiftet mit einer Tradition des Selbstverständnisses zugleich eine Tradition des Handelns, führt zur Gründung des griechischen Staates, der Polis. Hegel kann deshalb als die Simultananschauung dieser »Tradition", als ihre »schönste" Form die Skulptur auszeichnen, das Bild des menschengestaltigen Gottes, dessen Schönheit in der Harmonie von innerem und äußerem Ausdruck besteht. Durch die Dichter gestiftet — HOMER und HESIOD haben, so betont Hegel in den Vorlesungen durchgängig, den Griechen ihre Götter gegeben — werden diese Götter zu Mächten, die die substantielle Sittlichkeit eines Volkes anschaulich präsent halten. Auf die Verlaufsform der epischen Erzählung, die die gelebte Geschichte aus ihren Urgründen, aitiologisch entwirft, folgt die schöne — mit Hegel die »schönste" — Darstellung der substantiellen Geistigkeit oder des in der KüGELCEN-Rezension beschworenen »Grundwesens". Diese als die statarische Form des Epos hat wiederum eine umschreibbare Funktion nur in der auf das Epos folgenden Konstitution eines Staates, in der Polis. Hier wirken die Göttermächte nicht als statarische Darstellungen, sondern als Handlungsorientierungen, als Verpflichtungen auf bestimmte, andere ausschließende Handlungsweisen. Mit der Situation der geschichtlichen Herrschaft des Christentums ändert sich nach Hegel diese Konstellation grundlegend. Erzähltradition und bildnerischer Ausdruck fallen auseinander, weil das »Epos" des Christentums nicht die endliche Geschichte menschlicher Staatengründung, sondern die unendliche Geschichte des Menschen mit einem absoluten Gott ist. Mit Hegel: die religiöse Vorstellung des Christentums ist ebenso auf die Menschengestalt des Gottes angewiesen, wie sie deren Endlichkeit zerbricht. Dieser Vorgang zeichnet sich jeweils in doppelter Weise ab: die Christendarstellungen als Ablösung der menschengestaltigen griechischen Götterskulptur müssen zugleich durch die Lehren der Religion als unendlich-absoluter Gott interpretiert werden. Die »Erzähltradition" geht nicht mehr, wie in der Situation des HoMERischen Epos, in die anschauliche Gestalt (Skulptur) als ihre formale Vollendung über, sondern zerbricht diese Gestalt als endliche Gestalt. Darin

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liegt der Grund für Hegels zu Eingang der Beschäftigung mit der Malerei in den Vorlesungen ständig wiederholter Bemerkung, daß die Darstellungsweise wie der Darstellungsinhalt der Malerei ein ^problematischer" sei. Ersichtlich problematisch ist die dritte Geschichte, nämlich die Geschichte des Gottes in Menschengestalt mit seiner Gemeinde, die sich in der Präsentation von Martern, Greueln, kurz: Nicht-Schönem ergehen muß. Problematisch ist aber auch die Darstellung des menschengestaltigen Gottes selbst, für den „Schönheit", nämlich die Harmonie des Äußern und Innern, nicht mehr der adäquate Darstellungsmodus sein kann. Weil es in der darzustellenden Vorstellung des Gottes — so Hegel — um die Geschichte Gottes mit dem Menschen geht, folgt eben aus der Konzentration auf die eine Gestalt des Religionsstifters (die noch in etwa mit dem griechischen Heros oder Gott vergleichbar wäre) die Darstellung der Geschichte seiner Gemeinde. Dieses Thema muß die statarische Darstellung der Malerei korrumpieren, solange es sich nicht mit dem augenblickshaftstatarischen Ausschnitt begnügen kann, weil die dahinterliegende Erzähltradition (die Religion und ihre Verkündigung als die mitgelieferte Deutung) den Übergang von statarischer Darstellung zu Geschichtsablauf, Handlung jeweils bereits geschaffen hat. Sobald diese Geschichte Gottes mit dem Menschen, Christi mit seiner Gemeinde, nicht mehr als Mythologie — als Weltanschauungsweise — unangefochten gilt, sondern sich in der modernen nachaufgeklärten Welt als eine unter anderen „Geschichten" behaupten muß, fällt auch die Möglichkeit des Zusammenfalls von historischer und symbolischer Bedeutung, von Faktum und Geltungsbereich gegebener Sinndeutung (Mythologie) aus. Die Kunst selbst gerät — das definiert die „romantische Kunstform" — in Konfrontation zumindest mit dem „Bedürfnis" nach Vernunft. Die Darstellung einer substantiellen Geistigkeit (Grundwesen) kann in dieser Kunstform, selbst wo sie noch in diese deutende Erzähltradition (nämlich die nun zur Historie gewordene Mythologie) eingebettet ist, nicht genügen. Das bloße Grundwesen tritt in Konfrontation mit der religiösen Vorstellung und über diese vermittelt abschließend mit der Philosophie, mit einer subjektiven Vergeistigung substantieller Verhältnisse. Diese Überlegungen entwickelt Hegel dann in ihren speziellen Konsequenzen für die Malerei, nämlich hinsichtlich des „eigentlich historischen Styls" und hinsichtlich der letztgültigen Einstufung der Historienmalerei. Hegel kann in seinen Aslhetikvorlesungen — anders als in dem Argumentationsbruchstück der KüGELGEN-Rezension — das Grundwesen der Malerei als der primär christlichen Kunst so betrachten, daß er das Zusammenspiel von Substantialität und Subjetivität im genannten Sinn von substantiell-bleibender, dem „Grundwesen" verpflichteter Darstellung und der sie begründenden Erzähltradition faßt. In der christlichen Gemeinde und in der Andachts-

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funktion des Malwerks fällt beides zusammen. Die Malerei „stellt die Gemeinde dar, das selbstbewußte Geistige" (sc. nicht mehr als das nur Substantielle), näherhin „als sich empfindendes Geistige erscheinend, sich äußerlich kundgebend". Im Gegensatz zu dieser direkten Integration der Bestimmung des Grundwesens hat Hegel seine Überlegungen zum „Unterschied des eigentlichen historischen Styls" nicht direkt in die Äsiheiikvorlesungen übernommen. Vor allem zielen seine Überlegungen zu den religiösen Historien„Portraits" GERHARD VON KüGELGENS, das zeigen die genannten Zusammenhänge insgesamt eindeutig, nicht auf eine ästhetische (Ab-)Wertung. Sie erscheinen vielmehr — in eine Reihe von Aspekten auseinandergelegt — in fortlaufender Präzisierung jener Annahme, daß die Malerei als christliche Kunst eine Geschiebe des Handelns Gottes (und zwar nicht nur des menschengestaltigen, sondern des menschlichen) zur Darstellung bringe. Im Kontext des Malereikapitels wird die Intention der KüGELGEN-Kritik in ihrem geistesgeschichtlichen Sinn deutlich durch Hegels Ausführungen zur Darstellung von Christusköpfen, bzw. zur Darstellung der Gestalt Christi überhaupt. Damit wählt Hegel nämlich jenes Beispiel, dem die zugehörige „Historie" als Mythologie mitgeliefert wird, und zeigt an diesem ausgezeichneten Fall — später zerbricht diese Einheit noch weiter —, wie schon hier die einerseits erforderliche ideale Darstellung sich andererseits fundamental von der Idealität griechischer Skulpturbilder unterscheiden muß. Den „Kontrast" sich wechselseitig ausschließender Bestimmungen, „den die Kunst nicht fassen kann", stellt Hegel explizit an der „Gestalt Christi" als Gegenstand der Kunst heraus. [Dieser Gegenstand der Kunst sei einerseits vergleichbar dem griechischen Gott in Menschengestalt, andererseits aber sei er anders als die substantiellen Götter der Griechen eine geschichtliche Gestalt. Die Idealität als Grundwesen oder Grundcharakter reicht zur Kennzeichnung dieses spezifischen menschengestaltigen Gottes nicht zu, weil sie die Individualität subjektiver Innerlichkeit ausläßt, Christus als Gegenstand der Malerei sei „Portrait, dieser Mensch", damit als Gegenstand der Kunst „kein Ideal". Es legt sich also nahe, den „historischen Styl" als legitime Ausdrucksform an die Stelle der Konzentration auf das „Grundwesen" zu setzen. So heißt es bei Hegel, die Kunst könne das „Ganze" dieses Charakters nicht in Entsprechung zum griechischen Ideal darstellen, sondern sie sei darauf angewiesen, Christus in Situationen darzustellen, die — im Sinne des „Unterschiedes des historischen Styls" — sowohl als Form eines erhöhten Ausdrucks des Grundcharakters zu verstehen sind, als auch selbst bestimmend für die Charakteristik erscheinen. „Die Situation des Leidens Sterbens, Umgang des äußeren Lebens haben nicht ideale griechische Schönheit, es ist aber diese höhere tiefe Innigkeit" {]ag. Bibi. 28/29. Ms. 93 a). Bezeichnend ist, daß hier Situationen mit einem Ideal situationsloser Schönheit verglichen werden, während Hegel in seiner KüGELGEN-Rezension zur idealen Darstellung der Innigkeit noch aus-

Hegels Kügelgen-Rezension

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drücklich erklärte, es handele sich nicht um die Darstellung einer Situation, um damit zugleich die Nähe zum klassischen Ideal auszudrücken. Dadurch, daß Hegel in seinen Ästheiikvorlesungen von der Konfrontation des klassischen Ideals mit der Gestalt Christi (der als wirklicher Mensch in der Malerei „Portrait" wird) ausgeht, wird das „Grundwesen" als das „Ganze" auf einen geistigen Vorstellungsrahmen bezogen, der dieses „Ganze" auf eine höhere Ganzheit hin auf sprengt, die jedoch nicht mehr adäquat veranschaulicht werden kann, sondern in der Malerei nur als Phänomen einer Spaltung von Anschauung und Vorstellung, Weltlichkeit (im Sinne der Historizität) und Ideal in Erscheinung tritt. Vor allem an RAFFAELS Transfiguration und Stifteraltären macht Hegel in seinen Vorlesungen auf diese Spaltung aufmerksam. Das Bild erscheint in beiden Fällen nur durch die Pyramidalkomposition im Sinne der religiösen Vorstellung auf eine höhere Einheit hin ausgerichtet. Gegenüber der Transfiguration sieht Hegel im Unterschied zu den Stifteraltären keinen Anlaß zur Kritik an der dargestellten Weltlichkeit, bzw. Alltäglichkeit. Er verteidigt vielmehr die „Weltlichkeit" der Apostel gegenüber FR. SCHLEGEL, der in seinen Pariser Gemäldebeschreibungen erklärte: „Die Apostel, die nicht helfen können, sehen eher etwas einfältig aus, und machen durchaus keinen würdigen Eindruck".^3 Hegel dagegen erklärt: „Man sieht bei RAPHAELS Verklärung Christi den Gegensatz des Christus und der Apostel, diese haben den Charakter der Weltlichkeit an ihnen, mit tiefem Ernst der Umstände, die um sie hergehen. Das Ideale sieht man am Bilde Christi und der Madonna, hingegen sind die Donataren ganz in der Andacht, aber sie sind z.B. Kriegsmänner ... man sieht also da noch andere Bestimmungen als die der Andacht" {]ag. Bibi. 1828/29, Ms. 64 f). Inden Stifteraltären erscheint der Gegensatz von Ideal und Weltlichkeit — anders als in RAFFAELS Transfiguration — als merkliche Diskrepanz, weil die Sphäre der „Alltäglichkeit" quasi unter dem Deckmantel der Idealität selbst ins Ideale transponiert wird. Während, wie Hegel erklärt, RAFFAEL sich ganz nach dem Gegenstand bzw. Gehalt richte und die Kunst bloß als Mittel betrachte, um diesen Gehalt darzustellen, erscheint die Kunst im Fall der „anderen Bestimmungen", die in die Stifteraltäre integriert sind, als „Kunstfertigkeit", sich autonom setzende Geschicklichkeit. Die Tatsache, daß der neue Inhalt der romantischen Kunstform — die christliche Religion — die Form der Kunst zerbrechen und hinter sich lassen muß, zeitigt also zwei Konsequenzen. Einmal eine Symbiose von Anschauung und religiöser Vorstellung, die zwar „ideale" Darstellungen erreichen läßt, aber eb^n nur aufgrund des universal vorgegebenen religiösen Rah-

23 Friedrich Schlegel: Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst. In: Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe. Bd 4. Hrsg. v. H. Eichner. Paderborn 1959. 51.

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mens die Idealität der Gestalten als christlicher Gestalten gewährleistet. Nach einer Übergangsform der Mischung von idealer Darstellung und ins Ideal transponierter „Weltlichkeit" (im Sinne von Historizität und Alltäglichkeit) folgt dann die Freisetzung der Kunst vom religiösen Inhalt, ihre Vollendung in jenen Werken der Niederländer, in denen an die Stelle der religiösen Legende ein historisches Selbstverständnis tritt. Hegel hatte diesen Prozeß zunächst innerhalb der niederländischen Malerei als den Übergang zum Genre charakterisiert, die formale Vollendung der Malerei, die hier zur „Kunst des Scheines" wird anhand der Farbbehandlung herausgestellt. Die weltlichen Dinge erscheinen als Indiz eines bürgerlichen Weltverhältnisses im „Glanz der Schönheit", die Gemälde selbst — die als Kunst freigesetzte Kunst — bilden eine neue Übergangsform durch die Art der Farbbehandlung, nämlich die „Musikalität der Farbe". Denselben Gedanken spielt Hegel in seiner letzten Vorlesung für die italienische Malerei durch, wiederum hinsichtlich der Beurteilung des ästhetischen Wertes, der künstlerischen Vollendung mit positiver Akzentuierung. Die Gewißheit der objektiven Versöhnung, die mit der christlichen Religion auf der Basis der Vorstellung garantiert erscheint, führt dazu, daß die „Innerlichkeit in die Weltlichkeit heraufscheint", — „Zum Weltlichen gehört aber der sittliche Zustand" (]ag. Bibi. 1828/29. Ms. 93a). Dessen Darstellung bildet den zweiten Kreis der romantischen Kunst. Das „frohe, in sich selbst ruhende Leben der Bürger" in Italien tritt gleichsam an die Stelle des „Grundwesens". Während die antike Götterstatue als „ewige Ruhe in sich selbst" {Griesheim 1826. Ms. 277 f) bestimmt ist bzw. als Einheit der Innerlichkeit und Äußerlichkeit, wird im Bereich des Romantischen die in sich versöhnte und deshalb weltlich-affirmative Gemütsverfassung bürgerlicher Sittlichkeit zum Gegenstand der Kunst. Diese Beziehung der bürgerlichen Lebensart zum geistigen Gehalt tritt in der italienischen Malerei vor allem in den Hintergründen der geistig-religiösen Themen in Erscheinung: „An das Geistige ist allerhand angeknüpft worden. Diese Elemente brachten die Kunst ihrer Vollendung entgegen" (134). Die weltlichen Elemente, die in den Hintergründen zum Tragen kommen — Landschaften, Architekturen, Bildnisse großer Männer usw. — versteht Hegel im Sinne seiner Auffassung der HiRxschen Lehre vom Charakteristischen, d.h. als die Zweckmäßigkeit des Besonderen zur Hervorhebung des Allgemeinen. Die in sich selbst ruhende bürgerliche Lebensart stellt sich in der Malerei als zweckmäßige Gestaltung weltlicher Verhältnisse dar, die der im Christentum erlangten Gewißheit objektiver Versöhnung entspricht. Damit ergibt sich für die Malerei eine veränderte Einschätzung des Historisch-Weltlichen im Verhältnis zum Heilsgeschichtlich-Innerlichen. War das „Grundwesen" durch die Abstraktion von allem historischBedingten zu verstehen, um im Sinne eines romantischen Äquivalents zur griechischen Götterstatue gelesen werden zu können, so ergibt sich jetzt ein

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gegensinniges Äquivalenzverhältnis: die Objektivität des griechischen Ideals findet ihr Äquivalent in dem sittlichen Weltzustand, während die „tiefste Innerlichkeit des Wesens" {Kehler 1826. Ms. 340) der griechischen Götterstatue ihr romantisches Äquivalent in Christus findet. Was in der griechischen Götterstatue vereint zu sein schien, wird im Bereich des Romantischen einer Spaltung unterworfen, so daß die wesentlichen Bestimmungen geschichtlich nacheinander oder nebeneinander realisiert werden. Die Märtyrer wissen zwar das Göttliche rein zu bewahren in ihrer Innerlichkeit, aber der Weltzustand, in dem sie auftreten, ist — wie Hegel erklärt — barbarisch; in der bürgerlichen Lebenswelt dagegen ist zwar die substantielle Innigkeit nicht mehr das ausschließliche Interesse, aber es ist ein sittlicher Weltzustand konstituiert worden, der diese Innerlichkeit im Objektiven aufscheinen läßt. Hegel erkennt, daß die Malerei hier verschiedene Möglichkeiten hat, ja daß sie das Verhältnis dieser Möglichkeiten zu thematisieren hat und ändert entsprechend die Charakteristik der schon immer angeführten Beispiele. Für die Maria Magdalena heißt es beispielsweise: „Maria Magdalena wird bald einfach, bald ausführlich dargestellt, wie FRANCESCONI sie im Schmuck des vorigen Lebens, den sie abwirft darstellte und in allen Zeichen der Buße" (Jag. Bibi. 1828/29 Ms. 129a). Der Übergang von der Darstellung des „Grundwesens" — in Hegels Beispielen z.B. CORREGGIOS Magdalena — zur historischen Darstellung erscheint in der Entwicklung der Malerei als zwangsläufig. Hegel geht noch weiter. Mit der romantischen Innerlichkeit tritt die Idealität des Grundwesens notwendig in die Sphäre der Empfindung und erfordert nun anstelle der statarisch-idealen eine „dramatische" Darstellung. „Die Explikation der Empfindung muß so wesentlich dramatisch werden" (ebd.). Die Lehre von den prägnanten Momenten der bildlichen Darstellung des Dramatischen, in denen das „Ganze" als „Objektive(s)" zur Erscheinung kommt, tritt damit gleichsam an die Stelle des Grundwesens. Dies expliziert Hegel in seiner letzten Ästhetikvorlesung am Beispiel der Schlachtenstücke, an dem er in einem Nachlaßfragment den Gegensatz von Szene und Handlung verdeutlicht hatte. Die Szene als „Bezeigung eines Verhältnisses" ist nicht unmittelbar Darstellung eines Empfindens, vielmehr darauf angelegt, „die Empfindung zur Vorstellung zu verklären" (Jag. Bibi. 1828/29, Ms. 130 f). Während Hegel in seiner KüGELGEN-Rezension noch erklärte, Magdalenas Sünde sei etwas nur Momentanes, von dem in der Darstellung vollständig abgesehen werden müsse, erscheinen nun auch die Äkzentuierungen des Übergangs, jene „historischen" und scheinbar bloß „äußerlichen" Darstellungen zumindest als interessant, als möglich, ja als historisch notwendiger Fortschritt der Malerei. Die Basis für diese erweiterte Auffassung bereitete Hegel wiederum durch seine Auseinandersetzung mit der niederländischen Malerei vor. In den formal vollendeten Bildern der niederländischen Genremalerei wird auch „das Böse ... nur momentan dargestellt, nicht als Zug des

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Seins eines Individuums" (Jag. Bibi. 1828/29 Ms. 134 a). Die Möglichkeit dazu gewinnt die Malerei hier wie bei den Italienern durch ihr ureigenstes Medium, das in der Nähe zum Ideal der statarischen Götterstatue nicht in seiner Eigentümlichkeit in den Blick kommt. Hegel legt die formale Vollendung wie die Durchbrechung der statarischen Idealität in die Farbbehandlung, in jene „Musikalität der Farbe", die die niederländische Malerei zumindest zur Beherrschung der Darstellung der flüchtigsten Momente befähigt. In solcher Darstellung könnte — so scheint es nun im Blick auf die diskutierten Darstellungen der Maria Magdalena — das Böse gleichsam aufgehoben erscheinen in der Flüchtigkeit des dargestellten Augenblicks, in der Herabsetzung auf das — freilich im „Glanz der Schönheit" verewigte — Momentane. Hier müßte eine eingehende Untersuchung von Hegels Theorie der Farbe und von den Quellen, die Hegel umformend in seine Kunstlehre integriert, letzten Aufschluß geben über den vollständigen Sinn dieser Akzentverschiebung. Aus dem gleichsam stiefographisch überlieferten und wohl auch vorgebrachtem Argument der letzten Vorlesung zur „Musikalität der Farbe" läßt sich allerdings zweierlei schließen: der Grund für diesen zwangsläufigen Fortschritt der Malerei von der Darstellung des „Grundwesens", sc. der Idealität ihrer Gestalten, zur Weltlichkeit oder zum „eigentlich historischen Styl" liegt im Prinzip der romantischen Kunstform, der „subjektiven Innerlichkeit". Dies Prinzip findet in der Malerei seinen umfassendsten Ausdruck gerade in der Darstellung der „Weltlichkeit". Hier findet es freilich nicht seinen letztgültigen Ausdruck, sondern die Malerei erscheint als Übergang zur nächsten Form der Innerlichkeit, der Musik, welche wiederum in der Poesie aufgehoben sein wird. Hegels These vom „Vergangenheitscharakter" der Kunst wird in dieser Charakteristik der jeweiligen Künste als selbst „bewegter" Formen des Geistes in der Geschichte nach ihrer akzeptablen Seite sichtbar, nämlich als Theorie der Geschichtlichkeit der Künste. Gestützt wird dies durch den schon erwähnten weiteren Gesichtspunkt, daß Hegel gerade die zuletzt charakterisierten Formen jeweils als die formal vollendeten auszeichnet. Zumindest lassen sich hier der Klassizismusvorwurf und die These vom Vergangenheitscharakter der Kunst trennen. Man muß nicht gegen ästhetische Wertungen — also gegen Geschmacksurteile historischer Individuen — argumentieren, sondern müßte allenfalls die Art der Verwendung historischen Wissens in geistesgeschichlichem Interesse infragesteilen, wie sie Hegel in seinen Vorlesungen entwickelt hat.

WOLFGANG BEYRODT (BIELEFELD)

ANSICHTEN VOM NIEDERRHEIN. Zum Verhältnis von Carl Schnaases Niederländischen Briefen zu Georg Förster

Ansichten vom Niederrhein, diese doppeldeutige und damit mißzuverstehende

Formulierung, die über diesem Vortrag steht, ist aus der Literaturgeschichte entlehnt. Zitiere ich den Titel von GEORG FöRSTERS (1754—1794) Hauptwerk^, ist damit bereits einer der Gegenstände meiner Überlegungen genannt. Ausgehend von FöRSTERS Schrift sollen historische Urteile über Leben und Kultur am Niederrhein auf Gemeinsamkeiten wie Unterschiede befragt werden. Niederrhein — das meint nicht nur die Landschaft entlang des Unterlaufs dieses Flusses, sondern bezeichnet auch die (grobe) Route zweier Reisen, wie sie FöRSTER 1790 und auf seinen Spuren u.a. der Kunsthistoriker CARL SCHNAASE (1797—1875) 1830 von da in die westlichen Nachbarländer unternahmen.

Anlaß dieses Vergleichs ist die Beobachtung gewesen, nach der die Beschäftigung mit der bildenden Kunst dieser Länder in der Kunstgeschichte der 30er und der 40er Jahre des vorigen Jahrhunderts eine besondere Rolle gespielt, ja sogar zeitweise ein größeres Interesse beansprucht habe, als es die italienische Kunst konnte. Namen fallen in diesem Zusammenhang wie die GUSTAV FRIEDRICH WAAGENS (1794—1868), HEINRICH GUSTAV HOTHOS (1802— 1873), JAKOB BURCKHARDTS (1818—1897), JOHANN DAVID PASSAVANTS (1787— 1861), des bereits genannten SCHNAASES und natürlich der Hegels, die alle zwischen etwa 1820 und 1840 für das Publikum in Deutschland die Kunstwerke der westlichen Nachbarländer, also der Niederlande, Belgiens, Nordfrankreichs und Englands, literarisch erschlossen. Mit einem dieser Texte SCHNAASES, den 1834 erschienenen Niederländischen Briefen^, habe ich mich ausführlicher befaßt und stieß bei der Frage nach etwaigen Vorbildern wie selbstverständlich auf FöRSTERS Ansichten. Frappierend waren zunächst einige

1 G. Förster: Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich im April, Mai und ]unius 1 790. Werke. Bd 9. Bearb. von Gerhard Steiner. Berlin 1958 (im Folgenden zit. mit Ansichten). ^K. Schnaases Niederländische Briefe. Stuttgart/Tübingen 1834 werden im Text zitiert mit NB. Ausgangspunkt dieses Beitrags ist meine ungedruckte Einleitung zu einem geplanten Neudruck dieser Studie.

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Parallelen im Entstehungsprozeß beider Veröffentlichungen. Ihnen lagen ja, das als erste Gemeinsamkeit, tatsächlich stattgefundene Reisen zugrunde, die in zwei der turbulentesten Jahre der europäischen Geschichte, nämlich 1790 und 1830, unternommen wurden. Und schon flüchtiges Lesen erweist, daß beide Reisenden von den politischen Ereignissen, die sich um sie herum abspielten, berührt waren. Sodann zeigt der Blick auf beider Biographien weitere Ähnlichkeiten. In Danzig bzw. dessen Umgebung geboren, hatte beide ihre berufliche Laufbahn im Alter von Anfang bzw. Mitte 30 in mittlere Residenzstädte am Rhein geführt. FöRSTER war Universitätsbibliothekar in Mainz geworden, SCHNAASE war als Jurist in Düsseldorf tätig. Beide hatten breit gefächerte Interessen, denen sie an ihren jeweiligen Wohnorten nur sehr begrenzt nachgehen konnten. So ist es verständlich, daß beide bestrebt waren, wenigstens während ihrer knapp bemessenen Urlaubszeit erneut den alten Neigungen nachzugehen und sie interessierende wissenschaftliche Einrichtungen des Auslandes zu besuchen. Beide dachten kurzfristig an einen Italienaufenthalt, gaben diesen Plan aber zugunsten einer Reise den Rhein stromaufwärts auf.

Natürlich darf all dies nicht überbewertet werden. Schicksal und Werk beider Autoren bieten ansonsten wenig Berührungspunkte, ja scheinen durch Welten getrennt. Jn andern, auch in den besten deutschen Schriften fühlt man Stubenluft", so charakterisiert etwa FRIEDRICH SCHLEGEL FöRSTERS Werk und läßt damit an WILHELM WAETZOLDTS Bild von SCHNAASE denken, der nach seiner Versetzung nach Berlin „(a)uf dem Balkon seiner am Tiergarten gelegenen Wohnung, mit dem beruhigenden Blick in die grüne Gartenwelt der Königgrätzer Straße"^ sitzt und in seiner Freizeit an dem monumentalen Unternehmen seiner Kunstgeschichte arbeitet. Und tatsächlich sind es letztlich nur Äußerlichkeiten, die der revolutionäre Jakobiner und der preußische Beamte, auf dessen Konservatismus unlängst ELKE VON RADZIEWSKY^ erneut hinwies, gemeinsam haben. Doch deshalb verbietet es sich keineswegs, beider Schriften zu vergleichen. Schließlich verbindet sie Gattung wie Thema und, um noch ein Drittes zu nennen, ihre geringe Resonanz in der heutigen kunsthistorischen Literatur. Daß SCHNAASE und FöRSTER gemeinsam behandelt wurden, geschah m.W. erstmalig innerhalb WAETZOLDTS Deutschen Kunsthistorikern, jenem Standard-

^Zit. nach F. Schlegel: Kritische Schriften. Hrsg, von Wolfdietrich Rasch. München 1970. 326, bzw. W. Waetzoldt: Deutsche Kunsthistoriker. Bd 2. Leipzig 1924. 73. ^ £. van Radziewsky: Kunstkritik im Vormärz. Dargestellt am Beispiel der Düsseldorfer Malerschule. Bochum 1983. 36 f sowie auch der Katalogtext von Irene Markowitz zu Eduard Steinbrücks Bildnis von Schnaase (Stadtmuseum Düsseldorf) In: Armer Maler — Malerfürst. Künstler und Gesellschaft Düsseldorf 1819-1918. Düsseldorf 1980, 35.

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werk, auf das auch heute noch jede Untersuchung zur Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte angewiesen ist. Über GEORG FöRSTER ist seither eine Vielzahl von Veröffentlichungen erschienen.^ Besonders die Germanistik der DDR hat sich um diesen lange zu wenig beachteten Autor verdient gemacht und ihm u.a. eine noch im Erscheinen begriffene Werkausgabe gewidmet, in der bereits 1958 die Ansichten neu vorgelegt wurden. Irgendeine Resonanz hierauf von Seiten der Kunstgeschichte kenne ich bis auf eine Anmerkung innerhalb HERBERT POGTS Studie über den Kunstschriftsteller HERMANN PüTTMANN (1811-1874)* nicht. Vor allem die Einleitung GERHARD STEINERS, des Herausgebers dieses Bandes der Werkausgabe, verdiente jedoch auch die Aufmerksamkeit der Kunstgeschichte. In ihr ist die Geschichte von FöRSTERS im Frühjahr 1790 zusammen mit ALEXANDER VON HUMBOLDT (1769— 1859) unternommener Reise von Mainz aus den Niederrhein entlang über Lüttich, durch Brabant, Flandern und die Republik der Vereinigten Niederlande nach England und von da über Frankreich zurück nach Mainz geschildert. Daß für diesen Reiseweg sein Wunsch verantwortlich war, ein eigenes Urteil über die Ereignisse der französischen Revolution zu gewinnen, darf man wohl mit STEINER annehmen, der die geschilderte Route als »Weg durch die Länder der bürgerlichen Freiheit, durch die Aufstandsgebiete Brabant und Flandern und durch Frankreich" (Ansichten, 338) bezeichnet. Ergebnis dieser Reise waren umfangreiche Tagebuchaufzeichnungen und zahlreiche Briefe an seine Frau und an Freunde, in denen drei Gegenstandsbereiche im Mittelpunkt stehen, nämlich die Natur, die Kunst und das gesellschaftliche Leben der Gastländer. Unmittelbar nach seiner Rückkehr begann FöRSTER mit der Ausarbeitung dieser Materialien. Der erste Band der Ansichten lag dann im Frühjahr 1791 im Druck vor, der zweite im Jahr darauf. Die Fertigstellung des dritten, abschließenden Bandes gelang FöRSTER nicht mehr. FöRSTER hat den doppelsinnigen Titel Ansichten gewählt, um die Intention, sowohl das Angeschaute als auch das dabei Empfundene und Gedachte literarisch darzustellen, auf einen einfachen Nenner zu bringen. STEINER hat dies, u.a. aus Briefen FöRSTERS paraphrasierend, so charakterisiert, daß »sein Werkchen... so,flüchtig' wie der Titel, den er dafür wählte, und wie es der schnelle Flug seiner Reise mit sich bringe, [sei]; aber just in solchen Erscheinungen könnten ,gewisse Ideen am leichtesten in Umlauf gebracht werden'" (Ansichten, 346). Dies Zitat wird — zumindest den Kunsthistoriker — an FöRSTERS kurzes dem damaligen Domtorso zu Köln gewidmetes Kapitel denken lassen, stand

5Vgl. H. Fiedler: Georg-Forster-Bibliographie J767-1970. Berlin 1970. * H. Pogt: Hermann Püttmann. Miszellaneen zur Kunstkritik des Vormärz. Münster 1980. 166 f.

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dies doch am Beginn all jener Initiativen, die zur Fertigstellung des Doms führten. Den Interpreten FöRSTERS ist es nicht gelungen, irgendwelche Texte namhaft zu machen, die seine Augen für die Gotik geöffnet haben könnten.^ Vielmehr darf man wohl wie zuletzt ROLF CHRISTIAN ZIMMERMANN® annehmen, daß es für FöRSTER und seine Begleiter erst das unmittelbare Erleben des Domtorsos war, das ihr Interesse an gotischen Formen weckte. Doch diese müssen es sich gefallen lassen, an der antiken Kunst als absolutem Gradmesser künstlerischer Vollkommenheit gemessen zu werden, dem selbstverständlichen „Inbegriff des Vollendeten, Übereinstimmenden, Beziehungsvollen, Erlesenen, mit einem Worte: des Schönen" {Ansichten, 24). Trotz des eindeutigen Kunstbegriffs, der FöRSTERS Skizze zugrunde liegt, fallen doch Formulierungen auf, die zukunftsweisend sind. Da ist von T^eenpalläste(n)" (ebd.) die Rede. Oder „die Dunkelheit in den leeren, einsamen, von unseren Schritten widerhallenden Gewölben, zwischen den Gräbern der Kuhrfürsten, Bischöfe und Ritter, die da in Stein gehauen liegen, [weckte] manches schaurige Bild der Vorzeit in seiner Seele" (ebd.). Kurz, Motive, die die spätere Dombaudichtung beherrschen und eigentlich erst durch GEORG WEERTHS (1822-1856) Domträumereien in den Leben und Taten des berühmten Ritters Schnapphahnski von 1848/49 überwunden sein werden, sind hier m.W. erstmalig formuliert. Ungleich wichtiger an FöRSTERS Domessay als solche neuen Motive ist seine Wirkung auf jüngere Zeitgenossen. Hegel etwa fertigte wenige Jahre nach dem Erscheinen der Ansichten Exzerpte über den verschiedenen Charakter der griechischen und der gotischen Architektur an, von denen angenommen wurde, daß sie seine Gedanken über die christliche Malerei angeregt hätten®. Dann bekennt 1803 der gerade 20jährige SULPIZ BOISSEREE (1783—1854) in seinen posthum erschienenen Erinnerungen, daß ihm FöRSTERS Ansichten auf seiner ersten Reise durch Belgien als Führer gedient hatten und „schon meiner jugendlichen Verehrung für den Dom zu Köln zur Stütze gegen die Verächter alles Mittelalterlichen geworden"i° waren. BOISSEREES Dombegeisterung hatte literarisch nicht nur für das eigene Schaffen Konsequenzen, sondern vermittelte auch dem Freund FRIEDRICH SCHLEGEL (1772-1829) die 7 P. Frankl: The Gothic. Literary sources and interpretations through eight centuries. Princeton 1960. 444 f. 8 R. C. Zimmermann: Der Kölner Dom in der Literatur der klassisch-romanischen Zeit. In: Religion — Kunst — Vaterland. Der Kölner Dom im 19. Jahrhundert. Köln 1983, 21 ff. ^ Hegel: Theologische Jugendschriften. Vgl. hierzu }. d'Hondt: Meurtre dans la cathedrale. La signification de l'art chretien selon Förster et Hegel. In: Revue d'esth^tique. 16 (1963), 261-289. F°S. Boisseree: Briefwechsel, Tagebücher. Mit einem Nachwort von Heinrich Klotz. Faks. Dr. nach d. 1. Aufl. Bd 1. Göttingen 1970. 20.

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Anregungen zu dessen 1805 entstandenen Briefen auf einer Reise durch die Niederlande, Rheingegenden, die Schweiz und einen Teil Frankreichs. Mit dieser Schrift setzt eine gegenüber FöRSTER vollständige Neubewertung der Gotik ein, die auch SCHNAASE auf seiner eine Generation später unternommenen Kunstreise prägte. Über CARL SCHNAASES Leben und damit auch über die Hintergründe seiner Reise in die Niederlande sind wir durch die von WILHELM LüBKE (1826—1893) verfaßte Biographische Skizze^^ informiert, für die diesem SCHNAASES heute unauffindbarer Nachlaß zur Verfügung stand. Hiernach war eine 1827 unternommene Italienreise Anlaß für SCHNAASE, sich intensiv mit der Geschichte der bildenden Künste zu befassen. Seine Studien galten zunächst der Architektur, hatten aber von Anfang an den hohen Anspruch, als Grundlage einer „Beschreibung von Italien in kunstgeschichtlicher Hinsicht" {Lübke, XXXVIII) zu dienen. Private wie berufliche Gründe hindern jedoch den jungen Juristen, diese Studie abzuschließen. Erst die Berufung nach Düsseldorf im Oktober 1829 versetzte SCHNAASE in ein Umfeld, das seinen historischen Ambitionen förderlich war. In Anlehnung an den Titel eines Teils der Erinnerungen des Dichters KARL IMMERMANN (1796—1840) hat es sich eingebürgert, diese auch für SCHNAASE wichtigen Jahre als Düsseldorfer Anfänge zu bezeichnen. IMMERMANN, mit dem SCHNAASE bald befreundet war, schildert anschaulich das lebhafte kulturelle Leben des damaligen Düsseldorfs, das durch die dortige Akademie wie das von ihm geprägte Theaterleben bestimmt war. Interessant ist, daß die Entwicklung derjenigen Fraktion Düsseldorfer Maler um den Akademiedirektor WILHELM VON SCHADOW (1788— 1862) negativ beurteilt wird, die mit ihrer Italienreise im Winter 1830/31 eine neue religiöse Kunst begründen wollten. Ob sich SCHNAASE diesem Urteil angeschlossen hat, läßt sich nicht sagen. IMMERMANN läßt ihn ausweichend antworten. Die Tatsache aber, daß SCHNAASES Aufenthalt in den Niederlanden kurz vor SCHADOWS Abreise nach Rom fällt, wirft die Frage auf, weshalb er diesem nicht folgte, um die drei Jahre zuvor in Italien begonnenen Studien fortzuführen. Dies nur mit dem Hinweis auf SCHADOWS distanziertes Verhältnis ihm gegenüber zu beantworten, ist unzureichend. Berücksichtigt werden muß auch das Interesse, das SCHNAASE und seine Freunde für ihre neue Heimat entwickelten, die samt ihren geographischen Nachbarn im Westen kennenzulernen er einem erneun W. Lübke: Carl Schnaase. Biographische Skizze. In: C. Schnaase: Geschichte der bildenden Künste. Bd 8. Stuttgart 1879 (im Folgenden zit. mit Lübke). Zu Schnaase vgl. besonders G. Stemmrich: C. Schnaase: Rezeption und Transformation berlinischen Geistes in der kunsthistorischen Forschung. In; Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels. Hrsg, von Otto Pöggeler u. Annemarie Gethmann-Siefert. Bonn 1983, 263-282 (Hegel-Studien. Beih. 22.).

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ten Italienaufenthalt vorzog. Die Wahl seines Reiseziels erleichterte ihm vielleicht auch die Möglichkeit, es mit dem neuen seit 1822 verkehrenden Dampfschiff ungleich bequemer als Italien erreichen zu können. Daß ScHNAASES Reise zudem auch wissenschaftlich ein begründeter Schritt war, legt eine weitere Überlegung nahe. Die von ihm geplante Erarbeitung einer italienischen Kunstgeschichte erschien kaum durchführbar, da hierfür zentrale Veröffentlichungen noch nicht Vorlagen. Zu denken ist dabei zunächst an die Italienischen Forschungen CARL FRIEDRICH VON RUMOHRS (17851843), deren erster Band 1827 erschienen war, und vielleicht auch an die von LUDWIG SCHORN (1793-1842) betreute deutsche Ausgabe von GIORGIO VASARIS (1511-1574) Viten, die 1832 zu erscheinen begannen. Über die Niederlande und ihre Kunst standen jedoch informative Quellen zur Verfügung, zu denen auch FöRSTERS Ansichten zu zählen sind.^^ Zwar läßt sich nicht genau rekonstruieren, mit welchen kunsthistorischen Themen sich SCHNAASE während seines ersten Jahres in Düsseldorf befaßt hat. Aus einem von LüBKE veröffentlichten Brief geht nur hervor, daß die damals gemachten Studien noch „ohne völlig bestimmte Richtung" (Lübke, XLIII) betrieben wurden und auf Resultate „mehr philosophisch-historischer, als urkundlich-historischer Art" (ebd.) hinzielten. Sicher ist damit aber auch gemeint, daß sich SCHNAASE nicht nur mit der Geschichte der bildenden Künste allein, sondern auch mit der Landeskunde seines Reiseziels befaßte. Ob er nun hierfür GEORG FöRSTERS Ansichten vom Niederrhein benutzt hat, läßt sich definitiv nicht sagen. In den Niederländischen Briefen sind sie, was bei der öffentlichen Stellung ihres Autoren nicht verwundert, unerwähnt. Irgendwelche sonstigen Äußerungen ScHNAASES über dieses Buch und seinen Verfasser sind gleichfalls nicht überliefert. Dennoch wird er es gekannt haben. Ob nun durch seinen Lehrer Hegel vermittelt, angeregt durch die Lektüre der seit 1823 erscheinenden Geschichte und Beschreibung des Doms zu Köln der Brüder BOISSEREE oder von einem der Düsseldorfer Freunde empfohlen, stehe dahin. Es ist jedenfalls nicht anzunehmen, daß SCHNAASE eine Quelle, die zehn Jahre nach ihm der junge BURCKHARDT, SO die Herausgeber von dessen Werkausgabe, noch benutzen sollte, nicht heranzog. Und BURCKHARDTS Vorwurf an ihn, er habe die Kathedrale zu Antwerpen „mit etwas zu viel Vorliebe"i^ beschrieben, „möchte er den Kölner Dom in ähnlicher Weise besprechen!", mag auch Genannt seien nur zwei Studien, die die Quantität des infrage kommenden Materials aufzeigen: S. Schmidt: Die Niederlande und die Niederländer im Urteil deutscher Reisender. Eine Untersuchung deutscher Reisebeschreibungen von der Mitte d. 17. bis zur Mitte d. 19. Jahrhunderts. Siegburg 1963; sowie H. von der Dunk: Der deutsche Vormärz und Belgien 1830/48. Wiesbaden 1966. 13 J. Burckhardt: Frühe Schriften. Hrsg, von Hans Trog und Emil Dürr. Gesamtausgabe. Bd 1. Berlin/Leipzig 1929. 133, dort auch das folgende Zitat.

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eingeschlossen haben, den Wiederentdecker dieses Bauwerks nicht genannt zu haben. SCHNAASE begnügt sich damit, pauschal Vertretern einer Kunsttheorie, die er „empirisch" {NB. 376) nennt, vorzuhalten, die „materialistische Voraussetzung, daß die Natur ohne Gott sey" {NB. 377), ihren Studien zugrunde gelegt zu haben, ohne aber deren Namen zu nennen. Was nun konnte SCHNAASE für seine Niederländischen Briefe trotz einer derartigen Differenz von GEORG FöRSTER entnehmen? Ich meine zunächst einmal Stilistisches. Die Art etwa, in der die Niederländischen Briefe den Leser oft in die Topographie und das gesellschaftliche Leben der besuchten Städte einführen, erinnert sehr an FöRSTER. Dann gibt es aber auch kunsthistorische Entsprechungen. Zwar mag der nicht ausschließlich an Kunst interessierte FöRSTER für den auf diesem Gebiet noch Details beachtenden SCHNAASE keine ausgiebige Quelle gewesen sein, wichtige Erkenntnisse aber teilen sie. FöRSTERS intuitives Erfassen der Gotik als Innenraumkunst etwa ist der Ausgangspunkt von ScHNAASES architektonischen Bestimmungen. Und wie schon bei FöRSTER ist auch für SCHNAASE das Erlebnis der architektonischen Gegebenheiten eines Bauwerks ein sehr wesentlicher Moment. Er schildert ihn als geistigen Prozeß, der „das Gefühl mannichfaltiger, sich bedingender Verhältnisse und aufgelöster Widersprüche, etwas Lebendiges, Seelenhaftes, und daher dem Innern Würdiges" {NB. 199) wach ruft. Allein, die methodische Konsequenz, die er daraus ableitet, nämlich „daß das Einzelne nicht als vollendet in dieser seiner natürlichen Form, sondern als unselbständiger Teil des Ganzen betrachtet werde" {NB. 384), unterscheidet ihn von FöRSTER. Um diesen Unterschied zu präzisieren, seien die Galeriebriefe beider Autoren gegenübergestellt. Das sechste bis achte Kapitel der Ansichten vom Niederrhein sind der Düsseldorfer Galerie, wie sie sich vor ihrer Überführung 1805 nach Schleißheim und dann nach München präsentierte, gewidmet. Weitere Äußerungen über Malerei enthält der Text zwar, so z.B. anläßlich der Beschreibung Gents als Hinweis auf den dortigen Altar der Brüder VAN EYCK, doch können diese wohl getrost als Ergänzungen bzw. Nachträge zu den als einheitlichen kunsttheoretischen Exkurs konzipierten Düsseldorfer Galeriebriefen verstanden werden. Anders als FöRSTER entwickelt SCHNAASE seine Theorie über die Entwicklung der Malerei nicht an Beispielen aus nur einer Sammlung, sondern greift auf Bilder aus verschiedenen Museen zurück, so vor allem auf solche aus Den Haag, Antwerpen und Brügge. Auffällig ist, daß beide Autoren verschiedene Akzente bei der Auswahl der von ihnen behandelten Bilder setzen. FöRSTER ist an einem Vergleich der flämischen Malerschule mit der Italiens interessiert. Diesen Vergleich unternimmt zwar auch SCHNAASE, doch kommt in seinen Ausführungen den neuen Bildgattungen, die die niederländische Malerei des

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17. Jahrhunderts einführte, und den sogen. Altniederländern das meiste Gewicht zu. Beider Galeriebriefe unterscheiden sich also thematisch. Noch mehr gilt das für ihren Aufbau und ihre Stellung im Textganzen. GEORG FöRSTER wählt als Folie, um seinen Kunstbegriff zu propagieren, eine der berühmtesten Sammlungen seiner Zeit, die er nach eigenen Worten vor der Reise 1790 bereits viermal besucht hatte und die durch WILHELM FIEINSES (1746-1803) Briefe aus der Düsseldorfer Gemäldegalerie von 1776/77 bestens eingeführt waren. FöRSTER stellt sich durchaus als Kenner vor, schließlich hatte er neben der Düsseldorfer Sammlung auch die in Potsdam, Kassel, Dresden, Wien und Mannheim, also eigentlich alle damals zugänglichen fürstlichen Galerien, besucht. Hielte man aber FöRSTER deshalb für einen kritiklosen Kunstfreund, wird man ihm nicht gerecht. Der Beginn seiner Galeriebriefe ist gleichermaßen überraschend wie provozierend. FöRSTER attackiert die „flamändischen Maler", von denen die Mehrzahl der in Düsseldorf gezeigten Bilder und damit auch der Ruhm dieser Sammlung herrührte, sofort heftig. Der Leser, der von FöRSTER Bericht über das Herkunftsland dieser Malerschule ein weiteres Lob für sie erwartet hatte, nimmt erstaunt schon vor Erreichen der Landesgrenzen von ihren Mängeln Kenntnis. Zwar verkennt FöRSTER in ihnen nicht die „vortrefflichen Handarbeiter" (Ansichten, 41), trotzdem urteilt er über sie gleich anfangs mit HORAZ: „Infelix operis summa, quia ponere totum nesciet." (ebd.) Dies harte Urteil rechtfertigt FöRSTER und betont, daß für ihn keineswegs absolute Vollkommenheit eines Bildes Voraussetzung sei, daß es ihm gefalle. Er müsse jedoch erkennen können, daß es Ausdruck seines Urhebers „mit allen Kennzeichen des Genius begabt" (ebd.) sei. Ausdrücklich angeführt sind denkbare Schwierigkeiten, die einem Maler bei der Verwirklichung dieser Aufgabe im Wege stehen. Seine Lebenssituation wird genannt und vermutet, daß diese ihn zu Werken verleiten könne, >lie in der Folge auf den Zuschauer vielleicht eine ganz andere als die gewünschte Wirkung thun" (Ansichten, 42). Die Einsicht (nicht Ansicht!) bleibt für FöRSTER aber — bis auf eine Bemerkung zum Werk des RUBENS — ohne Konsequenz. Er sieht sich außerstande, den niederländischen Gemälden mehr als Erstaunen und allenfalls Bewunderung entgegenzubringen. Genau mit dem Verbum „bewundern" wird dann derjenige Maler, der zum Inbegriff flämischer Malerei wurde, eingeführt: PETER PAUL RUBENS (1577-1640). Für die Auseinandersetzung mit ihm wird ein Hauptwerk, das große Jüngste Gericht, gewählt, was zweifellos erneut als Provokation zu verstehen ist. FöRSTERS Beschreibung und Bewertung dieses Bildes verzahnen sich aufs engste und münden, um eine der Spitzen seiner Polemik zu zitieren, in Urteilen wie: „Er [d.i. RUBENS] verwechselt also Seelenausdruck mit Leidenschaft; anstatt uns beim Gefühl zu fassen, deklamirt er uns vor." (Ansichten, 46) Trotzdem entdeckt FöRSTER bei RUBENS Züge, die ihn zwingen, sein Urteil

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ZU modifizieren. So wird dessen »treue Nachfolge der Natur" {Ansichten, 49) beobachtet, aber fast im nächsten Atemzug betont, daß sehr viel an der „Richtigkeit der Zeichnung" (ebd.) auszusetzen sei. Und selbst wenn das nicht zuträfe, seine Gestalten würden in dhre(r) flämische(n) Feistigkeit den Begriff des Schönen verscheuchen" {Ansichten, 50). Für einen Künstler, der wie RUBENS in Italien, dem Land, dem FöRSTERS Sehnsucht gehört, geschult ist, bedeutet das einen unentschuldbaren Verstoß. Wie langlebig dies Urteil war, macht z.B. das Bekenntnis eines weiteren Hegel-Schülers, nämlich HOTHOS, deutlich, der innerhalb seiner Vorstudien für Leben und Kunst von 1835 über seine erste Begegnung mit RUBENS' Bildern im Antwerpener Museum gesteht, ähnlich wie FöRSTER empfunden zu haben, ohne aber dessen Namen zu nennen. 1'* FöRSTERS Düsseldorfer Galeriebriefe begannen nicht nur mit einem der wichtigsten da gezeigten Bilder. Es verdient auch festgehalten zu werden, daß er an den Anfang seiner Kunstbetrachtungen ein religiöses Werk, dem in der Hierarchie der Bildgattungen die erste Stelle zukommt, stellt. Andere Gattungen besitzen für ihn erheblich geringeres Gewicht. So kann auch das Lob der RuBENSschen Porträts wenig an dessen insgesamt negativer Gesamtbeurteilung ändern. Für GEORG FöRSTER haben nur die höheren Gattungen Bedeutung. Rhetorisch ist so seine Frage; „Soll ich mich jetzt von den niedrigsten Stufen der menschenbildenden Kunst zu den Thier- und Landschaftsmalern zuwenden?" {Ansichten, 61) Nur der Mensch als Thema der Malerei wird von ihm akzeptiert. Seine Darstellung in der Kunst und die dabei zu erreichenden Ziele sind Gegenstand seines dritten und letzten Briefs aus Düsseldorf. Vorangestellt ist diesem eine schon in FöRSTERS Schrift Die Kunst und das Zeitalter thematisierte Erkenntnis, die in seinen Worten lautet: „(A)ber das

weiß ich, daß der Mensch, vor allen anderen Gegenständen der Natur, einer wahrhaften Idealisierung fähig ist, indem das Ideal, welches der Künstler entwirft, zugleich mit dem richtigen Verhältnisse des menschlichen Körpers als einer besonderen Thiergattung, auch die Sittlichkeit des Menschen, als mitempfunden, darstellen muß." {Ansichten, 64) Voraussetzung, dem gerecht zu werden, seien einmal verschiedene Eigenschaften eines Künstlers, die FöRSTER entwickelt. Wichtiger aber als diese sei die Frage, wie das postulierte Schönheitsideal zu beurteilen sei. Der Rückgriff auf die Antike allein erweist sich als kaum hilfreich, denn an Stelle der „idealisirten Götter" {Ansichten, 67) seien „Menschen von bestimmtem, individuellem Charakter" (ebd.) getreten. Dennoch habe gerade die Kunst desjenigen Landes, das das Erbe der Antike verwalte, nämlich Italiens, eine Malerei hervorgebracht, die seinem Kunstideal nahe komme. Ein Bild, in dem dies gelungen sei, entdeckt Förster in Vgl. H. G. Hotho: Vorstudien für Leben und Kunst. Stuttgart 1835. 245 ff.

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Düsseldorf. Es ist der Johannes der Täufer in der Wüste, der heute dem DANIELE voLTERRA (1509—1566) zugeschrieben wird. Ein Höhepunkt gehört an den Schluß einer Darstellung, und so beschließt auch die euphorische Besprechung eben dieses Bildes FöRSTERS Düsseldorfer Briefe. Sein Lob des Johannes sei hier mit einem kurzen Zitat auf einen Nenner gebracht, auch um zusammenfassend zu zeigen, was die niederländischen bzw. flämischen Künstler in FöRSTERS Augen nicht geleistet haben: Jch begreife es nun, daß selbst der Apollo einem Menschen so viel nicht seyn kann, als dieser Mensch Johannes. Die Gleichartigkeit seines Wesens mit dem unsrigen zieht uns zu ihm hin: er ist in aller seiner Vollkommenheit noch unser Bruder... Der Apoll hingegen ist, was er seyn soll: ein Gott." (Ansichten, 78)1^ Anders als bei FöRSTER bilden SCHNAASES Berichte aus Gemäldegalerien keine zusammenhängende Einheit, sondern sind an verschiedenen Stellen in seinen Text eingeflochten. Begonnen wird mit zwei Briefen aus dem Haager Mauritishuis über die niederländische Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts und die gleichzeitige Genremalerei. Den beiden Briefen aus Den Haag, die die ,miederen" Gattungen zum Thema haben, folgt ein ausführlicher Bericht aus dem Antwerpener Museum, der insofern auch auf FöRSTER Bezug nimmt, als in ihm ebenfalls ein Vergleich der niederländischen mit der italienischen Malerei erfolgt. Anders als FöRSTER erkennt SCHNAASE die Eigenwertigkeit der niederländischen Kunst jedoch an. Der vierte und letzte von SCHNAASES ausführlichen Galeriebriefen stammt aus Brügge und schildert die da gezeigten Werke des 15. Jahrhunderts vor allem aber die des HANS MEMLING (gest. 1494). Für SCHNAASE sind gerade die Brügger Bilder die eigentliche Entdeckung seiner Reise gewesen. Ihm ergeht es damit ähnlich wie dem bereits erwähnten HOTHO, der sich vor diesen Bildern entschloß, ihrem Studium sein Leben zu widmen. SCHNAASE nimmt die Kunst MEMLINGS dann zum Anlaß, das Anliegen seiner Überlegungen, die Bestimmung des Verhältnisses von Kunst und Religion, in seinem drei- und vierzehnten Brief zu einem Abschluß zu bringen. Er geht dabei der Frage nach dem religiösen Gehalt der vorher beschriebenen Bilder nach und lehnt es zunächst ab, ein Bild als religiösen Ausdruck seiner Entstehungszeit zu verstehen, da die Kunst eine tieferreichende Funktion erfülle. Sie ergänze nämlich die geistige Religion, indem sie die Natur für den Menschen verkläre. Schnaase bezeichnet die Kunst daher als „Naturreligion" (NB. 367) und sieht, wohl in Anlehnung an Hegel, in ihr „das pantheisti-

DA

15 Von Seiten der Kunstgeschichte sind Försters Ansichten außer von Waetzoldt behandelt worden in der Dissertation: W. Bock von Wülfingen: Rubens in der deutschen Kunstbetrachtung. In: Gesammelte Schriften. München 1973; das folgende Zitat: 45.

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sehe Element, das keine Religion entbehren kann" (ebd.). Den Leser mag nun befremden, daß SCHNAASE dies Postulat nicht in Beziehung zu den von ihm in Brügge studierten Bildern setzt, sondern es mit Überlegungen zur Architektur zu stützen sucht. Er unternehme dies, so rechtfertigt sich SCHNAASE, um dem Mißverständnis, das bei jeder Beschäftigung mit religiöser Malerei entstehen könne, zu entgehen, nämlich das Thema eines Kunstwerkes als identisch mit dessen ,matürlichen Eigenschaften... und Erfordernissen" (ebd.) anzusehen. Die Baukunst, und hier greift SCHNAASE auf seine früheren Ausführungen über die Antwerpener Kathedrale zurück, wird von ihm nicht materialistisch als „bloße Form" (ebd.), sondern als ein Gegenstand anorganischer Natur verstanden, der sich dem Künstler in seiner spezifischen Gesetzmäßigkeit stelle. SCHNAASE führt sodann eine vorher gegebene Bestimmung vom Verhältnis Mensch — Natur aus und entwickelt den Satz von der Architektur als der ersten bildenden Kunst, aus der sich die Skulptur notwendig entwickelt habe. Anders aber als bei dieser könne von Architektur nur in einem „höhern Sinne" (NB. 373) als religiöser Kunst die Rede sein. Trotzdem sei der Blick auf sie für die Bestimmung vom Wesen des Religiösen in der Kunst unumgänglich, da „in dem Architectonischen... die historische Grundanschauung der allgemeinen Verhältnisse, also auch des Religiösen, ausgebildet (ist)" (ebd.), und echt religiöse Kunst, so SCHNAASE, sei immer mit höchster Schönheit verbunden. Er kommt damit zu einem Ergebnis, das frühere Überlegungen zu dem Resultat führt, der religiösen Malerei in der Stufenleiter der Bildgattungen die höchste Stufe zuzusprechen. Die theoretischen Überlegungen dieses dreizehnten Briefs will SCHNAASE im Folgenden historisch untermauern. Dabei entwickelt er, so die Überschrift, seine Sicht vom Verhältnis der Kunst zur Religion in der Geschichte. Daß diesem Brief methodisches Gewicht zukommt, belegt der Anfang. SCHNAASE geht hier auf den Vorwurf des (wohl fingerten) Empfängers seiner Briefe ein, sich als „falscher Freund der Kunst" (NB. 375) ausgewiesen zu haben, da er diese nur „um ihrer historischen Beziehungen willen achte" (ebd.). Dem hält er seine bereits in der Vorrede zu den Niederländischen Briefen angesprochene und nun auf folgende Formel gebrachte Auffassung entgegen: „Die historische Betrachtung der Kunst ist ihr nicht ungünstig, vielmehr giebt die Geschichte die richtige und sicherste Anschauung auch vom Wesen der Schönheit" (NB. 376). Dies Kunstverständnis werde dem Gegenstand eher gerecht als die Ästhetik des 18. Jahrhunderts oder aktuelle philosophische Strömungen. Er setze nämlich eine enge Wechselbeziehung von Religion und Kunst voraus, die sich, wie es ihm der Blick auf die Geschichte erweise, in einem steten Fluß befunden habe und von der bisherigen Kunstbetrachtung nicht erkannt worden sei. SCHNAASES historische Übersicht setzt mit der Kunst der antiken Völker und besonders der Griechen ein. Letztere war für ihn eins mit der damaligen

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Religion — „Naturreligion im reinsten Sinne" (NB. 380) — und habe deren Bestimmung, „das Mysterium der Einheit Gottes und der Welt zu lösen" (NB. 381) , erfüllt. Das sei allerdings nur bedin wie später die römische Kunst habe Gott zwar in der Natur gesucht, dabei aber letztlich den sterblichen Menschen gefunden. Daraus schließt SCHNAASE auf einen der antiken Kunst unbewußten Zug, auf „die Sehnsucht nach einer höhern, als der auf jenem Wege gefundenen natürlichen Wahrheit" (ebd.), worin er auch ihren Verfall begründet sieht. Doch Verfall bedeutet für ihn gleichzeitig die Vorbereitung „einer künftigen, höhern Gestaltung" (NB. 382) , wie er sie bereits in Einzelformen erkennen glaubt. Träger der oben zitierten „höhern Wahrheit" und der dieser entsprechenden „höhern Form" ist für SCHNAASE das Christentum. Anders als die heidnischen Kulte habe es den Menschen „aus den Banden der Natur" (NB. 383) befreit und es damit vermocht, diese „zu einer größeren Freiheit [zu] erheben, indem es ihr diese Last nahm, als Gottheit zu erscheinen" (ebd.). Erinnert sei an das abschließende Zitat dieses Textes über FöRSTER und seine Interpretation des Johannes des DANIELE DA VOLTERRA. Wie FöRSTER erkennt auch SCHNAASE an, daß die christliche Kunst die Idealisierung der Menschen zum Gott als Bildthema überwunden habe. Doch seine Begründung ist anders. Frohlockt FöRSTER, im Bild dadurch „unsern Bruder" zu sehen, ist das für SCHNAASE ein komplizierterer Prozeß. Voraussetzung seiner Kunstauffassung ist die Neuschöpfung dessen, was er Natur nennt, durch das Christentum. Er spricht von „zweiter Natur und Kunst" (vgl. NB. 384), meint damit aber keinen totalen Bruch. Verbindungslinien zwischen „erster" und „zweiter" Kunst sieht er nämlich etwa in den beiden gemeinsamen „einfachsten architektonischen Gestalten des Geistes" (NB. 384), die sich aber verschieden ausgebildet hätten. Die christliche Baukunst sei Innenraumkunst geworden und zeichne sich durch die „geistige Einheit der Perspektiv-Linie" (ebd.) aus. Diese Gesetzmäßigkeit wird als geistige und sittliche Voraussetzung für die besondere Rolle begriffen, die in der christlichen Kunst der Malerei zukomme. Zwar sei es ein langer Prozeß gewesen, bis die Malerei diese Aufgabe zufriedenstellend gelöst habe, doch sei dieser mit der Blüte der VAN EYCKschen Schule, SCHNAASES mittel- und unmittelbarem Thema der letzten Briefe, zu einem Ende gekommen. Die altniederländische Malerei wird noch einmal ausdrücklich als die Epoche genannt, in der „der eigenthümlich christliche Schönheitsbegriff vollkommen reif und ausgebildet" war (NB. 386). Eingeschoben sei hier der Fhnweis auf das wohl wichtigste Vorbild für SCHNAASE, auf die Schrift GUSTAV FRIEDRICH WAAGENS Ueber Hubert und Johann van Eyck von 1822. Wie SCHNAASE war auch WAAGEN seinerzeit nach Heidelberg gekommen, um Hegel zu hören. Weiter lernte er dort wie dieser die Gemälde der Brüder BOISSEREE kennen, mit denen er sich allerdings ungleich intensiver

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befaßte. Die Beschäftigung mit ihnen wird bei ihm den Plan zu seinem Buch über eine bis dahin kaum beachtete Malerschule entstanden lassen haben. Hierfür erfolgten erste Vorarbeiten noch in Heidelberg, die dann durch zwei im Herbst 1819 unternommene Kunstreisen abgerundet wurden. Eine dieser Reisen führte WAAGEN den Rhein aufwärts in die Niederlande. Sein Werk fußt so nicht nur auf der Kenntnis einer Gemäldegalerie, sondern auch auf eigenen Forschungen im Entstehungsland der wichtigsten Bilder dieser Sammlung und mußte daher für SCHNAASE eine unersetzliche Einführung gewesen sein. Auch WAAGEN nennt FöRSTERS Ansichten nicht. Zumindest zwei Textpassagen legen es jedoch sehr nahe, daß er diese Studie gekannt hat. Als eher allgemeine Kritik an der Ästhetik des 18. Jahrhunderts und damit auch an FöRSTERS Art, Kunstwerke zu sehen, kann ein Passus aus WAAGENS Einleitung verstanden werden: „Ein Hauptfehler, den die meisten Werke über neuere Kunstgeschichte theilen, besteht unseres Bedünkens darin, daß sie dieselbe als etwas gänzlich isoliertes, und nicht im Zusammenhänge mit dem Ganzen ihrer Zeit und Oertlichkeit betrachten; indem doch jede Kunsterscheinung, so wie jede Veränderung derselben, nur aus diesem heraus, ganz selbstverständlich ist."i* Anlaß, diese Kritik am konkreten Beispiel zu vertiefen, besteht für WAAGEN natürlich da, wo FöRSTER auf die Helden seiner Monographie eingeht. Innerhalb des zwanzigsten Kapitels des Ansichten berichtet dieser von der Kathedrale San Bavo zu Gent und dereh Ausstattung. Am Ende der Schilderung steht ein kurzes Urteil über den Altar der VAN EYCKS, die sein Interesse nur von einem rein technischen Gesichtspunkt beanspruchen, während ihre künstlerische Leistung recht abschätzig beurteilt wird. Es fiel zu Recht auf, daß WAAGEN genau diese Formulierung aufgreift, um sie energisch zurückzuweiseni^. Damit aber gibt er m.E. seine Kenntnis von FöRSTERS Ansichten zu. WAAGEN folgend stellt SCHNAASE die altniederländische Malerei als Höhepunkt der Kunstgeschichte dar. Sie wird von ihm innerhalb eines historischen Prozesses gesehen, in dem ihre höchste Ausprägung zusammenfällt mit der weitesten Entwicklung der in der Hierarchie der Bildgattungen führenden religiösen Malerei. Ob das als Antwort auf FöRSTER verstehbar ist, der von einem ähnlichen Kanon der Bildgattungen ausging, jedoch das, was für SCHNAASE wesentlich ist, provokativ infrage stellte? Definitiv beantwortbar ist dies, wie mehrfach gesagt, nicht. Festzuhalten bleibt dennoch, daß es in den der bildenden Kunst gewidmeten Passagen beider Schriften durchaus

1* G. F. Waagen: lieber Hubert und Johann van Eyck. Breslau 1822. 25. Das wird zu Recht beobachtet bei H.-W. von Löhneysen: Die ältere niederländische Malerei. Künstler und Kritiker. Eisenach/Kassel 1956. 229.

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Berührungspunkte gibt, die man trotz ihrer politischen Polarität nicht übersehen darf. Zu fragen oder zu vermuten bleibt weiter, ob SCHNAASE die Möglichkeit, die GEORG FöRSTER in den Reisebriefen erkannte, für die eigenen Ziele zu werben und damit erzieherisch tätig zu werden, gleichfalls entdeckt hat und sie für die eigene Absicht übernahm, „empfänglicher (zu machen) für die neuere, wenn wir von der älteren Kunst zu ihr zurückkehren" {NB. 326).

KONRAD SCHÜTTAUF (BONN) MELOS UND DRAMA Hegels Begriff der Oper

1. Hegels Verhältnis zu Musik und Oper Hegels Musikästhetik gilt als die problematischste unter seinen Theorien der einzelnen Kunstgattungen. Sie ist nachhaltiger philosophischer Kritik begegnet und hat die Musikwissenschaft als Einzeldisziplin weniger beinflußt als etwa seine Theorie der bildenden Künste die Kunstwissenschaft oder seine Theorie der Dichtung die Literaturwissenschaft. Hegel steht weithin in dem Ruf, von Musik nichts verstanden zu haben. Dies ist sicher falsch. Allerdings fallen an Hegels Musikphilosophie gerade im Vergleich mit seinen Theorien der anderen Künste einige »Mängel" ins Auge: Erstens: Die Analyse der musikalischen Mittel ist unvollständig. Z.B. befaßt sich Hegel mit den Tonarten, etwa mit der in der neueren Musik so grundlegenden Dur/Moll-Dualität nur äußerst knapp; auf elementare musikalische Gestaltungsarten (Polyphonie/Homophonie) geht er kaum, auf musikalische Formen (Fuge, Sonate, Sinfonie) gar nicht ein. Der Unterschied besonders zur Theorie der Dichtung liegt hier auf der Hand. Zweitens: Eine Darlegung der Geschichte der Musik fehlt. Die pauschale Aufzählung der Komponisten PALESTRINA, DURANTE, LOTTI, PERGOLESE, GLUCK, HAYDN und MOZART als der »wahrhaft idealen" Musiker (s. Ästh.'^" 3.194) ruft den Eindruck hervor, daß hier achtlos über wesentliche musikgeschichtliche Epochen und Einschnitte (etwa den tiefgreifenden Wandel der musikalichen Auffassung von BACH ZU HAYDN) hinweggegangen wird. Dies fällt um so mehr auf, als für Hegel die geschichtliche Durchdringung bei der Behandlung der anderen Künste ein so wesentliches Mittel des »Begreifens" ist. Drittens: Hegels Verständnis für die bedeutendste Musik seiner Zeit scheint inadäquat. Besonders auffallend ist sein Schweigen über BEETHOVENI. ES wiegt schwerer als z.B. die Nichterwähnung C. FRIEDRICHS im Malereikapitel. Seine Begeisterung für ROSSINI erscheint als die falsche Parteinahme in dem aus

I Vgl. C. Dahlhaus: Hegel und die Musik seiner Zeit. In; Kunsterfahrung und Kulturpolitik. Hrsg. V. O. Pöggeler und A. Gethmann-Siefert. Bonn 1983, 333 ff (Hegel-Studien. Beiheft 22.).

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späterer Sicht so ungleichen Kampf zwischen BEETHOVEN und ROSSINI, der zu Hegels Zeit die musikalische Welt bewegte. Und schließlich wirkt Hegels Würdigung der Instrumentalmusik als Gattung unbefriedigend. Zu einer Zeit, da spätestens mit den BEEXHOVENschen Sinfonien die „absolute Musik" den höchsten Anspruch erhebt, erscheint es unzureichend, wenn Hegel sie zu einer Sache „für Kenner" herabsetzt und abschätzig vom „Erhaschen" der in ihr verborgenen Inhalte spricht (s. ÄsthJ^" 3. 213.). Hegels Schweigen über manche musikalischen Phänomene und das Fehlen einer ausgeführten musikgeschichtlichen Darstellung machen es notwendig, zum konkreteren Verständnis seiner Philosophie der Musik und der Oper auch Biographisches über seine Musikerfahrung miteinzubeziehen. Vielfach zeigt sich erst auf diesem Hintergrund, wovon in der Ästhetik überhaupt die Rede ist. Hegels Verständnis zur Musik ist in allgemeiner Hinsicht durch einen Zwiespalt gekennzeichnet: Hegel ist einerseits außerordentlich musikbegeistert und -beflissen. Wenn er auch selbst kein Instrument spielt, so ist er doch ein überaus eifriger Opern- und Konzertbesucher, veranstaltet selbst Hauskonzerte und ist mit den bedeutendsten Sängerinnen Berlins befreundet. Andererseits versteht er sich (offenbar viel stärker als in anderen Künsten) als Laie.2 Er betont immer wieder, daß ihm alles nähere Wissen über musikalische Einzelheiten und jede eigentliche Kennerschaft abgehe. Nicht selten blitzt eine Art Rancune gegen die „Kenner" auf (vgl. AsthJ^" 3. 181, 213), aus deren Kreis er sich ausgeschlossen fühlt. Hieraus erklärt sich eine gewisse Unsicherheit Hegels, ein Mißtrauen dem eigenen Urteil gegenüber, das dann zu Unklarheiten in seinen Stellungnahmen führt und die Konturen seiner Auffassung oft unscharf erscheinen läßt. Hegels Musikerfahrung im einzelnen ist vielfältig^. Vereinfachend kann man zwei — allerdings ungleiche — Schwerpunkte herausheben. Erstens: Eine lebenslange Beschäftigung mit dem, was Hegel die „wahrhaft idealische Musik" nennt (besonders die ältere italienische Kirchenmusik, BACH und HäNDEL und schließlich GLUCK und MOZART). Zweitens: Das für Hegel überwältigende Erlebnis der „modernen" italienischen Oper, besonders der Werke ROSSINIS, die ihm während des Wien-Aufenthaltes im Jahre 1824 großen Genuß bereiteten.4 Hegel gibt sich hier ganz dem unmittelbaren Eindruck hin und nimmt bewußt in Kauf, daß er in Gegensatz zum „orthodoxen"

2 Anzumerken ist, daß er hierzu wohl weniger Grund hatte als etwa Schopenhauer. 3 Die ausführlichste Darstellung findet sich bei A. Nowak: Hegels Musikästhetik. Regensburg 1971. 16 ff. «Siehe dazu: Hegel in Berlin. Katalog zur Ausstellung in Berlin und Düsseldorf. Berlin 1981, 162 ff und Dokumente zu Hegels Reise nach Österreich. Mitgeteilt und eingeleitet von Inge Blank. In: Hegel-Studien. 16 (1981), 44 f.

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Geschmack seiner Berliner Umgebung gerät.s Und die spontane Begeisterung, der er sich überläßt, gewinnt für sein Verständnis der Entwicklung und der Perspektiven der Musik und speziell für seinen Begriff der Oper erhebliche Bedeutung.

Eine Parallele zu Hegels Rezeption der Malerei drängt sich hier auf; Auch dort steht einer lebenslangen bildungsbeflissenen Befassung mit der „idealischen Malerei" (besonders der RAFFAELS, mit der Hegel die „idealische Musik" ausdrücklich vergleicht 3. 206) das unmittelbar zündende Erlebnis der niederländischen Genremalerei auf den Hollandreisen gegenüber, das Hegel veranlaßt, dieser „Spätform" in seiner Philosophie der Malerei einen wichtigen Platz einzuräumen. Betrachtet man Hegels Musikerfahrungen speziell auf dem Gebiet der Oper, so ergibt sich folgendes Bild: Im Bereich der „idealischen" Musik kannte und schätzte er die Opern GLUCKS (er erwähnt des öfteren Orpheus und Alcesie, setzt ihnen aber auch schon, offenbar nicht ohne Sympathie, die Werke PICCINIS entgegen, s. Äsih.'^“ 3. 206). Ebenso hat er die großen Opern MOZARTS immer wieder gehört. Seine Vorliebe gilt hier offenbar der Zauberflöte, die er in der Ästhetik mehrfach rühmt. MOZARTS Figaro setzt er brieflich einmal dem RossiNischen gegenüber zurück;* ein Urteil, das bemerkenswert bleibt, obschon er es selbst sogleich wieder ironisch einschränkt. Auffällig ist auch, daß er Don Giovanni in seinen Vorlesungen nirgends erwähnt, obgleich gerade dieses Werk in der zeitgenössischen Musikkritik höchstes Ansehen genießt. Im Bereich der unmittelbar zeitgenössischen Oper verbindet sich Hegels Vorliebe für ROSSINI mit einer Parteinahme für die italienische Oper insgesamt, deren naturgegebene Vorzüge er der deutschen gegenüber mehrfach hervorhebt (s. z.B. Ästh.‘^’‘ 3. 106, 165 f, 207, 210 ff). Sogar SPONTINI, den Berliner Operndirektor, läßt Hegel, wenn auch nicht uneingeschränkt, gelten. Dem WEBERschen Singspiel mit seiner ausgesprochen literarisch-„charakteristischen" Ausrichtung dagegen steht Hegel äußerst kritisch gegenüber (vgl. Ästhy’^ 1. 204/220). Daß Fidelio, wie BEETHOVENS Musik insgesamt, überhaupt nicht erwähnt wird, fällt um so mehr auf, als Hegel das Werk nicht nur mit Sicherheit kannte, sondern dazu noch in enger freundschaftlicher Beziehung zu der Sängerin stand (PAULINE ANNA MILDER), die ihren großen Namen in erster Linie der Rolle der Leonore verdankt.

* Vgl. die Äußerungen Hothos zu Hegels Rossini-Begeisterung nach dessen Rückkehr aus Wien (Nicolin: Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen. Nr. 415; 271; zit.ißer.). * Briefe. Bd 3. 64.

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Konrad Schüttauf 2. Hegels philosophisches Konzept der Musikgeschichte

Zum Verständnis von Hegels philosophischer Interpretation der Oper trägt die etwas trocken-systematische Einordnung dieser Gattung, so wie HOTHOS Vorlesungs-Redaktion sie darbietet, für sich genommen noch wenig bei. Die Musik insgesamt wird in die »unselbständige" Vokalmusik und in die »selbständige" Instrumentalmusik, die erstere wiederum, nach dem Vorbild der Dichtungs-Genres, in epische, lyrische und dramatische Musik eingeteilt, wobei die epische die Kirchenmusik, die lyrische die Liedkunst und die dramatische schließlich vor allem die Oper umfassen soll. Der lebendige Sinn dieser zunächst schematisch anmutenden Anordnung liegt in der geschichtlichen, musikgeschichtsphilosophischen Dimension, die sie eröffnet. Wie das fortdauernde Interesse an Hegels großen ästhetischen Systembildungen (nicht nur am System der Kunstformen, sondern auch an dem der Kunstgattungen) darin liegt, daß sie sich von den verbreiteten Schubladenkonstruktionen absetzen und den Anspruch erheben, sich an der wirklichen historischen Entwicklung zu orientieren, historische Kontinua zu gliedern, so bildet auch in Hegels musik-philosophischer Systematik sein Verständnis der Musikgeschichte den eigentlichen Kern. Allerdings liegt dieser Kern verborgener als in anderen Bereichen seiner Kunstphilosophie. Seine Musikgeschichtsphilosophie bedarf der Rekonstruktion: Hegels Auffassung der Musikgeschichte ist zunächst aus der geschichtlich-systematischen Stellung heraus zu verstehen, die er der Musik im Kreise der übrigen Künste zuweist. Hegel ordnet sein historisches Kontinuum der fünf großen Künste (Architektur, Skulptur, Malerei, Musik und Dichtung) in doppelter Weise. Einmal legt er den Maßstab der »Schönheit", der vollendeten Ineinsbildung von Sinnlichem und Ideellem an. Danach nimmt die klassische Skulptur den höchsten Rang ein. Sie steht auf dem Scheitelpunkt einer Entwicklungskurve, die sich in den romantischen Künsten (in der Malerei und erst recht in Musik und Dichtung) wegen des Überwiegens des ideellen Moments wieder herabneigt und der Auflösung des Kunstbereichs zustrebt. Zum zweiten legt Hegel aber auch den Maßstab der »Wahrheit", der geistigen Entfaltetheit der dargestellten Ideen als solcher an. Danach sind die Künste im Sinne eines stetigen Fortschritts geordnet bis hin zur geistigsten, der Dichtung, die zu den höheren Bereichen des Absoluten Geistes, besonders zur Philosophie, hinüberleitet. Die Musik steht aufgrund ihres die äußere Räumlichkeit tilgenden, »ideellen" Charakters in der Nähe der Dichtung, in der Mitte des »romantischen" Bereichs. Sie steht der Plastik am fernsten. Die Auflösung der klassischen sinnlich-ideellen Einheit ist in ihr weit fortgeschritten. Das Element des rein Geistigen, der in sich reflektierten Subjektivität ist das

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Herrschende. Geschichtlich gehört sie damit mehr als die noch im Mittelalter wurzelnde Malerei der Neuzeit an. Als Prinzip der Musik, als ihre Form und ihren Inhalt gibt Hegel die subjektive Innerlichkeit an (s. z.B. 3. 127, 143). Und er geht weiter und charakterisiert diese als die abstrakte Subjektivität, das ganz leere Ich, die Art und Weise der Bewegung der ideellen Seele und da/nit als das »Formelle" schlechthin (s. z.B. Ästh.'^" 3. 129 f). Bliebe Hegel bei diesen Bestimmungen stehen, so hätte die Kritik, die in ihm den Begründer eines unfruchtbaren Formalismus in der Musikästhetik erblicken wollte, recht. Hegel begnügt sich aber nicht damit. Im Gegenteil: Gerade die geschichtliche Einordnung der Musik als »romantische" Kunst par excellence treibt ihn über den scheinbar formalistischen Standpunkt hinaus und veranlaßt ihn, die Form/Inhalt-Problematik in den Mittelpunkt seiner Reflexion zu rücken. Dies muß genauer ausgeführt werden: Das bloß Formelle, das »Versenktsein" der Seele in sich selbst, das »reine Empfinden ihrer selbst" (s. Asih.‘'" 3.195) als Schweben über jeder inhaltlichen Bestimmtheit ist dasjenige, was Hegel als das „Melodische" in der Musik bezeichnet. Es ist die Grundlage des Musikalischen und gibt »die höchste Vorstellung von seliger Innigkeit und Versöhnung". Hegel erkennt hierin das »plastische" Moment innerhalb der Musik: es ist gleichsam das musikalische, nach innen gewendete Analogon zur »klassischen" Ruhe und Versunkenheit der Skulptur (s. besonders deutlich ÄsihA" 3. 209). Aber gerade diese »Klassizität" — sei sie auch noch so sehr ins Innere zurückgenommen — macht das melodische Prinzip untauglich, das »romantische" Wesen der Musik ganz auszufüllen: »Wie nun in der Skulptur die idealische Schönheit, das Beruhenaufsich vorherrschen muß, die Malerei aber bereits weiter zur besonderen Charakteristik herausgeht und in der Energie des bestimmten Ausdrucks eine Hauptaufgabe erfüllt, so kann sich auch die Musik nicht mit dem Melodischen in der oben geschilderten Weise begnügen. Das bloße Sichselbstempfinden der Seele... läuft Gefahr, ... leer und trivial zu werden." 3. 195). Das Melodische ist nur ein für sich genommen noch abstraktes Moment der wirklichen Musik. Das Melodische muß, um zur Musik zu werden, sein Gegenteil, das »Rezitativische", d.h. das Inhaltsbezogene, die »tönende Deklamation" in sich aufnehmen, die Melodie muß „charakteristisch", sie muß auf ihre Art inhaltlich werden, ohne aufzuhören, Melodie zu sein (s. AsthA“ 3. 199). Die Versöhnung des Melodischen und des Charakteristischen erst macht für Hegel die wirkliche, die konkrete Musik aus. Die Vermittlung dieser Elemente ist für ihn die höchste in der Musik erreichbare Form der Versöhnung. Sie bedeutet Versöhnung von Freiheit und Gebundenheit und spiegelt die analogen aber untergeordneten Vermittlungen (die von Innigkeit und quantitativ-messendem Verstand und die von Melodie und Harmonie) auf höherer Ebene wieder (vgl. besonders AsthA“ 3. 199 f).

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Konrad Schüttauf

Die Versöhnung des Melodischen und des (auf Inhaltliches bezogenen) Charakteristischen bildet das spezifische (romantische) „Ideal" der Musik. Und hieraus läßt sich nun Hegels Vorstellung vom wesentlichen Verlauf der Geschichte der Musik ableiten, innerhalb derer wir die Stellung der Oper aufzusuchen haben: Am Anfang muß die Entwicklung hin zu jenem „Ideal" angenommen werden. Wie Hegel sie sich konkret denkt, wird nicht ganz deutlich. Als Ausgangspunkt wird man sich das noch ganz unentwickelte Volkslied mit einfacher und noch kaum charakteristischer Melodik vorzustellen haben. Es folgt die „ideale" Sphäre selbst. Sie teilt sich in einen objektiven und in einen subjektiven Bereich. In ersterem wird der zu charakterisierende Inhalt, vorzugsweise eine einfache religiöse Vorstellung, „gleichsam [in] die Sache selbst... [in] die Harmonien und deren melodischen Verlauf" hineingelegt {ÄsthJ^‘‘ 3. 188). Es läßt sich belegen, daß Hegel hierbei an alte italienische Kirchenmusik, wohl an ein „Cruzifixus" von LOTTI denkt. Im zweiten, im subjektiven Bereich der „idealen Musik" wird der Inhalt nicht unmittelbar, sondern als Reflex des Subjekts, als die Empfindung, die die inhaltliche Vorstellung im Subjekt hervorruft, dargestellt, was schon komplexere Gestaltungen erlaubt. (Anzumerken ist, daß Hegel mit dieser Zweiteilung doch etwas von dem musikgeschichtlichen Auffassungswandel von der „objektiven" Barockmusik zur „subjektiven" Wiener Klassik erfaßt, ohne dies freilich explizit zu machen). Charakteristisch für Hegels Auffassung ist nun, daß er die Musik seiner Zeit als den Verfall dieses Ideals interpretiert. Dieses Verständnis, zu dem Hegel sich allerdings nicht deutlich bekennt, läßt sich in etwa wie folgt rekonstruieren: Komplexität und geistiger Anspruch der darstellenden Inhalte wachsen der Musik über den Kopf. Sie sind allenfalls noch von der Dichtung zu erfassen, nicht aber mehr mit den Mitteln der das Charakteristische versöhnt einbeziehenden Melodik. Charakteristik und Melodik fallen auseinander. Der Verfall der Musik schreitet dementsprechend auf zwei Wegen voran. Einmal macht sich das Charakteristische selbständig, die Musik unternimmt den untauglichen Versuch, selbst zur Dichtung zu werden. Diese Tendenz meint Hegel insbesondere an WEBERS Werken herausstellen und scharf kritisieren zu müssen. Auf der anderen Seite löst sich aber auch das Melodische und macht sich vom Inhaltlichen wieder frei. Diese Tendenz entdeckt Hegel bei ROSSINI. ES scheint, als würde er sie als die sympathischere, ihrem Wesen gemäßere Verfallsform der Musik beurteilen. Obwohl Hegel dies nicht klar ausspricht, liegt für ihn auf dem weiteren Wege dieser Verfallstendenz auch die zeitgenössische von vorgegebenen Inhalten emanzipierte Instrumentalmusik (jedenfalls soweit sie sich nicht auf die „charakteristische" Seite schlägt). Und schließlich mündet diese Tendenz — ein Gedanke, der sehr

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deutlich hervortritt — in die Emanzipation des unmittelbaren, virtuosen Reproduzierens, das schließlich selbst die Stelle des Produzierens einnimmt. Hegels Einteilung der Musik in begleitende, selbständige und reproduzierende läßt sich bei genauerer Betrachtung also doch als verdeckte Musikgeschichtsphilosophie verstehen. 3. Hegels geschichtliches Verständnis der Oper

Welchen Platz nimmt innerhalb dieser Konzeption der Musikgeschichte nun die Oper ein? Sie steht auf der Grenze zwischen der noch „idealen" und der schon zerfallenden Musik.

Hegel charakterisiert sie als einen Spätling, der erst auftritt, „nachdem (die Musik) sich im Felde der Kirchenmusik bereits in sich vollendet, und auch im lyrischen Ausdruck eine große Vollkommenheit erlangt [hatte]". 3. 209). Der dramatische Inhalt ist dem musikalischen Bereich schon nicht mehr ganz angemessen. Als Mitte der christlich-romantischen Künste ist die Musik in erster Linie an den religiösen Gehalt verwiesen. Sie ist zunächst Kirchenmusik; eine Gattung, die Hegel als „episch" versteht. Ferner ist die Musik wesentlich lyrische Kunst und damit die Kunst des Liedes. Das Drama aber geht in seiner „philosophischen" Komplexität schon über das hinaus, was Hegel der Musik eigentlich zugestehen will. Allenfalls einen beschränkten Kreis besonders gediegener, d.h. einfacher und konfliktarmer dramatischer Gegenstände behält Hegel der Oper vor (s. Ästhy“ 1. 301/317). Und von diesen wiederum betont er vielfach, daß sie im poetischen Drama gar nicht mehr zu dulden, höchstens noch in der Oper zu ertragen seien (so etwa über den Stoff zu GLUCKS Alceste: Asthy‘‘ 1.264/280,3. 513). Voller Ernst dürfe es mit der Handlung in der Oper nicht sein (s. z.B. Aslhy^' 3. 523 f), geeigneter seien das Märchenhafte und Phantastische und sogar im gewissen Maße das Äußerliche, das sich in einer kunstgemäßen Ausgestaltung von Nebendingen wie Aufzügen u.ä. in der Oper legitim darstellen dürfe (vgl. wieder Asth.‘^‘' 3. 523).

Wie stellt sich auf dieser Grundlage nun die Geschichte, die innere Entwicklung der Oper dar? Da ist zunächst die noch in den „idealen" Bereich fallende Oper GLUCKS. Ihre Stoffe sind es, die Hegel als gediegen, wenn auch zum Teil für das eigentliche Drama schon nicht mehr tragbar bezeichnet. GLUCK wird ausdrücklich zu den „wahrhaft idealischen" Musikern gezählt. Und dennoch deutet die Sympathie, mit der Hegel auch seinen italienischen Gegenspieler PICCINI erwähnt, an, daß seine Reform für Hegels Geschmack doch schon die Seite des „Charakteristischen" überbetont. Auch MOZART gehört dem „idealen" Bereich der Musik an. Auf dem Hintergrund des bisher Ausgeführten wird aber nunmehr deutlich, warum Hegel

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weder seinen Figaro noch seinen Don Giovanni erwähnt. Ersterer wäre wegen der Komplexität und Reflektiertheit seines Stoffes kaum als »ideale" Musik erklärlich zu machen — wahrscheinlich hat Hegel selbst ihn diesem Bereich nicht zugerechnet. Hinsichtlich des Don Giovanni dürfte Entsprechendes wegen des Ernstes und des hohen »SHAKESPEARschen" Anspruches des Stoffes gelten. Beide Opern passen nicht in Hegels Konzept. Jedoch scheut er die offene Kritik und zieht deshalb in diesem Punkt das Schweigen vor. Gut in sein Konzept paßt dagegen die Zauberflöte. An ihrer volkstümlich-einfachen und doch phantasieanregenden Handlung, ihrer schlichten, quittieren" Moral, kann sich die »Tiefe, Lieblichkeit und Seele" der MozARTschen Musik voll entfalten (s. 3. 203). Daß Hegel dennoch auch in ihr schon eine auflösende Tendenz erkennt, zeigt sich, wenn er an anderen Stellen das »Märchenhafte und Phantastische" ihrer Grundstimmung herausgestellt (Asth.’'” 3. 523 f): für Hegel immer ein Indiz für den Abfall vom eigentlichen Ideal. Als eindeutig der Verfallstendenz, und zwar der zum Einseitig-Charakteristischen hin, zugehörig versteht Hegel WEBERS Freischütz und Oberon (s. hierzu Asth.''" 1. 204/220; vgl. auch Asth.''^' 1. 366/382, 3. 205). Er zeigt keinerlei Sympathie und wenig Verständnis für diese Richtung, obgleich ihm das Streben zur Dichtung, zum Geistigeren hin, doch eigentlich eher als zukunftsweisend, zumindest als »notwendig" erscheinen müßte. Ähnlich wie seine Haltung zu WEBERS Opern muß man sich wohl auch die zu Fidelio vorstellen. Allerdings wagt Hegel sich hier mit seinem Urteil gegen den schon unbestrittenen Ruf und Ruhm BEETHOVENS nicht hervor. (Bezeichnend mag in diesem Zusammenhang aber erscheinen, mit welcher Aggressivität er an mehreren Stellen der Ästhetik BEETHOVENS glühendstem Vorkämpfer E. T. A. HOFFMANN begegnet, vgl. Asth.‘'"l. 286/302, 1. 311/327). Hegels ganze Sympathie gehört der anderen, der »blühenden" Seite des Verfalls der »idealen" Oper. Die Auflösung zeigt sich hier einerseits an der Verselbständigung des Sinnlich-Äußeren in den auf Pracht abstellenden Inszenierungen der SpoNTiNischen Oper. Selbst diese läßt Hegel eher gelten als WEBERS Konzentration auf das Drama. Er spricht im Zusammenhang mit SPONTINI von einer Zusammenfassung aller Künste, meint damit aber wohl kaum das »Gesamtkunstwerk", sondern eine in der Oper als einer Spätform legitime Wendung ins Äußere (s. Asth.'^'‘ 3.523 f), von der er an anderer Stelle wiederum beklagt, man höre vor lauter Prunk und Lärm die Musik nicht mehr.7 Uneingeschränkt bezaubern läßt Hegel sich aber von der Emanzipation des rein Melodischen bei ROSSINI. Nicht daß er den Verfalls- und Äuflösungs-

^ Ber. Nr. 558, 378.

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Charakter hier verkennen würde. Die Auflösung erscheint ihm ja vielmehr von seiner Gesamtkonzeption der Musikgeschichte her und auch aufgrund seiner These vom Ende der Kunst als unvermeidlich. Gerade dieser Gedanke der Unvermeidlichkeit des Verfalls gibt ihm aber die Freiheit und das gute Gewissen, für die Richtung des Verfalls Partei zu ergreifen, die ihm als die liebenswürdigere erscheint und in der er das Wesendes Musikalischen, wie er es versteht, noch einmal aufblühen und in Schönheit vergehen sieht. Hegel erlaubt es sich, hier einmal gegen die deutsche Gedankenschwere (und damit konkret zugleich gegen das Projekt einer deutschen Nationaloper) Stellung zu nehmen und sich auf die Seite des unbekümmerten italienischen Melos zu schlagen. Ihre letzte und äußerste Blüte erreicht die Oper (und in gewissem Sinne die Musik überhaupt) für Hegel dort, wo nicht nur die Melodie sich vom Inhalt, sondern darüber hinaus der Gesang selbst sich von jeder festen, vorab geprägten Form löst, das musikalische Produzieren selbst auf der Bühne gegenwärtig erscheint (vgl. ÄsihJ'“ 3. 217) und ein Gefühl letzter Loslösung, Freiheit und Hingabe an den Augenblick erzeugt. Es erscheint fraglich, ob man die Einstellung Hegels zur Oper (und zur Musik überhaupt), als Jdassizistisch" kritisieren sollte.® Richtig ist, daß Hegel sich von dem, was sich in der Musik als zukunftsträchtig erweisen sollte, abwandte und Partei für eine Musik ergriff, die objektiv Züge des Epigonalen und Rückwärtsgewandten trug. Unverkennbar ist aber auch, daß Hegel dabei keine Jdassizistische Gesinnung" hegte: keine bewahrende, auf das Musterhafte hinzielende Haltung einnahm. Er meinte vielmehr, sich konsequent zu der Entwicklung bekannt zu haben, die zur vollständigsten Auflösung der Musik und speziell der Oper führen müßte. Seine Haltung ist insofern analog zu seiner Parteinahme für die Genremalerei und deren letzte Ausläufer im ganz subjektiven Farbenspiel und auch wohl analog zu seiner Interpretation des GoETHEschen Divan, den er als die Manifestation eines in ganz neuem Sinne freien, sich wieder zum Symbolischen hin öffnenden Spiels verstand.® Es ist nicht deutlich, ob in letzterem der positive Ansatz zu einem Hinausdenken über das Verdikt vom Ende der Kunst gesehen werden kann. Wenn dies aber zuträfe, so müßte man das Analoge hierzu auch in Hegels Interpretation der Rossiwischen Oper finden können.

^Dahlhaus. a.a.O., 344. ® Vgl. A. Gethmann-Siefert/B. Stemmrich-Köhler: Faust: die „absolute philosophische Tragödie“ — und die „gesellschaftliche Artigkeit“ des West-östlichen Divan. Zu Editionsproblemen der Ästhetikvorlesungen. In: Hegel-Studien. 18 (1983), 23 ff. Auch mit Blick auf die moderne Instrumentalmusik, die ja auch auf der Linie der von Hegel diagnostizierten Auflösung liegt, spricht er einmal von einer Rückkehr zum Symbolischen.

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Konrad Schüttauf 4. Ausstrahlung und Gegenwirkung

Die Entwicklung der Musikästhetik unter den Hegelianern (diesen Begriff in einem weiten Sinne genommen) ist zwei Wege gegangen, deren Entgegengesetztheit sich gerade an der Einstellung zur Oper demonstrieren läßt.

Hauptvertreter einer »orthodoxen" Richtung (wobei Orthodoxie nicht unbedingt wirkliche Nähe zum Hegelschen Denken bedeutet) sind VISCHER und KöSTLIN, die zusammen in VISCHERS Astheiik^° eine umfangreiche Musiktheorie geliefert haben.

Auf den ersten Blick scheinen hier die meisten musikästhetischen Begriffe Hegels erhalten, manches systematisch geglättet und die Lücken der Hegelschen Musiktheorie aufgefüllt zu sein. Bei genauerer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, daß gerade die Subtilität der Hegelschen Musikphilosophie verlorengegangen ist. VISCHER/KöSTLINS »geglätteter" Dreischritt aus Vokalmusik, Instrumentalmusik und Vokal/Instrumentalmusik, letztere gipfelnd in der Oper, setzt trockenes Schema an die Stelle von Hegels Versuch, die geschichtliche Tiefendimension auszuloten und von ihr seine Begriffssystematik prägen zu lassen. Das Bewußtsein von der delikaten und problematischen Stellung der Oper, das Hegel hieraus gewann, ist bei VISCHER und KöSTLIN weitgehend verschwunden. Für sie ist die Oper einfach die Zusammenfassung sämtlicher Mittel der Musik und taugt daher zum zusammenfassenden Schlußstein des Begriffsschemas. Entsprechend übernehmen sie zwar auch Hegels Ideal der Vermittlung von Melodischem und Charakteristischem. Die geschichtsphilosophische Feinheit dieses Gedankens jedoch, der sich bei Hegel unlöslich mit dem Gedanken einer notwendigen Selbstauflösung der Kunst verknüpft, geht bei VISCHER/KöSTLIN verloren. Für sie ist Hegels Ideal eine Forderung, die sie handfest an die Oper ihrer Tage richten, deren Erfüllung sie erwarten und deren Nichterfüllung sie (Hegel würde sagen: naiverweise) beklagen. Und so wird dieses Ideal tatsächlich zu einem Instrument »klassizistischer", genauer spät-klassizistischer und d.h. restaurativer Ästhetik. VISCHER und KöSTLIN bemühen sich zu korrigieren, was die geballte Autorität der Zeit als Fehlurteile Hegels erwiesen hatte: BEETHOVEN, gerade auch sein Fidelio, sowie WEBERS Opern werden eingehend und positiv gewürdigt. Zu einer Revision des Grundes, der Hegel zu seinen Urteilen geführt hatte: des Mißtrauens gegen das vermeintlich allzu Literarisch-Geistige in der Musik, gelangen VISCHER und KöSTLIN jedoch nicht. So stellt sich ihre Parteinahme für MARSCHNER und MEYERBEER und gegen WAGNER als analoges Abbild der Hegelschen Urteile dar: eine Parallelverschiebung längs der Zeitachse um 30 Jahre.

F. Th. Vischer: Ästhetik. Bd 4. Stuttgart 1857.

Melos und Drama

193

Als nicht orthodoxe Hegelianer im weiteren Sinne kann man die Musikwissenschaftler A. B. MARX und F. BRENDEL bezeichnen, die für die „Zukunftsmusik" LISZTS und WAGNERS eintraten. Ergreift Hegel in dem von ihm diagnostizierten Verfall der Einheit von Melodie und „Charakteristik" Partei für das losgelöste Melos, so halten MARX und BRENDEL sich an das Moment des „Charakteristischen". Und sie könnten mit einigem Recht behaupten, damit Hegelianischer als Hegel selbst zu sein. Die Weiterentwicklung des Literarisch-Geistigen, eben des „Charakteristischen" in der Musik und ihr schließliches Aufgehen in der Dichtung liegt im gewissen Sinne mehr in der Konsequenz des Hegelschen Denkens, paßt besser in das Ganze seines kunstphilosophischen Systems als der Strang der Entwicklung, den Hegel selbst als den hauptsächlichen herausstellte. So kommt es, daß die WAGNERsche Oper, von der man sicher annehmen darf, daß sie Hegel nicht gefallen hätte, mit Hegelschem Denken verteidigt und musikästhetisch gerechtfertigt werden konnte. Gerade WAGNERS Oper, die bedeutendste, die nach Hegels Tod hervorgebracht wurde, stellt sich selbst aber doch in den Zusammenhang einer Musikästhetik, die der Hegelschen diametral entgegensteht. Man kann sie in einem weiten Sinne des Wortes als die „romantische" bezeichnen: die Musikauffassung, die vor allem von E. T. A. HOFFMANN, SCHOPENHAUER, WAGNER selbst und NIETZSCHE ausgeprägt wurde. Ihr Ausgangspunkt ist der Gedanke der absoluten Sonderstellung der Musik. Es wird abgelehnt, ihr eine bestimmte, begrenzte Rolle im Kranz der übrigen Künste anzuweisen — und sei sie geschichtsphilosophisch noch so subtil begründet. Vielmehr stehe die Musik in unmittelbarer Beziehung zum Welt-Urgrund, sie gehöre gar nicht zum Diesseits, zum Reich der Erscheinungen. Deshalb sei es auch nicht ihre Sorge, sich mit irgendwelchen „Inhalten" ins Verhältnis zu setzen, die Welt der Inhalte sei vielmehr auf sie angewiesen, wenn sie zum Urgrund, zur „Erlösung" zurückfinden wolle. Es ist klar, daß nach dieser Auffassung — unbekümmert um die geschichtlichen Zusammenhänge — zunächst die reine Instrumentalmusik, die sogenannte „absolute Musik" im Vordergrund steht. Jede Kontamination mit „Inhalten" ist schon ein Verlust an metaphyischer Reinheit. Gerade die Oper wird deshalb zunächst schroff abgelehnt. Aber nicht weil ihr zur Dichtung hinstrebender Gehalt zu geistig-komplex wäre, als daß die Musik ihn noch adäquat erfassen könnte, sondern umgekehrt: weil sie die Musik von ihrer absoluten Höhe herabziehen und mit dem Diesseits gemein zu machen strebe. Dies ist allerdings nicht das letzte Wort. Wie wäre sonst WAGNERS eigenes Werk zu rechtfertigen? Das Dramatische wird schließlich doch der Musik für würdig befunden, aber nicht in der Form der „Oper", sondern in der des „Musikdramas". Das Dramatische, genauer das Tragische, gehöre selbst dem Urgrund der Musik an, und so schaffe die Musik schließlich das

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Konrad Schüttauf

wahre Drama aus sich selbst heraus. NIETZSCHE bringt diesen schon vor ihm lebendigen Gedanken auf die bekannte Formel von der »Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" und bestimmt die metaphyische Tiefe der Musik als das »Dionysische", welches das Individuum durch Entgrenzung zu erlösen bestimmt sei. Es ist leicht darzutun, daß vieles an dieser Musikphilosophie hinter Hegels Denken zurückfällt, von Hegels Kritik der Romantik betroffen wird. Die Behauptung des musikalischen Höchstranges der Musik bleibt weitgehend abstrakt. Es bleibt beim Schwelgen in der »Einzigartigkeit" dieser Kunst, und dieses Schwelgen verurteilt sich selbst bald zur Sprachlosigkeit. Den Gedanken der Entgrenzung des Individuums hatte, ungleich differenzierter, Hegel selbst schon gedacht: Der Begriff der »unendlichen Subjektivität" liegt, mit historischer Phänomenfülle konkretisiert, seiner Theorie der romantischen Künste und damit auch seiner Musikphilosophie zu Grunde. Und dennoch: Daß nach Hegels subtil-rationalem Erfassungsversuch der SCHOPENHAUERNiETZscHEsche Irrationalismus eine solche Durchschlagskraft und solchen Einfluß auf unser Bild von der Musik gewinnen konnte, zeigt doch an, daß Hegel letztlich nicht tief genug geschürft haben kann. Und dies zeigt sich gerade an seiner Interpretation der Oper. Daß in der Musik selbst — ohne Vermittlung der Dichtung — ein Element des Dramatischen liegt, daß sie Tragik, oder doch etwas dem Tragischen Verwandtes aus sich selbst hervorbringen kann, dieser Gedanke ist schwer rational einzuholen. Und doch leuchtet er dem Musikerlebenden spontan ein. In Hegels Musikästhetik findet sich nichts davon. Daß Hegel das vielleicht größte »dramma per musica", das die Musikgeschichte hervorgebracht hat, MOZARTS Don Giovanni in seinen Vorlesungen nicht würdigte, hat seinen Grund nicht nur darin, daß es in sein musikgeschichtliches Konzept der »idealen Oper" schlecht hineinpaßt, sondern tiefergehend darin, daß er der Musik die ihr selbst innewohnende dramatische Kraft, ohne die Don Giovanni undenkbar wäre, nicht zugestand.

JÜRGEN SÖRING (ZÜRICH)

HEGEL UND DIE ROMAN-THEORIE RICHARD WAGNERS In seiner 1976 zur Zentenarfeier der ersten Ri«^-Aufführung erschienenen Dokumentation zur Wirkungsgeschichte RICHARD WAGNERS läßt es sich HARTMUT ZELINSKY angelegen sein, den Musikdramatiker mit seiner »Theorie des Gesamtkunstwerks, die zum Ring des Nibelungen und zur Festspielidee führte", in die »Nachfolge des Systemdenkens Hegels" zu rücken.i ZELINSKY pointiert damit einen Zusammenhang, der — mehr oder minder ausdrücklich — bereits von GRILLPARZER, EDUARD KULKE und besonders von NIETZSCHE, und zwar in polemischer Absicht, hergestellt worden ist:

a)

GRILLPARZER:

»EIN TOR, wer der Torheit entgegenstrebt. Man muß es der Zeit übergeben Habe die Hegelsche Philosophie überlebt,

Werd auch die Zukunftsmusik überleben. b) E. KULKE in seiner ERNST MACH gewidmeten Schrift über Richard Wagner, seine Anhänger und seine Gegner von 1884 über FRANZ BRENDEL, SCHUMANNS Nachfolger als Redakteur der Neuen Zeitschrift für Musik: »BRENDEL war nämlich noch ein persönlicher Schüler von Hegel gewesen und blieb sein ganzes Leben lang auf dem Standpunkt der Hegel'schen Philosophie, von welchem Standpunkte aus er seine Geschichte der Musik schrieb. Da nach der dialektischen Methode Hegels alles und jedes dem Principe der Entwicklung gemäß sich als Nothwendigkeit darstellen ließ, so betrachtete BRENDEL die ganze Künstlererscheinung WAGNERS eben auch als eine historische Nothwendigkeit, zu welcher die vorausgegangenen Kunstphasen gleichsam als die ebenso nothwendigen Entwicklungsstufen zu betrachten waren. Hiermit war nach BRENDELS Meinung zwar keineswegs gesagt, daß WAGNER größer sei als BEETHOVEN, es war damit nur gesagt, daß nach BEETHOVEN nicht wieder ein BEETHOVEN, sondern eben ein RICHARD WAGNER kommen mußte. Ich erinnere mich noch sehr genau des Platzes in Leipzig, wo ich im Laufe des Gespräches einmal gelegentlich KANT erwähnte und BRENDEL mir befremdet zur Antwort gab: Ihr Österreicher seid doch in allem zurück! Wer spricht heute noch von KANT? KANT ist seit Hegel ein überwundener Standpunkt!" (Z 63) 1H. Zelinsky: Richard Wagner — ein deutsches Thema. Eine Dokumentation zur Wirkungsgeschichte Richard Wagners 1876-1976. Zweitausendeins 1976. 26. (im Folgenden zit: Z mit Angabe der Seitenzahl) 2p. Grillpanzer: Sämtliche Werke. München 1960. Bd 1. 540.

196 c)

NIETZSCHE:

Jürgen Söring

„Erinnern wir uns, daß

WAGNER

in der Zeit, wo Hegel und

ScHELLiNG die Geister verführten, jung war; daß er erriet, daß er mit Händen

griff, was allein der Deutsche ernst nimmt — die Idee, will sagen etwas, das dunkel ungewiß, ahnungsvoll ist;... SCHOPENHAUER hat, mit Härte, die Epoche Hegels und SCHELLINGS der Unredlichkeit geziehn — ... Lassen wir die Moral aus dem Spiele: Hegel ist ein Geschmack ... — Ein Geschmack, den WAGNER begriff! — dem er sich gewachsen fühlte! den er verewigt hat! — Er machte bloß die Nutzanwendung auf die Musik — er erfand sich einen Stil, der ,Unendliches bedeutete', er wurde der Erbe Hegels ... Die Musik als Idee".^ Die Aufstellung einer solchen Genealogie kann sich auf eine Reihe von Zeugnissen stützen, die belegen, daß sich WAGNER mit Hegel zumindest beschäftigt hat: a) FRIEDRICH RECHT in seinen Erinnerungen Aus meinem Leben von 1894 über WAGNER in Dresden 1845: „Wie diese unersättliche Natur nach allen Seiten um sich griff, mag das folgende Erlebnis zeigen, das ich in dieser Zeit mit ihm hatte. Bei einem Besuche, den ich ihm eines Tages machte, fand ich ihn in Feuer und Flammen über Hegels Phänomenologie, die er gerade studierte, und in seiner excentrischen Art mir als das erste aller Bücher pries. Zum Beweis las er mir eine Stelle vor, die ihm eben besonders imponiert hatte. Da ich sie nicht ganz verstand, bat ich ihn, sie noch einmal zu lesen, wo wir sie dann beide nicht verstanden. Er las sie also zum dritten und viertenmal, bis wir uns endlich ansahen und fürchterlich zu lachen anfingen, wo es denn mit der Phänomenologie ein Ende hatte." (Z 6) b) WAGNER in Mein Leben von 1865 über die letzte Periode seines Dresdner Aufenthaltes: „Ich wählte nun zu meiner Einführung in die Philosophie Hegels Philosophie der Geschichte. Hier imponierte mir vieles, und es schien mir, als müßte ich auf diesem Wege in das Innere des Heiligtumes gelangen. Je unverständlicher viele im spekulativen Sinne resümierende Phrasen des ungeheuer berühmten, als Schlußstein aller philosophischen Erkenntnis mir gepriesenen gewaltigen Geistes erschienen, desto mehr fühlte ich mich angeregt, der Sache von dem ,Absolutum' und was damit zusammenhing auf den Grund zu gehen. Die Revolution kam dazwischen". ^ c) Dazwischen kam ferner die erste Lektüre von SCHOPENHAUERS Hauptwerk, ein Abstandserlebnis, von dem WAGNER in einem Brief an LISZT vom Dezember 1854 Kunde gibt: „Was sind vor diesem [SCHOPENHAUER] alle Hegel's für

3 F. Nietzsche: Der Fall Wagner. In: Ders.: Werke. Hrsg. v. K. Schlechta. Frankfurt a. M.l Berlin/Wien 1976. Bd 2. 924. *R. Wagner: Mein heben. Hrsg. v. M. Gregor-Dellin. München 1976. 442.

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Charlatan's"® Was WAGNER jedoch keineswegs daran hindert, noch im Mai 1860 in einem Brief an MATHILDE WESENDONK aus Paris den Weltgeist zu bemühen: „Somit, glaube ich sicher zu erkennen, liegt dem Weltgeist weit mehr daran, daß ich meine fertigen Werke der Welt durch vollkommene Aufführungen erschliesse ... Denn in einem gewissen sehr tiefen, und dem Weltgeiste einzig verständlichen Sinn, kann ich mit neuen Werken jetzt mich nur noch wiederholen: ich kann keine andere Wesenhaftigkeit mehr offenbaren."* Ob diese Belege ausreichen, um die Rede vom Systemcharakter der Theorie und Praxis RICHARD WAGNERS in dem Sinne zu rechtfertigen, daß ein Vergleich mit Hegel sachlich erhellend scheint, soll dahingestellt bleiben. Immerhin hat schon LISZT im Jahre 1852 versucht, seinen Lesern „den schöpferischen Urgedanken des dramatischen Systems WAGNERS zum Verständnis zu bringen", und zwar am Beispiel des Lohengrin, der in der Einheit seiner Konzeption „ein ebenso logisches wie vollkommenes Ensemble" bilde: a) „Alles verbindet, alles verkettet, alles steigert sich. Alles ist mit dem Sujet auf das engste verwachsen und kann nicht von demselben losgelöst werden ... — Alles ist hier genau erwogen und folgerichtig bestimmt, jeder Harmoniefolge geht der mit ihr korrespondierende Gedanke voraus oder folgt ihr —eine durch ihre systematische Strenge wesentlich deutsche Prämeditation, die uns von diesem Werke sagen läßt, daß es zu den durchdachtesten aller Inspirationen gehört... WAGNER ist ein Neuerer... Mit seltenem Glücke und mit kühnstem Verstände ... benutzte er alle ... dem Fortschritt der neueren Zeit zu verdankenden Mittel in einem großartigeren System als dem GLUCK S, durch ein absoluteres Princip als das WEBER S, um dem dichterischen Gedanken den Vordergrund zu gewinnen und ihm sowohl Gesang wie Orchester unterzuordnen."'7 b) Mit anderer Akzentuierung vermerkt HEINRICH LAUBE am 25. August 1868 in der Wiener Neuen Freien Presse: „WAGNER ist von einem tiefen Selbsterhaltungstriebe; er ist von großer geistiger Gewandtheit und hat einen ausserordentlichen Unternehmungssinn. Aus diesen Eigenschaften hat er ein System erbaut, welches all' das zum Gesetz erhebt, was er kann. Und nur das." (Z15) c) NIETZSCHE: „Der Ring des Nibelungen" ist ein ungeheures Gedankensystem ohne die begriffliche Form des Gedankens. Vielleicht könnte ein Philosoph 5 Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt. Hrsg. v. E. Kloss, Leipzig 1919. Zweiter Teil. 42. * Richard Wagner an Mathilde Wesendonk. Tagebuchblätter und Briefe 1853-1871. Berlin 1904. 231. ’^F. Liszt: Dramaturische Blätter. II. Abteilung. Richard Wagner. In: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. L. Ramann. Leipzig 1881. In der Reihenfolge der Zitate, 141,138,139 u. 140 f.

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etwas ganz entsprechendes ihm zur Seite stellen, das ganz ohne Bild und Handlung wäre und bloß in Begriffen zu uns spräche: dann hätte man das gleiche in zwei disparaten Sphären dargestellt, einmal für das Volk und einmal für den Gegensatz des Volkes, den theoretischen Menschen."* Solche Hinweise, die auf mehr als nur oberflächliche Korrespondenzen schließen lassen, geben zu denken.’ Ich selber habe in einem 1984 in dem Band Richard Wagner 1883-1983 (Die Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert) erschienenen Aufsatz über Wagner und Brecht zur Bestimmung des Musiktheaters die Methode des Gesamtkunstwerks spekulativ am Leitfaden der Hegelschen Dialektik gedeutet. In dieser Perspektive fungiert die Denk-Figur einer Negation der Negation als Grund-Modell für das JCunstwerk der Zukunft", in dem sich „Literaturpoesie" und absolute Musik durch „Selbstvernichtung“ zur Einheit und Ganzheit des eigentlichen Dramas aufheben.i° Es kommt demnach darauf an, die Beschränktheit von Dichtung und Musik gegen einander aufzuheben und beide in ein Verhältnis der Grenzüberschreitung in einander zu setzen, deren Modus WAGNER vorzugsweise am Modell der Liebesvereinigung expliziert. Deren Wesen ist aber nicht eitle Selbstbewahrung, sondern hat die „Hingebung an das Gemeinsame" zur Bestimmung. Die wahrhafte Wieder-Vereinigung der „Kunstarten nach ihrem Losreißen aus dem ursprünglichen Vereine" (W 3.117) bestünde sonach in einem Vermittlungsprozeß, der Dichtung und Musik erst im jeweils anderen ihrer selbst ganz bei sich sein läßt. Indem aber beide „gegenseitig in sich unter(gehen)" (W 4. 206 f), bringen sie jenes Dritte: das Drama der Zukunft, hervor, in dem beide sich in ihrer höchsten Möglichkeit erst erkennen und befreien. Insofern sich die als Prozeß ereignete Struktur des Gesamtkunstwerkes darüber hinaus als Metapher des revolutionären Geschichtsganges erweist, kann seine (: des Gesamtkunstwerkes) Verfahrungsweise sogar als „Vorahmung" (BLUMENBERG) jener großen „Menschheitsrevolution" begriffen werden (W 3. 29), die „das Neue" im „Drama der Weltgeschichte" durch einen „Akt der Selbstverbrennung" des Alten zur Erscheinung bringen soll, wie WAGNER selber im Anschluß an THOMAS CARLYLE meint. Die Aufhebung der Entzweiung in der Kunst wie im „Gang der sozialen Entwicklung" (W 3. 32) läuft dabei auf die eschatologische Erwartung hinaus, daß „der Egoist Kommunist, der Eine Alle, der Mensch Gott, die Kunstart Kunst" werde (W 3. 67). *F. Nietzsche: Richard Wagner in Bayreuth. In: F. Nietzsche: Der Fall Wagner. Bd 1. 413. ’Vgl. D. Borchmeyer: Das Theater Richard Wagners. Idee — Dichtung —Wirkung. Stuttgart 1982. 89. i°R. Wagner: Gesammelte Schriften und Dichtungen. Leipzig 1907. Bd 3.116. Wagner-

Zitate werden künftig im laufenden Text mit W sowie Band- und Seitenzahl nachgewiesen.

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Von hierher kann die von ZELINSKY gezogene Querverbindung vom „neudeutsch-preußischen Reichsmusikanten" WAGNER ZU MARX einleuchten, die „beide Anhänger einer Revolution am Ende des dialektischen Prozesses (bleiben): erhofft sie MARX durch die gesetzmäßige Veränderung der ökonomischen Verhältnisse, so WAGNER durch die Wirkung seines in Bayreuth gespielten Gesamtkunstwerks" (Z 33): ein Kurzschluß, der noch THEODOR LESSING irritiert hat, wenn er in seiner Einführung in die moderne deutsche Philosophie unter dem Titel Schopenhauer Wagner Nietzsche an WAGNER die „Mischung des Rationalisten vom linken Hegelschen Flügel und des Romantikers aus der Schule Schopenhauers" hervorhebt (vgl. Z 109). So auffällig die Berührungspunkte mithin sein mögen, so unübersehbar sind andererseits die Divergenzen, und zwar gerade im Felde derjenigen Wissenschaft, die Hegel als „Philosophie der schönen Kunst" bezeichnet hat.Denn indem Hegel die Philosophie „im allgemeinen als denkende Betrachtung der Gegenstände" bestimmt (Enz. 1830. § 2, 33), gerät ihm die Ästhetik im besonderen zu einer Betrachtung, die ihren „Gegenstand", die „schöne Kunst", gewissermaßen immer schon als vergangen voraussetzt, i^ Die Möglichkeit einer philosophischen Behandlung der Kunst wird damit zum Indiz für einen — von Hegel unterstellten — Sachverhalt, der in der (wohlverstandenen) These vom Ende der Kunst in der Ästhetik selber thematisch wird: „Man kann wohl hoffen, daß die Kunst immer mehr steigen und sich vollenden werde, aber ihre Form hat aufgehört, das höchste Bedürfniß des Geistes zu seyn." {Asth.''" 1.134/151). i3 „Uns gilt die Kunst nicht mehr als die höchste Weise, in welcher die Wahrheit sich Existenz verschafft." (Ästh.‘^“ 1.134/150). i^ '‘^'‘^Asth.'^" 1. Spätestens seit A. Gethmann-Sieferts Beitrag zu dem Kolloquium Kwnsferfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels (In: Hegel-Studien. Beiheft 22.) ist es üblich geworden, sich gegenüber dem Wortlaut der Vorlesungen mit gewissen Kautelen zu versehen. Doch vielleicht noch prägender als im Falle des von E. Förster-Nietzsche erfundenen Jdauptwerkes" ihres Bruders bleibt die Wirkungsgeschichte der Ästhetik mit einem „nicht authentischen" Text: der Edition Hothos, verknüpft. 12 Vgl. Ästh.'^'’ 1. 16/32: dn allen diesen Beziehungen ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes." 12 Eine These, die man heute auf die Philosophie selber anzuwenden geneigt ist, insofern sie sich im Formalismus bloßer Sprachphilosophie, Wissenschaftstheorie und Argumentationsanalyse ergeht. 1^ Vgl. dazu M. Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes. Mit einer Einführung von H.-G. Gadamer. Stuttgart 1960. 92: „Man kann dem Spruch, den Hegel in diesen Sätzen fällt, nicht dadurch ausweichen, daß man feststellt: Seitdem Hegels Ästhetik zum letztenmal im Winter 1828/29 an der Universität Berlin vorgetragen wurde, haben wir viele und neue Kunstwerke und Kunstrichtungen entstehen sehen. Diese Möglichkeit hat Hegel nie leugnen wollen. Allein die Frage bleibt: Ist die Kunst noch eine wesentliche und eine notwendige Weise, in der die für unser geschichtliches

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Hier wird der Ansatz Hegels besonders deutlich. Insoweit es für ihn um die „Stellung der Philosophie zur Wirklichkeit“ der Kunst als einer im Grunde bereits überholten geht, kann er zwar deren Wahrheitsgehalt ergründen, bleibt ihrer Möglichkeit gegenüber jedoch gleichgültig, weil Philosophie eben nur ,^as Erfassen des Gegenwärtigen und Wirklichen" und „nicht das Aufstellen eines" Zukünftigen ist.*i5 Das aber heißt überschärft: Ästhetik als Philosophie der Kunst ist für Hegel bloß Rekonstruktion und Rechtfertigung eines „erledigten" Gegenstandes. Auf sie trifft in ganz ähnlicher Weise zu, was er am Ende der Vorrede zur Rechtsphilosophie bekennt: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug." (Phil. d. Rechts. 20) Unter diesem Blickwinkel könnte und müßte die Begründung einer philosophischen Ästhetik im 18. Jahrhundert als Symptom einer Verödung und Veraltung der Kunst betrachtet werden. Davon kann bei WAGNER in keiner Weise die Rede sein. Die kunsttheoretischen Schriften von 1849—51 (: Die Kunst und die Revolution, Das Kunstwerk der Zukunft, Oper und Drama) sind im Gegenteil ein vehementer Widerruf der Hegelschen Position. WAGNER spricht der Kunst wieder zu, was Hegel ihr abgesprochen hat: sie ist wieder „das höchste Bedürfnis des Geistes"! Mehr noch: WAGNER möchte — wie später NIETZSCHE — den Nachweis führen, daß mit der ästhetischen Frage das Grundproblem seiner Zeit und Gegenwart gelöst würde, und zwar in Richtung auf eine durchgreifende Erneuerung und Verjüngung der Welt. Fern davon, „Grau in Grau" zu malen, verwendet WAGNER die glühendsten Farben, um die weltgeschichtliche Sendung der Kunst zu illuminieren. Zwar ist auch seine Kunsttheorie zu großen Teilen Rekuperation der Vergangenheit — WAGNERS philosophische Deutung der Kunst-Geschichte kann das Schema des dialektischen Dreischritts nicht verleugnen —, aber sie dient dem Entwurf jenes „Kunstwerks der Zukunft", das universelles Heil verbürgen soll. Das aber heißt: Kunstphilosophie nicht als Abgesang auf die Kunst, sondern als deren Vorspiel. WAGNER vollzieht damit — von der frühromantischen Theorie abgesehen — eine fundamentale Wendung in der Ästhetik. Während die Jdassische" Ästhetik rekonstruktive Begründungstheorie von Zugestandenem ist, wird nunmehr ein Prius der Theorie, jedoch in praktischer Ab-

Dasein entscheidende Wahrheit geschieht, oder ist die Kunst dies nicht mehr? Wenn sie es aber nicht mehr ist, dann bleibt die Frage, warum das so ist. Die Entscheidung über Hegels Spruch ist noch nicht gefallen". 15 Vgl. Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staalswissenschafi im Grundrisse. Berlin 1840. 16.

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sicht, installiert: Vorgängigkeit ästhetischer Reflexion vor der Kunst-Praxis. So ist NIETZSCHES Geburt der Tragödie eigentlich eine Programmschrift für die Wieder-Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik: eine Umkehrung, die für die Kunsttheorie des 20. Jahrhunderts bedeutsam wird. Sosehr WAGNERS Denkstil von der Tradition des deutschen Idealismus imprägniert sein mag, so konsequent polt er Hegels Nach-Denken in ein Vor-Denken um, das den Vergangenheitscharakter der Kunst dementiert, indem es ihr Zukunft als Dimension ihrer eigensten Möglichkeit erschließt. Wie aber stellt sich das Verhältnis beider in bezug auf die Romandichtung dar, jene Gattung also, der Hegel selbst noch am ehesten so etwas wie eine Perspektive eröffnet hat? Vorweg ist zu betonen, daß es eine Roman-Theorie im ausgearbeiteten Sinne weder bei Hegel noch bei WAGNER gibt. Bei Hegel begegnen Äußerungen über den Roman bzw. „das Romanhafte" gegen Ende der Erörterungen zur ,jomantischen Kunstform" unter dem — für WAGNER ebenso wie später für GEORG LUKäCS wichtigen — Stichwort der „Abenteurlichkeit" sowie in einer Appendix zur Entwicklungsgeschichte der epischen Poesie. Bei WAGNER rückt der Roman in seiner Schrift über Oper und Drama ins Blickfeld eines nicht nur beiläufigen Interesses, insofern er zum natürlichen Ursprung des modernen Dramas erklärt wird. In dieser Randstellung mögen sich die Schwierigkeiten reflektieren, die der Roman bis ins 19. Jahrhundert hinein gehabt hat, sich als eigenständige Gattung und damit als „theoriefähig" zu etablieren. Denn von Einzelfällen wie HUET oder BLANKENBURG etwa abgesehen^^ nimmt das Stiefkind der Poetik erst bei F. SCHLEGEL und NOVALIS jene Sonderstellung ein, die ihm noch SCHILLER mit dem bekannten Diktum vom „Romanschreiber" als einem „Halbbruder" des Dichters — trotz GOETHES Wilhelm Meister — verwehrt hat.i’’ Die Art und Weise, wie der Roman bei Hegel und WAGNER im Kontext der Epos- bzw. Dramentheorie thematisiert wird, legt es nahe, die zentralen Bestimmungsstücke im Wege einer Kontrasttypologie zu entfalten. Das, was der Roman jeweils ist (oder sein soll), läßt sich — zumindest teilweise — aus dem Gegensatz zu Drama und Epos begreifen: a) Hegel: Seiner Einsicht in die fundamentale Bedeutung des jeweiligen „Weltzustandes" entsprechend, „fällt das echte epische Gedicht" für Hegel „wesentlich in die Mittelzeit" 3. 333), in der wir „die Welt dieser Gedichte zum erstenmale auf der schönen Schwebe zwischen den allgemeinen Lebensgrundlagen der Sittlichkeit in Familie, Staat und religiösem Glauben, und der P. D. Huet: Tratte de l'origine des romans. Paris 1670; Ch. F. v. Blankenburg: Versuch über den Roman. Leizig 1774. Vgl. F. Schiller: Über naive und seniimentalische Dichtung. In: Sämtliche Werke. Hrsg. v. G. Fricke und H. G. Göpfert. München 1967. 741. Goethe selber spricht in seinem Brief vom 27. 11. 1794 an Schiller von seinem Roman als von einem „Pseudo-Epos"!

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individuellen Besonderheit des Charakters; in dem schönen Gleichgewicht zwischen Geist und Natur, zweckvoller Handlung und äußerem Geschehen, nationaler Basis der Unternehmungen, und einzelnen Absichten und Thaten (finden)" {ÄsthJ'“ 3. 403). Dieser Weltzustand, in dem „die Epoche für das eigentliche Epos anbrechen kann" (AsthJ^’' 3. 337), heißt der „heroische". Dessen mustergültige Artikulation ist das HoMERische Epos, in dem wir „jene ursprüngliche poetische Mitte vor uns" haben (ÄsihA" 3. 343), die als Kriterium fungiert, an dem sich alles Spätere normativ messen lassen muß. Diese Vor-Einstellung macht es möglich, den Roman aus der Störung jenes Gleichgewichts hervorgehen zu lassen, das für das Epos konstitutiv ist. Der „Verlust der Mitte" wirft die epische Dichtung auf die „exzentrische Bahn" des Romans. Der entscheidende Grund-Vorgang ist die — wie auch immer vermittelte — „Loslösung des individuellen Selbst von dem substantiellen Ganzen". Also; statt epischer Einheit und Selbständigkeit des heroischen Charakters Scheidung von Ich und Welt, Selbstentzweiung (ÄslhA^' 3. 33 f), „unglückliches Bewußtsein". Statt substantieller nur noch partikulare Zwecke des Handelns; statt Notwendigkeit Zufälligkeit und Willkür (Äsih.’^“ 3. 340 f). Statt nationaler Begebenheiten (ÄsthJ^” 3. 357) bloße Vorfallenheiten (AsthJ^" 3. 350).i® An die Stelle einer weltgeschichtlichen tritt die biographische Behandlung einer bestimmten Lebensgeschichte {AsthJ^" 3. 359). Statt echt poetischer Abrundung (AsthA" 3. 3 3 0) bleibt das Gedicht „in sich selbst gespalten und disparat" {AsthA" 3. 335). An die Stelle von Totalität als „Totalanschauung des ganzen Volksgeistes" {AslhJ'“ 3. 333 f, 331, 376 f) tritt die „Beschränkheit privater häuslicher Zustände auf dem Lande und in der kleinen Stadt" (AsthA" 3. 417). Genau dies wäre jedoch in bezug auf den Roman im Kontext des Hegelschen Denkens ein Fehlschluß! Die Schwundstufe „der eigentlichen Epopöe" ist für Hegel nicht der Roman, sondern das idyllische Epos (Beispiele: die Luise von Voss und GOETHES Hermann und Dorothea, ein „Meisterwerk" auch in der Sicht Hegels, dem W. v HUMBOLDT 1798 eine Studie gewidmet hat, die den Roman — man ist versucht zu sagen: programmatisch — zugunsten einer Theorie des Epischen ignoriert). Denn obwohl der Roman (wie das idyllische Epos) eine notwendige Folge des weltgeschichtlichen Übergangs vom poetischen in einen prosaischen Weltzustand darstellt, für den „die Einkerkerung in ein ins Unendliche fortgehendes Messen und Partikularisiren" kennzeichnend ist (AsthJ^" 3. 355), gesteht ihm Hegel als „der modernen bürgerlichen Epopöe" Totalität als Wesensbestimmung und Auszeichnung zu, insofern hier „der Reichthum und die Vielseitigkeit der Interessen, Zustände, Charak-

Zum Problem der Beliebigkeit von Stoffen als Reflex der sich in sich selbst zurückziehenden Subjektivität vgl. Asihy“ 2. 220 ff.

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tere, Lebensverhältnisse, der breite Hintergrund einer totalen Welt, sowie die epische Darstellung von Begebenheiten vollständig wieder ein(trete)" {ÄsthJ'" 3. 395). Wie aber kommt solche Totalität der Weltanschauung angesichts einer „prosaischen Ordnung der Dinge" (Asth.''" 3.334) zustande, die — gegenüber der einfachen Gediegenheit in „Gesinnung und Sitte" {ÄsihJ'" 3. 344) des epischen Weltzustandes — nicht bloß die „verständige Prosa eines geordneten Familien- und Staatslebens" meint (Ästh.‘'" 3. 343), sondern darüber hinaus durch vielfältige Verzweigung und Zersplitterung der Verhältnisse gekennzeichnet ist (vgl. Ästh.'^“ 3. 345)? Da Hegel unter Totalität gewiß nicht die Anhäufung und Aufzählung heterogener Elemente versteht, wird er „die Totalität einer Welt- und Lebensanschauung", die er auch dem Roman vindizieren möchte (Asth.'^“ 3. 396), in einer vom Epos abweichenden Weise vor den Blick bringen müssen; nämlich dadurch, daß er den — unsern modernen Weltzustand bestimmenden — Gegensatz von Ich und Welt (Subjekt und Objekt usw.) als Widerspruch rivalisierender Ansprüche ausdrücklich exponiert: „Eine der gewöhnlichsten und für den Roman passendsten Kollisionen ist deshalb der Konflikt zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse, so wie dem Zufalle äußerer Umstände" (Asih.‘'" 3. 395). Es seien besonders „Jünglinge", „die sich durch den Weltlauf, der sich statt ihrer Ideale realisirt, durchschlagen müssen, und es nun für ein Unglück halten, daß es überhaupt Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat, Gesetze, Berufsgeschäfte usw. giebt, weil diese substantiellen Lebensbeziehungen sich mit ihren Schranken grausam den Idealen und dem unendlichen Rechte des Herzens entgegensetzen." „Sie stehen (demnach) als Individuen mit ihren subjetiven Zwecken der Liebe, Ehre, Ehrsucht oder mit ihren Idealen der Weltverbesserung dieser bestehenden Ordnung und Prosa der Wirklichkeit gegenüber, die ihnen von allen Seiten Schwierigkeiten in den Weg legt" (Asth.‘'“ 2. 216). Dieser „Zwiespalt" läßt sich in der Sicht Hegels entweder tragisch oder komisch oder aber durch Versöhnung schlichten (vgl. Asth.‘^" 3. 395). Der sog. klassische Bildungsroman wäre das Paradigma für den VersöhnungsFall (vgl. Asth.'^“ 2. 216 f u. 3. 395); der Schelmenroman die komische Variante, während z. B. FONTANES Effi Briest als eine tragische Metapher der Roman-Poetik Hegels verstanden werden kann, insofern diese „Ehebruchsgeschichte„i9 der thematisch-inhaltliche Reflex dessen ist, was den modernen Roman in seinem Wesen bestimmt: „der Konflikt des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse".

Vgl. Th. Fontane: Der Dichter über sein Werk. München 1977. Bd 2. 460.

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In dieser Sachlage könnte man u.U. sogar einen Vorrang des Romans dem Epos gegenüber begründen, wenn anders die bürgerliche Epopöe die ursprüngliche Einheit und in sich unterschiedene Ganzheit des klassischen Epos durch Wieder-Vereinigung des geschichtlich Entzweiten auf einer höheren Stufe von Komplexität überholt. Seltsam quer zu dieser Auffassung steht der bemerkenswerte Umstand, daß Hegel nicht nur eine epische Darstellung der Französischen Revolution — zumindest indirekt — für möglich hält, wenn er einräumt, daß „die Umwälzungen, denen die wirklichen Verhältnisse der Staaten und Völker unterworfen gewesen sind, noch zu sehr als wirkliche Erlebnisse in der Erinnerung festhaften, um schon die epische Kunstform vertragen zu können (Ästh.‘^‘‘ 3. 417), sondern darüber hinaus sogar an „Epopöen" denkt, „die vielleicht in Zukunft seyn werden", und „den Sieg dereinstiger amerikanischer lebendiger Vernünfigkeit über die Einkerkerung in ein ins Unendliche fortgehendes Messen und Partikularisiren darzustellen haben. Denn in Europa ist jetzt jedes Volk von dem anderen beschränkt, und darf von sich aus keinen Krieg mit einer anderen europäischen Nation anfangen; will man jetzt über Europa hinausschicken, so kann es nur nach Amerika seyn" (Äsih.'^“ 3. 355)! Eine Möglichkeit, die man unter den geschichtsphilosophischen Prämissen der Hegelschen Ästhetik nur mit dem Gedanken einer weltgeschichtlichen Phasenverschiebung und daraus resultierenden Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen begründen könnte. Das Amerika-Epos als „Überwindung" des modernen europäischen Romans eröffnet jedenfalls einen Aspekt, der vermutlich im Zusammenhang mit dem sich bildenden Mythos einer „neuen Welt" gesehen werden muß.^o Deshalb ist es wohl mehr als nur ein Zufall, daß sich auch WAGNER gelegentlich mit Auswanderungs-Plänen nach Amerika beschäftigt hat.^i Davon abgesehen wäre es einer eigenen Prüfung wert, ob sich z.B. TOLSTOJS Krieg und Frieden als ein Werk begreifen ließe, daß Epos und Roman zu einer Art von epischer Totale verschmilzt. b) Wagner: Insofern WAGNER die Merkmale des Romans im Kontext seiner Dramen-Theorie entwickelt, wird die Kontrast-Typologie, die ich auch in seinem Fall aufstellen möchte, anders als bei Hegel ausf allen. Festzuhalten ist zunächst, daß WAGNER eine „Entwicklung" des modernen Dramas nach dessen grundverschiedenen „zwei Hauptrichtungen" geben möchte (W 4.13 Anm.). Eine dieser Hauptrichtungen ist der Roman, die andere das „nach den misverstandenen Regeln des ARISTOTELES aufgefaßte griechische Drama", also die „Tragedie classique" der Franzosen; wobei der Roman der natürliche, die

“Vgl. z. B. Goethes Wanderjahre. Vgl. M. Gregor-Dellin: Richard-Wagner: Sein Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert.

München 1980. 788 f.

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Tragedie hingegen der ;^urch Reflexion aufgepfropfte" Ursprung des modernen Dramas sei. Als Exponenten beider Richtungen werden — in leicht verschobener LnssiNGscher Tradition — SHAKESPEARE und RACINE namhaft gemacht. »Zwischen diesen zwei äußersten Gegensätzen ... erwuchs nun aber zunächst das moderne Drama zu seiner zwitterhaften, unnatürlichen Gestalt, und Deutschland war der Boden, von dem sich diese Frucht nährte" (W 4. 15). Von den Dichotomien Natur-Reflexion, Germanisch-Römisch, Individuell/Protestantisch-Katholisch, Organisch-Mechanisch usw. abgesehen, deren Vermittlung im Drama GOETHES und SCHILLERS ZU Aporien führte, die WAGNER — so seine Zielprojektion — durch die Konzeption eines Dramas der Zukunft überwinden zu können meint, muß uns vordringlich der „unserer geschichtlichen Entwicklung" eigentümliche Ursprung des modernen Dramas, der Roman, interessieren (W 4. 6). Im Rückblick auf Hegel ist dabei aufschlußreich, daß WAGNER den Ursprung des Romans selber in den — gesellschaftlich bedingten — inneren „Zwiespalt" des Menschen verlegt (W 4. 45), in dem wir einen Reflex des „unglücklichen Bewußtseins" vermuten dürfen, das — „in sich uneinig mit sich selbst" — „im Kunstschaffen dem Zwiespalte seines Inneren entfliehen wollte" (W 4. 7), und zwar „nach Außen hin", „um von Außen her ... nach Innen sich zu zerstreuen" (W 4. 12). In dieser Flucht in die Außenwelt (vgl. W 4. 8) als Kompensation eines „unlösbaren inneren Skrupels" (W 4. 7) sei die Veranlassung „zu den ausschweifendsten Kombinationen von Vorfällen und Lokalitäten" zu suchen (ebd.): jene „zerstreute Vielstoffigkeit" und abenteuerliche „Vielhandlichkeit" also (W 4. 9), die insbesondere den Ritterroman kennzeichnet. „Der Meister dieser liebenswürdigen, aber aller Innerlichkeit, alles Haftes der Seele entbehrenden Kunst war ARIOSTO" (W 4. 8). Wir erinnern uns der Ausführungen Hegels unter dem Stichwort „Abenteuerlichkeit" {Asth}'^' 2. 207-217) oder der Hinweise zum romantischen Epos, denen zufolge jene „Abenteuerlichkeit der Situationen, Konflikte und Verwicklungen, welche aus solchem Stoffe hervorgehen können, einerseits mehr in eine romanzenartige Behandlung [führt], so daß die vielen einzelnen Aventüren sich zu keiner strengeren Einheit zusammenflechten; andererseits zum Romanhaften, das sich jedoch hier noch nicht auf der Grundlage einer fest eingerichteten bürgerlichen Ordnung und eines prosaischen Weltlaufs hinbewegt" 3. 411). Noch GEORG LUKACS betont in seiner Theorie des Romans, daß „das vollständige Fehlen einer innerlich erlebten Problematik ... die Seele in reine Aktivität" verwandelt.22 22 G. Lukacs: Die Theorie des Romans. Darmstadt/Neuwied 1977. 85: „Das Leben eines solchen Menschen muß also zu einer ununterbrochenen Reihe selbstgewählter Abenteuer werden." Die — Wagner gegenüber — abweichende Begründung für diesen Sachverhalt soll freilich nicht verschwiegen werden.

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Bedeutsamer für den Fortgang ist die Annahme WAGNERS, daß ein solches Zerfließen in „ein immer anschwellenderes Meer außen vorgehender Handlungen" (W 4. 7) als Gegen-Bewegung gleichsam das „Streben" aus sich erzeugt, „der Masse des vielartigen Stoffes von Innen heraus Herr zu werden, seiner Gestaltung einen festen Mittelpunkt zu geben, und diesen Mittelpunkt als Axe des Kunstwerkes aus der eigenen Anschauung ... zu entnehmen" (W 4. 8). Wer weiß, daß WAGNER diesen festen Mittelpunkt schließlich in der mythischen Anschauung der Geschichte gefunden hat, wird kaum überrascht sein, hier — mutatis mutandis — die Einlösung jener Forderung nach einer „neuen Mythologie" anzutreffen, die schon Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus aufgestellt und FRIEDRICH SCHLEGEL in seiner Rede über die Mythologie aus dem Bedürfnis nach „einem festen Halt" und „Mittelpunkt" nachdrücklich bekräftigt hat.^s Durch diesen Gedanken-Sprung geraten bei WAGNER nunmehr der Roman und das Drama der Zukunft in einen gattungstypologisch begründeten Gegensatz. Er stellt sich folgendermaßen dar: Schilderung äußerlicher Umtriebe — Darstellung inneren Wesens Zufälligkeit der Begebenheiten — innere Notwendigkeit der Handlung zerstreuend — verdichtend ausschweifend — verengend entgrenzend — begrenzend zerfließend — plastisch loses Gefüge — geschlossenes Ganze Dieses Spannungs-Verhältnis zwischen „Exzentrizität" des Romans und „Konzentrizität" des Dramas der Zukunft^^ schlägt sich — verfahrenstechnisch betrachtet — in dem Gegensatz von Schilderung und Darstellung nieder: Eine Grundopposition, die sich nicht nur auf die PLATONische Unterscheidung von SiriyrjaiQ und (Politeia. 392'^6) oder die — den Gattungsunterschied von Epos und Drama begründende — Differenzierung von d nayyeXXeiv und fUfie'laSai in Kap. 3 der ARisroTELischen Poetik berufen kann, sondern im 23 Vgl. Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe. Bd 2. Charakteristiken und Kritiken I. Hrsg. v. H. Eichner. München/Paderborn/Wien 1967. 312. 24 Das moderne Drama Goethes und Schillers weist dem von Wagner postulierten Dramentyp gegenüber insofern Defizite auf, als Goethe über die „Dramatisirung eines vollblütig germanischen Ritterromanes' im Götz (W 4. 20) zum „dramatisirten bürgerlichen", d.h. immerhin Stoff- und handlungsärmeren Romane (vgl. z.B. Clavigo) fortgeschritten und schließlich bei der Aufgabe des „wirklichen Bühnendrama's" im Faust angelangt sei, während Schillers dramatisches Schaffen jm Schwanken zwischen Historie und Roman ... einerseits, und der vollendeten Form des griechischen Drama's andererseits befangen" bleibt (ebd. 27).

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Rahmen der neueren Erzähltheorie selber ihren weitesten Anwendungsbereich gefunden hat.^s Wichtiger sind freilich die zuletzt geschichtsphilosophischen Restriktionen, mit denen WAGNER die konkurrierenden Prinzipien der Darstellung und Schilderung versieht. Er meint, daß die künstlerische Erschaffung des Lebens selbst *in seiner vielgliedrigen Verzweigung" nur im Roman, d.h. ,dn der Schilderung, im Appell an die Phantasie" gelinge (W 4. 23). ,Der Inhalt des modernen Lebens, der sich ... nur noch im Romane verständlich zu äußern vermochte", sperre sich gegen eine Darstellung, ,in der Form des griechischen Drama's" (W 4. 22). Alle Versuche, ,den Roman" durch Reduktion von Komplexität — wie man systemtheoretisch gewendet sagen könnte — .moch enger zu verdichten" (W 4.17), mißraten daher ebenso wie die Bemühung um eine historisierende Erweiterung des Dramas gegenüber dem Weltzustand zur Kunst-Lüge^*; Ein Verdikt, das freilich nicht erst durch die Methoden des szenisch-dialogischen Erzählens oder die Konzeption eines „epischen Theaters", sondern durch das „HoMERische" bei WAGNER selber widerlegt wird^’’, in dem ja auch TH. MANN, „dem Theater zum Trotz, einen großen Epiker ... sah und liebte."2* Demgegenüber müßte man aus der von WAGNER zumindest theoretisch fixierten Gattungs-Trennung — (17: „Die Natur des Romanes [stimme] mit 25 Vgl. etwa F. Spielhagen, O. Ludwig, E. Spranger, N. Friedmann oder F. K. Stanzel. 2* Vgl.: „Daß aber sowohl diese künstlerische Einheit wie diese Historie erlogen sind, etwas Unwahres aber auch nur von erlogener Wirkung sein kann, das hat sich am heutigen historischen Drama deutlich herausgestellt. Daß die wahre Geschichte kein Stoff für das Drama ist, das wissen wir nun aber auch, da dieses historische Drama uns deutlich gemacht hat, daß selbst der Roman nur durch Versündigung an der Wahrheit der Geschichte zu der ihm erreichbaren Höhe als Kunstform aufschwingen konnte." (W 4. 49 f). 22 Vgl. H. v. Hofmannsthal in seinem Brief vom 1. 7. 1927 an R. Strauss. In: R. Strauss/H. v. Hofmannsihah Briefwechsel. Hrsg. v. F. u. A. Strauss. Berab. v. W. Schuh. Zürich 1952. 567 ff: „... aber das eigentlich entscheidende Element, das alle anderen trägt, ist Nürnberg. Dieses Stadtganze". „Das nun gibt dieser Oper ihre unzerstörbare Wirklichkeit: daß sie eine echte, geschlossene Welt wieder lebendig macht, die einmal da war, — nicht ... erträumte oder erklügelte Welten, die niemals nirgends waren. Das ist das, so zu sprechen. Homerische an den Meistersingern, das, was sie mit Hermann und Dorothea in Verwandtschaft setzt ... und was sie so fest und solid und frischbleibend macht." 2* Über die Kunst Richard Wagners. In: Essays. Bd 3. Schriften über Musik und Philosophie. Ausgew., eingel. u. erl. v. H. Kurzke. Frankfurt a. M. 1978. 59. Vgl. darüber hinaus D. Borchmeyer, der a.a.O. 15 von der j-omantheoretische(n) Fundierung der musikalischen Dramaturgie" spricht, „die das Musikdrama als versetzten Roman erscheinen läßt"; zum Folgenden vgl. ebd. 135.

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der des Drama's in Wahrheit nicht überein") — eigentlich den Schluß ziehen, daß das Drama in der Moderne zur unzeiigemässen Gattung wird: Eine Einsicht übrigens, die sich bei NIETZSCHE durchzusetzen beginnt, wenn er — trotz seines anfänglichen Plädoyers für eine Wieder-Geburt der Tragödie — auf die dramatische Ausführung seines Empedokles-Planes zugunsten des Zarathustra verzichtet. Indem nämlich NIETZSCHE den Überstieg aus der dramatischen Kunstform heraus in die im weitesten Sinne epische Gattung vollführt, scheint er jenen Prozeß beschleunigt zu haben, der den von der Schulästhetik immer wieder bestätigten grundsätzlichen Vorrang des Dramas etwa vor der erzählenden Dichtung (im Sinne TH. MANNS) dementiert. Man könnte noch einen Schritt weitergehen und — Hegels These vom Vergangenheitscharakter der Kunst auf die dramatische Kunstform anwendend — sagen, daß das Drama unser höchstes Bedürfnis nicht mehr ausfülle und seine literaturgeschichtliche Rolle bis auf weiteres ausgespielt habe. Anders WAGNER; Er will „das Drama als vollendetste Gattung der Dichtkunst" (W 4. 22) offenbar retten und damit in einer Stellung befestigen, die der dramatischen Poesie durch die Architektonik der Hegelschen Ästhetik nicht minder entschlossen zugewiesen worden war. Dieser normativ behauptete Vorzug der dramatischen Gattung scheint jedoch der ihr imputierten Unzeitgemäßheit zu widersprechen. Wie räumt WAGNER diese Schwierigkeit aus? Er schränkt seinen Vorwurf auf das moderne Drama ein, dessen „Impotenz" in einer verfehlten Stoffwahl begründet liege (W 4. 29). Damit reduziert sich der pointierte Widerspruch auf einen solchen „zwischen Stoff und Form" (W 4. 28): Das Drama ist dann unzeitgemäß, wenn es den Jnhalt des modernen Lebens" zu seinem Gegenstand macht! Um den Widerspruch zu lösen, gelte es daher, das Drama vom Roman zu emanzipieren und ihm seinen genuinen Stoff zu vindizieren: den Mythos. Dabei geht es WAGNER nicht um die Restauration eines vorgeschichtlichen Zustandes. Vielmehr sucht er die Abkehr von der Historie als einen Akt radikaler Umkehr zu begreifen, der die Einkehr einer befreienden Zukunft ermöglichen soll. Sein Mythos setzt demnach als „Mach-Werk" die Geschichte gerade voraus, ist gewissermaßen „mythisch kondensierte Historie", die die äußeren Vorfälle auf deren innere Beweggründe, auf die Gesinnung der Handelnden: auf das „Reinmenschliche" also, freilegt. Oder — im Blick auf das Verhältnis des repristinierten Mythos zur Religion: „Man könnte sagen, daß da, wo die Religion künstlich wird, der Kunst es Vorbehalten sei, den Kern der Religion zu retten, indem sie die mythischen Symbole, welche die erstere im eigentlichen Sinne als wahr geglaubt wissen will, ihrem sinnbildlichen Werte nach erfaßt, um durch ideale Darstellung derselben die in ihnen verborgene tiefe Wahrheit erkennen zu lassen" (W 10. 211). Der Mythos im Drama der Zukunft darf sonach nicht als einfache Negation der

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Moderne, sondern muß als Aufhebung von Religion und Historie zu deren symbolischer Kenntlichkeit verstanden werden. Damit wird im Hintergrund gatturigstheoretisch akzentuierter Erwägungen ein Geschichts-Schema sichtbar, das — in starker Verkürzung — triadisch interpungiert ist: Dem antiken, im Mythos begründeten Drama folgt der moderne, aus der Historie gespeiste Roman, der vom Drama der Zukunft durch Aufhebung der Historie zum Zweck einer Repristination des Mythos überholt werden soll. Bei der Rekonstruktion dieses Geschichtsprozesses macht sich nun insofern ein Moment von Zweideutigkeit geltend, als die weltgeschichtliche Entwicklung einerseits als Erkenntnisfortschritt erscheint (vgl. W 4. 44), andererseits jedoch als Verfallsgeschichte betrachtet wird, die den von WAGNER programmatisch geforderten Überstieg in die Zukunfts-Dimension notwendig macht. Um das Drama der Zukunft als geschichtlich »fällige" Überwindung des Romans zu rechtfertigen, darf dieser nicht bloß affirmativ wie bei Hegel, sondern muß zugleich negativ beleuchtet werden. WAGNERS Erörterungen zum »Wesen des Romans" (W 4. 29) rücken deshalb in ein Zwielicht, das es abschließend noch zu klären gilt. Zuvor jedoch haben wir uns kurz in die geschichtsteleologische Perspektive WAGNERS einzulassen, die überraschende Parallelen zu Hegel aufweist. Sie bestehen nicht nur in der geschichtsphilosophischen Fundierung der Gattungstheorie, die ja Hegels eigenste Leistung ist, obwohl sich die Einsicht in die zeitgeschichtliche Bedingtheit von Gattungen schon im RomanzoStreit des Cinquecento zu regen beginnt^’, sondern gerade auch in bezug auf die zentralen Beweggründe der geschichtlichen Entwicklung selbst. So stellt sich der von Hegel rekonstruierte Übergang von Poesie in Prosa bei WAGNER analog als ein solcher vom Mythos zum Logos dar.^o Er artikuliert sich in folgenden Spielarten: Die dichterische Einbildungskraft (Phantasie) weicht dem reflektierenden Verstand, das Ganze einer »Vielheit von Einzelheiten"; das Verbinden vergißt sich im Trennen, das Darstellen des Zusammenhangs im Erkennen der Teile. »Die Naturanschauung des Volkes ist in Physik und Chemie, seine Religion in Theologie und Philosophie, sein Gemeindestaat in Politik und Diplomatie, seine Kunst in Wissenschaft und Ästhetik, sein Mythos aber in die geschichtliche Chronik aufgegangen" (W 4. 34 f). Die »Lebensanschauung der modernen Welt" (W 4. 34) bildet sich für WAGNER in einem Prozeß der vom »christlichen Mythos" heraufbeschworenen Selbst-Entfremdung des Menschen (vgl. W 4. 35), die ihrerseits in der Vgl. etwa G. Cintio oder A. Minturno; im Blick auf den modernen Roman ganz ausdrücklich Blankenburg. 20 Vgl. W. Nestle: Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates. Stuttgart 1940 (2 1975).

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„Entgötterung der Natur und Menschenwelt" begründet liegt, wobei das sich zeitigende „Bewußtsein von der prosaischen Ordnung der Dinge" (ÄsthJ''’’ 3. 367) diese dem bloßen Erkennen überantwortet. „Der erste und wichtigste Schritt zur Erkenntniß bestand daher darin, die Erscheinungen des Lebens nach ihrer Wirklichkeit zu erfassen, und zwar zunächst ohne alle Beurtheilung, sondern mit dem Bemühen, ihren Thatbestand und Zusammenhang uns so ersichtlich und der Wahrheit entsprechend wie möglich vorzuführen" (W 4. 44). „Kühne, in bewußter Absicht unternommene Entdeckungsreisen, und tiefe, auf ihre Ergebnisse begründete Forschungen der Wissenschaft enthüllten uns endlich die Welt, wie sie in Wirklichkeit ist". (W 4. 42). Von hierher wird deutlich, warum WAGNER im „Drängen des Gedankens in die Wirklichkeit" „den Grundton des eigentlichen poetischen Elementes der Gegenwart vernommen hat" (vgl. W 4. 21). „Am verständlichsten vermag unser Lebenselement (jedoch) künstlerisch nur der Roman darzustellen" (W 4. 28). Er hat mithin auch für WAGNER das zur Voraussetzung, was Hegel „prosaische Wirklichkeit" nennt: „Einen schon zu organisirter Verfassung herausgebildeten Staatszustand mit ausgearbeiteten Gesetzen, durchgreifender Gerichtsbarkeit, wohleingerichteter Administration, Ministerien, Staatskanzleyen, Polizei usf." (AsthJ'“ 3. 341 f), wozu auch noch „unser heutiges Maschinen- und Fabrikwesen mit den Produkten (rechnet), die aus demselben hervorgehn" {Asth.‘^“ 3. 342), sowie die „Vielfältigkeit von Geschäften der Fabriks- und Handwerkstätigkeit" (Asth.''" 3. 343). Kein Wunder, wenn „der Roman überall, und namentlich bei den Franzosen (...) sich auf die nackteste Darstellung des Lebens der Gegenwart warf, dieses Leben bei seiner lasterhaftesten sozialen Grundlage erfaßte, und, bei vollendeter Unschönheit als Kunstwerk, das litterarische Kunstwerk des Romanes selbst zur revolutionären Waffe gegen diese soziale Grundlage schuf" (W 4. 28).Damit ist eine Entwicklung der Romanliteratur vorgezeichnet, die hier nicht mehr im einzelnen auseinandergesetzt werden kann. Entscheidend ist der Gedanke, daß der Roman „mit der Aufdeckung der wirklichen Gestalt der modernen Gesellschaft... eine praktischere Stellung ein(nahm)" (W 4.52), was soviel besagt, daß das „Chaos von Unschönheit und Formlosigkeit", als welches sich die wahre Physiognomie der bürgerlichen Gesellschaft in der Sicht WAGNERS enthüllt (vgl. W 4. 51), den Romandichter „in die Wirklichkeit selbst [trieb], um in ihr für das erkannte wirkliche Bedürfniß der menschlichen Gesellschaft zu streiten. Auf ihrem Wege zur 31 Vgl. dazu die Studie von R. Guise: Le vornan et la vulgarisation des idees politiques et sociales sous la Monarchie de ]uillet. Paris 1969, die auch den Roman-feuilleton, also jenen in Tageszeitungen wie z.B. der Revue des deux mondes erscheinenden Fortsetzungsroman behandelt, den Sainte-Beuve zur Jitterature industrielle" rechnete.

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praktischen Wirklichkeit streifte auch die Romandichtung immer mehr ihr künstlerisches Gewand ab: die als Kunstform ihr mögliche Einheit mußte sich... in die praktische Vielheit der Tageserscheinungen selbst zersetzen... Die Romandichtung ward Journalismus, ihr Inhalt zersprengte sich in politische Artikel“, (woran zu ersehen ist, daß der Stoff nicht bloß dem modernen Drama, sondernauch dem Roman zum Verhängnis wird). „So ist die Kunst des Dichters zur Politik geworden" (W 4. 53). Das also ist WAGNERS Anschauung vom Ende der Kunst. Es stellt sich ihm als ein Prozeß der Selbstaufhebung dar, die durch die poetische Erkenntnis der Wirklichkeit selber erzwungen wird. „Aber der Roman war kein willkürliches, sondern ein nothwendiges Erzeugniß unseres modernen Entwicklungsganges: er gab den redlichen künstlerischen Ausdruck zu Lebenszuständen, die künstlerisch nur durch ihn, nicht durch das Drama darzustellen waren. Der Roman ging auf Darstellung der Wirklichkeit aus, und sein Bemühen war so ächt, daß er vor dieser Wirklichkeit sich als Kunstwerk endlich selbst vernichtete" (W 4. 48). Die Zweideutigkeit dieser spekulativen Schlußfolgerung besteht nun aber darin, daß WAGNER den Aufweis einer solchen Notwendigkeit in der geschichtlichen Entwicklung gleichsam als negative Folie braucht, um die „Erlösung" von Kunst und Welt in seinem Zeichen zu lancieren. Der Roman wird als Kunst-Form geschichtlich zwar gerechtfertigt, als Verfalls-Form einer korrupten Wirklichkeit jedoch zugleich abgelehnt, mehr noch: annihiliert. Das ist bei Hegel anders. Er begreift den Roman unter den prosaischen Bedingungen der Moderne gleichwohl als die epische Darstellung einer totalen, in sich berechtigten Welt, während WAGNERS megative Dialektik" ihn (: den Roman) als Reflex einer in Auflösung befindlichen schlechten Wirklichkeit entlarvt, der mit dieser zugrunde- bzw. in politische Praxis übergeht. So wie MARxens Kapital als Lehrbuch der Ökonomie „zu einer Ablehnung seines Gegenstandes" führt*^, indem es das, was es als negativ je schon vorausgesetzt hat, in seiner Negativität transzendental zu erweisen sucht, so *2 Als Beispiel für die Verbindung auch des Jungen Deutschland mit dem Journalis-

mus wäre in diesem Zusammenhang der (Zeitungs-)Roman in neun Büchern Die Ritter vom Geiste von K. Gutzkow zu nennen, der Wagner durch seine Tätigkeit als Dramaturg am Hoftheater Dresden (1846-49) bekannt war. Zu Gutzkows Theorie von „Roman des Nebeneinander", mit der er der zunehmenden Komplexität der gesellschaftlichen Verhältnisse hat gerecht werden wollen, vgl. die entsprechenden Abschnitte bei H. Steinecke: Romantheorie und Romankritik in Deutschland. Die Entwicklung des Gattungsverständnisses von der Scott-Rezeption bis zum programmatischen Realismus. 2 Bde. Stuttgart 1975. ”Vgl. K. Hartmann: Marxens „Kapital“ in transzendentalphilosophischer Sicht. Bonn 1968. 7.

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rekonstruiert WAGNER den modernen Weltzustand und die ihm entsprechende Kunst desgleichen als abzulehnende bzw. sich selbst vernichtende, um auf diesem Wege die Notwendigkeit einer künftigen Erneuerung in Kunst und Gesellschaft plausibel machen zu können. Die Überwindung des schlecht Bestehenden ist jedoch ebenso wie die Auferstehung der Kunst nur durch eine „Umkehr aller Vorstellungsarten und Formen" zu gewährleisten34, die im Untergang von bürgerlicher Gesellschaft, Gesetz und Staat den Ursprung des Kunstwerks der Zukunft freisetzt: „Der Dichter kann nicht eher wieder vorhanden sein, als bis wir keine Politik mehr haben" (W 4. 53). „Wir müssen also auch über den Staat hinaus" — lautete schon die Parole des Ältesten Systemprogrammsl^^ Sollten die radikalen Anwandlungen des jungen Hegel bei WAGNER Früchte des Zorns getragen haben, des Zornes auch darüber, daß der Kunst vielleicht voreilig die Flügel beschnitten werden, wenn eine Philosophie das Versprechen vom Wirklich-toerden des Vernünftigen durch Machtspruch zu einem Vernünftig-sein des Wirklichen aufhebt?^* Es könnte nämlich sein, daß die Kunst als das scheinbar Überholte gerade auch der seinsfrommen Bemühung der Philosophie gegenüber als das allererst Einzuholende wieder voraus ist. Dann aber müßte der These vom Vergangenheitscharakter der Kunst die These vom Vergangenheitscharakter der Ästhetik entgegengestellt werden.

Vgl. F. Hölderlin: Anmerkungen zur Aniigonae. In: Sämtliche Werke. Bd 5. Hrsg. v. F. Beißner. Stuttgart 1952. 271. ■55 Vgl. Hölderlin: Sämtliche Werke. Bd 4. Stuttgart 1961. 297. Vgl. Phil. d. Rechts. 17; sowie die Vorlesungsnachschrift der Rph vom WS 1819/20 (Hrsg, von D. Henrich. Frankfurt a. M. 1984).

HANS-GEORG GADAMER (HEIDELBERG)

DIE STELLUNG DER POESIE IM SYSTEM DER HEGELSCHEN ÄSTHETIK UND DIE FRAGE DES VERGANGENHEITSCHARAKTERS DER KUNST Wer die HoTHOsche Redaktion von Hegels Vorlesungen über Ästhetik liest, wird sich dem zwingenden Eindruck eines überaus lesbar gestalteten Textes nicht entziehen können, insbesondere, wenn man diese Vorlesung mit den anderen Vorlesungen aus der großen Hegel-Ausgabe der Freunde des Verewigten vergleicht. Nun haben wir durch die neueren Untersuchungen einsehen gelernt, daß die Authentizität dieses Textes entsprechend geringer ist, als wir bisher unwillkürlich angenommen haben. Offenbar hat ein gewandter Kunstschriftsteller und Stilist wie HOTHO in dem Bestreben, Hegels für ihn so bestimmende Lehren dem Zeitgeschmack seiner eigenen Generation mundgerecht zu machen, manches aus Eigenem hinzugefügt, das nicht mit Hegels Ansichten übereinstimmt.i Am wenigsten dürfte das noch für die eigentlich begrifflichen Konstruktionselemente der Hegelschen Vorlesung gelten, daß es ihnen an Authentizität fehlt. Einen schwerwiegenden Eingriff HOTHOS gibt es allerdings, den wir schon seit dem (an sich gescheiterten) Versuch von LASSON, die Ästhetikvorlesung neu zu edieren, realisiert haben. Ich meine die Verselbständigung des Abschnittes über das Naturschöne zu einem dem Abschnitt über das Kunstschöne parallelen und vorausgehenden eigenen zweiten Kapitel. Das ist irreführend. Hegel hat seine Ästhetik in Wahrheit ganz vom Standpunkt der Kunst aus konzipiert und die Naturschönheit bekanntlich als einen Reflex des Kunstschönen diesem eingeordnet. Dieser gewichtige Eingriff HOTHOS, der etwas Wesentliches verdeckt, wiegt um so schwerer, als die begriffliche Schematik, mit der Hegel in seiner Ästhetik arbeitet — neben dem Unbehagen, das sie bereitet — für den Philosophen ein erhöhtes Interesse behält. Dem entspricht, mit welchem Eifer und mit welcher Beharrlich1 Für anregende Informationen über die Nachschriften von Hegels tatsächlich gehaltenen Vorlesungen zur Ästhetik bin ich der Bearbeiterin dieser Dinge am Hegel-Archiv, Frau Privatdozent Dr. A. Gethmann-Siefert zu Dank verpflichtet. Vgl. bes. die folgenden Veröffentlichungen der Autorin: Einleitung und Edition der Nachschrift Hothos von 1823: Die Philosophie der Kunst. Nach dem Vortrage des Herrn Professor Hegel. Im Sommer 1823. Berlin. Nachgeschrieben von H. Hotho. Hamburg 1986; Die Funktion der Kunst in der Geschichte. Untersuchungen zu Hegels Ästhetik. Bonn 1984. (Hegel-Studien. Beiheft 25.)

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keit Hegel in allen einzelnen Kapiteln seiner Vorlesung inamer wieder die Grundgedanken seiner Schematik rekapituliert. Hegel hat die konstruktive Schematik seiner Vorlesung so oft und so genau wiederholt, daß wir dieselbe als authentisch ansehen dürfen und deshalb ihren Implikationen besondere Aufmerksamkeit schuldig sind. Da fällt nun bei der leitenden Begriffsbildung, der Einteilung der Epochen der Kunst in die symbolische, klassische und romantische Kunst, auf, daß sie an der Poesie keine rechte Bestätigung findet, sondern offenbar an den sinnlich-anschaulichen Künsten, der Architektur, der Skulptur, der Malerei und der Musik. Das hat seinen guten Grund. Die sinnlich-anschaulichen Künste unterstehen weit mehr der Äußerlichkeit des Geschmacks, dessen Wandel offen zutage liegt und sich daher zur Artikulation der Geschichte der Kunst besonders anbietet. Der Geschmack ist, wie Hegel gesehen hat, in Wahrheit nicht das wesentliche an der Kunst, sondern bildet gleichsam die sinnliche Haut, die wir gegen die Herausforderung und den Andrang von allem, was uns begegnet, und so auch gegen die Herausforderung unserer eigenen Konstrukte, unserer Werke und Kunstwerke benötigen, und diese „Haut* des Geschmacks ist in einem weit höheren Grade durch sinnlich Anschauliches verletzbar, als es durch noch so krasse Kruditäten geschieht, die sprachlich-literarischer Gestalt sind. Das ist ja eine seit LESSINGS Laokoon wohlbekannte Tatsache. Es entspricht dem, daß Hegel bei „Kunst" nie im besonderen die Poesie im Auge hat, wenn er das allgemeine Thema der Kunst in systematischen Zusammenhängen erörtert, sondern sei es die Architektur, sei es die bildenden Künste. Die Poesie ist eben in besonderem Maße die „allgemeine Kunst", wie Hegel wohl sieht. Gleichwohl nimmt die Poesie in der Schematik der Asthetikvorlesung eine ausgezeichnete Stellung ein. In dieser Hierarchie der steigenden Entsinnlichung und wachsenden Vergeistigung stellt sie die letzte Stufe dar. Sie hat, wie Hegel sagt, ihr Dasein nur in dem Bewußtsein selbst. Es sind die Formen des inneren Vorstellens und Anschauens, die hier das Kunstwerk zum Kunstwerk machen oder als Kunstwerk erweisen. Sie ist insofern das extreme Gegenstück zur Architektur, die noch kaum, nur symbolisch und andeutend, Geist ist und ihrer Natur nach nur zur Umgebung des Geistes gehört. In HOTHOS Asf/zefiF-Redaktion scheint Hegel die terminologische Prägung, die wir aus dem Schlußkapitel der Phänomenologie des Geistes kennen, wonach die Kunst-Religion auf dem Standpunkt der Anschauung, die Offenbarungsreligion auf dem Standpunkt der Vorstellung und die Philosophie auf dem Standpunkt des Begriffes steht, in seinem Sprachgebrauch nicht festgehalten zu haben, obwohl er der Sache nach dieses Konzept offenkundig durch sein ganzes Werk aufrechterhält. In der Ästhetikvorlesung spricht er in sehr freier Weise von Anschauen, Vorstellen, Empfinden und dergleichen, ohne sich an

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seine eigene begriffliche Schematisierung zu binden. Die Sonderstellung, die Hegel der Poesie zuweist, wird nun besonders deutlich, wenn die Begriffe von Form, Inhalt und Materie, die Hegel für seine schematische Konstruktion gebraucht, auch auf die Poesie angewendet werden, wo sie besonders unangemessen sind (vgl. Äsih. 3. 226 ff). Die Formung von Material läßt sich im Falle der Poesie offenkundig nur in einem sehr uneigentlichen Sinne behaupten. Schon bei der Musik ist die Rede vom Tonmaterial unbefriedigend. Im Falle der »Poesie" verändert sich vollends, wie Hegel ausdrücklich sagt, das ganze Verhältnis zum Material, sofern das »Material* überhaupt nicht das sinnlich Erscheinende ist, sondern das in der inneren Einbildungskraft zur Erscheinung Gebrachte {Äsih. 3. 231). Hegel rechtfertigt hier den Anspruch der Poesie, die allgemeine Kunst zu sein, mit diesen Begriffen. Sie ist in ihren Verwirklichungsbedingungen durch kein sinnliches Material überhaupt eingeschränkt. ln seinen Vorlesungen scheint Hegel den Zugang zur Einteilung der Künste und die Vorzugsstellung der Poesie nicht nur so, sondern in vielfachen Variationen seinen Hörern plausibel gemacht zu haben. Um nur ein Beispiel zu geben: Er geht einmal von Raum und Zeit als den allgemeinen Formen der Anschauung aus, denen Malerei und Musik noch verhaftet sind. Das sinnliche Element des Raumes gehört der Malerei an, das sinnliche Element der Zeit der Musik. Beide zeigen sich in der Poesie als »Punkt des Geistes, als das denkende Subjekt, das in sich den unendlichen Raum der Vorstellung mit der Zeit des Tones verbindet" (Hotho 1823. Ms. 421). Damit folgt Hegel in Wahrheit nicht nur KANT, sondern einer wohlbekannten Topik der ARISTOTELischen Philosophie. Wenn ARISTOTELES in dem berühmten Einleitungssatz zur Metaphysik dem Sehen den Vorzug vor allen anderen Sinnen gibt, weil es die meisten Unterschiede erfasse, so kommt doch in anderem Betracht, wie er sieht, gerade dem Hören ein noch höherer Vorrang zu. Denn weil das Hören Sprache, den Logos, zu hören vermag, werden ihm nicht nur die meisten, sondern auf diese Weise schlechterdings alle Unterschiede zugänglich. Hieran knüpft Hegel an, und er gebraucht in ähnlicher Weise für die Auszeichnung der Poesie ausdrücklich den Begriff der Totalität, durch den sie sich gegenüber allen anderen Kunstformen auszeichnet. Damit bekommt die Stellung der Poesie im Aufbau der Ästhetik ihre nach vorne weisende Bedeutung. In ihr bahnt sich bereits der Übergang zur religiösen Vorstellungsweise der offenbarten Religion und zur Prosa des wissenschaftlichen Denkens, das heißt der Philosophie, an, welche letzteren sinnlichkeitsloseres Erfassen des Absoluten sind (Äsih. 3.233). Der unschöne Komparativ zu sinnlichkeitslos unterstreicht indirekt, daß nicht nur die Poesie, sondern auch noch die Prosa des Gedankens in Laut- und Zeichengestalt eine reale, sinnliche Basis haben. Die ganze Betrachtungsweise folgt eben der ARisTOTELischen metaphysischen Begriffstradition. Die Gesamtde-

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finition der Kunst, die HOTHO in seiner Redaktion der Ästhetikvorlesung anführt, das »sinnliche Scheinen der Idee" (Asih. 1.144) zu sein, soll damit gewiß nicht abgeschwächt werden, wenn auch Hegel im Vergleich zu den anderen Künsten der Poesie steigende Geistigkeit und sich mindernde Sinnlichkeit zuschreibt. Es ist wichtig zu erfahren, daß diese im Grund PLATONische Formel (Phaidr. 250 d) in Hegels Berliner Vorlesungen offenbar nicht nachweisbar ist. HOTHO gebraucht die schöne Wendung in der Tat in einem traditionalistischen Zusammenhang, nämlich bei der Erörterung des Verhältnisses von Wahrheit und Schönheit. Dieses PtAXONische Grundthema will nicht eigentlich auf das Kunstschöne und auf die Kunstarten angewendet werden, sondern umfaßt das Naturschöne mit — und ist obendrein für die Poesie nur in ungenauem Sinne zutreffend. Denn es ist klar, daß sich das »sinnliche Scheinen der Idee" hier nur in der Gestalt der Vorstellung, also in der Einbildungskraft vollzieht. Doch ist gerade die Rand- und Übergangsstellung, die der Poesie als der geistigsten aller Künste zukommt, unser eigentliches Thema, und so lohnt es, bei den durch die Nachschriften besser beglaubigten Formulierungen des »Ideals des Schönen" zu verweilen. Wenn Hegel das Ideal als das Dasein der Idee oder als Existenz der Idee beschreibt, folgt er im Grunde dem KANxischen Sprachgebrauch. Das Ideal ist nach KANT »die Idee in individuo". »Diese Ideale sind freilich so, daß man ihnen nicht objektive Realität (Existenz) zugestehen möchte" (Kr. d. r. V. B 597). Das gilt gewiß auch für das »Ideal der Schönheit", das in der Kritik der Urteilskraft (§ 17) als ein Ideal der Einbildungskraft bezeichnet wird. Man wird auch im Sprachgebrauch Hegels »Existenz" niemals im Sinne der Kantischen »objektiven Realität" verstehen dürfen, sondern eben wie »Dasein der Idee" »in individuo", und wenn KANT nur an der menschlichen Gestalt das Ideal der Schönheit findet, nämlich in dem Ausdruck des Sittlichen, so ist das eine klassizistische Verengung, der Hegel in Wahrheit die ganze Weite des »Geistes" und die Geistigkeit der Schönheit abgewonnen hat. Schon bei KANT deutet sich in diesem Zusammenhang die Wendung vom Geschmack zur Geistigkeit der Kunst an, wenn es heißt, daß die Kunst die sittlichen Ideen »in körperlicher Äußerung (als Wirkung des Inneren) gleichsam sichtbar zu machen" vermag. Was so sichtbar wird, ob anschaulich oder »vorgestellt", ist jedenfalls Idee, und es kann kein Zweifel sein, daß für Hegel im Falle der Poesie die Idee in der Vorstellung erscheint, das heißt, als sinnlich-anschaulich vorgestellt ist. Sie ist in individuo als einem vorgestellten — wie das Ideal des Weisen, mit dem KANT in der Kritik der reinen Vernunft exemplifiziert. Hegel entwickelt nun freilich auf dem Boden der Grundannahme, daß die Kunst eine Weise des absoluten Geistes ist, eine Hierarchie der Geistigkeit. Sie läßt ihn von der Poesie sagen, »sie geht in der negativen Behandlung der sinnlichen Elemente so weit, daß sie das Entgegengesetzte der schweren

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räumlichen Materie, den Ton, statt ihn, wie es die Baukunst mit ihrem Material tut, zu einem andeutenden Symbol zu gestalten, vielmehr zu einem bedeutungslosen Zeichen herabbringt. Dadurch löst sie aber die Verschmelzung der geistigen Innerlichkeit und des äußeren Daseins in einem Grade auf, welcher dem ursprünglichen Begriffe der Kunst nicht mehr zu entsprechen anfängt". Hegel ist der darin liegenden Gefahr offenbar selber nicht ganz entgangen, wenn er sich zu der erstaunlichen Aussage versteigt, daß es für die Poesie „gleichgültig sei, ob ein Dichtwerk gelesen oder angehört wird" (Asth. 3. 227). Das läßt sich allenfalls akzeptieren, wenn man bei „Lesen" so etwas wie inneres Hören mitdenkt. Aber Hegel geht noch weiter, bis zu der These, daß die Übersetzung eines Dichtwerks ohne wesentlichen Verlust des eigentlich Poetischen ein Kunstwerk in andere Sprache hinüber zu vermitteln vermag. Man muß wohl annehmen, daß das wirklich Hegel gedacht hat und nicht etwa HOTHO. Das mag mit dem neuen Enthusiasmus des romantischen Zeitalters für die Weltliteratur Zusammenhängen. Auch gilt es gewiß für narrative Dichtungsformen und für das Drama eher, daß sie übersetzbar sind, als für das lyrische Gedicht; und Hegel hat gewiß diese Unterschiede gesehen. Aber in jedem Falle bleibt es eine erstaunliche Aussage. Im Falle der Übersetzung von Lyrik wird die sinnliche Erscheinung in Sprache offenkundig so tief verändert, daß die Hegelsche Aussage überhaupt nur verständlich — aber gewiß nicht gerechtfertigt — ist, wenn man die in der Einbildungskraft durch Sprache geweckte Anschaulichkeit, und gar nicht die Unmittelbarkeit des in Sprachlauten Tönenden, dabei im Auge hat. Aber auch dann: gerade das in Sprachlauten Tönende ist es doch, was vor allem die Anschaulichkeit des Gedichteten zu seiner unwiderstehlichen Evidenz und Präsenz erhebt.

Offenbar muß man die fragwürdige Hegelsche Übertreibung von seiner Absicht aus verstehen, die Abhebung gegenüber der vorausbehandelten Musik recht deutlich zu machen. Das ist gewiß richtig, daß der Ton der Musik von dem Bauelement dichterischer Texte, dem Wort, grundsätzlich unterschieden ist. Ein Ton gewinnt seine anschauliche Bestimmtheit überhaupt nur durch sein Verhältnis zu anderen Tönen. Das Wort dagegen ist schon immer das Wort einer Sprache und hat damit innerhalb dieser Sprache in sich selbst eine Bestimmtheit, die, wenn auch noch so vage, noch so variationsfähig, doch auf gewisse Bedeutungen eingeschränkt und bezogen ist. Daher gehört zur Musik aus guten Gründen die tatsächliche Exekution. Sie gewinnt damit erst ihren ontologischen Status und nicht schon im inneren Besitz der Einbildungskraft. Die „Notation" ist eben nicht vergleichbar mit der schriftlichen Fixierung von dichterischer Sprache. Wenn man es als einen rückständigen Status der Musikkennerschaft ansieht, daß die Menschen sich Musik überhaupt noch anhören, statt selber nur die Partituren zu lesen, und wenn man sich darauf beruft, daß man doch in der Poesie schon

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längst Gelesenes im inneren Ohr zu hören gelernt hat, so bleibt das eine Übertreibung, die in diesem Fall von ADORNO gewagt worden ist. Offenkundig ist es die gleiche Übertreibung und aus der gleichen Absicht, die Hegels Behauptung zugrundeliegt, daß ein lyrisches Gedicht in der Übersetzung keine wesentliche Einbuße erfährt. Hegels eigene Stellung zur Musik bestätigt indirekt, daß er den poetischen Verlust nicht als sehr mindernd empfunden hat, den die Übersetzung von Dichtung hinnehmen muß. Offenbar sind ihm die Worte als die eigentlichen Sinnträger das Wesentliche. Das kommt gegenüber der absoluten Musik sozusagen im umgekehrten Sinne heraus. Ihr gegenüber betont er seine Distanz, weil ihr das Wort fehlt; „Ich muß es für ein ünglück ansehen, daß die Musik sich so selbständig konstituiert." {Marb. Bibi. 1826. Ms. 80) Offenbar ist er der Meinung, daß dort, wo der geistige Rückhalt des Wortes fehlt, der Mensch zu sehr „seinen Vorstellungen... freien Spielraum" läßt. Wie hier das sinntragende Wort fehlt, ist ihm im Falle der Übersetzung von Dichtung das sinntragende Wort beinahe alles. Das wird sofort deutlich, wenn man das Verhältnis der Poesie zum spekulativen Denken, wie es Hegel in der Ästhetik schildert, ins Auge fast. Da sagt er etwa, daß das spekulative Denken mit der poetischen Phantasie in enger Verwandtschaft steht, und artikuliert den ünterschied in folgender Weise; „Das Denken verflüchtigt die Form der Realität zur Form des reinen Begriffs. Dadurch entsteht der erscheinenden Welt gegenüber ein neues Reich, das wohl die Wahrheit des Wirklichen ist, aber eine Wahrheit, die nicht wieder im Wirklichen selbst als gestaltende Macht und eigene Seele desselben offenbar wird. Das Denken ist also nur eine Versöhnung des Wahren und der Realität im Denken. Das poetische Schaffen und Bilden dagegen ist eine Versöhnung in der Form realer Erscheinung selbst, wenn diese Ordnung geistig vorgestellt ist" [Ästh. 3. 243). Äußerungen dieser Art müssen die jung-hegelianische Kritik an der Versöhnung in Gedanken besonders inspiriert haben. Für sie wurde ja gerade die Folgenlosigkeit der Versöhnung im Gedanken zum Stein des Anstoßes. Aber auch KIERKEGAARDS Kritik am ästhetischen Stadium rückt das Hegelsche Argument ins Zwielicht. Das ist typisch Hegel; die Allseitigkeit der Reflexion erlaubt ihm, selbst die Poesie gegenüber der Prosa des Gedankens auszuzeichnen, die doch als die Wahrheit des Begriffs für ihn den höheren Rang einnimmt. Das Gleiche zeigt sich, wenn Hegel die poetische Welt der inneren Betrachtung und Empfindung, in der die lyrische Poesie lebendig wird, ausdrücklich mit dem philosophischen Denken konfrontiert und in erstaunlicher Weise auch hier das philosophische Denken zurücksetzt. Das philosophische Denken sei nämlich, wie es dort heißt, „mit der Abstraktion behaftet, sich nur in dem Element des Denkens als der bloßen Allgemeinheit zu entwickeln, so daß der konkrete Mensch sich nun auch gedrungen finden kann, den Inhalt und die Resultate

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seines philosophischen Bewußtseins in konkreter Weise als durchdrungen von Gemüt und Anschauung, Phantasie und Empfindung auszusprechen, um darin einen totalen Ausdruck des gesamten Inneren zu haben und zu geben." Was Hegel hier im Auge hat, sind vermutlich die philosophischen Gedichte SCHILLERS. ES bleibt aber eine erstaunliche Äußerung, wenn er hier dem spekulativen Gedanken eine Einschränkung zumutet und sagt: „nur in dem Elemente des Denkens". Dies „nur" steht im krassen Gegensatz zu seiner systematischen Grundkonzeption, zeigt aber umgekehrt, wie sehr er zur Anerkennung von reflektierten Formen der Poesie in ihrer Unvergänglichkeit bereit war. Auch sein Preis des West-Östlichen Divan gehört hierher. Die Prüfung der systematischen Eingliederung der Poesie in das Gesamtgefüge der Ästhetikvorlesung hat also ergeben, daß die allseitige Reflexion, als deren Meister sich Hegel auch hier bewährt, die uns leitende Frage offenläßt. Eine unmittelbare Antwort auf die vieldiskutierte Frage, was Hegels Lehre vom Vergangenheitscharakter der Kunst meint, läßt sich aus dem systematischen Ort der Poesie am Rande der Ästhetik kaum erhoffen. Bekanntlich steht ja das Kapitel über die Poesie am Schluß der Ästhetikvorlesung überhaupt und wird in der HoxHoschen Fassung so dargeboten, ohne daß es sich ausdrücklich als Übergang bekennt. Das ist ein redaktioneller Mangel, der vielleicht die Authentizität dieses Schlusses wahrscheinlich machen kann? Jedenfalls schließt die Vorlesung nicht mit dem Übergang in die Religion, wie das der Hegelschen Systematik entspräche. Wahrscheinlich drückt sich darin aus, daß Hegel damals, als er in Berlin seine Ästhetikvorlesung wieder aufnahm, deren erstes Auftreten wir auf die Heidelberger Zeit datieren können, ausdrücklich die Trennung von Ästhetik und Religionsphilosophie, man könnte auch sagen: die religiöse Aufhöhung der schönen Künste zur „Kunst", einführte. Hier darf man sich wohl daran erinnern, daß das Verhältnis zwischen Kunst und Religion bei Hegel von Anfang an eigentümlich verwickelt ist. In der Phänomenologie begegnet die Kunst durchaus nur als die Kunstreligion. Die gegenseitige Wechselbedingung, die zwischen der Kunst und der Religion von Hegel gesehen wird, läßt daher die systematische Frage eines Übergangs recht schwierig werden. Aus seiner geschichtsphilosophischen Auszeichnung der griechischen „Kunstreligion" folgt eben keineswegs ein klassizistisch beengtes Kunsturteil. Man denke nur an die Hegelsche Schätzung der Niederländer. Dagegen ist es sinnvoll, den Übergang von der Kunst und damit vor allem von der Poesie zur Philosophie — und das heißt: zum spekulativen Denken — ausdrücklich zu erörtern. Das ist der Sache nach in HOTHOS Redaktion der Ästhetik an mehreren Stellen geschehen. So muß man von da aus die Lehre vom Vergangenheitscharakter der Kunst erneut ins Licht stellen. Ich habe wiederholt die These verfochten, daß die Lehre vom Vergangenheitscharakter der Kunst in Wahrheit die Freisetzung der Kunst

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als Kunst bedeutet, wofür ich zunächst die sprachliche Evidenz auf meiner Seite hatte: der Sprachgebrauch lehrt, daß erst in Hegels Zeit sich das Band zwischen Kunstfertigkeit aller Art und der „Kunst" soweit gelockert hat, daß der Zusatz „schöne", also die Wendung „schöne Kunst", überflüssig wurde. Wenn man die Lehre vom Vergangenheitscharakter der Kunst von hier aus beleuchten wilL muß man sich grundsätzlich darauf besinnen, daß auch Hegels Äußerungen über die Übergänge von einer Kunstform zur anderen etwas über den Sinn des Endes der Kunst und den Vergangenheitscharakter der Kunst bedeuten müssen. Denn auch diese Äusserungen zielen auf einen solchen „Übergang". Dann lernen wir aber, daß diese Aussagen nicht Aussagen über den Verlauf des Geschehens sind, sondern über die Ordnung im philosophischen Nachdenken, dciß sie die Wahrheit meinen, die das philosophische Erkennen in den erscheinenden Realitäten herauszufinden vermag. Damit steht die Frage der Vergangenheit der Kunst auf einer Linie etwa mit der Anfangsstellung der Architektur oder der Endstellung der Poesie im System der Künste — und am Ende gar mit dem bekannten Problem des Endes der Geschichte. Das ist eine höchst lehrreiche Analogie. Niemand kann hier zweifeln, daß das Ende der Geschichte nur meinen konnte, daß kein neues überlegenes Prinzip das Ideal der „Freiheit aller" überbieten kann. Nicht, daß die Geschichte zu Ende ist, ist damit gesagt, sondern, daß Geschichte nicht mehr als ein Fortschritt im Sinne des Bewußtseins der Freiheit vor sich gehen kann, ja vielleicht überhaupt nicht als Fortschritt gesehen werden darf, sondern als die sich nie vollendende Anstrengung, das in der Wirklichkeit herbeizuführen, was dem Selbstbewußtsein der Freiheit entspräche. Man kann also sagen, daß die Geschichte sich seitdem ganz als das „äußerliche" Geschehen mit allen seinen Wechselfällen, Rückschlägen und illusionären Fortschritten im Kampfe um die Freiheit aller abspielt. Ähnlich scheint es mir nun mit dem Ende der Kunst, wie es Hegel in seiner Astheiik behauptet: es sagt etwas für das philosophische Nachdenken aus und nichts über die Zukunft als die geschehende. Es kann damit nur gemeint sein, was Hegel ja auch ausspricht, daß die Kunst nicht mehr das höchste Bedürfnis des Geistes erfüllt. Sie ist nur das sinnliche Erscheinen des Göttlichen, und nicht das Göttliche, wie es durch die Offenbarung — in der christlichen Kirche — als der wahre Gott und das wahre Heil aufgegangen ist und wie es am Ende einer langen Änstrengung des Begreifens, wie Hegel meint, im spekulativen Denken zugleich die Form des Begriffs erreicht hat. Der Vergangenheitscharakter der Kunst, wenn er so verstanden ist, bedeutet deswegen durchaus nicht das Ende der Kunst, sondern schließt nur ein, daß die Kunst nunmehr innerhalb eines höheren Wahrheitanspruches ihre Funktion ausübt. Diese ünterordnung hat in der Tat die frühe Geschichte der Kunst des Äbendlandes sogleich nach dem Auftreten des Christentums bestimmt. Die Kunst hat ihre Berechtigung in mühsamen Kämp-

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fen gegenüber dem Bilderverbot des Juden und der christlichen Offenbarung, dem Heilsanspruch der Kirche, erworben. In Hegels Ästhetik hat sie den allgemeinen Namen der »romantischen" Kunst — was sagen will, daß sie auf eine höhere Gestalt der Wahrheit hinauszielt. Hier darf man sich daran erinnern, was die romantische Kunstform in Hegels Augen im Grunde war. Die romantische Welt hat in Wahrheit, wie er sagt, nur ein einziges absolutes Werk vollbracht, und das ist die Ausbreitung des Christentums. Dieses Neue, daß das Christentum in die Welt gekommen ist und das Ende der klassischen Kunst heraufgeführt hat, bedeutet für die romantische Kunst, d.h. für die mannigfaltigsten Gestalten des künstlerischen Schaffens, daß ihre Wahrheit eine romantische, das heißt: nicht mehr absolute Wahrheit, nicht mehr Übereinstimmung von Erscheinung und Sein ist. Deswegen sind Malerei und Musik in besonderem Grade — und natürlich vor allem die Poesie — Formen der Vergeistigung und Entsinnlichung, auch wenn ihre eigene Darstellungsform wiederum die des »sinnlichen Scheinens der Idee" ist und bleibt. Was Hegel die romantische Kunst nennt, umfaßt also die gesamte Geschichte der Kunst seit dem Auftreten des Christentums, und diese Geschichte der Kunst ist geradezu dadurch charakterisiert, daß in ihr kein absolutes Kunstwerk erscheint, das heißt kein Werk, in dem das Göttliche selbst sinnlich so da ist, wie in der klassischen Kunst die Göttergestalten. Darin liegt zugleich, daß sich die Geschichte der Kunst nunmehr in eine Mannigfaltigkeit von endlichen Formen auseinanderfaltet, in denen jeweils ein Volksgeist sich aufgrund seiner eigenen Erfahrung der Welt im Lichte der christlichen Offenbarung und des Gedankens seinen künstlerischen Ausdruck gibt. Die Geschichte der Kunst, die sich hier entfaltet, strebt nun in gewissem Sinne einem Ende zu, das durch die Gegenwart, in der Hegel schreibt, charakterisierbar wird. Dieses Ende, das Hegel auch die »Auflösung der romantischen Kunstform" nennt, ist vollends die Freisetzung der künstlerischen Energie, die vollständige Loslösung von den Vorgegebenheiten substantieller Inhalte, denen gegenüber der Künstler ehedem gar keine Wahl hatte. Das Durchlaufensein des gesamten Bereiches welthafter Erfahrung im Schaffen von Kunst, das man auch mit Hegel romantische Selbstüberschreitung von Kunst nennen kann, bedeutet aber, wie Hegel sagt, »eben so sehr ein Zurückgehen des Menschen in sich selbst, ein Hinabsteigen in seine eigene Brust, wodurch die Kunst alle feste Beschränkung auf einen bestimmten Kreis des Inhaltes und der Auffassung von sich abstreift und zu ihrem neuen Heiligen den Humanus macht, die Tiefen und Höhen des menschlichen Gemüts als solchen, das allgemein Menschliche in seinen Freuden und Leiden, seinen Bestrebungen, Taten und Schicksalen." Im Zusammenhang dieser enthusiastischen Schilderung wird ausdrücklich gesagt, daß die Kunst nicht mehr darauf beschränkt ist, nur das darzustellen, das auf einer ihrer bestimmten Stufen absolut zu Hause ist, sondern alles, worin der Mensch

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überhaupt heimisch zu sein die Befähigung hat. {Ästh. 2. 235) So kann Hegel sagen „Das Gebundensein an einen besonderen Gehalt und eine nur für diesen Stoff passende Art der Darstellung ist für den heutigen Künstler etwas Vergangenes, und die Kunst ist dadurch ein freies Instrument geworden, das er nach Maßgebe seiner subjektiven Geschicklichkeit in bezug auf jeden Inhalt, welcher Art er auch sei, gleichmäßig handhaben kann." Im selben Zusammenhang heißt es: „Es gibt heutigen Tages keinen Stoff, der an und für sich über dieser Relativität stände". Hier liegt der Ton auf dem „an und für sich". Offenbar soll das heißen, daß es eben auch nicht möglich ist, in freier Willkür vergangene Formen des künstlerischen Gestaltens wieder zu erneuern. Gegen diesen Wahn hat sich Hegels bekannte Kritik an dem Katholischwerden aus künstlerischen Gründen und an solchem Sich-Hineinleben in eine nicht mehr wirklich gemeinsame, umfangende religiöse „Weltanschauung" deutlich genug ausgesprochen. Hier mag der Anklang an die Rede von dem Vergangenheitscharakter der Kunst verwirren. Gewiß ist auch die christliche Kunst des Mittelalters in Hegels Augen „vergangen" und keiner Erneuerung aus romantischem Heimweh fähig. In Wahrheit geht es aber bei der Rede von dem Vergangenheitscharakter der Kunst nicht um die Endstufe der romantischen Kunst, und deshalb ist es verkehrt, den Sinn dieser Rede in die Richtung auf ein Ende der Kunst überhaupt zu verschieben. Vielmehr ist es für Hegel kein Zweifel, daß die Kunst „vergangen" ist und doch zu hoffen ist, daß sie in ihrer ganzen universalen Wirklichkeit immer wieder Neues schaffen wird. Nun hat gewiß auch Hegel, bei aller seiner spekulativen Distanz zu den schlimmen Tatsachen, innerhalb der Erwartungen und Hoffnungen seiner Zeit aus seinem Denken bestimmtere Folgerungen zu ziehen als Zeitgenosse nicht unterlassen können. Der Standpunkt des absoluten Geistes fällt der menschlichen Bedingtheit eben schwer. So hat ihn das Ereignis der Juli-Revolution von 1830 tief bestürzt. Es ist nicht auszudenken, wie er auf die Ereignisse des 20. Jahrhunderts und seine „Fortschritte" zur Freiheit aller reagiert hätte. Ähnlich darf man sich auch mit seinen beiläufig bleibenden Urteilen über Gegenwart und Zukunft der Kunst nur in historischer Perspektive beschäftigen. Es bleibt bezeichnend, daß das oben erwähnte Kapitel „das Ende der romantischen Kunstform" {Äsih. 2. 228 ff; HOTHO), das am meisten seinem ,Heute' Ausdruck gibt, keineswegs an betonter Stelle steht. Der objektive Humor, den Hegel dem dichterischen Schaffen seiner Zeit zubilligt und der sich auf seine scharfe Kritik an dem subjektiven Humor JEAN PAULS zurückbezieht, gilt ihm in dem Araber- und Perserbild RüCKERTS und des Wesi-östlichen Divans GOETHES als verwirklicht. Was er daran rühmt, ist gewiß in gutem Einklang mit der neuen ungebundenen Beliebigkeit des von aller Traditionsbindung freigewordenen Künstlergeistes, die er beschrieben hat. Es bleibt aber doch erstaunlich, wie die Zeitbezogenheit von Hegels Kunstur-

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teil weit weniger an seiner Zukunft, auf die wir heute als unsere Vergangenheit zurückblicken, vorbeizielt, als etwa sein geschichtsphilosophischer Traum von dem Endziel der Geschichte in der Freiheit aller. Wenn man die Rede von dem objektiven Humor, deren Bedeutung HENRICH SO stark angehoben hat, wirklich zu einem ganz allgemeinen Begriff ausweiten will, findet man im Blick auf unsere Gegenwart und ihre Zukunftserwartungen einen erstaunlichen Grad von Übereinstimmung. Nicht nur der Historismus der Stile, nicht nur die Multiplizität der Schulen und Richtungen, nicht nur die Partikularität der jeweils sich bildenden Gemeinden, von denen ein jeder schaffende Künstler umgeben ist, haben Hegel bestätigt. Wichtiger noch ist, daß, was wir das historische Bewußtsein nennen, Künstler wie Kunstliebhaber in einer beständigen Erfahrung auch der Kunst vergangener Zeiten und fremder Kulturwelten vereinigt. Grundsätzlich ist das alles in Hegels Charakteristik seines „Heute" schon vorweggenommen. Wenn das noch Humor ist, aus der Zufälligkeit das Substantielle hervorgehen zu lassen, so ist das wohl die bleibende Bestimmung aller Kunst in Zeiten unbedingter Freiheit der Erfindung und des wagenden Versuchs. In Hegels Darstellung ist dagegen die Kunst von „Heute" wieder nur eine Übergangsform, in der die Poesie die klar gesehene Schlüsselstellung hält. Wenn Hegel GOETHES reflektierte Form der Poesie des West-östlichen Divans bewunderte, der erst weit später zum literarischen Welterfolg aufsteigen sollte, und wenn er in unserem Jahrhundert die Wiederentdeckung des Barock und der Allegorie erlebt hätte und all die anderen Formen, in denen moderne Kunst und Anti-Kunst in gedanklichen Netzen hängen, wäre er vielleicht gar in den Irrtum verfallen, auch in dem Übergang von der Poesie in die Philosophie einen geschichtlichen Übergang zu sehen. Indessen, das Ende der Kunst wird sich so nicht vorschreiben lassen.

DIETER BREMER (MÜNCHEN)

HEGEL UND AISCHYLOS I Hegels Theorie der Tragödie gilt, nicht nur im angelsächsischen Sprachbereich, weithin als obsolet. Doch ist ihr Einfluß bei Autoren, die Hegel nicht kennen, wie auch bei denen, die ihn nicht nennen, nicht zuletzt bei Autoren, die Hegel ausdrücklich zurückweisen, teilweise beträchtlich. i Neben der latenten Wirkung von Hegels Theorie der Tragödie, und d.h. in erster Linie der griechischen Tragödie, in den literaturwissenschaftlichen und philologischen Disziplinen^ läuft bis in unsere Tage eine ernstzunehmende philosophische Diskussion dieser Theorie.^ Latent wirksam und zugleich philosophisch produktiv wirkt Hegels Theorie der Tragödie weiter auf einem Wege, dessen Ursprung und Ziel gänzlich anders gerichtet zu sein scheint. Die wirkungsvollste philosophische Hermeneutik der griechischen Tragödie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, 1 Vgl. L Moss: The Unrecognized Inßuence of Hegels Theory of Tragedy. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism. 28 (1969), 91-97. 2 Es läßt sich z.B. zeigen, daß in Karl Reinhardts Aischylos-Deutung Grundzüge der Konzeption Hegels wiederkehren; dasselbe gilt übrigens auch für Reinhardts folgenreiche Konstruktion der Geschichte der griechischen Philosophie, besonders im Hinblick auf die Relation von Parmenides und Heraklit. ^A. C. Bradley: Hegels Theory of Tragedy. In: The Hibbert Journal. 2 (1904), 662-680; leicht verändert in: Oxford Lectures on Poetry. London 1909. 69-95; S. Russo: Hegels Theory of Tragedy. In: The Open Court. 40 (1936), 133-144; W. Schiunk: Hegels Theorie des Dramas. Diss. Tübingen 1936; K. Nadler: Die Idee des Tragischen bei Hegel. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 19 (1941), 354-368; P. Szondi: Zu Hegels Bestimmung des Tragischen. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen. 198 (1962), 22-29; wieder abgedruckt in (ders.): Versuch über das Tragische. Frankfurt 1961. 20-28; O. Pöggeler: Hegel und die griechische Tragödie. In: Hegel-Studien. Beiheft 1 (1964), 285-305; C. Axelos: Zu Hegels Interpretation der Tragödie. In: Zeitschrift für philosophische Forschung. 19 (1965), 655-667; A. Massolo: Hegel e la tragedia greca. In; Studi Urbinati. 45 (1971), 1272-1275; W. Kaufmann: Tragödie und Philosophie. Tübingen 1980. 221-235; zuerst als: Tragedy and Philosophy. New York 1968. 200-212; erweitert als: Hegels Ideas about Tragedy. In: New Studies in Hegels Philosophy. Ed. W. E. Steinkraus. New York 1971. 201-220.

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die von FRIEDRICH NIETZSCHE, zeigt — bei aller begrifflichen und sachlichen Abhängigkeit von SCHOPENHAUER und WAGNER — in ihrer Grundkonzeption Umrisse Hegelscher Konstruktion. NIETZSCHE selbst schreibt im Rückblick über Die Geburt der Tragödie: „sie riecht anstößig Hegelisch, sie ist nur in einigen Formeln mit dem Leichenbitter-Parfüm SCHOPENHAUERS behaftet."^ NIETZSCHES Ansatz zweier künstlerischer Mächte, des Dionysischen und des Apollinischen, als Konstitutionsprinzipien, aus deren „Kampf", „Gegensatz", „Zwiespalt" und „Versöhnung" die griechische Tragödie hervorgeht, setzt Hegels Gegenüberstellung von Chor (als „das unentzweite Bewußtseyn vom Göttlichen") und „konfliktvoll handelnden Individuen" fort, als deren „Vermittelung" Hegel die griechische Tragödie darstellt (vgl. ÄsihJ 1. 547—550). Dabei wird der von Hegel aufgedeckte Konflikt zweier sittlicher Prinzipien und ihrer Versöhnung bei NIETZSCHE in ästhetisch-metaphysischer Umsetzung begrifflich rezipiert. NIETZSCHE spricht von der „dialektischen Lösung" einer griechischen Tragödie; im Hinblick auf den Prometheus des AISCHYLOS ist bedeutsam „der tiefe ÄSCHYieische Zug nach Gerechtigkeit: das unermeßliche Leid des kühnen ,Einzelnen' auf der einen Seite, und die göttliche Not, ja Ahnung einer Götterdämmerung auf der andern, die zur Versöhnung, zum metaphysischen Einssein zwingende Macht jener beiden Leidenswelten — dies alles erinnert auf das stärkste an den Mittelpunkt und Hauptsatz der ÄscHYieischen Weltbetrachtung, die über Göttern und Menschen die Moira als ewige Gerechtigkeit thronen sieht."® Die von Hegel her vorgeprägten Begriffs- und Strukturmomente werden noch deutlicher, wenn es weiter über den Prometheus heißt; „Das Unheil im Wesen der Dinge... der Widerspruch im Herzen der Welt offenbart sich... als ein Durcheinander verschiedener Welten, z.B. einer göttlichen und einer menschlichen, von denen jede als Individuum im Recht ist, aber als einzelne neben einer anderen für ihre Individuation zu leiden hat... Und so möchte das Doppelwesen des ÄscHYieischen Prometheus, seine zugleich dionysische und apollinische Natur in begrifflicher Formel so ausgedrückt werden können: ,Alles Vorhandene ist gerecht und ungerecht und in beidem gleich berechtigt.'" Die Genese dieser Formel, NIETZSCHES tatsächliche Hegel-Kenntnisse und das Verhältnis von Hegel und NIETZSCHE® können hier nicht diskutiert werden. Es darf aber angenommen werden, daß diese Formel ohne Hegel nicht denkbar ist. *Ecce homo. Die Geburt der Tragödie. 1. ®Die Gehurt der Tragödie. 9. ® Im Anschluß an K. ]öel (Nietzsche und die Romantik. Jena 1905) wird für die Gemeinsamkeiten in diesem Verhältnis ein heraklitisch-dialektisches Konfliktprinzip angedeutet von R. F. Beerling: Hegel und Nietzsche. In: Hegel-Studien. 1 (1961), 229-246. Über dialektische Elemente in der Geburt der Tragödie vgl. £. Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Tübingen 1922. 499.

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Hegels Deutung der griechischen Tragödie geht aus von einem Gegensatz zweier sittlich gleichberechtigter Mächte, deren Kollision eine Versöhnung notwendig macht. Diese Deutung wird vor allem an der Antigone des SOPHOKLES und der Orestie des AISCHYLOS entwickelt. Ihre hermeneutische Erschließungskraft erweist diese Auslegung jedoch nicht so sehr in der Anwendung auf die soPHOKLEische Antigone, die in der Wirkungsgeschichte von Hegels Deutung immer wieder ins Zentrum gerückt worden ist,’’ sondern in Beziehung auf die Tragödie des AISCHYLOS, insbesondere die Orestie. Während Hegels Auslegung der Antigone von der philologischen Forschung kritisiert und korrigiert worden ist,® läßt sich zeigen, daß seine Interpretation der Orestie zentrale Strukturen der AiscHYLeischen Tragödie zutreffend erfaßt. Darüberhinaus läßt sich zeigen, daß seine Interpretation der Orestie im Vergleich mit seiner Auslegung der Antigone nicht nur hermeneutisch richtiger, d.h. ihrem Gegenstände angemessener ist, sondern zugleich auch eng mit der Entwicklung seiner Theorie der Tragödie überhaupt zusammenhängt. Es wird im allgemeinen angenommen, daß bestimmte Momente der Philosophie Hegels im Zusammenhang mit seiner Auslegung der Antigone zu sehen sind. So heißt es etwa in einer noch immer bemerkenswerten Darstellung der Ästhetik Hegels: bekanntlich liegt einem ganzen Abschnitt der Phänomenologie des Geistes (über den,wahren Geist, die Sittlichkeit', mit seiner Schilderung des menschlichen und des göttlichen Gesetzes und ihres schicksalhaften Konfliktes) die soPHOKLEische Antigone zugrunde."^ Es wird im folgenden behauptet und zu beweisen versucht, daß es in erster Linie Strukturen der AiscHYLeischen Tragödie sind, die in die Konstruktion von Hegels Philosophie und die Entwicklung seiner Theorie der Tragödie wesentlich einwirken.

’’ Vgl. dazu R. Pietereil: Antigone and Hegel. In: International Philosophical Quarterly.

18 (1978), 289—310; ]. U. Schmidt: Größe und Grenze der Antigone. In: Saeculum. 31 (1980), 345—379. ® Vgl. z.B. M. Pohlenz: Die griechische Tragödie. Göttingen 1954^. Bd 1. 191; A. Lesky: Die griechische Tragödie. Stuttgart 1964®. 142. Zur Diskussion vgl. neuerlich G. Steiner: Antigone. In: The 12*'' Jackson Knight Memorial Lecture. Oxford 1979. ’So H. Kuhn: Die Vollendung der klassischen deutschen Ästhetik durch Hegel. Berlin 1931. 2.

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II. Hegels Verhältnis zu AISCHYLOS wird hier zunächst auf den verschiedenen Stufen seiner philosophischen Erschließung der griechischen Tragödie dargestellt.

1) In den unter dem Titel Der Geist des Christentums und sein Schicksal zusammengefaßten Frühschriften Hegels heißt es: »Das große Trauerspiel des jüdischen Volks ist kein griechisches Trauerspiel, es kann nicht Furcht noch Mitleiden erwecken, denn beide entspringen nur aus dem Schicksal des notwendigen Fehltritts eines schönen Wesens" (Nohl. 260). In diesem Satz wird ein geschichtlicher Prozeß am Handlungsablauf eines Schauspiels gedeutet, dessen Leitbild die griechische Tragödie ist. Die aus der ARisTOTEcischen Definition der Tragödie auf genommenen Bestimmungen cpößoQ, SkeoQ sowie a//apr/a werden durch den Begriff des »notwendigen Fehltritts eines schönen Wesens" von Hegel in eine Richtung umgedeutet, die bereits auf seine eigene Konzeption der griechischen Tragödie vorausweist. Die schicksalhafte Notwendigkeit einer Verfehlung wird von Hegel in den Frühschriften mit den Begriffen einer Trennung, Entgegensetzung oder Entzweiung gedeutet, die eine Versöhnung erforderlich macht. Versöhnung mit dem Schicksal leistet das Prinzip der Liebe. Wenn es von dieser christlich inspirierten Liebe allerdings heißt »in diesem Gefühl der Harmonie ist freilich keine Allgemeinheit; denn in der Harmonie ist das Besondre nicht widerstreitend, sondern einklingend, sonst wäre keine Harmonie" (Nohl. 296), so wird deutlich, daß das christliche Motiv für das dialektische Verfahren, wie es sich in den Frühschriften herauszubilden beginnt, begrifflich nicht ausreicht. Die Verbindung von Eros und Dialektik, die Hegel wie HöLDERLIN aus PLATONS Symposion und Phaidros vertraut war, und z.B. das im Symposion kritisch diskutierte HERAKLiTische Konzept einer Harmonie als Einheit von Auseinander- und Zusammenstrebendemii sind als methodische Paradigmen für die sich entwickelnde Dialektik sachlich zutreffendere Orientierungen.In welchem 1° Es wird darauf verzichtet, Hegels Annäherung an Aischylos aus einzelnen Daten seiner Bekanntschaft mit den aischyleischen Tragödien historisch zu rekonstruieren. Auch Fragen zur Authentizität der verschiedenen Vorlesungsnachschriften, zu einer möglichen Diskrepanz von ästhetischem Urteil und philosophischer Systematik sowie zur Einordnung der Aussagen Hegels in ein Konzept seiner philosophischen Entwicklung können nicht behandelt werden. Für Anregungen und Materialien aus dem Hegel-Archiv danke ich Otto Pöggeler und Annemarie Gethmann-Siefert. Vgl. Symposion 187 a-b; Heraklit, Diels-Kranz 22 B 51. 12 Es kann in diesem Zusammenhang nur darauf hingewiesen werden, daß mit den angedeuteten heraklitisch-platonischen Implikationen in ihrer Aktualisierung durch Hölderlin der hier in Frage stehende Problemkreis und seine Beziehung zur Frühge-

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Verhältnis die Versöhnung mit dem Schicksal, und zwar als „dem Schicksal des notwendigen Fehltritts eines schönen Wesens", zur Struktur des Tragischen steht, läßt sich in dieser Frühschrift ansatzweise nachvollziehen. „Vernichtung des Lebens", das als vernichtetes „seine Eumeniden losläßt", ist eine Trennung, die aufgehoben werden kann durch Versöhnung des Lebens mit dem Schicksal, insofern „auch das Feindliche als Leben gefühlt wird". Versöhnung setzt Trennung und Entzweiung voraus, „denn die Entgegensetzung ist die Möglichkeit der Wiedervereinigung". Entgegensetzung liegt in Aktion oder Reaktion des Handelnden — bereits „dadurch, daß er sich in Gefahr begiebt, hat er sich dem Schicksal unterworfen, denn er tritt auf den Kampfplatz der Macht gegen Macht, und wagt sich gegen ein Anderes". Wie neben der beiläufigen Erwähnung der Rachegeister als „Eumeniden" das Prinzip „Macht gegen Macht" sachlich mit einem Leitgedanken der Orestie übereinstimmt und wie dieses Prinzip im weiteren Denken Hegels in eine eindeutige Beziehung zur Konzeption des Tragischen tritt, wird sich zeigen; dasselbe gilt für das nachstehende und damit zusammenhängende Prinzip „Recht gegen Recht", das die später entwickelte Vorstellung gleichberechtigter Ansprüche als konstitutive Momente der tragischen Kollision so antizipiert: „ebenso sind die Kämpfenden als Wirkliche entgegengesetzt, zweierlei Lebende, Leben im Kampf mit Leben, welches sich wieder widerspricht. Durch die Selbstverteidigung des Beleidigten wird der Angreifende gleichfalls angegriffen, und dadurch in das Recht der Selbstverteidigung gesetzt, so daß beide Recht haben, beide im Kriege sich befinden, der beiden das Recht sich zu verteidigen gibt". In der Schrift Uber die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts beschreibt Hegel den Prozeß des geschichtlichen Lebens als „die Aufführung der Tragödie im Sittlichen, welche das Absolute ewig mit sich selbst spielt", am Leitbild der Eumeniden des AISCHYLOS. Hegel stellt hier das Leben des Göttlichen als „das absolute Einssein" zweier Naturen dar, die „Bewegung des absoluten Widerstreites dieser zwei Naturen" als eine Auseinandersetzung, in der „die Sittlichkeit ihrer unorganischen Natur und den unterirdischen Mächten... einen Teil ihrer selbst überläßt und opfert" und damit deren Recht anerkennt. Indem diese Auseinandersetzung als eine Differenz gesetzt wird, in der jedes Prinzip sein Recht erhält, kommt die Sittlichkeit im Durchgang durch die Differenz in der „Aufopferung der zweiten Natur" zur Verschickte von Hegels Dialektik weiter aufgeschlossen werden kann. Ansätze in dieser Richtung finden sich bei ]. Taminiaux: La nostalgie de la Grece ä l'aube de l'idealisme allemand. Den Haag 1967.217 ff, 253 ff; K. Düsing: Ästhetischer Platonismus hei Hölderlin und Hegel. In: Homburg vor der Höhe in der deutschen Geistesgeschichte. Studien zum Freundeskreis um Hegel und Hölderlin. Hrsg. v. C. Jamme u. O. Pöggeler. Stuttgart 1981. 101-117; Im Folgenden Nohl. 280, 282, 284 f.

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söhnung. In dieser Bewegung stellt sich die zweite Natur nicht mehr als „eine bloß unterirdische, reine negative Macht" dar, sondern so, daß sie „durch die lebendige Vereinigung mit der göttlichen aufgehoben ist, daß diese in sie hineinscheint", sie selbst aber „durch den Geist das Göttliche als ein sich Fremdes anschaut", Die Struktur des sittlichen Lebens wird als eine Bewegung entwickeft, die sich in der Form eines „Trauerspiels" abspielt. Als Paradigma der Verlaufsform der Tragödie erscheinen die Eumenideti des AISCHYLOS, gedeutet im Sinne einer Rechtsauseinandersetzung „der Eumeniden, als der Mächte des Rechts, das in der Differenz ist, und Apollo's, des Gottes des indifferenten Lichtes, über Orest, vor der sittlichen Organisation, dem Volke Athens". Mit der Stimmengleichheit des Areopags werden die Rechtsansprüche und damit die Möglichkeit des Nebeneinanderbestehens beider Mächte von menschlicher Seite anerkannt; die Aufhebung des Widerstreits erfolgt göttlicherseits durch Athene, die „den durch den Gott selbst in die Differenz Verwickelten diesem ganz wiedergibt und mit der Scheidung der Mächte, die an dem Verbrecher beide teilhatten, auch die Versöhnung so vornimmt, daß die Eumeniden von diesem Volke als göttliche Mächte geehrt würden", d.h. in der Form des Kultus, der die „wilde Natur" der Unterirdischen durch die Anschauung der „hoch thronenden Athene" zur Ruhe bringt. Es ist kein bloß philologisches Problem, wenn Hegel dabei eine Deutung aufnimmt, die vom Text nicht nahegelegt und heute weitgehend verworfen wird, daß nämlich durch die Stimmabgabe der Athene ein vorher bestehendes Gleichgewicht in ein weises Übergewicht verwandelt würde. Daß Hegel sich dieser Deutung anschließt, entspricht der Tradition der Lichtmetaphysik, die den Vorrang des Lichtprinzips notfalls um den Preis einer Abdrängung seines Gegenteils ins Nichts behauptet. Hegel strebt eine Versöhnung an, deren Modell, der in den Eumeniden des AISCHYLOS vorliegende Ausgleich von olympischen und unterirdischen Mächten, jedoch durch den in der Lichtmetaphysik begründeHegels Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie. Hrsg. v. G. Lassen. Leipzig 1913.

384, 385. 1'* Vgl. D. Bremer: Hinweise zum griechischen Ursprung und zur europäischen Geschichte der Lichtmetaphysik. In: Archiv für Begriffsgeschichte. 17 (1973), 7-35, bes. 27 ff. Die Möglichkeit einer „Aufhebung" der Erinyen als der Gegenmächte der lichthaften Olympier „in ein Nichts" {Eumeniden 845 f) ist von Aischylos klar gesehen, jedoch zugunsten eines versöhnlichen Ausgleichs nicht weiter verfolgt worden — eines Ausgleichs, der als Fügung des Widerstreitenden zur Einheit das Gegensätzliche in seiner Eigenständigkeit bestehen läßt; dazu D. Bremer: Licht und Dunkel in der frühgriechischen Dichtung. Interpretationen zur Vorgeschichte der Lichtmetaphysik. Bonn 1976. 415 f. Zu den prinzipiellen Konsequenzen, die Hegels Modifikation der aischyleischen Lösung für seine Philosophie hat, kritisch A. Negri: La Jragedia neW etico“. In: Giornale critico della filosofia italiana. 41 (1962), 65-86.

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ten Vorrang des einen Prinzips modifiziert wird. Es bleibt immerhin festzuhalten, daß in diesen beiden Schriften das Phänomen des Tragischen, wie es als Wirkungsmoment geschichtlicher und ethischer Prozesse hier entdeckt ist, von Hegel dargestellt wird am Leitmodell der griechischen Tragödie, und zwar der des AISCHYLOS, als deren Paradigma nicht ohne sachlichen Grund die Eumeniden fungieren. 2) In der Phänomenologie des Geistes werden unter den Titeln „die sittliche Welt" bzw. „die sittliche Handlung" Gegensätze wie „das menschliche und göttliche Gesetz, der Mann und das Weib" sowie „das menschliche und göttliche Wissen, die Schuld und das Schicksal" ohne expliziten Bezug zu einer Theorie der Tragödie entwickelt, doch so, daß bei der Beschreibung der Phänomene auf anthropologische Erfahrungen der griechischen Tragödie rekurriert wird, insbesondere auf die Antigone des SOPHOKLES und auf die Orestie des AISCHYLOS. Die Entzweiung von extremen Kräften, die beide „gleiches Recht" und „gleiches Unrecht" (Phän. 257) haben, wird als Grundstruktur von Hegel offenbar aus den genannten Tragödien abgeleitet. Dabei lassen sich die Gegensatzpaare, die den Widerstreit in seinen verschiedenen begrifflichen Momenten verschieden bestimmen, mit größerer begriffsgeschichtlicher Eindeutigkeit auf die AiscHYLeische Orestie als auf die soPHOKLEische Antigone beziehen. Es sind dies neben Gegensätzen wie „Recht" — „Unrecht", „göttlich" — „menschlich", „männlich" — „weiblich" vor allem: „bewußt" — „bewußtlos", „die Wirklichkeit des Tages"^ „das Unterirdische", „das Gesetz des Tages und der Kraft" — „das Gesetz der Schwäche und der Dunkelheit", „der blutlose Schatten" (Phän. 250 f, 257 f). Die innere Verknüpfung des einen Gegensatzes mit dem ihm entgegengesetzten, das Aufbrechen ihres Zwiespalts im Handeln und die Möglichkeit ihrer Vereinigung als Wiederherstellung des Gleichgewichts durch eine schicksalhaft wirkende Gerechtigkeit, die sich konkretisiert in der „Erinnye, welche die Rache betreibt" (Phän. 250) — das alles sind begriffliche Konstruktionen, die in einer auffallenden Nähe zu den Handlungsstrukturen der AiscHYLeischen Orestie stehen.15 Bei den unter dem Titel „das geistige Kunstwerk" beschriebenen Phänomenen ist wieder der begriffliche Gegensatz „göttliches und menschliches oder unterirdisches und oberes Recht" bestimmend; der Gegensatz von T^amilie" und „Staatsmacht", denen der „weibliche" bzw. der „männliche Charakter" zugeordnet wird, ist zweifellos auf die soPHOKLEische Antigone bezogen. Allerdings zeigt sich in der begrifflichen Konstruktion eine komplementäre Struktur, die auf AISCHYLOS verweist. Zunächst erhalten „das obere und das

15 Zu den entsprechenden begrifflichen Momenten in der Orestie und deren Handlungsstrukturen D. Bremer: Licht und Dunkel in der frühgriechischen Dichtung. 341 ff.

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untere Recht... die Bedeutung der wissenden und dem Bewußtsein sich offenbarenden, und der sich verbergenden und im Hinterhalte lauernden Macht" (Phän. 394); jedoch ist die „Lichtseite", der das durch Apollon repräsentierte Wissen und Offenbaren zugehört, selbst nicht unzweideutig, „die Befehle dieses wahrredenden Gottes... sind vielmehr trügerisch": Die apollinische Offenbarung hat dieselbe „Zweizüngigkeit" wie die Verheißungen der „doppelsinnigen Schicksalsschwestern". Dies entspricht der Ambivalenz, mit der in den AiscHVLeischen Choephoren Orest durch Apollon in das Zwielicht von Recht und Unrecht, Wissen und Unwissenheit gestellt wird. Hegel beschreibt mit Termen einer HERAKLirischen Denkform eine Handlungsstruktur, wie sie bei AISCHYLOS als Wirkung des amphibolischen Doppelwesens der Götter vorgegeben ist, so in der Wesensdoppelung des Zeus, der als „anderer Zeus"i6 im Hades das Recht vollzieht wie sein olympisches Gegenüber auf Erden. Bei Hegel heißt es: „Die Handlung selbst ist... das Umschlagen des Rechts des Charakters und des Wissens in das Recht des entgegengesetzten, mit dem jenes im Wesen der Substanz verknüpft ist, — in die Erinnye der andern feindlich erregten Macht und Charakters. Dieß untre Recht sitzt mit Zeus auf dem Throne, und genießt mit dem offenbaren und wissenden Gotte gleiches Ansehen" (Phän. 395). Die gegensätzlichen Gestalten „des offenbarenden Gottes" und „der sich verborgen haltenden Erinnye" sind verbunden durch „die Gestalt der Substanz, Zeus, die Notwendigkeit der Beziehung beider aufeinander" (Phän. 395). Als „Wahrheit"i^ der „gegeneinander auf tretenden Mächte" erscheint „das Resultat, daß beide gleiches Recht und darum in ihrem Gegensatz, den das Handeln hervorbringt, gleiches Unrecht haben". Die Aufhebung der Gegensätze geschieht auf zwei Ebenen: „Die Versöhnung des Gegensatzes mit sich ist die Lethe der Unterwelt im Tode, — oder die Lethe der Oberwelt, als Freysprechung, nicht von der Schuld, denn diese kann das Bewußtseyn, weil es handelte, nicht verläugnen, sondern vom Verbrechen, und seine sühnende Beruhigung" (Phän. 396). Mit dieser Versöhnung als einer „Vergessenheit" vollzieht sich „die gleichgültige Unwirklichkeit Apolls und der Erinnye, und die Rückkehr ihrer Begeisterung und Tätigkeit in den einfachen Zeus" — die „Einheit des Zeus" als „geistige Einheit, worein alles zurückgeht" (Phän. 396 f), hergestellt durch das Selbstbewußtsein. Die so beschriebene Bewegung des handelnden Geistes erscheint in ihrer dialektischen Konstruktion als Transformation von dramatischen Strukturen der Vgl. Hiketiden 231: Zeb(; dAXog. Daß nicht erst Heidegger „Wahrheit" frühgriechisch als äXrj&eia denkt, zeigt Hegels Satz: „Der offenbare Geist hat die Wurzel seiner Kraft in der Unterwelt; die ihrer selbst sichere und sich versichernde Gewißheit des Volks hat die Wahrheit ihres Alle in Eins bindenden Eides nur in der bewußtlosen und stummen Substanz Aller, in den Wassern der Vergessenheit" (Phän. 258).

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Oresiie. Das aber heißt: Der hier erscheinende Geist, der sich im Handeln zum Bewußtsein kommt, vollzieht sich in Handlungsstrukturen eines Dramas, dessen Leitbild die griechische Tragödie ist. In der griechischen Tragödie, und zwar am deutlichsten in der Oresiie, liegt zusammen mit der Präsentation von Handlung bereits ein so differenziertes Bewußtsein vom Handeln und seinen Möglichkeiten vor,i® daß das AiscHVLeische Drama für die philosophische Konstruktion Hegels zum Paradigma werden konnte. 3) Im ersten Teil der Vorlesungen über die Ästhetik („Die Idee des Kunstschönen oder das Ideal") entwickelt Hegel unter dem Titel „die Handlung" deren Strukturen im besonderen Hinblick auf „die Kollision": „Indem nun aber die kollidirende Aktion eine entgegenstehende Seite verletzt, so ruft sie in dieser Differenz die gegenüberliegende angegriffene Macht gegen sich auf, und mit der Aktion ist dadurch unmittelbar die Reaktion verknüpft. Hiermit erst ist das Ideal in volle Bestimmtheit und Bewegung hineingetreten. Denn jetzt stehen zwei aus ihrer Harmonie herausgerissene Interessen einander kämpfend entgegen, und fordern in ihrem wechselseitigen Widerspruche nothwendig eine Auflösung." (Asth.' 1. 278 f) Die so beschriebene Handlungsstruktur erscheint vollkommen in der Dichtung realisiert, und zwar insbesondere in der Tragödie. Die hier auftretenden Interessenkollisionen sind von der „idealen Art", die Hegel fordert: „Interessen idealer Art müssen sich bekämpfen, so daß Macht auftritt gegen Macht." (Asth.' 1. 282) Das Prinzip „Macht gegen Macht" wird im zweiten Teil der Ästhetik („Entwickelung des Ideals zu den besonderen Formen des Kunstschönen") unter dem Titel „der Kampf der alten und neuen Götter" in erster Linie an den Eumeniden des AISCHYLOS ausgeführt, nämlich als Konflikt zwischen den Erinyen und Apollon: „Das ganze Drama gestaltet sich dadurch zu einem Kampfe zwischen diesen

1® Vgl. dazu B. Snell: Aischylos und das Handeln im Drama. Philologus. Supplementband 20. Leipzig 1928. 112 ff. Zum philosophischen Problem R. Wiehl: Über den Handlungsbegriff als Kategorie der Hegelschen Ästhetik. In: Hegel-Studien. 6 (1971), 135-170; es heißt dort (158); „Auf diese Weise geht die dramatische Kunstform in die Selbstdarstellung der reinen Gedankenhandlung über, in die Dramaturgie des dialektischen Denkens, dem jene Form ihren Stil der absoluten Wesentlichkeit und der inneren Notwendigkeit vermacht." Vgl. ferner P. Gravel: Pour une logique de l'action tragique. Hegel et la tragedie. In: Philosophiques. 5 (1978), 111-131. Über „diese Form der gestalteten, in der tragischen Aktion nicht minder als im Logos der Personen sich erschließenden Reflexionen als die knospenhafte Vorstufe der Philosophie überhaupt" J. Stenzei: Hegels Auffassung der griechischen Philosophie. In; (ders.): Kleine Schriften zur griechischen Philosophie. Darmstadt 1957, 308.

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göttlichen Mächten, welche in Person gegeneinander auftreten."i’ Begrifflich formuliert, tritt hier das „Recht der Familienzustände* dem „öffentlichen Recht und Gesetz des Gemeinwesens" entgegen. Damit „hat die gehaltvolle Phantasie des AESCHYLUS, die wir deshalb auch von dieser Seite her mehr und mehr schätzen müssen, hier einen Gegensatz aufgefunden, der nicht etwa oberflächlich, sondern von durchweg wesentlicher Art ist". Auch in der Ästhetik wird als zweites Beispiel für diese Auseinandersetzung die soPHOKLEische Antigone angeführt; „Interessanter noch, obschon ganz in das menschliche Empfinden und Handeln hineinverlegt, tritt derselbe Gegensatz in der Antigone hervor" (AsthJ 2. 51). Entsprechend wird unter dem Aspekt der „Aufbewahrung der alten Götter in der Kunstdarstellung" der Kampf zwischen Apollon und den Erinyen als Beispiel dafür ausgeführt, wie „die Kollision zur Lösung" kommt, danach kurz auf die Antigone verwiesen {Asth.^ 2. 60). Im dritten Teil der Ästhetik („Das System der einzelnen Künste") wird das triadische Handlungsmodell von Aktion, Reaktion und Auflösung auf „das dramatische Kunstwerk" so angewendet, daß dessen poetische Struktur ihm entspricht: „Der Zahl nach hat jedes Drama am Sachgemäßesten drei solcher Akte, von denen der erste das Hervortreten der Kollision exponirt, welche sodann im zweiten sich lebendig als Aneinanderstoßen der Interessen, als Differenz, Kampf und Verwickelung aufthut, bis sie dann endlich im dritten auf die Spitze des Widerspruchs getrieben sich nothwendig löst." (Asth.' 3. 494) Es ist bemerkenswert, daß als antikes Analogon die trilogische Komposition der AiscHYLeischen Tragödie gesehen wird: „Für diese natürliche Gliederung lassen sich bei den Alten, bei welchen die dramatischen Abschnitte im Allgemeinen unbestimmter bleiben, als entsprechendes Analogon die Trilogieen des AESCHYLUS anführen, in denen sich jedoch jeder Theil zu einem für sich abgeschlossenen Ganzen ausrundet."^o Im Blick auf „die Arten der dramatischen Poesie und deren historische Hauptmomente" erscheint als das „Princip der Tragödie", das für das Strukturmoment des „Gegeneinander" und des daraus entstehenden „dramatischen Zwiespalts" bestimmend ist, das „Princip der Besonderung", das durch die einseitige Isolierung der individuelAsf/i.’ 2. 50. Prinzip „Macht gegen Macht" in der Form „Gott gegen Gott" finden sich interessante Formulierungen in zwei anonymen Vorlesungsnachschriften aus dem Jahre 1826: „bei Homer treten die Götter sogar in förmlicher Schlacht gegen einander; so auch bei Äschylos" — in der Orestie sind „Apoll und die alten Götter gegen einander" {Mark. Bibi. 1826. Ms. 19; ähnlich Aachen 1826. Ms. 63). ^°Ästh, ' 3. 494 f. Hegels Analogie wird bestätigt im Hinblick auf die Orestie, in der „die einzelnen Tragödien nun fast den Charakter von drei großen Akten einer Tragödie haben", von W. Schadewaldt: Ursprung und frühe Entwicklung der attischen Tragödie. In: Wege zu Aischylos. Bd 1. Darmstadt 1974, 141 (WdF. 87.). le

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len Handelnden und ihrer Zwecke zu Konflikten führt. Der Widerstreit wird ausgetragen als „Macht gegen Macht" bzw. „Recht gegen Recht": „Das ursprünglich Tragische besteht nun darin, daß innerhalb solcher Kollision beide Seiten des Gegensatzes für sich genommen Berechtigung haben, während sie anderer Seits dennoch den wahren positiven Gehalt ihres Zwecks und Charakters nur als Negation und Verletzung der anderen, gleich berechtigten Macht durchzubringen im Stande sind, und deshalb in ihrer Sittlichkeit und durch dieselbe ebensosehr in Schuld gerathen." {Ästh.^ 3. 529) Der Begriff der Schuld wird jedoch folgendermaßen eingeschränkt: „Bei allen diesen tragischen Konflikten nun aber müssen wir vornehmlich die falsche Vorstellung von Schuld oder Unschuld bei Seite lassen. Die tragischen Heroen sind ebenso schuldig als unschuldig." {Ästh} 3. 552) Über den „Kampf der Besonderheiten" geht substantiell hinaus die Versöhnung, „in welcher sich die bestimmten Zwecke und Individuen ohne Verletzung und Gegensatz einklangsvoll bethätigen. Was daher in dem tragischen Ausgange aufgehoben wird ist nur die einseitige Besonderheit, welche sich dieser Harmonie nicht zu fügen vermocht hatte" (Asth.^ 3. 530). Wenn hinter dem „Gegensatz" und dem „Kampf der Besonderheiten" als das „wahrhaft Substantielle" die „Versöhnung" im Sinne von „Einklang" und „Harmonie" aufscheint, so wird ein Grundzug HERAKurischen Denkens sichtbar. Und wenn sich Hegel im Anschluß daran von Furcht und Mitleid als den tragischen Affekten der ARisxoTELischen Poetik distanziert, so gewinnt er selbst eine voraristotelische Bestimmung des tragischen Affekts, indem er das „Gefühl der Versöhnung" mit dem „Princip der Gerechtigkeit" verbindet und sich damit dem tragischen Geschehen und seinem harmonischen Ausgleich durch Dike bei AISCHYLOS nähert. Bei Hegel heißt es: „Ueber der bloßen Furcht und tragischen Sympathie steht deshalb das Gefühl der Versöhnung, das die Tragödie durch den Anblick der ewigen Gerechtigkeit gewährt, welche in ihrem absoluten Walten durch die relative Berechtigung einseitiger Zwecke und Leidenschaften hindurchgreift, weil sie nicht dulden kann, daß der Konflikt und Widerspruch der ihrem Begriffe nach einigen sittlichen Mächte in der wahrhaften Wirklichkeit sich siegreich durchsetze und Bestand erhalte." {Asth.' 3. 532) Wie es zu dieser „Ausgleichung" im Sinne einer „Aussöhnung der Interessen und harmonischen Einigung der Zwecke und Individuen" kommt, beschreibt Hegel am Leitbild der griechischen Tragödie: „Das Tiefe in diesem Princip ist die Anschauung, daß, den Unterschieden und Konflikten von Interessen, Leidenschaften und Charakteren zum Trotz, sich eine in sich einklangsvolle Wirklichkeit dennoch durch das menschliche Handeln zu Stande bringe. Schon die Alten haben Tragödien, welche einen ähnlichen Ausgang nehmen, indem die Individuen nicht aufgeopfert werden, sondern sich erhalten; wie z.B. der Areopag in den Eumeniden des AESCHYLUS beiden Seiten, dem Apoll wie den rächenden Jungfrauen das Recht der Verehrung zutheilt" {Asth} 3. 539).

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Der Umkreis von Konflikten, die durch „die Kollision gleichberechtigter Mächte und Individuen" eine Versöhnung notwendig machen, wird von Hegel auf prinzipielle Gegensätze eingeschränkt und paradigmatisch am Leitbild griechischer Tragödien expliziert: „Der Hauptgegensatz, den besonders SOPHOKLES, nach AESCHYLUS' Vorgang auf's schönste behandelt hat, ist der des Staats, des sittlichen Lebens in seiner geistigen Allgemeinheit, und der Familie als der natürlichen Sittlichkeit. Dieß sind die reinsten Mächte der tragischen Darstellung, indem die Harmonie dieser Sphären und das einklangsvolle Handeln innerhalb ihrer Wirklichkeit die vollständige Realität des sittlichen Daseyns ausmacht." {Asth} 3. 550 f) Von dem in diesem Zusammenhang ausführlich erläuterten Geschehen der Orestie heißt es: „Dieß ist ein für alle Zeiten gültiger Inhalt, dessen Darstellung daher, aller nationalen Unterschiedenheit zum Trotz, auch unsere menschliche und künstlerische Theilnahme gleich rege erhält.Der Vollzug der Versöhnung wird folgendermaßen beschrieben: „Das Resultat endlich der tragischen Verwickelung leitet nun keinem anderen Ausgange zu, als daß sich die beiderseitige Berechtigung der gegeneinander kämpfenden Seiten zwar bewährt, die Einseitigkeit ihrer Behauptung aber abgestreift wird, und die ungestörte innere Harmonie, jener Zustand des Chors zurückkehrt, welcher allen Göttern ungetrübt die gleiche Ehre giebt. Die wahre Entwickelung besteht nur in dem Aufheben der Gegensätze als Gegensätze, in der Versöhnung der Mächte des Handelns, die sich in ihrem Konflikte wechselweise zu negiren streben. Nur dann ist nicht das Unglück und Leiden, sondern die Befriedigung des Geistes das Letzte, insofern erst bei solchem Ende die Nothwendigkeit dessen, was den Individuen geschieht, als absolute Vernünftigkeit erscheinen kann, und das Gemüth wahrhaft sittlich beruhigt ist; erschüttert durch das Loos der Helden, versöhnt in der Sache. Nur wenn man diese Einsicht festhält, läßt sich die alte Tragödie begreifen." {Ästh} 3. 553 f) Die in diesem Sinne als Versöhnungsgeschehen verstandene griechische Tragödie wird in ihrer Wirkung letztlich nicht von einem tragischen Affekt ARisxoTELischer Provenienz, sondern von einer tragischen Erkenntnis her begriffen. Damit nimmt Hegel einen Grundzug der griechischen Tragödie auf, der, in der ARisxoTELischen Poetik nicht entfaltet, sich insbesondere an der AiscHYLeischen Orestie in dem Dreischritt von Späv naSelv juaSeiv konkretisieren läßt.22 —



^'^Ästh} 3. 551. Über Hegels Teilnahme an Aufführungen griechischer Tragödien

vgl. H. Flashar: Die Entdeckung der griechischen Tragödie für die deutsche Bühne. In: Hegel-Studien. Beiheft 22 (1983), 285-308. 22 Vgl. Agamemnon 174-178, 250 f, 1525-1530; Choephoren 1008-1010, 313 f.

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So sind es denn immer wieder die Eumeniden des AISCHYLOS,23 an denen demonstriert wird, daß und wie eine Tragödie versöhnlich ausgehen kann: „Der tragische Ausgang nun aber bedarf zum Ablassen beider Einseitigkeiten und ihrer gleichen Ehre nicht jedesmal des Untergangs der betheiligten Individuen. So enden bekanntlich die Eumeniden des AESCHYLUS nicht mit dem Tode Orest's oder dem Verderben der Eumeniden... Die Stimmen des Areopag's sind gleich; es ist Athene, die Göttin, das lebendige Athen seiner Substanz nach vorgestellt, die den weißen Stein hinzufügt, den Orest freigiebt, aber den Eumeniden ebenso als dem Apoll Altäre und Verehrung verspricht." (Asth.‘ 3. 556 f) Wie neben dieser „objektiven Versöhnung"^'* von Hegel eine ^Ausgleichung subjektiver Art" beschrieben und als „innerliche Aussöhnung" auf die christliche Versöhnung hin gedeutet wird, kann hier nicht ausgeführt werden. Hingewiesen sei nur auf die begriffliche Struktur, die Hegel der an christliche Vorstellungen sich annähernden Form der Versöhnung gibt, wenn er sie beschreibt als „die antike Herstellung des Bewußtseyns aus dem Streite sittlicher Mächte und Verletzungen zur Einheit und Harmonie dieses sittlichen Gehaltes selber" (Asth.' 3. 558). Die HERAKLuische Substruktur dieser Begrifflichkeit wird noch deutlicher, wenn es bei Hegel heißt: „Die höhere tragische Aussöhnung hingegen bezieht sich auf das Hervorgehen der bestimmten sittlichen Substantialitäten aus ihrem Gegensätze zu ihrer wahrhaften Harmonie."^^ Neben dieser HERAKLirischen Komponente ist es die Funktion der Gerechtigkeit im Sinne der AisCHYteischen Dike, die Hegels Konzept der tragischen Versöhnung wesentlich bestimmt. So heißt es in Abgrenzung vom modernen Drama in bezug auf die tragische Versöhnung: „In der antiken Tragödie ist es die ewige Gerechtigkeit, welche. 23

In der anonymen Nachschrift {Aachen 1826. Ms. 212) heißt es: „diese Gerechtigkeit

kann zu Stande kommen, ohne daß das Individuum zu Grunde geht. So haben wir viele antike Tragödien, z.B. die Eumeniden des Aeschylus... Der Ausgang ist die Versöhnung." Sofern als handelnde Subjekte die Götter vorgestellt werden, kann der Ausgleich in den aischyleischen Eumeniden auch als eine Versöhnung beschrieben werden, „welche am Subjekt selbst vorgeht, und ihm zum Bewußtsein kommt, indem es sich mit seinem Andern vereint und ihm gleich wird: die Eumeniden.“ So in Hothos Nachschrift von 1823 (Hotho 1823. Ms. 286; zitiert nach der von A. Gethmann-Siefert vorbereiteten Edition dieser Nachschrift aus dem Besitz des Hegel-Archivs). 23 Asf/i.’ 3. 555. Bemerkenswert auch die Bestimmung des versöhnenden Ausgangs in Hothos Nachschrift von 1823: „das Gleichgewicht des Sittlichen, das gleiche Gelten beider Mächte muß zur Anschauung kommen. Beide Seiten haben Unrecht und werden in Einheit gesetzt, dadurch daß sie in Harmonie kommen." {Hotho 1823. Ms. 285) Hegel weist in den Vorlesungen nur auf Interpretationen hin, die den Vergleich mit der christlichen Versöhnung anbringen, übernimmt aber diese Interpretation selbst nicht.

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als absolute Macht des Schicksals, den Einklang der sittlichen Substanz gegen die sich verselbständigenden und dadurch kollidirenden besondren Mächte rettet und aufrecht erhält, und bei der inneren Vernünftigkeit ihres Waltens uns durch den Anblick der untergehenden Individuen selber befriedigt." {Äsih.' 3. 572) Angesichts der in der modernen Theorie der Tragödie vorherrschenden Vorstellung eines unversöhnlichen Konflikts bleibt Hegels Konzept der tragischen Versöhnung mit seiner Orientierung an der griechischen Tragödie^* ein Anstoß, das Problem historisch und sachlich neu zu durchdenken. Hier nur einige Hinweise zum historischen Aspekt des Problems. Die antike Tragödie steht im kompositorischen Zusammenhang einer Trilogie, die mit einem Satyrspiel endet. Sofern das Satyrspiel nicht als bloßer Umschlag des tragischen Spiels in sein Gegenteil gedeutet wird, ist mit einem prinzipiell versöhnlichen Ausgang der griechischen Trilogie zu rechnen — auch wenn sich die Art dieser Versöhnung, besonders bei thematisch nicht durchkomponierten, d.h. scheinbar disparaten Stücken der Trilogie, weitgehend unserer Kenntnis entzieht. Die einzige erhaltene Trilogie, die Oresfie des AISCHYLos, zeigt einen versöhnlichen Ausgang. Mit dem Versöhnungsgeschehen der Orestie ist nicht nur Hegels Konzept des versöhnlichen Ausgangs der Tragödie legitimiert, sondern zugleich der Schluß nahegelegt, daß dieses Konzept hier seinen Ursprung und seine leitende Orientierung hat.

III. Bei der Beurteilung der historischen Herkunft wie auch der hermeneutischen Erschließungskraft von Hegels Deutung der griechischen Tragödie ist auszugehen von der einzigen erhaltenen Trilogie, der Orestie des AISCHYLOS. Die dramatische Struktur dieser Trilogie entfaltet sich in dem Dreischritt von Tat, Gegentat und Ausgleich als ein menschlich-göttliches Geschehen, das sich zunächst zwischen Mensch und Mensch, dann zwischen Mensch und Gott und zum Schluß zwischen Gott und Gott abspielt. Der im Agamemnon gesetzte Rechtsanspruch jedes einzelnen Handelnden, der mit der Rechtsbehauptung der anderen im Widerspruch steht, wird in den Choephoren zur Schärfe des Widerstreits des göttlichen Rechtswesens mit sich selbst 26 Über Hegels Konzept der tragischen Versöhnung in seinen Beziehungen zur deutschen Geistesgeschichte vgl. G. Rohrmoser: Zum Problem der ästhetischen Versöhnung. Schiller und Hegel. In: Euphorion. 53 (1959), 351-366. Zu dem Verhältnis von „Pantragismus" und „Panlogismus" und den modernen Schwierigkeiten mit einer Koinzidenz des Tragischen und des Vernünftigen ]. Hyppolite: Le tragique et le rationnel dans la philosophie de Hegel. In: Hegel-Jahrbuch. 1964. 9-15.

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zugespitzt (461 "AprjQ "Apei ^vpßalEi, AIKüI AIKU), dessen Zusammenstoß — Gott gegen Gott, Recht gegen Recht — nur auf göttlicher Ebene ausgetragen werden kann: In den Eumeniden vollzieht sich die Versöhnung zwischen den widerstreitenden göttlichen Mächten von Licht und Nacht als ein Vergleich, der durch die Institutionalisierung des göttlichen Rechtswesens den Menschen in die heue Weltordnung harmonisch einbezieht. Die begriffliche und sachliche Beziehung von Hegels Deutung der griechischen Tragödie zur Sprach- und Handlungsstruktur der AiscHVLeischen OresHe läßt sich konkretisieren im Ausgang von den Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Hegel bestimmt hier die tragische Situation so, ,^laß eine Entzweiung eintritt, und die höhere, eigentlich interessante Entzweiung für den Geist ist, daß es die sittlichen Mächte selbst sind, die als entzweit, in Kollision gerathend erscheinen. Die Auflösung dieser Kollision ist, daß die sittlichen Mächte, die nach ihrer Einseitigkeit in Kollision sind, sich der Einseitigkeit des selbständigen Gehens abthun" {Phil. d. Rel. Bd 2. 113). Gegen die Einseitigkeit der kollidierenden Mächte tritt »der Sinn der ewigen Gerechtigkeit" ein und bewirkt, »daß Beide Unrecht erlangen, weil sie einseitig sind, aber damit auch Beide Recht" (Phil. d. Rel. Bd 2. 114). Durch die Wirkung der Gerechtigkeit zeigt sich das Gelten der beiden gleichberechtigten Mächte als ein »ausgeglichenes Gelten". Das aber heißt: »In diesen Tragödien wird die Gerechtigkeit begriffen". Zwar kommt in der griechischen Tragödie das Schicksal in seiner Unbegreiflichkeit zur Darstellung, »aber die Nothwendigkeit ist nicht eine blinde, sondern sie ist erkannt als die wahrhafte Gerechtigkeit".^^ Diese Strukturen der griechischen Tragödie werden hier dargestellt vor allem an der soPHOKLEischen Antigone, »dem absoluten Exempel der Tragödie". Daß in Hegels Vorlesungen — auch aus didaktischen Gründen — die soPHOKLEische Antigone immer wieder zum Exempel wird, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die in Hegels Deutung zugrunde liegenden Sach- und Begriffsstrukturen primär AiscHYLeisch sind.^® Dies wird sicht27 Phil. d. Rel. Bd 2. 113. Die Formel »das Schicksal" bzw. »die Notwendigkeit ehren" verbindet Hegel mit Hölderlin, dessen Gedicht Das Schicksal als Motto eine Umformulierung von Vers 936 des aischyleischen Prometheus nennt; vgl. dazu O. Pöggeler: Politik aus dem Abseits. Hegel und der Homburger Freundeskreis. In: Homburg vor der Höhe in der deutschen Geistesgeschichte. 88 f. Der BegriH ei'pappevt}, der in Hölderlins Motto die aischyleische ÄöpäaxEia wiedergibt, erscheint bedeutungsvoll in Hegels Heraklit-Interpretation: »Dieses Allgemeine, diese Einheit in dem Gegensätze... nannte Heraklit ,Schicksal (eipappevri), Nothwendigkeit'." So in: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Bd 1. 347. 28 Daß Hegels Konzept der Tragödie nicht nur die aischyleischen Dramen besser erschließt als die sophokleischen, sondern auch der aischyleischen Weitsicht erstaunlich nahekommt, ist richtig gesehen von W. Kaufmann: Tragödie und Philosophie. 224 ff.

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bar an den Bestimmungen, die Hegel in den Vorlesungen über die Philosophie der Religion dem Begriff der Versöhnung gibt. Versöhnung wird bestimmt als ,4ie vernünftige Nothwendigkeit, die Nothwendigkeit, die hier anfängt, sich zu erfüllen", und zwar als göttliche Gerechtigkeit. Zwar zeichnet Hegel dabei die griechische Tragödie dadurch aus, daß in ihr die Gerechtigkeit erkannt und begriffen wird; jedoch mißt er sie an der christlichen Vorstellung von Versöhnung, wenn er als „höhere Versöhnung" ansetzt, im Subjekt die Gesinnung der Einseitigkeit aufgehoben würde — das Bewußtseyn seines Unrechts und daß es sich in seinem Gemüth seines Unrechts abthut. Diese seine Schuld, Einseitigkeit zu erkennen und sich derselben abzuthun, ist aber nicht in dieser Sphäre einheimisch. Dieses Höhere macht überflüssig die äußerliche Bestrafung, den natürlichen Tod. Anfänge, Anklänge dieser Versöhnung treten allerdings auch ein, aber diese innere Umkehrung erscheint doch mehr als äußerliche Reinigung." {Gesch. d. Phil. Bd 1.114) Obwohl Hegel hier den christlichen Hinblick einer Versöhnung im Sinne von Umkehrung als Bekehrung, Konversion aufnimmt, gelingt es ihm, im Ausgang von der als Gerechtigkeit erkannten Notwendigkeit das Versöhnungsgeschehen der Eumeniden als ein Erkenntnisgeschehen zu deuten. So heißt es: „Es ist der Geist, der das Geschehene ungeschehen machen will. Oresi in den Eumeniden wird losgesprochen vom Areopag; hier ist einer Seits der höchste Frevel gegen die Pietät, auf der anderen Seite hat er seinem Vater Recht verschafft. Er war Oberhaupt der Familie und auch des Staats: in Einer Handlung hat er gefrevelt und ebenso vollkommene, wesentliche Nothwendigkeit ausgeübt. Lossprechen heißt eben dieß: Etwas ungeschehen machen." (Gesch. d. Phil. Bd 1. 114 f) Es fragt sich, inwieweit die hier vorliegenden Sach- und Begriffsstrukturen denen der AiscHYLeischen Orestie entsprechen. Es kann hier nur auf einige zentrale Strukturmomente hingewiesen werden, die das Rechtsgeschehen der Orestie als ein Versöhnungsgeschehen im Sinne eines Erkenntnisgeschehens begrifflich ausweisen. Als die göttliche Macht, die das von Zeus in Geltung gesetzte Prinzip „durch Leid zur Einsicht"2* im dramatischen Geschehen verwirklicht, erscheint Dike, indem sie denen, die durch Leid gingen. Erkennen im Ausgleich zuwägt, Das ausgleichende Wirken der Dike vollzieht sich in der Weise, daß das festgesetzte Schicksal und das von den Göttern zu gewinnende individuell begrenzte „Teil" in strenger Korrespondenz stehen.Sofern göttlicherseits angeordnete Rechtsansprüche im Menschen — hier Orest — in Widerstreit geraten, stoßen auf göttlicher Ebene Recht gegen Recht, Gott gegen Gott im Kampf

Agamemnon 176-178. Agamemnon 250 f Jika SB TOB; /JBV jtaSoücnv fioSeiv enippenei. Agamemnon 1025-1027 si ö'e pfj xezaypeva poipa poipav BK Secüv dpyB pp nXeov (pkpeiv.

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zusammen.32 Das mythische Geschehen im Atridenhaus vollzieht sich nach der Deutung des Chors in drei Schritten, von denen der letzte mit der Tat des Orest zugleich die Hoffnung auf den Retter und die Furcht vor dem schicksalhaften Verhängnis verknüpft. 33 Nach dem Freispruch vor dem Areopag beruft sich Orest auf die göttlichen Mächte, die seine Erlösung vollzogen haben, nämlich Athene, Apollon und Zeus als der „dritte Retter, der alles vollendet". 34 Die in dem Dreischritt von Tat, Gegentat und Ausgleich durch Zeus als den ,4ritten Retter" vollzogene Erlösung wird zum Schluß der Eumeniden vom Chor gedeutet als eine Übereinkunft, in der Zeus und das Schicksal zusammenwirkend versöhnt sind.3s Diese Übereinkunft von Zeus und Moira ist aber nichts anderes als der Vollzug der Gerechtigkeit — vor dem Areopag ,Jcam gleichstimmig das Recht heraus in wahrer Weise". 3* Dabei zeigt sich in diesem Ausgleich das Rechtsgeschehen als ein Wahrheitsund Erkenntnisgeschehen. Es ist Athene, die den Geist der Versöhnung im Medium der Vernunft vermittelt. In der Versöhnung zwischen Olympiern und Erinyen durch Athene wirkt die Kraft des Logos einmal als persuasive Rhetorik in der göttlichen Macht der Überredung, Peitho, emotional mit den Mitteln der Sprachmagie.37 Neben diesem affektiven Aspekt der Versöhnung als Verwandlung der Erinyen in Eumeniden durch die Zauberkraft magisch beschwörender Rede3s ist es vor allem die Kraft der Vernunft, durch die Athene versöhnend wirkt. Im Vollzug des Rechtsgeschehens als eines Erkenntnisgeschehens39 geht es für Athene darum, „diese Rechtssache wirklichkeitsgemäß auseinanderzunehmen".40 Die in diesem Zusammenhang wiederholt verwendeten Begriffe öiaipelv und Siaipeau; zur Bezeichnung der Rechtsauseinandersetzung4i weisen auf den Logos als Medium der Versöhnung; nicht zufällig werden diese Begriffe bei PLATON ZU Grundbegriffen philosophischer Dialektik. Hegels Konzept der Tragödie im Sinne der Versöhnung eines Konfliktes, d.h. als Aufhebung einer Differenz, entspricht der Methode seiner Dialektik. 32 Choephoren 461 "’AprjQ "ApEi ^üpßaXei, AiKai Aixa. 33 Choephoren 1068—1074 np&xov ... öevxepov ... vDv ö' ai) xpixog no&EV acoxfip, ;f pöpov eJn(o; 34 Eumeniden 759 f xoü nävxa Kpaivovxoq xpixov Ztoxfjpog. Zeus wird angerufen als „der dritte" zusammen mit Kratos und Dike im Gebet der Elektra Choephoren 244 f; er erscheint als der „dritte Retter" Hikeiiden 26. 35 Eumeniden 1045 f ZEV Moipä XE aoyKaxeßa. Eumeniden 795 f ’iaö^rjipoq, öiKrj äkt}9wq. 32 Eumeniden 886 yXcöaarjt; epfiQ peiXiypa Kai SelKxrjpwv. 35 Vgl. Eumeniden 900; 970-972. 34 Vgl. Eumeniden 709 öiayvävai öikriv. 40 Eumeniden 488 öiaipeiv xovxo npäyp’sxrjxvpax;. 41 Eumeniden 472; 630; 749.

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Dieter Bremer

Das dramatische Geschehen der griechischen Tragödie und der geschichtliche Prozeß des Weltgeschehens werden von Hegel mit ein und derselben dialektischen Methode erschlossen.Hegels Bezeugung: „es ist kein Satz des HERAKUT, den ich nicht in meine Logik aufgenommen", ist bekannt.Weniger bekannt ist, wie die bei HERAKLIT präformierte dialektische Denkform, die den Kosmos aus Gegensätzen zur Harmonie bringt, ihre markanteste dichterische Darstellung in der Wirklichkeitssicht des AISCHYLOS gefunden hat.^^ Die latente dialektische Struktur — im Sinne eines durchgehenden Zwiespalts in der Wirklichkeit und seiner notwendigen Fügung —, die der AiscHYLeischen Tragödie zugrunde liegt,“® läßt sich als Basis der inneren Affinität Hegels zu AISCHYLOS verstehen. Seine Theorie der Tragödie, von Anfang an entworfen am Leitbild der Trilogie des AISCHYLOS, ist nicht ohne sachlichen und historiVgl. P. Berirand: Lesens du tragique et du destin dans la dialectique hegelienne. In: Revue de metaphysique et de morale. 47 (1940), 165-186. Das Verhältnis von Tragik und Dialektik wird im Ausgang von Schelling als Identität gedeutet von P. Szondi: Versuch über das Tragische. 13 ff, 21 ff. Szondis Versuch des Aufweises einer .^lialektischen Struktur, welche alle Bestimmungen des Tragischen von Schelling bis Scheler... durchzieht" (a.a.O. 57), ist nicht ohne Gewaltsamkeit in Sache und Begriff; sachlich und begrifflich verfehlt ist der Versuch, .^lie Bedeutung des dialektischen Moments für den Begriff des Tragischen" bereits in der aristotelischen Poetik festzumachen (a.a.O. 57 f).

Zu den prinzipiellen Problemen der Beziehung Hegels zu Heraklit und zur antiken Dialektik vgl. M. Heidegger: Hegel und die Griechen. In: Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken. Festschrift für H.-G. Gadamer zum 60. Geburtstag. Hrsg, von D. Henrich, W. Schulz, K.-H. Volkmann-Schluck. Tübingen 1960. 43-57, bes. 50 ff; H.-G. Gadamer: Hegel und die antike Dialektik. In; Hegel-Studien. 1 (1961), 173-199; R. Wiehl: Platos Ontologie in Hegels Logik des Seins. In: Hegel-Studien. 3 (1965), 157-180; K. Düsing: Ontologie und Dialektik hei Plato und Hegel, ln: Hegel-Studien. 15 (1980), 95-150. Zur speziellen Problematik vgl. D. Saintillan: Hegel et Heraclite. ln: Hegel et la pensee grecque. Ed. J. D'Hondt. Paris 1974, 27-84; D. ]anicaud: Hegel et le destin de la Gr'ece. Paris 1975, 253-265; D. Chattopadhyaya: Heraclitus and Hegel. In: Revolutionary World. 17/18 (1976), 12-31; N. Psimmenos: Hegels Heraklit-Verständnis. Basel/Paris 1978. 57 ff; D. f. Krell: Hegel Heidegger Heraclitus. In: Heraclitean Fragments. Ed. J. Sallis and K. Maly. Alabama 1980, 22-42. Hinweise bei H. Bogner: Der tragische Gegensatz. Heidelberg 1947.166 ff; R. Schaerer: La composante dialectique de l'Orestie. In; Revue de metaphysique et de morale. 58 (1953), 47 ff; B. Gladigow: Aischylos und Heraklit. In: Archiv für Geschichte der Philosophie. 44 (1962), 225-239. Wieder abgedruckt in: Wege zu Aischylos. Bd 1, 312-329; M. }. Smethursl: The Balance of Justice: Aischylos' Oresteia. Michigan 1969. 22, 84 ff, 108 ff.

Diss. Ann Arbor. Vgl. K. Reinhardt: Aischylos als Regisseur und Theologe. Bern 1949. 61 ff, 157 ff; ders.: Tradition und Geist. Göttingen 1960.193 f; D. Bremer: Licht und Dunkel in der frühgriechi-

schen Dichtung. 344 ff, 378 ff, 390 ff, 396 ff.

Hegel und Aischylos

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sehen Grund dialektisch. Wird die Rekonstruktion der griechischen Tragödie mit der dialektischen Methode dem geschichtlichen Ereignischarakter des tragischen Geschehens gerecht?«^ Vielleicht nicht mehr und nicht weniger als die Bauform der AiscHvieischen Tragödie der ambivalenten Struktur der Wirklichkeit gerecht wird. Das Geschehen der Orestie ereignet sich als eine Bewegung „zum Guten" — zunächst nur im Leid erhofft, dann im Streit und Widerstreit um das Gute siegreich verwirklicht.^^ Ziel der Bewegung ist der schicksalhaft notwendige Vollzug der Gerechtigkeit durch Zeus, der als der „Rechtbringende" und der „Vollendende" das TEIOQ des Geschehens vorsieht.^8 Wenn denn Hegel die griechische Tragödie mit einer dialektisch-teleologischen Methode rekonstruiert, so ist dies nicht ohne weiteres eine Überfremdung der griechischen Tragödie,^’ zumindest nicht der des AISCHYLOS. Daß allerdings Begriffe wie TEXOQ, „das Gute", „Versöhnung" usw. im vorphilosophischen Denken des AISCHYLOS unter einem anderen Horizont stehen als in einer Philosophie, die durch zwei Jahrtausende christlicher und metaphysischer Tradition hindurchgegangen ist, bleibt unbestreitbar. Und es bleibt nicht zuletzt die Differenz von poetischer und philosophischer Weltauslegung, die schon PLATON zum Agon zwang. Hegels Theorie der griechischen Tragödie ist im Vergleich mit der geschichtlich wirksamsten Poetik, der des ARISTOTELES,8O philosophisch fruchtbarer, insofern sie nicht Anweisungen zu einer Technik des Dramas gibt, sondern Hinweise zu einer Hermeneutik der Tragödie, die zugleich die Struktur der Wirklichkeit erschließt. ARISTOTELES geht aus von einer „Verfehlung" (djuapTia), der später sogenannten „tragischen Schuld".5i Selbst wenn man die traditionsbedingten moralischen Interpretationen von ARISTOTELES fernhält und die ARiSTOTELische Poetik im Sinne der Handlungstheorie seiner •*8 Dies wird bezweifelt von O. Pöggeler: Hegel und die griechische Tragödie. 301. Agamemnon 121 = 138 = 159aYAivovai’Äivoveine, röS'ev viKazca. Eumeniden 974f. VIKöI S’dyaSäv c'pi