Eigentlichkeit: Zum Verhältnis von Sprache, Sprechern und Welt 9783110335477, 9783110335446

The volume explores conceptual, methodological, and practical issues related to ideal of authenticity in communication –

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Eigentlichkeit: Zum Verhältnis von Sprache, Sprechern und Welt
 9783110335477, 9783110335446

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Literatur
I. Der Begriff der Eigentlichkeit
Vom Eigentlichen und Uneigentlichen
Das ‚Eigentliche‘ als Prinzip der Wissenskonstitution. Deutschsprachige Enzyklopädien des 18. bis 21. Jahrhunderts
Eigentlichkeit als Rhetorik-Frame
Adamische Sprache. Genealogische Eigentlichkeit im deutschen Sprachdenken des Barock und der Aufklärung
Eigentlich: Bausteine einer Wortgeschichte
II. Zugriffe auf Eigentlichkeit
„Symbols grow“. Korpuspragmatik und Wirklichkeit
Grammatik und Literatur. Grammatische Eigentlichkeit bei Kehlmann, Timm, Liebmann, Handke, Strittmatter und Ruge
Das eigentliche Ziel der Diskursanalyse?. Über Wege zum gesellschaftlichen Wissen
Theorie, Methode oder Disziplin. Plastikwörter innerhalb der Sprachwissenschaft?
III. Sprache und Referenz
Wes Geistes Kind oder Von der Sprache der Eigentlichkeit zur sprachgebundenen Authentizität. Überlegungen zum Verhältnis von Sprache und Wahrheit
‚Eigentlichkeit‘ als Movens und als Gegenstand von Sprachkritik
„The touchstone that trieth all doctrines“. Der eigentliche Sinn der Heiligen Schrift in frühen Übersetzungen Tyndales und Luthers
IV. Eigentlichkeit vs. Uneigentlichkeit
Textsortenfakes. Das Postulat der Eigentlichkeit in der Werbung
Irren, täuschen und lügen. Das Sprechen über Formen eigentlichen und uneigentlichen Volksbetrugs
„das Organ der Vernunft“. Anmerkungen zu Johann Gottfried Herders anthropologischer Beredsamkeit
Metaphorische Rede als eigentliche Rede. Formen der Selbstthematisierung bei Jaspers und Heidegger
Semantic non-transparency in the mental lexicon. On the relation between word-formation and naming
Die Negation als Sprachspiel
V. Eigentlichkeit als Absicht des Sprechers
Wie die Zeit vergeht. Eigentlichkeit aus romanistischer Sicht
M.a.W. das heißt also mit anderen Worten, um mal auf den Punkt zu kommen. Zum Gebrauch und zur Aneignung literaler Paraphrasenprozeduren
VI. Eigentlichkeit und Multimodalität
‚Ich habe es doch mit eigenen Augen gesehen!‘. Zur Eigentlichkeit bildlicher Zeichen
„in weniger als einer Stunde fühlte ich mich befreundet“. Aneignung fremder Dinge in Goethes Italienischer Reise

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Eigentlichkeit

Eigentlichkeit

Zum Verhältnis von Sprache, Sprechern und Welt Herausgegeben von Claudia Brinker-von der Heyde, Nina Kalwa, Nina-Maria Klug und Paul Reszke

ISBN 978-3-11-033544-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-033547-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039367-5 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Claudia Brinker-von der Heyde, Nina Kalwa, Nina-Maria Klug & Paul Reszke Einleitung  | 1

I Der Begriff der Eigentlichkeit  Helmut Henne   Vom Eigentlichen und Uneigentlichen | 17  Ulrike Haß   Das ‚Eigentliche‘ als Prinzip der Wissenskonstitution. Deutschsprachige Enzyklopädien des 18. bis 21. Jahrhunderts  | 27  Joachim Knape   Eigentlichkeit als Rhetorik-Frame | 51  Thorsten Roelcke   Adamische Sprache. Genealogische Eigentlichkeit im deutschen Sprachdenken des Barock und der Aufklärung | 85  Anja Lobenstein-Reichmann & Oskar Reichmann   Eigentlich: Bausteine einer Wortgeschichte | 103

II Zugriffe auf Eigentlichkeit Marcus Müller   „Symbols grow“. Korpuspragmatik und Wirklichkeit | 137  Vilmos Ágel   Grammatik und Literatur. Grammatische Eigentlichkeit bei Kehlmann, Timm, Liebmann, Handke, Strittmatter und Ruge | 159  Paul Reszke   Das eigentliche Ziel der Diskursanalyse? Über Wege zum gesellschaftlichen Wissen | 175

 

VI | Inhalt Nina Kalwa   Theorie, Methode oder Disziplin. Plastikwörter innerhalb der Sprachwissenschaft? | 195

III Sprache und Referenz Ekkehard Felder   Wes Geistes Kind oder Von der Sprache der Eigentlichkeit zur sprachgebundenen Authentizität | 221  Jochen A. Bär   ‚Eigentlichkeit‘ als Movens und als Gegenstand von Sprachkritik | 241  Daniel Göske   „The touchstone that trieth all doctrines“. Der eigentliche Sinn der Heiligen Schrift in frühen Übersetzungen Tyndales und Luthers | 259

IV Eigentlichkeit vs. Uneigentlichkeit Achim Barsch & Christoph Müller   Textsortenfakes. Das Postulat der Eigentlichkeit in der Werbung | 285  Manuela Böhm   Irren, täuschen und lügen. Das Sprechen über Formen eigentlichen und uneigentlichen Volksbetrugs | 313  Stefan Greif   „das Organ der Vernunft“. Anmerkungen zu Johann Gottfried Herders anthropologischer Beredsamkeit | 341  Bernd Weidmann   Metaphorische Rede als eigentliche Rede. Formen der Selbstthematisierung bei Jaspers und Heidegger | 363  Holden Härtl   Semantic non-transparency in the mental lexicon. On the relation between word-formation and naming | 395  Wilhelm Köller   Die Negation als Sprachspiel | 417

Inhalt | VII

V Eigentlichkeit als Absicht des Sprechers Angela Schrott   Wie die Zeit vergeht. Eigentlichkeit aus romanistischer Sicht | 445  Olaf Gätje   M.a.W. das heißt also mit anderen Worten, um mal auf den Punkt zu kommen. Zum Gebrauch und zur Aneignung literaler Paraphrasenprozeduren | 473

VI Eigentlichkeit und Multimodalität Nina-Maria Klug   ‚Ich habe es doch mit eigenen Augen gesehen!‘ Zur Eigentlichkeit bildlicher Zeichen | 501  Nikola Roßbach   „in weniger als einer Stunde fühlte ich mich befreundet“. Aneignung fremder Dinge in Goethes Italienischer Reise | 523 

Einleitung Die Annahme, dass Sprache die Wirklichkeit nicht bloß abbildet, sondern zuallererst konstruiert, spielt schon seit Ende des 17. Jahrhunderts (etwa bei Locke 1689; Leibniz 1677, 1697; Humboldt 1836; Nietzsche 1873) eine bedeutende Rolle in der philosophischen und wissenschaftlichen Beschäftigung mit Sprache (vgl. Gardt 2007). Mittlerweile ist die konstruktivistische Orientierung zu einer beinahe selbstverständlichen Prämisse kulturorientierten sprachwissenschaftlichen Arbeitens geworden. Dennoch kann die scheinbar gegenläufige Forderung nach der Eigentlichkeit im Umgang mit der Sprache als Universalie der Sprachreflexion verstanden werden (Gardt 2008). Von der Antike (vgl. z.B. Platons Kratylos) über das Mittelalter (u.a. Isidor v. Sevilla, 7. Jh.) und die Frühe Neuzeit (z.B. Schottelius 1663 [1967]; Comenius 1681) bis zur Gegenwart (bspw. Grice 1975; Searle u.a. 2011) soll sich demnach jedes Sprechen und Schreiben 1. sachlich treffend auf die Welt beziehen und 2. die wahren, eigentlichen Absichten des Sprechers zu erkennen geben.1 Dieser Gedanke ist sowohl Grundannahme vieler sprachreflexiver Überlegungen als auch Leitprinzip jeder Kommunikation. Wie wir jemanden im Alltag dafür kritisieren können, dass er ‚unauthentisch‘ ist oder Geschehenes nicht so wiedergibt, wie es tatsächlich passiert ist, so üben wir häufig auch als Wissenschaftler aneinander Kritik, wenn wir eine Darstellung als unangemessen empfinden, weil sie den beschriebenen Sachverhalten nicht gerecht wird. Bei aller konstruktivistischen Einsicht wird auch im Rahmen wissenschaftlicher Arbeit in reflexhafter Selbstverständlichkeit zwischen richtig und falsch, zwischen angemessen und unangemessen unterschieden. Diese Unterscheidung setzt aber in gewisser Weise ein ontologisches Verständnis des zu bestimmenden Gegenstands voraus, nach dem diesem bestimmte Eigenschaften zukommen und er seinem ‚eigentlichen Wesen nach‘ erfasst werden kann. Theoretisch schlägt sich die Forderung nach Eigentlichkeit, die die Praxis der Sprachverwendung ganz essenziell bestimmt, in der rhetorischen Lehre vom aptum, die eine den Dingen (res) angemessene Zuordnung der Wörter (verba) fordert, ebenso nieder wie in (früh)neuzeitlichen Reflexionen zur deutschen Sprache bzw. Dichtkunst. Als ein Beispiel für das Kommunkationsideal der Eigentlichkeit im Barock kann folgender Auszug aus Martin Opitz‘ Buch von der || 1 Vgl. dazu grundlegend die Beiträge von Andreas Gardt, v. a. 2008c; s. aber auch 1999d, 2005b, 2007c, zuletzt: 2012b.

2 | Einleitung Deutschen Poeterey, 1624, Kap. 6 zur angemessenen Verwendung unterschiedlicher Stilarten bzw. genera elocutionis gelten: Nach dem wir von den dingen gehandelt haben, folgen jetzund die worte; wie es der natur auch gemeße ist. Denn es muß ein Mensch jhm erstlich etwas in seinem gemüte fassen, hernach das was er gefast hat außreden [...] weil aber die dinge von denen wir schreiben vnterschieden, als gehöret sich auch zue einem jeglichen ein eigener vnnd von den andern verschiedener Character oder merckzeichen der worte. Denn wie ein anderer habit einem könige, ein anderer einer priuatperson gebühret; vnd ein Kriegesman so, ein Bawer anders, ein Kauffmann wieder anders hergehen sol: so muß man auch nicht von allen dingen auff einerley weise reden; sondern zue niedrigen sachen schlechte, zue hohen ansehnliche, zu mittelmäßigen auch mässige vnd weder zue grosse noch zue gemeine worte brauchen.

Die Sprache soll den Dingen entsprechen, auf die sie sich bezieht, verba und res sollen zueinander in einem Kongruenzverhältnis stehen. In jüngerer Zeit spiegelt sich dieser Wunsch nach ontologischer und sozialer Orientierung durch Sprache (Gardt 2008: 24) etwa in den von Grice (1975) vorgestellten Konversationsmaximen wider. Hervorzuheben ist dabei vor allem die Maxime der Qualität, der zufolge jede Kommunikation nur auf der Basis der wechselseitigen Voraussetzung von wahren Beiträgen funktioniert. Ausgehend von den Grice’schen Konversationsmaximen entwickeln Leech (1983) sowie Brown & Levinson (1987) Maximen der Höflichkeit und vertreten somit weiterhin die Annahme, dass es bezogen auf die soziale Komponente von Sprache mehr oder weniger angemessene Gesprächsbeiträge gibt. Andere Sprachwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen vertreten die Position, dass Sprache selbst mehr oder weniger exakt sein kann, dass die Individuen entsprechend ihrer verschiedenen Erfahrungen, ihres spezifischen Wissensstandes und ihrer jeweiligen Interessen am widerzuspiegelnden Objekt die Wirklichkeit als Erkenntnisobjekt mehr oder weniger adäquat abbilden (Baumann 1998: 373).

Vor allem die Fachsprache wird dabei häufig als die sachlichste, ontologisch zuverlässigste aller Varietäten“ eingestuft (Gardt 1998: 32). Gegenwärtig stellt sich die Frage nach der Angemessenheit von Sprache bzw. von sprachlichen Ausdrücken auch dann, wenn Nominationskonkurrenzen festgestellt (bezeichnet der Ausdruck Kriegsdienst oder der Ausdruck Friedensdienst den gegebenen Sachverhalt in angemessener Weise?) oder sprachliche Zweifelsfälle diskutiert werden (Klein 2003, 2006). Damit sind all jene sprachliche Einheiten gemeint, „bei der kompetente Sprecher im Blick auf (mindestens) zwei Varianten […] in Zweifel geraten könnten, welche der beiden Formen (standardsprachlich) korrekt ist“ (Klein 2003: Teil 1, s. auch Klein 2006: 584).

Einleitung | 3

Das öffentliche Interesse beschränkt sich nicht nur auf besondere sprachliche Phänomene wie die Entlarvung uneigentlicher Ausdrücke, die sich beispielsweise in der Wahl zum Unwort des Jahres äußert, bei der Wörter u.a. dann in die engere Wahl rücken, „wenn sie euphemistisch, verschleiernd oder gar irreführend sind.“2 Auch die allgemeine theoretische Frage nach dem Verhältnis von Sprache, Sprechern und Welt rückt zunehmend in das Blickfeld der Öffentlichkeit. Feuilletons großer Zeitungen greifen das Thema auf (z.B. FAZ, Süddeutsche Zeitung), Bücher wie Markus Gabriels Warum es die Welt nicht gibt (2013), Paul Boghossians Fear of Knowledge (2006) oder John Searles Making the social world (2011) finden gegenwärtig einen reißenden Absatz auch außerhalb enger wissenschaftlicher Kreise. Gemeinsam haben sie, dass sie aus philosophischer oder soziologischer Sicht eine Synthese zwischen alltäglichem Realitätsverständnis und wissenschaftlichem Konstruktivismus herzustellen versuchen, indem sie eine klare Grenze zwischen sozialen, sprachlich konstruierten Tatsachen und ontologischen ,harten‘ Fakten wie Naturgegebenheiten ziehen. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen erscheint es sinnvoll, die Frage nach dem Verhältnis von Sprache, Sprechern und Welt auch innerhalb der Sprachwissenschaft neu zu stellen. Aus eben diesen Überlegungen heraus ist der vorliegende Sammelband entstanden. Er setzt sich zum Ziel, das Phänomen der Eigentlichkeit als leitendes Prinzip der Sprachreflexion und des Sprachgebrauchs aus theoretischer, methodischer und analysepraktischer Sicht zu beleuchten und damit eine weiterreichende Diskussion des Themas im Fach anzustoßen. Die Beiträge des Bandes fokussieren folgende Fragestellungen: 1. Wie lässt sich der Begriff der Eigentlichkeit vor dem Hintergrund gegenwärtiger und historischer Konzeptionen bestimmen? Dieser theoretisch-konzeptionellen Frage widmen sich u.a. die Beiträge von Helmut Henne, Ulrike Haß, Joachim Knape, Thorsten Roelcke sowie Anja Lobenstein-Reichmann & Oskar Reichmann. Während Henne den Begriff durch Einbezug philosophischer Positionen terminologisch zu schärfen sucht, gibt Haß einen Überblick über seine Entwicklung anhand einer historisch-diachronen Analyse von Enzyklopädien vom 18.–21. Jahrhundert. Knape fragt danach, wie Eigentlichkeit im Rahmen rhetorischer Theoriebildung zu verstehen ist und Roelcke beschreibt die argumentative Instrumentalisierung der ada|| 2 http://www.unwortdesjahres.net/index.php?id=2

4 | Einleitung mischen Sprache im Verständnis einer ausdrucks- wie inhaltsseitig ‚eigentlichen‘ Sprache innerhalb von sprach- bzw. kulturpatriotischen Überlegungen im 17. und 18. Jahrhundert. Lobenstein-Reichmann & Reichmann zeichnen die Wortgeschichte des Adjektivs eigentlich auf der Basis des Frühneuhochdeutschen Wörterbuchs (FWB) und entsprechender Exzerpte des von Andreas Gardt, Oskar Reichmann und Thorsten Roelcke getragenen Projekts Sprachtheorie in Barock und Aufklärung (SBA) nach. 2. Wie versucht die Sprachwissenschaft auf die Wirklichkeit, also das Eigentliche, methodisch zuzugreifen und welche Arten von Wirklichkeit bzw. Eigentlichkeit können dabei angenommen werden? Mit dieser Frage beschäftigen sich v.a. Marcus Müller, Vilmos Ágel, Paul Reszke und Nina Kalwa. Während Müller das Verhältnis von Korpusdaten und Wirklichkeit aus korpuspragmatischer Perspektive untersucht, zeigt Ágel die Möglichkeiten einer grammatischen Textanalyse für die Interpretation literarischer Texte auf. Reszke beleuchtet, mit welchen Argumentationsstrategien linguistische Diskursanalysen arbeiten, wenn sie von sprachlichen Mustern in Korpora auf Denkmuster größerer sozialer Kollektive schließen. Kalwa wählt einen breiten Zugang zur Wissenschaftskommunikation, und untersucht, ob bei der Etablierung neuer Forschungsansätze Ausdrücke wie Theorie, Methode und Disziplin zu Plastikwörtern werden und damit nur scheinbar exakte Kategorien der Wissenschaftssprache sind. 3. Wie lässt sich Sprache vor dem Hintergrund ihres referentiellen Verhältnisses zur Wirklichkeit bewerten? Allen konstruktivistischen Theorien zum Trotz existiert vermehrt das Bedürfnis, mittels Sprache auf die Realität zuzugreifen. Die Möglichkeit des ‚eigentlichen‘ Kommunizierens wird dabei vorausgesetzt. Sie schlägt sich in Äußerungen nieder, die den Sprachgebrauch vor dem Hintergrund seines Bezugs zur Welt als richtig oder falsch bewerten. Auch diesem kritischen Zugang zu Sprache tragen die Beiträge im vorliegenden Band Rechnung. So lotet Ekkehard Felder mit seinem Beitrag die Schnittstelle von Sprach- und Ideologiekritik aus, wenn er nach sprachlichen und außersprachlichen Indikatoren der ‚Eigentlichkeit‘ unter dem Gesichtspunkt der angemessenen oder gar ‚richtigen‘ Referenz fragt. Jochen A. Bär gibt einen diachronen Überblick über das semantische Konzept Eigentlichkeit im Zusammenhang mit der Sprachkritik und Daniel Göske setzt sich mit dem ‚eigent-

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lichen‘ Sinn der Heiligen Schrift auseinander, um den in und durch frühe Bibelübersetzungen gerungen wird. 4. Stehen sich Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit antithetisch gegenüber oder ermöglicht ‚uneigentliches‘ Sprechen und Schreiben nicht oft einen eigentlicheren Zugriff auf die Welt? Rhetorisches Sprechen und Schreiben, das sich etwa im Gebrauch rhetorischer Figuren und Tropen (u.a. von Metaphern) manifestiert, wird kontrovers diskutiert. Das geschieht z.B. mit Blick auf den Gebrauch von Devianzphänomenen in Politik und Werbung. Auf der einen Seite stehen sie in der Kritik der ‚schönen Verschleierung‘, der ‚böswilligen Verdeckung‘ und ‚Verdunklung‘ (obscuritas) bis hin zur Negation des ‚eigentlich‘ Gemeinten. Auf der anderen Seite wird ihnen der Status essenzieller Denkmuster zugesprochen, die notwendig sind, um sich die Welt und die Dinge darin ‚klar‘ (claritas) zu machen und verstehen zu können. Mit dieser konzeptionellen Ambivalenz beschäftigen sich verschiedene Beiträge im Band. Unter dem sprachkritischen Aspekt des Verdeckens wahrer Absichten betrachten Achim Barsch & Christoph Müller Textsortenfakes in der Werbekommunikation, Manuela Böhm analysiert sprachliche Formen des eigentlichen und uneigentlichen Lügens im Staatsgeschäft des 18. Jahrhunderts und Stefan Greif betont die Künstlichkeit wissenschaftlichen Sprechens auf der Basis sprachphilosophischer Aussagen Herders. Die Beiträge von Bernd Weidmann und Holden Härtl nähern sich den Phänomenen aus der Perspektive der ‚Vereigentlichung‘. Während Weidmann die Metapher als eigentliches Medium des Denkens aus vergleichend-diachroner Sicht untersucht, widmet sich Härtl der semantischen (In)Transparenz im mentalen Lexikon am Beispiel des Idioms. Wilhelm Köller beschreibt Negationen als universelle Formen der Welterschließung, die sowohl kognitiven wie kommunikativen Status haben. 5. Welche kommunikativen Formen oder Formeln in Texten und Gesprächen zeigen, dass der Sprecher/Schreiber sich bemüht, die Dinge so darzustellen, wie sie eigentlich sind? Diese Frage versucht Angela Schrott in ihrem Beitrag aus romanistischer Sicht zu klären. Sie erkennt Parallelen zwischen den germanistischen Reflexionen zur Eigentlichkeit und den romanistischen Diskussionen des sprachtheoretischen Begriffs der clarté und überlegt vor dem Hintergrund des Coseriu’schen Systems der Sprachkompetenz, wo ‚Eigentlichkeit‘ im Französischen ihren Ort hat. Olaf Gätje fragt auf der Basis einer empirischen Analyse audiovisueller Erklärtexte

6 | Einleitung danach, wie sich das Kommunikationsideal des eigentlichen Sprechens in adressatenorientierten Reformulierungen von Erklärhandlungen niederschlägt, die u.a. durch sprachliche Konstruktionen wie ‚mit anderen Worten‘ eingeleitet werden. 6. Inwieweit schlägt sich das Kommunikationsideal der Eigentlichkeit auch im Gebrauch nicht-sprachlicher Zeichenmodalitäten nieder? Menschliche Kommunikation ist nicht ausschließlich sprachlicher Natur. Ganz im Gegenteil hat sie einen grundsätzlich multimodalen Charakter (vgl. zuerst Kress/van Leeuwen 1998: 186). Multimodalität bezeichnet nichts anderes als diesen zweckorientierten Rückgriff auf Zeichen unterschiedlicher Zeichensysteme (z.B. auf Sprache, Bild, Ton) im Rahmen der Kommunikation (vgl. Klug/Stöckl 2015). Diese Zeichen(verbünde) lassen sich über differente Sinneskanäle bzw. Wahrnehmungsmodalitäten (z.B. auditiv, visuell) erfassen. Ein möglichst holistischer Zugriff auf das Kommunikationsideal der Eigentlichkeit setzt deshalb auch Reflexionen zu anderen, nicht-sprachlichen Zeichenund Wahrnehmungsmodalitäten voraus. Das gilt umso mehr, als sich die unterschiedlichen Modalitäten gegenseitig aufeinander beziehen, sich in natürlicher Kommunikation gegenseitig reflektieren und semantisieren (vgl. hier auch das Konzept der Transkriptivität nach Ludwig Jäger 2002 u. ö.). Während Nina-Maria Klug sich der Zeichenmodalität des Bildes zuwendet und die Frage nach der Motiviertheit bzw. der ,referentiellen Richtigkeit‘ ikonischer (und indexikalischer) Bildzeichen diskutiert, wie sie u.a. mit Blick auf den ‚Abbildcharakter‘ der Pressefotografie oft unhinterfragt angenommen wird, widmet Nikola Roßbach ihren Beitrag der konzeptuellen Aneignung einer (fremdkulturellen) Welt über unterschiedliche Wahrnehmungsmodalitäten. Sie beschreibt Praktiken des Sehens und des Denkens, wie sie sich sprachlich in Goethes Italienischer Reise niederschlagen. Der vorliegende Band wählt sehr bewusst einen zu anderen Disziplinen geöffneten Zugang. Erst auf diese Weise kann er seinem Gegenstand ,Eigentlichkeit‘ gerecht werden, der nicht nur Grundlage sprachwissenschaftlicher Überlegungen ist, sondern auch in anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen, wie der Literaturwissenschaft, der Philosophie oder der Theologie eine bedeutende Rolle spielt. Ein solch multiperspektivischer, kulturwissenschaftlich ausgerichteter und interdisziplinärer Zugang verdankt sich nicht zuletzt den zahlreichen Arbeiten von Andreas Gardt, in denen er immer wieder neu, oft unkonventionell bzw. quer zu ,Modethemen‘ der Sprachwissenschaft konstruktivistische wie realisti-

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sche Theorien und Positionen hinterfragt, Wort- und Textbedeutungen nachspürt, kurz: das ,Eigentliche‘ von Sprache, Text und Theorie zu ergründen sucht und dabei zunehmend vermutet, dass sich eine (neo)realistische Position plausibel mit einer konstruktivistischen verbinden lässt. Und er tut dies mit der ihm eigenen Art, die intellektuelle Ernsthaftigkeit mit großer Anschaulichkeit paart. So beschäftigt er sich seit mehr als 15 Jahren mit Fragen wie: Ist die richtige Bezeichnung eine Illusion (Gardt 1999e)? Beeinflußt Sprache unser Denken (Gardt 2001a)? Wie lässt sich das Konzept der „Eigentlichkeit“ im Zentrum barocker Sprachtheorie bestimmen (Gardt 1999d)? Wie verhält sich konstruktivistische Theorie und realistische Praxis (Gardt 2007c)? Ist die Forderung nach Wahrheit im Alltag des Sprechens wirklich sinnvoll (Gardt 2008c)? Und er hat mit diesen Arbeiten dem internationalen Forschungsdiskurs gewichtige, innovative Impulse zu diesem Thema gegeben. Deshalb sei ihm der Band zu seinem 60. Geburtstag am 26.12.2014 gewidmet. Allerdings erschöpft sich das sprachwissenschaftliche Schaffen des Jungsechzigers keineswegs mit dem Eigentlichen. Ja, es war nicht einmal die Sprachwissenschaft, sondern die Anglistik, die er zusammen mit der Germanistik in Mainz, Heidelberg und Cambridge studiert hatte, mit der er seinen akademischen Lebensweg begann. Als Lektor der deutschen Sprache und Literatur in Reading (GB) und einem anschließenden Stipendium des DAAD promovierte er in diesem Fach 1987 zur Frage nach den Möglichkeiten der literarischen Übersetzung am Beispiel James Joyce (Gardt 1989). Das in dieser Dissertation artikulierte Interesse sowohl an Übersetzungstheorien als auch am Text und seinen Bedeutungsstrukturen zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk von Andreas Gardt. Bereits hier begreift er „Textverstehen als Bedeutungsbildung“ (Gardt 1989: 20), die „mehr ist als bloßes Addieren von Einzelbedeutungen“ (Gardt 1989: 25). Die Liebe zu England und zur englischen Kultur ist ihm bis heute geblieben, die anglistische Forschung aber gab Gardt zugunsten der germanistischen Sprachwissenschaft auf, als ihn der Doyen der Heidelberger Sprachwissenschaft, Oskar Reichmann, kurz vor dem Abschluss seiner Dissertation im Jahr 1987 – wie Reichmann gerne sagt – „vom Bau holte“, indem er ihn als wissenschaftlichen Angestellten und Hochschulassistenten einstellte. 1993 habilitierte sich Gardt an der Universität Heidelberg mit einer Arbeit zur Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung (Gardt 1994), die bis heute ein Standardwerk der Sprach(theorie)geschichte ist. Neben seiner nun folgenden Tätigkeit als Hochschuldozent in Heidelberg übernahm er Lehrstuhlvertretungen an verschiedenen Universitäten, bevor ihn 2001 die Universität Kassel als Professor für germanistische Sprachwissenschaft mit einem Schwerpunkt in der Sprachgeschichte berief. Seither lehrt und

8 | Einleitung forscht Andreas Gardt am Institut für Germanistik der Universität Kassel. Unzählige Studierende haben sich von seiner Begeisterung für die Bedeutung von Texten, für sprachliche Transferprozesse, für Sprache, Sprachtheorie und deren Geschichte sowie für die enge Verbindung von Sprache und kultureller bzw. politischer Identität anstecken lassen und sind selbst inzwischen zu sprachwissenschaftlichen Forschern und Forscherinnen geworden. Kollegen und Kolleginnen verdanken ihm anregende und weiterführende interdisziplinäre Gespräche, die in gemeinsamen Lehrveranstaltungen und Forschungsprojekten sowie so manchen Exkursionen vertieft und erweitert wurden. Gastprofessuren und vorträge führten ihn u.a. nach Australien, (Süd)Amerika, Skandinavien und Asien. 2009 nahm ihn die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen als Ordentliches Mitglied der Philologisch-Historischen Klasse in ihre Reihen auf. Aufgrund seiner anerkannten lexikologischen Expertise (u.a. Gardt 1998a, 2001b, 2002b, 2005) ist er dort als stellvertretender Vorsitzender der Leitungskommission für das Deutsche Wörterbuch sowie als Vorsitzender der Leitungskommission für das Goethe-Wörterbuch zuständig. Den in der Promotion und Habilitation gesetzten Themen ist Gardt in diesen Jahren fruchtbaren Lehrens und Forschens treu geblieben. In einer Vielzahl von Aufsätzen, Sammelbänden und Handbüchern werden sie wieder aufgegriffen und produktiv weitergeführt (vgl. zur Sprachgeschichte und -theorie Gardt 1995, 1996, 1998b, 1998b, 1999b, 2003a, 2011a; zum Verhältnis von Sprache, Nation und Identität Gardt 1999c, 2000, 2004a, 2004b, 2007b). Besonders intensiv hat er sich dabei mit der linguistischen Text- und Diskursanalyse beschäftigt (einschließlich ihrer Übergänge zu Rhetorik und Stilistik, z.B. Gardt 2002a, 2003b, 2007a, 2008a, 2008d, 2012a). Bereits in der Dissertation (Gardt 1989) hat er festgestellt, dass alle „Konstituenten des Textes” zur Bedeutungsbildung beitragen und betont, mit ihnen seien nicht etwa nur die einzelnen Wörter gemeint […], sondern all jene inhaltlichen und formalen Elemente, die den Text nach Ansicht eines Lesers als ganz bestimmten Text entstehen lassen. Dazu zählen die Einzelwörter ebenso wie Kombinationen von Einzelwörtern in übergeordneten Einheiten (etwa in Metaphern, in semantischen Vernetzungen über den gesamten Text hinweg, in syntaktischen Formen), wie Rhythmus und Metrum oder Reim uns Assonanz in Gedichten – wie alle Faktoren also, die ein Leser für die Identität des Textes relevant erachtet. (Gardt 1989: 27)

In der Weiterführung dieser Gedanken prägte Gardt mit seinen Arbeiten die Textsemantik. Er entwickelte u.a. ein textsemantisches Analyseraster TexSem, das mögliche Faktoren der Konstitution von Textbedeutung bündelt (s. Gardt 2002a, 2008b, 2012b, u. ö.). Stets betont er dabei die Notwendigkeit eines möglichst holistischen, kulturorientierten Zugriffs auf Texte und ihre Bedeutung

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(vgl. seine dezidierte Positionierung der Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft: u.a. Gardt 1999a, 2003a, 2011b, 2011b). Vor dem Hintergrund einer solch pragmalinguistischen Ausrichtung sprachwissenschaftlicher Analyse ist auch das Anliegen seiner neuesten Forschung zu verstehen: sein Plädoyer für eine phänomenorientierte Sprachwissenschaft (vgl. Gardt demn.). Gerade hier zeigt sich deutlich, wie wenig er ausgetretenen Wegen sprachwissenschaftlicher Forschung folgt und wie sehr ihm Interdisziplinarität kein Lippenbekenntnis, sondern Basis seines gesamten Schaffens ist, richtet er doch auch hier – wie immer – den Blick auf (primär) sprachlich konstituierte Phänomene in ihrer Ganzheit und versucht sie so zu beschreiben, wie sie in der Realität tatsächlich wahrgenommen werden (Gardt demn.). Deshalb muss eine solche Form der Sprachwissenschaft alles in die linguistische Analyse einbeziehen, was dazu dient, individuelle kommunikative Phänomene bestmöglich zu erfassen. Und dazu gehören eben Zeichen nichtsprachlicher Modalität genauso wie Forschungsansätze und -praktiken anderer Disziplinen. Wir, die Herausgeberinnen und der Herausgeber dieses Bandes, wünschen Andreas Gardt für seine neuen Projekte weiterhin die Begeisterung, Leidenschaft und Intellektualität sowie den Mut zum Provokativen und Ungewöhnlichen, die ihn, unseren Lehrer, Kollegen und Freund, seit je auszeichnen und freuen uns, ihn noch viele Jahre fachlich und freundschaftlich begleiten zu dürfen. Und ‚eigentlich‘ führt das zurück zum vorliegenden Sammelband, der – so hoffen wir – nicht nur ihm Anstöße und Ideen zu den Phänomenen der Sprache liefert. Am Entstehen dieses Bandes haben viele mitgewirkt. Unser herzlicher Dank gilt den Autoren und Autorinnen für ihre Beiträge, ohne die es dieses Buch nicht geben würde, dem Verlag De Gruyter für seine Bereitschaft, diesen Band zu publizieren, dem Verlagsmitarbeiter Daniel Gietz für die konstruktive Zusammenarbeit. Die professionelle und sorgfältige Einrichtung des Manuskripts hat Sina Lautenschläger besorgt. Ihr gilt unser ganz besonderer Dank.

Claudia Brinker-von der Heyde, Nina Kalwa, Nina-Maria Klug, Paul Reszke

10 | Einleitung

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I Der Begriff der Eigentlichkeit

Helmut Henne

Vom Eigentlichen und Uneigentlichen || Technische Universität Braunschweig, Institut für Germanistik, Bienroder Weg 80, 38106 Braunschweig, [email protected]

1 Das Eigentliche und die Eigentlichkeit „Das EIGENTLICHE ist ja der heranschleichende – Tod“, schreibt ein Publizist in seinen umstrittenen Tagebüchern (Raddatz 2010: 656). Hier wird das Adjektiv substantiviert und in seine letzte Stellung gebracht. Das Eigentliche ist auch der Titel eines Romans von Iris Hanika (2010), in dem die Erinnerung an die Nazizeit und ihre Untaten, das Leiden an den NS-Verbrechen („das Eigentliche“) das Leben der Nachgeborenen überstrahlt. Das Eigentliche, durch Wortbildung verbunden mit eigentlich, führt also ins Zentrum, und seien es Tod und Verderben. So auch, aber anders gerichtet, in barocker Sprachtheorie. Die eigentliche Sprache entspricht den Dingen, der Natur, die sie in Worte fasst. Das Gebäude einer Sprache ruht, nach Justus Georg Schottelius, in ihren „natürlichen Stammwörteren“. Die Vollkommenheit dieser überschaubaren Zahl von Stammwörtern besteht u.a. darin, „[d]aß sie wollauten / und jhr Ding eigentlich ausdrükken“ (Schottelius 1663: 51). Andreas Gardt fasst diesen Aspekt barocker Sprachtheorie so zusammen: „Eigentlichkeit meint den Zustand der Kongruenz von Sprache und Wirklichkeit“ (1995: 163), dass also die Wirklichkeit wirklich in der Sprache aufgehoben ist. Eigentlichkeit verweist auf das „Eigentlich-Sein“, das im Begriff des „strengen Sinns“ u.a. auch für den Philosophen Schelling belegt ist (Grimm & Grimm 1993: 426). Wie immer das Eigentliche und Eigentlichkeit in Literatur, Philosophie und Sprachphilosophie bestimmt werden, die Benennungen so, wie sie hier vorgeführt werden, haben eine herausgehobene Bedeutung, die sie in gewisser Weise zu Leitvokabeln macht. Wie ist es eigentlich um das zugrundeliegende Adjektiv eigentlich bestellt?

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2 eigentlich und uneigentlich – zur Bedeutungsgeschichte Die Karriere von eigentlich beginnt im Mittelhochdeutschen. Das aus dem Althochdeutschen übernommene Adjektiv eigen erhält ein Suffix: eigenlich, noch im Mittelhochdeutschen einen Dentaleinschub: eigentlich; eigenlich wie eigentlich bedeuten im Mittelhochdeutschen zunächst ‚im Besitz habend, leibeigen, eigen‘: „sîn eigenlîchez kint“ Konrad v. Würzburg (Grimm & Grimm 1862: 102); dann aber auch ‚ausdrücklich, tatsächlich, wirklich, eigentümlich‘: eigenlîch gebot (Lexer 1872: 519). Beide Bedeutungen, die vom Eigentum und die von der Besonderheit (‚eigentümlich, wirklich‘ usw.) begegnen, vielfach differenziert, bis ins 18. Jahrhundert (vgl. Grimm & Grimm 1993: 419–426). Die Bedeutung, die den Besitz aufruft, ist am Ende des 18. Jahrhunderts „im Hochdeutschen längst veraltet“ (Adelung 1774: 1538), wohingegen der zweite Bedeutungsstrang, gleichfalls vielfach differenziert, sich weiter entfaltet. 1 Eine wesentliche Differenzierung ist schon im Frühneuhochdeutschen verzeichnet: die von der eigentlichen Bedeutung als der ‚ursprünglichen‘. Bei Grimm & Grimm (1993: 423) wird ein entsprechender Beleg schon für das Jahr 1546 angeführt; ausdrucksstärker ist aber folgender, 34 Jahre (1580) später: „daß die knaben […] eines jeden worts eigentliche bedeutung […] wohl lernen“ (Grimm & Grimm 1993: 423). Diese Bedeutung entwickelt sich vor allem im Neuhochdeutschen im Sinne von ‚wörtlich, nicht übertragen‘, ja sie wird zu einem Klassifizierungsbegriff instrumentalisiert: Und sie wollen doch wohl nicht behaupten, daß unter verblümten, bilderreichen Worten nothwendig ein schwanker, schiefer Sinn liegen muß? daß niemand richtig und bestimmt denken kann, als wer sich des eigentlichsten, gemeinsten, plattesten Ausdruckes bedienet?

schreibt Lessing 1778 in seinem Anti-Goeze (Grimm & Grimm 1993: 424; hier in der Orthographie der Lessing-Ausgabe von Lachmann & Muncker). Das Zitat aus dem Frühneuhochdeutschen von 1580 legt eine didaktische, Lessings Satz eine polemische Dimension offen. Die Klassifizierung wird von dem Philosophen Christian Wolff ergänzt, der 1720 „so wohl die eigentliche, als uneigentliche bedeutung der wörter“ ins Visier nimmt (Grimm & Grimm 1993: 423). Damit wird eine neue Opposition konstituiert, die aus der semantischen Neubestimmung von uneigentlich folgt. Die Präfixbildung uneigentlich ist sehr früh belegt || 1 Siehe dazu auch den Beitrag von Ulrike Haß in diesem Band.

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(Mönch von Heilsbronn, 14. Jh.; Grimm & Grimm 1936: 457) im Sinne von ‚unbestimmt, unvollkommen‘. Doch auch schon im 14. Jahrhundert (Konrad v. Megenberg) findet sich eine Bedeutung (Grimm & Grimm 1936: 457), die auf ‚übertragen‘ hinweist. Bei Christian Wolff ist dann die Stufe erreicht, die eigentlich und uneigentlich als Klassifizierungsbegriffe gegenüberstellt. Daneben läuft die Bedeutung weiter, die als Negation zu eigentlich im Sinne von ‚wesentlich, wirklich‘ verstanden werden kann; dazu gehören auch uneigentliche Worte (Matthias Kramer 1702: 1396) als ‚unschickliche Worte‘. Zuweilen wird uneigentlich, in adverbialer Funktion, scherzhaft gebraucht, wenn man jemandem, der eigentlich keine Lust verspürt, etwas zu tun, antwortet, er solle es uneigentlich versuchen. Insgesamt ist uneigentlich im täglichen Sprachgebrauch eher selten. Im Folgenden spielen die ‚Eigenbedeutungen‘ von uneigentlich keine Rolle; hingegen wird die Opposition zu eigentlich als Klassifizierungsbegriff in den Blick genommen. Dass nur die „eigentlichsten“ Worte „richtig und bestimmt“ sind und die „bilderreichen“ notwendig einen „schwanken Sinn“ haben, das bestreitet Lessing, nennt sie jedoch noch nicht uneigentlich. Aber er schreibt an den Hauptpastor Goeze 1778: „Ich muß, ich muß entbrennen“ (Lessing 1897: 151) – und damit spielt er wohl auch auf seine uneigentliche Sprechweise an. Adelung erläutert die Opposition am Beispiel von brechen: Die eigentliche Bedeutung sei ‚in Stücke teilen‘. Wo diese wegfalle (Adelung nimmt eine lautmalerische Herkunft des Verbs an), wie z.B. im Sprichwort Not bricht Eisen, liege eine uneigentliche Bedeutung vor (Adelung 1774: 1538). Schon dieses Beispiel verweist, Lessings Passage von der uneigentlichen Rede folgend, auf den Glanz der uneigentlichen Bedeutung.

3 Glanz und Abglanz – uneigentlich Beginnen wir mit einem konkreten Beispiel: Wurzel. Dieses Wort ist im Deutschen seit althochdeutscher Zeit (wurzala) überliefert, entwickelt sich im Mittelhochdeutschen zu wurzel, trägt zunächst die Bedeutung ‚im Boden befindlicher Teil von Pflanzen‘, dann aber, schon im Mittelhochdeutschen, uneigentlich: „wer kann ir [sünden] wurzeln gar durchgründen“ (Lexer 1878: 1013). Und auch die im „mittleren und westlichen Teil Norddeutschlands“ übliche Benennung der Möhre als Wurzel ist schon ein uneigentlicher Gebrauch, benennt sie doch die Pflanze insgesamt (Paul 2002: 1188). Wie viel ‚uneigentlicher‘ sind dann die übertragenen Bedeutungen (schon im Frühneuhochdeutschen), die sowohl auf Konkretes verweisen (Wurzel des Berges) wie auf Abstraktes (Wurzel

20 | Helmut Henne allen Übels), auf Mathematisch-Fachsprachliches (‚Zahl, die einer Potenz zugrundeliegt‘: um 1400 schon quadratwurzel (Paul 2002: 1188)) wie auf sprachwissenschaftliche Terminologie, sowohl in der Bedeutung ‚Stammwort‘ (bei Schottelius) wie ‚nicht mehr zerlegbare, z.T. erschlossene historische Grundform‘ in der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft (Paul 2002: 1188). Welcher Aufstieg der Wurzel von unten nach oben. Sie gelangt schließlich als Benennung eines präzisen Begriffs in die Mathematik und Linguistik. Woher nähmen wir unseren kulturellen und wissenschaftlichen Wortschatz, wenn wir nicht auf die uneigentlichen Bedeutungen zurückgreifen könnten! Ein weiteres Beispiel soll die Fülle und den Mehrwert uneigentlicher Bedeutungen ins Licht setzen – wobei anzumerken ist, dass hier jeweils nur eine prägnante Auswahl geboten wird; Vollständigkeit, mithilfe historischer Wörterbücher erschrieben, würde eine kleine lexikalische Kulturgeschichte am Beispiel erbringen. Satz im Neuhochdeutschen. Das Substantiv mhd. saz, satz leitet sich von ahd. sezzen (dem Kausativum zu sitzen) her und läßt sich auf zwei Grundbedeutungen ‚Tätigkeit des Setzens‘ und ‚das Gesetzte‘ (Drosdowski 1989: 614) zurückführen. Schon im Mittelhochdeutschen entwickelt sich eine Bedeutungsvielfalt, die sich im Neuhochdeutschen in einer Vielzahl uneigentlicher Bedeutungen fortsetzt: vom eleganten Satz, den der Tiger durch den Reifen im Zirkus macht, bis zum schönen Satz eines Buches (druckersprachlich), vom Satz einer grandiosen Sinfonie bis zum überlangen Satz, mit dem Thomas Mann seine Tetralogie Joseph und seine Brüder eröffnet, vom Satz des Pythagoras bis zum Satz, den z.B. gebrühter Kaffee zurücklässt, vom ersten Satz im Tennis bis zum Satz von Einzelteilen, die die Industrie liefert (ein Satz Waren), und zur Anzahl der Jungen (ein Satz Hasen, den die Häsin wirft). Nehmen wir dann noch die Präfixbildungen, die den Satz schmücken und differenzieren können: Ab-, An-, Auf-, Be-, Bei-, Ein-, Ent-, Um-, Unter-, Vor-, Zu-, dann wird über einen Aspekt der Wortbildung deutlich, was Glanz und seine Widerspiegelung, also Abglanz, Fülle und Reichtum uneigentlicher Bedeutungen ausmacht. In diesem Zusammenhang sei noch auf Beispiele von Wortbildungskonstruktionen verwiesen, deren Semantik nur in uneigentlicher Bedeutung vorliegt: kaltschnäuzig, engstirnig und doppelzüngig, und auf solche, die sowohl eigentliche wie uneigentliche Bedeutungen führen: großmäulig, hellhörig. Für die erste Gruppe lassen sich keine Bedeutungen angeben, die aus der Semantik der Konstituenten der Konstruktion wirklich zu erschließen wären. Man spricht in der Wortbildungslehre von der Demotivation der Bedeutung, wozu ein nicht unwesentlicher Teil der Wortbildungen tendiert (Henne 1998: 574). Wer kaltschnäuzig handelt, hat keine ‚kalte Schnauze‘, sondern handelt ‚rücksichtslos, frech, gefühllos‘. Diese Wortbildung, die wohl der Redensart „kalt wie eine

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Hundeschnauze“ folgt, ist die jüngste und erscheint erst spät im Wörterbuch (Götze 1943: 81). Aber sie ist natürlich älter, worauf u.a. das Notat von Kaltschnäuzigkeit von Daniel Sanders verweist, der es der Schrift von Berthold Auerbach Waldfried 1874 entnimmt (Sanders 1885: 457); engstirnig im Sinne von ‚borniert, kurzsichtig‘ ist für 1922 belegt: „engstirnige niederträchtigkeit“ (Grimm & Grimm 1999: 1333); doppelzüngig ist notiert mit der Paraphrase ‚falsch, unaufrichtig‘ und für 1808 belegt: „doppeltzüngige sophisterei“, hier mit auslautendem t (Grimm & Grimm 1983: 1259), aber schon Adelung notiert doppelzüngig: „d.i. der nicht bey einerley Rede bleibt, der sich gern widerspricht“ (Adelung 1774: 1387), wobei er auch auf Friedrich von Logau verweist, der das „Hauptwort“ Doppelzüngler verwende. Neben diesen ‚eigentlich-losen‘ demotivierten Wortbildungen stehen großmäulig und hellhörig, beide mit eigentlichen Vorläufern. Schon im 16. Jahrhundert ist großmäulig notiert im Sinne von ‚mit großem Maul ausgestattet‘, z.B. bei Coler „hausbuch“ um 1600: „der groszmäulichte hecht“ mit dem Suffix –icht statt –ig (Grimm & Grimm 1935: 562); aber bei Gryphius ist die Rede von der „groszmäulichen frau Fama“, und bei Holtei von den „groszmäuligen Berlinern“ (Grimm & Grimm 1935: 562). Die Ableitung hellhörig wird erst von Daniel Sanders 1860 verzeichnet (Sanders 1860: 791). Ausgangspunkt ist die eigentliche Bedeutung ‚fein-, scharfhörig‘, die heute veraltet ist; uneigentlich ist schon das „hellhörige Haus“, das dünne Wände hat und insofern schalldurchlässig ist. Diese Teilbedeutung verzeichnet Sanders, läßt aber die heute dominierende: „Sie wurde hellhörig, als sie die Fakten vernahm“ im Sinne von ‚stutzig werden, Zusammenhänge ahnen‘ aus. Zum Abschluß dieses Kapitels sei auf einen Wörterbuchartikel von Rudolf Hildebrand verwiesen, der im Grimmschen Wörterbuch von 1873 steht (Grimm & Grimm 1873: 2017). Er ist dem Stichwort Kran gewidmet und setzt mit folgender Bedeutungserklärung ein: „1. ein eigenthümliches hebezeug für lasten […]“. Nachdem Hildebrand eine 2. Teilbedeutung ausgemacht hat („an gefäszen, zapfen zum auslassen des flüssigen inhalts […]“, kommt er unter 3. zu folgender überraschenden Feststellung: „kran ist eigentlich der vogel kranich“. Der Lexikograph des historischen Wörterbuchs hat hier also die chronologische Ordnung durchbrochen, die von der eigentlichen (kran ‚kranich‘, lautmalerisch ‚krächzer‘) zur uneigentlichen ‚Vorrichtung (mit schwenkbarem Arm) zum Heben von Lasten‘ (so im Paul 2002: 564) führt, weil die uneigentliche Bedeutung in seinen Augen die eigentliche (im Sinne von ‚essentiell, wesentlich‘) ist. Der historische Lexikograph verlässt die historische Linie und präsentiert seine eigene Ordnung. Im lexikalischen Bedeutungssystem, also in der lexikalischen Ordnung, wird in einer Sprache mit historischer Tiefe das Eigentliche (im Sinne

22 | Helmut Henne von ‚ursprünglich‘) jederzeit überwölbt vom Uneigentlichen, das dann tiefere Bedeutung gewinnen kann.

4 Essenz und Vielfalt – eigentlich Zwar ist in der Bedeutungshierarchie das Uneigentliche dasjenige, das über dem Eigentlichen steht. Aber das Eigentliche ist in dieser Funktion nur ein Klassifizierungsbegriff. Es gibt darüber hinaus eine auch im Sprachgebrauch bedeutsame Eigensemantik von eigentlich (und seiner Substantivierung), die über den Klassifizierungsbegriff, der die Bedeutung der Wörter und Worte ordnet, weit hinausgeht und hier in Ausschnitten dargestellt wird (wir verweisen zugleich auf das Einleitungskapitel und Kapitel 2). In einem Buch eines Wissenschaftlers findet sich folgende Widmung: Für M……., die mich immer wieder daran erinnert hat, daß das eigentliche Leben eigentlich erst jenseits meiner Arbeitszimmer beginnt.

Das eigentliche Leben ist das ‚richtige‘ Leben (könnte man in Vorwegnahme von Kapitel 5 sagen), das wider allen äußeren Anschein irgendwo im Freien liegt: eigentlich ist ein Grundwort, das ins Wesentliche führt. Wir kennen inzwischen die historische Herleitung der Bedeutung von eigentlich (2) aus dem Mittelhochdeutschen. Im Sinne von ‚wesentlich‘ usw. ist, historisch argumentiert, diese Bedeutung eine uneigentliche, weil sie eine erweiterte und zugleich spezifizierte Bedeutung von, veraltet, eigentlich (1) im Sinne von ‚eigen, im Besitz habend‘ ist. Sie unterscheidet sich zudem vom Klassifizierungsbegriff eigentlich (3), der eine Variante von eigentlich (2) ist. Beide Adjektivbedeutungen mit den Indizes 2 und 3 stehen in unterschiedlichen lexikalischen Feldern: eigentlich (2): u.a. wesentlich ‧ essenziell ‧ zentral ‧ tatsächlich ‧ letztlich ‧ wirklich ‧ wahr; eigentlich (3): wörtlich ‧ ursprünglich. Man sieht, dass das letztere, das terminologische Feld eingeschränkt ist – in diesem Bereich ist Variation nur sehr eingegrenzt willkommen. Im Sprachgebrauch hingegen erfreut die Variation. Der attributive Gebrauch, dessen Variantenreichtum hier nicht dargestellt werden kann, hat zudem Verstärkung im adverbialen Gebrauch, schon im Mittelhochdeutschen und Frühneuhochdeutschen, etwa bei Luther, nachweisbar (Grimm & Grimm 1993: 419–426). Die eingangs dieses Kapitels zitierte Widmung gibt ein Beispiel. Solche Adverbiale können, in Variation zur zitierten Widmung, mit ‚im Grunde genommen, in Wirklichkeit‘ para-

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phrasiert werden. Das zusätzliche Satzglied stützt das Attribut, der Satz gewinnt dadurch eine gewisse Wucht. Aber das Adverbial kann auch relativieren, kann auf eine ursprüngliche, aber in Frage zu stellende Absicht aufmerksam machen; z.B. – wie im folgenden Beleg – durch die Herausstellung des Adverbials: „Es sah so aus, als hätte Chávez [der Präsident Venezuelas] seine Nachfolge längst geregelt. Eigentlich.“ (F.A.S. 6.1.2013) Und dann ist eigentlich nicht nur etwas Essenzielles usw., sondern auch eine Partikel, u.a. nicht flektierbar und nicht erfragbar, eine Abtönungspartikel, die dem Kontext eine besondere Tönung, Färbung, Wertung gibt, zuerst 1567 (Grimm & Grimm 1993: 425). Unser Wort steht u.a. in Entscheidungs- und Ergänzungsfragen: „Sage, Baarsch, was hältst du eigentlich von heiraten?“ (Fontane, Schach von Wuthenow, 1, 668); „‚Was bist du eigentlich für ein Mensch?‘ fragte er“ (Böll, Ansichten eines Clowns, 261). Der Sprecher zeigt an, dass er an dem gefragten Inhalt ein echtes, persönliches Interesse hat, es jedoch keinen aktuellen Anlass für die Frage gibt. Überdies kann unsere Partikel in rhetorischen Fragen stehen. Der Sprecher zeigt an, dass er an dem in Frage stehenden Problem gleichfalls ein persönliches Interesse hat, den in der Frage beschriebenen Inhalt aber für völlig unbegründet hält: „Wer hatte eigentlich das Recht, dich so als geistigen und körperlichen Kretin so hier hinzustellen: so! – ?“ (Raabe, Stopfkuchen 18, 133).2 Die Semantik von eigentlich erstreckt sich vom Adjektiv, auch in adverbialer Funktion, bis hin zur Abtönungspartikel; sie wurde hier in den Grundzügen dargestellt, die Bedeutungsvielfalt angesprochen (vgl. auch Schmitz & Schröder 2004: 87–96); auf die Präfixbildung mit un-, die Substantivierung, auch der Präfixbildung, jeweils ohne oder mit dem Suffix –keit, und die Fähigkeit zur Terminologiebildung wurde eingegangen. Das letzte Kapitel sei diesem terminologischen Problem gewidmet – wäre ein Wunder, wenn sich nicht auch die Philosophie der Moderne des Eigentlichen und der Eigentlichkeit erinnerte. Insgesamt darf man vermerken: Es liegt ein bemerkenswerter lexikalischer Aufstieg aus dem Mittelalter ins Neuhochdeutsche und ein exemplarischer Fall für die Entwicklung einer Kultursprache vor.

|| 2 Die Darstellung nach Paul 2002: 251. (Die Bearbeitung dieses Artikels hatte Armin Burkhardt übernommen.)

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5 Eine philosophische Kontroverse Im Jahr 1964 erscheint in der edition suhrkamp eine Streitschrift von Theodor W. Adorno unter dem Titel Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie. Auf der zweiten Seite des Büchleins fällt schon der Name Martin Heidegger und der Titel seines Werks Sein und Zeit, das zentral in der Kritik steht. Worum geht es? In diesem Werk, publiziert 1927, schreibt Heidegger: „Die beiden Seinsmodi der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit – diese Ausdrücke sind im strengen Wortsinne terminologisch gewählt – gründen darin, daß Dasein überhaupt durch Jemeinigkeit bestimmt ist“ (Heidegger 1977: 42–43). Da Dasein als Existenz, nach Heidegger, „je meines“ („ich bin“, „du bist“) ist, spricht er von „Jemeinigkeit“ (Heidegger 1977: 42–43). „(D)ieses Seiende [kann] in seinem Sinn sich selbst ‚wählen‘, gewinnen, es kann sich verlieren, bzw. nie und nur ‚scheinbar‘ gewinnen“ (Heidegger 1977: 42). Ersteres begreift Heidegger unter dem Terminus Eigentlichkeit, letzteres, „eine Seinsart, in die das Dasein sich verlegen kann“ (Heidegger 1977: 259), unter Uneigentlichkeit. Diese Begriffe werden intensiv im philosophischen Kontext diskutiert (vgl. zuletzt Keiling 2013); Adorno hingegen zieht eine polemische Diskussion vor. Er betreibt in seiner Schrift Ideologiekritik in Form von Sprachkritik und nimmt dabei besonders Heidegger ins Visier: Wie Heidegger in dem Werk [„Sein und Zeit“] Eigentlichkeit schlechthin, existentialontologisch, als fachphilosophisches Stichwort einführte, so hat er energisch in Philosophie gegossen, wofür die Eigentlichen minder theoretisch eifern, und dadurch alle gewonnen, die auf jene vag ansprechen. (Adorno 1964: 8; vgl. auch Mörchen 1981: 46–47)

„Die Eigentlichen“ sind für Adorno ein exemplarischer Fall und besonders anfällig für „Vagheit“ der Philosophie, die mit deutschen (indigenen) Wörtern spiele und sie als „etwas“ ausgebe, das aber wenig oder nichts bedeute. „Der Jargon […] operiert Eigentlichkeit, oder ihr Gegenteil, aus jedem […] einsichtigen Zusammenhang heraus.“ (Adorno 1964: 10) In seinem Beitrag „Wörter aus der Fremde“ schreibt Adorno, die Terminologie, die auf Fremdwörter zurückgreife, vernichte den Schein der Naturwüchsigkeit in der geschichtlichen Sprache und darum neigt die restaurative ontologische Philosophie, die ihre Worte als absolutes Sein unterschieben möchte, in besonderem Maß dazu, die Fremdwörter auszumerzen. (Adorno 1961: 116)

Die dem Schein nach naturwüchsigen Wörter nehmen nach Adorno „einen Anspruch der Identität von Rede und Gegenstand [an], der doch durch das allgemeinbegriffliche Wesen jeglicher Rede widerlegt wird“, während in Fremd-

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wörtern der „Sprengstoff von Aufklärung“ stecke (Adorno 1961: 116), weil sie Distanz schafften. Er fällt das Urteil: „Der Jargon der Eigentlichkeit ist Ideologie als Sprache, unter Absehung von allem besonderen Inhalt“ (Adorno 1964: 132). Heidegger dagegen setzt auf ein Vorverständnis indigener Wörter, die er übernimmt, an ihre ursprüngliche Bedeutung (hier: eigen) heranführt und in seine Argumentation definitorisch einfasst (Eigentlichkeit, Uneigentlichkeit) oder sie auch prägt (Jemeinigkeit). Adorno verruft diese – wie er es nennt – „naturwüchsige“ Attitüde als solche und erklärt sie zum Jargon, der verführe. Er setzt auf fremde Wörter, die Reflexion voraussetzen und zu ihr führen und, aus seiner Sicht, Aufklärung schaffen. „Mit Worten läßt sich trefflich streiten“ – eigentlich geht es hier um mehr: den philosophischen Zugriff auf die Wirklichkeit, der Einsicht, Wissen und Aufklärung vermittelt. Aber den „Worten“ ist nicht so leicht zu entkommen. Adorno hatte – „freilich bereits mit Vorsicht“ – eigentlich und uneigentlich als in „anderer Konstellation“ verwendbar bezeichnet (Adorno 1964: 10). Und so schreibt er selbst an prominenter Stelle der Minima Moralia (1951: 7; der Hinweis von Mörchen 1981: 49): Die traurige Wissenschaft, aus der ich meinem Freunde einiges darbiete, bezieht sich auf einen Bereich, der für undenkliche Zeiten als der eigentliche der Philosophie galt, […]: die Lehre vom richtigen Leben.

6 Literatur [Adelung, Johann Christoph] 1774: Versuch eines vollständigen grammatisch=kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart […] Erster Theil […]. Leipzig: Breitkopf und Sohn. Adorno, T.W. (1951): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Berlin, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (1961): Wörter aus der Fremde. In: Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur II. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 110–130. Adorno, Theodor W. (1964): Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Drosdowski, Günther (1989): Duden. Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. Mannheim u.a.: Dudenverlag. Gardt, Andreas (1995): Das Konzept der Eigentlichkeit im Zentrum barocker Sprachtheorie. In: Andreas Gardt, Klaus J. Mattheier & Oskar Reichmann (Hrsg.): Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen. Gegenstände, Methoden, Theorien. Tübingen: Niemeyer, 145–167. Götze, Alfred (Hrsg.) (1943): Trübners Deutsches Wörterbuch. Bd. 4. Berlin: de Gruyter. Grimm, Jacob & Wilhelm Grimm (1862): Deutsches Wörterbuch . Bd. 3. Leipzig: S. Hirzel. Grimm, Jacob & Wilhelm Grimm (1873): Deutsches Wörterbuch. Bd. 5. Leipzig: S. Hirzel.

26 | Helmut Henne Grimm, Jacob & Wilhelm Grimm (1935): Deutsches Wörterbuch. Bd. 4.I.6. Leipzig: S. Hirzel. Grimm, Jacob & Wilhelm Grimm (1936): Deutsches Wörterbuch. Bd. 11.3. Leipzig: S. Hirzel. Grimm, Jacob & Wilhelm Grimm (1983): Deutsches Wörterbuch. Neubearbeitung. Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR in Zusammenarbeit mit der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 6. Leipzig: S. Hirzel. Grimm, Jacob & Wilhelm Grimm (1993): Deutsches Wörterbuch. Neubearbeitung. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 7. Stuttgart, Leipzig: S. Hirzel Grimm, Jacob & Wilhelm Grimm (1999): Deutsches Wörterbuch. Neubearbeitung. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 8. Stuttgart: S. Hirzel. Hanika, Iris (2010): Das Eigentliche. Roman. Graz, Wien: Droschl. Heidegger, Martin (1977): Sein und Zeit. 14., durchgesehene Aufl. […] Tübingen: Niemeyer. Henne, Helmut (1998): Wort und Wortschatz. In: Duden. Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. 6., neu bearbeitete Aufl. Hrsg. von der Dudenredaktion. Mannheim u.a.: Dudenverlag, 557–608. Keiling, Tobias (Hrsg.) (2013): Heideggers Marburger Zeit. Themen, Argumente, Konstellationen. Frankfurt am Main: Klostermann. Kramer, Matthias (1702): Das herrlich-Grosse Teutsch-Italiänische Dictionarium […] Anderer Theil. […] Nürnberg: Johann Andreä Endters Sel. Söhne. Lessing, Gotthold Ephraim (1897): Anti-Goeze. In: Sämtliche Schriften. Hrsg. von Karl Lachmann. 3. […] Aufl. besorgt durch Franz Muncker. Bd. 13. Leipzig: Göschen, 139–213. Lexer, Matthias (1872): Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Bd. 1. Leipzig: S. Hirzel. Lexer, Matthias (1878): Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Bd. 3. Leipzig: S. Hirzel. Mörchen, Hermann (1981): Adorno und Heidegger. Untersuchung einer Kommunikationsverweigerung. Stuttgart: Klett. Paul, Hermann (2002): Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes. 10., überarbeitete u. erweiterte Aufl. von Helmut Henne, Heidrun Kämper u. Georg Objartel. Tübingen: Niemeyer. Raddatz, Fritz J. (2010): Tagebücher. Jahre 1982–2001. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Sanders, Daniel (1860): Wörterbuch der Deutschen Sprache. Mit Belegen von Luther bis auf die Gegenwart. Bd. 1. Leipzig: Otto Wigand. Sanders, Daniel (1885): Ergänzungs-Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin: Abenheim’sche Verlagsbuchhandlung (G. Joël). Schmitz, Hans Christian & Bernhard Schröder (2004): Updates with „eigentlich“. In: Sprache und Datenverarbeitung. Heft 1, 87–96. Schottelius, Justus Georg (1663): Ausführliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache […] Braunschweig: Christoff Friederich Zilliger.

Ulrike Haß

Das ‚Eigentliche‘ als Prinzip der Wissenskonstitution Deutschsprachige Enzyklopädien des 18. bis 21. Jahrhunderts || Universität Duisburg-Essen, Geisteswissenschaften, Germanistik/Linguistik, Universitätsstraße 12, 45117 Essen, [email protected]

Geburts=Tag, die alten pflegten nicht allein ihre eigene, sondern auch ihrer Götter, Kayser und sonst vornehmer Herren Geburts=Tage zu begehen. An ihrem eigenen Geburts=Tag verehrten sie ihren Genium, und opferten ihm früh morgens etwas Wein, Weyrauch und Cräntze. Daß es dabey lustig hergegangen, und man seine gute Freunde tractiret, solches ist nicht nöthig weitläufftig zu erinnern. (Zedlers Universal=Lexicon, Band 10, 1735, s.v. Geburtstag)

Man schaut gewöhnlich in einem enzyklopädischen Lexikon nach, wenn man wissen möchte, was eigentlich ein genetischer Fingerabdruck ist, wie Madonna eigentlich heißt, woraus eigentlich Seife besteht – oder welche Rolle eigentlich Sprache in der Wissenskodifikation spielt. Offensichtlich gibt es eine Affinität zwischen wissensdarstellenden Texten und bestimmten lexikalischen Mitteln wie eigentlich. Nachfolgend soll eine auf das Adjektiv eigentlich begrenzte exemplarische Untersuchung in einer zentralen, aber wenig beforschten Textgattung, dem enzyklopädischen Lexikon 1 vorgenommen werden. An dieser Gattung interessieren die sprachliche Konstruktion gesellschaftlich relevant gesetzter Informationen und die daraus resultierende Konzeptualisierung kollektiven Wissens. Welche Rolle spielen hierbei rekurrente sprachliche Mittel wie das in enzyklopädischen Werken überaus häufige eigentlich? Ich gehe davon aus, dass entgegen der Textsortenerwartung auch Lexikontexte durch ihre Sprache bestimmte Perspektiven auf ihre Themen anlegen und andere ausschließen. Aber stärker als in anderen Textgattungen wird in ihnen die Illusion bewahrt, über Dinge an und für sich zu informieren, das Primat der Dinge gegenüber der Sprache zu behaupten. Lexikontexte sind so gesehen auf eine Spielart der Sprache angewiesen, die ihre sprachliche Verfasstheit implizit || 1 Enzyklopädie, Lexikon, Sachlexikon werden nachfolgend synonym gebraucht.

28 | Ulrike Haß leugnet. Ein Lexem wie eigentlich verspricht, hinter der Oberfläche der Dinge ihr wahres Wesen sichtbar zu machen. Die Analyse eines exemplarisch herausgegriffenen sprachlichen Ausdrucks wie eigentlich setzt idealerweise voraus, dass Enzyklopädien wie (Sprach-) Wörterbücher strukturell und pragmatisch eingehend beschrieben sind. Dies ist bisher kaum der Fall; lediglich einige geschichts- oder allgemeine kulturwissenschaftliche Ansätze liegen vor (vgl. zuletzt Schneider 2013). Linguisten haben sich mit der Textsorte, die in ihrer Relevanz dem Massenmedium Presse kaum noch nachsteht, noch nicht befasst. 2 Daher fehlen eine Typologie enzyklopädischer Artikel, eine makro-, mikro- wie mediostrukturelle Beschreibung, eine Klassifikation enzyklopädischer Angabearten in Analogie zu lexikografischen Informations- oder Angabearten und die Herausarbeitung enzyklopädiespezifischer Texthandlungen. Entsprechend muss in dieser Arbeit auf eine Inbeziehungsetzung einzelner Ausdrücke wie eigentlich zu diesen Textsortenmerkmalen noch weitgehend verzichtet werden. Die Recherche macht aber unmittelbar evident, dass es u.a. die enzyklopädischen Artikeltypen ‚Personenartikel‘, ‚Artikel zu geografischem Gegenstand‘, ‚Artikel zu einer Epoche‘, ‚Artikel zu einer Disziplin‘ und weitere gibt, die jeweils charakteristische Artikelstrukturen mit standardisierten Angabearten aufweisen.

1 Forschungsstand zu eigentlich eigentlich gehört im Rahmen der Partikel-Forschung zu den semantisch wie pragmatisch komplexen und deshalb bestuntersuchten Lexemen. 3 Das Adjektiv, das  attributiv (z.B. das eigentliche Stadtgebiet Venedigs, sein eigentlicher Name) und  adverbial (z.B. sein Name lautet eigentlich X; X dient eigentlich zu Y),  nicht aber prädikativ (*X ist eigentlich) verwendet werden kann, gilt hingegen als eher unproblematisch und wenig interessant. Klar ist immerhin, dass die Partikel eigentlich eher der konzeptionellen Mündlichkeit zugehört und somit in enzyklopädischen Texten nicht zu erwarten ist.

|| 2 Ausnahme ist die Wikipedia, vgl. Cölfen (2011). 3 Meibauer (1994: 88–94) fasst diese Diskussion zusammen. Vgl. auch Horstkamp 2013.

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Die Semantik des Adjektivs eigentlich wird uneinheitlich beschrieben; die Angaben im Online-Duden zeigen die Schwierigkeiten, semantisch zwischen Adjektiv und Adverb (1) zu unterscheiden:  eigentlich (Adjektiv): „einer Sache in Wahrheit zugrunde liegend; tatsächlich, wirklich“ mit u.a. den Beispielen „der eigentliche Zweck war folgender, ihr eigentlicher (richtiger) Name lautet anders, die eigentliche (wirkliche, ursprüngliche, wörtliche, nicht übertragene) Bedeutung eines Wortes“.  eigentlich (Adverb): „(a) in Wirklichkeit (im Unterschied zum äußeren Anschein)“ mit u.a. dem Beispiel „er heißt eigentlich Meyer“; (b) „im Grunde, genau genommen; an und für sich“ mit u.a. dem Beispiel „eigentlich hast du recht“; (c) kennzeichnet einen meist halbherzigen, nicht überzeugenden Einwand, weist auf eine ursprüngliche, aber schon aufgegebene Absicht hin“ mit u.a. dem Beispiel „ich habe eigentlich keine Zeit“; (Duden online (26.8.2013)) Mit Schmitz & Schröder (2004) betrachte ich die Bedeutung des Adjektivs und die des Adverbs (a) als weitestgehend identisch, weil Sätze mit Attribut (sein eigentlicher Name ist Meyer) immer in Sätze mit Modaladverb (er heißt eigentlich Meyer) umgeformt werden können. Nur in den Beispielen des Duden-Eintrags zum Adjektiv zeigt sich, dass der Gebrauch von eigentlich, so wie er von Gardt (1995 und öfter) für weite Bereiche der sprachreflexiven Tradition beschrieben worden ist, nämlich als Markierung eines Worts bzw. Wortgebrauchs als nah an der bezeichneten Sache, auch im heutigen Bildungsdeutsch noch üblich ist. Noch Adelung (1808, s.v. eigentlich, s.v. uneigentlich) stellt den eigentlichen Wortsinn dem uneigentlichen oder figürlichen bzw. übertragenen explizit gegenüber, wohingegen Sanders (1860– 1865; Sanders 1885, jeweils s. v. eigentlich) den Schwerpunkt der Bedeutungserläuterung von eigentlich bereits auf das Wahre, Wesentliche verschoben dokumentiert. 4

|| 4 Siehe dazu im Einzelnen auch die Beiträge von Helmut Henne und Thorsten Roelcke in diesem Band.

30 | Ulrike Haß

2 Zum Vorgehen Ziel der nachfolgenden Untersuchung ist es, eine differenzierte, funktionalsemantische Klassifikation von eigentlich in zentralen enzyklopädischen Texten des 18., 19. und 21. Jahrhunderts zu erstellen, um daran anschließend die Frage nach den Wissenskonstruktionen zu klären, die mittels der gefundenen Klassen realisiert werden. Folgende Enzyklopädien liegen digital vor und konnten korpuslinguistisch untersucht werden: Zedlers Universal-Lexicon (1732–1754), das Brockhaus Konversationslexikon (1894–1896), Meyer‘s Konversations-Lexikon (1885–1892) und der Brockhaus online (2013). 5 Zuletzt wurde die deutschsprachige Wikipedia mit dem gesamten Artikelbestand vom 29.10.2011 untersucht, die als Bestandteil des Deutschen Referenzkorpus des IDS Mannheim linguistisch besonders gut zugänglich ist. In jedem der Lexika wurde flektiertes wie unflektiertes eigentlich mit Trefferzahlen im mittleren vierstelligen Bereich, in der Wikipedia im fünfstelligen Bereich ermittelt. Aus jedem Lexikon wurden umfangreiche Stichproben aus allen Alphabetstrecken, allen Artikeltypen, allen inhaltlichen ‚Kategorien‘ bzw. Sachgebieten (soweit vorhanden) ermittelt. Vergleichende Quantifizierungen sind aber aufgrund der sehr unterschiedlichen digitalen Aufbereitung und Suchfunktionen sowie der unbekannten absoluten Textumfänge gemessen in der Zahl der Tokens nicht möglich. Die Wikipedia ist auch die einzige Quelle, in der eigentlich einer systematischen Kookkurrenzanalyse unterzogen werden konnte. Die Textumgebungen von eigentlich in den übrigen Lexika wurden mittels des klassischen Belegsammelverfahrens ermittelt.

3 eigentlich in enzyklopädischen Texten seit dem 18. Jahrhundert Über alle untersuchten Lexika hinweg zeigen sich drei Gebrauchsweisen, die sich feiner differenzieren lassen:  eigentlich im rhetorischen Sinne zur Bezugnahme auf eine Wortbedeutung in Abgrenzung zu figürlich bzw. übertragen,  eigentlich im Sinne von ‚wahr‘, ‚wirklich‘, ‚rein‘, ‚echt‘,

|| 5 Alle Beispielbelege aus letzterem sind zuletzt am 31.8.2013 eingesehen worden.

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eigentlich zur Markierung bzw. Konstruktion eines prototypischen Konzepts.

In Abschnitt 4 werden einige frequente Mehrwort-Konstruktionen mit eigentlich präsentiert und auf ihren Beitrag zur Wissenskonstruktion hin untersucht; aus methodischen Gründen wird hierbei der Fokus auf der Wikipedia liegen.

3.1 Rhetorisches eigentlich in Abgrenzung von figürlich bzw. übertragen Den Ausgangspunkt der enzyklopädischen Funktion von eigentlich bildet die rhetorische Unterscheidung zwischen eigentlicher und uneigentlicher Wortbedeutung, wie sie sich typisch in folgenden Beispielen zeigt: TOPARCHA, bedeutet nach seinem eigentlichen 6 und innern Wort=Verstande nichts anders, als den Vornehmsten an einem Orte, oder einen Territorial=Herrn, die Landes=Herrschafft, oder die hohe Landes=Obrigkeit, (Zedler 1732–1754, s.v. Toparcha) Hong-kong: […] Hongkong, eigentlich Hiang-Kiang (Heung-kong, „duftender Hafen“). 1) Insel an der Südküste Chinas, (Brockhaus 1894–1896., s.v. Hong-kong) Frühschoppen ist in der eigentlichen Bedeutung die Bezeichnung für einen tageszeitlich frühen Genuss eines Schoppens. (Wikipedia, s.v. Frühschoppen, zit. nach https://cosmas2.ids-mannheim.de/) 7

Über alle untersuchten Lexika hinweg wird eigentlich immer wieder in Kontrastierung zu uneigentlich verwendet; die Kollokation thematisiert in aller Regel Wortsemantisches. Für die Lexikon-Autoren fällt die rhetorische Bedeutung eines Worts im Laufe der Zeit immer mehr mit der etymologischen zusammen. Am häufigsten ist dies in Artikeln zu entlehnten Stichwörtern, wo die eigentliche, d.h. die unverschobene Bedeutung mit der Herkunftsbedeutung zusammenfällt. Es geht bei der Textsorte Lexikon auch nicht um Effekte der Redekunst; es geht auch nur ausnahmsweise, etwa bei Artikeln zu grammatischen oder sprachwissenschaftlichen Themen und ihren griechisch-lateinischen Be-

|| 6 In sämtlichen Beispielbelegen des Beitrags sind Hervorhebungen mittels Fettdruck von mir, UH. 7 Die Wikipedia wird nachfolgend nach der Internet-Adresse des DEREKO (https://cosmas2. ids-mannheim.de/cosmas2-web), auf dem Stand vom 31.8.2013 zitiert; wird Wikipedia ausnahmsweise mit Artikelstichwort und Internet-Adresse zitiert, handelt es sich um einen Beleg direkt aus der Internet-Enzyklopädie auf dem Stand vom 31.8.2013.

32 | Ulrike Haß zeichnungen, um Wortsemantik und Sprachreflexion, 8 sondern es geht um die Konstituierung eines zentralen Elements der Sachinformation: Das Verständnis einer Sache wird in Enzyklopädien fast schon regelhaft eingeleitet und angebahnt durch Angabe der (vermeintlichen) Ursprungsbedeutung. Bei Zedler ist die rhetorisch-etymologische Gebrauchsweise von eigentlich die dominante; das Wort wird in diesem Zusammenhang sehr oft zusammen mit Verba Dicendi (reden, heißen, so genannt, nennen, reden, Wort usw.) und auch in Abgrenzung zu uneigentlich oder figürlich gebraucht, z.B.: Balsamum […] Teutsch Balsam Dieses Wort hat unterschiedene Bedeutungen, und wird bald in eigentlichen, bald in figürlichen Verstande genommen. Eigentlich wird der Safft eines gewissen in Arabien wachsenden Baums darunter verstanden […] Ferner werden einige künstlich zubereitete Artzneyen mit diesen Namen benennet (Zedler 1732–1754, s.v. Balsamum)

Über die Lexika aller Jahrhunderte hinweg erweist sich die europäische, inzwischen auch globale Vielsprachigkeit als Auslöser und Motor der Suche nach der frühesten Sprach- oder auch Schriftvariante eines Stichworts und dessen Bedeutung. Usuell wird diese Gebrauchsweise durch die Menge von Personenartikeln in Enzyklopädien, die oft mit einer Vielzahl von Namensvarianten (z.B. Carolus Magnus, Charlemagne, Karl der Große usw., aber auch Pseudonymen, Namenskürzungen und Ordensnamen) konfrontiert, weil enzyklopädisch relevante Personen häufig übernational bekannt waren, z.B.: Urban: U. II., geboren zu Lagery bei Châtillon sur Marne, hieß eigentlich Eudes (Odo) (Meyer’s 1885–1892, s.v. Urban) Afrika Bambaataa, eigentlich Kevin Donovan, amerikanischer Hip-Hop-Musiker, (Brockhaus online, s.v. Afrika Bambaataa) Marlene Dietrich […] eigentlich Marie Magdalene Dietrich (Wikipedia, s.v. Marlene Dietrich)

Lexikonautoren versuchen stets, eine Reihenfolge in überlieferte oder bekannte Varianten zu bringen, und eigentlich dient ihnen dabei zur Markierung der ältesten Variante; eigentlich ist dann mit ursprünglich synonym. Anders als ursprünglich kann aber eigentlich in Verbindung mit der zweiten zentralen Gebrauchsweise des Worts (s.u.) zugleich eine Höherbewertung des Älteren zum Ausdruck bringen.

|| 8 Artikel zu sprachreflexiven Bezeichnungen lasse ich in dieser Untersuchung generell außen vor, weil sie in enzyklopädischer Sicht einen Sonderfall darstellen.

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Herausforderungen durch Vielsprachigkeit des Materials beschränkten sich aber nicht auf Namen. V.a. Zedlers Autoren hatten immer wieder nichtdeutschsprachige Quellentexte zur Grundlage ihrer deutschen Erläuterungen zu machen, wie dieses Beispiel zeigt: Baal-Zephon, ein Ort in Egypten […] denn Pharao würde sagen: Sie sind verirret im Lande […] Exod. XIV. 1-9. Welches letztere nach dem Grund=Text eigentlich so viel heisset: Sie sind gantz niedergeschlagen und zweifelhaftig […] und nach denen 70. Dollmetschern heißt es, […] (Zedler 1732–1754, s.v. Baal-Zephon)

Die von den Lexikon-Autoren selbst geleisteten oder zitierten Übersetzungen und inhaltlichen Übertragungen sind den Artikeln im Zedler viel deutlicher eingeschrieben als in den Enzyklopädien des 19. und 21. Jahrhunderts. Während die Enzyklopädien des späten 19. Jahrhunderts Übersetzungen und ihren Sinn selten thematisieren, wird die vielsprachige Basis vieler Sachinformationen in der Wikipedia wieder erkennbarer. Wie man weiß, werden deutschsprachige Artikel oft aus englischen oder anderen nationalen Wikipedias heraus entwickelt, ohne dass dies genau nachgewiesen würde. Bei der enzyklopädischen Verarbeitung mehrsprachiger Materialien spielt das rhetorisch-etymologische eigentlich auch in der Wikipedia noch eine wichtige Rolle, z.B. Die Jules Verne Trophy (frz. eigentlich: Trophée Jules Verne) […] (Wikipedia, s.v. Jules Verne Trophy)

In der Wikipedia kolloziert eigentlich daher oft mit Bezeichnungen bzw. Abkürzungen für Sprachen wie frz., griech., russ., engl., lat. usw.; ein Verbum dicendi ist elliptisch mitzulesen. Die Vielsprachigkeit hat sich im 21. Jahrhundert auf andere Sprachen verlagert, aber das Erläuterungsprinzip, wonach das Original zitiert und seine Bedeutung mithilfe von eigentlich transparent gemacht werden muss, ist geblieben. Brockhaus online beschränkt fremdsprachliche Verweise auf die klassische Form der etymologischen Herkunftsangabe und gebraucht eigentlich systematisch zur Angabe der Bedeutung des Etymons. Artikel wie die folgenden 9 sind hier so zahlreich, dass man den Eindruck gewinnt, es sei ein Fremdwörterbuch in die Enzyklopädie integriert worden: indifferent [lateinisch, eigentlich »keinen Unterschied habend«], allgemein: unbestimmt; gleichgültig, teilnahmslos, unentschieden.

|| 9 Es werden im folgenden Block die ungekürzten, vollständigen Artikel zitiert.

34 | Ulrike Haß Facelifting (Marketing) Facelifting [ˈfeɪslɪftɪŋ; englisch, eigentlich »Gesichtshebung«] das, -s/-s, Marketing: Veränderung einzelner, meist äußerlicher Merkmale von Produkten (v. a. Farbe, Form, Oberfläche) ohne Veränderung von Konstruktions- oder Funktionseigenschaften, um den Absatz mit relativ geringem Aufwand insbesondere in den letzten Phasen des Produktlebenszyklus zu erhöhen.

Die in der Lexikontradition ungebrochene Usualität der rhetorisch-etymologischen Gebrauchsweise von eigentlich legte das Fundament für seine Produktivität, die sich als eine Reihe von Übertragungen und Verschiebungen auf Bereiche jenseits der Sprache ausmachen lässt. Dies scheint besonders für die Wikipedia zuzutreffen, wo eigentlich genutzt wird, um in einer Menge von Intentionen und Motiven, Zielen und Funktionen, Themen und Inhalten eine Gewichtung vorzunehmen und etwas vom Lexikon-Autor Ausgewähltes als das in dem Zusammenhang Relevanteste zu behaupten, z.B.: Die Umspielung des Tons C (Motiv b) weist dann auf die eigentlich vom Komponisten beabsichtigte musikalische Konnotation (Andalusien, jahrhundertelang eine Provinz des Kalifats und Heimat des Flamenco). (Wikipedia)

Die selektiv Relevanz setzende und erzeugende Gebrauchsweise von eigentlich lässt sich an folgenden in der Wikipedia statistisch signifikanten Kollokatoren festmachen: beabsichtigt, Bestimmung, Zweckbestimmung, Intention, Nutzsignal, Pumpenmechanismus, Aufgabe, Angriffsziel, Spielziel, Filmhandlung, Haupthandlung, Bildinhalt, Thema, Bildthema, Text, Machtzentrum, Herrscher, Gründungsdatum, Veröffentlichungstermin, Ausgangspunkt, Schluss, Laichakt, Krönungsakt, Paarungsakt, u.a.m.

Die Wikipedia-Autoren behaupten mit solchen eigentlich-Formulierungen implizit, zu wissen und für die Rezipienten zu entscheiden, was die ursprüngliche und deshalb wichtigste Absicht, das wichtigste Thema, der wichtigste Aspekt usw. von etwas sei. Es ist hier nicht die Frage, ob solche Setzungen im konkreten Fall nicht tatsächlich plausibel oder mehrheitsfähig sind, sondern dass eine Relevanz-Setzung meist unreflektiert mitbehauptet wird und alternativlos dasteht. Die Alternativlosigkeit wird durch die nicht gerade seltenen Polarisierungen zwischen eigentlich und sekundär oder fälschlich(erweise) unterstützt; das Eigentliche ist dann das Primäre und Richtige, z.B.: Diese werden häufig fälschlicherweise als Datenbankdateisysteme oder SQL-Dateisysteme bezeichnet, hierbei handelt es sich eigentlich nicht um Dateisysteme, sondern um Informationen eines Dateisystems. (Wikipedia) Daher spielte das leere Grab in der urchristlichen Verkündigung keine primäre Rolle. Es war nur eine sekundäre Bestätigung für die eigentliche Osterbotschaft. (Wikipedia)

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Offensichtlich gehört es seit jeher zu den Textsortenmerkmalen eines Lexikons, dass das Relevante in der Masse des Wissbaren und dass die plausible Auffassung von etwas markiert werden. Bei Zedler sind Relevanz-Setzungen noch eher selten; seine Autoren bedauern gelegentlich, das Relevante nicht angeben zu können oder etwas „eigentlich“ nicht zu wissen. Die Enzyklopädien des 19. Jahrhunderts, Brockhaus und Meyer’s, zeigen die Relevanz setzende Gebrauchsweise nur gelegentlich, z.B.: Die Hauptaufgabe bleibt immer, aus wirtschaftlichen wie aus socialen Gründen, die rechtlichen Beziehungen der eigentlichen Träger der Landeskultur, der mittlern und großen Pächter, zu dem von ihnen bebauten Boden befriedigend zu gestalten. (Brockhaus 1894– 1896, s.v. Agrarfrage)

Eine gezielte vergleichende Recherche in Brockhaus online bestätigt, dass das Relevanz setzende eigentlich eine Wikipedia-Besonderheit darstellt. Im Brockhaus online sind o.g. Kollokationen (beabsichtigt usw.) fast nicht zu finden. Einer der sehr seltenen gefundenen Fälle zeigt dann, dass die Setzung dem Lexikon-Autor als solche bewusst ist; er relativiert sie durch ein Verbum sentiendi und durch Modalisierung: Die Gleichzeitigkeit von bewusster Vergewisserung über die Möglichkeiten und Grenzen vorhandener Tradition und die Erfahrung ihrer Begründungsbedürftigkeit […] können dabei als das eigentlich Moderne der Traditionsdiskussion des 18. Jahrhunderts gesehen werden. (Brockhaus online, s.v. Tradition)

Es sei noch ergänzt, dass die Relevanz setzende Gebrauchsweise von eigentlich in der Wikipedia auffällig oft in Inhaltsangaben von Büchern, Filmen, Musikstücken begegnet und dort dem wissenschaftlich obsoleten Ziel, die ‚eigentliche‘ Intention des Künstlers festzustellen, zugeordnet ist. Die rhetorisch-etymologische Gebrauchsweise von eigentlich tendiert, wie gezeigt, in bestimmten Kontexten einerseits zur Synonymie mit ‚wahr‘, ‚rein‘ und ‚echt‘, andererseits tendiert es in anderen Kontexten dazu, einen Prototypen zu konzeptualisieren.

3.2 eigentlich im Sinne von ‚wahr‘, ‚wirklich‘, ‚rein‘, ‚echt‘ An der Gegenüberstellung der Synonyme eigentlich und ursprünglich wurde bereits deutlich, dass die Bedeutung von eigentlich weit über den zeitlichen und den Entstehungs-Aspekt hinausgeht und dass schon in der rhetorischetymologischen Gebrauchsweise oftmals eine Bewertung mitausgedrückt ist. In

36 | Ulrike Haß diesem Abschnitt sollen solche Verwendungen von eigentlich betrachtet werden, in denen der zeitliche Aspekt weit in den Hintergrund und die Höherbewertung in den Vordergrund tritt. Die von Gardt (1995: 163) für das Barock festgestellte, mit dem Wort Eigentlichkeit ausgedrückte und als ideal verstandene Kongruenz von Sprache und Wirklichkeit findet sich noch in Zedlers superlativischem Gebrauch des Adjektivs wieder: Das göttliche Wesen besitzet die Logicalische Wahrheit auf das allervollkommenste, indem es in Ansehung seines Verstandes alle Dinge auf das eigentlichste und vollkommenste ohne Fehl und Irrthum erkennet, (Zedler 1732–1754, s.v. Wahrheit)

Aber Zedlers Lexikon etabliert schon, wenn auch selten, einen verschobenen bzw. übertragenen Gebrauch von eigentlich. Bezugsnomen des Adjektivs (bzw. Bezugsverben im Falle adverbialer Verwendung) referieren hier nicht mehr auf Wörter, Namen oder Textstellen und ihre Bedeutung bzw. ihren Sinn, sondern auf Personen, Gegenstände, Sachverhalte, Vorgänge usw., die nicht wie im obigen Beispiel auf philosophische oder theologische Themen beschränkt sind. So ist z.B. mit der eigentlichen Zubereitung von „Acacien-Saft“ (Zedler 1732– 1754, s.v. Acacia) seine ‚richtige‘ Zubereitung gemeint. Paarformeln und kotextuell benachbarte Synonyme mit eigentlich sind Indizien dieser Verschiebung: accurat, genau, recht, wahr, würcklich, vollkommen (Zedler 1732–1754) echt, rein (Brockhaus 1894–1896, Meyer’s 1885–1892)

Wertendes eigentlich kommt aber erwartungsgemäß auch ohne verstärkende Partnerwörter vor, z.B. im Sinne von ‚in Wahrheit‘: Abdala Almohadi, der Stamm=Vater des vierdten Stammes derer Könige von Marocco, so sich Almohades genennet. Er war eigentlich nur ein Schulmeister, und fieng anfänglich nur eine Reformation in der Mohametanischen Religion an, (Zedler 1732–1754, s.v. Abdala Almohadi)

Es kann festgehalten werden, dass der Gebrauch von eigentlich im Sinne von ‚wahr‘, ‚echt‘ usw. mit dem 19. Jahrhundert aufhört, und zwar nicht nur in Enzyklopädien, sondern auch im allgemeinen Sprachgebrauch, den Sanders auf den Punkt bringt: Eigentlich […] einem Ggstd. wesentlich eigen; im Grunde, d.h. nach der innern, wahren Beschaffenheit, wenn von dem Äußern, Nebensächlichen und Außerwesentlichen abgesehn wird, genau, wirklich, wahrhaft, ursprünglich etc.: […] E. verdienst du Strafe dafür [im Grunde, wenn ich die Sache ganz genau nehmen will] etc. […] Was e. singen heißt

Das ‚Eigentliche‘ als Prinzip der Wissenskonstitution | 37 G.[oethe, UH] [im Ggstz. zu dem, was so genannt wird, ohne es wirklich zu sein] […] [von Haus aus], [wesentlich], [veraltet statt genau] (Sanders 1865, s.v. eigentlich) Eigentlich […] Wendung: Im eigentlichsten Sinne (des Wortes), veraltet für genau, bestimmt, sicher, wirklich, in der That, zuw. fast pleonastisch, z.B. Luther (Sanders 1885, s.v. eigentlich)

In heutigen Lexika (Brockhaus online und Wikipedia) kommen Paarformeln und auch explizit wertende Kontexte von eigentlich nur noch sehr selten vor: Die Daten bilden dann nicht die zutreffenden (eigentlichen und „wahren“) Einstellungen und Sachverhalte ab. (Wikipedia) 10

Explizit wertende Ausdrücke wie wahr, echt usw. verstoßen zudem erkennbar gegen das Neutralitätsgebot, dem sich die Lexikon-Autoren heutzutage stärker verpflichten. Dennoch ist sowohl der rhetorisch-etymologischen wie der nachfolgend behandelten prototypischen Gebrauchsweise von eigentlich ein gewisses Wertungspotenzial implizit, insofern mit dem Ursprünglichen bzw. Hauptsächlichen stets das Abgeleitete bzw. Nebensächliche mitgemeint und ein Gefälle ausgedrückt wird.

3.3 Zur Konstruktion eines Prototyps, auch abgrenzend, oft in Kollokation mit Morphemen wie zentrum, kern, haupt, stamm, neben, außer, vor, voraus Seit Zedler und besonders seit den Enzyklopädien des 19. Jahrhunderts dominiert ein Gebrauch von eigentlich, bei dem der prototypische Kern eines infrage stehenden Konzepts markiert und meist zugleich von dessen peripheren Elementen abgegrenzt wird. Man kann diesen Gebrauch als eine Übertragung des rhetorisch-etymologischen betrachten, wo ebenfalls zwischen einem höherwertigen Kern und dessen Ableitungen differenziert wird. Ein Beispiel aus Zedler zeigt beide Verwendungen in unmittelbarem Kotext: Balsamum […] Teutsch Balsam Dieses Wort hat unterschiedene Bedeutungen, und wird bald in eigentlichen, bald in figürlichen Verstande genommen. Eigentlich wird der Safft eines gewissen in Arabien wachsenden Baums darunter verstanden, davon an seinem Orte. Ferner werden einige künstlich zubereitete Artz/neyen mit diesen Namen benennet, welche nicht nur einen höchst angenehmen und durchdringenden Geruch von sich ge-

|| 10 Belege in Brockhaus online wurden nicht gefunden.

38 | Ulrike Haß ben, sondern auch ein geistiges Wesen und Krafft an sich haben, (Zedler 1732–1754, s.v. Balsamum)

Es gibt zahlreiche Zielbereiche der Übertragung (s.u.), doch sollen zunächst zwei seit dem 19. Jahrhundert v.a. ausgesprochen häufige und lexikontypische Spezialfälle behandelt werden, nämlich eigentlich zur Konturierung geografischer Konzepte wie Orte, Regionen, Länder und differenzierendes eigentlich bei Konzepten aus der biologischen Taxonomie. Zur Veranschaulichung: Bengala […] ist in 4 Theile geteilet, in das Königreich Patna […]; in Paurop […], in Rodas […] und in das eigentliche Bengala, welches zwischen den Armen des Ganges an denen See=Küsten liegt (Zedler 1732–1754, s.v. Bengala) Eingeteilt wird Ä. in das eigentliche Ä. (vom Mittelmeer bis zum Wadi Halfa) als das Hauptland und in die Besitzungen außerhalb des eigentlichen Ä. als dessen Dependenzen. […] Nubien ist heute nur ein geographischer Begriff, namentlich seitdem durch Verlegung der Südgrenze des eigentlichen Ä. von Assuân nach Wadi Halfa ein großer Teil des nubischen Gebiets zu Oberägypten gezogen wurde. Das eigentliche Ä. (Beled Misr) teilt man herkömmlich in Ober-, Mittel- und Unterägypten (Meyer’s 1885–1892 1885, s.v. Ägypten) Adler. Man unterscheidet eine Reihe von Untergattungen, von denen die wichtigsten folgende sind: 1) Die eigentlichen A. (Aquila), deren Füße bis zur Zehenwurzel befiedert (deshalb auch Hosenadler genannt) und deren äußere Zehen durch eine Bindehaut verbunden sind, wozu der Königsadler […] und der kleinere Schreiadler (Aquila naevia Briss.) in den Waldgebirgen Deutschlands gehören. […] 2) Die Seeadler (Haliaëtus), mit nur halb befiederten Fußwurzeln […] (Brockhaus 1894–1896, s.v. Adler) Champagne [ʃãˈpaɲ], Die eigentliche Champagne, die ehemalige Provinz, ist eine aus Kreidekalken aufgebaute Plateaulandschaft im Osten des Pariser Beckens, in Frankreich; sie reicht von […] Die jenseits der Kreidestufe nach Osten anschließende Champagne humide (feuchte Champagne) […] ist ein stärker bewaldetes Viehzuchtgebiet. (Brockhaus online, s.v. Champagne) Ihr Verwaltungsgebiet umfasst jeweils sowohl das eigentliche Stadtgebiet als auch die umliegende Großregion. (Wikipedia) Die Prachtsittiche (Polytelis) sind eine Gattung der Eigentlichen Papageien. (Wikipedia)

Bei der Konturierung geografischer Konzepte erweist sich prototypisches eigentlich als ausgesprochen hilfreich. Während sich Zedlers Autoren, die sich dieser speziellen Funktion des Adjektivs noch selten bedienen, in detailreichen Be-

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schreibungen eines imaginierten Landkartenausschnitts zu verlieren drohen, 11 gelingt es den späteren Lexikon-Autoren, einem geografischen Konzept Konturen zu geben und gleichzeitig die Konstruiertheit der gezogenen Linien zum Ausdruck zu bringen; letzteres findet sich v.a. in den verschiedenen BrockhausWerken. Hintergrund der im Grunde fachsprachlichen Verwendung von eigentlich in der Biologie ist folgender: In der Taxonomie der Zoologie werden ca. zehn Ebenen vom ‚Reich‘ über ‚Klasse‘ zu ‚Ordnung‘, ‚Familie‘‚ ‚Gattung‘ und ‚Art‘ und ggf. ‚Unterart‘ unterschieden, um eine einzelne Art wie etwa die Hauskatze im System zu verorten. Dabei kommt es aus offensichtlich historischen Gründen und im Falle laiensprachlich undifferenzierter Bezeichnungskonventionen vor, dass der Name eines Tiers auf der einen Ebene zugleich Name einer der höheren Ebenen ist. Die fachsprachliche Differenzierung kann dann mithilfe des hierbei oft großgeschriebenen eigentlich hergestellt werden. Insofern versucht die fachsprachliche Taxonomie gerade, ohne prototypische und damit unpräzise Benennungen auszukommen. Aber die oft viel älteren, laiensprachlichen Benennungen repräsentieren prototypische Konzepte, die in die Taxonomie integriert werden müssen. Anders ausgedrückt: eigentlich stellt einen fachsprachlichen Reparaturversuch dar, der durch das Aufeinandertreffen von folk taxonomy und Experten-Taxonomie notwendig wurde. 12 Neben diesen beiden auffälligen Spezialverwendungen wurde das prototypische eigentlich seit Zedler in unterschiedlichen weiteren Konzeptbereichen verwendet und damit eine wenn auch vereinfachende, aber fassliche Struktur in zunächst amorphe oder ungeordnete Informationsmengen gebracht. Diese Gebrauchsweise scheint immer produktiver geworden zu sein. Wie Beispiele und v.a. die Kollokationsanalyse der Wikipedia erkennen lassen, geschieht die Konturierung oft mittels Polarisierung von eigentlich und den frei oder gebunden gebrauchten Morphemen außer, vor, neben, ferner, weiter, Kern, Zentrum, Haupt, Stamm und obwohl, zwar, wie einige der folgenden Beispiele zeigen. Dass Lexikon-Autoren darüber räsonieren, welcher Aspekt zum Thema eines Artikels gehört oder nicht, ist bei Zedler noch üblich, wird dann aber immer weniger bzw. impliziter. 13 || 11 Vgl. in Zedler den Artikel zu Africa, von dem gesagt wird, es „hänge“ nur durch einen Isthmus getrennt an Asien. 12 Die Informationen über die biologische Taxonomie habe ich sowohl dem Brockhaus online als auch der Wikipedia entnommen. 13 Relevanzdiskussionen werden in der Wikipedia nicht im Artikel selbst geführt, sondern außerhalb des Lexikontextes. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Relevanzkriterien (11.9.2013).

40 | Ulrike Haß Ob dieser Herr selbst [Karl der Große, UH], ehe Alcuin Bonifacius und andere mehr an seinen Hof gekommen, weder lesen noch schreiben gekonnt habe, ist zwar nicht ausgemacht, es gehört aber auch nicht eigentlich zur gegenwärtigen Untersuchung. Wer inzwischen hierinne seine Neugierigkeit stillen will, kann den Eginhard in Vita Caroli M. nachsehen. Dieses aber ist gewisser, dass die Teutschen vor Carls Zeiten keine große Mühe auf die Ausbesserung ihrer Sprache gewendet haben. (Zedler 1732–1754, s.v. Teutsche Sprache) Die Bevölkerung von A. ist sehr gemischt. Durch die Vielweiberei und den Sklavenhandel, welcher seit Jahrtausenden Frauen aus sehr verschiedenen Völkern ins Land gebracht hat, wurden die eigentlichen echten Typen vielfach verwischt, wie dadurch auch die Ausbildung eines festen nationalen Charakters mit scharfem Gepräge bei den einzelnen Völkerstämmen unmöglich geworden ist. Was man als eigentliche Abessinier (s. Tafel „Menschenrassen“) oder Äthiopier bezeichnet, ist ein zur südlichen Familie der Semiten gehöriges, ursprünglich aus Arabien eingewandertes Volk, das infolge seiner höhern Anlage und Gesittung die Herrschaft an sich gebracht hat. (Meyer’s 1885–1892, s.v. Abessinien) Bereits zu Ende des 12. Jahrhs. und namentlich im 13. kommen mehrere Gedichte mit bestimmter didaktischer Tendenz, wenngleich keine eigentlichen Lehrgedichte im engern Sinn, vor […] Noch mehr beschäftigte man sich mit der didaktischen Poesie im folgenden Jahrhundert, wo auch das eigentliche L., obwohl nur in unbedeutenden Versuchen […] zuerst auf deutschem Boden aufsproßte. (Meyer’s 1885–1892, s.v. Lehrgedicht) Den Hohlraum des Beckens trennt man in das obere oder große und in das untere oder kleine oder eigentliche B.; (Meyer’s 1885–1892, s.v. Becken) Bundeswehr, die militärische Gesamtorganisation Deutschlands, bestehend aus den eigentlichen Streitkräften (militärischer Teil der Bundeswehr) und der Bundeswehrverwaltung (ziviler Teil der Bundeswehr); (Brockhaus online, s.v. Bundeswehr) In Psycho benutzt Hitchcock unterschlagenes Geld, […] um das Publikum […] für einen Kriminalfall zu interessieren, der mit der eigentlichen Handlung nur am Rande zu tun hat. (Wikipedia) Die Fastnacht beginnt in Deutschland seit dem frühen 19. Jahrhundert wegen der symbolischen Bedeutung der Elf als Narrenzahl vielerorts am 11.11., 11 Uhr 11. Die eigentliche Saison startet am Dreikönigstag, am 6. Januar (Brockhaus online, s.v. Fastnacht) Broschen mit Miniaturporträts finden sich seit Ausgang des 18. Jahrhunderts. Das Biedermeier war die eigentliche Blütezeit der Brosche; neuartige Gestaltungen gab es um 1900 im Jugendstil, später im Stil der Art déco. (Brockhaus online, s.v. Brosche) Mit dem so genannten archaischen Zeitalter begann im frühen 8. Jahrhundert v. Chr. die eigentliche Antike. (Wikipedia)

Das ‚Eigentliche‘ als Prinzip der Wissenskonstitution | 41

Die letzten drei Beispiele stehen für eine größere Zahl von Belegen zu historischen Daten, in denen eigentlich eingesetzt wird, um unter mehreren Zeitpunkten den einen Zeitpunkt auszuwählen, der relevant zu setzen ist. Gründungen von Schulen, Städten, Reichen sowie Veröffentlichungen von Texten, Filmen, Musikstücken und ähnlichem sind i.d.R. Vorgänge oder Handlungen, die sich über einen Zeitraum erstrecken. Für das enzyklopädische Gedächtnis einer Gesellschaft müssen solche Vorgänge aber offensichtlich auf möglichst enge Zeitpunkte zurückgeführt werden, obwohl das eine künstliche Reduktion, wenn nicht historische Fälschung darstellt. eigentlich leistet diese Reduktion und lässt zugleich durchblicken, dass der Sachverhalt in Wahrheit komplexer oder auch strittiger ist. Gleichgewichtig neben der gewissermaßen künstlichen Reduktion von Zeiträumen auf Zeitpunkte steht eine analoge Reduktion einer Personengruppe auf ein Individuum. Hierher gehört die Konstruktion des „eigentlichen Begründers“, die mehr als eine bloß sprachliche Abbreviatur darstellt.

4 Konstruktionen/Kollokationen im Anschluss an einige der o.g. Gebrauchsweisen Die in Abschnitt 3 beschriebenen Gebrauchsweisen von eigentlich sind als mehr oder weniger produktive und dynamische ‚Lösungen‘ für einige ausgewählte Darstellungs-‚Probleme‘ enzyklopädischer Texte vorgestellt worden. Die Analyse der Quellen hat darüber hinaus gezeigt, dass es neben den dynamischen Gebrauchsweisen zu einigen konstruktiven Verfestigungen in Form typischer Kollokationen gekommen ist, die das Potenzial besitzen, selbstständige Konzepte zu konstruieren. Es handelt sich dabei womöglich um Konzepte, die bei der Konstruktion des kollektiven Wissens der Gesellschaft eine wichtige Rolle spielen. Für die Abschnitte 4.1 bis 4.7 wurde versucht, die Konstruktionen durch gesondert durchgeführte Wortkombinationssuchen zu ermitteln, was aber nur bei der über das DEREKO zugänglichen Wikipedia vollständig gelang. Die Digitalisierungen der übrigen Enzyklopädien erlauben dies nicht oder nur sehr eingeschränkt, sodass Ergebnisse keinesfalls verabsolutiert werden dürfen. 14 Die in diesem Abschnitt verfolgte Fragestellung ist anders als die in Abschnitt 3,

|| 14 Zedler erlaubt zwar Wortkombinationssuche, aber nur jeweils pro Band. Bei Meyer‘s und Brockhaus funktioniert die Phrasensuche nicht zuverlässig und in Brockhaus online sind Phrasen- bzw. Kombinationssuche nicht möglich.

42 | Ulrike Haß nämlich auf die Wikipedia fokussiert, die ihre Formulierungen aus einer hier nur teilweise zu erhellenden Tradition geschöpft und ausgebaut hat.

4.1 als der eigentliche Erfinder/Gründer/Begründer/Schöpfer/ Entdecker/Bahnbrecher [von/in X] gelten/angesehen werden Bedeutung und Funktion dieser Konstruktion im heutigen Deutsch lässt sich wie folgt umschreiben: An der Erfindung, Entdeckung, Gründung oder an einem sonstigen Hervorbringungsakt von etwas kulturell Wichtigem waren mehrere Personen in unterschiedlicher Weise und unterschiedlichem Ausmaß beteiligt; zudem ist der Hervorbringungsakt dem Lexikon-Autor nicht in all seinen Einzelheiten bekannt. Der darzustellende Sachverhalt ist also komplex und unübersichtlich und muss für die enzyklopädische Darstellung reduziert werden, indem die Leistung nur einer der beteiligten Personen zugewiesen wird. Mit eigentlich in Verbindung mit einem Wahrnehmungsverb und dem Adjunktor als wird einerseits dieser Zusammenhang insgesamt mehr oder weniger explizit benannt, zum anderen werden die übrigen Beteiligten dem enzyklopädischen Wissen durch Nicht-Nennung entzogen. Die Konstruktion ist der prototypischen Gebrauchsweise von eigentlich zuzuordnen (s.o. 3.3). Die Konstruktion ist bei Zedler nicht zu finden. Über Entdeckungen schreiben die Zedler-Autoren narrativ, um Detailwissen bemüht und aus geringerer zeitlicher Distanz als spätere Lexikon-Autoren; Magellan etwa wird nicht als der eigentliche, sondern „der erste Erfinder gedachter Meer=Enge“ bezeichnet (Zedler 1732–1754, s.v. Magellan). In den Lexika des 19. Jahrhunderts ist die Konstruktion noch sehr selten belegt, auch wenn von Erfindern und Gründern häufig die Rede ist:15 Alarich starb gegen Ende dieses Jahrs, und sein Schwager und Nachfolger Athaulf schloß mit H. Frieden, führte seine Westgoten über die Alpen und eroberte eine Anzahl Städte des südlichen Gallien, starb aber 415, worauf ihm Wallia folgte, der als der eigentliche Gründer des westgotischen, das südliche Gallien und einen Teil Spaniens umfassenden Reichs angesehen wird. (Meyer’s 1885–1892, s.v. Honorius)

Es fällt dabei auf, dass das Prädikat ‚Erfinder, Gründer usw.‘ stets bestimmten, identifizierten Personen, oft als Berufsbezeichnung, zugewiesen wird und dass die Situation, in der aus einer größeren Menge möglicher bzw. beteiligter Erfin|| 15 Vgl. als Erfinder gelten (Meyer’s 1885–1892, s.v. Handfeuerwaffen).

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der, Gründer usw. mittels eigentlich einer als der wichtigste herausgehoben werden soll, offensichtlich nicht oder kaum auftritt. Salopp formuliert: Die Lexikon-Autoren des 19. Jahrhunderts meinen genau zu wissen, wer etwas erfunden, entdeckt oder begründet hat und nehmen eine problematische Komplexität der Sachverhalte noch nicht wahr. Brockhaus online gebraucht die Konstruktion deutlich seltener und mit nur einer einzigen Variante als die Wikipedia, und zwar in knapp gehaltenen Personenartikeln, z.B.: Boas, Franz […] gilt als der eigentliche Begründer der modernen amerikanischen Ethnologie. (Brockhaus online) Grimm, Jacob […] gilt als der eigentliche Begründer der germanischen Altertumswissenschaft, der germanischen Sprachwissenschaft und der deutschen Philologie. (Brockhaus online)

In der Wikipedia hingegen erscheint die Konstruktion produktiv und variantenreich mit insgesamt über 300 Belegen, darunter genau 14 zu Frauen und mit moviertem Nomen (Begründerin usw.). Je etwa die Hälfte der Belege wird mit bzw. ohne Wahrnehmungsverb wie sehen und Adjunktor als gebraucht, d.h. dass in der Hälfte der Fälle kein implizierter Verweis auf die in Wahrheit größere Komplexität des Sachverhalts oder auf eine Mehrfachperspektive gegeben wird. In den anderen Fällen dominiert gelten als; weitergehende Modalisierung (kann/darf/soll gelten als) fehlt zumeist.

4.2 im eigentlichen Sinn(e)/Wortsinn(e) Bedeutung und Funktion dieser Konstruktion im heutigen Deutsch ist die Konstruktion einer Auffassung von Wortbedeutung, bei der die etymologische bzw. historisch früheste mit der vermeintlichen Kern- und Hauptbedeutung zusammengeführt wird, so dass beides als ein und dasselbe erscheint. Die Konstruktion ist typisch für ein Bildungsdeutsch, das nicht zuletzt in enzyklopädischen Lexika, v.a. in der Wikipedia gepflegt werden soll. 16 Die sprachwissenschaftlich gebotene Trennung synchroner und diachroner Perspektive sowie die Differenzierung der verschiedenen Bedeutungsvarianten eines Worts werden mithilfe

|| 16 So der Anspruch (http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Wie_schreibe_ich_gute_Artikel (12.9.2013)); die Wirklichkeit hinkt dem oft hinterher, wie einige der oben gebrachten Beispiele verraten.

44 | Ulrike Haß der Konstruktion vermischt und entdifferenziert. Die Konstruktion trägt wesentlich dazu bei, dass die älteste Gebrauchsweise von eigentlich, die rhetorischetymologische weitertradiert wird; ab dem 19. Jahrhundert zeigen etliche Belege aber auch eine gleichzeitige Tendenz hin zur prototypischen Gebrauchsweise von eigentlich. D.h. die Entdifferenzierung wird noch weiter ausgedehnt; das Ursprüngliche, das Wahre und der Kern eines Prototyps werden wechselseitig identifiziert. Während Zedler, der insgesamt noch eine starke Nähe zur rhetorischetymologischen Gebrauchsweise zeigt, diese Konstruktion nicht aufzuweisen scheint, nutzen die Enzyklopädien des 19. und 20./21. Jahrhunderts sie wie folgt: Bei den Verkehrsanstalten liegen indes in der Praxis G. im eigentlichen Sinne zumeist nicht vor, weil der zu zahlende Betrag über die oben bezeichnete Grenze weit hinausgeht. (Brockhaus 1894–1896, s.v. Gebühren) Gedankenexperimente sind jedoch keine Experimente im eigentlichen Sinne, da sie sich stets im Rahmen einer Theorie bewegen und damit der außerhalb der Theorie liegende empirische Aspekt fehlt. (Brockhaus online, s.v. Gedankenexperiment) Erst die beiden großen Kriege des 20. Jahrhunderts waren allerdings Weltkriege im eigentlichen Sinne, (Brockhaus online, s.v. Weltkrieg)

In der Wikipedia ist die Konstruktion mit ca. 1750 Belegen, darunter 38 mit Kompositum Wortsinn(e) außerordentlich usuell. Interessant ist, dass über zwei Drittel der Belege mit Simplex die veraltete Flexionsform Sinne aufweisen. Dies spricht einmal für eine Idiomatisierung der Gesamtkonstruktion, zum anderen für das Bestreben der Wikipedia-Autoren, Bildungssprache zu reproduzieren. Drei Beispiele: Die Lieder Lucy At The Gym und Supermodel von Jill Sobule setzen sich mit Magersucht in verschiedenen Ausprägungen auseinander. Ein Hungerkünstler von Franz Kafka bearbeitet Magersucht nicht im eigentlichen Sinne, sondern eher als Allegorie. (Wikipedia) Eine Entwicklung im eigentlichen Sinne hat Glasunow nie durchgemacht; die Kompositionen der frühen 1880er Jahre unterscheiden sich kaum von denen der 1930er Jahre. (Wikipedia) Im eigentlichen Wortsinn bezeichnet „bewohnbar“ einen Himmelskörper mit einer voll entwickelten, für Menschen geeigneten Sauerstoff-Kohlenstoff-Ökologie. (Wikipedia)

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4.3 neben/außer(halb) d- eigentlichen [Nomen] Die Präpositionalphrase gehört zur prototypischen Gebrauchsweise von eigentlich und fokussiert in Kombination mit einer Polarisierung etwas an der Peripherie eines Prototyps. Für diese Polarisierung sind syntaktisch wie lexikalisch unterschiedliche Realisierungen möglich (s. o. 3.2), aber es scheint, als habe diese Präpositionalphrase den Charakter einer Konstruktion, d.h. eines in enzyklopädischen Darstellungen usuellen Formulierungsbausteins. Bei Zedler lässt sich die Konstruktion noch nicht ausfindig machen, vermutlich deshalb, weil die Konstruktion prototypischer Sachverhalte hier noch nicht sehr ausgeprägt ist. In den Enzyklopädien des 19. Jahrhunderts ist die Konstruktion belegt: Eingeteilt wird Ä. in das eigentliche Ä. (vom Mittelmeer bis zum Wadi Halfa) als das Hauptland und in die Besitzungen außerhalb des eigentlichen Ä. als dessen Dependenzen. (Meyer’s 1885–1892; s.v. Ägypten)

Dass die Konstruktion auch in Brockhaus online Verwendung findet, kann nur vermutet werden. 17 In der Wikipedia ist die Konstruktion über 1300 Mal belegt. Dabei wird außerhalb eher mit geografischen Bezeichnungen kombiniert, wohingegen neben und außer die Peripherie beliebiger Prototypen markiert. Im Allgemeinen haben die Assembler neben den eigentlichen Codes auch Steueranweisungen, die die Programmierung bequemer machen, (Wikipedia) Besondere Aufgaben dieser Einrichtungen, neben der eigentlichen Forschung, sind zum einen die Beratung von Ministerien [...] (Wikipedia) Das Gemeindegebiet umfasst eine Fläche von 1882,6 km² und enthält auch kleinere Orte, die sich außerhalb des eigentlichen Stadtgebiets befinden. (Wikipedia) Es handelte sich dabei um Verbrechen, die außerhalb der eigentlichen Kriegshandlungen stattgefunden hatten, also in Konzentrationslagern oder Ghettos, (Wikipedia)

4.4 von der/vom eigentlichen [NP] ablenken Die Wikipedia verfügt mit der 77-fach belegten Konstruktion über ein Mittel, mit dem v.a. die Intention einer in ihrem Erfolg gefährdeten Handlung bezeichnet

|| 17 Leider ist eine Wortkombinationssuche in Brockhaus online nicht möglich.

46 | Ulrike Haß wird. Die Herstellung der Gefährdung wird dabei einem anderen Akteur zugeschrieben, der auch als personalisiertes Abstraktum auftreten kann. Handlungsintentionen werden typischerweise in Inhaltsangaben von Büchern und Filmen sowie in historischen und militärischen Berichten thematisiert, z.B.: Durch intensives Quellenstudium und Interviews mit Insidern versuchte er seinen Büchern möglichst große Realitätsnähe zu verleihen […] Von der eigentlichen Handlung würde somit abgelenkt. (Wikipedia) Die türkische und die palästinensische Gemeinde in Berlin warnten jedoch davor, derartige Vorfälle hochzuspielen und stattdessen vom eigentlichen Problem des Rechtsextremismus abzulenken. (Wikipedia) Diese sollten bei alliierten Piloten Verwirrung stiften und von den eigentlichen Zielen ablenken. (Wikipedia)

4.5 ihm/ihr/jemandem eigentlich zustehen Die Subjektstelle des Verbs zustehen wird von Bezeichnungen der semantischen Kategorien ‚Eigentum‘ oder ‚Kompetenz/Recht‘ besetzt; die Sätze drücken eine Norm aus. Die Konstruktion knüpft an die rhetorisch-etymologische Gebrauchsweise von eigentlich an, mit dem hier eine Verletzung, Abweichung oder Einschränkung der jeweiligen Norm zum Ausdruck gebracht wird. Die Konstruktion ist damit nicht sehr lexikontypisch, und findet sich in der Wikipedia auch nur 45 mal, aber im Falle schwach legitimierter Normen kann sie zur impliziten Bekräftigung der Norm beitragen. Konstruktionen mit normsetzendem Potenzial, die in enzyklopädischen Texten gebraucht werden, sollten in sprachkritischer Perspektive auf ihre Legitimität hin betrachtet werden. Zwei Beispiele: übernahm Napoleon die Rolle des Familienoberhauptes, die eigentlich seinem älteren Bruder Joseph Bonaparte zustand, (Wikipedia) Charakteristisch ist durchgehend, dass die Violine viele Melodie-Parts übernimmt, die eigentlich einer Solo-Gitarre zustehen würden (Wikipedia)

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4.6 eigentlich (nicht) (als) vorgesehen(e)/geplant(e) Ähnlich wie bei der vorhergehenden Konstruktion wird hier mit eigentlich die Abweichung von einer Erwartung, Absicht oder Zweckbestimmung ausgedrückt. Damit werden Erwartungen, Absichten und Zweckbestimmungen meist stillschweigend als gegeben gesetzt. Es bedürfte einer eingehenden Untersuchung, ob und in welchen Fällen sie im Artikelkontext begründet werden: Die mit Apollo 8 durchgeführte erste Mondumkreisung, Weihnachten 1968, war von der NASA eigentlich nicht vorgesehen, (Wikipedia) Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 und die Folgen ließen letztlich die fertig gestellte Kanonenbahn nie zu dem werden, für was sie eigentlich geplant war. (Wikipedia) 2007 wurde das eigentlich als Open-Air geplante Festival bereits im Vorfeld in die Ostbayernhalle verlegt. (Wikipedia)

4.7 der/die/das eigentlich interessierende (Frage, Faszinosum, Größe, Phänomen, Teil u. ä.) Dieses Syntagma ist in der Wikipedia zwar so selten, dass man von einer mental verfügbaren Konstruktion noch nicht sprechen mag, aber es ist in der Perspektive der enzyklopädischen Konstruktion relevanten Wissens von einigem Interesse. Der Charakter der willkürlichen Setzung dessen, was als interessant zu gelten hat, ist hier kaum mehr implizit zu nennen, doch werden auch explizite Behauptungen nicht immer begründet, wie folgende, auffällig oft in medizinischen und naturwissenschaftlichen Artikeln gefundenen Belege zeigen: Bei dieser Anwendung ist die eigentlich interessierende Größe die Anzahldichte im Volumen der Probe, sodass es auch auf die Schichtdicke der Präparate ankommt. (Wikipedia) Die eigentlich interessierende Frage, ob die Placozoa älter sein könnten als die Schwämme, scheint neuerdings durch Aufklärung des mitochondrialen Genoms beantwortet zu sein. (Wikipedia) Für Gustav Landauer gilt vor allem Calés Verkörperung einer „vollendeten Hoffnungslosigkeit“ [...] als das eigentliche, die Nachwelt interessierende Faszinosum dieses Dichters. (Wikipedia)

48 | Ulrike Haß

5 Fazit Man kann eigentlich als ein typisches ‚Lexikon-Wort‘ bezeichnen. Die frühe rhetorische Bedeutung des Adjektivs/Adverbs eigentlich hat sich in der Tradition deutschsprachiger enzyklopädischer Texte als ungemein produktiv erwiesen und zu einigen semantischen Verschiebungen geführt. Für die Konzeptualisierung von Sachwissen, wie es in Enzyklopädien kodifiziert wird, heißt dies erstens, dass vermittels des Ausdrucks eigentlich das Frühe und Alte dazu tendiert, mit dem Höherwertigen und der Norm zu konvergieren. Zweitens wird mit eigentlich die notwendige Reduktion von Sachverhaltskomplexität durch die Einführung prototypischer Konzepte seit dem späten 20. Jahrhundert bewerkstelligt und zugleich mit dem Alten und Höherwertigen legitimiert. Mit eigentlich besitzen Lexikon-Autoren ein Mittel, sprachreflexive bzw. metasprachliche Angaben in Sachinformationen zu integrieren und den Topos dienstbar zu machen, dass die (vermeintlich) ursprüngliche Bedeutung einen präferierten Zugang zum Sachverstehen und zum Verstehen überhaupt darstellt. Es ist nicht nur schwierig, Sprach- und Sachwissen zu trennen, wie in der Wörterbuchforschung wiederholt festgestellt wurde, sondern die Textsorte (Sach-)Lexikon arbeitet über die Jahrhunderte hin aktiv und erfolgreich an der Gleichsetzung von Sache und ursprünglicher Bezeichnungsbedeutung, so als hätte sich seit dem 17. Jahrhundert nichts geändert. Eine kritische linguistische Auseinandersetzung insbesondere mit den Sachverhaltsdarstellungen der Wikipedia ist nicht zuletzt deshalb geboten, weil Mitte 2013 der Brockhaus sein verlegerisches Ende gefunden hat. 18

6 Literatur Adelung, Johann Christoph (1808): Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Wien 1808. 4 Bände. Online-Version (http://ds.ub.unibielefeld.de/viewer/toc/1873343/0/LOG_0000/(28.8.2013)). Brockhaus' Konversationslexikon (1894–1896). F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. vollständig neubearbeitete Auflage. In sechzehn Bänden. Online-Version (http://www.retrobibliothek.de/retrobib/stoebern.html?werkid=100150 (26.7.2013)).

|| 18 http://www.sueddeutsche.de/kultur/brockhaus-am-ende-wissen-das-nie-am-rechten-ortist-1.1695116 (1.9.2013).

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Joachim Knape

Eigentlichkeit als Rhetorik-Frame || Universität Tübingen, Allgemeine Rhetorik II, Wilhelmstraße 50, 72074 Tübingen, [email protected]

1 Ein kurzer Auszug aus einem Gespräch Nr. 10. Wir haben die Tatsachen gehört – und jetzt wollen Sie uns weismachen, dass wir dem Bürschlein glauben sollen! Mir kann der nichts vormachen, nicht so viel – nicht das Schwarze unter dem Nagel glaube ich dem. Ich habe lange genug unter ihnen gelebt, ich kenne sie in- und auswendig. Die sind geborene Verbrecher, alle durch die Bank! Untermenschen! Nr. 11. Untermenschen. Nr. 10. Mir können Sie das glauben! Nr. 9. Es ist möglich ... aber es ist entsetzlich, so was zu glauben. Gibt es tatsächlich geborene Verbrecher? – Ist das Verbrechen denn typisch für eine bestimmte Klasse? Seit wann? Und wer, sagen Sie mir das bitte, hat schon ein Monopol auf die Wahrheit? Wer? Sie vielleicht? Nr. 3. Papperlapapp, wir brauchen keine Sonntagspredigt! Nr. 9. Entschuldigen Sie, aber die Ansichten dieses Herren erscheinen mir denn doch gefährlich – Dieses Gesprächsfragment ist Teil einer kontroversen Diskussion, die ihren Ausgang von der Beurteilung des Handelns einer Person nimmt, die vom Sprecher Nr. 10 kurz das „Bürschlein“ genannt wird. Dieser für das Subjekt gewählte Diminutivausdruck („Bürschlein“ statt ‚Mann‘) ist im Deutschen meist pejorativ und entspricht der negativen Einschätzung der umstrittenen Person, die Sprecher Nr. 10 zum Ausdruck bringen möchte. Dabei argumentiert er wie folgt: Alle Beteiligten wurden zuvor über „Tatsachen“ informiert, die seiner Meinung nach einen Gegensatz zu Äußerungen des „Bürschleins“ bilden. Diese Äußerungen sind unglaubwürdig, sind Lügen und daher nicht wahr. Dafür gibt Nr. 10 auch eine Begründung: Das „Bürschlein“ kommt aus einem Milieu, in dem alle „geborene Verbrecher“ und „Untermenschen“ sind. Sprecher Nr. 10 trägt seine Begründung in der Form eines klassischen Syllogismus mit zwei Prämissen und einer Konklusion vor:

52 | Joachim Knape 1. 2. 3.

Prämisse: Alle Menschen dieses Milieus sind Verbrecher und Untermenschen Prämisse: Das Bürschlein stammt aus diesem Milieu Conclusio: Ergo ist auch das Bürschlein ein Verbrecher und Untermensch.

Dieser einfache Syllogismus überzeugt den Gesprächsteilnehmer Nr. 11 sofort und ruft seine zustimmende Äußerung hervor, die in der Wiederholung des Stigmawortes „Untermenschen“ besteht. Das ermuntert die argumentierende Nr. 10, als weitere Stütze (backing) seiner Argumentation noch darauf hinzuweisen, dass er selbst – im Gegensatz zum Bürschlein – offenkundig glaubwürdig sei und man sich daher auf seinen gerade vorgebrachten Erfahrungsbeweis („Ich habe lange genug unter ihnen gelebt“) verlassen darf: „Mir können Sie das glauben!“ Freilich ist jedem Logiker sofort klar, dass auch Nr. 10 selbst ironischerweise zur Menge der so genannten ‚Untermenschen‘ gerechnet werden könnte, wenn man seiner Argumentation folgt, weil Nr. 10 ja selbst „lange genug“ in diesem Milieu „gelebt“ hat und dessen Mitglieder daher „in- und auswendig“ kennt. Es könnte also der Verdacht aufkommen, dass Nr. 10 selbst auch ein Lügner und darum sein Syllogismus ebenfalls dubios ist. Die nun erfolgende Gegenrede setzt bei dem genannten Syllogismus und dessen erstem Obersatz an. Sprecher Nr. 9 stellt die Frage, ob die These in der Behauptung des ersten Obersatzes überhaupt konsensfähig sei: „Ist das Verbrechen denn typisch für eine bestimmte Klasse?“ Beim rhetorischen Syllogismus, dem Enthymem, hängt aber die ganze rhetorische Effektivität davon ab, dass alle im Moment der Redesituation an die Wahrscheinlichkeit der ersten Prämisse glauben. Sprecher Nr. 9 sucht diesen Glauben zu dekonstruieren und Zweifel aufzubauen, indem er die Wahrheitsfrage aufwirft und sie mit dem In-ZweifelZiehen der Quelle der Behauptung (= Nr. 10) verbindet: „Und wer, sagen Sie mir das bitte, hat schon ein Monopol auf die Wahrheit? Wer? Sie vielleicht?“ Die Reaktion des sich an dieser Stelle einschaltenden Sprechers Nr. 3 drückt Verunsicherung bei der Beurteilung der im Raum stehenden Streitfrage aus, denn sein kurzer Gesprächsbeitrag geht nicht auf die thematisierte Wahrheitsanfrage und den begründeten Zweifel ein, sondern weicht auf die metakommunikative Ebene aus. Er charakterisiert den Vorgang vorwurfsvoll als rhetorischen Akt („Sonntagspredigt“), dem er sich nicht ausgesetzt sehen möchte („Papperlapapp“). Sprecher Nr. 9 hat das durchschaut, weicht nicht zurück und insistiert. Er möchte, dass weiter über die womöglich in der ersten Prämisse des Syllogismus steckende unzulässige Generalisierung diskutiert wird. Für ihn beruht der ganze Syllogismus nämlich zunächst einmal nur auf subjektiven „Ansichten“, de-

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ren Konsensfähigkeit geklärt werden müsste, ganz zu schweigen von der Frage, ob es hier um „Wahrheit“ geht. Er versucht die Diskussion über diesen Punkt dadurch anzufeuern, dass er eine provozierend-evaluative Einschätzung („gefährlich“) vornimmt: „Entschuldigen Sie, aber die Ansichten dieses Herrn erscheinen mir denn doch gefährlich –“. Am Ende des Zitats steht ein Bindestrich, der darauf hinweist, dass die Diskussion zu diesem Streitpunkt unterbrochen wird.

2 Die zwei Perspektiven der rhetorischen Fallanalyse Für die Klärung der Frage, wie Eigentlichkeit im Rahmen der rhetorischen Theorie zu verstehen ist – und darum soll es ja im Folgenden gehen – stellt dieses Textfragment eine Herausforderung dar. Man kann theoretische Begriffe nicht etymologisch oder rein wortsemantisch bestimmen, sondern muss sie aus dem jeweiligen Theoriefeld ableiten. Die an dem einleitend zitierten Textbeispiel hängenden Fragen sollen uns bei der Diskussion der rhetorischen Eigentlichkeits-Kategorie in dieses Theoriefeld hineinführen. Zunächst einmal hat die oben unternommene knappe Analyse der wenigen Zeilen Gesprächstext deutlich gemacht, dass jene Superstruktur dominierend hervortritt, die man mit dem Textwissenschaftler Teun A. van Dijk (1980: 144– 150) die argumentative Superstruktur nennen kann. Diese Art der Textelaboration gehört unstrittig zum Kernrepertoire der rhetorischen Verfahrensweisen. 1 Lässt sich aus diesem Befund aber schon gleich der Schluss ziehen, dass wir es bei unserem Textbeispiel mit dem Zeugnis eines rhetorischen Ereignisses zu tun haben? 2 Was wäre solch ein rhetorisches Ereignis? Wann tritt der rhetorische

|| 1 Schon der berühmte erste Satz der aristotelischen Rhetorik macht dies deutlich. „Die Rhetorik ist das Gegenstück zur Dialektik“ heißt es da. Beide Disziplinen, also Rhetorik und Dialektik/Logik, helfen, „ein Argument zu prüfen und zu stützen, sich zu verteidigen und anzuklagen“ (Arist. Rhet. 1,1,1), bisweilen auch zu loben oder zu tadeln. 2 Die „konklusiven Sprechhandlungen“ (J. Klein 1987) können selbstverständlich auch als rein logische Operationen etwa im Rahmen philosophischer Erkenntnisgewinnung verstanden werden. Im vorliegenden Fall baut der Text aber deutlich erkennbar die Struktur einer controversia (Cicero) als Handlungsrahmen der Protagonisten auf, also die eines Streitgesprächs im rhetorischen Sinn, das immer rhetorische Persuasionsvorgänge mit sich führt. Zu den dabei auftretenden Argumentationsverfahren siehe die paradigmatische Fallanalyse bei W. Klein 1981.

54 | Joachim Knape Ereignisfall überhaupt ein? Diese auf den ersten Blick vielleicht erstaunlichen Fragen machen deutlich, dass das Rhetorikproblem immer auch mit Fragen der Perspektive zu tun hat. Daher ist immer auch zu fragen: Rhetorik in welcher Hinsicht? Um den hier angesprochenen Problembereich etwas zu klären, muss ich weiter ausholen und versuchen, antike und moderne kommunikationstheoretische Ansätze zu verbinden. Dabei haben die rhetorischen Text- und Kommunikationstheorien der Antike für die moderne wissenschaftliche Rhetorikforschung nichts an ihrer Substanz, Einsichtsschärfe, Treffsicherheit und Geltung verloren. Kaum etwas ist da veraltet, wenn damals auch noch nicht alle Fragen gestellt oder für den heutigen Bedarf beantwortet wurden. Die Spitzentheoretiker Europas haben sich in dieser ‚klassischen Zeit‘ um theoretische Einsichten auf dem Feld der Kommunikation bemüht, die sich auch damals schon in der Praxis bewähren mussten. Mit großem Scharfsinn hat der Philosoph Aristoteles das Proprium, die spezifische Differenz oder das Kerndefiniens der Rhetoriktheorie, wie immer man es nennen will, auf die Persuasion als rhetorische Kernoperation konzentriert (Arist. Rhet. 1,2,1; Knape 2003). Um sie herum hat sich dann über zwei Jahrtausende viel systematisches Fachwissen angelagert, das man strukturell beschreiben und den diversen Systemstellen der Fachtheorie zuordnen kann. Historisch betrachtet ergibt sich dabei ein vielfältiges Bild all dessen, was man unter der Rubrik Rhetorik meinte verhandeln zu können oder zu müssen. Insofern befasst sich das Fach Rhetorik (wie viele andere Disziplinen auch) mit sehr viel mehr Problemlagen und Fragestellungen, als es die eigentliche Fachtheorie verlangen würde. Unter den Bedingungen strengerer Theoriebildung und daraus resultierender disziplinärer Systematisierung ergibt sich jedoch eine enger gefasste Betrachtungsweise, die von theoretischen Prinzipien, systematischen Ordnungen und deren methodischen Folgen regiert wird, die sich alle auf die Persuasionsproblematik beziehen. Unter dieser Voraussetzung ist es unter anderem sinnvoll, etwa die rhetorische Organontheorie (also alles, was zum Werkzeug und methodischen Instrumentarium der Rhetorik gehört) von der rhetorischen Kasuistik zu trennen. Auch an weitere Untergliederungen wäre zu denken. Während im Rahmen der Organontheorie das Nachdenken über rhetorikrelevante Strukturen der Werkzeuge aller Art seinen Platz hat, geht die rhetorische Kasuistik von der fundamentalrhetorischen Fragestellung aus (Knape 2012a: 64–86), und hier stellt sich dann auch, wie sich noch zeigen wird, die Eigentlichkeitsfrage in aller Deutlichkeit. Die fundamentalrhetorische Kasuistik beschäftigt sich vor allem mit der Frage, wann der rhetorische Fall, wann eine causa rhetorica vorliegt. In Hinblick auf unser Textfragment hat sich diese Betrachtungsweise also mit der Problematik zu beschäftigen, ob es sich bei der zitierten Gesprächsszene

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um ein rhetorisches Ereignis im Sinne des rhetorischen Falls oder doch eher um ein anderweitiges kommunikatives Geschehen handelt. Für die wissenschaftliche Analyse kommt es hier generell auf die Festlegung von Untersuchungsperspektiven an. Wir können für Rhetorikphänomene zwei analytische Hauptperspektiven unterscheiden, die sich in der Praxis als sinnvolle methodische Ansatzpunkte erwiesen haben: 1. Die intrinsische Perspektive. Sie wendet ihren Blick vom äußeren, interaktionalen Kommunkationsrahmen ab und richtet ihn gewissermaßen nach innen auf die sich zeigenden kommunikativen Manifestationen in Hinblick auf rhetorische Strukturen (etwa notierte argumentative Persuasionsversuche, wie wir sie im obigen Beispiel vorliegen haben). Man kann daher von einer auf den semiotischen Kotext gerichteten Betrachtungsweise sprechen oder kurz: von der kotextuellen Rhetorikanalyse. 2. Die extrinsische Perspektive. Unter dieser Perspektive wird das gesamte kommunikative Geschehen mit seinen Rahmenbedingungen in den Blick genommen, um die Frage zu klären, ob und in welchem Umfang es sich um ein rhetorisches Kommunikationsereignis (eine causa rhetorica) handelt, wie die rhetorische Interaktion dabei funktioniert und wie der Zusammenhang der strategisch-rhetorischen Kommunikationsaktivitäten mit der Lebenswelt beschaffen ist. Wir nennen es die kontextuelle Rhetorikanalyse. Seit der Antike gilt das Angemessenheitsprinzip (für das Begriffe wie Aptum, 3 Decorum oder Prepon stehen) als oberstes pragmatisches Regulativ der Rhetorik. Man kann dabei systematisch das innere Aptum (intrinsisch) der Gegenstandsadäquatheit textlicher Ausarbeitungen vom äußeren Aptum (extrinsisch) als der Gerichtetheit auf den „äußeren Bereich des sozialen Faktums“ unterscheiden (Lausberg 1990: §§ 1055–1058). Die Angemessenheitsanalyse, also die Analyse des Zusammenpassens aller Komponenten in Hinblick auf den Bedingungsrahmen, setzt freilich einen Maßstab oder einen Beurteilungsrahmen voraus, mit dessen Hilfe sich die Angemessenheit rhetorisch-kommunikativer Phänomene beurteilen lässt. Im römischen Recht und in der römischen Philosophie stehen für solch eine, sich in den Verhaltensweisen niederschlagende Norm oder Ordnung die Begriffe forma und regula. Bei den formae handelt es sich um sozial vermittelte und gelernte Grundformen, Geprägtheiten oder Idealgestalten, die den „Erwar-

|| 3 Das, „was sich fügt (aptus)“ im Gegensatz zum „Unfug (ineptum)“, so Cicero (de or. 2,17).

56 | Joachim Knape tungshorizont“ 4 der Menschen einer Sozietät bzw. Sprechergruppe festlegen, und auf die sie als Beurteilungsmaßstab zurückgreifen können. In diesem Sinn umschreibt der Rhetoriktheoretiker Quintilian um das Jahr 100 unserer Zeitrechnung die rhetorische Angemessenheitsnorm, wenn er sagt, in der Rhetorik sei angemessen, „was sich schickt (quod deceat)“ 5 und was „nützlich“ ist (prodest; Quint. inst. or. 11,1,12–14).6 Es handelt sich also um pragmatische Regulative. Weltwissen und Sprachwissen gehen dabei letztlich zusammen bzw. ergänzen sich. Davon wird noch die Rede sein.

3 Rhetorisches Aptum und Frame Analysis Die Gebräuche also, das wissen die Rhetoriker seit alters, konstituieren die Kommunikationsrahmen und damit bestimmte Erwartungshaltungen im Kommunikationsgeschehen. Darauf ist Rücksicht zu nehmen. Erst in den letzten Jahrzehnten hat diese alte rhetorische Einsicht wieder in die modernen sprach-, text-, kultur- und verhaltenswissenschaftlichen Disziplinen Eingang gefunden. Hier ist zunächst an den Soziologen und Anthropologen Erving Goffman und sein 1974 erschienenes Buch Frame Analysis zu erinnern. Goffman ist vor allem auch als Begründer der neueren Image-Theorie bekannt geworden. Bei ihm heißt es einleitend: Wenn der einzelne in unserer westlichen Gesellschaft ein bestimmtes Ereignis erkennt, neigt er dazu – was immer er sonst tut –, seine Reaktion faktisch von einem oder mehreren Rahmen oder Interpretationsschemata bestimmen zu lassen, und zwar von solchen, die man primär nennen könnte. Dies deshalb, weil die Anwendung eines solchen Rahmens (framework) oder einer solchen Sichtweise von den Betreffenden so gesehen wird, daß sie nicht auf eine vorhergehende oder ‚ursprüngliche‘ Deutung zurückgreift; ein primärer Rahmen wird eben so gesehen, daß er einen sonst sinnlosen Aspekt der Szene zu etwas Sinnvollem macht (Goffman 1980: 31).

Goffman untersucht in seinem ‚Frame‘-Buch Problemstellungen, die deutliche Schnittstellen zu den Arbeiten der Sprechakttheoretiker John L. Austin und John R. Searle oder des Kommunikationsphilosophen Herbert P. Grice mit sei|| 4 Ein von Philosophen wie Husserl, Heidegger oder Gadamer kommender Begriff; weiterentwickelt von Jauß (1994: 131), erstmals 1970. 5 So auch schon Cicero (or. 70–71) in Hinsicht auf das Publikum und die Einpassung in soziale Umstände. 6 Im Folgenden mit kleineren Abweichungen immer zitiert nach Quint. inst. or., ed. Rahn (1988).

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nen Konversationsmaximen aufweisen: Wie entsteht Bedeutung im Interaktionszusammenhang? Wie können wir sichergehen, die richtigen Bedeutungen zu erkennen? Wie ist gegenüber der Informationsseite die ebenfalls anzusetzende semantische Handlungsseite sprachlicher Äußerungen beschaffen? Was reguliert unser Verstehen? Wie können wir Theatralik und Spiel von Fälschung, Lüge, Betrug unterscheiden? Was sind die Erkennungsmerkmale? Woher wissen wir, was unser Kommunikationspartner wirklich meint? Wo verläuft die Grenze zwischen Semantik (also Meinen, Bedeuten, Sinn-Haben) und Performanz, also Handlungsvollzug (Fakten-Schaffen, Geltung-Aufbauen, FolgenEvozieren)? In diesem Sinn spricht Goffman von „Deutung“ oder von „Interpretationsschemata“ sowie über die „Sichtweise von den Betroffenen“, vom „sinnlosen Aspekt der Szene“ und vom „Sinnvollen“. Kommunikation steht von vorneherein in Frames, so Goffman, die vorgängig sind und die er darum „primär“ nennt. Zum einen sind das natürliche Frames, zum anderen gesellschaftlich geschaffene. Natürliche Rahmenbedingungen wie Wetter, Landschaft oder Jahreszeit helfen uns, viele Informationen in einer ganz bestimmten Weise richtig zu verstehen. Das gilt auch für alle vom Menschen geschaffenen Rahmenbedingungen. Für den voluntaristisch und orientierungstheoretisch denkenden Rhetoriker ist es bemerkenswert, dass Goffman als Trennkriterium für die beiden Typen primärer Rahmen (also naturgegeben oder gesellschaftlich) die Vektorialität/Gerichtetheit, Orientiertheit, Geleitetheit, Absichtlichkeit, Beeinflusstheit und den „Willen“ nimmt; all dies sind auch die Kriterien für rhetorische Persuasivität im Sinne der platonischen Urdefinition der Rhetorik als Seelenleitung (Platon: Phaidros 271c). Goffman (1980: 31) schreibt: Natürliche Rahmen identifizieren Ereignisse, die als nicht gerichtet, nicht orientiert, nicht belebt, nicht geleitet, ‚rein physikalisch‘ gesehen werden; man führt sie vollständig von Anfang bis Ende, auf ‚natürliche‘ Ursachen zurück. Man sieht keinen Willen, keine Absicht als Ursache am Werke, keinen Handelnden, der ständig auf das Ergebnis Einfluß nimmt.

Das Wissen um natürliche Gegebenheiten dieser Art verrechnen wir beim Interpretieren von Informationen anders als das Wissen um „soziale Rahmen“, zu denen auch Institutionen, Regelwerke und Machtkonstellationen gehören. Soziale Rahmen, so Goffman (1980: 32), interpretieren wir als Ergebnis intentionalen Handelns. Sie liefern einen Verständnishintergrund für Ereignisse, an denen Wille, Ziel und steuerndes Eingreifen einer Intelligenz, eines Lebewesens, in erster Linie des Menschen, beteiligt sind. Ein solches Wesen ist alles andere als unerbittlich [wie etwa die Naturkräfte]; man

58 | Joachim Knape kann ihm gut zureden, schmeicheln, trotzen, drohen. Sein Tun kann man als ‚orientiert‘ bezeichnen: Der Handelnde ist ‚Maßstäben‘ unterworfen, sozialer Beurteilung seiner Handlung auf Grund ihrer Aufrichtigkeit, Wirksamkeit, Sparsamkeit, Ungefährlichkeit, Eleganz, ihres Taktes, guten Geschmacks usw.

Für den rhetorischen Ansatz ist wichtig, dass diese Rahmen und die mit ihnen verbundenen Interpretationserwartungen auf Seiten der Adressaten zum Gegenstand von Kalkülen, genauer gesagt: in die rhetorisch-strategischen Kalküle einbezogen werden müssen. Dabei ist zu fragen: Welchen Einfluss nehmen das konkrete Kommunikationssetting und die gegebenen oder vorauszusehenden Adressaten-Bewusstseins-Frames auf die kommunikative Leistung, auf den Botschaftstransfer meines Textes (vgl. Knape 2013b)? „Zum Beispiel besteht die unangenehme Tatsache“, so Goffman (1980: 35) weiter, daß man in jedem Augenblick seiner Tätigkeit im allgemeinen mehrere Rahmen anwendet. (‚Wir warteten, bis der Regen aufhörte [Natur-Frame], und begannen dann das Spiel [mit seinem sozial festgelegten Regeln als Rahmen] von neuem.‘) Natürlich steht manchmal ein bestimmter Rahmen im Vordergrund und liefert eine erste Antwort: ein Ereignis oder eine Handlung, die mittels eines primären Rahmens beschrieben ist. Dann kann man anfangen, sich um die mikroanalytischen Fragen zu kümmern, was mit ‚wir‘, ‚es‘, ‚hier‘ gemeint ist, und wie es zu der unterstellten Einigkeit kommt.

Für Goffmann sind im Zusammenhang mit dem Rahmen die beiden Begriffe Sinngebung und Praxis von besonderer Bedeutung. Dabei ist der Begriff Rahmen weit gefasst. Letztlich bezieht er sich auf alle denkbaren sozialen Markierungsphänomene, die eine Differenz von Zentrum und Umfeld erkennbar halten (Rituale, Stigmata, Bühnen, Aktionen, Labels, Gattungsnamen usw.): Das Begriffspaar ‚Rahmen‘ (frame) und ‚Rahmung‘ (framing) steht für Goffmans Annahme und Verständnis der Differenz von sozialem Sinn und sinnaktualisierender Praxis. Während Rahmen als Erzeugungsstrukturen definiert sind, die sich durch relative Stabilität, Autonomie und Immunität gegenüber der faktischen (Inter-)Aktion auszeichnen, erscheint die Rahmung, die Umsetzung von Sinn und der Sinn für Sinn, als kontingent, subjektiv anforderungsreich und (weil) offen und anfällig (Willems 1997: 46).

In jedem kommunikativen Geschehen helfen die Interaktionsrahmen und das soziale Wissen über deren Bedeutung allen Beteiligten, entsprechende Erwartungshaltungen zu konstituieren und angemessene Beurteilungen vorzunehmen. Aptum heißt daher, dass sich der rhetorische Stratege bei seinen Maßnahmenkalkülen darauf einzustellen hat. Für den Texttheoretiker Teun A. van Dijk sind solche Frames „bestimmte Organisationsformen für das konventionell festgelegte Wissen, das wir von der ‚Welt‘ besitzen. Rahmen bilden daher einen Teil unseres semantischen allgemeinen Gedächtnisses“, und

Eigentlichkeit als Rhetorik-Frame | 59 Kenntnis des Rahmens ist notwendig für die korrekte Interpretation unterschiedlichster Ereignisse, für die adäquate eigene Teilnahme an solchen Ereignissen und im allgemeinen für die Sinngebung unseres eigenen Verhaltens und dessen der anderen. Beispielsweise sind ‚Essen im Restaurant‘, ‚Reisen mit dem Zug‘ und ‚Einkaufen‘ solche Rahmen, die festlegen, welche Handlungen, in welcher Reihenfolge und mit welchem Grad an Notwendigkeit wir sie verrichten müssen, wenn wir ein bestimmtes soziales Ziel erreichen wollen. Es zeigt sich somit, daß diese Rahmen eine Form mentaler Organisation darstellen – für komplexe, stereotype Handlungen und Ereignisse (1980: 169–170).

Nicht nur in der Textlinguistik, sondern auch in der Semantikforschung und kognitiven Linguistik spielt der Frame-Begriff seit den 1980er-Jahren eine wichtige Rolle, wie die neueren Publikationen von Busse und Ziem deutlich machen. 7 George Lakoff (1987: 68) spricht von „idealisierten Denkmodellen“ als Einbettungsrahmen von Äußerungen, insbesondere auch bei Metaphern, und betont damit den Abstraktionscharakter hinter der Framebildung. Charles J. Fillmores Frame-Ansatz geht letztlich in dieser Konzeption auf. Fillmore (1982; 1985) postuliert ebenfalls, dass Bedeutungen sprachlicher Zeichen nur vor dem Hintergrund von Frames zu erklären sind. Nach ihm ist etwa die Bedeutung des Verbs kaufen nicht ohne die Konzepte von Käufer, Verkäufer, Verkaufsgegenstand und Tauschgegenstand sowie einer Reihe von Transaktionen beschreibbar. Das Frame-Konzept betrifft diverse, abgestufte Ebenen. Es ist mikroskopisch (Satzebene), mesoskopisch (Textebene) und makroskopisch (Settingebene) dimensioniert und bei der Produktion wie bei der Analyse sprachlicher Äußerungen im Sinne der von de Beaugrande & Dressler (1981: Kap. V.16) vorgeschlagenen interaktionalen Betrachtungsweise in seiner Komplexität zu beachten. Frames gehören für de Beaugrande & Dressler zu jenen „global patterns“, die für den Verstehensprozess unabdingbar sind. Als solche stehen „frames“ in einer Reihe mit „schemas“, „plans“ und „scripts“, die in ähnlicher Hinsicht Verstehenshilfe bieten, jedoch unterschiedliche Leistungspotenziale haben. Für den rhetorischen Verstehenszusammenhang sind Frames nicht zuletzt auch in Hinblick auf die Zuweisung des jeweiligen Verbindlichkeitsstatus von Äußerungen wichtig, die sich aus den Interpretationsinstruktionen ergeben, die Textgattungen oder -sorten (z.B. Roman oder Polizeiprotokoll) und Kommunikationssettings (z.B. Theateraufführung oder Gerichtsprozess) mitliefern (Bauer et al. 2010: 10).

|| 7 Ziem 2008 und Busse 2012; Überblick zum Framing auch bei Simons & Jones (2011: 177–209).

60 | Joachim Knape Vor diesem Hintergrund können wir folgende erste Bestimmung vornehmen: Mit kommunikativer Eigentlichkeit bezeichnen wir Framekohärenz (Rahmenerfüllung) und mit kommunikativer Uneigentlichkeit die Framedissonanz (Rahmenunverträglichkeit).

4 Rhetorische Eigentlichkeit intrinsisch: Die auf das Kotext-Framing bezogene Analyse Wie stellt sich dies innerhalb der allgemeinen Rhetoriktheorie dar? Oben war bereits von den zwei rhetorischen Untersuchungsperspektiven die Rede. Wir begegnen ihnen bereits in der klassischen Rhetoriktheorie. So untersucht etwa Quintilian figurative rhetorische Strukturen intrinsisch unter Bezug auf die inneren Frames von Kotext und Sprachsystem bzw. Sprachwissen. 8 Dies tritt bei seiner Definition der Tropen hervor: „Ein Tropus ist die Vertauschung der eigentlichen Bedeutung (propria significatio) eines Wortes oder Ausdruckes mit einer anderen“ (Quint. inst. or. 8,6,1). Alles hängt bei dem Urteil, ob eine Metapher vorliegt oder nicht, von der Interpretationsleistung der Interaktionspartner ab (Knape 1997a). Erstens muss der Interpret erkennen, dass ein Wort im Satz-Frame nicht bruchlos ins semantische Umfeld passt bzw. die semantischen Solidaritätsnormen seiner Umgebung verletzt (Knape 1997a: 260–261; Abraham 1998: 227–267). In unserem Ausgangsbeispiel kann der Leser solche Überlegungen bei dem Wort „Bürschlein“ anstellen. Sprecher Nr. 10 wählt für die im Kotext eigentlich zu erwartenden Ausdrücke Mann oder Beschuldigter oder Übeltäter usw. das Wort Bursche in der Diminutivvariante Bürschlein, das im Deutschen als rein denotierender Begriff normalerweise für ein Kind oder für einen Jüngling verwendet wird. Die Mehrzahl der Sprechergruppe der Deutschen wird bei dem hier vorliegenden Gebrauch des Wortes „Bürschlein“ auf Nachfrage ein gewisses Verfremdungserlebnis einräumen, das für die bewusste Identifikation einer Metapher konstitutiv ist, es sei denn, die Befragten gehen unwahrscheinlicherweise davon aus, dass sich die „Unter|| 8 Sein Ansatz trifft sich hier mit modernen textlinguistischen Untersuchungen wie etwa Berg (1978). Freilich bezieht auch Berg (1980: 23–24) schon in seine Analyse die pragmatische Frage mit ein, auf welche eigentliche oder „mögliche Welt Bezug genommen wird“ im Sinne der „possible world“-Theorie. Damit steht der „Wahrheitswert der Sätze“ im Fokus. Zur Uneigentlichkeitszuschreibung bei rhetorischen Figuren ließen sich zahlreiche weitere, neuere Aufsätze anführen, die in dem vorliegenden Band an anderer Stelle auftauchen.

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mensch“-Diskussion im Fall unseres Zitats tatsächlich an einem Kind (eben einem Bürschlein) als Subjekt entzündet. 9 Zweitens ist mit dieser Identifikationsleistung ein Rekurs auf das sprachliche System- bzw. Sprachwissen des Deutschen verbunden. Sprecher und Adressat müssen über das semantische Solidaritäts- oder genauer: über das lexikalisch-semantische Kombinationssystem des Deutschen Bescheid wissen, um das Metaphernurteil kompetent fällen zu können. Der antike Rhetoriker Quintilian geht davon aus, dass dieses Wissen immer mitspielt. Er sagt, im rednerischen Ausdruck habe ja immer der übliche Sprachgebrauch, also die Sprechsitten und -gebräuche (die consuetudo), Vorrang vor abstrakten oder rein logisch begründeten Wahrheitsnormen (veritatis regulae): „Wir folgen eher der allgemein üblichen Redeweise als der eigentlichen Norm der Wahrheit (secundum communem potius loquendi consuetudinem quam ipsam veritatis regulam)“ (Quint. inst. or. 11,1,12–14). Nur kurz sei an dieser Stelle vermerkt, dass im Hintergrund antiker Rhetoriküberlegungen zum uneigentlichen Sprachgebrauch auch die verbum proprium-Theorie mitzudenken ist, nach der jedem Gegenstand der Welt ein spezifisches Wort zukommt. „Der Bezeichnung der gemeinten res (Sache) dient das durch die consuetudo (Gewohnheit) der res von Anfang an zugeordnete verbum proprium (eigentliche Wort)“ (Lausberg 1990: § 533 unter Bezug auf Quint. inst. or. 8,2,22). Dementsprechend lautet Quintilians Definition: Die „eigentliche Bedeutung (proprietas)“ ist „die Benennung, die einem jeden Ding eigen ist (sua cuiusque rei appellatio)“ (Quint. inst. or. 8,2,1). Diese semantiktheoretische Vorstellung wurde durch Boëthius dem Mittelalter bis weit in die frühe Neuzeit hinein weiter vermittelt. Für den Proprietätsaspekt stellt Boëthius eine Relation auf, „deren erstes Glied immer die späteren impliziert“ (Pinborg 1967: 31 mit Bezug auf Boethius, ed. Meiser 1980: 20,29–25,5): Sache → Bedeutung im Denken → Ausdruck (res → intellectum → vox) Zugleich gibt es in der Antike aber auch eine Konventionstheorie. Der Rückgriff auf den alltäglichen oder ‚normalen‘ Sprachgebrauch, der sich in den Gewohnheiten (consuetudines) der Menschen niederschlägt, liegt auch der rhetorischen Textproduktionsmaxime der Durchsichtigkeit oder Klarheit (perspicuitas) zu Grunde, die Cicero mit der Forderung nach Verständlichkeit in rhetorischer,

|| 9 Was freilich – so viel sei hier als Zusatzinformation mitgeteilt – nicht stattfinden würde, wenn man mehr als nur diesen knappen Textausschnitt vorliegen hätte.

62 | Joachim Knape d.h. normalkommunikativer Interaktion zusammenbringt. Das Verstehen (intellegere) erreicht man „natürlich durch korrektes Sprechen, durch Worte, die gebräuchlich sind und treffend das bezeichnen, was wir ausdrücken und erklären wollen, ohne Doppelsinn in Wort und Ausdrucksweise (sine ambiguo verbo aut sermone)“ (Cic. de or. 3,49). So besteht etwa die metaphorische Operation für die antiken Autoren strukturell in einer Substitution von Verba propria (Knape 1992). Das Ergebnis können Unklarheiten sowie Doppel- oder Zweideutigkeiten sein, bisweilen auch durchaus beabsichtigt. Quintilian diskutiert dies ausführlich (Quint. inst. or. 8,2). Für den dabei vorausgesetzten, kotextuell aktivierbaren Kontrast verwendet er die Begriffe des Uneigentlichen (inproprium), also das, was einer res nicht zugehört, und des Eigentlichen (proprium) im oben erwähnten Verständnis. Uneigentlich sind nicht nur metaphorische Wendungen, sondern eben auch idiomatische Bedeutungen von Ausdrücken sowie Homonymien. Diese und weitere Konstruktionen führen zur Dunkelheit des Sinns (obscuritas). Sein Ratschlag lautet: „Zu meiden ist vor allem die Zweideutigkeit (ambiguitas)“ (Quint. inst. or. 8,2,16). Dieses Postulat korreliert in neuerer Zeit mit den Maßstäben der Konversations-Maximen-Lehre des englischen Kommunikationsphilosophen Herbert P. Grice (1975: 47), insbesondere seiner vierten Maxime der Modalität/„Maxim of Manner“ (Sei klar! Sprich verständlich und vermeide Vagheiten, fasse Dich kurz und sprich geordnet!).

5 Rhetorische Eigentlichkeit extrinsisch: Die auf das Kontext-Framing bezogene Analyse Bevor ich wieder auf die oben angesprochene fundamentalrhetorische Frage nach der causa rhetorica und damit auf die Frage nach dem Sitz der Rhetorik im Leben zurückkomme, 10 um dabei die Eigentlichkeitsbedingung des rhetorischen Falls zu besprechen, sind noch einige weitere hinführende Überlegungen nötig. Zunächst soll von Kapitel 3,3 der antiken Summe des Rhetorikwissens die Rede sein, in der Quintilian die gesamte zeitgenössische Fachliteratur diskutiert. Er fragt sich unter anderem, mit Hilfe welcher Systematisierungsbegriffe man zu Einteilungen (divisiones) des umfangreichen Theoriegebäudes der rhetorischen Disziplin gelangen kann, und schlägt vor, die Theorie systematisch zu perspektivieren. Die Theoriebestandteile sollte man teils der theoretischen Größe ‚Orator als Akteur‘ zuordnen, teils der rein ‚technischen Kunstlehre‘, teils den ‚Pra|| 10 Zur ‚Sitz im Leben‘-Theorie siehe Wagner (1996).

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xisfeldern‘ der Rhetorik. Für die Unterteilungen kommen aber zu seiner Zeit bedauerlicherweise nur wenige Begriffe wie „Teil“, „Werk“ oder „Aufgabe“ sowie „Element“ als sinnvolle Rubriken in Betracht, was zur Folge hat, dass derselbe Begriff (nomen) mehrfach in der Systematik auftritt. Quintilian sieht das als nicht befriedigend an. Das gilt insbesondere für das oft gebrauchte Wort „Bestandteil“ oder „Teil (die pars)“ eines systematischen Zusammenhangs. So pflege man einerseits von den Produktionsstadien der Rede als „Teilen“ der Rhetorik zu sprechen, aber etwa auch davon, „die Teile (partes) der Rhetorik seien die Lob-, Beratungs- und Gerichtsrede (laudativum, deliberativum, iudicialem)“. Hier müsse man mit weiteren Erläuterungen für Klarheit sorgen. Wenn dieses nämlich „Teile“ der Rhetorik seien, „so eher des Gegenstandsbereichs (der materia) als der handwerklichen Technik (ars); denn in jedem einzelnen von ihnen ist die Rhetorik [in technischer Hinsicht] ganz enthalten“, da ja auf jedem dieser Praxisgebiete die Produktionsstadien der Rede Anwendung finden. „Deshalb haben manche sie lieber die ‚drei Gattungen der Rhetorik‘ (genera tria rhetorices) genannt, am besten aber die, denen Cicero gefolgt ist, ‚Fallarten‘ (genera causarum)“ (Quint. inst. or. 3,3,14–15).

5.1 Die klassischen rhetorisch-kommunikativen Fallarten (genera causarum) Diese Lehre von den rhetorischen Kommunikationsfällen (causae) fußt auf Aristoteles. Er isoliert in seiner Rhetorikschrift aus der Fülle aller in der Polis vorkommender Kommunikationssettings die drei rhetorikrelevanten aufgrund pragmatischer und thematischer Kriterien: Redner, Gegenstand (Materie) und Hörer. 11 Wichtig ist, dass er die literarischen Künste systematisch abtrennt, indem er ihnen eine eigene Theorie (seine Poetik) widmet. Was nun die drei von ihm ins Auge gefassten rhetorischen Kommunikationsfälle angeht, so sieht er in allen drei Fällen die rhetorische Strategiebedingung der Persuasion gegeben. Dabei sind alle Überzeugungskalküle des Orators auf den Zuhörer (den akroatēs) in der Politik, vor Gericht oder bei den sozialoffenen Akten staatlicher Repräsentation gerichtet: Ein Zuhörer muß mitdenken oder urteilen, urteilen entweder über Vergangenes oder Künftiges. Wer über Künftiges urteilt, ist z.B. ein Mitglied der Volksversammlung, wer

|| 11 Unschwer erkennen wir darin jene drei Instanzen der Kommunikation, die im modernen „klassischen“ Kommunikationsmodell ebenfalls die Eckpunkte bilden; siehe Knape (2000: 34).

64 | Joachim Knape über Vergangenes, z.B. Richter; wer nur das rednerische Vermögen beurteilt, ein bloßer Betrachter (theōrós) (Arist. Rhet. 1,3,2; Übers. n. ed. Krapinger 1999).

Aristoteles – und mit ihm die folgende Rhetoriktradition – bestimmt die rhetorischen Fallarten nach einem klaren Differenzkriterium, das es erlaubt, den rhetorischen Fall von anderen Kommunikationsfällen zu unterscheiden. Es muss eine Orientierungs- und Beurteilungs-Asymmetrie zwischen Orator und Adressat vorliegen bzw. ein Wettstreit von divergenten Meinungen oder Haltungen bezüglich eines Sachverhalts, was dann das Überzeugungshandeln auslöst (Knape 2003: 875; Knape 2012a: 76, 79). In anderen Fällen wäre rhetorischer Aufwand ja auch nicht vonnöten. Cicero spezifiziert dies dreihundert Jahre nach Aristoteles in seiner Inventionsschrift, wenn er die Rhetorik in diesem Sinn auf die kommunikative Bewältigung einer bestimmten Art von Streitfragen (controversiae) festlegt, die er den finiten Streitfall (causa finita) nennt, im Gegensatz zu einer allgemeinen Fragestellung (quaestio infinita) nach Art eines philosophischen Debattenfalls. Quintilian wird später in beiden Fällen von Quaestionen, finiten und infiniten, sprechen (Quint. inst. or. 3,5,5–18). Für Cicero beinhaltet die spezifisch rhetorische Causa „eine Auseinandersetzung (controversia), die auf einem Redevortrag beruht, bei dem bestimmte Personen“ und damit konkrete Sachlagen verhandelt werden. Und wie Aristoteles stelle auch er fest, sagt Cicero, „dass dieser Fall dem Orator zugeteilt ist“ und damit den rhetorischen Fall ausmacht (Cic. inv. 1,6,8).

Exkurs: Die Problematik der dritten Fallart Gerade in dieser Hinsicht stellt aber der dritte Rhetorikfall der öffentlichen Vorzeigerede (epídeixis), die mit Lob oder Tadel arbeitet, einen Grenzfall im wörtlichen Sinn mit einer Tendenz zum theoretischen Problemfall dar (Arist. Rhet., ed. Rapp 2002: Kommentar im 2. Halbband, 391). Die Grenzüberschreitung betrifft das genannte Differenzkriterium der Persuasion und das Überschreiten hin zum Fall rein ästhetisch kalkulierter Kommunikation. Bei Feierlichkeiten, bei Triumphen oder Trauerfällen entfällt die das Persuasionshandeln auslösende Agonalitätsbedingung hinsichtlich der Orientierung der beteiligten Personen nämlich weitgehend. Die Reden haben hier eher affirmative Funktion auf Basis eines Grundkonsenses. Damit kommt das proprietäre theoretische Differenzkriterium der Rhetorik – die Wechselerzeugung – für die Vorzeigerede ins Wanken, und in der Folge liegt dann unter strengeren Theoriegesichtspunkten eine Reduktion auf nur mehr zwei sozialoffene Rhetorikfälle (Beratungs- und Gerichtsrede) nahe.

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Schon Aristoteles ist sich darüber im Klaren, dass die Vorzeigerede anders als die anderen beiden Funktionalgattungen „nicht durch einen institutionell vorgegebenen Anlass bestimmt“ wird (Arist. Rhet., ed. Rapp 2002: Kommentar im 2. Halbband, 390) und generell gewisse systematische Probleme aufwirft. Er bietet zwei Auswege an, um die von ihm (aus der Praxis in die Theorie) eingeführte Falltrias zu begründen und dabei das Tertium comparationis der Persuasivität zu erhalten. Wie das obige Zitat deutlich macht, verlagert er bei der dritten Gattung einerseits das Persuasionsziel von der Sache auf den Orator. Der Adressat soll im Fall der ganz auf die Gegenwart bezogenen Vorzeigerede von der Fähigkeit (dýnamis) des Redners, eloquent zu reden, überzeugt werden. Insofern gilt dann doch auch hier die Persuasionsbedingung. Andererseits relativiert Aristoteles zur Heilung des theoretischen Mangels den Status der Epideixis, indem er entsprechende inserierte oder unselbständige Redeäußerungen als akzidentell bewertet (Arist. Rhet. 1,3) oder sie im Fall einer selbstständig dastehenden Vorzeigerede eher als abwägend, mit philosophischreflektierendem Sinn versehen, einstuft (Arist. Rhet. 1,9) und ihr dabei zugleich die Sprechakt-Valeur der Ermahnung zuspricht (Arist. Rhet., ed. Rapp 2002: Kommentar im 2. Halbband, 390–391). Damit erhielte die dritte Fallart eine abgeschwächte Persuasionskomponente, denn sie soll nicht echten Wechsel (Metabolie) erzeugen, sondern meistens nur abklingende Bindung (Systase) wieder aufrichten. Es ist an dieser Stelle hervorzuheben, dass Aristoteles in dem oben angeführten Zitat den Adressaten der rhetorischen Intervention im Fall der dritten Gattung als Theoros (Betrachter) bezeichnet. Das ist eine bemerkenswerte Handlungszuweisung im kommunikativen Interaktionsgeschehen. Der Epideixis (dem Vorzeigen oder Vorführen) auf Senderseite wird hier auf der Adressatenseite – also gewissermaßen auf der gegenüberliegenden Seite des klassischen Kommunikationsmodells – lediglich die Theoria (die betrachtende kognitive Anteilnahme) gegenübergestellt. Der Adressat schaut hier nur und lässt sich beeindrucken, denkt nach. Aber der Adressat urteilt hier nicht im strengen Sinne des Iudiciums, das eine Entscheidung im praktischen Leben begründen müsste, wie es der eigentliche rhetorische Fall verlangt. Damit ist die Neigung zur Grenzüberschreitung hin zum Theatralischen und damit hin zu jenem Kommunikationsfall angesprochen, den wir den ästhetischen Fall nennen können. Quintilian entwickelt dementsprechend 400 Jahre nach Aristoteles eine sehr differenzierte Vorstellung von der Vorzeigerede, die sie der theatralischen Schaustellung annähert. Er schreibt, man nenne sie zwar „die vorzeigende Rede“ (demonstrativum) nach griechischem Vorbild.

66 | Joachim Knape Jedoch scheint mir epideiktikón nicht so sehr die Bedeutung von ‚Vorführung‘ (demonstratio) als von ‚Schaustellung‘ (ostentatio) zu haben und sich stark von dem enkōmiastikón (Lobrednerischen) zu unterscheiden; denn es enthält zwar die Gattung der Lobrede in sich, beschränkt sich aber keineswegs nur auf sie (Quint. inst. or. 3,4,12–13).

Quintilian geht noch weiter. Ihm ist klar, dass diese Gattung gegenüber den anderen beiden auch in ihrer sozial-interaktionalen Wertigkeit auf der Grenze liegt, und dass sich hier die oben angesprochene Frage des Frames als Erwartungshaltung beim Hörer als „Betrachter“ stellt. Er bemerkt, dass die demonstrative Rede in Richtung individuellen Erlebens tendiert, insbesondere auch in Richtung dessen, was wir heute persönlichen Kunstgenuss nennen: Diese Gattung hat offenbar Aristoteles und ihm folgend Theophrast aus dem Tätigkeitsbereich der Gemeinschaft – das heißt pragmatikē – entfernt und sie ganz den Einzelhörern (ad solos auditores) zugewiesen – und dieser Eigentümlichkeit entspricht ja auch die Bezeichnung, die von Schaustellung (ostentatio) 12 abgeleitet wird (Quint. inst. or. 3,7,1).

Quintilian führt dies letztlich auf Erfahrungen zurück, die den Umgang mit bestimmten Texten dieser Funktionalgattung betreffen und die zu seiner Zeit inzwischen situationserlöst für sich ästhetisch gewürdigt werden. Damit unterliegen sie ganz speziellen Kommunikationsbedingungen (auch jenseits des sozialoffenen Raums, in dem die deliberative und die iudiciale Rede stehen). Er wolle in diesem Sinne nicht leugnen, dass es „Stoffkompositionen gebe, die lediglich als Kunstleistungen für die Zurschaustellung gemacht worden sind (materiae compositae ad solam ostentionem), z.B. die Lobreden auf Götter und auf Helden, die frühere Zeiten hervorgebracht haben.“ (Quint. inst. or. 3,7,3) Quintilian sieht angesichts der auch von ihm akzeptierten theoretischen Prämissen der Disziplin Rhetorik das Zwitterhafte der dritten Fallart nicht ohne kritischen Unterton. Im weiteren Fortgang seiner Überlegungen zu deren Framing bemüht er sich, darauf hinzuweisen, dass zahlreiche Manifestationen dieser Redeart in der römischen Praxis durchaus ihren Platz im ‚staatlich‘ organisierten, sozialoffenen und ritualisierten Settingzusammenhang finden. Insofern handele es sich eben doch auch um einen Fall, der in die sozialrhetorischen Zusammenhänge von Politik, Staatswesen und Recht integriert sei: Doch die römische Art hat auch diese Aufgabe in den Bereich öffentlicher Geschäfte eingereiht. Denn einmal hängen die Lobreden am Grabe häufig mit einer Aufgabe für die Öf|| 12 Dazu Helmut Rahn in einer Fußnote seiner Quintilian-Übersetzung: „d.h. epídeixis, weil sich in dieser epideiktischen Form die Sprachkunst zur Schau stellt, Selbstzweck wird. Deshalb gehört das poetische Kunstwerk generell zu dieser Redeform“ (Quint. inst. or., ed. Rahn 1988: Erster Teil, 349).

Eigentlichkeit als Rhetorik-Frame | 67 fentlichkeit (publico officium) zusammen und werden auf Senatsbeschluss oft Amtsträgern übertragen; sodann gehört einen Zeugen zu loben wie auch das Gegenteil zu den wesentlichen Dingen vor Gericht, und sogar dem Beklagten selbst kann man Lobredner stellen (Quint. inst. or. 3,7,2).

Diese Bemerkung Quintilians können wir zu einem Konzept abstrahieren, das von der Tatsache ausgeht, dass ästhetisierte Texte immer wieder auch in Kommunikationsereignissen inseriert werden, deren Settings auf normalkommunikative Erwartungsframes basieren. Wir können solche Inserate dann den ästhetischen Faktor im rhetorischen Rahmen nennen. Quintilians Äußerungen schließen an eine schon lange vor seiner Zeit in den theoretischen Schriften des Faches geführte Debatte an. Hier ist insbesondere an Ciceros De oratore aus dem Jahr 55 v. Chr. zu erinnern. In dieser wichtigsten römischen Theorieschrift zur Rhetorik diskutieren die Teilnehmer des Expertengesprächs das Problem des kommunikationstheoretischen Status – wie man heute sagen würde – der dritten Fallart kontrovers. Cicero legt insbesondere dem Rhetorikpraktiker Antonius kritische Bemerkungen in den Mund. „Warum zögerst du“, fragt ihn deshalb der Gesprächsteilnehmer Catulus, „sie als die dritte Gattung anzusetzen, da es doch in der Natur der Sache liegt? Man muß sie doch nicht, wenn sie anspruchsloser ist, deshalb auch von der Liste streichen“ (Cic. de or. 2,47). 13 Cicero lässt auf diese Frage hin seinen Protagonisten Antonius eine wichtige Unterscheidung vornehmen. Man müsse und könne doch nicht bei allem, „was dem Redner irgendwann begegnet“, die Theorie der Rhetorik bemühen, so als ob man als Mensch nichts ohne deren Lehrsätze (praecepta) im Hintergrund sagen könne. Es gebe durchaus viele Kommunikationsarten und Textsorten, für die man die Rhetoriktheorie nicht brauche. Cicero führt die ‚Zeugenaussage‘ als Textsorte an. Sie gehört, wie wir heute sagen würden, zur skriptgeleiteten Kommunikation, also zu jener Kommunikation, die keinen rhetorischen Aufwand verlangt, sondern nach einfachen Konventionen abläuft.14 Bei Cicero heißt es in diesem Sinn: „Soll man nun etwa, wenn man Regeln für die Redekunst gibt, wie bei einer systematischen Darstellung (in arte) auch eine Anweisung für Zeugenaussagen erteilen?“ (Cic. de or. 2,48). Genauso wenig sei die Rhetoriktheorie bei einer Befehlsausgabe oder bei einem Bericht gefragt. Wie gesagt, würde man heute davon sprechen, dass die Entstehung solcher Texte gewissen Regeln der rhetorikneutralen Skriptkommunikation || 13 Übersetzung hier wie auch sonst mit kleineren Varianten nach Cic. de or., ed. Merklin (1981). 14 „Ein Skript ist eine Struktur, die angemessene Sequenzen von Ereignissen in spezifischen Kontexten beschreibt“ (Schank & Abelson 1977: 41).

68 | Joachim Knape folgt. Cicero drückt dies anders aus, doch auch bei ihm sind sich die Gesprächspartner aufgrund ähnlicher Überlegungen schnell einig, dass in solchen Kommunikationsfällen die üblichen Erfahrungen mit Textregulativen und Konventionen ohne Rückgriff auf die Rhetorik ausreichen. „Einem wortgewandten Mann“, heißt es bei Cicero, „wird auch in solchen Fällen die Fähigkeit, die er sich bei den anderen Gelegenheiten und Anlässen angeeignet hat, nicht fehlen“ (Cic. de or. 2,49).

5.2 Der standardkommunikative Frame als Eigentlichkeitsbedingung des rhetorischen Falls Noch einmal zurück zur Frage, wie das eingangs zitierte Textfragment unter rhetoriktheoretischen Vorzeichen zu beurteilen ist. Der erste Befund führte zu der Einschätzung, dass es sich hier nicht um Small Talk, sondern offenkundig um ein kontroverses Gespräch zu einem ernsten Thema handelt, in dem mindestens zwei der Gesprächspartner mit dem Ziel argumentieren, die anderen jeweils von ihrer Meinung zu überzeugen. Diese Einschätzung würden heute, wenn man dieses Textstück zum Gegenstand einer empirischen Untersuchung machte, gewiss die meisten Versuchspersonen teilen, die mit den im Deutschen üblichen Gesprächstypen und Textsorten vertraut sind. Zu deutlich treten die auch aus Alltagsgesprächen und Diskussionserfahrungen bekannten Argumentationsstrukturen des Beweisens und Widerlegens, kurz: die formalen Strukturen argumentativer Persuasionsversuche hervor. Es kann letztlich also kein Zweifel daran bestehen, dass strukturell gesehen Strategien der rhetorischen Kernoperation des Überzeugens vorliegen. Auch andere strukturelle Überlegungen könnten bei Fortsetzung der intrinsischen Betrachtungsweise angestellt werden. Hier sei nur auf einen weiteren Punkt verwiesen: Wenn wir an die gerade erörterte klassisch-rhetorische Fallartenlehre (also die der genera causarum) denken, fällt auf, dass das Gespräch bei den antiken Theoretikern als Kommunikationsmodus überhaupt nicht vorkommt. Es geht da immer nur um monologisches Redenhalten. In der Tat war das Gespräch nach antiken Vorstellungen Sache der Philosophen, nicht der Rhetoriker, und erst in neuerer Zeit wird es als Gegenstand der rhetorischen Theoriebildung entdeckt. Da genuin gesprächsrhetorische Überlegungen an dieser Stelle zu weit führen würden,15 sei dies aber nur als Randnotiz vermerkt. Immerhin bleibt festzuhalten, dass man auf Text|| 15 Entsprechende Ansätze bei Kallmeyer (1996: 10–11); Knape (2009).

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ebene vielfach durchaus von ‚rhetorischen Strukturen‘ im technischen Sinn sprechen kann.

5.2.1 Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit als Statuszuschreibung im Kommunikationsereignis Unschwer würden heute kompetente Sprecher bei einem Experiment auch die Themen unseres Textfragments nennen oder zusammenfassen können. Der Mehrheit der Versuchspersonen wäre sicherlich bald klar, dass der Gesprächsausschnitt unter anderem das Thema Lüge und Wahrheit verhandelt. Das Textstück selbst wirft also jene Frage auf, die mit Hilfe einer textimmanenten Analyse niemals beantwortet werden kann, die Frage nämlich, ob das Textfragment selbst ‚wahr‘ ist, d.h. auf Tatsachen außerhalb seiner selbst referiert. Intrinsisch lässt sich dies nicht klären, wenn man unter ‚wahr‘ den Bezug auf lebensweltliche Faktizität versteht, auch wenn Texte selbst dies immer wieder behaupten. Hier wird die Wahrheitskategorie in einem bestimmten Sinn gebraucht, über den sich Linguisten, Logiker, Argumentationstheoretiker und Kunstphilosophen auch in neuerer Zeit immer wieder Gedanken gemacht haben. In seiner von der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung preisgekrönten Akademieschrift Linguistik der Lüge hat sich der Romanist Harald Weinrich 1966 zur Frage geäußert, wann ein Wort in Hinsicht auf seine Bedeutung, seinen Sinn und die an es geknüpfte Meinung „vollständig determiniert“ sei (Weinrich 1974: 31). Seine Antwort lautet, dass man stets „das Wort im Text“ (Weinrich 1974: 24) betrachten müsse und seinen konkreten Gebrauch, um zu entsprechenden „Determinationen“ zu kommen. Ich brauche das Wort ‚Feuer‘ ja nur in ein Gespräch und dieses in eine eindeutige Situation zu versetzen, so erreiche ich mit Kontext und Situation eine Determination der Wortbedeutung ‚Feuer‘ auf eine Meinung hin, die an Präzision nicht zu überbieten ist (Weinrich 1974: 30–31).

Zweifellos gilt diese Feststellung Weinrichs auch für unser Textbeispiel. Doch damit ist noch nicht alles gesagt. Unser „Gespräch“ könnte nämlich ein simuliertes Gespräch in einer gespielten „Situation“ sein, die im Sinne Weinrichs zwar einen nutzbaren Frame für die Bedeutungsanalyse abgibt, doch eine Aussage über den rhetorischen Wert oder den kommunikativen Status der Äußerungen (im Sinne des genannten Wahrheitswerts) erst dann zulässt, wenn wir Informationen über die Eigentlichkeitsbedingung der Szene besitzen. Es geht dabei um die Zuschreibung des Prädikats ‚real‘ an einen wahrnehmbaren Vor-

70 | Joachim Knape gang. Wir lernen im Lauf unseres Lebens unsere Wahrnehmungen nach diesem Kriterium zu sortieren. Wir lernen Traum, Trance, Phantasie, Halluzination oder Hypnotisches von dem zu trennen, was wir ‚Realität‘ nennen. Diese Realitätshypothese sichert uns das Überleben in einer Welt möglicher Täuschungen. Aber natürlich haben wir immer wieder Schwierigkeiten mit entsprechenden Statuszuweisungen. Nur ein klares Schwellenbewusstsein beim immersiven Eintritt in virtuelle Angebote und eine Fülle pragmatischer Informationen sichert uns eine hohe Wahrscheinlichkeit, das Prädikat ‚real‘ auch begründet zu vergeben.16 Es gibt also offenbar eine Weise des menschlichen Zeichengebrauchs, die nicht auf die übliche Art mit einem lebensweltlich verbindlichen ‚Geltungsanspruch‘ auftritt. 17 Auf sie bezieht sich die heute üblicherweise verwendete theoretische Unterscheidung von Faktizität und Fiktionalität. Logiker denken in diesem Zusammenhang über den Wahrheitswert von Äußerungen nach. Die an diese Problematik geknüpfte Differenz beim Äußerungsstatus kann man wie folgt charakterisieren: Rede, die ihre Gegenstände in Gestalt der Rede erst bildet und hervorbringt, etwa als Erzählung (Roman, Novelle), als Lyrik, als Witz oder als Lobgebet, verzichtet darauf, Geltung für sich in Anspruch zu nehmen bzw. diesen Anspruch einzulösen, um wesentlich andere Kommunikationsabsichten ins Spiel bringen zu können (Gerhardus, Kledzik & Reitzig 1975: 105).

Die entsprechenden, in Lernprozessen des Lebens angeeigneten Merkmale von Textsorten und -gattungen geben den Mitgliedern einer Sprechergruppe entsprechende orientierende Signale. Das gilt auch für die „Gegenbeispiele zu dieser Art Rede“, wie etwa Berichte, Reportagen, also alle Sorten von Sachtexten und besonders wissenschaftliche Rede. Fiktive Rede, wie wir jetzt sagen wollen, bringt ihre Gegenstände aufgrund der in der Lebenspraxis vorfindlichen Gegenstände erst hervor und zwar so, daß gerade keine Verfahren an die Hand gegeben werden sollen, solche Rede auf lebenspraktische Situationen, also auf primäre dialogische Interaktionen eindeutig zurückzuführen. Ebenso läßt sie es nicht zu, auf Geltungsansprüche einlösende Verfahren reduziert zu werden. In diesem Sinne ist fiktive Rede verwendungsunbestimmt (Gerhardus, Kledzik & Reitzig 1975: 105–106).

|| 16 Zum Schwellenproblem siehe Knape (2006: 211–213), zur „Verifikationsprobe“ Knape 1998, 61f. und zur „Wahrheits- und Faktizitätsprüfung“ bzw. „Beglaubigungsprobe“ angesichts textlicher Virtualität siehe Knape (1997b: 52–59). 17 Zum Begriff Geltungsanspruch siehe Habermas (1973: 220–221).

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Die vor allem in der so genannten Kunstperiode seit dem 18. Jahrhundert immer wieder diskutierte Idee des Autonomieanspruchs von Kunst hängt damit zusammen. Kein Zweifel besteht darüber, daß es eine Praxis ästhetischen Redens gibt. Bereits die Unterscheidung zwischen behauptender Rede und ästhetischer Rede macht deutlich, daß ‚ästhetische Rede‘ ein gebräuchlicher Ausdruck unserer Sprache ist.

Was hier „ästhetische Rede“ genannt wird, bezeichnet künstlerische Produktionshandlungen, künstlerische Handlungen, die spezielle Zeichenverwendungshandlungen und artistische Handlungen umfassen, in der Absicht ausgeführt, verwendungsunbestimmte Gegenstände hervorzubringen (Gerhardus, Kledzik & Reitzig 1975: 106).

Die Frage, wie die Kunst angesichts dieser Tatsache ihre Schnittstellen zur Lebenswelt etabliert, ist ein eigenes Thema, das hier nicht weiter verfolgt werden kann.18 Die Künstler reklamieren jedenfalls für ihre Art der Kommunikation immer wieder eigene Spielregeln. Hier könnte man die Frage aufwerfen, ob es spezifische Maximen für die Kunstkommunikation gibt, die einem historischen Wandel unterworfen sind. Die Folge einer entsprechenden Varianz nach Epochen und ‚Schulen‘ könnte dann sein, dass immer wieder auch bestimmte Maximen ausgeschlossen werden. Jedenfalls setzt die Kunst selbst gewissermaßen die Bedingungen für die kooperierende Interaktion fest. Die wichtigste Spielregel beruht auf der Akzeptanz des ‚Als-ob-Postulats‘, das alle Kommunikationsteilnehmer zunächst einmal als Festlegung auf die Interpretationsvorzeichen einer rein spielerischsimulativen Handlung, z.B. in Form eines stillschweigenden Fiktionalitätskontrakts, akzeptieren müssen. Dies führt uns zur spielskeptischen Sichtweise der Sprechakttheoretiker. Bei der Definition von lebensweltlich ‚ernsthaften‘, d.h. mit sanktionierbaren Folgen verbundenen Sprechhandlungen, klammern Sprechakttheoretiker das simulative Sprechen aus (Knape 2008: 899).

Entsprechend schreibt John L. Austin: In einer ganz besonderen Weise sind performative Äußerungen unernst oder nichtig, wenn ein Schauspieler sie auf der Bühne tut oder wenn sie in einem Gedicht vorkommen oder wenn jemand sie zu sich selbst sagt. Jede Äußerung kann diesen Szenenwechsel in glei-

|| 18 Dazu auch Gerhardus, Kledzik & Reitzig (1975: 106). Ich spreche mit Blick auf die immer wieder beobachtbare lebensweltliche Integration vom „rhetorischen Faktor“ in der lizenzkommunikativ gerahmten Kunst. Knape (2011: 20); (2012b: 121); (2013a: passim, Register unter rhetorical factor). Diesem habe ich oben den „ästhetischen Faktor“ in der standardkommunikativ gerahmten Rhetorik gegenübergestellt.

72 | Joachim Knape cher Weise erleben. Unter solchen Umständen wird die Sprache auf ganz bestimmte, dabei verständliche und durchschaubare Weise unernst gebraucht, und zwar wird der gewöhnliche Gebrauch parasitär ausgenutzt. Das gehört zur Lehre von der Auszehrung der Sprache. All das schließen wir aus unserer Betrachtung aus. Ganz gleich, ob unsere performativen Äußerungen glücken oder nicht, sie sollen immer unter normalen Umständen getan sein (Austin 1972: 43–44).

Und ähnlich John R. Searle: Von ‚ernsthaften‘ Äußerungen spreche ich im Gegensatz zu solchen, die bei der Teilnahme an einem Spiel, beim Lehren einer Sprache, bei der Rezitation eines Gedichts, bei Ausspracheübungen usw. gemacht werden (Searle 1971: 88).

„Ernsthafte“ Äußerungen sind Grundlage für „normale Ausgabe-Bedingungen“ (sinnvolles Sprechen) und „normale Eingabe-Bedingungen“ (Verstehen) von Sprechakten. „Das Erzählen von Witzen oder die Teilnahme an einem Spiel“ wären demnach sprechakttheoretisch gesehen „Kommunikationshindernisse“ beim Vollzug seriöser, d.h. nicht-spielerischer Sprechhandlungen (d.h. ein Urteilsspruch auf der Theaterbühne wäre in diesem Sinn kein seriöser Urteilsspruch). Für unsere weiteren Überlegungen ist in diesem Zusammenhang wichtig, dass sich hier eine Differenz im kommunikativen Status von menschlichen Äußerungen abzeichnet. Was ist damit gemeint? Wir Menschen lernen erst im fortgeschrittenen Vorschulalter, dass es zwei soziale Verwendungsweisen von Äußerungen gibt, die wir die eigentliche und die uneigentliche nennen können. Erst nach einigen Lebensjahren sind Kinder also fähig, den Unterschied beider Gebrauchsweisen zu erkennen (etwa Ironie zu würdigen) und auch entsprechend zu handeln. Mit Begriffen wie Spiel und Ernst (in Hinsicht auf soziale Geltungsansprüche), Wahrheit und Lüge (in Hinsicht auf moralische Frames), 19 Klartext und Ironie (in Hinsicht auf Semantik) oder Historie20 und Dichtung (in Hinsicht auf Faktengebundenheit von Annotationen 21) bringt uns unsere Lern|| 19 Die bekannte thomistische Wahrheitsdefinition (adaequatio verbi et rei/Übereinstimmung von Wort und Sache) bezieht sich hierauf. Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit in moralischer Hinsicht betrifft aber auch die Vorstellung eines Gegensatzes von Brauch (alltägliches Wahrsprechen) und Missbrauch (Lügen) menschlicher Äußerungen. 20 Für die „historischen“ Äußerungen gilt bei aller Skepsis gegenüber der Erreichbarkeit des Ideals dennoch nach wie vor stillschweigend die Ranke-Maxime „wie es eigentlich gewesen“ (Ranke 1957/1924: 4), die letztlich auf die Standardkommunikations-Hypothese rekurriert. 21 Annotation oder auch Notation: Das, was außerhalb der menschlichen Körper semiotisch manifest und damit in das Kommunikationsgeschehen eingebracht wird; vgl. Knape (2008: 896).

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umwelt diese fundamentale Differenz der Kommunikationsstatus von Texten bei. Solches Wissen und unsere kommunikative Lebenserfahrung konstituieren in jedem von uns bei Kommunikationsereignissen jene Erwartungsframes, die wir als „idealisierte Denkmodelle“ (Lakoff) auf gewisse Kontextframes zurückführen. Sie geben jene Einbettungsrahmen von Äußerungen ab, die Lakoff (1987: 68) insbesondere auch für die angemessene Interpretation von Metaphern präsupponiert. Vor diesem Hintergrund können wir zwei Status definieren, die als FrameGrundmodelle für die Erwartungshaltungen in der Kommunikation fungieren: 22 1. Den standard- oder normalkommunikativen Kommunikationsstatus von Äußerungen. Wir können ihn den Status der Eigentlichkeit nennen. 2. Den lizenz- oder sonderkommunikativen Kommunikationsstatus von Äußerungen. Wir können ihn den Status der Uneigentlichkeit nennen. Die Frage, ob diese Status etwa auch im philosophischen Sinn ontologisch verankert sind oder noch weitergehende sozialpsychologische Valeurs haben, ist für unseren Zusammenhang ohne Belang. 23 Beide genannten Status beruhen, rhetoriktheoretisch gesehen, auf gesellschaftlicher Konvention. Um unseren Interpretationen eines Kommunikationsgeschehens einen der beiden Status zu Grunde legen zu können, muss uns das Ereignis interpretationsfähige Indikatoren liefern. Diese können sich aus dem pragmatischen Setting ergeben (Parlamentssetting oder Theatersetting usw.) oder die Texte liefern sie in Form von Markierungen mit (z.B. über Gattungsbezeichnungen; Knape 2013a: 145). Damit bekommen wir Hinweise auf die Art der Umsetzung des von Herbert P. Grice postulierten Kooperationsprinzips der Kommunikation, insbesondere zur Erwartung, ob die Konversationsmaximen 24 der Informationalität, Wahrhaftigkeit, Relevanz und Zeichenökonomie wohl eingehalten werden (Standardkommunikation) oder ob zu erwarten ist, dass sie eingeschränkt oder gar völlig suspendiert sind (Lizenzkommunikation). Eine auf dem Theater gespielte Szene, bei der sich die Protagonisten in einem Gespräch wechselseitig zu überzeugen versuchen, würden wir vor diesem Hintergrund wie folgt einordnen: Im Theater vollzieht sich ein faktischer Akt der sonderkommunikativ-theatralischen Kommunikation (als Kommunikationsvorgang erster Ordnung), der aber keinen ‚echten‘ rhetorischen Kommunikationsfall repräsentiert, sondern als Simulation || 22 Siehe zum Folgenden Knape (2008: 898–906); Bauer et al. (2010); Knape (2013a: 14–15). 23 Insofern klammere ich hier die Heidegger-Adorno-Kontroverse um den „Jargon der Eigentlichkeit“ (Adorno) aus (s. dazu die Beiträge von Bär, Felder und Henne im vorliegenden Band). 24 Zu Grice siehe neben Knape (2013a: 65–67) auch die Beiträge von Schrott und Gätje i.d.B.

74 | Joachim Knape eines solchen Kommunikationsgeschehens verstanden werden muss (als Kommunikationsvorgang zweiter Ordnung). 25 Nach Goffman (1974: 45) ist das ursprüngliche System von Konventionen hier zwar meist noch erkennbar, die kommunikativ vermittelten Handlungen selbst werden jedoch als ‚weniger ernsthaft‘, ‚spielerisch‘, ‚scherzhaft‘, ‚ironisch‘, ‚fiktional‘, ‚rituell‘ usw. erlebt. Zeitliche und räumliche Klammern („bracketts“) und Schlüssel- oder keyingSignale („cues“)26 markieren hier laut Goffmann die Rahmengrenzen. „Durch Signale des down-keying kann eine Rückkehr aus einem modulierten Rahmen zum primären, ‚ernsthaften‘, ‚nicht spielerischen‘ Rahmen erreicht werden“ (Luppold 2014). Unser kulturelles Wissen konstituiert in uns Erwartungshaltungen bezüglich entsprechender Settings. Im Sinne eines stillschweigenden Faktizitätskontrakts legen hierbei die normalkommunikativen Regelwerke hohe Verbindlichkeit von Geltungsansprüchen fest. 27 Eine Nichtbeachtung etwa der Grice’schen Wahrhaftigkeitsregel könnte für die Betroffenen zu härtesten lebensweltlichen, z.B. juristischen Konsequenzen führen. Dieser lebensweltliche Kommunikationsernst ist, und damit muss eine wichtige Unterscheidung getroffen werden, in Fällen von Sonderkommunikation (mit entpragmatisierten Texturen in den Künsten, in Literatur, theatralischem Spiel, Karneval, Fest usw. 28) nicht gegeben (Bauer et al. 2010: 9).

Vor diesem Hintergrund können wir als weitere Spezifikation der Eigentlichkeitsproblematik sagen: eigentlich und uneigentlich sind Prädikate, die wir angesichts eines Kommunikationsereignisses den Kommunikaten (die in den für die Kommunikation hergestellten Annotaten manifest werden) zusprechen, um damit eine pragmatische Frame-Hypothese zu bilden. Ein entsprechendes Urteil fällen wir auf der Basis von Erwartungshaltungen, nach denen wir entweder einen normal- oder standardkommunikativen Ereignisfall präsupponieren oder aber einen sonder- oder lizenzkommunikativen. Welches Prädikat können wir unserem eingangs vorgestellten Gespräch zuschreiben? Ohne weitere Informationen zum Rahmen müsste es bei einem Fall von Eigentlichkeitsambiguität bleiben. || 25 Vgl. zu „Anspruch oder Deixis zweiter Ordnung“ Knape (2012b: 24). 26 Einen Überblick über das Phänomen der Rahmentransformation bei Goffman bietet Miebach (2006: 133–135); vgl. auch den Begriff key bei Hymes (1974: 62). 27 Dazu siehe Knape (2008: 898–906). 28 Zur Lizenz- oder Sonderkommunikation siehe ausführlich wiederum Knape (2008: 898– 906; 2012b: 22–25; 2013a: 14f.).

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Entsprechende Einschätzungen werden sozial zum Problem, wenn aus erwartetem Ernst nur ein Spiel wird (etwa im Fall persönlicher Beziehungen, bei denen ein Partner erst nach und nach mit Unmut bemerkt, dass mit ihm kommunikativ bloß gespielt wird) oder umgekehrt, wenn aus dem Spiel dann doch Ernst zu werden scheint (was Zensurbehörden aller Zeiten im Fall der KunstKommunikation auf den Plan gerufen hat und noch ruft). Bei allen rhetorischstrategischen Planungen, also bei Aptumskalkülen, werden solche FrameHypothesen zum Bestandteil der antizipatorischen Adressaten- und Instrumentariumskalküle. 29 Mit dieser Hypothesenbildung und einem gezielten FrameErwartungsbruch arbeiten inzwischen bestimmte Kommunikatorgruppen, die zum Nachdenken anregen wollen. Hier könnte man als Beispiel das Unsichtbare Theater nennen, das auf dieser Spielgrundlage seine Provokationen inszeniert. Es handelt sich dabei um eine Protesttechnik, bei der eine Theatergruppe ein einstudiertes Theaterstück in unmarkiertem Ambiente spielt (z.B. im Foyer einer Oper, einer U-Bahn oder in einem Supermarkt). Unbeteiligte, Umstehende oder Passanten werden einbezogen, ohne dass diese wissen, sich in einer theatralischen Szene zu bewegen. Während die Schauspieler im sonderkommunikativen Frame agieren, denken die unbewusst Mitspielenden, sich in einem standardkommunikativ bestimmten Zusammenhang zu befinden. Wie das Unsichtbare Theater mit den Grenzen der kommunikativen Status spielt, so bewegt es sich auch auf der Grenze von Protest, Happening und künstlerischer performance. Das Unsichtbare Theater will den Zuschauern helfen, sich aus ihrer Zuschauerrolle zu befreien, indem es sie in eine vorstrukturierte Handlung integriert, ohne dass diese markiert würde: „Im Gegensatz zum Happening beharrt“ das Unsichtbare Theater „auf einer strukturierten Deutung der Realität. Es verfolgt nicht die Freisetzung von Energie als Selbstzweck, sondern sie auf ein bestimmtes Ziel zu lenken“ (Boal 1989: 74). Um aber die Grenzen aufzuheben und die Zuschauer zum Handeln zu bewegen, muss die Frame-Erwartung standardkommunikativer Bedingungen aufrechterhalten werden. Das Unsichtbare Theater scheitert dann, wenn die zunächst Unbeteiligten das Geschehen doch als sonderkommunikativ deuten. Für die eingeweihten Akteure wird es also „bedenklich“, wenn „das Vorspielen zum Nachspielen anregt“ oder die Einbezogenen „mißtrauisch werden (Achtung! Versteckte Kamera! ein Verhaltenstest, am besten schnell weitergehen und nicht auffallen)“ (Thorau 1979: 118). Die provokative Vermischung der beiden Status-Frames findet auch noch auf ganz anderen Gebieten statt. So beklagt etwa der Philosoph und Kommuni-

|| 29 Knape (2012a: 55 und 90).

76 | Joachim Knape kationstheoretiker Jürgen Habermas (1985: 222), dass postmoderne Denker wie Jacques Derrida die Werke der Philosophie wie Werke der Literatur behandeln und die Metaphysikkritik an die Maßstäbe einer Literaturkritik angleichen, die sich nicht szientistisch mißversteht. Sobald wir den literarischen Charakter von Nietzsches Schriften ernstnehmen, muß die Triftigkeit seiner Vernunftkritik nach Maßstäben des rhetorischen Gelingens und nicht der logischen Konsistenz beurteilt werden.

Damit aber werde letztlich „der Gattungsunterschied zwischen Philosophie und Literatur bei näherem Hinsehen“ aufgelöst (Habermas 1985: 223). Habermas geht also bei dem, was er unscharf „Gattungsunterschied“ nennt, implizit ebenfalls von einer Position der Differenzierung der Kommunikationsstatus aus, die es ihm erlaubt, deren Vermengung mit all ihren Folgen zu kritisieren.

5.2.2 Zur Eigentlichkeitsbedingung der Rhetorik Kommen wir an dieser Stelle ein letztes Mal auf die einleitende Untersuchung unseres Textbeispiels zurück, die zur Identifizierung rhetorischer Strukturelemente führte. Die dabei angewandte Kotextanalyse kann uns nicht sagen, ob das Textfragment tatsächlich auch eine historische causa rhetorica dokumentiert. Alles in dem Textstück könnte simuliert und für die oben genannte ‚ästhetische Kommunikation‘ vorgesehen sein. Ohne pragmatische Informationen, also Informationen zur historischen oder faktischen Handlungseinbettung der schriftlich überlieferten Äußerungen von Sprecher Nr. 3, Nr. 9, Nr. 10 und Nr. 11 lässt sich zu dieser Frage nichts sagen. Handelt es sich um das Protokoll eines real-life-Ereignisses? Ist es der Auszug aus einem Gesprächsprotokoll unter Experimentalbedingungen? Oder eine Szene aus einem fiktiven Drama? Wir können aufgrund der hier gegebenen Informationen nichts zum Frame sagen und folglich keine Eigentlichkeits- oder Uneigentlichkeits-Hypothese formulieren. Dokumentieren, historisch, faktisch, tatsächlich oder pragmatisch sind Wörter, die uns in Richtung Standardkommunikation lenken. Wenn wir diese Begriffe auf unser Textfragment anwenden könnten, läge der rhetorische Fall vor. Denn wenn es Rhetorik unter fundamentalrhetorischer Betrachtungsweise mit echten Sprechakten im Sinne von Austin und Searle zu tun hat, nicht mit simulierten, wenn Persuasion, die diesen Namen tatsächlich verdient, immer auf echte Entscheidungen in konkreten Lebenszusammenhängen mit faktischem Sanktionsernst ausgerichtet ist, dann hat Rhetorik standardkommunikativen Status, und dann gilt für die rhetorische Intervention die Eigentlichkeitsbedin-

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gung im oben exponierten Verständnis. Was nicht bedeutet, dass nicht punktuell auch sonderkommunikativ markierte Inserate ins Rhetorikgeschehen integriert werden können; das wäre dann der oben genannte ästhetische Faktor im Rhetorikereignis-Zusammenhang. Für die klassische Theorie besteht kein Zweifel, dass dem rhetorischen Fall der Eigentlichkeitsstatus im Sinn des oben eingeführten Standardkommunikations-Frames zugesprochen werden muss.30 Wir geben jenen Gegenstandbereichen, mit denen es die oratorische Theorie und die praktische rednerische Fertigkeit zu tun hat, den Namen ‚Stoff (materia) der rhetorischen Kunst‘,

sagt Cicero in ‚De inventione‘ (1,5,7). Um welche Materien als Sachverhalte handelt es sich? Wenn Cicero dann im Hinblick auf die konkreten rhetorischen Kommunikationssettings, in denen Rhetorik ihren Platz hat, den juristischen Prozess und die politische Beratung als die beiden wichtigsten Falltypen (genera causarum) seiner Zeit nennt, in denen der rhetorische Fall angesichts einer Controversia eintritt, dann wird damit einerseits die grundlegende interaktionale Perspektive rhetorischer Betrachtungsweisen angesprochen, andererseits aber auch der kommunikationstheoretische Status jeglicher rhetorischer Intervention thematisiert. Rhetorik ist nicht fiktiv, ist nicht simulativ und dichterisch. Daher grenzt Aristoteles sie deutlich von der Dichtung und Schauspielkunst ab (Arist. Rhet. 3,1–2) und definiert für die Dichtung einen eigenen Theoriebereich, indem er ihr mit der ‚Poetik‘ eine eigene Theorieschrift widmet. Auch Cicero trennt Orator und Poeta ausdrücklich. Zwar gehört die Sprachkunst für Cicero zu gleichen Teilen den Sphären der Dichtkunst in Versen und der Rhetorik mit ihren Prosatexten an, und auch das von der Rhetorik systematisierte Figurenarsenal ist beider Besitz. Nicht als ob nicht alle Rhythmen dieselben wären – nicht nur die der oratorischen Prosaisten (oratores) und der Versdichter (poetae), sondern überhaupt aller Sprechenden (loquentes) und schließlich auch aller Klänge, die wir mit unseren Ohren messen können.

Doch die Dichter haben viel mehr Freiheit, da sie nicht durch die historischen Tatsachen gebunden sind und sich ästhetischen Kalkülen hingeben können (Cic. or. 227; Übers. leicht abgewandelt n. ed. Kytzler 1988; vgl. Arist. Poet. 9). Und hier nun ist wichtig, dass die Redeweise der Dichter (vox poetarum) einer|| 30 Zum Problem des „Eigentlichkeitsstatus“ in Hinblick auf literarische Texte siehe Knape (2011: 12–13).

78 | Joachim Knape seits „größere Freiheit bei der Neubildung bzw. der Zusammensetzung von Wörtern“ besitzt, und dass sich die Dichter andererseits insgesamt mehr den Formulierungen als den Sachen selbst widmen, mithin auf ihr dichterisches Spiel und die Strukturästhetik konzentriert sind (Cic. or. 66–68). Die Rhetorik verhandelt ‚Wahrheit‘. Damit tritt wieder jener Begriff in unser Blickfeld, von dem oben schon die Rede war. Wir können mit einem, dem römischen Politiker Pontius Pilatus in den Mund gelegten ironischen Satz fragen quid sit veritas? Was ist Wahrheit? Im Theorierahmen der Rhetorik geht es Aristoteles wie Cicero bei der Wahrheit nicht ums Philosophieren, sondern um die konkrete Lebenswelt der Polis oder des römischen Forums,31 wo es unter anderem um das Konkrete und Nützliche (das symphéron; Arist. Rhet. 1,5–6.) im Sozialzusammenhang geht. „Deswegen schlüpft die Rhetorik auch in die Form der politischen Wissenschaft“, weshalb sie, ähnlich wie die Dialektik, auch „als politische Wissenschaft bezeichnet wird“, so Aristoteles (Rhet. 1,2,7; Übers. n. ed. Rapp 2002). Das Adjektiv alēthēs [wahr] charakterisiert einen Sachverhalt als wirklich so seiend, wie er gesehen oder dargestellt wird, und kann, wie besonders alēthinós [wahr, richtig], den Sinn von eigentlich, echt gewinnen (Bultmann 1933: 239).

Nach Aristoteles ist die Rhetorik „für die Durchsetzung des Wahren und Gerechten (d.h. dafür, dass dies in der öffentlichen Verhandlung nicht unterliegt) nützlich.“ (Arist. Rhet., ed. Rapp 2002: Kommentar im 2. Halbband, 82) Die Dialektik deduziere aus dem, was denen (wahr scheint), die des Arguments bedürfen, die Rhetorik aber aus dem, was denen (wahr scheint), die bereits gewohnt sind, für sich Beratungen anzustellen. Es ist ihre Aufgabe, über solche Gegenstände zu handeln, über die wir beraten,

für die keine eigene Theorie (téchnē) vorliegt und bei denen die Zuhörer im Redevorgang Schlüsse ziehen müssen (Arist. Rhet. 1,2,11; Übers. n. ed. Rapp 2002). Dass das Wahre (tò alēthés) mit dem Gerechten für Aristoteles von Natur aus stärker ist, meint offenbar nicht nur, dass ihm die faktische Durchsetzung in den Urteilen gebührt, sondern auch, dass es die besseren Voraussetzungen mitbringt, um sich in den Urteilen durchzusetzen.

|| 31 Zur Polis-Gebundenheit der Rhetorik bei Aristoteles siehe Arist. Rhet., ed. Rapp (2002: Kommentar im 2. Halbband, 127–128 und 171–173).

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Selbst „die von Natur aus stärkere Sache bedarf der Rhetorik, um ihr zur faktischen Durchsetzung in der öffentlichen Domäne zu verhelfen“ (Arist. Rhet., ed. Rapp 2002: Kommentar im 2. Halbband, 91). 32 Vor dem Hintergrund des Eigentlichkeitspostulats der Rhetorik interpretiert auch Heidegger (1979/1927: 138) die Rhetorik nicht als eine auf ästhetische Produkte bezogene Theorie, sondern als „erste systematische Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins“. Heidegger sieht hier eine Bezugsmöglichkeit für sein auf das „existenziale Fundament“ des Menschen gerichtetes Erkenntnisinteresse, jenes Fundament, das sich wesentlich in den kommunikativen Grundfähigkeiten Hören, Reden und Schweigen niederschlägt sowie in ihren praktischen Korrelaten Auslegen, Verstehen, Mitteilen usw. Für ihn steht in seiner Aristoteles-Vorlesung von 1924 fest: Die aristotelische Rhetorik ist nichts anderes als die Auslegung des konkreten Daseins, die Hermeneutik des Daseins selbst. Das ist der von Arist. beabsichtigte Sinn der Rhetorik. Das Sprechen in der Weise des Sprechens-in-der-Rede, Volksversammlung, vor Gericht, bei feierlichen Gelegenheiten; diese Möglichkeiten des Sprechens sind [nur] bestimmte exponierte Fälle des gewöhnlichen Sprechens. Bei der Interpretation der Rhetorik wird man das Augenmerk zu richten haben darauf, wie darin schon Grundmöglichkeiten des Sprechens des Daseins expliziert werden (Heidegger 2002/1924: 42).

Auch nach römischer Theorie sind die Oratoren auf die Tatsächlichkeit der Lebenswelt und damit auf den Standardstatus der Kommunikation festgelegt. Sie sind in ihren Auftritten „Ausführende der Wahrheit selbst (veritatis ipsius actores)“ und werden in dieser Hinsicht den lizenzkommunikativ agierenden Schauspielern gegenübergestellt, „die doch nur Simulatoren der Wahrheit sind, eben Schauspieler (imitatores autem veritatis, histriones)“ (Cic. de or. 3,214). Spiel und Mimesis (Simulation), die nach Austin und Searle keine echten Sprechakte gewährleisten, sind nicht Sache des Orators. Er kann sie höchstens für bestimmte Momente instrumentalisieren. Ciceros Orator ist als actor veritatis als jemand zu verstehen, der mit ‚wahren‘ Sachverhalten, mit Tatsachen umgeht, der mit und im Lebenswahren und Tatsächlichen handelt. Damit ist der rhetorische Fall auf den standardkommunikativen Status festgelegt, der damit den kommunikativen Eigentlichkeitsrahmen der Rhetorik || 32 Der auch von Aristoteles (Rhet. 1402a) zitierte sophistische Slogan, „die schwächere Rede (lógos) zur stärkeren machen“ (Protagoras: Fragment 80 B 6 bei Diels & Kranz; vgl. dazu Arist. Rhet., ed. Rapp 2002: Kommentar im 2. Halbband, 89.) wird von Cicero übernommen, wenn er berichtet, die Sophisten hätten versprochen zu lehren, „wie man durch Beredsamkeit die schwächere Sache (causa inferior) – dies waren ihre eigenen Worte – zur stärkeren (superior) machen könne“ (Cic. Brut. 30; Übers. n. ed. Kytzler 1990).

80 | Joachim Knape bedingt. Demgegenüber stehen die Phänomene der Lizenzkommunikation aus rhetorischer Sicht im Uneigentlichkeitsrahmen. Von der Rhetorik werden sie nur ab und an in Dienst genommen und bilden dann als entsprechend markierte etwa den ästhetischen Faktor im rhetorischen Kommunikationsgeschehen (Knape 2011: 17–22).

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Thorsten Roelcke

Adamische Sprache Genealogische Eigentlichkeit im deutschen Sprachdenken des Barock und der Aufklärung || Technische Universität Berlin, Fachgebiet Deutsch als Fremdsprache, Sekr. HBS 2, Hardenbergstraße 16–18, 10623 Berlin, [email protected]

1 Vorbemerkungen Barock und Aufklärung stellen eine Zeit zahlreicher sozialer, kultureller und sprachlicher Umwälzungen im deutschen Sprachraum dar (vgl. von Polenz 1994): Es ist das Zeitalter des Absolutismus und des Merkantilismus, des Dreißigjährigen Kriegs und des Westfälischen Friedens, des Kampfes um Vorherrschaft zwischen Preußen und Sachsen sowie der Überwindung der Ständegesellschaft und des Endes des Alten Reiches. Das 17. und das 18. Jahrhundert sind kulturell geprägt von Alamode-Wesen, Rationalismus, Empfindsamkeit, Pietismus und Säkularisierung; sie sind die Zeit der Volksaufklärung, ständischer Bildungspolitik und erster Schul- wie Universitätsreformen sowie die Zeit erster Zeitungen und Zeitschriften, der sog. Leserevolution und des Briefeschreibens. Das Deutsche selbst unterliegt in dieser sprachgeschichtlichen Phase einem starken Lehneinfluss aus dem Französischen und anderen romanischen Sprachen, der kulturpatriotische und sprachpuristische Bestrebungen sowie die Gründung der sog. Sprachgesellschaften mit sich bringt (Gardt 2000; Otto 1972; Roelcke 2000; vgl. auch die Beiträge von Haß und Henne i.d.B.). Es kommt zu einer intensiven Auseinandersetzung um sprachliche Richtigkeit und sprachliche Vorbilder, die von zahlreichen Grammatikern und Lexikographen wie Schottelius, Gottsched und Adelung sowie vielen anderen Sprachdenkern geführt wird (vgl. unter anderem Gardt 1994; Gardt 1999: 94–229; Hundt 2000; Ricken 1990.). Langsam bildet sich eine deutsche Literatursprache heraus, und die deutschen Fach- und Wissenschaftssprachen verdrängen unter dem Anstoß zahlreicher Gelehrter wie Thomasius oder Wolff das Lateinische als Lingua franca deutscher Universitäten in den Natur- wie Geisteswissenschaften (Roelcke 3 2010: 178–207; Roelcke 1999).

86 | Thorsten Roelcke Die Themen der deutschen Sprachreflexion in Barock und Aufklärung sind vielfältig: Hierzu gehören unter anderem Überlegungen zu Entlehnungen aus einzelnen Sprachen wie dem Lateinischen, Französischen oder Englischen und zu entsprechenden sprachpuristischen Bemühungen, Beschreibungen von Merkmalen einzelner Sprachen auf lautlicher, lexikalischer, grammatischer oder literarischer Ebene in Verbindung mit positiven oder negativen Wertungen oder genealogische wie typologische Einordnungen. Wichtige Themen sind dabei insbesondere auch einzelne Sprachen und Mundarten (Herrmann-Winter 1992; Roelcke 2002; 2003; 2011; 2014a; 2014b), sprachliche Eigenschaften wie Deutlichkeit, Eigentlichkeit, Eindeutigkeit oder Gebrauch (vgl. Gardt 1995; Haßler & Neis 2009; Reichmann 1992; 1993; 1995) sowie Ursprünge menschlicher Sprachen (Borst 1957–63; Dutz &Kaczmarek 2000; Gessinger & Rahden 1989). Die vorliegende Studie widmet sich den Überlegungen hinsichtlich einer adamischen Sprache bis zur Babylonischen Sprachverwirrung (vgl. Genesis 11, 1–9) im deutschen Sprachdenken des Barock und der Aufklärung (vgl. hierzu auch bereits Gardt 1994: 343–348). Es wird gefragt, wie diese ursprüngliche Sprache der Menschheit konzeptionell gefasst und argumentativ eingebettet wird. Dabei zeigt sich, dass das Konzept der genealogischen Eigentlichkeit im Zuge sprach- bzw. kulturpatriotischer Bemühungen um eine deutsche Literatursprache eine wichtige Rolle spielt. Die folgenden Überlegungen greifen auf das Material eines Projekts zur Sprachtheorie in Barock und Aufklärung zurück, das in den 1990er Jahren zunächst als Wörterbuch geplant und dann in einer Reihe von Einzelveröffentlichungen abgeschlossen wurde (zur Konzeption vgl. Gardt et al. 1991). Im Zuge des Projekts wurden rund 650 sprachreflexive Texte vom Ende des 16. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts exzerpiert und dabei über 115.000 Belege zu rund 29.000 Stichwörtern gezogen.

2 Beleglage und Wortgebrauch Das exzerpierte Korpus umfasst insgesamt gut dreißig Belege aus elf Quellen, in denen die Sprachenbezeichnung adamisch erscheint. Etwa die Hälfte dieser Belege stammt aus der Mitte und der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts (Harsdörffer: 1645; 1646; 1692; Zesen 1651; Overheide 1665); ein Beleg aus dem Beginn des 18. Jahrhunderts verweist bereits auf Böhme und somit auf den Beginn des 17. Jahrhunderts (Leibniz 1704/1765: 20). Die andere Hälfte erstreckt sich im

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Weiteren auf die erste Hälfte und die Mitte des 18. Jahrhunderts (Reimann 1709; Pufendorff 1712 [lat. Ausg. 1672]; Wack 1713; Gatterer 1771; Bodmer 1740). Das Adjektiv adamisch (daneben auch adamsch oder adamitisch) ist in den Belegen oft vertreten (stets in Großschreibung), seltener erscheint Adamisch als Substantiv (daneben auch französisch Adamique). In sprachreflexivem Zusammenhang wird bisweilen auch auf Adam und seine Sprache Bezug genommen. Das Adjektiv adamisch attribuiert entweder Sprache oder Mundart: adamische Sprache bzw. adamische Mundart. Das Substantiv Adamisch und das Adjektiv adamisch werden bisweilen um rechte oder erste ergänzt: erste bzw. rechte adamische Sprache und dergleichen. Im Rahmen von Prädikationen erscheint das Adamische im Vergleich zu anderen Sprachen weniger ausgearbeitet, bedeutlich, eigentlich, unterschiedlich oder vollkommen. Angesichts der Entwicklung des Adamischen finden sich Wendungen wie die adamische Sprache fortpflanzen oder unverrückt behalten; im Hinblick auf die Entwicklung anderer Sprachen heißt es etwa aus der adamischen Sprache fließen, entsprießen oder gebildet werden. Adamisch wird in einigen Quellen synonym zu Ebreisch (Hebräisch) verwendet; in entsprechenden Kontexten findet sich dann bisweilen auch die Doppelform Adamisch und Ebreisch.

3 Genealogie Die Sprachreflexion des 17. Jahrhunderts geht von einer gemeinsamen Ursprungssprache der gesamten Menschheit aus. Diese Ursprungssprache wird dabei in der Regel in Anlehnung an Genesis 11, 1–9 mit der Sprache Adams gleichgesetzt. Eine für die Barockzeit typische Formulierung dieser theologischspekulativen Variante der Sprachursprungsdebatte liefert hier zum Beispiel Gebhard Overheide: Weil dann Adam anfangs das heilige Geschöpff GOttes wahr / welchem GOtt selbst seinen GÖttlichen Odem eingeblasen / und ein so grosses Liecht der Natur mitgetheilet / So hat er auch vermuhtlich ebener massen die Eigenschafft der Menschlichen Rede und Sprache können wissen. (Overheide 1665: A)

Als die Sprache Adams wird hier konkretisierend wiederum zumeist das Hebräische angesehen, so auch von Overheide: Daher der von GOtt so edel und klug erschaffene Adam (auß erklärlicher Betrachtung / daß er allein unter allen irrdischen Geschöpffen GOttes / mit der Sprache und Rede begabet) wird mit sonderen Fleiß auf die Unterschiedligkeit / des Lauts seiner Rede gemercket / und solchen unterschiedlichen Laut / mit unterschiedlichen Zeichen oder Buchstaben

88 | Thorsten Roelcke abgebildet haben / Und ist dieses umb so viel mehr glaublich / weil man dafür gewiß hält / daß die Hebraische Sprache sey die erste und allgemeine Sprache gewesen. (Overheide 1665: Af.)

In diesem Sinne setzt auch Philipp von Zesen die Sprache Adams, die „adamische Sprache“ mit der hebräischen Sprache gleich und betrachtet sie als die erste Sprache der Menschheit, aus der sich dann nach der Babylonischen Sprachverwirrung sämtliche anderen Sprachen der Erde entwickelt haben: Sie ist „die erste und der anfang der sprachen“ (Zesen 1651: 202); das Adamische erhält so den Rang einer „rechten sprachen-mutter / aller Europischen / auch wohl andrer sprachen“ (Zesen 1651: 233). Die adamische Sprache selbst ist nach Zesen vor und nach der Sprachverwirrung von keinen Veränderungen betroffen; sie bleibt vielmehr sprachgeschichtlich „unverrükt“ und zeigt daher ihre ursprünglichen Eigenschaften bis in die Gegenwart des siebzehnten Jahrhunderts hinein (Zesen 1651: 104–105) – eine Vorstellung, die Zesen ausdrücklich zur Grundlage sprachlicher Wertung macht (vgl. unten). Die gemeinsame Abstammung der Sprachen der Welt von der adamischen Sprache ist laut Zesen auch der vornehmliche Grund dafür, dass zwischen all diesen Sprachen vielfältige Gemeinsamkeiten zu beobachten sind: Sprachliche Interferenz wird demgegenüber (insbesondere auch hinsichtlich des Deutschen einerseits sowie des Lateinischen und Griechischen andererseits) als Grund für solche sprachlichen Gemeinsamkeiten weitgehend ausgeschlossen (Zesen 1651: 203–204). Mit dieser genealogischen Argumentation unternimmt Zesen einen etymologischen Emanzipationsversuch für das Deutsche gegenüber den klassischen Literatursprachen (das Französische findet in diesem Zusammenhang noch keine Erwähnung) und erweist sich damit als ein typischer Vertreter barocken Sprachdenkens. Ganz anders argumentiert hier der Aufklärer Gottfried Wilhelm Leibniz (1704/65: 20–21): Auch Leibniz nimmt zunächst einen gemeinsamen Ursprung sämtlicher Sprachen an. Doch leitet er auch das Hebräische (etwa neben dem Arabischen) aus dieser adamischen Sprache ab, setzt also die hebräische Sprache ausdrücklich nicht mit dem Adamischen gleich; das Adamische bleibt damit nach Leibniz im Gegensatz zu Zesen nicht unverändert erhalten, sondern erfährt eine deutliche Weiterentwicklung. Hiernach weisen nun sämtliche Sprachen der Erde mehr oder weniger starke Bezüge zu der adamischen Ursprungssprache auf. Mit dieser Vorstellung erweist sich Leibniz zunächst einmal grundsätzlich als Vertreter einer rationalistisch-spekulativen Variante der Sprachursprungsdebatte. In die Tradition barocker Sprachreflexion stellt er sich jedoch, indem er für das Deutsche einen im Vergleich zu anderen Sprachen hohen Grad an Ursprünglichkeit annimmt und somit dessen Rang als Kultursprache unter-

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streicht: „Si l’Hebraïque ou l’Arabesque y approche le plus, elle doit estre au moins bien alterée, et il semble que le Teuton a plus gardé du naturel, et (pour parler le langage de Jacques Böhm) de 1‘Adamique“ (Leibniz 1704/65: 20). Die Annahme, dass das Deutsche einen vergleichsweise hohen Grad an Ursprünglichkeit zeige, ist für manche Gelehrten, insbesondere aus der Zeit des Barock, Grundlage für eine weitere sprachgenealogische Spekulation, der zufolge diese Ursprünglichkeit darauf beruhe, dass eben das Deutsche selbst die adamische Ursprungssprache darstelle. Eine solche These formuliert etwa Georg Philipp Harsdörffer und räumt somit dem Deutschen eine Vorrangstellung gegenüber den Sprachen der Antike – Latein, Griechisch und Hebräisch – ein: Die Natur redet in allen Dingen / welche ein Getön von sich geben / unsere Teutsche Sprache / und daher haben etliche wähnen wollen / der erste Mensch Adam habe das Geflügel und alle Thier auf Erden nicht anderst als mit unseren Worten nennen können / weil er jedes eingeborne selbstlautende Eigenschafft Naturmässig ausgedruket. (Harsdörffer 1645: 357)

Oder an anderer Stelle: Adam hat einem jeglichen Viehe und Vogel unter dem Himmel / und einem jeden Thier auf dem Felde seinen Namen gegeben / nachdem er sie gesehen / und ihre Eigenschafft erkennet / welche Namen ihnen auch auf Göttliches Gutheissen geblieben [...]. Hieraus will vorgerühmter Becanus behaupten / daß die Teutsche und alt=Sächsische Sprache die erste und älteste seye / weil in keiner andern die Wort mit der Thiere Stimme und aller klingenden Tönung übereintreffe / als in besagter. (Harsdörffer 1692: 41)

Die These einer adamischen oder hebräischen oder gar deutschen Ursprungssprache bleibt im 17. und 18. Jahrhundert indessen nicht unwidersprochen: So entgegnet etwa Jacob Friedrich Reimmann, daß aus denen H. Schriften nicht einmahl zu erweisen sey / daß der Adam denen Thieren die Namen gegeben habe / ich geschweige denn / daß wir dieses daraus deduciren könten / daß er ihnen solche Namen beygeleget / die mit ihren wesentlichen Beschaffenheiten eine Ubereinstimmung haben. (Reimmann 1709: 53)

Ganz konsequent weist Reimmann sämtliche Spekulationen über den Ansatz anderer Ursprungssprachen wie das „Ebräische“, das „Griechische“, das „Æthiopische“, das „Syrische“, das „Cimbrische“ oder das „Holländische“ ausdrücklich zurück und entkräftet darüber hinaus auch solche Vorstellungen, nach denen sich das Hebräische in Folge der Babylonischen Sprachverwirrung „in verschiedene dialectos und Mundarten / und endlich gar in andere Sprachen verwandelt habe“ (Reimann 1709: 44–45). Hiermit nimmt Reimmann vergleichsweise früh eine rationalistisch-skeptische Position gegenüber der theo-

90 | Thorsten Roelcke logisch-spekulativen Variante der verbreiteten Sprachursprungsdebatte ein, die indessen noch weit in die Zeit der Aufklärung hineinreicht. Diese theologischspekulative Variante findet in den Ausdrücken „Adamisch“ und „adamische Sprache“ ihren terminologischen Niederschlag, der mit Reimmann und anderen Vertretern einer rationalistisch-skeptischen Position eine funktionalisierende, wenn nicht säkularisierende Bedeutungsverschiebung erfährt. Das Belegkorpus erlaubt keine Rückschlüsse auf zeitliche, räumliche, soziale oder funktionale Gliederungen der adamischen Ursprungssprache; mit Zesen ist eine weitere Gliederung des Adamischen sogar ausdrücklich auszuschließen. Allein die kontroversen Thesen von Zesen (historische Konstanz) einerseits und von Leibniz und anderen (historische Veränderung) andererseits lassen die Historizität des Adamischen als ein Problem für die Sprachreflexion des 17. und 18. Jahrhunderts deutlich werden. Sprachtypologische oder gar universalistische Gesichtspunkte der adamischen Sprache schließlich werden nicht diskutiert.

4 Charakteristika Innersprachliche Charakteristika des Adamischen werden insbesondere mit Blick auf dessen System erörtert. Hierbei finden vor allem Lautung und Schreibung sowie der Wortschatz im Hinblick auf Genealogie und Inventar Berücksichtigung. Die Beschreibungsebenen Morphologie, Syntax und Text bleiben demgegenüber weitgehend unbeachtet. Hinsichtlich der Lautung werden der adamischen Sprache onomatopoetische Qualitäten zugesprochen, die aus der Benennungspraxis nach der Genesis herrühren sollen: Laut Harsdörffer habe Adam aller „Thier [...] eingeborne selbstlautende Eigenschafft Naturmässig ausgedruket“ (Harsdörffer 1645: 357), „nachdem er sie gesehen / und ihre Eigenschafft erkennet“ (Harsdörffer 1692: 41). Eine solche Vorstellung ist indessen nicht allein für die Zeit des Barock (vgl. generalisierend Pufendorff 1712 [lat. Ausg. 1672]: 748), sondern durchaus auch für diejenige der Aufklärung typisch. So stellt etwa Johann Christoph Gatterer das onomatopoetische Wortschöpfungsverfahren Adams noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wie folgt dar: Der Schöpfer führte ihm die Thiere des Gartens vor. Adam sah sie, und ihre Gestalt, Farbe, Bewegungen, Geschrey, und wer weis was noch für Umstände, die ihm bey dieser Musterung in die Sinne fielen, gaben ihm Bilder und Begriffe von diesen Thieren, und zugleich die ersten Töne oder Namen, wodurch er die Thiere bezeichnete. Adam sah z. E. das Schaaf, und hörte es blöcken, er blöckte nach, und dieser nachgeahmte Ton konnte gleich

Adamische Sprache | 91 der Name des Schaafes (ein Onomatopoëticon) werden. So oft er an das Schaaf dachte, dachte er diesen Ton, und umgekehrt. (Gatterer 1771: 102–103)

Im Sinne der Sprachreflexion des 17. und 18. Jahrhunderts garantiert dieses Verfahren ausdrucksseitige, genauer: artikulatorische „Eigentlichkeit“ (im Sinne von natürlicher Ursprünglichkeit oder göttlicher Schöpfungsnähe) der adamischen Sprache (vgl. etwa Wack 1713: 229–230). Adam wird hier jedoch nicht allein als Schöpfer der gesprochenen Sprache, sondern darüber hinaus auch als derjenige der Schrift angesehen. Dabei wird angenommen, dass es von der Entwicklung der Sprache selbst nur noch ein kurzer Weg zur Entwicklung der Schrift gewesen sei. „Der Ursprung des Redens ist viel schwerer zu ergründen / als der Ursprung des Schreibens“ (Reimmann 1709: 36); daher dürfe angenommen werden, dass Adam „der erste gewesen / der den Buchstaben eine sichtbare Gestalt gegeben“ (Reimann 1709: 35). Auf Grund solcher oder vergleichbarer Vorstellungen werden nun die adamischen bzw. hebräischen Schriftzeichen als Grundlage sämtlicher anderen Schriftsysteme, die sich bislang in den Sprachen der Welt herausgebildet haben, angesehen: Dan wie die sprachen oder mund-ahrten der welt alle aus der ersten Adamischen geflossen / so seind die so viel unterschiedliche buchstaben oder unterschiedenen völker und unterschiedenen sprachen / schier auch aus den ersten / den Ebrischen / die ausser allem zweifel die ersten seind / hergeflossen und nachgebildet worden. (Zesen 1651: 128)

Dabei wird (wohl im Hinblick auf die Kennzeichnung von Vokalen im hebräischen System) die Armut des Adamischen an Buchstaben vermerkt und bemängelt (Zesen 1651: 202) – vermutlich (aber nicht ausdrücklich belegt) mit als Grund für die angenommene Weiterentwicklung dieses Schriftsystems. Adam ist für zahlreiche Gelehrte aus Barock und Aufklärung nicht allein der Schöpfer der sprachlichen (lautlichen oder schriftlichen) Ausdrücke, sondern auch und vor allem der sprachlichen Bedeutungen. Dieser semantischen Schöpfung von Wortbedeutungen wird Vorrang vor der (artikulatorischen) Schöpfung von Wortausdrücken eingeräumt. So heißt es beispielsweise noch bei Johann Christoph Gatterer: Freylich kann kein Mensch ohne Bilder denken, und also konnte es Adam auch nicht: allein er dachte auch zuerst nur Bilder, und verband hernach mit diesen Bildern, und den Ideen derselben artikulirte Töne, die allzeit das Bild der Sache, auch in Abwesenheit der Sache, und noch mehr durch die Gegenwart der Sache erneuerten. (Gatterer 1771: 103– 104)

92 | Thorsten Roelcke Das Verfahren der semantischen Schöpfung von Wortbedeutungen gewährt den Vorstellungen barocker und rationalistischer Sprachreflexion zufolge über die artikulatorische hinaus auch eine bedeutungsseitige bzw. semantische „Eigentlichkeit“ (Ursprünglichkeit, Schöpfungsnähe) der adamischen Sprache. Bei Zesen heißt es hierzu: GOtt hatte ihm solche folkommene weisheit eingeschaffen / daß er ein ides ding / was ihm zu gesichte sties / straks / und nicht von ohngefähr oder oben hin / sondern nach angebohrner art und eigenschaft der geschöpfe / mit besondern / füglichen und eignen unterschiedlichen nahmen nennen / und eigendlich beschreiben mögen. (Zesen 1651: 104)

Eine solche Konzeption semantischer Eigentlichkeit ist typisch für das Sprachdenken des Barock wie auch noch in Teilen der Aufklärung. Umso mehr überrascht, dass ausgerechnet Zesen, der den Zustand der Eigentlichkeit in der adamischen bzw. hebräischen Sprache unterstreicht, deren ursprünglichen Zustand mit einer Armut an lexikalischem Inventar in Verbindung bringt und mit dem Hinweis auf die „wenigkeit ihrer worte“ als ein semantisches Defizit herausstellt (Zesen 1651: 202–203). Dieser Argumentationsschritt wird allein vor dem Hintergrund eines patriotischen Strebens nach Emanzipation des Deutschen bei den Sprachgelehrten des Barock und der Frühaufklärung verständlich (vgl. unten).

5 Vergleich und Wertung Die Unterschiede der Sprachen der Welt gegenüber der adamischen Sprache werden von den deutschen Sprachdenkern des 17. und 18. Jahrhunderts insbesondere im Hinblick auf Ausdruck und Bedeutung einzelner Wörter diskutiert. Dabei erweist sich der etymologische Zusammenhang zwischen der adamischen und den anderen Sprachen als durchaus problematisch. Zesen beschäftigt sich hier sowohl mit den Gemeinsamkeiten als auch mit den Unterschieden, die zwischen dem Deutschen und anderen Sprachen bestehen. So erklärt er die Gemeinsamkeiten zwischen dem Deutschen und den klassischen Literatursprachen Latein und Griechisch trotz Anerkennung unübersehbarer Entlehnungen vornehmlich aus deren genealogischer Verwandtschaft mit der adamischen Ursprungssprache und erachtet es somit als „gantz ungereimt / wan man sagen will / dass dieses oder das deutsche wort / weil es einem andern in fremden sprachen ähnlich sihet / aus der oder der sprache geborget sei“ (Zesen 1651: 204; vgl. auch Zesen 1651: 10–11; Leibniz1704/65: 20–21). Die Unterschiede zwischen den einzelnen Sprachen führt Zesen also jeweils auf Er-

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neuerungen und Veränderungen des einzelsprachlichen Wortschatzes selbst zurück: „Dan wie ein ding vielerlei eigenschaften hat / so hat es auch bisweilen vielerlei nen-wörter oder nahmen bekommen / auch selbst in einer sprache allein“ (Zesen 1651: 110). Solche Wortschatzentwicklungen innerhalb einzelner Sprachen werden zum einen auf verschiedene menschliche Sichtweisen, „wie ein ding vielerlei eigenschaften hat“ (Zesen 1651: 110) und zum anderen auf unterschiedliche außersprachliche Umstände, „hazard, mais sur des raisons physiques“ (Leibniz 1704/65: 22) zurückgeführt. Ein weiterer Grund mag aber auch (durchaus in Analogie zu der Entwicklung verschiedener Schriftsysteme) in der angenommenen Wortschatzarmut der adamischen Ursprungssprache, der „wenigkeit ihrer worte“ (Zesen 1651: 202) zu suchen sein, auf die hin dann „aus den wenig worten / da oft eines viel dinge nohtwändig bedeuten mus / durch sotahnige verwandelung viel und unterschiedliche wörter gemacht“ (Zesen 1651: 202) wurden und somit zahlreiche einzelsprachliche Wortschatzerweiterungen erfolgten. Eine Ähnlichkeit des Deutschen mit anderen Sprachen wird folglich nicht auf Interferenz zwischen diesen oder gar auf einseitige Entlehnung aus diesen zurückgeführt, sondern auf deren genealogische Verwandtschaft mit der adamischen Ursprungssprache: Die adamische Sprache wird auf diese Weise zur Grundlage einer für die Zeit des Barock charakteristischen Bemühung um genealogische Emanzipation der deutschen gegenüber anderen Sprachen; dabei wird in diesem Zusammenhang insbesondere auf das Lateinische, Griechische und Arabische, nicht aber etwa auf das Französische hingewiesen (vgl. oben). Doch damit nicht genug: Die Sprachreflexion in Barock und Aufklärung ist zum Teil bestrebt, das Deutsche nicht allein diesen Sprachen gleichzustellen, sondern ihm hier sogar eine Sonderstellung einzuräumen. So rücken die zahlreichen Hinweise auf die artikulatorische und semantische Eigentlichkeit (vgl. oben) das Deutsche in die Nähe der adamischen Sprache oder setzen es mit dieser bisweilen sogar gleich. Auf diese Weise wird das Deutsche gegenüber dem Lateinischen und dem Griechischen, unter Umständen auch gegenüber dem Hebräischen aufgewertet. In diesem Sinne ist denn auch die vorsichtig wertende Bemerkung von Leibniz aufzufassen, nach der „le Teuton a plus garde du naturel, et [...] de l'Adamique“ (Leibniz 1704/65: 20). Eine weitere Steigerung erfährt dieses Verfahren schließlich, wenn das Deutsche als Kultursprache gegenüber dem Adamischen als Ursprungssprache abgegrenzt wird: Die Vorstellung, dass das Hebräische bzw. Adamische einerseits über ein unvollständiges Schriftsystem und andererseits über einen im Vergleich armen Wortschatz verfüge, lässt die Ursprungssprache gegenüber ihren weiter entwickelten Folgesprachen als „unfolkommen“ oder

94 | Thorsten Roelcke gar „schlecht“ (Zesen 1651: 202) erscheinen. Angesichts dieser Systemmängel der adamischen Sprache wird dann die deutsche Sprache unter dem Hinweis auf Schwierigkeiten bei der Auslegung hebräischer Schriften als „bedeutlicher“ (semantisch verständlicher), „eigentlicher“ (angemessener), „unterschiedlicher“ (differenzierter) und „ausgearbeiteter“ (kultivierter) angesehen (Zesen 1651: 202). Auf diese Weise wird also versucht, das Deutsche gegenüber dem Hebräischen bzw. Adamischen aufzuwerten und somit einen weiteren Beitrag zur Emanzipation der deutschen Sprache gegenüber den klassischen Literatursprachen zu leisten.

6 Fazit Das deutsche Sprachdenken im 17. und 18. Jahrhundert setzt mit der adamischen Sprache so etwas wie eine Ursprungssprache der Menschheit an, die – teils mit dem Hebräischen gleichgesetzt – bis zur babylonischen Sprachverwirrung (Genesis 11, 1–9) unverändert bestanden und seither die Grundlage für die Entwicklung einzelner Sprachen gebildet habe (vgl. Abb. 1). Insbesondere in der Zeit des Barock wird das Deutsche mit dieser adamischen Sprache in Verbindung gebracht bzw. gleichgesetzt, um so dessen natürliche Ursprünglichkeit oder göttliche Schöpfungsnähe gegenüber den klassischen Bildungssprachen der Zeit (genannt werden zunächst Latein, Griechisch und Hebräisch, nicht aber Französisch) hervorzuheben. Das Konzept des Adamischen erfährt im Verlauf der Zeit eine Verschiebung von solch einer theologisch-spekulativen über eine rationalistisch-spekulative bis hin zu einer rationalistisch-skeptischen Position und spiegelt damit die Tendenz zur linguistischen Objektivierung, zu einem „linguistic turn“ (Neumer 2005) in dieser Zeit wider. Besondere Kennzeichnen der adamischen Sprache werden auf der Ausdrucksseite in Onomatopoetika und auf der Inhaltsseite in genuinen Bedeutungen gesehen. Beides repräsentiere die Nähe zur göttlichen Schöpfung bzw. zum natürlichen Ursprung menschlichen Denkens und Sprechens und mache die Eigentlichkeit dieser Sprache aus. Hinweise auf Gemeinsamkeiten zwischen dem Adamischen bzw. Hebräischen und dem Deutschen dienen wiederum der sprachpatriotischen Aufwertung der deutschen Sprache gegenüber den Literatursprachen der Zeit, wobei neben deren Ursprünglichkeit nun auch deren geistliche und natürliche Eigentlichkeit zum Tragen kommt. Unterschiede zwischen einem geringen Wortschatz im Adamischen bzw. Hebräischen und einem reichen Wortschatz im Deutschen werden mit kultureller Entwicklung in Ver-

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bindung gebracht, sodass bisweilen eine interne Gewichtung der Sprachen vorgenommen wird.

Abb. 1: Adamisch und andere Sprachen: Eigentlichkeit und literarische Entwicklung (grau= Grad an Eigentlichkeit)

96 | Thorsten Roelcke Die Beobachtungen zur adamischen Sprache zeigen, dass genealogisch bedingte Eigentlichkeit ein Kriterium für das deutsche Sprachdenken des 17. und 18. Jahrhunderts darstellt, um einzelne Sprachen miteinander zu vergleichen und dabei das Deutsche gegenüber den Literatursprachen der Zeit aufzuwerten. Das Konzept der Eigentlichkeit spielt hierbei weniger hinsichtlich der Art und Weise seiner Definition selbst, als vielmehr im Hinblick auf dessen Beitrag zur sprachoder kulturpatriotischen Argumentation eine wichtige sprachreflexive Rolle in Barock und Aufklärung.

7 Belege Um das Belegmaterial weiteren Analysen zugänglich zu machen, werden im Folgenden einige sprechende Belegzitate in chronologischer Reihenfolge abgedruckt. Die Natur redet in allen Dingen / welche ein Getön von sich geben / unsere Teutsche Sprache / und daher haben etliche wähnen wollen / der erste Mensch Adam habe das Geflügel und alle Thier auf Erden nicht anderst als mit unseren Worten nennen können / weil er jedes eingeborne selbstlautende Eigenschafft Naturmässig ausgedruket; und ist sich deswegen nicht zu verwundern / daß unsere Stammwörter meinsten Theils mit der heiligen Sprache gleichstimmig sind. (Harsdörfer 1645: 357) [...] und ob auch ein wort in unserer sprache mit demselben aus oder in der ersten / mit dem es ein gleiches ding bezeuchnet / in keinem halben klange oder buchstaben [ue[berein kähme / so folgt es doch dannenher keines weges / dass es nicht aus der Adamischen ersten sprache und etwan nach des dinges beschaffenheiten / aus einer andern wurtzel oder stamworte derselben / als jenes ihr eignes / so eben dasselbe ding bezeuchnet / flüßet und gebildet worden. (Zesen 1651: 10–11) L. Sollte aber Adam nicht straks eine folkomne rede und sprache haben / wie gesagt / daß Diodor aus Sizilien gemeinet? M. Ja freilich. Dan er war gantz folkommen geschaffen / und daher hat er auch einen folkomnen und wohl-abgemässenen klang seiner worte geben können; Ja GOtt hatte ihm solche folkommene weisheit eingeschaffen / daß er ein iedes ding / was ihm zu gesichte sties / straks / und nicht von ohngefähr oder oben hin / sondern nach angebohrner art und eigenschaft der geschöpfe / mit besondern /füglichen und eignen unterschiedlichen nahmen nennen / und eigendlich beschreiben mögen / wie uns Gott selbst durch Mosen solches geoffenbahret. (Zesen 1651: 104) Dan es ist wohl gläublich / dass die Adamsche sprache / (die vom anfange der welt bis auf die Babelsche verwürr- oder vielmehr veränderung der ersten sprache in unterschiedliche mund-ahrten / 1932 jahr / wie die Schrift klärlich bezeuget / unverrükt und eine mundahrt geblieben/) eben dieselbe sei / welche die kinder Ebers / die sie vielleicht zu so trotzi-

Adamische Sprache | 97 gen reden nicht gemisbrauchet / wie die Hamischen / oder bei ihrem Groß-vater dem Nohe / (so dazumahl noch lebete und gleich 857 jahr alt war / weil sein gantzes alter nach der Sündfluth 350 jahr gewesen / indem er im 50. jahre des Ertz-vaters Abrahams erst gestorben /) sich aufgehalten / und zu solchem hochmühtigen baue nicht geholfen / nachmahls unverrükt behalten / und nach ihrem nahmen genennet / damit sie von den andern daraus entsprossenen sprachen / oder vielmher mundahrten / möchte unterschieden werden. (Zesen 1651: 104–105) D. Aber mein Herr / weil ich fast so viel verstehe / dass die sprachen oder mund-arten der welt / alle von der ersten sprache flüßen; so mus ich fragen: wie es komme / dass die wörter in unterschiedlichen mundarthen / die ein gleiches ding bedeuten / gantz unterschiedlich seind / und nicht einen hal oder klang / noch buchstaben / wan man es geschrieben siehet / von dem worte der ersten Adamischen sprache haben? M. Es were närrisch zu gläuben / dass ein wort in denen itzt üblichen sprachen oder vielmehr mund-ahrten allezeit von dem-selben aus der ersten / das ein gleiches ding mit diesem bedeutet / herflösse. Dan wie ein ding vielerlei eigenschaften hat / so hat es auch bisweilen vielerlei nen-wörter oder nahmen bekommen / auch selbst in einer sprache allein. (Zesen 1651: 110) Solcher gestalt haben die unterschiedlichen Völker der Welt auch unterschiedliche buchstaben zu ihren unterschiedlichen mund-ahrten erfunden / oder vielmehr die alten' ein wenig verändert und verzwikket. Dan wie die sprachen oder mund-ahrten der welt alle aus der ersten Adamischen geflossen / so seind die so viel unterschiedliche buchstaben oder unterschiedenen völker und unterschiedenen sprachen / schier auch aus den ersten / den Ebrischen / die ausser allem zweifel die ersten seind / hergeflossen und nachgebildet worden. (Zesen 1651: 128) Darum darf ich wohl sagen / dass unsere itzige sprache bedeutlicher / eigendlich / unterschiedlicher und ausgearbeiteter / ja daher folkomner ist als die erste Adamische oder Ebrische / welche als die erste und der anfang der sprachen / ja daher noch unfollkommener / auch wohl folkommener würde sein gemacht worden / wan man sie noch weiter fortgepflantzet. Dan sie ist in vielen noch gantz schlecht / d. i. man hat die wenigkeit ihrer worte / oder die darinnen befindliche buchstaben / in ihre verwante / nicht so viel verwandelt und wieder verwandelt / wie in der unsrigen geschehen; und aus den wenig worten / da oft eines viel dinge nothwändig bedeuten mus / durch sotahnige verwandelung viel und unterschiedliche wörter gemacht / die für andern / denen sie doch des ursprungs wegen gleich seind / sonderliche wörter zu sein scheinen / und also die undeutligkeit und verwirrung wegnehmen / und unterschiedliche dinge unterschiedlicher betzeuchnen könten. Auf solche weise dürften die Ebrischen sprachlehrer so nicht grübeln / und ihre sinnen brechen / wan sie eines wortes / das bei ihnen oft so viel unterschiedliche dinge bezeuchnet / eigendliche bedeutung ergrübeln wollen. (Zesen 1651: 202–203) Aber wie in allen sprachen oder mund-arthen / durch handeln und wandeln der frembdlinge untereinander / fremde wörter einzuschleichen pflegen / so haben sich dergleichen auch in unsere sprache bisweilen eingeschlichen / da sie doch von sich selbst reich genug ist / und keine neue wörter lehnen darf. Daß sie aber mit fremden mundarthen / als der Lateinischen / Griechischen und andern in vielen wörtern eine ähnligkeit

98 | Thorsten Roelcke hat / das kommet daher / weil alle sprachen oder mund-ahrten aus einem uhrsprunge / nämlich aus der Adamischen sprache geflossen: und daher ist es gantz ungereimt / wan man sagen will / dass dieses oder das deutsche wort / weil es einem andern in fremden sprachen ähnlich sihet / aus der oder der sprache geborget sei. (Zesen 1651: 203–204) D. Ich kann mich nicht gnug wundern / daß man bißher so einhällig fürgegeben / daß der gantze grund und stam der Hochdeutschen sprache auf eingliedrigen nenn-wörtern […] allein bestünde: da sie doch / fast nach iedermans meinung / der ersten Adamischen oder Ebrischen sprache am allermeisten nach-ahrtet / und fast ebener maßen ihren stam meistenteils / ja gleichsam in den zeit-wörtern suchet. (Zesen 1651: 208) Daher der von GOtt so edel und klug erschaffene Adam (auß erklärlicher Betrachtung / daß er allein unter allen irrdischen Geschöpffen GOttes / mit der Sprache und Rede begabet) wird mit sonderen Fleiß auf die Unterschiedligkeit / des Lauts seiner Rede gemercket / und solchen unterschiedlichen Laut / mit unterschiedlichen Zeichen oder Buchstaben abgebildet haben / Und ist dieses umb so viel mehr glaublich / weil man dafür gewiß hält / daß die Hebraische Sprache sey die erste und allgemeine Sprache gewesen / massen im 11. Capittel des ersten Buchs Mosi also stehet; Es hatte aber alle Welt einerley Sprache und Zunge; Auch GOtt der HErr selbst nochmals seine Gesetze in solcher dem Volcke GOttes bekanten Hebraischen Sprache hat geschrieben. (Overheide 1665: A) Weil dann Adam anfangs das heilige Geschöpff GOttes wahr / welchem GOtt selbst seinen Göttlichen Odem eingeblasen / und ein so grosses Liecht der Natur mitgetheilet / So hat er auch vermuhtlich ebener massen die Eigenschafft der Menschlichen Rede und Sprache können wissen / und nach deren verenderlichen Laut / die unterschiedlichen SchrifftZeichen bilden / Inmassen es sonst mit Erfindung anderer natürlichen Künste und Wissenschafften eben also bewandt / daß Gott dieselbe den Menschen durch die Natur zu erfinden / selbst an die Hand giebet / Und kann noch ein vernünfftiger Mensch / wann er in der Gottesfurcht mit Fleiß der natur nachsinnet / viel schönes Dinges begreifen und erfinden / ob er gleich dasselbe vorhero nicht hat gesehen / gehöret und erlernet. (Overheide 1665: Af.) Adam hat einem jeglichen Viehe und Vogel unter dem Himmel / und einem jeden Thier auf dem Felde seinen Namen gegeben / nachdem er sie gesehen / und ihre Eigenschaffl erkennet / welche Namen ihnen auch auf Göttliches Gutheissen geblieben / I. B. Mos. 2/19.20. Hieraus will vorgerühmter Becanus behaupten / daß die Teutsche und alt=Sächsische Sprache die erste und älteste seye / weil in keiner andern die Wort mit der Thiere Stimme und aller klingenden Tönung übereintreffe / als in besagter / welches Getön vermutlich / ohne alle Aenderung / von der Welt Anfang verblieben / und bis zu dem Ende verbleiben wird. (Harsdörffer 1692: 41) De sorte qu'il n'y a rien en cela, qui combatte et qui ne favorise plustost le sentiment de l'origine commune de toutes les Nations, et d'une langue radicale et primitive. Si l'Hebraïque ou l'Arabesque y approche le plus, elle doit estre au moins bien alterée, et it semble que le Teuton a plus gardé du naturel, et (pour parler le langage de Jacques Böhm) de 1 'Adamique: car si nous avions la langue primitive dans sa pureté, ou assés conservée pour estre reconnoissable, it faudroit qu’il y partût les raisons des connexions soit phy-

Adamische Sprache | 99 siques, soit d'une institution arbitraire, sage et digne du premier autuer. Mais supposé que nos langues soyent derivatives, quant au fonds elles ont neantmoins quelque chose de primitif en elles mêmes, qui leur est survenu par rapport à des mots radicaux nouveaux, formés depuis chez elles par hazard, mais sur des raisons physiques. (Leibniz 1704/65: 21– 22) Die potentia loquendi ist bey demselben so wenig eine potentia naturalis gewesen / als die potentia scribendi: Und da wir das eine ohne weitere Rückfrage und difficultœten glauben / daft er der erste gewesen / der sich zum äusserlichen Ausdruck seiner innern Gedancken gewisser Buchstaben / Syllaben und Worte bedienet / die er durch Hülffe seines Mundes und seiner Zungen ausgesprochen: so können wir das andere mit guten Gewissen auch wohl verstatten / daß er der erste gewesen / der den Buchstaben eine sichtbare Gestalt gegeben / und dadurch seine Gedanken auch denen Abwesenden zu entdecken / sich beflissen hat. Der Ursprung des Redens ist viel schwerer zu ergründen / als der Ursprung des Schreibens. Und ich kann mir tausendmahl ehe einen begriff machen / wie das zugegangen / da die menschen zum erstenmal einander durch Schrifften ihre Gemlüths=Meynungen entdecket: Als wie das möglich gewesen / daß sie einander durch einen gewissen Schall in der Lufft ihre Hertzens=Gedancken offenbaren können. (Reimmann 1709: 35–36) Einige halten das Ebräische / einige die Griechische / einige die Æthiopische / einige die Syrische / einige auch sogar die Cimbrische oder Holländische vor die erste / älteste und Adamische Sprache. Einige hingegen bestehen gantz steiff und fest darauff / daß die lingua Primœva in der Babylonischen Sprach=Verwirrung mit verschlungen und verlohren gangen sey. Und wenn wir und denn nun schon zu dem grössesten Hauffen halten / und die hypothesin mit annehmen wollen / daß die Ebräische Sprache die erste sey / so sind wir doch hernachmals nicht versichert / ob dieselbe in dem Fortgang derer Zeiten da sich die menschen auf der erden vermehret / und sich in verschiedene Länder nach denen verschiedenen plagis und climatis des Himmels ausgebreitet nicht auch in verschiedene dialectos und Mundarten / und endlich gar in andere Sprachen verwandelt habe. (Reimmann 1709: 44–45) Du stehest, daß aus denen H. Schriften nicht einmahl zu erweisen sey / daß der Adam denen Thieren die Namen gegeben habe / ich geschweige denn / daß wir dieses daraus deduciren könten / daß er ihnen solche Namen beygeleget / die mit ihren wesentlichen Beschaffenheiten eine Ubereinstimmung haben. (Reimann 1709: 53) Darüber sich nicht zu verwundern / weil Adam der vollkommenste Mensch / da er noch das Ebenbild GOttes an sich hatte / und im Stand der Unschuld war / die Sprach unmittelbar von GOtt empfieng / und alle Menschliche Weißheit im höchsten Grad innen hatte / allen Thieren ihren Nahmen gab / und darüber das Zeugnüß von GOtt hatte; daß er selbe gantz eigentlich getroffen. (Wack 1713: 229–230). Auf welche Art verwahrte Adam den gesammelten Schaz von Gedanken? Innerlich durch die Einbildungskraft und das Gedächtnis: äuserlich durch die artikulirten Töne seiner Kehle. [...]. Er nähert sich einem Baume, und mitten in dem Genusse der Früchte desselben nöthigt ihm das dabey empfundene Vergnügen artikulirte Töne der Freude ab, und einer dieser Töne ward vielleicht der Name des Baums oder der Frucht. – Der Schöpfer

100 | Thorsten Roelcke führte ihm die Thiere des Gartens vor. Adam sah sie, und ihre Gestalt, Farbe, Bewegungen, Geschrey, und wer weis was noch für Umstände, die ihm bey dieser Musterung in die Sinne fielen, gaben ihm Bilder und Begriffe von diesen Thieren, und zugleich die ersten Töne oder Namen, wodurch er die Thiere bezeichnete. Adam sah z. E. das Schaaf und hörte es blöcken, er blöckte nach, und dieser nachgeahmte Ton konnte gleich der Name des Schaafes (ein Onomatopoëticon) werden. So oft er an das Schaaf dachte, dachte er diesen Ton, und umgekehrt. (Gatterer 1771: 102–103). Freylich kann kein Mensch ohne Bilder denken, und also konnte es Adam auch nicht: allein er dachte auch zuerst nur Bilder, und verband hernach mit diesen Bildern, und den Ideen derselben artikulirte Töne, die allzeit das Bild der Sache, auch in Abwesenheit der Sache, und noch mehr durch die Gegenwart der Sache erneuerten. (Gatterer 1771: 103– 104)

8 Quellen Bodmer, Johann Jacob (1740): Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen In einer Vertheidigung des Gedichtes Joh. Miltons von dem verlohrnen Paradiese; Der beygefüget ist Joseph Addisons Abhandlung von den Schönheiten in demselben Gedichte. Zürich: C. Orell. Faksimiledruck mit einem Nachwort von Wolfgang Bender, Stuttgart: Metzler 1966. Gatterer, Johann Christoph (1771): Synchronistische Universalhistorie. Göttingen: Vandenhoek. Harsdörffer, Georg Philipp (1645): Schutzschrift / für Die Teütsche Spracharbeit und Derselben Beflissene: zu Einer Zugabe / den Gesprächspielen angefüget. durch den Spielenden. In: Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele. Hrsg. v. Irmgard Böttcher. 1. Teil. Tübingen: Niemeymer 1968, 339–396. Harsdörffer, Georg Philipp (1646): Specimen Philologia Germanica. Nürnberg: Endter. Harsdörffer, Georg Philipp (1692): Delitia philosophica et mathematica Der Philosophischen und Mathematischen Erquickstunden / Dritter Theil: / Bestehend in Fünffhundert nutzlichen und lustigen Kunstfragen / und deroselben gründlichen Erklärung: Mit vielen nothwendigen Figuren / so wol in Kupffer als Holtz / gezieret; Und Aus allen neuen berühmten Philosophis und Mathematicis, mit grossem Fleiß zusammen getragen. Nürnberg: Endter. Leibniz, Gottfried Wilhelm (1704/65): Nouveaux Essais sur l'entendement humain. (Entstanden 1704, erstmals veröffentlicht 1765). 2. Bd. 3. Buch. Hrsg. und übersetzt von Wolf von Engelhardt und Hans Heinz Holz. Frankfurt: Insel Verlag 1961. Overheide, Gebhard (1665): Fünff Bücher Der Edlen Schreib=Kunst. Braunschweig: Jeremias Hofmann. Pufendorff, Samuel Freiherr von (1711): Acht Bücher / Vom Natur= und Völcker= Rechte. Frankfurt am Main: Knock. Reimmann, Jacob Friedrich (1709): Versuch einer Einleitung in die Historiam Literariam Antediluvianam d. i. In die Geschichte der Gelehrsamkeit derer Gelehrten vor der Sündfluth darinnen Dieselbe Methodo Scientifica entworffen / und dergestalt eingerichtet ist / daß ein curieuses Gemüthe die Haupt=Articul dieser hochnöthigen und

Adamische Sprache | 101 höchstnützlichen Wissenschafft alsofort in einem kurtzen begriff vor Augen haben / Und sich also nebst der Sache auch den Nutzen derselben und die eigentlichen Hülffs=Mittel zu beyden mit guter Manier zu gelangen / um so viel klärer / deutlicher und gründlicher vorstellen kann. Halle: Zenger. Wack, Johann Conrad (1713): Die Entstehung des Deutschen. Oder kurtze Anzeigung / wie nemlich die uralte Teutsche Sprache Meistentheils Ihren Ursprung aus dem Celtisch= oder Chaldäischen habe Und das Beyrische vom Syrischen herkomme. Regensburg: Hagen. Zesen, Philipp von (1651): Rosen=mând. In: Philipp von Zesen. Sämtliche Werke. Unter Mitwirkung von Ulrich Maché und Volker Meid hrsg. v. Ferdinand van Ingen. 11. Bd., bearbeitet von Ulrich Maché. Berlin, New York: De Gruyter 1974.

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Anja Lobenstein-Reichmann & Oskar Reichmann

Eigentlich: Bausteine einer Wortgeschichte || [email protected] [email protected]

Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu (Ödön von Horvath 1978: 67)

1 eigentlich in lebensgeschichtlichen Bezügen Der hier vorgelegte Artikel betrifft einen Gedanken, der dem Empfänger dieses Sammelbandes, Andreas Gardt, spätestens seit seiner Habilitationsschrift Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung ein bleibendes Anliegen ist. Sprachlich gefasst wird der gemeinte ‚Gedanke‘ in der Regel mittels des Adjektivs eigentlich, des davon abgeleiteten Substantivs Eigentlichkeit und eines umfänglichen Feldes partieller Synonyme. Gegenstand unseres Artikels ist ausschließlich die Bedeutung des Adjektivs. Dessen Inhalt wird damit von vorneherein als Einheit einer nur in sprachlichen Texten existierenden pragmasemantischen Welt verstanden, mithin als eine Größe, die es immer nur pro Zeit, pro Raum, pro Diskurs, pro Einzeltext (usw.) geben kann, die also nicht von irgendeiner Sachgrundlage vorsemantischer Art oder einer allgemeingültigen begrifflichen Setzung herleitbar ist, auch wenn man dazu tendieren mag, das Semantisierte in eine Welt vor der Semantik zu projizieren. Die Schwierigkeit der Bestimmung von Adjektiven des Typs eigentlich ergibt sich unter semasiologischem Aspekt aus der Polysemie des Wortes, onomasiologisch gesehen aus seinem Stellenwert innerhalb eines nach außen hin offenen Feldes sich feldintern mannigfach überlappender Synonyme. Den zentralen Gegenstand unseres Beitrags bilden ein Wörterbuchartikel und ein Artikeltyp, der als lexikographieähnlich gekennzeichnet werden könnte, hier aber ebenfalls als Wörterbuchartikel gelten soll. Ersterer ist von Anja Lobenstein-Reichmann und letzterer von Oskar Reichmann zu verantworten. Die Begleittexte entstammen gemeinsamen Überlegungen. Der erste Artikel

104 | Anja Lobenstein-Reichmann & Oskar Reichmann beruht auf dem Corpus 1 des Frühneuhochdeutschen Wörterbuches (FWB) und entspricht in seiner gesamten Anlage der Fassung, die demnächst in Band 5 dieses Unternehmens erscheinen wird. Der zweite entstammt den Materialien des Heidelberger Forschungsvorhabens Sprachtheorie in Barock und Aufklärung (SBA). Ziel dieses von Andreas Gardt, Oskar Reichmann und Thorsten Roelcke getragenen Projektes war ein auf drei Bände berechnetes enzyklopädisches Wörterbuch zu den Sprachkonzeptionen der genannten beiden Jahrhunderte (hier abgekürzt: EWBA). Die dazu in Heidelberg angefertigten Exzerpte (so z. B. zu eigentlich und Eigentlichkeit) bilden die Grundlage für den Artikel. 2 Beide Artikel stehen damit in verschiedenen Projektzusammenhängen. Wir haben gemeint, diese Zusammenhänge in ihrer vollen Unterschiedlichkeit belassen und zum Gegenstand der folgenden Überlegungen machen zu können. Das heißt: Der FWB-Artikel eigentlich unterliegt der semantischen Stoßrichtung dieses Unternehmens; er hält sich deshalb an dessen explizit gewollte Feindifferenzierung, so dass dem Lemmazeichen die stattliche Zahl von 12 Einzelbedeutungen zugeschrieben wird. Wir halten diese zwar für unterscheidbar, sind aber durchaus bereit zu konzedieren, dass die Unterscheidungskriterien nicht immer auf den ersten Blick erkennbar sind. Sie seien hier deshalb in einer Kurzfassung zusammengestellt: 1. >abbildlich, wirklichkeitsentsprechendursprünglich, geschichtlichbuchstäblich, literalin einem tieferen Sinne wahrdiskriminativ unterscheidendausführlich, detaillierteinzeln, gesondertbestimmt, sicher, gewissmystisch, ureigenst, wesenseigenselbst, in eigener Person, persönlichbesitzkennzeichnendmodalabbildlich, einer als sicher vorausgesetzten Wirklichkeit angemessen und entsprechend, eine reale Ausgangsgröße zeichenhaft repräsentierendexakt (auch von Messungen), genau so, wie es ist/war, vollständig, wahrheitsgemäßdiplomatisch genau, wörtlich (von der Wiedergabe von Schriftlichem)wörtlich, so, wie etw. ge- bzw. besprochen wurde< (genaue Wiedergabe des mündlich Gesprochenen); tropisch zu Letzterem: >nachweislichonomatopoetischähnlich wie eine Vergleichsgrößeeiner Sachlage angemessen, gerecht, passendursprünglich, von den Anfängen her, die Geschichte bzw. Genese einer Sache oder eines Sachverhaltes berücksichtigend (allgemein, speziell als ideologische Strategie der Historisierung)wortgeschichtlich, etymologischgrundrichtig, unverdorbenaus der ursprünglichen Ausgangssprache übersetztbuchstäblich, wörtlich im sog. eigentlichen, literalen Sinne eines Ausdruckes (im Unterschied zu metaphorisch)einem vorauszusetzenden richtigen/wahren Aussagegehalt gemäß (bezogen auf die Semantik einer Aussage), im wahrsten Sinne des Worteswahr, richtig (von der Bedeutung des Geschriebenen, seltener: des Gesagten)in Wirklichkeit, in einem tieferen Sinne wahr, im Grunde genommen, die wahre Intention (oft im Unterschied zu einer vorgeschobenen) unterstreichend, den wahren Sinn, den wahren Grund für etwas hervorhebend; das implizit tatsächlich, hintergründig Gemeinte einleitendklar, diskriminativ, unterscheidend; etw. in seinen Einzelheiten erfassend, Unterschiede zu Ähnlichem herausarbeitend und abgrenzend; ernsthaft abwägend; nachvollziehbar; genau, sorgfältig erfassend (in der Rezeption von etw.)deutlich, bis in einzelne Gründe hinein verstehend bzw. verständlich, offensichtlichdeutlich sichtbar / vernehmbar, konturiert (z. B. vom Gesang, von Farben); nachdrücklicheindringlich, intensiv (im Verhör)ausführlich, detailliert (von Beschreibungen)einzeln, eigenständig, gesondert, eigens, extra, besonders (von unterschiedlichen sinnlichen, kognitiven, sprachlichen Einheiten gesagt)explizit, ausdrücklichwirklich, bestimmt, sicher, mit Sicherheit, gewiss< (meist auf die Sicherheit der Erkenntnis einer Handlung oder eines Sachverhalts bezogen); anschließbar an 5. – Synt.: sich e. bewären (von Sachen gesagt), j. etw. e. erfaren (z.B. den grund) / vermerken, für gewis wissen, j. jn. e. erkennen, j. e. [wo] wonen (z.B. got in der vernunft), (nicht) e. erkennen, ob [...], wissen, wie [...] FRANZ u. a., Qu. hess. Ref. 4, 39, 25 (hess., 1531): Ds ist ja eigentlich ware, das er mere dan funf oder sex mal in offentlichen luegen ergriffen. GROSCH u. a., Schöffenspr. Pössneck 165, 36 (thür., 1474): Jorge [...] saget, er habe eß gethan addir habe eß nicht gethan (daz er nicht eygentlich wisse). WUTKE, Schles. Bergb., Cod. Sil. 21, 179, 8 (schles., 1629): können aber darauf nicht eigentlich erkennen, ob [...]. [...].

9. >im tiefsten religiösen, speziell mystischen Kern, im tiefsten Wesen e. P. / einem Sachverhalt eigen, nach den zugrundeliegenden Eigenschaften e. S.; wesenseigen, das ureigenste Wesen einer Person / einer Sache ausmachend / zum Ausdruck bringend (sehr häufig im mystischen Sinne); von Natur aus; wahrhaftig, die tiefe Wahrheit e. S. seiendpersönlich, selbst, in eigener Person; aus eigener Kraftvon Person zu Personden Besitz e. S. oder Person kennzeichnend und in Anspruch nehmend, jm. zugehörig, eigenjm. leibeigen, hörig, dienstbar; jm. verwandtschaftlich zugehörig oder durch Zuneigung verbundeneigentlich, normal, üblich, nicht tropischdem Wesen der Sache entsprechend, gemäßeigentlich, alt, naturnah, ursprungsnah; seit jeher in besonderer Weise dem Deutschen als der Sprache eigen, deren Ursprung (im Unterschied zum Ursprung anderer) in zeitlicher Nähe und ontischer Verbindung zur Erschaffung der Welt durch Gott gesehen wird, deren allseitige Gütekennzeichen (‚Alter‘, ‚Reichtum‘, ‚Reinheit‘ usw.) sich folglich objektiv aus dieser religiösen und gleichzeitig natürlichen Begründung herleiten und die deshalb als auszeich-

116 | Anja Lobenstein-Reichmann & Oskar Reichmann nendes Medium zur nationalpatriotischen Identifizierung aller Deutsch Sprechenden zu pflegen istunterscheidendArmutAusdrucksgestaltbestimmt, scharf, klar bis deutlich umrissen, genau, richtig, treffsicher auf Sachen oder auf sachabgeleitet gedachte kognitive Einheiten bezogen, streng von anderen semantischen Einheiten unterschiedenschlichtabbildlich, wirklichkeitsange-

122 | Anja Lobenstein-Reichmann & Oskar Reichmann messen< ab (so in Ansatz 1 von eigentlich im FWB), denn diese Aussage unterscheidet sich inhaltlich ‚klar‘ (aber kaum ‚deutlich‘ im Sinne der Aufklärungsskalen von Erkenntnis) von einer Aussage wie: etwas (z.B. ein tropus) sei eigentlich >ursprünglich< ein gesang (so unter Ansatz 2). Es fehlen allerdings Charakterisierungen, die so eindeutig sind, dass sie als zeitgenössisch regresspflichtige Definitionen oder als zeitgenössische definitionsartige Erläuterungen mehr oder weniger direkt in die Bedeutungserläuterung eines Wörterbuches übersetzt werden könnten. Die Charakterisierungen verlaufen für eigentlich in folgenden unterscheidbaren, wenn auch einander überlappenden Richtungen: a. Das als ‚eigentlich‘ Geltende wird historisch gegenüber einem Anderen als ‚älter, ausgezeichneter, authentischer, ursprünglicher‘ semantisiert (vgl. insbesondere die Ansätze 1, 2, 3, 9 im FWB-Artikel). Diese Semantisierungen finden sich im EWBA-Artikel in dessen ersten beiden Ansätzen wieder, allerdings mit unterschiedlichem Grad der Ähnlichkeit. Die größte Nähe ist für frnhd. eigentlich 9 und barockes eigentlich 2 gegeben. Stellt man die Bedeutungsansätze der beiden Artikel (wie in der unten folgenden Übersicht geschehen) in zwei Reihen gegenüber (links frnhd., rechts mnhd.), dann ergeben sich Linien von Ansatz 1 (links) zu Ansatz 1 (rechts), von den Ansätzen 2 und 3 (links) zu 2 (rechts) und verdichtet von Ansatz 9 (links) auf Ansatz 2 (rechts). Die bedeutungsgeschichtliche Aussage lautet folglich: Die barocke ‚Eigentlichkeit‘ hat ihre geschichtliche Basis vor allem in frnhd. eigentlich 9 mit seinen religiösen, speziell mystischen Bedeutungsdimensionen. Wenn das stimmt, dann müssten sich gewisse Übereinstimmungen im Beschreibungs- und Dokumentationsvokabular 7 beider Artikel ergeben, und zwar trotz der Tatsache, dass die Artikel von verschiedenen Personen geschrieben wurden und keine Absprachen in Richtung auf passende Vergleichsergebnisse erfolgten. Als solche Übereinstimmungen (teils wörtlicher, teils inhaltlicher, teils framebedingter Art) könnten gelten: 6F6F

|| 7 Als ‚Dokumentationsvokabular‘ sollen die Ausdrücke gelten, die unter den Angaben zeitgenössischer Synonyme und Antonyme, ferner unter Frame-Isotopien und schließlich unter den Angaben zeitgenössischer Syntagmen zu finden und an die Bedeutungsangabe adressiert sind. Auch die Belege können einbezogen werden.

Eigentlich: Bausteine einer Wortgeschichte | 123

tiefst religiös (frnhd.) von Natur aus Ursprung

b.

– religiös, Religion, Gott, Schöpfung (mnhd.) – natürlich, naturnahe, (der Natur) gemäß, wesenseigen – Ursprung, ursprünglich, Ursprache, alt, Grundbedeutung, Brunnquelle, Wurzel, wesenseigen, ureigen

Dieses Ergebnis ist hinsichtlich einiger Vergleichsausdrücke nur über mehrere assoziative Zwischenstufen verstehbar, insofern interpretabel, insgesamt aber doch überzeugend. Eine Einschränkung ist allerdings vorzunehmen: Die nationalpatriotische Spezialisierung in dem Sinne, dass eigentlich in besonderer Weise für das Deutsche im Gegensatz zu anderen Sprachen gelte, hat in frnhd. Zeit keine Grundlage. Sie ist ein Konstrukt der beginnenden Neuzeit. Das als ‚eigentlich‘ Charakterisierte wird gegenüber einem Anderen als ‚angemessener, genauer, exakter, wahrheitsgemäßer‘ semantisiert. 8 Dies gilt für frnhd. eigentlich 1, 4 und 7 im Verhältnis zu mnhd. 1 sowie für das Verhältnis von frnhd. eigentlich 6 zu mnhd. 3. Das als ‚eigentlich‘ Charakterisierte wird gegenüber einem Anderen als vergleichsweise ‚besser unterschieden, konturierter, abgegrenzter‘ semantisiert. Dies gilt für die frnhd. Ansätze 5, 6 und 7, die mit mnhd. 3 in unterschiedlich enger Beziehung stehend beurteilt werden können; am deutlichsten gilt es für das Verhältnis von frnhd. 5 zu mnhd. 3. Das als ‚eigentlich‘ Charakterisierte wird gegenüber einem Anderen als ‚bestimmter, sicherer, gewisser‘ semantisiert. Insbesondere korrespondiert der frnhd. Ansatz 8 mit mnhd. 1 und 3. 7F7F

c.

d.

Die folgende Skizze soll die von uns vorgenommenen Vergleichssetzungen veranschaulichen:

|| 8 Für jede der Aussagen unter b) bis d) wären gleiche Parallelsetzungen, wie sie für a) gemacht wurden, möglich.

124 | Anja Lobenstein-Reichmann & Oskar Reichmann

Abb. 1: Vergleichssetzungen

Für alle unter a) bis d) genannten Semantisierungen ist zu beachten, dass sie auf Artikeln beruhen, die ihren inneren Schnitt und damit die Abgrenzung ihrer Bedeutungsansätze voneinander den Gliederungsbemühungen der Autorin des Artikels eigentlich des FWB bzw. des Autors des Artikelvorschlages eigentlich des EWBA verdanken. Dieses Faktum betrifft den Status unserer Gliederung, der deshalb in einem Exkurs etwas ausführlicher ins Bewusstsein gehoben werden soll. Methodischer Ausgangspunkt unserer Gliederungsbemühungen ist eine chaotische Menge von Belegexzerpten, die auf einer noch chaotischeren Menge von Corpusmaterial beruht, das seinerseits aus einem absoluten Chaos überlieferter Texte ausgewählt wurde. Das heißt: Wir haben etwas gegliedert, das durch mehrere, der Gestaltungsmöglichkeit von Wissenschaftlern unterliegende und von einer hier mal vorausgesetzten objektsprachlichen Faktenlage weit entfernte Zwischenprodukte so zustande gekommen ist, wie es uns vorlag. Das Ziel unserer Bemühungen bestand darin, die Quellenexzerpte einerseits im Wissen um ihre Bedingtheiten und Zufälligkeiten, andererseits im Vertrauen auf eine irgendwie begründete Exzerption der Texte eines irgendwie begründeten Corpus in eine gewisse Übersicht, wenn nicht gar Ordnung zu bringen. Wir

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verzichten aber lieber auf den Ausdruck Ordnung, weil wir wissen, dass eine ‚richtige‘ Ordnung nach einem Inventar in sich stimmiger Kriterien entsteht. Dieses Inventar liegt nur bei Billigvarianten lexikographischer Arbeit vor, bei jeder verbisseneren Beschäftigung mit den Belegen wird man deren inhaltliche Gemengelage, ihre Überschneidungen, Unterschiede, Gegensätzlichkeiten, Widersprüche usw. dadurch abfangen, dass man zu Unterscheidungen greift, die zwar eine Übersicht schaffen, aber doch so, dass diese aus den gebrauchten Formulierungen heraus lediglich als eine von mehreren Möglichkeiten erscheint. Solche Übersichten sind dann das Konstrukt der Tätigkeit von Lexikographen (wie gesagt über mehrfach geschichtete andere Konstrukte). Es ist ja offensichtlich, dass man frnhd. eigentlich auch ganz anders hätte einteilen können, weil etwa der Ansatz 1. >abbildlich, wirklichkeitsentsprechend< auch mit 5. >diskriminativ< und mit 6. >ausführlich< als vereinbar betrachtet werden kann. Und ebenso offensichtlich ist, dass der EWBA-Ansatz 1. >eigentlich (nicht tropisch)< keineswegs in einer logischen Reihe mit 2. >ursprungsnahe< und 3. >bestimmt, deutlich< steht. Erst recht würden andere Ergebnisse zustande kommen, wenn man die Gliederungskriterien wechseln würde. Dies könnte etwa in dem Sinne geschehen, dass man alles zusammennimmt, was religiös (etwa frnhd. eigentlich 9 und mnhd. eigentlich 2) oder pseudoreligiös (wie bestimmte Eigentlichkeitsgebräuche der Moderne) bestimmt ist, und es von Profanem (wie immer dies von Religiösem unterschieden werden mag) trennt, oder wenn man das semasiologische Feld nach konsequent sprachgeschichtlichen Kriterien, etwa von seiner morphologischen und semantischen Herkunft von eigen her, aufziehen und dabei die semantischen Folgen der Lösung dieser Bezüge in den Mittelpunkt der Gliederung stellen würde, wie es der einschlägige Artikel in der Neubearbeitung des DWB in beeindruckender Weise tut. Wenn wir also in vorliegendem Artikel zwischen Konnotationen und Charakterisierungen unterschieden, die Charakterisierungen mit Ausdrücken wie alt, angemessen, genau, sicher usw. gefasst und diese zusätzlich noch in den Komparativ (also älter usw.) gesetzt haben, dann hat das Zeichenwert: Wir haben zwei ihrerseits auf mehrfach geschichteten semantischen Gestaltungen beruhende Konstrukte (also: zwei Wörterbuchartikel) in einen Vergleich gesetzt, dessen Kriterien nach Ausweis der gebrauchten Formulierungen nicht oppositiv zueinander stehen, sondern als zueinander offene Unterscheidungen im Sinne eines ‚Mehr oder Weniger‘ zu betrachten sind. Das soll heißen: Wir meinen zwar tatsächlich, dass unsere 4 Semantisierungen (s. oben, a) bis d)) unsere Exzerpte sinnvoll gliedern, sehen aber durchaus die Möglichkeit, ganz andere (bzw. innerhalb unseres Rasters) weitere semantische Zusammenhänge als die vorgetragenen zu setzen. Die Beschreibungsformel, die dies zum Aus-

126 | Anja Lobenstein-Reichmann & Oskar Reichmann druck bringen soll, lautet (im FWB): anschließbar an [...] oder offen zu [....] oder ähnlich. Die Ansätze frnhd. eigentlich 10 bis 12 fallen aus dem Vergleichsrahmen heraus: Eigentlich 10 charakterisiert die Handlung einer Person als von ihr ‚selbst, persönlich‘ vollzogen. – Unter 11 wird ein Besitzverhältnis einer Person hinsichtlich einer Sache angesprochen. Beide Gebräuche finden sich in den EWBA-Ansätzen nicht. Dieser Befund besagt allerdings keineswegs, dass die Bedeutungen >persönlich< und >besitzanzeigend< im mittleren Neuhochdeutschen nicht vorhanden seien. Eher ist anzunehmen, dass sie für das Anliegen des EWBA als nicht relevant erschienen und bereits bei der Exzerption der Quellentexte den herrschenden Selektionsbeschränkungen zum Opfer gefallen sind. Es geht ja um Gebräuche, die außerhalb des Gegenstandes des EWBA liegen. Auffallend ist dennoch, dass beide Gebräuche im DWB-Artikel (Neubearbeitung, Sp. 420) nicht gebucht sind, was ihr Fehlen im EWBA-Material dann doch wieder nicht als rein zugangsbedingt erscheinen lässt. – Ansatz 12 (des FWB) ist schwach und semantisch kaum sicher interpretierbar belegt. Es soll deshalb hier außer Betracht bleiben.

5 Ein grübelnder Ausflug in die Moderne Die Eigentlichkeitslexik wird dem heutigen Leser weniger vom Mittelalter oder von der Barock- und Aufklärungszeit als von der Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts her bekannt sein. Wir wagen deshalb einen Ausflug in die Moderne. Dabei sind wir uns bewusst, dass wir in unserer gesamten bisherigen Darstellung im Rahmen eines Erkenntnismodells argumentiert haben, das erstens ein logisches Objekt als erkennbare und sprachlich darstellbare Gegebenheit voraussetzt und zweitens eine Person als logisches Subjekt annimmt, die erkennend und sprechend auf das logische Objekt Bezug nimmt. Es ist bei dieser Aussage irrelevant, ob das angenommene Objekt sachlicher, rational oder sozialhistorisch begründeter Art (also z.B. ‚Sache‘ oder ‚Begriff‘ oder ‚soziale Fiktion‘) ist; und es ist ebenso irrelevant, wie man die Beziehung zwischen den beiden Tätigkeiten des angenommenen Subjektes (etwa: erst erkennen, dann sprechen oder umgekehrt) sieht. Entscheidend ist die Ubiquität des logischen Subjekt-Objekt-Schemas. Sie ist so herrschend, dass sie sich sogar in der üblichen Fachsyntax linguistischer Arbeiten, auch des vorliegenden Artikels, spiegelt. Zur Veranschaulichung des Gemeinten sei nur auf die Formulierungen der Vergleichssetzungen zu den beiden Wörterbuchartikeln (Abschnitte 2 und 3) verwiesen. Dort hieß es (verkürzt): „Das als ‚eigentlich‘ Geltende wird [...] als

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[z.B.] ‚älter‘ semantisiert.“ Setzt man die Passivform ins Aktiv um, so kommt ein logisches wie sprachliches Subjekt ins Spiel, das ein logisches wie sprachliches Objekt (nämlich das Geltende, Charakterisierte usw.) als etwas semantisiert; Entsprechendes gilt für weitere Teile des Artikels. Nun hätten wir dies nicht erwähnt, wenn wir nicht gemeint hätten, den Gebrauch von ‚eigentlich‘ in der Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts mindestens noch streifen zu sollen. Dabei stellen sich folgende zwei Probleme: (1) Ist der Bruch, den die Existenzphilosophie fachintern und fächerübergreifend zweifellos darstellt, von so radikaler Art, dass er möglicherweise die gesamte abendländische Denktradition – gleichgültig, ob sie nun spätmittelalterlich oder barock oder aufklärerisch ausgerichtet ist – ihrer Gültigkeit enthebt, oder ist er lediglich einer der üblichen Epocheneinschnitte? (2) Kann die linguistische Fachsprache je nach Antwort auf diese Frage weiter so gebraucht werden wie bisher, oder ist sie radikal, möglicherweise in Richtung auf den Sprachgebrauch der Existenzphilosophie, neu zu entwerfen? Die erstere Frage kann hier unbeantwortet bleiben; letztere entzieht sich insofern einer Entscheidung, als man nicht sagen kann: Ich wechsle jetzt mal kurz meine Fachsprache. Das heißt: Wir werden gar nicht anders können, als dem Subjekt-Objekt-Modell auch weiterhin zumindest einen gewissen Raum zu gönnen. Wir sehen aber die Gefahr, dass wir existenzphilosophische Aussagen durch konventionelle fachsprachliche Überblendungen verfälschen. Für den folgenden Teil unseres Beitrages liegt uns kein Textcorpus und erst recht kein Zettelarchiv oder eine vergleichbar ausgewogene digitale Menge zitierbarer Exzerpte vor. Wir beschreiten daher einen ganz anderen Weg. Wir gehen im Bewusstsein der Priorität des Beispiels vor der Abstraktion von einzelnen Textstellen, denen wir Beispielwert zuschreiben, aus und befragen diese auf ihren Gebrauch von eigentlich. Karl Jaspers schreibt in seiner Einführung in die Philosophie (1980: 45): So gilt: der Ursprung der Philosophie liegt zwar im Sichverwundern, im Zweifel, in der Erfahrung der Grenzsituationen, aber zuletzt, dieses alles in sich schließend, in dem Willen zur eigentlichen Kommunikation. Das zeigt sich von Anfang an schon darin, daß alle Philosophie zur Mitteilung drängt, sich ausspricht, gehört werden möchte, daß ihr Wesen die Mitteilbarkeit selbst und diese unablösbar vom Wahrsein ist. Erst in der Kommunikation wird der Zweck der Philosophie erreicht, in dem der Sinn aller Zwecke zuletzt gegründet ist: das Innewerden des Seins, die Erhellung der Liebe, die Vollendung der Ruhe. [Hervorhebungen ALR/OR]

Eine der zentralen Aussagen dieses Zitates wird über das Adjektiv/Adverb eigentlich kommuniziert. Aber es ist nicht nur eine argumentative Wortspielerei, wenn wir hier bekennen, dass genau dieser Ausdruck bei der Lektüre des Ab-

128 | Anja Lobenstein-Reichmann & Oskar Reichmann satzes die schwersten Verständnisprobleme bereitete. Versucht man, sich des Gesagten zu vergewissern, so erhält man (im Kern referierend): Der Ursprung der Philosophie liege zuletzt (nach Zweifel, Sichverwundern und Grenzsituationen) „in dem Willen zur eigentlichen Kommunikation“; Philosophie dränge zur Mitteilung, möchte sich aussprechen, gehört werden, sei „Mitteilbarkeit selbst“ von ihrem Wesen her; und diese Mitteilbarkeit sei „unablösbar vom Wahrsein“. Der „Zweck der Philosophie“, mehr noch der „Sinn aller Zwecke“, werde in der Kommunikation erreicht, es folgt dann die Trias von Innewerden des Seins, Erhellung der Liebe und Vollendung der Ruhe, und zwar als Sinn aller Zwecke. Die angedeuteten Verständnisschwierigkeiten des Zitates lösen sich bei dieser Nachzeichnung kaum auf. Die Gründe dafür liegen in Folgendem: Das ‚Sichverwundern‘, der ‚Zweifel‘ (und natürlich vieles Weitere), jeweils verstanden als ‚Grenzsituationen‘ und damit als Existentialien, sind unvermeidbare, den Veränderungsmöglichkeiten jedes menschlichen Handelns nur beschränkt unterliegende Wahrnehmungs- und Bewusstseinsrealitäten, die von dieser Existenzweise her eher einen autorzentrierten Ausdruck in Texten der Lyrik finden müssten als einen Ausdruck in genuin kommunikativ orientierten Textsortenbereichen (am ehesten des Dialogs). Auf Lyrik in dem hier sehr weit gefassten Sinne passt denn auch das reflexiv gebrauchte Verb sich ausdrücken, vielleicht auch drängen sowie das Substantiv Wille. Die Wortbildungen Kommunikation, Mitteilung und Mitteilbarkeit implizieren dagegen teils mehr, teils weniger einen Adressaten: Man kommuniziert eben individuell „mit jemandem“ (das ‚Was‘ ist hier sogar ausgeblendet), Mitteilung setzt ebenfalls ein Gegenüber voraus und selbst die gelehrtensprachliche Wortbildung Mitteilbarkeit kann als Bestimmung eines Ausdrucks zur Mitteilung gelesen werden. Allerdings ist bei den letzteren beiden zumindest pragmatisch immer ein Inhalt mit im Spiel. Indem Jaspers dann die ‚Mitteilbarkeit‘ als unablösbar mit Wahrsein deklariert, suggeriert er allerdings eine Wahrheit im Sinne von inhaltlicher Stimmigkeit. Wenn diese Interpretation stimmen sollte, dann wäre es eine Forderung darstellungsfunktionaler Art. Die dann folgende Trias von ‚Innewerden‘, ‚Liebe‘ und ‚Ruhe‘ gehört allerdings wieder in den Bereich psychischer Zuständlichkeit, und zwar immerhin als Sinn aller Zwecke der Philosophie. Was also heißt eigentlich eigentlich? Kennzeichnet es die Erfahrung einer Situation als Grenzsituation, also die psychisch-geistige Befindlichkeit eines einzelnen Menschen, die gleichsam als ‚ihm eigen‘ 9 zur lyrischen Kundgabe als einem Sich-ausdrücken drängt, und wäre es dann mit dem heutigen wahrhaftig, echt zum mindesten partiell synonym? Oder kennzeichnet es eine Sache als 8F8F

|| 9 Von hier aus ergäbe sich eine Verbindung zu frnhd. eigen 11 >besitzkennzeichnendeigen, besitzangebendwirklich bedeutsam, einer Sache in Wahrheit zugrunde liegend, in Wirklichkeit relevant, ausschlaggebend; tatsächlich< (Duden, GWb 2, 932). Das heißt: Es gibt eine vorausgesetzte Sache, dieser liegt etwas in Wahrheit Bedeutsames/Relevantes zugrunde, das dann doch tatsächlich ist. Trotz der Überlagerungen und teils logischer Ungereimtheiten sach- und personenbezogener semantischer Schichten wird das eigentliche Kommunizieren als ein besonderes, über ein vorausgesetztes platteres Kommunizieren herausgehobenes, eben ausschlaggebendes Beziehungssprechen angenommen.

6 Schluss Wir verstehen die bisherigen Ausführungen tatsächlich nur als Bausteine einer Wortgeschichte. Solche Bausteine bedürfen, da sie nach dem Prinzip der komparativen Statik vorgetragen wurden, selbstverständlich der Hineinstellung in die Text- und Kulturgeschichte als Prozess. Sie bedürfen weiterhin der corpusgestützten Fortführung in die Gegenwart. Dabei würde die philosophische Eigentlichkeitsdiskussion der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen herausragenden Platz einnehmen müssen. Fragen wären: Welche genauen theorieinternen Differenzen sind zu konstatieren? Wie steht es um dass Verhältnis von philosophischem Fachausdruck und Allgemeinsprache? Gibt es Anschlussmöglichkeiten dieser Diskussion in der Geschichte? Wo liegen diese, etwa in der Mystik? Oder in der Barockzeit? Oder in der Aufklärung? Oder ist von einem weitestgehenden Neuansatz auszugehen? Wie ist eine linguistische Untersuchung von einer philosophischen zu unterscheiden?

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7 Literatur Adorno, Theodor W. (1964): Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. [AWB =] Althochdeutsches Wörterbuch (1971). [...]. Band III: E und F, hrsg. v. Rudolf Große. Berlin: Akademie Verlag. Bühler, Karl (1934): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Jena: Gustav Fischer. Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in 10 Bänden (1999), 3., völlig neu bearbeitete und erweiterte Aufl. Mannheim u.a.: Dudenverlag. [DWB, Neubearbeitung 1965ff. =] Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung, hrsg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin in Zusammenarbeit mit der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Leipzig: Hirzel. [FWB =] Frühneuhochdeutsches Wörterbuch (1989ff.), hrsg. v. Robert R. Anderson [für Band 1], Ulrich Goebel, Anja Lobenstein-Reichmann [Band 6ff.] & Oskar Reichmann. Berlin, New York: de Gruyter. Gardt, Andreas (1994): Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung. Entwürfe von Böhme bis Leibniz (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, NF 108 [232]). Berlin, New York: de Gruyter. Haas, Alois Maria (1984): Geistliches Mittelalter (Dokimion. Neue Schriftenreihe der Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 8). Freiburg (Schweiz): Universitätsverlag. Haas, Alois M. (1989): Sermo Mysticus. Studien zu Theologie und Sprache der deutschen Mystik. 2. veränderte Aufl. Freiburg (Schweiz): Universitätsverlag. Haas, Alois M. (2007): Mystik als Aussage. Erfahrungs-, Denk- und Redeformen christlicher Mystik (Verlag der Weltreligionen, Taschenbuch 3). Frankfurt am Main, Leipzig: Inselverlag. Heidegger, Martin (2001): Sein und Zeit. 18. Aufl. Tübingen: Niemeyer. [MWB =] Mittelhochdeutsches Wörterbuch (2006) Erster Band, hrsg. v. Kurt Gärtner, Klaus Grubmüller & Karl Stackmann. Berlin, New York: de Gruyter. Horvath, Ödön von (1978): Gesammelte Werke, hrsg. v. Traugott Krischke & Dieter Hildebrandt, Band 3: Komödien 1. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Jaspers, Karl (1947): Von der Wahrheit (Karl Jaspers, Philosophische Logik 1). München: Piper. Jaspers, Karl (1980): Einführung in die Philosophie. In: Karl Jaspers: Was ist Philosophie? Ein Lesebuch. Textauswahl und Zusammenstellung v. Hans Saner (dtv 1576). Ungekürzte Ausg. München: Piper, 33–120. Reichmann, Oskar (1990): Das gesamtsystembezogene Wörterbuch. In: Franz Josef Hausmann, Oskar Reichmann, Herbert Ernst Wiegand & Ladislav Zgusta (Hrsg.): Wörterbücher. Ein internationales Handbuch zur Lexikographie. Dictionaries. 2. Teilband (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Handbooks of linguistics and communication science, HSK). Berlin, New York: de Gruyter, 1391–1416. Reichmann, Oskar (1996): Der rationalistische Sprachbegriff und Sprache, wo sie am sprachlichsten ist. In: Michael S. Batts (Hrsg.): Alte Welten – Neue Welten. Akten des IX. Kongresses der Internationalen Vereinigung für germanische Sprach- und Literaturwissenschaft. Band 1: Plenarvorträge. Tübingen: Niemeyer: 15–31. Reichmann, Oskar (2012): Historische Lexikographie. Ideen, Verwirklichungen, Reflexionen an Beispielen des Deutschen, Niederländischen und Englischen (Studia Linguistica Germanica 111). Berlin, New York: de Gruyter.

Eigentlich: Bausteine einer Wortgeschichte | 133 Ruh, Kurt (1989): Meister Eckhart. Theologe. Prediger. Mystiker. 2., überarbeitete Aufl. München: Beck. Ruh, Kurt (1993/1996/2001): Geschichte der abendländischen Mystik. 3 Bde. München: Beck. Thurnherr, Rainer (2002a): Karl Jaspers. In: Rainer Thurnher, Wolfgang Röd & Heinrich Schmidinger (Hrsg.): Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts. Lebensphilosophie und Existenzphilosophie (Geschichte der Philosophie 13). München: C.H. Beck, 166–195. Thurnherr, Rainer (2002b): Martin Heidegger. In: Rainer Thurnher, Wolfgang Röd & Heinrich Schmidinger (Hrsg.): Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts. Lebensphilosophie und Existenzphilosophie (Geschichte der Philosophie 13). München: C.H. Beck, 196–274.

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II Zugriffe auf Eigentlichkeit

Marcus Müller

„Symbols grow“ Korpuspragmatik und Wirklichkeit || Universität Heidelberg, Germanistisches Seminar, Hauptstraße 207-209, 69117 Heidelberg, [email protected]

Der Beitrag ist im Bereich der Korpuspragmatik angesiedelt, bei der es um die Erforschung von Sprache in ihren sozialen, epistemischen und situativen Kontexten anhand elektronischer Korpora geht. Ich stelle darin die Frage danach, wie das Verhältnis von Korpusdaten und Wirklichkeit, in die verstrickt man sich die soziopragmatischen Befunde solcher Studien vorstellt, am stimmigsten gefasst werden kann und welche Art von Wirklichkeit überhaupt angenommen werden kann. Das geschieht weniger in allgemein theoretischer als vielmehr in methodologischer Absicht. Die Dimensionen, deren Verhältnis zueinander einer Modellierung bedarf sind: die elektronischen Repräsentationen sprachlicher Ausdrücke im Korpus, die phonische/graphische Erscheinungsform der erhobenen Sprachzeichen, die soziale Welt als konstitutiver Kontext, die Wirklichkeit als von Sprechern und Sprachforschern sprachlich inszenierter ontischer Rahmen. Die Überlegungen werden aus der pragmatischen Zeichentheorie nach Peirce heraus entwickelt. 1 Der Leitbegriff der methodologischen Überlegungen ist der Terminus ‚Spur‘. Der Beitrag knüpft an entsprechende Überlegung zur korpuspragmatischen Erforschung von Kontextualisierungsvorgängen und an praxeologische Vorstellungen von Sprachgebrauch an.

1 Einleitung Mit dem Wort „Wirklichkeit“ wird nach Auskunft des Duden Bedeutungswörterbuchs „[alles] das, Bereich dessen, was als Gegebenheit, Erscheinung wahrnehmbar, erfahrbar ist“ (Duden 1999) bezeichnet. „Wirklichkeit“ hat im Rah|| 1 Vgl. zu einer ähnlichen Herangehensweise (hier mit Blick auf die Eigentlichkeit bildlicher Zeichen) auch den Beitrag von Klug in diesem Band.

138 | Marcus Müller men philosophischer Debatten um die Möglichkeiten und Bedingungen wissenschaftlicher Erkenntnis in den letzten Jahren eine Renaissance erfahren, und zwar als Fahnenwort des philosophischen Neorealismus (vgl. z.B. die Beiträge in Halbig & Suhm 2004). In anderen Diskursen ist das Wort „Wirklichkeit“ vor allem in konstruktivistischen Theorien verwendet worden: Während die zeitgenössische Philosophie – zumindest nach dem Laieneindruck des Verfassers – unter nicht geringem Argumentationsaufwand realistische Erkenntnismodelle zu refundieren sucht, findet man in den empirischen Sozialwissenschaften mehrheitlich Arbeiten, die sich mehr oder weniger ausdrücklich einem mehr oder weniger radikalen Konstruktivismus verschreiben. Konstruktivistische Theoreme sehen ‚Wirklichkeit‘ als symbolisch konstituiertes Resultat sozialer Zeichenbildungsprozesse, die nach dem älteren Terminologievorschlag von Schmidt (1996) von der objektiven, prinzipiell nicht erkennbaren ‚Realität‘ zu unterscheiden ist.2 Ein konstruktivistischer Grundton ist auch ein Merkmal, das die verschiedenen disziplinären Ausprägungen der Diskursanalyse miteinander teilen. Zu dieser Diagnose kommt auch Gardt (2007: 36), nachdem er im Rahmen einer Metastudie die Unterschiede zwischen den linguistischen Varianten der Diskursanalyse im deutschen Sprachraum herausgearbeitet hat: Dennoch lässt sich, ähnlich wie im Falle der Methoden, auch bei den Theorien ein gemeinsamer Nenner erkennen: der relativistische bzw., in terminologischer Variante, konstruktivistische Grundzug der Ansätze. Die Diskursanalyse gehört zu jenen erkenntnis- und sprachtheoretischen Ansätzen, die der Sprache eine maßgebliche Rolle bei der mentalen Erschließung der Wirklichkeit zuerkennen, ihr das erkenntnistheoretische Apriori zusprechen.

‚Wirklichkeit‘ als soziales Konstrukt ist gleichsam das natürliche Begriffsverständnis vor allem der linguistischen Diskursanalyse, insofern sich ‚Wirklichkeit‘ letztlich als Ontologie sprachlicher Bedeutungen reformulieren lässt – was erstens die Relevanzzuschreibung des Fachs an sich selbst und zweitens der „déformation professionelle“ (mindestens) der Diskurslinguisten (Gardt 2007: 38) entspricht. Dabei ergeben sich aber auch Probleme: Ein Wissenschaftler, dessen Gegenstand von ihm selbst als sozial, sprachlich, zeitlich und kulturell kontingent beschrieben und aufgefasst wird, hat Mühe zu erklären, wieso nun seine Beschreibung gelten soll und abweichende Beschreibungen nicht (dazu prägnant Wengeler 2011: 38). Das an dieser Stelle überzeugendste Argument, das der Plausibilität (z.B. von Felder 2012: 148 und Busse 2007: 81 im Sinne von || 2 Zu dieser Unterscheidung als Grundlage der Diskursanalyse siehe Felder 2009: 23; dazu im Kontext der Korpuspragmatik Felder 2012: 123.

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‚Mehrheitsfähigkeit in der wissenschaftlichen Community‘ verwendet), kann nicht erklären, wieso eine wissenschaftliche Überzeugung gegen wissenschaftliche Trends und Moden aufrecht erhalten sollte. Außerdem lässt sie wissenschaftssoziale Asymmetrien außer Acht, die z.B. durch besondere rhetorische Fähigkeiten der Überzeugung oder durch eine herausragende Stellung im Wissenschaftsbetrieb begründet sein kann (Belege für die Wirksamkeit sozialer Mechanismen in den Wissenschaften liefern die science studies, z.B. KnorrCetina 1984). Außerdem ergibt sich durch die konstruktivistische Rahmung der empirischen Sozialwissenschaften die Situation, dass zwischen den quantifizierenden akademischen Fächern und eben großer Teile der Philosophie auf der einen und den interpretierenden Geistes- und Sozialwissenschaften auf der anderen Seite keine Verständigung darüber erzielt werden kann, welches denn Aufgaben, Ziele und Möglichkeiten wissenschaftlicher Forschung seien. Letztlich scheinen zumindest die jakobinischen Spielarten des Konstruktivismus dem wissenschaftlichen Instinkt zu widersprechen: Auch und gerade in den Texten von Forschern, die konstruktivistisch argumentieren, scheint doch immer wieder das Streben nach Erkenntnis der ‚Wirklichkeit‘ im realistischen Sinne durch – so richtig möchte man es niemandem abnehmen, dass sein Handeln auf die möglichst mehrheitsfähige Disposition letztlicher beliebiger Weltbeschreibungen gerichtet sei. Auch ist schwer vorstellbar, wie sich aus einer derartigen Position ein Ethos wissenschaftlichen Handelns begründen ließe. Auf der anderen Seite ist es nun ein wesentlicher Bestandteil des linguistischen Wirklichkeitsinstinkts, dass Weltbezug über die symbolischen Potenziale sprachlicher Zeichen verläuft und dass diese den Dynamiken soziokommunikativer communities of practice (Wenger 1998) unterliegen. Es wird also ein erkenntnistheoretisches Modell gesucht, das den Anschluss an wissenschaftstheoretische Debatten außerhalb der interpretierenden Fächer herstellt, das dem wissenschaftlichen Wahrheitsinstinkt gerecht wird und das eine stimmige Grundlage zur datenbasierten Verteidigung wissenschaftlicher Erkenntnis im Diskurs bildet. Das Wort Wirklichkeit werde ich im Folgenden vorerst unscharf in einer Weise verwenden, die auf Elementen der beiden genannten Wirklichkeitsbegriffe beruht – später werde ich eine zeichentheoretisch hergeleitete Konkretisierung unternehmen (s. Kap. 3). Mit der Bezeichnung Korpuspragmatik fasse ich mit Felder, Müller & Vogel (2012: 4) diejenigen korpuslinguistischen Studien, die Regelhaftigkeiten in den Phänomenbereichen Kognition, Handlung, Interaktion, Gesellschaft oder empirische Epistemik auf der Basis authentisch verwendeter Sprache (gesprochen und geschrieben) erforschen. Charakteristisch für diese Richtung ist, dass aus den sprachlichen Befunden der strukturellen Korpusanalyse auf solche Phänomene der Handlungstypik (Form-Funktions-Korrelation; vgl. Felder 2012; Müller

140 | Marcus Müller 2012a) zu schließen ist, die mit sprachlichen Ausdrucksweisen systematisch im Zusammenhang stehen. Felder, Müller & Vogel (2012: 4) geben auf dieser Basis folgende Definition: Unter Korpuspragmatik verstehen wir einen linguistischen Untersuchungsansatz, der in digital aufbereiteten Korpora das Wechselverhältnis zwischen sprachlichen Mitteln einerseits und Kontextfaktoren andererseits erforscht und dabei eine Typik von FormFunktions-Korrelationen herauszuarbeiten beabsichtigt. Solche Kontextfaktoren betreffen potenziell die Dimensionen Handlung, Gesellschaft und Kognition. Die Analyse bedient sich insbesondere einer Kombination qualitativer und quantitativer Verfahren.

Die hier aufgeworfene Frage nach dem Wirklichkeitsbezug wissenschaftlichem Handelns stellt sich in diesem Forschungsbereich auf eine besonders verzwickte Weise: Das hängt mit der prinzipiellen Offenheit und Unabgeschlossenheit des Begriffs von Sprache zusammen, der notwendigerweise korpuspragmatischen Arbeiten zu Grunde zu legen ist. Weil die Korpuspragmatik auf der ersten Ebene der Untersuchung zwangsläufig mit Ausdruckskonfigurationen zu tun hat, die mit Minimalkontexten (z.B. Angaben über Sprecher, Medium und Situation als Metadaten) versehen sind, sich auf der zweiten Ebene aber für die Verwendungstypik dieser Ausdrücke in reichen Kontexten interessiert, sind genaugenommen zwei Begriffe von Sprache notwendig (Müller 2012a: 35): Der enge Begriff von ‚Sprache‘ S1 zielt auf den Ausgangsbereich der Analyse; er beschreibt die Menge an im Diskurs konfigurierten materialen Sprachzeichen (also Schriftzeichen und Sprachlaute, ggf. multimodale Zeichen wie Bilder, Mimik, Gestik, Proxemik) sowie die Muster ihrer Konfiguration. Der weite Begriff von ‚Sprache’ S2 umreißt den Zielbereich der Analyse; er umfasst neben den aus der Systemlinguistik bekannten Erscheinungen zusätzlich alle Aspekte sozialen Miteinanders, in die sprachliche Zeichen involviert sind (z.B. auch Interaktionsmuster, Sozialstrukturen, Machtgefüge) sowie alle Aspekte möglicher Gedanken, Einstellungen und Gefühle über die Welt, die in sozialen Gruppen geteilt werden können. Das korpuspragmatische Verfahren besteht nun darin, mittels offen gelegter und reproduzierbarer Verfahren Tendenzen und Konjunkturen der Ausdruckskonfiguration in gegebenen Diskursen aus S1 zu ermitteln, mittels derer dann auf diskursspezifische Verhältnisse in S2 zu schließen und aus den so gewonnenen Hypothesen über S2 Aussagen über S1 zu gewinnen, die dann wiederum überprüfbar sind. Um wissenschaftlich valide Aussagen treffen zu können, scheint es mir wichtig zu sein, einen Untersuchungsrahmen zu schaffen, in dem die Verhältnisse im Bezug auf S1 – relativ zum gewählten Setting – möglichst eindeutig ermittelt werden können. In der Bildsprache der Forensik könnte man von der Phase der „Spurensicherung“ sprechen. Aussagen über S2 lassen sich dann indiziengeleitet als mehr oder weniger starke Hypothe-

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sen formulieren. Der Härtegrad der Hypothesen über S2 ergibt sich erstens aus der Menge der miteinander zu korrelierenden Spuren und zweitens aus der Stichhaltigkeit des Untersuchungssettings (Korpusdesign, Repräsentativität, Ausgewogenheit, Angemessenheit der Operationalisierung). In diesem Beitrag sollen Vorüberlegungen für ein solches Modell referiert, zusammengestellt und auf das Vorgehen im Bereich der Korpuspragmatik bezogen werden. Gleichzeitig soll damit die Korpuspragmatik als Methode der angewandten Linguistik mit einem methodologischen Fundament und methodischem Profil versehen werden. Die Überlegungen richten sich nach der Semiotik Charles Peirce‘ und nach den Ideen, die im Umfeld von Sibylle Krämer rund um den Terminus ‚Spur‘ entwickelt worden sind. Zeichentheoretisch wird die Argumentation darauf hinauslaufen, den indexikalischen Weltbezug sprachlicher Zeichen erstens zu betonen und zweitens zu versuchen, den symbolischen Weltbezug aus jenem heraus zu erklären. 3

2 Korpuspragmatik und Wirklichkeit Die Dimensionen, deren Verhältnis zueinander einer Modellierung bedarf, sind demnach: die elektronischen Repräsentationen sprachlicher Ausdrücke im Korpus, die phonische/graphische Erscheinungsform der erhobenen Sprachzeichen, die soziale Welt als konstitutiver Kontext, die Wirklichkeit als von Sprechern und Sprachforschern sprachlich inszenierter ontischer Rahmen. Diese Modellierung geschieht anhand der Zeichenrelation der Indexikalität: Jedes Zeichen begegnet dem Forscher als elektronische Repräsentation. Diese wird als Spur ihres Korrelats in der phonisch/graphischen Dimension der erhobenen Objektsprache aufgefasst, das materialisierte Zeichen wiederum als Spur der sozialen Interaktion, in deren Rahmen es kontextualisiert ist, und diese als Spurenkonfigurat der in ihr symbolisch kodierten Perspektiven auf Wirklichkeit. Den Terminus ‚Spur‘ hat in jüngerer Zeit Sybille Krämer (2007) mit Berufung auf u. a. Carlo Ginzburg für die Kulturwissenschaft wiederentdeckt und weiterentwickelt (s. dazu ausführlicher Müller 2012b: 168–174). Der Terminus ‚Spur‘ hat in der jüngeren Debatte besondere Aufmerksamkeit erfahren, da er drei viel diskutierte Dimensionen von Kommunikation miteinander verbindet:

|| 3 Dazu werden Überlegungen aufgegriffen, die der Verf. zum Verhältnis verschiedener Arten von Geschichtstexten zu ihrem Gegenstand angestellt hat (Müller 2012b), und auf den Bereich der Korpuspragmatik bezogen.

142 | Marcus Müller a) Materialität „Spuren“, schreibt Krämer (2007: 15), „treten gegenständlich vor Augen; ohne physische Signatur keine Spur.“ Spuren sind immer und notwendigerweise Konfigurationen des Materiellen in der Welt, sie verweisen erstens auf ein der Wahrnehmungsgegenwart vorgängiges physisch-körperliches Ereignis und zweitens auf den biophysischen Wahrnehmungsprozess selbst: Spuren müssen gesehen, ertastet, gehört, gerochen werden. Beschreibt man Medien in kommunikativen Prozessen als Spuren, so tritt diese unvorgreifliche Materialität der Kommunikation offen zutage. Diesen Gedanken bringt Pape (2007: 40) in einer Fußnote zum Begriff der Spur auf den Punkt: Die besondere Leistung der Spur besteht eben darin, dass weder die Raum-Zeit, in der die Spur aufgewiesen wird, noch die Spur selbst durch ihr Lesen erzeugt werden. Die Tatsachen, die für uns zu Spuren werden, existieren unabhängig von unserer Deutung als Spuren. Die erkenntnistheoretische Bedeutung und die konkrete Ästhetik der Spuren werden durch diese Balance zwischen Unabhängigkeit und interpretativer Bestimmtheit erst möglich. Die harte Materialität der Diskurse, von der Foucault spricht, wird durch den Begriff der Spur singulär, auf die individuelle Konkretheit der Welt ausgelesen: Anhand der Spuren erspüren wir die Wirkung der Welt auf unser Verstehen.

b) Semiotizität Spuren werden erst zu Spuren, wenn sie als solche gedeutet werden. Das erfordert eine Reihe von Bedingungen: Es muss ein als rekonstruierbar geltendes Ereignis als Ursache der Spur angenommen werden; es braucht eine Person, die willens und in der Lage ist, eine spezielle materielle Konfiguration als Spur zu deuten und es muss ein Deutungskontext existieren, in dessen Rahmen man die Beziehung zwischen dem der Spurhaftigkeit verdächtigen Konfigurat und einem für ihn ursächlichem Ereignis annehmen kann. c) Kontextualität Spuren verweisen mindestens in einem Sinne auf soziale Praktiken, nämlich auf diejenigen, derer es bedarf, um die Spur als Spur zu erkennen und zu deuten. Werden Medien in Gefügen kommunikativer Handlungen als Spuren gedeutet, wird außerdem das Verursacherereignis als soziale Praktik ausgewiesen. 4 Daneben verweist der Ausdruck Spur darauf, dass die Deutung des materiellen Konfigurats als Spur vom Verursacher eben nicht intendiert wurde: „Spuren werden nicht gemacht, sondern unabsichtlich hinterlassen. […] Und umgekehrt: Wo etwas als Spur bewusst gelegt und inszeniert wird, da handelt es sich gerade || 4 Den Zusammenhang von Sprache als sozialer Praxis und der Herausbildung von Wirklichkeitsmodellen entwickelt Konerding 2008: 83–96.

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nicht mehr um eine Spur“ (Krämer 2007: 16; vgl. Kogge 2007: 118). Dass auch dort, wo Zeichen intentional produziert werden, immer auch nicht-intendierte Nebeneffekte ausgelöst werden, die ihrerseits eine wichtige Rolle in Deutungsverfahren spielen und in Gesprächen und Diskursen auch interaktiv bedeutsam werden, darauf hat die Kontextualisierungstheorie nachdrücklich aufmerksam gemacht (Gumperz 1982; Müller 2012a: 40–45). Das forensische Prinzip der Spurensuche betont also den materiellen Charakter von Sprachzeichen, deren indexikalischen Bezug zu leiblichen Kontexten und damit auch ihren Einschluss in ein wie auch immer geartetes Konzept von Wirklichkeit. Hier möchte ich einer Anregung des Philosophen Werner Kogge (2007) folgen, der mit dem Leitterminus ‚Spur‘ versucht, als Rahmen einer Erkenntnistheorie der Wissenschaften nicht den bekannten Dualismus zwischen ‚erkennender Sphäre‘ und ‚zu erkennender Sphäre‘ anzunehmen, wie er auch in den Großbegriffen ‚Realismus‘ und ‚Konstruktivismus‘ jeweils präsupponiert ist, sondern wissenschaftliches Erkennen als einen Weg der kontrollierten und reflektierten Verstrickung des Forschers in seinen Gegenstand innerhalb derselben Erkenntnissphäre beschreibt (dazu ausführlicher Müller 2012b: 173–174). Dieses Moment der Involviertheit bedingt nach Kogge (2007: 192) die potenzielle Entgrenzung und die faktische Unordnung des Untersuchungsfeldes. Die symbolischen Praktiken, welche Kogge allgemein „Kulturtechniken“ nennt, begünstigten die Suggestion, die Abgeschlossenheit und Ordnung der wissenschaftlichen Darstellung in den Gegenstand hinein zu verlagern. Ebenso legten sie nahe, in ihrer fortschreitenden Beherrschung durch den Forscher eine wachsende Distanzierung vom Untersuchungsgegenstand zu sehen, gleichsam der Demiurgenperspektive entgegen. Dieser Annahme entgegengesetzt legt Kogge (2007: 193) dagegen gerade die zunehmende Expertise und Kennerschaft des Forschers als wachsende Involvierung in seinen Gegenstand aus: Das forschende, spurenlesende Subjekt schält sich mit wachsender Beherrschung seiner Materie nicht etwa aus ihr heraus, bringt sich nicht in die Position des Gegenübers, des äußeren Beobachters, vielmehr verwebt es seine Virtuosität immer fester und effektiver mit ihr. Anders gesagt: Die Wissensgenerierung im Forschen entsteht nicht in einer Verringerung oder Überwindung von Involviertheit, sondern in deren Vertiefung und Verstärkung.

Kogge wählt exemplarisch die Molekularbiologie zur Veranschaulichung seiner These. Der Leitgedanke der forensischen Spurensuche lässt Kogges Modell aber auch im Rahmen der Methodologie der Korpuspragmatik plausibel erscheinen. Hier ergibt sich allerdings folgende Komplexion: Die symbolischen Praktiken sind eben nicht nur Mittel, sondern auch Gegenstand der Analyse. Die Kultur-

144 | Marcus Müller techniken, die dem Sprachforscher die intersubjektiv nachvollziehbare Reflexion seines Gegenstandes ermöglichen, aber eben auch den Gegenstand als umgrenztes und geordnetes Gebiet erst konstituieren, sind hier neben der Sprache als Medium der Beschreibung und Erklärung der Akt der Korpusbildung (Hunston 2009) sowie die Anwendung sprachstatistischer Verfahren (Bubenhofer 2009: 131–143). Aber auch der Untersuchungsgegenstand ist die Sprache als symbolische Praxis, die eben nicht nur als konfiguriertes Material in seiner Musterhaftigkeit, sondern in erster Linie als Konstituens symbolisch organisierter Perspektiven auf die Wirklichkeit interessiert. Der Prozess der reflektierten Verstrickung von Sprache in Sprache hat also zwei Ebenen: die materielle, auf deren Basis die reflexive Involvierung in den Gegenstand nach dem Spurprinzip entlang der indexikalischen Zeichenrelation (s.u.) geschieht, und die symbolische, auf welcher die forschende Verstrickung ein Prozess der Übernahme symbolisch gefasster Perspektiven ist (etwa im Sinne der „Horizontverschmelzung“, Gadamer 1960: 290; vgl. dazu Gardt 2013: 32). Der nicht unbeträchtliche Aufwand, der in der Korpuspragmatik mit der Korpusbildung, Annotation, Metadatenerfassung, ggf. Transkription, Messung relativer Häufigkeiten, Kategorisierung und Umkategorisierung betrieben wird, hat nun den Zweck, über die materiell kontrollierbare Verstrickung in die untersuchte Sprache als Formenkonglomerat, den Spielraum für die Perspektivenübernahme auf der symbolischen Ebene festzulegen. Als Beispiel möchte ich die Verwendung der Modalpartikel eben bei Ärzten und von Krankheit Betroffenen in öffentlichen Äußerungen zu bioethisch relevanten Themen anführen.5 In einer induktiven Vergleichsstudie ergibt sich, dass sich die Frequenz von eben bei diesen Sprechergruppen voneinander unterscheidet: eben kommt bei Ärzten deutlich häufiger vor als bei von Krankheit Betroffenen (vgl. Abb. 1). 6 Dabei sind Gebrauchsweisen wie diese hier indiziert: ich kann eben nicht nur pränatal während der Schwangerschaft therapieren das noch Wichtigere ist eben die Beratung die Prognoseeinschätzung ist eben manchmal gar nicht so einfach

|| 5 Es handelt sich um das Teilprojekt ‚Bioethik‘ des Heidelberger Korpus (HeideKo); dieses besteht aus mündlichen und schriftlichen Beiträgen zur Bioethikdebatte, die im Zeitraum von Juni 2008 bis Juli 2009 in Fernsehen, Radio, Internet, Printzeitungen, Fachzeitschriften und Buchpublikationen erschienen sind. Insgesamt hat das Korpus eine Größe von 5 Millionen Wortformen. 6 Die Abweichung in der relativen Frequenz ist statistisch hoch signifikant (LLR = 48,001; p < 0.005).

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Hier wird eben jeweils zur Abkürzung oder Beendigung einer latent konfrontativ geführten Interaktion verwendet. Es wird jeweils eine Aussage zur Stützung von Argumenten in einen argumentativen Zusammenhang eingebunden, gleichzeitig wird die Dringlichkeit des Geltungsanspruchs betont und der Interaktionspartner auf diesen festgelegt. Helbig (1988: 120) schreibt über die Modalpartikel eben, sie „macht eine Aussage kategorisch, stellt sie als evident und allgemeingültig dar, immunisiert sie weitgehend gegen andere Begründungen und suggeriert die innere Notwendigkeit des Sachverhalts“. 7 Das scheint für die Belege, die hier exemplarisch gegeben sind, zuzutreffen. Wie es schon in der Bedeutungserläuterung Helbigs angedeutet ist, lässt sich die Bedeutung von Modalpartikeln gar nicht ohne Bezugnahme auf Handlungskategorien formulieren, die auf der Beobachtung von Sprache im sozialen Kontext beruhen: Im Nachvollzug der symbolisch kodierten Bedeutung muss gleichzeitig indexikalisch den Handlungskontexten des Ausdrucks im Gebrauch nachgespürt werden. Das korpuspragmatische Untersuchungsverfahren beruht hier darauf, im Zugriff die indexikalischen Dimensionen sprachlicher Zeichen gegenüber der symbolischen herauszuarbeiten und umgekehrt. Mit dem Symbolsystem Sprache – und damit auch mit deren konstruktiver Kraft – haben wir es damit auf zwei Ebenen zu tun: Erstens mit der eigenen Sprache als Werkzeug des Analysierens, Erklärens, Ordnens und auch Erkennens von Untersuchungsobjekten. Zweitens mit der sog. Objektsprache, deren anzusetzende Bedeutungen in der Analyse als Konstituenten von Grundbegriffen, Weltmodellen, Ideologien oder – wie in unserem Beispiel – der Selbstzuschreibung kommunikativer Macht ausgewiesen werden sollen. Die symbolische Dimension der korpuspragmatischen Forschung bedingt grundsätzlich immer hermeneutische Akte nach den Strukturregeln des Sprachsystems in dem fundamentalen Sinne, dass jede paroleBedeutung ein Konstrukt aus wechselseitigen Zuschreibungen des Meinenden und Verstehenden ist und damit immer einen Hang zum Ambivalenten aufweist. Aus dem Nachvollzug der indexikalischen und symbolischen Ordnungen lassen sich Schlüsse darauf ziehen, in welchen rollenspezifischen Konstellationen der Ausdruck eben typischerweise verwendet wird. || 7 Helbig verwendet die ältere Bezeichnung „Abtönungspartikel“. Für eben als Abtönungspartikel setzt er neben der genannten noch eine weitere Bedeutung an, wenn eben in Aufforderungssätzen vorkommt: „Drückt aus, daß die Handlung (zu der aufgefordert wird sich als (einzig mögliche) Konsequenz aus dem vorhergehenden Geschehen ergibt, zumeist resignierend und mit Einsicht in die Unabänderlichkeit des Geschehens.“ (1988: 121) Beispiel: „Dann steh eben etwas früher auf! (wenn du mehr schaffen willst)“ (Helbig 1988: 122). Diese zweite Bedeutung kann im Folgenden vernachlässigt werden, da die Frequenz von eben als Modalpartikel in Aufforderungssätzen in den Korpusdaten sehr gering ist.

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Ärzte

Betroffene

Abb. 1: Der Gebrauch der Modalpartikel eben bei Ärzten und von Krankheit Betroffenen 8

Mit dem Terminus ‚Konstellation‘ bezeichne ich dabei in Anlehnung an Feilke (2010: 260) diejenigen Kontextdimensionen, die nicht in der aktuellen Interaktion sprachlich modelliert werden, sondern durch das leiblich aufgeführte Wissen der Interaktionspartner über ihre soziale Wirklichkeit in sie hinein und an sie heran getragen werden. 9 So begegnet einem ein Arzt10 in der Ausübung seines Berufs für gewöhnlich in weißer Kleidung, in einer Arztpraxis oder einem Krankenhaus, er führt Anamnesegespräche hinter einem Schreibtisch oder am Krankenbett. Er hat ggf. einen Assistenten zum Ausführen einzelner Tätigkeiten. Er eröffnet, lenkt und beendet das Gespräch mit dem Patienten (SpranzFogasy & Lindtner 2009). Der Arzt kennt die medizinische Systematik und wendet sie zur Diagnostik an. Er handelt auf der Basis deklarativen Wissens. Der Patient fühlt seine Beschwerden, kann diese mehr oder weniger konkret lokalisieren und greift ggf. auf seine Krankengeschichte zurück. Das alles sind Aspekte von Konstellationen, in der Ärzte und Patienten sich sprachlich verhalten. Indem nun in den Metadaten einer korpuspragmatischen Untersuchung solche Situationen gleichsam in skelettierter Form festgesetzt sind, lässt sich durch

|| 8 Im Heidelberger Bioethik-Korpus (vgl. FN 4). Die Frequenz ist je 100.000 Wortformen angegeben. 9 Feilke grenzt Konstellation vom Komplementärterminus Konzeption nach Koch & Österreicher (1986) ab. Eine Unterscheidung in diesem Sinne hat schon Hinnenkamp (1987: 143) mit dem Begriffspaar context brought along und context brought about vorgeschlagen: „I would like to introduce here the dualistic concept of taking into account what is locally brought about through joint effort against and complementary to what is brought along in terms of their emergent and prestructured groundedness into the actual accounter.“ 10 Oder eine Ärztin. Die weiblichen Formen sind im Folgenden stets mitgemeint.

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sprachstatistische Messung eine Spurenkonstellation erstellen, die Rückschlüsse über die reichen Konstellationen sozialer Wirklichkeitsperspektiven erlauben. Wenn man nun den Befund zur Verteilung von eben bei Ärzten und Patienten mit dem oben angedeuteten Wissen über den Arztberuf als soziale Praxis in Verbindung bringt, liegt die Hypothese nahe, Ärzte würden die Partikel typischerweise im Vollzug der Praktik, ihre Aussagen dem Gesprächspartner gegenüber als evident und allgemeingültig darzustellen, verwenden. Das betrifft die indexikalische Dimension der Zeichenverwendung. Gleichzeitig kommt man durch die Analyse serieller Kontexte zu typischen Text- oder Transkript-Belegen der Ausdrucksverwendung. Diese lassen sich im Modus einer sprachanalytisch aufgeklärten Hermeneutik (im Sinne Gardts 2012: 61–67; 2013: 32–43; vgl. Felder 2009; 2012) interpretativ erschließen. Auf diese Weise entstehen Aussagen über die symbolische Wirklichkeit der Interaktionspartner. Die mit sozialem Sinn aufgeladene ‚Wirklichkeit‘ der Objektsphäre wird sozusagen von zwei Seiten umzingelt: Zum einen wird die symbolische Dimension im hermeneutischen Verfahren und zum anderen die indexikalische im forensischen Nachvollzug erschlossen. Dabei wird versucht, durch möglichst transparente Verfahren (z.B. aus dem Bereich der Sprachstatistik) den Interpretationsspielraum zur Erschließung der symbolischen Sphäre möglichst einzuengen. In unserem Beispiel ergibt sich, dass der überdurchschnittlich häufige Gebrauch, den Ärzte von der Modalpartikel eben machen, als Indikator für die Selbstzuschreibung von Geltungsansprüchen gedeutet werden kann. Insgesamt liegen Indizien für die Annahme vor, dass Ärzte in den Kontexten ihrer Berufspraxis einen sprachlichen Habitus ausbilden, der mindestens auch dann, wenn sie außerhalb konkreter Arzt-Patienten-Interaktionen in thematisch einschlägigen Diskursen als Ärzte auftreten, zur Geltung kommt. Hier bleibt erklärungsbedürftig erstens, wie die indexikalische Dimension sprachlicher Zeichen mit der symbolischen vermittelt ist, und zweitens, wieso über die Zeichenrelation der Indexikalität die Sprache – auch als Symbolgebilde – als eingebunden in ein Gesamtmodell von Wirklichkeit angenommen werden kann. Diesen Fragen möchte ich im Folgenden mit einer Lektüre der entsprechenden Passagen in den Schriften Charles Peirces nachgehen.

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3 Peirce über Indices Alle lebenden Wesen auf dieser Erde stehen in einem unverbrüchlichen Zusammenhang, der über die Evolution des Kosmos und des Lebens auf dieser Erde hineinreicht in die Gleichzeitigkeit der Wechselwirkungen zwischen allen lebenden Wesen und der Materie im gegenwärtigen Augenblick. Wir teilen mit allem Lebendigen eine gemeinsame Welt, und für diese Welt tragen wir Verantwortung, weil unser Handeln diese Welt in steigendem Maße verändert und sofern wir Menschen die einzigen Wesen sind, die in dieser Gemeinschaft des Lebens bewusst kontrollierten Zwecken folgen können. ‚Für uns Menschen gilt: indem wir uns für Ziele entscheiden, legen wir fest, nicht nur wer wir sein werden, sondern wie unsere Welt beschaffen sein wird‘. (Pape 1983: 7)

In diesen Sätzen fasst Helmut Pape den Ausgangspunkt zusammen, den Charles S. Peirce bei der Entwicklung seiner Zeichentheorie nimmt. Hier sind die drei Grundsätze der Peirceschen Zeichentheorie angelegt: materieller Holismus, Pragmatismus und Common-Sense-Orientierung. Peirce entwickelt bekanntlich den Zusammenhang zwischen diesen drei Dimensionen in seiner triadischen Phänomenologie der universalen Kategorien. Hier unterscheidet Peirce zwischen Erstheit (Qualia), Zweitheit (Relation) und Drittheit (Zeichen): Erstheit ist das, was so ist, wie es eindeutig und ohne Beziehung auf irgend etwas anderes ist. Zweitheit ist das, was so ist, ohne Beziehung auf etwas Drittes. Drittheit ist das, dessen Sein darin besteht, daß es eine Zweitheit hervorbringt. (Peirce 1983: 55)

Die Erstheit bestimmt Peirce (1983: 57) als „bloße Möglichkeit“ der Existenz von Dingen: „Möglichkeit, die Seinsweise der Erstheit, ist der Embryo des Seins. Sie ist nicht Nichts. Sie ist Existenz.“ Nun ist es nicht möglich, über eine Konkretion der Erstheit zu sprechen, ohne sie gleichzeitig als Zweitheit zu bestimmen. Es ist aber möglich, „die Erstheit aus der Zweitheit zu präzisieren“ (Peirce 1983: 60), und zwar indem man für eine Relation als Konkretion der Zweitheit im Gedankenexperiment annimmt, „das eine [Relat] sei ohne das andere logisch möglich“ (Peirce 1983: 58). Wichtig dabei in unserem Zusammenhang ist nun, dass Peirce den Begriff des Zeichens in ein doppeltes Abhängigkeitsverhältnis einbettet: Erstens gehen Zeichen als Drittheit – mittelbar oder unmittelbar – aus der Erstheit, also der beziehungslosen Existenz der Dinge hervor, zweitens ist die Erstheit aber immer nur über die Drittheit erkennbar, und damit eben im Akt des Erkennens schon wieder Zweitheit. Dieser Zusammenhang konstituiert nach Peirce die soziale Wirklichkeit als Lebenswelt des Menschen. Hier findet sich die philosophische Begründung der materiellen Fundierung symbolischen Zeichenhandelns. Die begriffliche Kulminationsfigur für diesen Begründungszusammenhang ist bei Peirce der Index. Indices bilden die Klammer zwischen

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zeichenkonstituierten Dimension und der materiellen Dimension der Wirklichkeit. Das wird schon in der kanonisch gewordenen Definition des Index klar: „An Index is a sign which refers to the Object that it denotes by virtue of being really affected by that Object.“ (Peirce, CP 2.247) Das programmatische „really“ in der Definition macht dies deutlich. Auch Wirth (2007: 56) verweist darauf, dass für Peirce indexikalische Zeichenrelationen immer „einen Wirklichkeitsbezug“ eröffnen: Die Motivierung des Indexzeichens beruht für Peirce in der Annahme einer ‚existential relation‘ (CP 2.283) zwischen Zeichen und Objekt. Existenzielle Relationen sind entweder Kausalitätsrelationen, die auf korrespondierende Fakten (CP 1.1558) oder aber Kontiguitätsrelationen, die auf Assoziationen gründen (CP 2.306). So wird das Symptom als Wirkung einer unsichtbaren Ursache interpretiert, die jedoch inferentiell, durch einen abduktiven Rückschluss, rekonstruiert werden kann. (Wirth 2007: 61)

Peirce selbst hat eine Reihe alternativer Bestimmungen des Indexbegriffs gegeben. Zu den Eigenschaften des Index in Abgrenzung zum ikonischen Zeichen schreibt er etwa: „Das indizierte Objekt muß tatsächlich vorhanden sein: dies macht den Unterschied zwischen einem Index und einem Ikon aus“ (Peirce 1983: 65). Noch deutlicher ausgeführt wird der Materialitätsbezug in der folgenden alternativen Bestimmung des Index: Ein Index ist ein Repräsentamen, dessen repräsentierende Erstheit in einer genuinen Zweitheit oder existenziellen Relation zu seinem Objekt besteht. So ist der Ruf eines Fahrers „Hallo, Sie da!“ (das tatsächliche Ereignis, dann wenn es sich vollzieht), der sich einfach als ein Lenken der Aufmerksamkeit auf den Fahrer auffassen lässt, ein Index. So ist die Drehung des Wetterhahns ein Index für die Drehung des Windes, durch die sie bewirkt wird. Es folgt aus der Definition, daß ein Index und sein Objekt gleichermaßen existente individuelle Zweite oder Zweitheiten, Dinge oder Tatsachen sein müssen. (Peirce 1983: 157)

Aus Zweitheiten aber lassen sich immer Erstheiten „präzisieren“: Die nackte, vorsemiotische Materialität der Welt kann zwar nicht wahrgenommen, muss aber logisch angenommen werden – denn sie ist die konstitutive Basis der indexikalischen Zeichenrelation. Von Bedeutung ist hier weiterhin, dass Peirce den Ruf des Fahrers „Hallo, Sie da!“ mit dem sich drehenden Wind auf eine Ebene stellt: In beiden Fällen werden materielle Ursache-Wirkungs-Abfolgen im Zuge ihrer Wahrnehmung inferentiell als Zeichenrelation rekonstruiert – nur dass im Fall des drehenden Windes der Zeichenbildungsprozess damit schon abgeschlossen ist, während er im Fall des Fahrer-Ausrufs erst so richtig losgeht: Die Kausalrelation der ans Ohr treffenden Schallwellen löst deren Kategorisierung als Wörter aus, was wiederum die symbolorientierte Interpretation auslöst.

150 | Marcus Müller Auch wenn der Index nach Peirce hier nur in der Aufmerksamkeitslenkung durch die reinen Schallwellen liegt, so konstituiert sich deren Wahrnehmung als Zweitheit durch ein Element der Drittheit (hier die Zeichenkategorie ‚Wort‘). Das Indexzeichen „marks the junction between two portions of experience“ (Peirce, CP 3.361). Ebenso muss der Wetterhahn als Zweitheit durch die visuelle Wahrnehmungsgestalt ‚Wetterhahn‘ (Drittheit) als solcher erkannt werden: Ein Index kann ein Hypoikon als einen konstituierenden Bestandteil enthalten. So präsentiert ein Wetterhahn die Richtung des Windes ikonisch, doch zeigt er an, daß es die Richtung des Windes ist und dies dank einer aktualen Tatsache, als ein Index, fast frei von irgendwelchen konventionellen Beimischungen. (Peirce 1983: 157)

Die Indices sind also jeweils Aspekte komplexer Zeichenrelationen. Auf dieser Basis führt Peirce den Begriff ‚Subindex‘ ein. Damit ist ein Zeichen gemeint, „das sein Objekt bezeichnet, hauptsächlich, weil es tatsächlich mit ihm verbunden ist, ohne notwendigerweise ein streng individueller Index zu sein.“ (Peirce 1983: 157) Subindices gewinnen Symptomcharakter für ihr Objekt, weil die zugrunde gelegte Kausalrelation durch eine symbolisch kodierte Zeichenklasse ausgelöst wird. Es handelt sich damit um Indices zweiter Ordnung: „So ist ein Eigenname, ein Personal-, Demonstrativ- oder Relativpronom kein individuelles oder existierendes Ding, sondern es repräsentiert sein Objekt hauptsächlich dadurch, daß es tatsächlich mit ihm verbunden ist“ (Peirce 1983: 157). Es ergibt sich also, dass Indices, wie auch Symbole und Ikone als Aspekte phänomenaler Zeichen zu verstehen sind. Wirth (2007: 58–59) beschreibt auf dieser Grundlage den Zusammenhang zwischen indexikalischer Zeichenrelation, allgemeinen Zeichenbildungsprozessen und Wissenskonstitution: Peirce zufolge wäre es schwierig, wenn nicht unmöglich, einen ‚absolutely pure index‘ zu finden, ebenso wie es unmöglich wäre, irgendein Zeichen zu finden ‚absolutely devoid of the indexical quality‘. […] Die Interferenz von Zeichenaspekten ist also ihrerseits Teil eines inferentiellen Prozesses, der das Wachstum unseres Wissens bewirkt: ein Wissen, das in symbolischen Formen gespeichert bzw. zwischengespeichert wird, etwa als Buch oder als digitale Datei, und bei Gelegenheit inferentiell mit neuen ‚portions of experience‘ verknüpft werden kann.

Indexikalität findet sich demnach auf allen Ebenen von Zeichenbildungsprozessen, und ist damit das Grundprinzip der Zeichenbildung überhaupt. Von Bedeutung ist dabei, dass das Verweisprinzip der Indexikalität auf der Erstheit als „Embryo des Seins“ (Peirce 1983: 57) basiert, auch wenn nicht jeder Index auf einer Erstheit beruht. Dementsprechend spricht Peirce (1983: 157) dann von „genuinen Indices“, wenn die Zweitheit, auf der sie basieren, „eine existenzielle Relation“ ist, also eine Erstheit enthält, während „degenerierte Indices“ wie z.B.

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Deiktika auf einer „referentiellen Relation“ beruhen (vgl. CP 2.283). Mit den Termini „genuin“ und „degeneriert“ macht Peirce deutlich, dass die semiotische Verweiskraft auch derjenigen Indices, die auf Konventionalisierungen aufbauen, durch den prinzipiellen Erstheitsbezug der indexikalischen Zeichenrelation als solcher hervorgebracht wird. Indexikalität ist damit nicht nur eine Zeichenrelation unter anderen, vielmehr ist sie das Einheitsprinzip, das die materielle und die semiotische Dimension der Wirklichkeit verklammert. Nur auf der Grundlage des indexikalischen Nachvollzugs zweier „portions of experience“ können sich in Praktiken des Bezugnehmens, des Meinens und Verstehens überhaupt erst sozial gelagerte Zeichenkonventionalisierungen entwickeln. Das Symbolische wäre damit die am weitesten in das Verweisungssystem der Zeichenrelationen eingesponnene Zeichenrelation, in ihr entwickeln sich in der Kommunikationsgeschichte auf der Basis der motivierten indexikalischen und assoziativen ikonischen Objektrelationen die konventionelle Zeichenbeziehung als Bedeutungsraum: „Symbols grow“ (CP 2.30.2, vgl. Wirth 2007: 57–58).

4 Indexikalität in der Sprache: Kontextualisierung Wenn man ihre im Wortsinne existenzielle Bedeutung bedenkt, dann hat die Indexikalität als Zeichenaspekt des Symbolsystems Sprache in der Linguistik vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erfahren. Es gibt aber doch gewichtige Ausnahmen, und zwar auf zwei Ebenen: Erstens gibt es linguistische Theorien, die Indexikalität im Sinne dieses Beitrags als ein fundamentales Prinzip der Formierung sprachlicher Zeichen ansehen, und zweitens gibt es eine ganze Reihe klassischer linguistischer Themen, in denen die indexikalische Zeichenrelation an einzelnen Gegenständen behandelt wird, teils ohne sie so zu benennen. In Anlehnung an Gardts Unterscheidung zwischen „flächiger“ und „punktueller“ Bedeutungsbildung in Texten (2013: 45) kann man hier von Punkttheorien und Flächentheorien der Indexikalität sprechen. Zu den Punkttheorien gehören die Debatten um folgende linguistische Phänomenbereiche (die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit):  referentielle Indexikalität: Deixis (Zimmermann 1991: 163);  syntagmatische Indexikalität: z.B. syntaktische Projektion (Auer 2000), Phorik (Hoffmann 2000);  rahmenbezogene Indexikalität: Aktivierung kognitiver Schemata (Strohner 2000);

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typologische Indexikalität: z.B: Textsortenverweise (Hausendorf & Kesselheim 2008: 171–186) 11; illokutionäre Indexikalität: Verweispotenzial der syntaktischen Struktur auf Illokutionen (Levinson 2000: 227–275); sprecherbezogene Indexikalität: Verweispotenzial von Äußerungen auf physische, psychische, soziale oder räumliche Sprechereigenschaften (Hinnenkamp & Selting 1989).

Zu den Flächentheorien gehören die pragmatischen Traditionen innerhalb der Semantik, die in der Nachfolge Bar-Hillels (1954) die im Sprachgebrauch fundierte Indexikalität zur Grundlage einer allgemeinen Bedeutungstheorie machen (z.B. in der situation semantics: Barwise & Perry 1983). Auch im Rahmen der interaktionalen Linguistik wird Indexikalität als flächiges Phänomen aufgegriffen, nämlich im Sinne eines grundlegenden Prinzips der Verständigung in Gesprächen (Garfinkel & Sacks 1973): Demnach nehmen die Gesprächspartner durch die Disposition und Art der Hervorbringung ihrer sprachlichen Ausdrücke wechselseitig Bezug auf die thematische, situative und soziale Dimension ihrer Interaktion und konstituieren so den Sinn ihrer Konversation. Diese Anschauung ist in Form der Kontextualisierungstheorie über die interaktionale Linguistik hinaus wirksam geworden. Kontexte werden hier als dynamische Gebilde angesehen, die von den Teilnehmern der sprachlichen Interaktion selbst konstituiert und immer wieder neu modelliert werden (dazu ausführlich Müller 2012a). In der Kontextualisierungstheorie ist für die Linguistik formuliert, was Peirce für den Zusammenhang von Indices und Symbolen geltend macht, nämlich dass die einen die anderen erstens genetisch voraussetzen, zweitens performativ zur Geltung bringen und drittens kommunikationsgeschichtlich verankern. Den Bezug der Kontextualisierungstheorie zum Indexikalitätsbegriff hat insbesondere Feilke (1994: 292–293) betont. Die Kontextaspekte, die in dieser Anschauung relevant werden, sind vor allem diejenigen, welche den reibungslosen Ablauf der sprachlichen Interaktion garantieren, nämlich Partnereinschätzung, Situationseinschätzung und Themaeinschätzung. Dieses Modell ist in der interaktionalen Soziolinguistik von Gumperz (1982) vorgeschlagen worden, in Deutschland hat es durch Auer (1986) eine Systematisierung erfahren. Kontextualisierung bedeutet dabei das Herstellen einer Verbindung zwischen einem „empirisch gegebenen (beobachtbaren) Da-

|| 11 Das Buch von Hausendorf & Kesselheim (2008) ist innerhalb der Textlinguistik zu den Flächentheorien zu zählen, da der Textbegriff dort grundständig auf dem Indexikalitätsgedanken basiert.

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tum, das der kontextualisierende Teilnehmer aus einem Zeichenvorrat sprachlicher oder nichtsprachlicher Art auswählt“, und einer „Komponente des Hintergrundwissens“ (Auer 1986: 24). Für die Korpuspragmatik habe ich nun ein Modell vorgeschlagen, das versucht, die Kontextualisierungstheorie auf die Verhältnisse der Erforschung und soziopragmatischen Deutung serieller Befunde in Diskursen zu übertragen (dazu ausführlich Müller 2012a: 40–52). Hierbei ist Folgendes zu beachten: Eine korpuslinguistische Analyse von Kontextualisierungshinweisen hat keine psychologischen, sondern semiotische Gegebenheiten zum Gegenstand, und zwar auf einer ersten Ebene verstanden als materielle Zeichenkonfigurate. Zweitens gilt aber als Deutungshintergrund der Ergebnisse, dass Kontextualisierungsprozesse in der kommunikativen Wirklichkeit immer psychologische Prozesse des Meinens und Verstehens von Zeichen sind, wie auch schon der Begriff ‚Zeichen‘ impliziert, dass etwas gemeint und verstanden wird. Drittens muss daher vom semiotischen Analysebefund der Korpuslinguistik auf psychologische Prozesse des Meinens und Verstehens geschlossen werden. Dabei gilt es zu beachten, dass es die Korpuslinguistik immer mit Serialisierungen von Sprache zu tun hat, Meinen und Verstehen aber eine Angelegenheit des Individuums ist. Der Schluss von einem allgemeinen Befund auf einen individuellen ist unzulässig. Die Korpuspragmatik hat daher zwei Möglichkeiten: Entweder deutet sie ihre semiotischen Befunde, die in der Regel Häufigkeiten des Auftretens einer Fokuskonstruktion relativ zu einem Verwendungszusammenhang betreffen, als probabilistische Möglichkeitsrahmen des Meinens und Verstehens im jeweils adressierten Zusammenhang. Oder aber sie nutzt die seriellen Befunde, um in qualitativen Analysen Interpretationen individueller Meinens- und Verstehensprozesse zu unterstützen. Der so verstandene Kontextualisierungsbegriff soll ein Verfahren der linguistischen Spurensuche legitimieren, mit dem von korpuslinguistisch auffindbaren Kotexten auf soziopragmatische Kontexte geschlossen wird.

5 Schluss Die Frage danach, wie das Verhältnis von Korpusdaten und Wirklichkeit, in die verstrickt man sich die soziopragmatischen Befunde solcher Studien vorstellt, am stimmigsten gefasst werden kann, könnte also folgendermaßen beantwortet werden: Jedes Zeichen, das als elektronische Repräsentation Bestandteil eines Korpus ist, kann als Spur seines Korrelats in der phonisch/graphischen Dimension aufgefasst werden, dieses wiederum als Spur der sozialen Interaktion, in

154 | Marcus Müller deren Rahmen das Zeichen produziert wurde und diese als Spurenkonfigurat der in ihr symbolisch kodierten Perspektiven auf Wirklichkeit. Mit dem Wort Wirklichkeit wird hier weder eine symbolische Konstruktion noch ein objektiver Referenzbereich der Sprache gefasst, sondern nach Peirce ein aus dem Materiellen geschöpfter und semiotisch zubereiteter Lebenszusammenhang aller Sachverhalte im menschlichen Erfahrungsbereich, der im sozialsymbolischen System der Sprache diejenige Verdichtung erfährt, die Verständigung und Reflexion über sie ermöglicht. Sprachliche Symbole erwachsen nicht nur aus indexikalischen Verweiszusammenhängen, sondern verdanken der indexikalischen Lagerung ihre Konsistenz in Gebrauch und System. Indices stellen den Bezug der symbolischen zur vorsemiotischen Materialität dar, indem sie ihre Verweiskraft aus existenziellen Relationen entwickeln. Nur weil sie indexikalisch geerdet sind, entwickeln Symbole die Kraft, durch metaphorische und metonymische Abstraktionsverfahren die Wirklichkeit über sich hinauswachsen zu lassen (auf der Ebene der Lexik: „Freiheit“; „Gerechtigkeit“, „Demokratie“, „Einhorn“, „Spunk“). Die Überlegungen wurden aus der pragmatischen Zeichentheorie nach Peirce heraus entwickelt. In dieser Anschauung kann begründet werden, wieso nach dem Vorschlag Kogges (2007) das korpuspragmatische Untersuchungsverfahren kein Konstruieren und kein Abbilden des untersuchten Wirklichkeitsausschnittes ist, sondern vielmehr ein methodengeleiteter und reflektierter Weg der wachsenden Verstrickung. Es werden also nicht drei Wirklichkeiten angenommen (die Wirklichkeit der Untersuchung, die Wirklichkeit des untersuchten Objektes und die durch die Objektsprache konstruierte Wirklichkeit), sondern eine einzige.

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Vilmos Ágel

Grammatik und Literatur Grammatische Eigentlichkeit bei Kehlmann, Timm, Liebmann, Handke, Strittmatter und Ruge || Universität Kassel, FB 02, Institut für Germanistik, Kurt-Wolters-Straße 5, 34125 Kassel, [email protected]

1 Die Sinn-hafte Grammatik Die Mainstream-Theorien der Grammatik (inkl. der Schulgrammatik) gehen davon aus, dass grammatische Strukturen und Regeln bedeutungsfreie Schemata und Mechanismen seien, um Wörter zu ‚korrekten‘ Wortgruppen und diese wiederum zu ‚korrekten‘ Sätzen zusammenzufügen. Aus dieser produktionsbezogenen Bottom-up-Perspektive – im Geiste des sog. Frege-Prinzips – erscheint die Grammatik als ein Sinn-loses technisches Gerät, das unabhängig von der jeweiligen Textinterpretation wie die Hardware eines Computers unauffällig im Hintergrund summt und das die notwendige Voraussetzung für den Wortschatz, die Software, darstellt, um dessen Elemente, die bedeutungstragenden Wörter, ,zum Leben zu erwecken‘. Oder in einem anderen Bild: Wörter stellen die zu beschaffenden und zu transportierenden Waren dar, mit denen die Grammatik als eine Art Logistikunternehmen fertigzuwerden hat. Das ‚Erbe‘ der Mainstream-Grammatik setzt sich also aus drei Teilen zusammen: 1. Bottom-up-Perspektive, 2. Produktionsbezogenheit und 3. technisch-logistische Grundhaltung. Die Bottom-up-Perspektive der Mainstream-Grammatik führte seit den 60er Jahren des 20. Jh. zu zwei berechtigten Fragen, die Pate bei der Herausbildung der Textlinguistik standen: 1a) Hört die Grammatik an der Satzgrenze auf? Bestehen Texte aus nichtgrammatischen Verknüpfungen von Sätzen? 1b) Bestehen Texte nur aus Sätzen?

160 | Vilmos Ágel Die Produktionsbezogenheit führt ebenfalls zu berechtigten Fragen, die aber kaum, und wenn ja, weniger deutlich artikuliert wurden: 2a) Da wir ganz offensichtlich nicht Sätze, sondern Texte schreiben, d.h., da die linguistisch zu analysierenden Produkte Texte (und nicht Sätze) sind, besteht dann grammatische Rezeption schlicht aus der Rekonstruktion der Bottom-up-Produktion im Krebsgang? 2b) Grammatische Rezeption beinhaltet mit Sicherheit das Erkennen von grammatischen Strukturen, d.h. von grammatischen Formen und Funktionen. Beinhaltet sie aber auch das Erkennen der Regeln, mit denen die Formen und Funktionen produziert wurden? Muss man, um einen Passivsatz, der in einem Text vorkommt, im Textzusammenhang interpretieren zu können, die Regeln der Passivbildung beherrschen oder vielmehr (intuitiv) wissen, dass der Autor auch andere grammatische Ausdrucksoptionen gehabt hätte, um denselben Sachverhalt (anders) zu perspektivieren? Welche Fragen wirft schließlich die technisch-logistische Grundhaltung der Mainstream-Grammatik, d.h. die postulierte Sinn-losigkeit grammatischer Strukturen und Regeln, auf? Wenn grammatische Strukturen und Regeln bedeutungsfrei sein sollen, 3a) warum gibt es dann unterschiedliche grammatische Perspektivierungsmöglichkeiten für die Darstellung desselben (denotativ-semantischen) Sachverhalts? 3b) warum gibt es in der Grammatik – genauso wenig wie im Wortschatz – keine totale Synonymie? 3c) wieso können Dichter und Schriftsteller – und nicht nur sie – bewusst grammatische Innovationen schaffen, um auf diese Weise einen besonderen Textsinn zu evozieren? 3d) wieso können Dichter und Schriftsteller – und nicht nur sie – bewusst gegen grammatische Regeln verstoßen, um auf diese Weise einen besonderen Textsinn zu evozieren? Natürlich ist es nicht möglich, im vorliegenden Beitrag auf all diese Fragen einzugehen. Möglich aber ist, an voneinander unabhängigen grammatischen Phänomenen aus unterschiedlichen literarischen Texten zu zeigen, dass grammatische Konstruktionen einen durchaus wichtigen Beitrag zur Textinterpretation darstellen, d.h., dass sie nicht nur die Textverständlichkeit syntaktisch absichern, sondern auch Textsinn (mit) konstruieren (Abschnitt 3). Diese An-

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nahme wiederum erweist sich nur dann als schlüssig, wenn grammatische Konstruktionen selbst grundsätzlich Sinn-haft sind. Ein grammatisch eigentlicher literarischer Text stellt die lokale Umsetzung der globalen Ressource namens Grammatik dar (Abschnitt 2). Der Beitrag schließt mit einem kurzen Fazit (Abschnitt 4).

2 Grammatische Eigentlichkeit ‚Eigentlichkeit‘, die zusammen mit ‚Deutlichkeit‘ und ‚Eindeutigkeit‘ zu den zentralen sprachtheoretischen Begriffen des Barock gehört, bedeutet „eine besondere Nähe zur Wirklichkeit“ (Gardt 1994: 132). Ein ,eigentlicher‘ Text ist ein Text, der aus der Sicht des Lesers eine besondere Nähe zur fiktionalen oder faktualen Wirklichkeit hat, ein Text, bei dem der Leser das Gefühl hat, dass der Text ,exakt‘ ist, dass er die Wirklichkeit beim Schopfe packt, dass er sie ikonisch abbildet. M.a.W., ‚Eigentlichkeit‘ ist eine besondere ästhetische oder nichtästhetische Relation zwischen Leser und Text, eine besondere sprachliche Qualität des Textes, die in der Wahrnehmung des Lesers genau die vom Autor (oder Schreiber) intendierte Wirklichkeit erzeugt. ‚Eigentlichkeit‘ lässt sich bezogen auf literarische Texte wie folgt definieren: Ein ‚eigentlicher‘ literarischer Text ist ein Text, der aus der Sicht des Lesers eine besondere Nähe zur fiktionalen Wirklichkeit hat. M.a.W., die sprachlichen Zeichen und Strukturen, mit denen der Autor seine fiktionale Welt erzeugt, bilden diese fiktionale Welt (in der Wahrnehmung des Lesers) ikonisch ab. Wenn diese Welt komplex ist, sind es die sprachlichen Strukturen u.U. auch, was zwar die Textverständlichkeit erschweren kann, aber die Eigentlichkeit nicht tangiert. 1

Zur Eigentlichkeitswahrnehmung des Lesers können nicht nur ‚Wörter‘, sondern auch grammatische Strukturen beitragen. Zur Verdeutlichung betrachte man das folgende Gedicht:

|| 1 Laut Groeben (1982: 149) besteht der grundlegende Unterschied zwischen literarischen und Gebrauchstexten in der normativen Verständlichkeitserwartung: Während Verständlichkeit literarästhetisch keine Rolle spiele, stelle sie bei Gebrauchstexten das wichtigste Kriterium dar.

162 | Vilmos Ágel (1) Mein Großvater starb an der Westfront; mein Vater starb an der Ostfront: an was sterbe ich? (Volker von Törne, in Wiemer 1974: 119) Die Eigentlichkeit, die der kurze Text innehat, ergibt sich aus der lokalen Adhoc-Bildung einer Distributionsklasse, die Umdistribution genannt werden soll. Nach klassisch strukturalistischer Auffassung ist eine Distributionsklasse „eine syntagmatische Beziehung in absentia“ (Coseriu 1988: 145). Elemente einer Distributionsklasse lassen sich folglich koordinieren. An einem Beispiel (nach Albrecht 1988: 47) veranschaulicht:2 (2) sit tibi terra levis Hier könnten anstelle von tibi – einzeln oder koordiniert – auch alle anderen dativischen Personalpronomina (mihi, nobis usw.) stehen. Das Element tibi in praesentia und die anderen dativischen Personalpronomina in absentia bilden also in diesem Satz eine Distributionsklasse (Elemente der Distributionsklasse vertikal angeordnet und durch eckige Klammern gekennzeichnet): sit

[mihi] [tibi] [nobis] [...]

terra levis

Ordnet man nun Volker von Törnes Gedicht nach Distributionsklassen an, bekommt man zwei vertikale Reihen: [Mein Großvater] starb [an der Westfront] Lokaladverbial (> Präpositionalobjekt) [mein Vater] starb [an der Ostfront] Lokaladverbial (> Präpositionalobjekt) [ich] sterbe [an was?] Präpositionalobjekt Von diesen ist die Subjektreihe (Mein Großvater, mein Vater, ich) unspektakulär, denn sie enthält Elemente einer konventionalisierten Distributionsklasse. Umso spektakulärer ist die andere Reihe, bei der die formale Ähnlichkeit (drei Präpositionalgruppenan+DAT) der realisierten Satzglieder (zwei Lokaladver|| 2 S.T.T.L. ‚Sei dir Erde leichtʻ (Möge dir die Erde leicht sein – Aufschrift auf Grabsteinen)

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biale und ein Präpositionalobjekt) ausgenutzt wird, um beim Leser eine rückwirkende funktionale Uminterpretation der Lokaladverbiale an der Westfront und an der Ostfront in Ad-hoc-Präpositionalobjekte zu bewirken: Weil der Kern (was) des von sterben regierten konventionalisierten Präpositionalobjekts (an was) für eine (beliebige tödliche) Krankheit steht und weil was eine Ad-hocDistributionsklasse mit Westfront und Ostfront bildet, wird die Krankheitssemantik von was qua Umdistribution auf Westfront und Ostfront übertragen. Die Eigentlichkeit des Textes ist hier das Ergebnis eines auf dem Prinzip der Distributionsklassenbildung beruhenden kreativen grammatischen Mechanismus.

3 Grammatische Textanalysen Schauen wir uns nun den möglichen Beitrag grammatischer Konstruktionen zur ‚Eigentlichkeit‘ literarischer Texte an vier grammatischen Phänomenen aus sechs literarischen Texten exemplarisch an.

3.1 Orthographischer und grammatischer Satz (Kehlmann) Nach der amtlichen Regelung der deutschen Rechtschreibung bestehen Texte aus Ganzsätzen, d.h., sie fangen mit einem Großbuchstaben an und enden mit einem Satzzeichen „zur Kennzeichnung des Schlusses von Ganzsätzen“ (Duden 2004: E1). Ganzsätze sind also orthographische Sätze. Betrachten wir hierzu den folgenden Textauszug aus Daniel Kehlmanns „Ruhm“: (3a) [OS1] Wer es nicht selbst erlebt hatte, für den mußte es nach Phrasen klingen, nach Gerede; Worte reichten nicht aus, um zu beschreiben, wie es wirklich war. [OS2] Wie es sich anfühlte, einen Mann, dem man selbst, und zwar mit ungenügender Anästhesie, die Beine amputiert hatte, wenige Meter vor dem wartenden Hubschrauber zu verlieren, zu dem man ihn über vor Hitze flimmernde Felder geschleift hatte, so daß alles umsonst gewesen war und man auf dem Rückflug bemerkte, daß man Teile der letzten Tage aus dem Gedächtnis verloren hatte, daß es da leere Stellen gab, als wäre man durch Erlebnisse gegangen, so drastisch und

164 | Vilmos Ágel fremd, daß sie nicht ganz in die Wirklichkeit gehörten und sich der Erinnerung verweigerten. (Kehlmann 2009: 30) Die Textstelle enthält zwei orthographische Sätze (= OS1 und OS2). Wo orthographische Sätze enden sollen, bestimmt im Falle eines literarischen Textes der Autor. Orthographische Sätze fallen nicht notwendigerweise mit grammatischen Sätzen zusammen. Ein Text enthält genauso viele grammatische Sätze, wie er Haupt(satz)prädikate enthält. Die Kehlmann-Textstelle enthält zwei Hauptprädikate, die fett markiert sind, folglich zwei grammatische Sätze (= GS1 und GS2), deren Grenzen allerdings mit denen der orthographischen Sätze nicht zusammenfallen: (3b) [GS1] Wer es nicht selbst erlebt hatte, für den mußte es nach Phrasen klingen, nach Gerede; [GS2] Worte reichten nicht aus, um zu beschreiben, wie es wirklich war. Wie es sich anfühlte, einen Mann, dem man selbst, und zwar mit ungenügender Anästhesie, die Beine amputiert hatte, wenige Meter von dem wartenden Hubschrauber zu verlieren, zu dem man ihn über vor Hitze flimmernde Felder geschleift hatte, so daß alles umsonst gewesen war und man auf dem Rückflug bemerkte, daß man Teile der letzten Tage aus dem Gedächtnis verloren hatte, daß es da leere Stellen gab, als wäre man durch Erlebnisse gegangen, so drastisch und fremd, daß sie nicht ganz in die Wirklichkeit gehörten und sich der Erinnerung verweigerten. Man kann davon ausgehen, dass bei ‚eigentlichen‘ literarischen Texten die jeweilige Relation von orthographischen und grammatischen Satzgrenzen, d.h. sowohl deren Übereinstimmung als auch deren Diskrepanz, sinnstiftend ist. M.a.W., die Relation zwischen orthographischer und grammatischer Gliederung vermittelt dem Leser eine Art vom Autor intendierte ‚Textdramaturgie‘. Im Falle der Kehlmann-Textstelle sind zwei Diskrepanzen zu beobachten: a) Der erste grammatische Satz endet mit einem Semikolon mitten im ersten orthographischen Satz. b) Der erste orthographische Satz endet mit einem Nebensatz (wie es wirklich war), an den sich ein zweiter, identisch gebauter Nebensatz (Wie es sich anfühlte) am Anfang des zweiten orthographischen Satzes an-

Grammatik und Literatur | 165

schließt. Beide Nebensätze befinden sich im zweiten grammatischen Satz. Kehlmanns ‚Textdramaturgie‘ basiert hier also einerseits auf der Funktion des Semikolons als Grenzmarker zwischen zwei grammatischen Sätzen, andererseits auf der des Punktes als Grenzmarker innerhalb desselben grammatischen Satzes. Die Funktionen der vier zentralen Interpunktionszeichen exemplifiziert Ursula Bredel (2005: 203) anhand der folgenden Minimalpaare: (4a) Der Mensch denkt. Gott lenkt. (4b) Der Mensch denkt: Gott lenkt. (Brecht: Mutter Courage) (4c) Der Mensch denkt; Gott lenkt. (4d) Der Mensch denkt, Gott lenkt. Nach Bredel hat die Verknüpfung von Sachverhaltsdarstellungen prinzipiell zwei Lesarten: koordinativ (= denken wird einstellig interpretiert) und integrativ (= denken wird zweistellig interpretiert): a) b) c) d)

Der Punkt lässt keine der Lesarten zu. Der Doppelpunkt lässt nur die integrative Lesart zu. Das Semikolon lässt nur die koordinative Lesart zu. Das Komma lässt beide Lesarten zu.

Wenn man nun Bredels Ansatz auf die erste Diskrepanz anwendet, muss man schließen, dass Kehlmann – statt des Punktes – das Semikolon gewählt hat, weil er die koordinative Lesart zulassen oder zumindest nicht ausschließen wollte. Dies ist ein möglicher Hinweis für den Leser, die grammatische Juxtaposition, d.h. die bloße Aneinanderreihung ohne Junktor, evtl. pragmatisch (als Begründung, etwa im Sinne eines denn) zu interpretieren: (5) Wer es nicht selbst erlebt hatte, für den mußte es nach Phrasen klingen, nach Gerede; [Begründung:] Worte reichten nicht aus, um zu beschreiben, wie es wirklich war. Noch aufschlussreicher ist die zweite Diskrepanz: Der Punkt inmitten des zweiten grammatischen Satzes bedeutet, dass orthographisch weder die koordinative noch die integrative Lesart zugelassen ist. Umgekehrt bedeutet der grammatische Parallelismus der beiden analog strukturierten Nebensätze – wie es wirklich war und wie es sich anfühlte – an den beiden Seiten der orthographischen

166 | Vilmos Ágel Satzgrenze, dass grammatisch Koordination (ohne Junktor) vorliegt. Der Sinn einer grammatischen Parallele mit orthographischer Zäsur besteht in der Erzeugung ‚dramaturgischer Spannung‛ – etwa so, wie geübte Redner an geeigneten Stellen Sprechpausen einlegen.

3.2 Satzränder (Timm) Der erste orthographische Satz von Uwe Timms autobiographischer Erzählung Am Beispiel meines Bruders enthält drei grammatische Sätze: (6a) Erhoben werden – Lachen, Jubel, eine unbändige Freude – diese Empfindung begleitet die Erinnerung an ein Erlebnis, ein Bild, das erste, das sich mir eingeprägt hat, mit ihm beginnt für mich das Wissen von mir selbst, das Gedächtnis: Ich komme aus dem Garten in die Küche, wo die Erwachsenen stehen, meine Mutter, mein Vater meine Schwester. (Timm 2006: 7) Das Besondere an diesen ist ihre Aggregativität, d.h. der relativ geringe Grad an syntaktischer Integration (zu den Parametern der ‚Aggregation‘ und ‚Integration‘ vgl. Ágel 2007). Aggregation manifestiert sich bei Timm in sog. Satzrandstrukturen, d.h. a) einerseits in der Besetzung von Stellungsfeldern links (Vorvorfeld) und rechts (Nachnachfeld) der syntaktisch integrierten Felder, b) andererseits in der Besetzung eines Feldes, das ich Zwischenstelle nenne und das für Strukturen offen ist, bei denen syntaktisch nicht zu entscheiden ist, ob sie zum rechten Rand des grammatischen Satzes X oder zum linken des grammatischen Satzes X+1 gehören. 3 Man vergleiche die Felderstrukturen der drei grammatischen Sätze (SK = Satzklammer):

|| 3 ‚Zwischenstelle‘ ist die Stelle zwischen zwei grammatischen Sätzen. Mit dem nicht eingebürgerten Terminus ‚Nachnachfeld‘ soll lediglich auf Parallelen zum Vorvorfeld (IDS-Grammatik: 1646–1649) hingewiesen werden.

Grammatik und Literatur | 167 Tabelle 1: Felderstruktur der Original-Textstelle von Uwe Timm ZwischenStelle

Vorvorfeld

Vorfeld

Linke SK

Erhoben werden – Lachen, Jubel, eine unbändige Freude –

diese begleiEmptet findung

Mittelfeld

Nachnachfeld

die Erinnerung an ein Erlebnis,

ein Bild, das erste, das sich mir eingeprägt hat,

mit ihm beginnt für mich das Wissen von mir selbst

das Gedächtnis:

Ich

komme

Rechte SK Nachfeld

aus dem Garten in die Küche,

wo die Erwachsenen stehen,

meine Mutter, mein Vater meine Schwester.

Nun hätte Uwe Timm durchaus die Möglichkeit gehabt, die Textstelle anders zu formulieren. Eine mögliche integrative Formulierungsalternative und die dazu gehörigen Felderstrukturen wären: (6b)Die Empfindung, erhoben zu werden und dabei zu lachen, zu jubeln und sich unbändig zu freuen, begleitet die Erinnerung an ein Erlebnis. Mit diesem ersten Bild, das sich mir eingeprägt hat, beginnt für mich das Wissen von mir selbst, d.h. das Gedächtnis. Ich komme aus dem Garten in die Küche, wo die Erwachsenen, d.h. meine Mutter, mein Vater und meine Schwester, stehen.

168 | Vilmos Ágel Tabelle 2: Felderstruktur der integrativ umformulierten Original-Textstelle von Uwe Timm Vorfeld

Linke SK

Die Empfindung, erhoben zu werden und dabei zu lachen, zu jubeln und sich unbändig zu freuen, Mit diesem ersten Bild, das sich mir eingeprägt hat,

begleitet die Erinnerung an ein Erlebnis,

Ich

komme

beginnt

Mittelfeld

für mich das Wissen von mir selbst, d.h. das Gedächtnis aus dem Garten in die Küche,

Rechte SK

Nachfeld

wo die Erwachsenen, d.h. meine Mutter, mein Vater und meine Schwester, stehen.

Diese integrative Variante, die in etwa denselben Inhalt vermittelt, enthält dieselbe Anzahl von grammatischen Sätzen mit denselben Prädikaten wie das Original, jedoch keine Satzränder. ‚Eigentlich‘ ist aber nur das Original. Denn es geht um Erinnerung, um die – auch grammatische – Abbildung eines Prozesses, bei dem Mosaiken aus der Vergangenheit nach und nach sichtbar werden und sich nur allmählich zu einem fragmentarischen Bild zusammensetzen (s. George 2014). Dieser Prozess wäre durch eine integrative Wortstellungsstruktur konterkariert.

3.3 Nichtsätze (Liebmann, Handke, Strittmatter) Texte enthalten nicht nur grammatische Sätze und deren Ränder, sondern auch Strukturen ohne Prädikate, d.h. sog. Nichtsätze (Hennig 2009). Die folgenden drei Auszüge aus Werken von Irina Liebmann, Peter Handke und Erwin Strittmatter repräsentieren drei mögliche Relationen von orthographischen Sätzen, grammatischen Sätzen und Nichtsätzen. Zunächst eine kurze Passage aus Irina Liebmanns Roman „In Berlin“: (7) [GS1] Ich bin heute schon früh um fünf aufgestanden, [NS1] dunkel draußen, [GS2] gegen sechs über den Hof gegangen,

Grammatik und Literatur | 169

[GS3] [NS2] [GS4] [NS3] [NS4] [NS5] [NS6] [GS5] [NS7] [NS8]

es schneite, auf der Straße blaues Licht von drei Feuerwehren, die packten gerade zusammen, auf dem Bürgersteig Wasserstreifen, gefroren, in der U-Bahn Arbeiter, Arbeiterfrauen, Ausländer, braune Gesichter, die Jungs, rauchen, husten mit offenem Mund, am Zoo war der Schnee grün von Leuchtreklamen, Straße frei, Bahnhof leer, […]. (Liebmann 2002: 78)

Ein weiterer kurzer Ausschnitt stammt aus Peter Handkes Filmerzählung „Falsche Bewegung“: (8) [NS1] Der riesige Marktplatz von HEIDE in Schleswig-Holstein mit den kleinen Häusern weit weg am Horizontrand. [NS2] Wilhelm von hinten. [GS1] Er steht in einem der kleinen Häuser am Fenster und [GS2] schaut hinaus. [NS3] Der Marktplatz, ein wenig mehr von oben. [NS4] Wilhelm, das Fensterkreuz und der Marktplatz. [NS5] Eine Katze auf dem Fensterbrett. (Handke 1975: 7) Und schließlich noch ein dritter Ausschnitt aus Erwin Strittmatters Roman „Ole Bienkopp“: (9) [GS1] Ole treibt offensive Agitation mit Hermann. [...] [GS2] Hermann fühlt klingende Versprechungen und fremdländische Worte in seine Ohren fahren: [NS1] Bauerngemeinschaft vom neuen Typ, [NS2] alle Brüder und Schwestern, [NS3] einer dem anderen zur Seite. [NS4] Kein Herr, kein Knecht! [NS5] Alle Braten zu Mittag, oder [NS6] niemand Braten zu Mittag [...]. (Strittmatter 2003: 99)

170 | Vilmos Ágel In dem Roman von Liebmann wechseln sich grammatische Sätze (= GS) und Nichtsätze (= NS) in demselben orthographischen Satz ab: Ein grammatischer Satz entwirft einen Sachverhaltsrahmen, darauf folgen Nichtsätze, vor allem sog. interne und externe Prädikationen (s. Behr & Quintin 1996), die diesen Rahmen mit Impressionen anreichern – eine Art Holzschnittausmalungstechnik. Derselbe Strukturwechsel mit derselben Funktion wiederholt sich anschließend viermal. In dem Handke-Text, der dem gleichnamigen Spielfilm von Wim Wenders zugrunde lag, stellen dagegen die Nichtsätze, die alle Substantivgruppen sind, orthographische Sätze dar. Die orthographische Selbstständigkeit und die Nichtsatz-Form (Substantivgruppe) machen keine Holzschnittausmalungstechnik möglich, sie stehen für eine Zoomtechnik: Der Betrachter holt mit seiner Kamera den ‚Gegenstand‘ (Wilhelm) heran. Dann wechselt er seinen Standort und zoomt den Gegenstand erneut heran. Die beiden eingelagerten grammatischen Sätze mit ihren Sachverhaltsentwürfen dienen nur der Schärfung des Gegenstandes. Die grammatischen Sätze sind den Nichtsätzen funktional untergeordnet. Schließlich der Strittmatter-Text: Entscheidend ist hier nicht, dass die Nichtsätze bzw. die Reihungen von Nichtsätzen mit einem Satzschlusszeichen enden, sondern vielmehr, dass sie alle nach einem Doppelpunkt stehen, der nach Bredel (2005) ja nur die integrative Lesart zulässt (s. Abschnitt 3.1). In GS2, der dem Komplex von Nichtsätzen unmittelbar vorangeht, muss es demnach eine Konstituente geben, die die Nichtsätze integriert. Diese Konstituente ist „klingende Versprechungen und fremdländische Worte“. Der NichtsatzKomplex, der Substantivgruppen, interne Prädikationen und Satzfragmente umfasst, stellt die Explikation, die Spezifizierung von „klingende(n) Versprechungen“ dar. Dies ist eine durchaus klassische Verwendung von Nichtsätzen, die man Spezifizierungstechnik nennen könnte.

3.4 Importierte emphatische Tempusformen (Ruge) Die bisherigen Analysen waren lokal, sie haben sich jeweils auf eine zusammenhängende Textstelle bezogen. Zum Schluss soll nun auf einen anderen Typ der grammatischen Textanalyse, den man punktuell-flächig nennen könnte, eingegangen werden: Die Stellungsfelderstruktur erlaubt nicht nur die Realisierung von kommunikativ unauffälligen Wortstellungsvarianten, sondern auch emphatische Realisierungen, d.h. die Hervorhebung bestimmter Glieder oder deren Bestandteile.

Grammatik und Literatur | 171

Beispielsweise lassen sich die infiniten Verbteile von zusammengesetzten Tempusformen im Vorfeld realisieren und auf diese Weise emphatisch machen: (10a) Ich habe nichts gesehen. [unauffällig] (10b) Gesehen habe ich nichts. [emphatisch] Wie können aber die einfachen Tempusformen ‚Präsens‘ und ‚Präteritum‘, die der verbalen Zweiteiligkeit (= Finitum + Infinitum) entbehren, emphatisch gemacht werden? Hierzu hat sich eine eigene Konstruktion mit dem Hilfsverb tun, die sog. tun-Periphrase, herausgebildet: (11a) Ich sehe/sah nichts. [unauffällig] (11b) Sehen tue/tat ich nichts. [emphatisch] Es gibt allerdings eine literarische Ausnahme: In dem Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ von Eugen Ruge, der 2011 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, wird systematisch und ausnahmslos eine andere Emphasekonstruktion verwendet, bei der das Vollverb selbst als Hilfsverb fungiert: (12) […] wo gab es denn so was, die Frau trinkt, und der Mann ist nüchtern, man schämte sich wirklich, rauchen rauchte sie auch […]. (Ruge Zeiten: 148) (13) […] sie hatte ihm das Lied vom Zicklein gesungen, allerdings, verstehen verstand er ja nix, verstand ja kein Russisch […]. (Ruge 2011: 156) Belegt sind in Ruges Roman außerdem die Prädikate arbeiten arbeitete, schlafen schlief und sagen sagte. Die Ruge-Periphrasen, wie ich sie nennen möchte, kommen nur in einem einzigen Kapitel des Romans vor. In diesem Kapitel ist die in der DDR (und später in Deutschland) lebende, aber des Deutschen nicht mächtige Russin Nadjeshda Iwanowna die Hauptfigur, die über Deutschland und die Deutschen – natürlich in ihrer russischen Muttersprache – nachdenkt. Im Russischen gibt es allerdings keine tun-Periphrase, die normale Emphase-Konstruktion ist die Ruge-Periphrase, d.h. die Verwendung des jeweiligen Vollverbs als EmphaseHilfsverb. Eugen Ruge, der auch als Übersetzer aus dem Russischen bekannt ist, überträgt hier also eine russische Konstruktion aufs Deutsche und charakterisiert mit ihr grammatisch eine seiner Romanfiguren. Ruges Text ist auf eine andere Art ,eigentlich‘ als die übrigen Beispieltexte: Er fordert die Arbeit zum Verstehen und Nachdenken geradezu heraus, weil sich

172 | Vilmos Ágel der Leser angesichts der Ausnahmslosigkeit, der punktuellen Flächigkeit – nur in einem Kapitel – und der Systematizität der Konstruktion sicher sein kann, dass der Autor hier eine ganz bestimmte Intention verfolgt hat.

4 Fazit Ich habe im vorliegenden Beitrag dafür argumentiert, dass grammatische Formen und Funktionen Sinn-haft sind und daher einen wichtigen Beitrag zur Textinterpretation darstellen. Entscheidend bei Texten ist deren wirklichkeitskonstituierende sprachliche Qualität, die mit dem Begriff der Eigentlichkeit aus der Barockzeit, dessen Analysekraft für die Frage nach dem Zusammenhang von Sinn und Grammatik ungebrochen ist, gefasst wurde. Ein grammatisch ‚eigentlicher‘ literarischer Text ist ein Text, dessen grammatische Strukturen die Konstitution eines Ausschnitts der fiktionalen Wirklichkeit selbstständig (von Törne, Ruge) oder unterstützend gestalten (Kehlmann, Timm, Liebmann, Handke, Strittmatter). Eine 1:1-Beziehung zwischen einer spezifischen grammatischen Struktur und einer spezifischen Sinngebung besteht dabei nicht. Wie am Beispiel der Nichtsätze gezeigt, sind vergleichbare grammatische Strukturen und deren Kombinationen für unterschiedliche Interpretationszusammenhänge offen. Diese Offenheit bedeutet jedoch weder uneingeschränkte Freiheit noch Willkürlichkeit, weil der Umkehrschluss nicht gilt: Ein ‚eigentlicher‘ literarischer Text lässt nicht beliebige grammatische Strukturen und StrukturKombinationen zu. Es sind die Offenheit und die gleichzeitige Nichtbeliebigkeit, die grammatische Textanalysen theoretisch-methodisch zwar schwer, aber empirisch interessant machen. 4

|| 4 Für kritische Lektüre, zahlreiche Anregungen und wertvolle Kommentare danke ich Norbert Kruse.

Grammatik und Literatur | 173

5 Literatur 5.1 Texte Wiemer, Rudolf Otto (Hrsg.) (1974): bundesdeutsch lyrik zur sache grammatik. Wuppertal: Hammer. Handke, Peter (1975): Falsche Bewegung. Frankfurt am Main: Suhrkamp (st 258). Kehlmann, Daniel (2009): Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Liebmann, Irina (2002): In Berlin. Roman. Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag. Ruge, Eugen (2011): In Zeiten des abnehmenden Lichts. Roman einer Familie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Strittmatter, Erwin (2003): Ole Bienkopp. Roman. Leipzig: Faber & Faber. [Erstausgabe: Berlin: Aufbau 1963] Timm, Uwe (2006): Am Beispiel meines Bruders. München: DTV (dtv 8616). [Erstausgabe: Köln: Kiepenheuer & Witsch 2003]

5.2 Fachliteratur Ágel, Vilmos (2007): Was ist „grammatische Aufklärung“ in einer Schriftkultur? Die Parameter „Aggregation“ und „Integration“. In: Helmuth Feilke, Clemens Knobloch & Paul-Ludwig Völzing (Hrsg.): Was heißt linguistische Aufklärung? Sprachauffassungen zwischen Systemvertrauen und Benutzerfürsorge. Heidelberg: Synchron (Wissenschaftskommunikation 1), 39–57. Albrecht, Jörn (1988): Europäischer Strukturalismus. Ein forschungsgeschichtlicher Überblick (UTB 1487). Tübingen: Francke. Behr, Irmtraud & Hervé Quintin (1996): Verblose Sätze im Deutschen. Zur syntaktischen und semantischen Einbindung verbloser Konstruktionen in Textstrukturen (Eurogermanistik 4). Tübingen: Stauffenburg. Bredel, Ursula (2005): Zur Geschichte der Interpunktionskonzeption des Deutschen – dargestellt an der Kodifizierung des Punktes. Zeitschrift für Germanistische Linguistik 33, 179–211. Coseriu, Eugenio (1988): Einführung in die Allgemeine Sprachwissenschaft (UTB 1372). Tübingen: Francke. Duden 2004 : Duden. Die deutsche Rechtschreibung. 23., völlig neu erarbeitete und erweiterte Auflage. Hrsg. von der Dudenredaktion. Mannheim u.a.: Dudenverlag (Der Duden 1). Gardt, Andreas (1994): Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung. Entwürfe von Böhme bis Leibniz. Berlin, New York: de Gruyter. George, Kristin (2014): Grammatische Techniken der Erinnerung. Was leisten grammatische Techniken zur Simulation von Erinnerung in Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders? Masterarbeit. Universität Kassel.

174 | Vilmos Ágel Groeben, Norbert (1982): Leserpsychologie: Textverständnis – Textverständlichkeit. Münster: Aschendorff. Hennig, Mathilde (2009):
Syntaktische Relationen in Nichtsätzen. In: Andrea Bachmann-Stein & Stephan Stein (Hrsg.): Mediale Varietäten – Gesprochene und geschriebene Sprache und ihre fremdsprachendidaktischen Potenziale. Beiträge zur Fremdsprachenvermittlung. Sonderheft 15, 211–238. IDS-Grammatik = Zifonun, Gisela, Ludger Hoffmann & Bruno Strecker (1997): Grammatik der deutschen Sprache. 3 Bde (Schriften des Instituts für deutsche Sprache 7). Berlin, New York: de Gruyter.

Paul Reszke

Das eigentliche Ziel der Diskursanalyse? Über Wege zum gesellschaftlichen Wissen || Universität Kassel, FB 02, Institut für Germanistik, Kurt-Wolters-Straße 5, 34125 Kassel, [email protected]

1 Zur Einleitung: Übersicht über die linguistische Diskursanalyse 1994 mussten Dietrich Busse und Wolfgang Teubert im Sammelband Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik noch fragen: „Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt?“ (Busse & Teubert 1994: 10–28). Zwanzig Jahre später erscheint diese Frage hinfällig, betrachtet man die Fülle diskursanalytischer Arbeiten aus dem Bereich der Linguistik. 1 Der dreizehn Jahre später veröffentlichte Aufsatz Andreas Gardts, Diskursanalyse – Aktueller theoretischer Ort und methodische Möglichkeiten (Gardt 2007: 27–52) zeigt, inwieweit der Begriff des Diskurses in der Linguistik seitdem an Profil gewonnen hat. Gardt betrachtet darin auf der Basis bisheriger Arbeiten das sprachliche Umfeld dieses Begriffs. Dabei beschränkt er sein Korpus im Wesentlichen auf diejenigen Ansätze […], die in den Philologien ihren Ort haben (mit Schwerpunkt auf der Sprachwissenschaft), mehr oder weniger deutlich in der Tradition Michel Foucaults stehen, damit bestimmte Annahmen über die thematische und funktionale Vernetzung von Texten im öffentlichen Raum teilen und im analytischen Zugriff eine Offenlegung der Art und Weise sehen, wie in und durch Sprache öffentliches Bewusstsein und damit gesellschaftliche Wirklichkeit geschaffen wird. (Gardt 2007: 28)

Aus diesen Texten exzerpiert Gardt die häufigsten Ausdrücke und Formulierungen (vgl. Gardt 2007: 28–30) und bündelt sie schließlich in einer Definition, die

|| 1 Dies zeigen nicht nur eigenständige Monographien wie Wengeler (2003), Faulstich (2007), Vogel (2009), Radeiski (2011) oder Kalwa (2013), sondern auch die zahlreichen Aufsätze. Sie werden im Folgenden als Belege noch genannt.

176 | Paul Reszke dem Diskurs vier „prototypische Kennzeichen […] in der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion“ (Gardt 2007: 30) zuschreibt: Ein Diskurs ist die Auseinandersetzung mit einem Thema, – die sich in Äußerungen und Texten der unterschiedlichsten Art niederschlägt, – von mehr oder weniger großen gesellschaftlichen Gruppen getragen wird, – das Wissen und die Einstellungen dieser Gruppen zu dem betreffenden Thema sowohl spiegelt – als auch aktiv prägt und dadurch handlungsleitend für die zukünftige Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Bezug auf dieses Thema wirkt. (Gardt 2007: 30)

Dass ein Diskurs in einem Forschungsrahmen, wie ihn Busse & Teubert zeichnen, thematisch gebunden ist und sich in einer Vielfalt von Text(sort)en äußert, die durch eine Vielzahl von SprachbenutzerInnen generiert und rezipiert wird, dürfte unstrittig sein. Diese Texte bilden als Korpus den Ausgangspunkt 2 jeder Diskursanalyse (vgl. Busse & Teubert 1994: 14–16). Sowohl das erste Zitat Gardts als auch der dritte und vierte Aspekt der Definition von Diskurs öffnen dagegen den Blick auf den Zielpunkt einer Diskursanalyse: Den Zugriff auf gesellschaftliches Wissen und damit auch auf gesellschaftliche Wirklichkeit (vgl. Gardt 2007: 28, 30). Kurz gesagt beschreitet also jede Diskursanalyse den Weg von einem Textkorpus hin zu gesellschaftlichem Wissen. Oder expliziter: Man setzt als DiskurslinguistIn bei der Zusammenstellung sprachlichen Materials an und geht dann einen bestimmten methodischen Weg, um zu Schlussfolgerungen zu gelangen, die zwar auf Beobachtungen sprachlicher Muster basieren, aber deutlich darüber hinaus führen, nämlich zum eigentlichen Ziel einer Diskursanalyse: Zu Aussagen über das gesellschaftliche Wissen. Hier setzt die vorliegende Untersuchung an. Sie will anhand der Betrachtung argumentativer Strategien in konkreten Diskursanalysen eine Übersicht erarbeiten, die die prototypischen Argumentationswege zwischen Korpus und Wissen aufzeigen soll. Die Frage nach der Eigentlichkeit dieses Forschungsvorhabens geht aber über die titelgebende, rein alltagssprachliche Verwendung hinaus: Die Strategien wissenschaftlichen Schreibens zielen typischerweise darauf, sich „sachlich treffend auf die Welt zu beziehen.“ 3 Auf welche Weise

|| 2 Ich nutze Kursivierungen stellenweise zur Hervorhebung wichtiger argumentativer Schritte dieses Textes. Aus dem Kontext dürfte dies jeweils ersichtlich werden. 3 Vgl. hierzu die Einleitung dieses Sammelbandes.

Das eigentliche Ziel der Diskursanalyse? | 177

und inwiefern dies trotz der Komplexität diskurslinguistischer Themenfelder 4 gelingt, gilt es aufzuzeigen. Ziel ist es, aktuelle Forschungstendenzen gebündelt darzustellen, zur Diskussion zu stellen und etwaige Schlussfolgerungen über die weiteren Entwicklungen der Diskursanalyse innerhalb der Linguistik zu ziehen.

2 Methode: Von der Deskription zum Muster Der Zugriff auf diese argumentativen Muster erfolgt nach dem Vorbild des deskriptiven Verfahrens, das Gardt (2007) in seiner Bestandsaufnahme verschiedener bis dahin publizierter diskursanalytischer Arbeiten entwickelt. Dabei ist es sein Ziel, die vielfältige Verwendung des Diskursbegriffs in eine übersichtliche Form zu bringen. Gardt unterlegt seiner Analyse eine Struktur, indem er zwischen drei verschiedenen Verwendungen dieses Begriffs unterscheidet, nämlich Diskurs als „Theorie, Methode und Haltung“ (Gardt 2007: 27). Im Rahmen dieser drei Perspektiven exzerpiert er einzelne Belege und führt sie in Mustern wie der oben zitierten Definition von Diskurs zusammen. Analog dazu soll passend zum einleitend formulierten Forschungsziel eine dreigliedrige Struktur vorgestellt werden (s.u.), mit der diskursanalytische Arbeiten untersucht werden sollen. Das Forschungsziel setzt beim Anfangspunkt jeder Diskursanalyse an, der Erstellung des Korpus. Sie ist bereits bei Busse und Teubert Thema: Korpusfragen sind in der Sprachwissenschaft ein bekanntes Problem, vor allem für die Lexikographie. Dort wie in der Diskursanalyse stellt sich vor allem die Frage nach der Repräsentativität eines zusammengestellten Korpus und nach den Kriterien der Auswahl von Belegen für das Korpus und der Ausschließung von anderen. Während aber in der gemeinsprachlichen Lexikographie die Repräsentativität ein eher statistisches Problem ist, […] ist es in der Diskursanalyse vor allem ein inhaltliches (semantisches) Problem. Repräsentativ kann ein Textkorpus dort nur hinsichtlich eines jeweils als Leitfaden gewählten Inhaltsaspekts sein. In der Lexikographie ist die Korpuswahl dem Forschungsziel extern, während in der Diskursanalyse Korpus und Untersuchungsgegenstand untrennbar miteinander verknüpft sind; das Korpus selbst konstituiert das Untersuchungsobjekt […]. (Busse & Teubert 1994: 14–15)

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass das Korpus nur dann seinen Zweck erfüllt, wenn es repräsentativ in Bezug auf das gewählte Untersuchungsobjekt || 4 Die in diesem Aufsatz zitierten Analysen beschäftigen sich beispielsweise mit der Wahrnehmung des Islam in Deutschland, Sterbehilfe, dem sprachlichen Umgang mit Krisen etc.

178 | Paul Reszke ist. Notwendigerweise bleiben Busse und Teubert bei der Angabe der Kriterien für diese Repräsentativität abstrakt, denn die Vielfalt der bei linguistischen Diskursanalysen denkbaren Forschungsziele lässt kaum enger gefasste Aussagen zu. Sie fahren fort: Die Diskursanalyse muß daher die Rechtfertigung für die getroffene Wahl des Gegenstandes (den konstituierten Diskurs, d.h. sowohl das konstituierte Textkorpus als auch die den Grund seiner Zusammenstellung abgebenden Hypothesen über intertextuelle Beziehungen innerhalb des Korpus) erst durch die Ergebnisse ihrer Analyse erbringen. […] Erst wenn die Ergebnisse, d.h. die aufgewiesenen Beziehungen, Strukturen, Gruppierungen von Aussagen, Aussagenelementen, Aussagenverknüpfungen usw. durch das vorgewiesene Korpusmaterial und seine diskurssemantische Analyse als plausibel erscheinen, […] dann ist die Existenz des fraglichen Diskurses als sinnvolles Untersuchungsobjekt vollends erwiesen. (Busse & Teubert 1994: 17) [Hervorheb. P. R.]

Bevor ich auf dieses Zitat eingehe, ist ein kurzer Rückgriff auf die Analyse von Gardt (2007) notwendig. Die von ihm erarbeitete Definition zeigt, dass es in der linguistischen Forschungspraxis unstrittig ist, dass die Größe Diskurs den Zugriff auf gesellschaftliches Wissen zulässt. 5 Kann also plausibel gemacht werden, dass ein Korpus mehr ist, als nur eine Summe von Texten, nämlich dass es als Diskurs oder als dessen repräsentatives Teilstück u.ä. gelten kann, so ist der Zielpunkt einer Diskursanalyse erreicht, denn ein als Diskurs klassifiziertes Korpus erlaubt den Blick auf gesellschaftliches Wissen, weil es in seiner Gesamtheit mehr ist als nur ein Korpus. Die Wege, auf denen dieses Ziel erreicht wird, lassen sich anhand der hervorgehobenen Stellen im letzten Zitat nun genauer greifen. Als entscheidende Größen erweisen sich a) das Korpus, b) die Analyse sowie c) die Ergebnisse, denn: Die „Existenz des fraglichen Diskurses als sinnvolles Untersuchungsobjekt“ ist erst dann „vollends erwiesen“, wenn c) die „Ergebnisse“ durch a) „das vorgewiesene Korpusmaterial“ und durch b) „seine diskurssemantische Analyse als plausibel erscheinen“ (Busse & Teubert 1994: 17). In eine lineare Abfolge gebracht, ergibt sich also folgendes Schema: Durch A. die Auswahl als passend vermuteter Texte für das Korpus und B. deren Analyse 6 durch angemessene Verfahren ergeben sich C. Ergebnisse, die den (zu|| 5 Als wie stark „die sprachliche Prägung der Erkenntnis“ (Gardt 2007: 38) angesehen wird, variiert in den Arbeiten, aber dass der Zugriff auf Wissen durch Sprache möglich ist, wird nicht bezweifelt (vgl. Gardt 2007: 35–38). 6 Im Folgenden werde ich entgegen der Verwendung bei Busse & Teubert statt Analyse den Begriff Methode verwenden. Während Analyse sowohl für die analytischen Verfahren als auch für die Ergebnisse einer Untersuchung stehen kann, bezieht sich der Begriff Methode eindeutig auf die Analyseverfahren, um die es hier gehen soll (vgl. dazu auch Gardt 2007: 27, 30).

Das eigentliche Ziel der Diskursanalyse? | 179

nächst nur hypothetisch angenommenen) Diskurs als solchen bestätigen. Damit sind sie, so lässt sich nun mit Gardt ergänzen, mehr als nur Beobachtungen sprachlicher Muster. Sie sind Repräsentationen kollektiver Denkmuster. Diese dreigliedrige Struktur soll die Basis für die folgende Analyse sein. Ich fasse sie unter dem Begriff Korpusdiskursivierung. Darunter verstehe ich diejenigen argumentativen Muster, die aus einer bloßen Summe von Texten, dem Korpus, eine geordnete Gesamtheit machen, den Diskurs, der über die Einzeltexte hinausgehende Erkenntnisse über gesellschaftliches Wissen zulässt. Die drei Schritte der Korpusdiskursivierung werden in Kapitel 4 noch einmal expliziter in Form von analytischen Leitfragen veranschaulicht.

3 Korpus: Aktuelle Diskursanalysen Selbstverständlich erhebt diese Untersuchung nicht den Anspruch, einen umfassenden Überblick zu geben, sondern beschränkt ihr Korpus auf zwei Sammelbände, die im Rahmen des Forschungsnetzwerks Sprache und Wissen entstanden sind. Die grundlegende Sprachauffassung dieses Netzwerks entspricht den von Gardt formulierten prototypischen Mustern diskurslinguistischen Arbeitens: Dem internationalen und interdisziplinären Forschungsnetzwerk Sprache und Wissen – Probleme öffentlicher und professioneller Kommunikation liegt die folgende Sprachauffassung zugrunde: Jede Erkenntnis ist sprachabhängig! (Felder 2009: 11)

In den beiden Bänden Wissen durch Sprache – Theorie, Praxis und Erkenntnisinteresse des Forschungsnetzwerks ‚Sprache und Wissen‘ (Felder & Müller 2009) sowie Faktizitätsherstellung in Diskursen – Die Macht des Deklarativen (Felder 2013) versammeln sich (nicht nur, aber größtenteils) linguistische Autoren, die die Diskursanalyse immer wieder aus verschiedenen Blickwinkeln theoretisch beleuchten und praktisch erproben. Diese Auswahl hat folgenden Vorteil: Die Vielzahl der Aufsätze aus den beiden Sammelbänden resultiert auch in einer Vielfalt der hier betrachteten Perspektiven auf die Diskursanalyse, was wiederum ein schärferes Bild zulässt. Außerdem kann man das Forschungsprogramm des Netzwerks Sprache und Wissen als logische (wissenschaftshistorische) Konsequenz derjenigen Entwicklungen betrachten, die sich bis zu seiner Gründung im Bereich der linguistischen Diskursanalyse vollzogen haben. Aus beiden Bänden werden insgesamt vierzehn Aufsätze untersucht. Diejenigen, die übergangen werden, sind theoretischer Natur bzw. arbeiten nicht mit

180 | Paul Reszke einem scharf genug umrissenen Korpus, sodass sie in Hinblick auf die Frage nach Strategien der Korpusdiskursivierung keine unmittelbar beobachtbaren Sprachmuster liefern. Es soll hier um die Beschreibung dieser Strategien anhand von konkreten Analysen gehen, nicht um theoretische Diskurskonzeptionen.

4 Belegsammlung: Kurzfassungen einzelner Diskursanalysen Die gewählten Texte werden nun nach dem dreischrittigen Schema der Korpusdiskursivierung zusammengefasst. Die folgenden drei Leitfragen explizieren diese Schritte. Es ist dabei mitzudenken, dass – wie bei Busse und Teubert gesehen – erst die ganze Kette von A über B zu C ein Korpus zu einem Diskurs macht: A. Warum lässt das Korpus Rückschlüsse auf gesellschaftliches Wissen zu: Welche Texte umfasst es und inwiefern wird diese Auswahl begründet? B. Warum lässt die Methode Rückschlüsse auf gesellschaftliches Wissen zu: Welche Analyseverfahren werden verwendet und inwiefern sind sie für das Korpus geeignet? C. Warum lassen die Ergebnisse Rückschlüsse auf gesellschaftliches Wissen zu: Inwiefern greifen sie über Einzelbeobachtungen hinaus? Diese Fragen werden in den untersuchten Texten typischerweise nicht explizit beantwortet, sondern durch die Darstellung des jeweiligen Vorgehens implizit als mitbeantwortet vorausgesetzt, was bei einer antizipierten Leserschaft von ExpertInnen selbstverständlich ist. Dennoch fasse ich diese sprachlichen Muster hier als Argumentationen im weiteren Sinne auf, selbst wenn sie nur in Form von Beschreibungen auftreten. Um sie möglichst prägnant zusammenfassen zu können, wird dabei hypothetisch von allen Texten angenommen, dass jede Diskursanalyse diesen drei Schritten folgt. Nach der Nennung von Titel und AutorInnen folgen die wesentlichen Aspekte der Korpusdiskursivierung in Form einer Argumentationskette. Diese Argumentationsketten bestehen hauptsächlich aus Formulierungen der AutorInnen, da ich sie aber grammatisch und textlich anpasse, markiere ich die Übernahmen nicht explizit als Zitate. Zunächst folgt die Sammlung der Belege. Im folgenden Kapitel werden dann die wichtigsten Argumentationsmuster zusammengeführt und sowohl im Einzelnen besprochen als auch ihr jeweiliger wechselseitiger Bezug beleuchtet.

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(1) Fragen und Verstehen. Wissenskonstitution im Gespräch zwischen Arzt und Patient (Spranz-Fogasy & Lindtner 2009: 141–170) A. Das untersuchte Beispiel ist eine exemplarische Beschwerdeschilderung zwischen einer Ärztin und einer Patientin (vgl. Spranz-Fogasy & Lindtner 2009: 143–145). B. Sie wird in einer detaillierten Gesprächsanalyse vornehmlich verstehenstheoretisch untersucht (vgl. Spranz-Fogasy & Lindtner 2009: 165). C. Die Ergebnisse heben hervor, dass sich das Fragen in verschiedene Typen mit jeweils verschiedenen Funktionen unterteilen lässt und wesentlicher Bestandteil einer gesellschaftlichen Praxis der Verständigung zwischen ExpertInnen und Nicht-ExpertInnen ist. Die Autoren begreifen die vorgelegte exemplarische Fallstudie allerdings hauptsächlich als Forschungsimpuls (vgl. Spranz-Fogasy & Lindtner 2009: 166). (2) Frames im Einsatz. Aspekte anaphorischer, tropischer und multimodaler Bedeutungskonstitution im politischen Kontext (Ziem 2009: 207–244) A. Es werden Auszüge aus der sogenannten terroristischen Geheimsprache (vgl. Ziem 2009: 214) und eine Karikatur untersucht (vgl. Ziem 2009: 231). B. Dies geschieht mit den methodischen Mitteln der Frame-Theorie Fillmores sowie vor dem Hintergrund gestalt- und gedächtnispsychologischer Annahmen (vgl. Ziem 2009: 209–210). C. Das Ergebnis soll vor allem unterstreichen, dass der Einbezug kognitionslinguistischer Überlegungen in die Diskursanalyse fruchtbar sein kann, da so selbst komplexere sprachliche Phänomene (wie Multimodalität), die im Alltag selbstverständlich gesellschaftliches Wissen anzapfen, einheitlich erfasst werden können. (vgl. Ziem 2009: 239–240). (3) Kompetenz. Zur sprachlichen Konstruktion von Wissen über Wissen und Können im Bildungsdiskurs nach PISA (Kilian & Lüttenberg 2009: 245–278) A. Texte aus vier verschiedenen Wissensdomänen des Bereichs Bildung (u.a. Wirtschaft, Politik und Medien) werden danach ausgewählt, ob in ihnen der Begriff der Kompetenz verhandelt wird. Zentral sind hierbei handlungsrelevante Texte wie beispielsweise die Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz (vgl. Kilian & Lüttenberg 2009: 246, 265– 271).

182 | Paul Reszke B. Das Lexem Sprachkompetenz bildet als Schlagwort den Fokus der Untersuchung (vgl. Kilian & Lüttenberg 2009: 271, 273). Es wird in den jeweiligen Domänen kontextualisiert, C. damit werden auch die Differenzen beim Anspruch verschiedener Gruppen an die zu vermittelnden Kompetenzen vor Augen geführt. Das erarbeitete Muster zeige analoge Strukturen zu einer öffentlichen Diskussion, die nach einem 1966 durchgeführten Leistungstest an Schulen aufkam, knüpft also an bereits vorhandenem gesellschaftlichem Wissen an (vgl. Kilian & Lüttenberg 2009: 273). (4) Die Rahmung der Zwergenwelt. Argumentationsmuster und Versprachlichungsformen im Nanotechnologiediskurs (Zimmer 2009: 279–308) A. Insgesamt zwölf Positionspapiere und Stellungnahmen von Technikskeptikern und Technikoptimisten in Bezug auf Nanotechnologie bilden das Textkorpus. Sie sind gezielt ausgewählt, da sie als normativwertend und weniger als deskriptiv gelten können und außerdem als Expertentexte der öffentlichen Diskussion zeitlich vorangestellt sind (vgl. Zimmer 2009: 288–289). B. Die Methode ist eine sozialwissenschaftliche Inhaltsanalyse mit deutlichem Bezug zur Frame-Analyse, jene zielt aber auch auf übergreifende Argumentationsmuster, die sich aus einzelnen Versprachlichungsformen ableiten lassen (vgl. Zimmer 2009: 286–289). C. Die konfligierenden Akteure prägen durch ihre versprachlichten Positionsbezüge das Wissen der Öffentlichkeit vor, sodass Zimmer zu dem Schluss kommt, dass eine öffentliche Debatte, die beispielsweise nach einem Unfall aufkommen könnte, in bereits vorstrukturierte Bahnen gerät (vgl. Zimmer 2009: 303–304). (5) Wissenskonflikte im Diskurs. Zur diskursiven Funktion von Metaphern und Schlüsselwörtern im öffentlich-politischen Diskurs um die humane embryonale Stammzellenforschung (Spieß 2009: 309–336) A. Anhand von Auszügen aus Tageszeitungen wie der SZ und der Zeit sowie an Ausschnitten aus Bundestagsdebatten, allesamt Teil des Korpus der Dissertation der Autorin, (vgl. Spieß 2009: 314), B. werden Schlüsselwörter und Metaphern nicht nur auf der Einzelwort-, sondern auch auf der textübergreifenden Diskursebene auf ihre Bedeutungs- und Bezeichnungskonkurrenzen hin untersucht (vgl. Spieß 2009: 309–310).

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C. Damit sollen die Wissenshintergründe öffentlich-politischer Kommunikation und sich daraus ergebende Konflikte sowie genutzte Strategien greifbar gemacht werden (vgl. Spieß 2009: 332–333). (6) Fensterweihe und Fensterstreit. Die katholische Kirche und der mediale Diskurs (Lasch 2009: 337–369) A. 37 Texte der Online-Presse aus dem Kontext des Kölner Fensterstreits werden auszugsweise analysiert, mit einem Fokus auf Äußerungen zentraler Akteure (vgl. Lasch 2009: 343–344, 365–368). B. Anhand argumentativer Topoi und Komposita mit dem Teillexem Fenster wird der Fensterstreit nachgezeichnet (vgl. Lasch 2009: 347), um schließlich C. zu zeigen, dass Akteure – in dem Fall Akteure der katholischen Kirche – oft andere Diskurse produktiv für einen aktuellen nutzen, dabei aber auch die Deutungshoheit verlieren können, und dass oft mit einem Vertreter einer Institution gleichermaßen auch die ganze Institution in die Kritik geraten kann (vgl. Lasch 2009: 361–363). (7) Die Grammatik der Zugehörigkeit. Possessivkonstruktionen und Gruppenidentitäten im Schreiben über Kunst (Müller 2009: 371–417) A. Aus zentralen Texten der deutschen Kunstgeschichtsschreibung seit Mitte des 19. Jahrhunderts, die in einem digitalen Korpus verfügbar sind (vgl. Müller 2009: 381–382), B. gewinnt Müller jegliche Possessivkonstruktionen der Form „unser X“ und kategorisiert sie nach ihren verschiedenen grammatischen, aber auch kognitiven Funktionen (vgl. Müller 2009: 388–407). C. Ziel ist einerseits aufzuzeigen, inwiefern sich prototypische Interpretationsschemata der Zugehörigkeit in grammatischen Strukturen spiegeln, andererseits aber auch, einen solchen konstruktionsgrammatischen Zugang zu Korpora zu evaluieren (vgl. Müller 2009: 407–411). (8) Deconstructing Greenspeak. Für eine kritische Diskursanalyse als Beitrag der Sprach- und Literaturwissenschaft zum Verständnis des Umweltproblems (Goodbody 2009: 421–450) A. Es werden hauptsächlich literaturwissenschaftliche Texte zitiert, die sich teilweise wiederum auf literarische Texte beziehen (vgl. Goodbody 2009: 438–442). B. Eine Analyse wird nicht durchgeführt, allerdings werden mögliche Vorbilder für Analysen genannt wie Faircloughs kritische Diskursanalyse oder die Ökolinguistik (vgl. Goodbody 2009: 429, 432).

184 | Paul Reszke C. Ziel ist es hier eher, für die Aufnahme literarischer Texte in diskurslinguistische Korpora zu plädieren, denn diese hätten eine besondere Rolle, beispielsweise für die Prägung der Wahrnehmung und Deutung von Natur, und könnten auch dazu beitragen, die kritische Sprachwahrnehmung zu schärfen, und damit einen Beitrag zur Umweltbildung leisten (vgl. Goodbody 2009: 446–447). (9) Performatisierung und Verräumlichung von Diskursen. Zur soziomateriellen Herstellung von ‚Sicherheit‘ an öffentlichen Orten (Habscheid & Reuther 2013: 127–145) A. Ca. 220 Fotoaufnahmen der Räume des Flughafens Köln-Bonn dokumentieren verschiedene multimodale Zeichenkomplexe wie Warnhinweise (vgl. Habscheid & Reuther 2013: 128). B. Eine exemplarische und detaillierte Analyse verschiedener semiotischer Komplexe, die sich theoretisch an die Arbeiten Goffmans sowie der Scollons, und damit an den performative turn anlehnt (vgl. Habscheid & Reuther 2013: 134–140), C. zeigt das Ineinandergreifen der sprachlichen sowie praktischen Gestaltung von Diskursen über Sicherheit und auch deren Verknüpfung mit anderen Diskursen wie Werbung (vgl. Habscheid & Reuther 2013: 131– 134). (10) Kognitive Abstraktionsstufen deklarativen Wissens. Evidenz aus korpusbasierten Fallstudien (Ziem 2013a: 147–171) A. Wahlkampfplakate sowie Ausschnitte aus dem Spiegel im Umfeld des Lexems Krise dienen als Ausgangspunkt für eine methodische Argumentation (vgl. Ziem 2013a: 150–152). B. Über konzeptuelle Metaphern wird anhand dieser multimodalen Texte (vgl. Ziem 2013a: 152–158) C. zunächst auf das deklarative Wissen der SprachbenutzerInnen zugegriffen, um dann die einzelnen Muster in ein Raster verschiedener Abstraktionsstufen jenes Wissens zu überführen. Dieses Raster soll in Folgestudien an weiteren Belegen erprobt werden (vgl. Ziem 2013a: 168–169).

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(11) Faktizitätsherstellung im Spiegel sprachlicher Ordnung. Idiomatische Perspektiven-Setzungen im englischen und deutschen Sterbehilfe-Diskurs (Fellbaum & Felder 2013: 173–193) A. Auszüge aus Pressetexten, insbesondere Wortlaute wichtiger DebattenteilnehmerInnen im Sterbehilfediskurs, sowie Wörterbuchartikel (vgl. Fellbaum & Felder 2013: 173–175, 186) werden herangezogen und B. sowohl mithilfe von Kategorien wie Bedeutungskonkurrenzen, als auch gestützt von Ergebnissen psycho- und neurolinguistischer Forschung beschrieben (vgl. Fellbaum & Felder 2013: 180, 184–188). C. Die daraus abstrahierbaren Sprachhandlungsmuster der Beeinflussung werden als Grundstruktur demokratischer Kulturen betrachtet, die allerdings auch durch linguistische Vermittlung bewusster wahrgenommen und reflektiert werden können (vgl. Fellbaum & Felder 2013: 190). (12) Vergessene Diskurse? Zur Diskursgeschichte der Weimarer Republik am Beispiel des Themas Wirtschaft (Eitz & Wengeler 2013: 309–327) A. Ein 4000 Tageszeitungen umfassendes Korpus aus der Zeit der Weimarer Republik, darunter auch Parlamentsprotokolle, dient hier als Ausgangspunkt (vgl. Eitz & Wengeler 2013: 312). B. Der Gebrauch zentraler Schlagworte wie Sozialismus oder Wirtschaftsdemokratie wird im Zusammenspiel mit zentralen historischen Ereignissen betrachtet (vgl. Eitz & Wengeler 2013: 313, 321), sodass C. schließlich sowohl neue Perspektiven auf die historischen Debatten der Weimarer Republik ermöglicht, als auch deren Analogien zu öffentlichen Diskussionen in Deutschland nach 1945 offenkundig werden (vgl. Eitz & Wengeler 2013: 324–325). (13) Korpuslinguistische Zugänge zum öffentlichen Sprachgebrauch: spezifisches Vokabular, semantische Konstruktionen und syntaktische Muster in Diskursen über ‚Krisen‘ (Ziem, Scholz & Römer 2013b: 329–358) A. Aus einem insgesamt 9000 Pressetexte umfassenden, computerbasierten Korpus, das sich über fünf Zeitspannen erstreckt, die von Krisen geprägt sind, werden beispielhaft zwei Ausschnitte analysiert, die Ölkrise 1973/74 sowie die Finanzkrise 2008/09 (vgl. Ziem, Scholz & Römer 2013b: 330–331). B. Diese Sprachdaten werden durch eine selbst entwickelte Software mit Metadaten wie Pressetextsorten, AutorInnen etc. versehen sowie nach verschiedenen Kriterien annotiert. So können große Textmengen mit statistischen Methoden nach spezifischen Lexemen sowie prägenden

186 | Paul Reszke syntaktischen Mustern durchsucht werden (vgl. Ziem, Scholz & Römer 2013b: 335, 342). C. Damit können auf lange Sicht repräsentative Ergebnisse erzielt und ein Beitrag zur zeitgenössischen Sprachgeschichte geleistet werden (vgl. Ziem, Scholz & Römer 2013b: 356–357). (14) Erinnerungen an die DDR oder Erinnerungen an DDR-Propaganda? Exemplarische Überlegungen zur strukturellen Ähnlichkeit von Erinnerungs- und Propagandadiskursen (Radeiski 2013: 359–376) A. Ein Vergleich zwischen Zeitungstexten aus DDR-Zeiten, die von Propaganda durchsättigt sind, und gegenwärtigen Zeitzeugeninterviews, die von Sozialwissenschaftlern durchgeführt wurden (vgl. Radeiski 2013: 367–370), B. zeigt vor dem Hintergrund der Gedächtnistheorien von Assmann sowie mit den Mitteln der Toposanalyse (vgl. Radeiski 2013: 361, 371), dass es C. enge Parallelen zwischen den Inhalten der Propaganda und dem persönlichen Erinnern an die Lebenswirklichkeit gibt (vgl. Radeiski 2013: 373–374).

5 Zusammenfassung: Saliente Strukturen der Korpusdiskursivierung Nun gilt es, auf der Basis des Dreischritts A. Korpus, B. Methode und C. Ergebnisse, die einzelnen Beschreibungen zu einem argumentativen Grundmuster der Korpusdiskursivierung zu verallgemeinern. Die meisten Texte nutzen einige der Muster mehrfach. 7 Die Muster sind nach Häufigkeit absteigend sortiert. Zunächst werden alle aufgelistet und dann nach einigen allgemeinen Anmerkungen die auffälligsten Argumentationsketten beispielhaft besprochen. In Bezug auf A lassen sich sieben Argumente zusammenfassen: A. Das Korpus lässt Rückschlüsse auf gesellschaftliches Wissen zu, weil… 1 …ein solcher Korpusaufbau etabliert ist/sich in anderen Untersuchungen bewährt hat. (5, 6, 11, 12, 13, 14)

|| 7 Auf welche der untersuchten Texte ein Argumentationsmuster jeweils zutrifft, wird durch die Angabe der Nummer des Textes dahinter angezeigt.

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…seine Texte und ihre Themen eine besondere gesellschaftliche Relevanz haben/in der Gesellschaft auf Interesse stoßen (4, 5, 8, 9, 11, 13) ...seine Texte von besonderen gesellschaftlichen Akteuren stammen. (4, 6, 11, 14) ...es aus einer historischen Distanz betrachtet wird und damit schlüssiger/fundierter eingebettet werden kann. (7, 12, 13, 14) ...seine Texte Prototypen bestimmter Textsorten sind, die alltäglich begegnen, und damit verallgemeinert werden können. (1, 2, 9, 10) ...seine Texte gesellschaftspolitisches Handeln leiten/juristische Relevanz besitzen. (3, 12) ...es eine große Menge von Texten umfasst/computerbasiert ist. (12, 13)

In Bezug auf B ergeben sich drei Muster: B. Die Methode lässt Rückschlüsse auf gesellschaftliches Wissen zu, weil… 1 …sie innovativ/vielversprechend ist, da sie den Zugriff auf besondere und/oder viele Texte zulässt. (1, 2, 7, 8, 9, 10, 13) 2 …sie etabliert ist/sich in anderen Untersuchungen bewährt hat. (3, 5, 6, 11, 12, 13, 14) 3 ...sie durch Erkenntnisse anderer Disziplinen gestützt/angereichert wird. (4, 9, 11, 13, 14) Bei C finden sich zwei Muster: C. Die Ergebnisse lassen Rückschlüsse auf gesellschaftliches Wissen zu, weil… 1 …sie verallgemeinerbar sind/grundlegende Muster kommunikativen Handelns offenlegen. (2, 5, 6, 9, 10, 11, 12, 13, 14) 2 …sie handlungsrelevante Anweisungen geben/das öffentliche Bewusstsein für ein Thema/für Sprache schärfen können. (1, 3, 4, 7, 8, 9, 11, 14) Unmittelbar deutlich wird, dass dieses Schema nur in der Reihenfolge A + B  C gelesen werden kann. Argumente aus C allein haben keine Überzeugungskraft. Eine Aussage wie Die Ergebnisse lassen Rückschlüsse auf gesellschaftliches Wissen zu, weil sie verallgemeinerbar sind ist nicht stichhaltig, sondern zirkulär. Schlüssig wird erst eine Kette wie (A1) Dieser Korpusaufbau hat sich in mehreren Untersuchungen bewährt und (B2) auch die hier genutzten Methoden haben immer wieder zu guten Ergebnissen geführt. Deshalb sind (C1) die Ergebnisse verallgemeinerbar. So lässt sich als erstes Ergebnis festhalten: Je mehr und je expliziter Argumente aus A und B genutzt werden, desto einfacher gelingt der argumentative

188 | Paul Reszke Übergang zu C. Als prototypisch dafür kann beispielsweise die Argumentationskette von Untersuchung (14) Erinnerungen an die DDR oder Erinnerungen an DDR-Propaganda? gelten. Radeiskis Korpus besteht aus Pressetexten. Pressetexte haben sich bereits in anderen Diskursanalysen als Korpora bewährt (A1). Aber sie nutzt auch Zeitzeugeninterviews, deren ProduzentInnen offenkundig ein besonderer Status zukommt (A3). Die Pressetexte werden außerdem aus einer zeitlichen Distanz betrachtet und mit historischem Wissen fundiert (A4). Die Analyse erfolgt über die bewährte Toposanalyse (B2), wird aber auch theoretisch eingerahmt von Assmanns Theorie des kulturellen Gedächtnisses (B3 Interdisziplinarität), die selbstverständlich auch in anderen Forschungsgebieten als prägend gelten kann und damit weit über ein Einzelkorpus hinausreichende Schlussfolgerungen zulässt. Somit können am Ende plausibel Analogien zwischen individuellem Erinnern und Propagandasprache aufgezeigt werden (C1 verallgemeinerbar), die sogar Konsequenzen für gesellschaftliches Handeln und öffentliches Sprachbewusstsein haben (C2). Ohne hier im Detail darauf eingehen zu müssen, wird ersichtlich, dass sich alle Texte mit diesem Verfahren beschreiben ließen. Weitere Beobachtungen betreffen zunächst die einzelnen Argumentationsmuster. Auffällig bei (A1) ist, dass der bewährte Korpusaufbau typischerweise aus Pressetexten besteht, die – so kann zumindest aus dem hier vorliegenden Korpus an Diskursanalysen geschlossen werden –, selbstverständlich als Spiegel gesellschaftlichen Wissens vorausgesetzt werden. Dies greift auch mit (A2) zusammen, denn das gesellschaftliche Interesse wird typischerweise am hohen Presseaufkommen gemessen. Die sich daraus ergebende Anschlussfrage, inwiefern Pressetexten dieser Status tatsächlich selbstverständlich zukommen sollte, wird im Fazit aufgegriffen. Die Argumentationsmuster (A3 besondere Akteure) und (A5 verbreitete Textsorten) werden am häufigsten dann genutzt, wenn das untersuchte Korpus eher klein ist. Die Alltäglichkeit/Musterhaftigkeit eines Textes oder die Präsenz einer öffentlichen Person bilden dann gleichermaßen ein qualitatives Gegengewicht zum Mangel an Quantität, wobei die Quantität allein (A7) nie ausreicht, sondern immer von weiteren Argumenten aus dem Bereich A ergänzt wird. Auch Muster aus dem Bereich B lassen sich in ähnlicher Weise konkretisieren. Innovative Methoden in (B1) sind meist aus anderen linguistischen Teildisziplinen bzw. Forschungsansätzen oder anderen textbasierten Wissenschaften entliehen. Dazu zählen z.B. Pragmatik, Konstruktionsgrammatik, Kognitionslin-

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guistik, Neurolinguistik und Korpuslinguistik; im weiteren Sinne aber auch Literaturwissenschaften und Semiotik.8 In (B1) zeigt sich auch das Zusammenspiel mit Argumenten aus A: Geht es um viele Texte, so sind dies üblicherweise Pressetexte (A1), geht es um ‚besondere‘ (also in Diskursanalysen weniger übliche) Texte, so sind es hauptsächlich multimodale und/oder als besonders alltagsprägend eingestufte (A5). Diese Unterscheidung ist auffällig, denn eigentlich sind Pressetexte ebenfalls multimodal und alltäglich, was aber nie explizit betont oder für Argumentationen genutzt wird. Auch darauf wird im Fazit explizit rekurriert. Als etablierte Methoden (B2) gelten zweifellos die Schlagwortanalyse mit allen Unterkategorien wie Fahnenwörtern etc. sowie die Toposanalyse. Beide werden vornehmlich bei großen Korpora eingesetzt. Die Interdisziplinarität, die sich in (B3) äußert, entsteht durch die Interaktion mit Ansätzen aus Soziologie, Psychologie und Statistik, also durch eine offensichtliche Öffnung hin zur empirischen Forschung. Eine letzte Beobachtung betrifft das Zusammenspiel mehrerer Argumentationsmuster, die sich auf den ersten Blick auszuschließen scheinen, wie beispielsweise (B1) und (B2), also innovative vs. etablierte Methode. Die korpusgestützte Analyse des „Krisendiskurses“ in Untersuchung (13) vereint beide Argumentationsmuster, indem sie sie hintereinander anordnet: Der erste Schritt ist innovativ, eine Vorstrukturierung eines Korpus durch Analysesoftware, der zweite Schritt besteht aus bewährten Methoden wie der Schlagwortanalyse. Diese argumentative Anordnung erklärt die Attraktivität korpuslinguistischer Ansätze, die ja zusätzlich auch noch von (B3) gestützt werden: Impulse anderer, in dem Fall empirischer Disziplinen. Ebenfalls nur einen scheinbaren Widerspruch bildet die Vereinbarkeit von (A1, A7), also bewährten, großen Korpora (aus Pressetexten) und (A3, A5), den ‚besonderen‘ Einzeltexten, also denen, die als prototypisch gelten oder durch eine/n wichtige/n SprecherIn hervorgebracht wurden. Da die Forschungspraxis auch darin besteht, Ergebnisse prägnant zu vermitteln, beziehen sich selbst Analysen mit quantitativ umfassenden Korpora häufig auf besondere Einzeltexte oder beste Beispiele, deren Besonderheit sich eben aus dem Status ihrer ProduzentInnen (A3) oder ihrer Prototypikalität (A5) begründen lässt. So nimmt Untersuchung (9) multimodale Zeichenkomplexe an Flughäfen anhand von 220 Fotografien in den Blick (vgl. Habscheid & Reuther 2013: 128). Diese immens große Zahl mehrfach kodierter semiotischer Strukturen muss in der Analyse auf eine Auswahl eingeschränkt werden, in diesem Falle auf neun Einzelbelege || 8 Ähnliche Beobachtungen machte bereits Gardt (2007: 32).

190 | Paul Reszke (vgl. Habscheid & Reuther 2013: 139). Genauso werden in der Untersuchung des Wirtschaftsdiskurses der Weimarer Republik (12) aus 4000 Tageszeitungen sowie den Parlamentsprotokollen nur ca. 50 Belege ausgewählt. Der Appell, die Kriterien, die dieser immer notwendigen Reduktion des Korpusmaterials zugrundegelegt werden, expliziter zu machen, bildet den Abschluss des Fazits.

6 Fazit Die hier als strukturelles Vorbild dienende Untersuchung von Gardt (2007) schließt mit einem Ausblick auf das Potenzial der Diskursanalyse für die Linguistik und dies soll auch hier der Fall sein. Gardt hielt unter anderem Folgendes fest: Auch die Wahl der Analysethemen kann die künftige Stellung der Diskursanalyse im Fach beeinflussen. In methodischer Hinsicht bedeutet die Etablierung der Diskursanalyse eine attraktive Erweiterung der Möglichkeiten eines linguistischen Interpretierens. (Gardt 2007: 44)

Dass Gardt damit tatsächlich eine Grundtendenz beschrieben hat, zeigt sich in der Dominanz des Arguments (B1 innovative Methoden) in aktuellen Diskursanalysen. Anhand der Belege wurde deutlich, dass diskurslinguistische Zugänge zu Korpora – neben ihren analytischen Zielen – bis heute auch darum bemüht bleiben, immer wieder neue Methoden linguistischen Interpretierens zu entwerfen und zu schärfen. Die „Wahl der Analysethemen“ verdeutlicht aber inzwischen nicht nur eine Beeinflussung der „Stellung der Diskursanalyse im Fach“, sondern auch eine Beeinflussung der kulturorientiert arbeitenden Linguistik insgesamt. Die Argumente zur Korpusauswahl (A2 gesellschaftliche Relevanz), (A5 alltägliche, prototypische Texte) und (A6 handlungsrelevante Texte) sowie die methodische Öffnung hin zu empirischen Wissenschaften (B3), die ja in der Öffentlichkeit weitaus stärker als die Linguistik wahrgenommen werden: Sie deuten alle auf ein Bedürfnis hin, die Ergebnisse diskurslinguistischer Arbeiten stärker ins Bewusstsein der Gesellschaft zu rücken, deren Wissen ja schließlich auch das Ziel jeder Analyse ist. So lässt sich auch die hohe Anzahl von Argumentationen im Sinne von (C2) erklären, die das Stärken des öffentlichen Sprachbewusstseins bei gesellschaftlich relevanten Themen fokussieren, damit sozusagen auch eine Serviceleistung der Linguistik für die Gesellschaft implizieren.

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Zwar in einem nicht genuin diskurslinguistischen Kontext, aber doch in einem kulturorientierten, plädiert Gardt für eine phänomenorientierte Sprachgeschichte: Die hier skizzierte phänomenorientierte Sprachgeschichtsforschung greift bestehende Forschungsansätze und -praktiken auf und richtet ihren Blick auf die Geschichte des Sprachgebrauchs, dort auf kommunikative, wesentlich sprachlich konstituierte Phänomene, und zwar in ihrer Ganzheit, so, wie wir sie in der Realität wahrnehmen. An diesen Phänomenen sucht sie das Musterhafte zu erschließen und ordnet damit ihr Arbeiten der dominanten Tradition linguistischen Forschens zu. Da sie durch ihre Phänomenorientierung der lebensweltlichen Realität historischen Sprechens und Schreibens besonders nahekommt, kann eine solche Sprachgeschichtsforschung der Disziplin Impulse verleihen, die die Disziplin auch für größere Teile der Gesellschaft attraktiv macht. (Gardt demn.) 9

Diese Forderung gibt dem Bedürfnis diskursanalytischer Arbeiten, das sich aus dieser Untersuchung erschließen lässt, einen Namen und ein scharfes Profil. Deshalb möchte ich abschließend die drei Aspekte, die sich in der Zusammenführung der Argumentationsmuster ergeben haben, unter dieser Perspektive besprechen. 1) Inwiefern sind Pressetexte tatsächlich ein Spiegel gesellschaftlichen Wissens? Unter den Vorzeichen einer konstruktivistischen Perspektive scheint diese Annahme geradezu selbstverständlich geworden zu sein. Sie müsste aber, will man stärker in die Öffentlichkeit rücken, stichfest gemacht werden gegen alltagsnähere Argumentationsmuster wie: Was in der Presse steht, glaubt nicht jeder. Die Verknüpfung aktueller Diskurse mit historischen scheint ein Weg zu sein, der auch schon beschritten wird in Untersuchungen wie 12: Weimarer Republik und 13: Krisendiskurs. Anhand von historischen Entwicklungen lassen sich prägende Einflüsse der Pressesprache auf gesellschaftliches Wissen und Handeln offenkundiger belegen. Ein anderer Weg wäre, stärker mit dem impliziten, handlungsleitenden Textsortenwissen von ZeitungsleserInnen zu argumentieren, beispielsweise Textstrukturen wie Überschriften und deren Funktionen ins Sprachbewusstsein zu rücken – also an der Eigentlichkeit der gegebenen Kommunikationsabläufe orientierter (damit phänomenorientierter) zu arbeiten. 2) Das Zusammenspiel der Argumente aus A Korpusaufbau und B Methode ergab ein Schema, das, an alltäglichen Erfahrungen mit Texten gemes|| 9 Das Zitat stammt aus Gardts Präsentation auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Germanistische Sprachgeschichte im September 2013.

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3)

sen, abwegig erscheint: Untersucht man (B1) viele Texte, so sind es (A1) Pressetexte, untersucht man (ebenfalls B1) wenige besondere, so sind es (A5) prototypische/alltägliche/multimodale Texte (Wahlplakate, Karikaturen, Hinweisschilder etc.). Pressetexte sind offensichtlich auch prototypisch, alltäglich und multimodal, gerade wenn man sich von der Betrachtung ausschließlich printmedialer Texte löst. Dies wird aber selten explizit zum Thema, was unter ExpertInnen auch verständlich ist. Wenn eine Diskursanalyse phänomenorientiert arbeiten will, müsste sie a) Distributionswege von Pressetexten stärker in ihren Analysen reflektieren, denn auch hier könnte man aus Sicht von Nicht-ExpertInnen einwenden: Niemand liest alle Zeitungen und Niemand liest alles in Zeitungen oder gar Niemand liest Zeitungen. b) Das Medium Zeitung müsste stärker als multimodales Phänomen und weniger als reines Schriftmedium thematisiert werden. Auf moderne Massenmedien zuzugreifen stellt natürlich weiterhin eine forschungspraktische Herausforderung dar. Aber wenn der Anspruch „kommunikative […] Phänomene […], so, wie wir sie in der Realität wahrnehmen“ linguistisch zu erfassen, stärker in den Vordergrund rücken würde, würden die eigentlichen multimodalen Kommunikationspraktiken greifbar und für eine Öffentlichkeit nachvollziehbar und interessant werden. Jede Diskursanalyse muss ihre Ergebnisse vermitteln, für jede Vermittlung muss eine Auswahl an Belegen getroffen werden. Welchen Kriterien wird bei dieser Auswahl gefolgt? Sie werden oft nicht genannt, denn das Beispiel belegt, wenn es gut ist, dass es gut ist. Das ist nicht kritikwürdig, sondern selbstverständlich für kulturorientiertes Arbeiten. Dieses zirkuläre Argumentationsmuster nutzen auch Busse & Teubert, wenn sie beschreiben, was ein Korpus zum Diskurs macht (s. o.). Dennoch könnte es ein Gewinn sein, wenn diese Auswahlkriterien stärker reflektiert werden, nicht nur für das eigene Arbeiten, sondern gerade auch, wenn die Ergebnisse Nicht-ExpertInnen zugänglich gemacht werden sollen. Denn gerade aus einer alltäglichen Perspektive darf von WissenschaftlerInnen und ihrer Sprache gefordert werden, dass sie sich treffend auf die Welt beziehen, also das Eigentliche vor Augen führen. Wenn sich die genutzten Kriterien im impliziten Wissen der Öffentlichkeit über kommunikative Phänomene spiegeln, sind sie überzeugender, treffen die Sache, wie sie eigentlich ist.

Das eigentliche Ziel der Diskursanalyse? | 193

7 Literatur Busse, Dietrich & Wolfgang Teubert (1994): Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? Zur Methodenfrage der historischen Semantik. In: Dietrich Busse, Fritz Hermanns & Wolfgang Teubert (Hrsg.): Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik. Opladen: Westdeutscher Verlag, 10–28. Eitz, Thorsten & Martin Wengeler (2013): Vergessene Diskurse? Zur Diskursgeschichte der Weimarer Republik am Beispiel des Themas Wirtschaft. In: Ekkehard Felder (Hrsg.): Faktizitätsherstellung in Diskursen. Die Macht des Deklarativen. Berlin, Boston: De Gruyter, 309– 327. Faulstich, Katja (2008): Konzepte des Hochdeutschen. Der Sprachnormierungsdiskurs im 18. Jahrhundert. Berlin, New York: de Gruyter. Fellbaum, Christiane & Ekkehard Felder (2013): Faktizitätsherstellung im Spiegel sprachlicher Ordnung. Idiomatische Perspektiven-Setzungen im englischen und deutschen Sterbehilfe-Diskurs. In: Ekkehard Felder (Hrsg.): Faktizitätsherstellung in Diskursen. Die Macht des Deklarativen. Berlin, Boston: De Gruyter, 173– 193. Gardt, Andreas (2007): Diskursanalyse – Aktueller theoretischer Ort und methodische Möglichkeiten. In: Ingo H. Warnke & Jürgen Spitzmüller (Hrsg.): Diskurslinguistik nach Foucault. Theorie und Gegenstände. Berlin, New York: de Gruyter, 27– 52. Gardt, Andreas (demn.): Phänomenorientierte Sprachwissenschaft. Ein Plädoyer. Erscheint demnächst in: Vilmos Ágel & Andreas Gardt (Hrsg.): Paradigmen der aktuellen Sprachgeschichtsforschung (Jahrbuch für germanistische Sprachgeschichte 4). Berlin, Boston: De Gruyter. Goodbody, Axel (2009): Deconstructing Greenspeak. Für eine kritische Diskursanalyse als Beitrag der Sprach- und Literaturwissenschaft. In: Ekkehard Felder & Marcus Müller (Hrsg.): Wissen durch Sprache. Theorie, Praxis und Erkenntnisinteresse des Forschungsnetzwerkes „Sprache und Wissen“. Berlin, New York: de Gruyter, 419– 450. Habscheid, Stefan & Nadine Reuther (2013): Performatisierung und Verräumlichung von Diskursen. Zur soziomateriellen Herstellung von ‚Sicherheit‘ an öffentlichen Orten. In: Ekkehard Felder (Hrsg.): Faktizitätsherstellung in Diskursen. Die Macht des Deklarativen. Berlin, Boston: De Gruyter, 127– 145. Kalwa, Nina (2013): Das Konzept »Islam«. Eine diskurslinguistische Untersuchung. Berlin, Boston: De Gruyter. Kilian, Jörg & Dina Lüttenberg (2009): Kompetenz. Zur sprachlichen Konstruktion von Wissen und Können im Bildungsdiskurs nach PISA. In: Ekkehard Felder & Marcus Müller (Hrsg.): Wissen durch Sprache. Theorie, Praxis und Erkenntnisinteresse des Forschungsnetzwerkes „Sprache und Wissen“. Berlin, New York: de Gruyter, 245– 278. Lasch, Alexander (2009): Fensterweihe und Fensterstreit. Die Katholische Kirche und der mediale Diskurs. In: Ekkehard Felder & Marcus Müller (Hrsg.): Wissen durch Sprache. Theorie, Praxis und Erkenntnisinteresse des Forschungsnetzwerkes „Sprache und Wissen“. Berlin, New York: de Gruyter, 337– 369. Müller, Marcus (2009): Die Grammatik der Zugehörigkeit. Possessivkonstruktionen und Gruppenidentität im Schreiben über Kunst. In: Ekkehard Felder & Marcus Müller (Hrsg.): Wissen durch Sprache. Theorie, Praxis und Erkenntnisinteresse des Forschungsnetzwerkes „Sprache und Wissen“. Berlin, New York: de Gruyter, 371– 417.

194 | Paul Reszke Radeiski, Bettina (2011): Seuchen, Ängste und Diskurse. Massenkommunikation als kommunikatives Rollenspiel. Berlin, Boston: De Gruyter. Radeiski, Bettina (2013): Erinnerungen an die DDR oder Erinnerungen an DDR-Propaganda? Exemplarische Überlegungen zur strukturellen Ähnlichkeit von Erinnerungs- und Propagandadiskursen. In: Ekkehard Felder (Hrsg.): Faktizitätsherstellung in Diskursen. Die Macht des Deklarativen. Berlin, Boston: de Gruyter, 359– 376. Spranz-Fogasy, Thomas & Heide Lindtner (2009): Fragen und Verstehen. Wissenskonstitution im Gespräch zwischen Arzt und Patient. In: Ekkehard Felder & Marcus Müller (Hrsg.): Wissen durch Sprache. Theorie, Praxis und Erkenntnisinteresse des Forschungsnetzwerkes „Sprache und Wissen“. Berlin, New York: de Gruyter, 141– 170. Vogel, Friedemann (2009): „Aufstand“ – „Revolte“ – „Widerstand“. Linguistische Mediendiskursanalyse der Ereignisse in den Pariser Vorstädten 2005. Frankfurt am Main: Peter Lang. Wengeler, Martin (2003):Topos und Diskurs. Begründung einer argumentationsanalytischen Methode und ihre Anwendung auf den Migrationsdiskurs (1960–1985). Tübingen: Niemeyer. Ziem, Alexander (2009): Frames im Einsatz. Aspekte anaphorischer, tropischer und multimodaler Bedeutungskonstitution im politischen Kontext. In: Ekkehard Felder & Marcus Müller (Hrsg.): Wissen durch Sprache. Theorie, Praxis und Erkenntnisinteresse des Forschungsnetzwerkes „Sprache und Wissen“. Berlin, New York: de Gruyter, 207– 244. Ziem, Alexander (2013a): Kognitive Abstraktionsstufen deklarativen Wissens. Evidenz aus korpusbasierten Fallstudien. In: Ekkehard Felder (Hrsg.): Faktizitätsherstellung in Diskursen. Die Macht des Deklarativen. Berlin, Boston: De Gruyter, 147– 171. Ziem, Alexander, Ronny Scholz & David Römer (2013b): Korpuslinguistische Zugänge zum öffentlichen Sprachgebrauch: spezifisches Vokabular, semantische Konstruktionen und syntaktische Muster in Diskursen über „Krisen“. In: Ekkehard Felder (Hrsg.): Faktizitätsherstellung in Diskursen. Die Macht des Deklarativen. Berlin, Boston: De Gruyter, 329– 358. Zimmer, René (2009): Die Rahmung der Zwergenwelt. Argumentationsmuster und Versprachlichungsformen im Nanotechnologiediskurs. In: Ekkehard Felder & Marcus Müller (Hrsg.): Wissen durch Sprache. Theorie, Praxis und Erkenntnisinteresse des Forschungsnetzwerkes „Sprache und Wissen“. Berlin, New York: de Gruyter, 279– 308.

Nina Kalwa

Theorie, Methode oder Disziplin Plastikwörter innerhalb der Sprachwissenschaft? || Technische Universität Darmstadt, FB 02, Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft, Dolivostraße 15, 64293 Darmstadt, [email protected]

1 Einleitung Wenn sich Ansätze 1 in einer Wissenschaft etablieren, so versuchen die beteiligten Wissenschaftler fast immer deutlich zu machen, als was sie sich etablieren. Sowohl bei neueren Ansätzen wie der Korpuslinguistik oder inzwischen bereits fest in der Sprachwissenschaft verankerten wie der linguistischen Diskursanalyse wird und wurde ausgehandelt, ob es sich dabei jeweils um eine Theorie, eine Methode oder eine eigene Disziplin handelt – so machen es zahlreiche Diskussionen auf wissenschaftlichen Tagungen deutlich. Auch bezogen auf die Konstruktionsgrammatik oder die Textlinguistik stellt und stellte sich die Frage nach der jeweils adäquaten Kategorie. Doch obwohl die exakte Bestimmung dessen, wie beispielsweise Korpuslinguistik definiert wird, doch eigentlich erst Ergebnis dieses Aushandlungsprozesses sein müsste, werden neue Ansätze bereits ‚von der Geburtsstunde‘ an definiert. In diesen Definitionen kommt es jedoch häufig zu Widersprüchen. So wird beispielsweise Korpuslinguistik auf dem Portal computerlinguistik.org wie folgt kategorisiert: Korpuslinguistik ist zunächst eine Methode, linguistische Fragestellungen auf der Basis von digitalen Textsammlungen zu bearbeiten. Als Grundlage dafür werden Sprachdaten gesprochener und geschriebener Sprache digital aufbereitet und mit Grundannotationen wie Wortartenlabeln versehen. Für viele Fragestellungen werden große Mengen an Sprachdaten benötigt, die nicht manuell, sondern nur automatisch annotiert werden können. In der Computerlinguistik dienen manuell analysierte Korpora als Trainingsdaten für statistische Analyseprogramme, zum Beispiel für Wortartentagger oder syntaktische Parser, mit denen anschließend wiederum größere Datenmengen automatisch analysiert || 1 Im Folgenden verwende ich den Ausdruck Ansatz als Oberbegriff zu Theorie, Methode und Disziplin. Selbstverständlich könnte man darüber streiten, ob es nicht eher ein Heteronym ist, dessen Status als Plastikwort dann wiederum ebenfalls überprüft werden müsste.

196 | Nina Kalwa werden können. Im weiteren Sinn bezeichnet Korpuslinguistik eine ganze Disziplin, die sich mit der Aufbereitung, Analyse und langfristigen Speicherung von digitalisierten Sprachdaten befasst, sowie mit Methoden der Datenauswertung und Ergebnisinterpretation. 2

Korpuslinguistik ist somit laut dieses Beispiels zunächst eine Methode. Das Adverb in dieser Definition macht eine Unsicherheit in der Zuordnung deutlich, die später noch klarer wird, wenn Korpuslinguistik nun doch als eine ganze Disziplin bezeichnet wird. Wie aber kann Korpuslinguistik gleichzeitig eine Methode und eine eigene Disziplin sein? Bezogen auf die Wissenschaftssprache existiert bis heute die Forderung nach Exaktheit. Geht man davon aus, dass die Wissenschaftssprache als eine Fachsprache die Wirklichkeit im höchsten Maße präzise abzubilden versucht, so kann sie als die eigentlichste Sprache gewertet werden. Der Beitrag stellt sich die Frage, ob dies tatsächlich gilt und inwiefern innerhalb der Wissenschaftssprache auch uneigentliches Sprechen vorkommt. An ausgewählten Beispielen wird untersucht, ob in Etablierungsprozessen von Ansätzen innerhalb der Sprachwissenschaft die Ausdrücke Theorie, Methode, Disziplin etc. zu Plastikwörtern werden. Die von Pörksen erstmals 1988 eingeführten Plastikwörter sind ein Paradebeispiel für uneigentliche Wörter, denn sie haben nur eine scheinbar eindeutige Referenz. Sie geben einen klaren Sachbezug vor, halten jedoch einer genaueren Überprüfung nicht stand. In Kapitel 2 werden im Folgenden die spezifischen Charakteristika der Wissenschaftssprache dargestellt, bevor im anschließenden Kapitel kurz auf das Konzept der Plastikwörter nach Pörksen (1988) eingegangen wird. Kapitel 4 stellt einige Analyseergebnisse dar, die den vagen Gebrauch der Ausdrücke Theorie, Methode und Disziplin innerhalb der (Sprach-)Wissenschaft zeigen. Anschließend wird diskutiert, inwiefern sich Pörksens Konzept der Plastikwörter, die seiner Ansicht nach ein Phänomen der Alltagssprache sind, auf die Wissenschaftssprache übertragen lässt.

|| 2 http://www.computerlinguistik.org/portal/portal.html?s=Korpuslinguistik, zuletzt abgerufen am 01.03.2014; Hervorhebungen im Original.

Theorie, Methode oder Disziplin | 197

2 Zu den spezifischen Charakteristika der Wissenschaftssprache Wissenschaftssprache kann als eine Form der Fachsprache aufgefasst werden. Roelcke (2010: 31) grenzt die Wissenschaftssprache von der Institutionensprache und der Techniksprache ab. Für ihn bereitet diese Abgrenzung der Wissenschaftssprache gegenüber den anderen Fachsprachen […] dabei insofern die geringsten Schwierigkeiten, als über diejenigen Fachbereiche und deren Sprachen, die als wissenschaftlich zu gelten haben, sowohl aus wissenschaftstheoretischer als auch aus kulturgeschichtlicher Warte weitgehend Einigkeit herrscht: Dabei spielen die Bildung von Theorien sowie deren sprachlicher Erfassung und Vermittlung eine entscheidende Rolle – mit ein Grund dafür, warum Wissenschaftssprache bisweilen auch als Theoriesprache bezeichnet wird. (Hervorhebung im Original)

Die Bestimmung dessen, was genau unter Fachsprache zu verstehen ist, hängt für ihn „von den jeweils gewählten wissenschafts- und sprachtheoretischen Voraussetzungen ab“ (Roelcke 2010: 13). Eine Fachsprachenforschung kann sich auf systemlinguistische Betrachtungsweisen fokussieren, sie kann den Schwerpunkt auf pragmalinguistische Fragestellungen legen oder auf kognitionslinguistische, wenn die „intellektuellen und emotionalen Voraussetzungen von Produzent und Rezipient der fachsprachlichen Kommunikation“ (Roelcke 2010: 14) zum Schwerpunkt werden. Möhn und Pelka (1984: 26) wählen demnach einen pragmalinguistischen Zugang, wenn sie die Fachsprache wie folgt definieren: Wir verstehen unter Fachsprache heute die Variante der Gesamtsprache, die der Erkenntnis und begrifflichen Bestimmung fachspezifischer Gegenstände sowie der Verständigung über sie dient und damit den spezifischen kommunikativen Bedürfnissen im Fach allgemein Rechnung trägt. Fachsprache ist primär an Fachleute gebunden, doch können an ihr auch fachlich Interessierte teilhaben. Entsprechend der Vielzahl der Fächer, die man mehr oder weniger exakt unterscheiden kann, ist die Variante ‚Fachsprache‘ in zahlreichen mehr oder weniger exakt abgrenzbaren Erscheinungsformen realisiert […].

Wie vielen Definitionen von Fachsprache liegt auch dieser die Annahme zugrunde, „daß die fachlichen Gegenstände ihren sprachlichen Bezeichnungen ganz selbstverständlich vorgegeben sind“ (Gardt 1999: 469). 3 So wird es deut|| 3 Gardt (1999: 469) nennt als weitere Auseinandersetzungen mit Fachsprachen, denen eine solche realistische Position zugrunde liegt, neben Möhn & Pelka (1984), Dölle (1949), Panther (1981) und Jahr (1993).

198 | Nina Kalwa lich, wenn hier davon die Rede ist, dass die Fachsprache der Erkenntnis und begrifflichen Bestimmung fachspezifischer Gegenstände diene. Möhn und Pelka nehmen dabei an, dass es Dinge in der Welt gibt, die mittels der Fachsprache präzise zu beschreiben versucht werden und vertreten damit eine realistische Position.

2.1 Wissenschaftssprache und der konstruierte Realismus Das Konzept der Eigentlichkeit beinhaltet die Forderung, dass 1. jedes Sprechen „zuverlässig die Welt erkennen“ lässt, „auf die sie sich bezieht“ und 2. „zuverlässig die Absichten des Sprechers erkennen“ lässt (Gardt 2008: 15; vgl. auch die Einleitung dieses Bandes). Fokussiert man den ersten Punkt, so beinhaltet Eigentlichkeit die Forderung nach ontologischer Adäquatheit: „Ist das erste gegeben, spiegelt die Äußerung also die Welt so, wie sie ist, dann dient uns das Gesprochene (und Geschriebene) zur Orientierung in der Welt“ (Gardt 2008: 15). Für Gardt (2008: 15) ist diese Forderung nach ontologischer und sozialer Orientierung „nicht hintergehbar und erweist sich beim Blick in die Geschichte als Universalie der Sprachreflexion“ (vgl. auch die Einleitung in diesem Band). Deutlich wird sie „in der Kritik an rhetorisch aufwändig gestalteter Sprache (leere Worte), in der Ablehnung modischer aber semantisch ‚substanzloser‘ Fremdwörter und einer nur der Selbstpräsentation dienenden Fachsprache (bloßer Jargon)“ (Gardt 2008: 15; Hervorhebungen im Original). Sieht man von dem von Gardt genannten, nur der Selbstpräsentation dienenden Fachjargon ab, so kann die Fachsprache wie bereits erwähnt als die eigentlichste Sprache gewertet werden. Zumindest vermittelt „die Lektüre von Texten der Fachsprachenforschung […] den Eindruck, daß die Fachsprache als die sachlichste, ontologisch zuverlässigste aller Varietäten gilt“ (Gardt 1998: 32). Ohne diese Form des Realismus kritisieren zu wollen, stellt Gardt fest: Die Rede von Gegenständen, auf die sich Fachsprachen beziehen, von Fachgebieten, Sachbereichen, fachlichen Sachverhalten, objektiven Gegebenheiten, Gegenstandsbereichen, subject fields etc. scheint eine bestimmte Sicht des Verhältnisses von Fachsprache und Welt zu beinhalten: Die Wirklichkeit wird als gegeben vorausgesetzt, und die Sprache bezieht sich auf sie. Damit scheinen zugleich, auch dies zumindest implizit, erkenntnistheoretische Positionen ausgeblendet zu werden, die dieses Verhältnis von Welt und Sprache insofern relativieren, als sie der Sprache nicht nur eine wirklichkeitsabbildende, sondern auch eine wirklichkeitskonstituierende Funktion zusprechen. Eine solche Konstitution von Wirklichkeit durch Sprache wäre dann gegeben, wenn die Wirklichkeitserfahrung des erkennenden Subjekts als sprachlich strukturiert begriffen würde, d.h. als geprägt durch die lexikalischen Inhalte und grammatischen Kategorien einer jeweiligen Einzelsprache. (Gardt 1998: 32–33; Hervorhebungen im Original)

Theorie, Methode oder Disziplin | 199

Diese, alle konstruktivistische Positionen ausblendende Annahme lässt aber keineswegs auf eine naive Vorstellung der Wirklichkeit schließen. Die Alternative zu diesem Erkenntnisbegriff wäre nämlich die Annahme der absoluten Sprachbedingtheit des Denkens, d.h. die Überzeugung, daß es keinen sprachfreien Raum des Denkens gibt, daß die Reflexion über die Wirklichkeit stets von der Sprache abhängig ist, sei es von einer universalen sprachlichen Tiefenstruktur, sei es von den grammatischen und lexikalischen Kategorien einer Einzelsprache. Nichts aber würde, so kann man das Gros der einschlägigen Äußerungen in Vergangenheit und Gegenwart interpretieren, bei der Konstruktion und Verwendung von Fachsprachen als störender empfunden: Würde die erkenntnistheoretische Rangfolge der Größen Wirklichkeit und Sprache umgekehrt und käme der Sprache das Apriori zu, dann würde, so die Befürchtung, der intuitiv sichere Zugriff auf die Wirklichkeit – die fachlichen Gegenstände bedingen die intellektuellen Vorstellungen, diese wiederum die sprachlichen Bezeichnungen – verlorengehen und einem Relativismus samt der damit einhergehenden begrifflich-terminologischen Unwägbarkeiten Tür und Tor geöffnet, der die praktische Handhabung des fachlichen Alltags in Frage stellen würde. (Gardt 1998: 51)

Folgt man Knobloch (1999: 230) und nimmt an, es sei ein verbreitetes philosophisches Vorurteil, dass wissenschaftliche Erkenntnis ein Prozess ist, „der sich zwischen dem erkennendem Individuum und dem erkannten ‚Gegenstand‘ abspielt“, dann würde für beinahe jede (geistes-)wissenschaftliche Forschung gelten, dass es kein wirkliches Phänomen zu beschreiben gibt, sondern dass wir alles nur selbst konstruieren. Damit wäre Erkenntnis kaum mehr möglich. Deutlich wird dies, betrachtet man Knoblochs (1999) Ausführungen, der seine konstruktivistische Position auch bezogen auf die Wissenschaft beibehält und die Wissenschaftssprache für tautologisch erklärt: Das landläufige Vorurteil läßt den Wissenschaftler, gleich welcher Disziplin, vorwiegend mit Termini arbeiten, die ihrerseits Namen von theoretisch wohldefinierten, im Gebäude des fachlichen Wissens wohlbestimmten und sicher lokalisierten Begriffen sind. Dazu kommen theoretische Vorschriften über Beziehungen und Beziehbarkeiten dieser Begriffe, die der (epistemologisch gesehen) wilden Syntax gewisse semantische Kombinationsrestriktionen auferlegen. Als Netz von wohldefinierten Symbolen plus festen Regeln zu ihrer Verknüpfung betrachtet ist eine jede Wissenschaftssprache (freilich ebenso wie die Alltagssprache, wenn es einem gefällt, sie unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten) eine höchst tautologische Angelegenheit. (Knobloch 1999, 230)

Obwohl diese Behauptung, die Gegenstände der Sprachwissenschaft seien eine rein sprachliche Konstruktion, bei manchen kulturwissenschaftlich ausgerichteten Sprachwissenschaftlern breite Zustimmung finden würde, suggerieren auch einige, die sonst eine klare konstruktivistische Position vertreten, die Korpuslinguistik, die Konstruktionsgrammatik, die Diskurslinguistik etc. haben

200 | Nina Kalwa solche fachspezifischen Gegenstände, die wir zu erkennen, zu beschreiben, also mit der Sprache abzubilden versuchen. In dieser Vorstellung von einer Fachsprache, die die präzise Erfassung eines Gegenstands beziehungsweise Sachverhalts ermöglicht, zeigt sich zugleich die Auffassung, verschiedene Varietäten könnten die Wirklichkeit in verschiedenen Graden der Exaktheit abbilden. Der Prozeß der Vergesellschaftung hat es mit sich gebracht, daß die Individuen entsprechend ihrer verschiedenen Erfahrungen, ihres spezifischen Wissensstandes und ihrer jeweiligen Interessen am widerzuspiegelnden Objekt die Wirklichkeit als Erkenntnisobjekt mehr oder weniger adäquat abbilden. Daraus ergibt sich ein konkreter Grad der Exaktheit bei der Darstellung der Realität. Dieser befindet sich im Schnittpunkt eines komplexen Beziehungsgefüges, in dem sowohl der Mensch als erkennendes und kommunizierendes Subjekt als auch die Wirklichkeit als Erkenntnisobjekt wichtige Bezugspunkte darstellen. (Baumann 1998: 373)

2.2 Exaktheit und Vagheit in der Wissenschaftssprache Als besonderes Charakteristikum der Wissenschaftssprache werden die Termini bezeichnet. Sie entsprechen den Idealen der Exaktheit, Eindeutigkeit, Kontextunabhängigkeit und evaluativen Neutralität von Wissenschaftssprache (vergleiche Baßler 2002). Als exakt gelten Fachwörter, weil sie definiert sind. Für eindeutig werden sie gehalten, weil ein Fachwort nur eine Bedeutung hat beziehungsweise einer Bedeutung nur ein Fachwort zugeordnet werden kann. Solche Fachwörter können/müssen auch ohne den (Satz-/Text-/ Situations-) Kontext verständlich sein, sie sind also kontextunabhängig. Als evaluativ neutral gelten sie schließlich, weil bei der Bildung solcher Fachwörter keine ästhetischen Grundsätze beachtet werden müssen und in sie keine Bewertungen einfließen. (Auer & Bassler 2007: 13–14)

Die Forderungen nach Exaktheit, Eindeutigkeit, Kontextunabhängigkeit und evaluativer Neutralität sind immer wiederkehrende Postulate in der Fachsprachenforschung und insbesondere Forderungen, die uns in der Auseinandersetzung mit Wissenschaftssprache begegnen. Vor allem im Exaktheitspostulat spiegelt sich die Auffassung, Wissenschaftssprache solle einen möglichst klaren Bezug zwischen den fachsprachlichen Ausdrücken und den Gegenständen und Sachverhalten herstellen. Die Eigenschaft der Exaktheit wird insbesondere von Seiten der traditionellen Fachsprachenforschung, die einem systemlinguistischen Inventarmodell verpflichtet ist, zu einem

Theorie, Methode oder Disziplin | 201 fachsprachlichen Ideal erhoben, das keine Ausnahmen in Form von Vagheit zulässt. (Roelcke 2010: 69; Hervorhebung im Original)

Neben der Forderung nach Exaktheit und der damit verbundenen Annahme der Gegenstandsbindung ist auch das Postulat der Eindeutigkeit prägend für die Wissenschaftssprache. Im Unterschied zum Postulat der Gegenstandsbindung geht es hier nicht um den Aspekt der sachlichen Adäquanz einer Bezeichnung, sondern um die eindeutige Zuordnung von Fachwort und Gegenstand bzw. Begriff: ‚Erst da, wo ein Wort in eine Benennung (von Definitionen) übergeht, […] entsteht Fachsprache.‘ (Seibicke 1959/1981: 60) Gefordert wird maximale zeichenrelationale Präzision. In der Terminologielehre macht man sogar die ‚Eindeutigkeit‘ zum Maßstab: Um einen unmissverständlichen Austausch über fachliche Inhalte zu gewährleisten, dürfe es für ein Fachwort nur eine Bedeutung geben und entsprechend für eine Bedeutung nur ein Fachwort (vgl. Beneš 1971: 130). (Steinhoff 2007: 13)

Innerhalb der Forschung dominiert die Annahme, Wissenschaftssprache solle exakt und eindeutig sein. Sachbezogenheit, Eindeutigkeit, Klarheit, Effizienz und Ökonomie einerseits, die Intentionen als Invarianten andererseits sind die substantiellen Universalien der Wissenschaftsund Fachsprachen. Sie werden durch konkrete sprachliche Mittel, die den gestellten Anforderungen und Bedingungen genügen, realisiert. Die konkreten sprachlichen Ausdrucksmittel und -formen stellen die formalen Universalien der wissenschaftlichen und fachbezogenen Sprachen dar. (Schwanzer 1981: 215)

Obwohl dieses hohe Maß an semantischer Präzision in der Fachsprache notwendig erscheint, kann gleichzeitig Vagheit nicht vollständig ausgeschlossen werden (vgl. von Hahn 1983: 98–106 oder auch Baumann 1998: 374). Während von Polenz (1981) die Jargonisierung der Wissenschaftssprache kritisiert, stellt von Hahn (1998: 379) fest, dass es in einer Fachdiskussion sogar nützlich sein kann, „zur Herstellung eines einheitlichen Kenntnisstandes zunächst sehr unbestimmt zu bleiben und dann im weiteren Verlauf der Diskussion zu immer präziseren Formulierungen überzugehen“ und stellt damit Vagheit als etwas Positives dar: Dieses trichterartige Vorgehen innerhalb derselben Sprache wird gerade dadurch ermöglicht, daß auch die Fachsprache unscharfe, vage oder unexakte Ausdrücke zuläßt und zwischen verschiedenen Exaktheitsebenen virtuos gewechselt werden kann. Man könnte die Vermutung äußern, daß innovatives problemlösendes Sprachverhalten genau mit dieser Fähigkeit verbunden ist. Oft macht auch der Fachmann die Erfahrung, daß, befindet er sich auf einer zu tiefen Ebene der Exaktheit, die Sicht auf Innovationen geradezu verstellt ist. (von Hahn 1998: 379)

202 | Nina Kalwa Diese Auffassung widerspricht jedoch dem von der traditionellen Fachsprachenforschung postulierten Ideal, Fachsprache habe exakt zu sein (Roelcke 2010: 69). Wenngleich die Wissenschaft selbstverständlich problemlösungsorientiert ist und somit sicherlich Vagheiten zulässt, so erscheint es uns dennoch zwingend notwendig, die von uns verwendeten Fachtermini möglichst exakt zu definieren: 4 Die Wissenschaften und die Fachsprachen überhaupt neigen nun dazu, die allgemeinsprachliche Typensemantik zu ersetzen durch eine Semantik, die mit scharf definierten Begriffen arbeitet, d.h. – im wörtlichen Sinne des Wortes definieren (lat. = ‚abgrenzen‘) – mit Begriffen, deren Anwendungsbereich genau bestimmbare Grenzen hat. (Ickler 1997: 44; Hervorhebungen im Original)

Da sich also das Exaktheitspostulat primär auf die Verwendung der Fachtermini niederschlägt, legt dieser Beitrag zur Wissenschaftssprache den Fokus auf den Fachwortschatz. Laut Roelcke ist ein Fachwort „die kleinste bedeutungstragende und zugleich frei verwendbare sprachliche Einheit eines fachlichen Sprachsystems, die innerhalb der Kommunikation eines bestimmten menschlichen Tätigkeitsbereichs im Rahmen geäußerter Texte gebraucht wird“ (Roelcke 2010: 56). Die Gliederung des Fachwortschatzes umfasst dabei vier Gruppen: Die erste Gruppe bildet dabei der intrafachliche Fachsprachwortschatz, der aus denjenigen Fachwörtern besteht, die ausschließlich der betreffenden Fachsprache angehören. Der interfachliche Wortschatz bildet die zweite Gruppe; es handelt sich dabei um solche Fachwörter, die sowohl in dem betreffenden als auch in anderen fachsprachlichen Systemen erscheinen. Die dritte Gruppe besteht aus dem extrafachlichen Fachsprachwortschatz, also denjenigen Fachwörtern, die anderen fachsprachlichen Systemen zugehören, aber dennoch in Fachtexten des betreffenden Faches geäußert werden. Und die vierte Gruppe schließlich umfasst den nichtfachlichen Fachsprachwortschatz dieser Texte, mit anderen Worten die Menge von deren allgemeinen und fachlich nicht weiter geprägten Wörtern. (Roelcke: 2010: 57; Hervorhebung im Original)

Ein Ausdruck wie Korpuslinguistik kann demnach dem intrafachlichen Fachsprachwortschatz zugeordnet werden, die Ausdrücke Theorie, Methode und Disziplin hingegen dem interfachlichen Fachwortschatz. Wollen wir bestimmen, was wir unter Korpuslinguistik verstehen, so machen wir dies, indem wir ihr eine Kategorie wie Theorie, Methode, Disziplin etc. zuordnen. Das heißt: Wir bestimmen intrafachliche Wörter, indem wir sie mithilfe interfachlicher Wörter definieren. Eine Diskussion über den Status der Korpuslinguistik ist somit eine || 4 Auch Roelcke (2012: 65) ordnet den Termini u.a. das Merkmal der Genauigkeit zu.

Theorie, Methode oder Disziplin | 203

Diskussion über den angemessenen interfachlichen Terminus. Auf diese Weise wird schließlich versucht, die Korpuslinguistik möglichst eindeutig zu kategorisieren. Die Betrachtung der lexikalisch-semantischen Dimension der Fachkommunikation hat deutlich gemacht, daß ein großer Teil der Lexik – die Fachterminologie – per definitionem festgelegt ist. Die Aufgabe der wissenschaftlichen Terminologie besteht darin, die im Fach exakt definierten bzw. durch Konventionen festgelegten Begriffe oder Gegenstände eindeutig zu bezeichnen (Roelcke 1991: 194ff). Folglich ist durch den Fachsprachengebrauch ein hohes Maß an (semantischer) Präzision bei gleichzeitiger Sprachökonomie möglich (Wüster 1970, 86). (Baumann 1998: 374; Hervorhebung im Original)

Roelcke (2012: 79) macht deutlich, dass die „Bedeutungen von Termini […] nicht absolut oder per se präzise oder vage [sind], sondern stets relativ zum System, in dem diese definitorisch bestimmt und terminologisch vernetzt sind.“ Somit kann die Exaktheit der Fachwörter nur bestimmt werden, indem man sich anschaut, wie sie im spezifischen Text definiert werden. Roelcke stellt unzureichende Formen der aristotelischen Definition 5 am Beispiel der Definition des Phonems vor. 1. 2.

3.

4.

Zirkeldefinitionen, in denen das Definiens im Definiendum erscheint: Ein Phonem ist ein Phonem mit bedeutungsunterscheidender Funktion; Definitionen in Form von echten Verneinungen: Ein Phonem ist kein Wort mit bedeutungsunterscheidender Funktion (hier könnte ebenso gut kein Satz, kein Tier oder kein Wille stehen); Definitionen, mit deren Definiens eine zu enge Festlegung erfolgt: Ein Phonem ist ein Vokal mit bedeutungsunterscheidender Funktion (Phoneme können auch von Konsonanten gebildet werden); Definitionen, mit deren Definiens eine zu weite Festlegung erfolgt: Ein Phonem ist eine sprachliche Einheit mit bedeutungsunterscheidender Funktion (auch Sätze und Wörter können eine bedeutungsunterscheidende Funktion einnehmen, sind aber keine einzelnen Laute). (Roelcke 2010: 62; Hervorhebung im Original)

Dem Beitrag liegt die Hypothese zugrunde, dass auch die Definitionen von Korpuslinguistik, Konstruktionsgrammatik und Diskursanalyse solche unzureichenden Definitionen sind und die Kategorien, in die diese Ansätze eingeordnet werden (nämlich zum Beispiel Theorie, Methode und Disziplin) häufig Plastikwörter darstellen. Im Folgenden wird das Konzept der Plastikwörter kurz dargestellt, bevor schließlich auf den Gebrauch der Wörter Theorie, Methode, Disziplin etc. in der internen Wissenschaftskommunikation eingegangen wird. || 5 Die Definition nach Aristoteles besteht aus einem Definiendum, einem Definitor und einem Definiens (vgl. weiterführend Roelcke 2010: 60–68).

204 | Nina Kalwa

3 Das Konzept der Plastikwörter Uwe Pörksen legt 19886 sein sprachkritisches Essay mit dem Titel Plastikwörter – Die Sprache einer internationalen Diktatur vor. Er beschreibt darin die Ausbreitung von aus der Wissenschaftssprache entlehnten Wörtern innerhalb der Umgangssprache. Diese Plastikwörter haben laut Janich (2010: 171) eine „vage Inhaltsseite“. Gemeint ist damit, dass im Gebrauch weniger die denotativen Bedeutungskomponenten im Vordergrund stehen, als vielmehr die evaluativen. Bei den Plastikwörtern verlassen wir uns […] darauf, dass sie sach- und fachbezogen sind und einen genau nachprüfbaren Sinn haben, ohne aber im konkreten Fall immer angeben zu können, was sie bedeuten und worauf sie sich beziehen. […] Sie dienen nicht zum Wecken von Emotionen, sondern verstärken den Eindruck wissenschaftlicher Qualität und Fundiertheit, sie wirken verlässlich und entpuppen sich doch meist als Luftblasen. (Janich 2010: 171)

Nach Roth (2009: 77) ist der Ausdruck Plastikwörter „selbst schon in den allgemeinen Wortschatz zumindest bildungsbürgerlich angehauchter und sprachinteressierter Kreise eingegangen“. In seiner Verwendungsweise zeige sich jedoch eine Erweiterung gegenüber der von Pörksen beschriebenen Bedeutung. Mit dem Etikett ‚Plastikwort‘ versehen Sprecher und Schreiber Phänomene, die ihnen aus den unterschiedlichsten Gründen verwerflich und damit bekämpfenswert erscheinen: weil sie undeutlich sind, weil sie aus englischem Sprachmaterial abgeleitet sind, weil sie inhaltsleer sind. Wenn sich dabei das kritisierte Phänomen nicht mehr allein an der Wortebene festmachen lässt, so wird eben – […] aus den ‚Plastikwörtern‘ kurzerhand eine ‚Plastiksprache‘. (Roth 2009: 78)

Roth ist der Meinung, dass sich Pörksens Konzept der Plastikwörter gut mit diskursanalytischen Studien verbinden lässt. Plastikwörter sind sprachliche Formate, deren Verlockung und Erfolg gerade darin besteht, dass ihre unauffällige und unmarkierte Wiederholung in den verschiedensten thematischen Zusammenhängen Frames etabliert, die wiederum zur diskursiven Bewältigung ganz unterschiedlicher Themen geeignet erscheinen (Roth 2009, 90).

Gerade diese Merkmale der Unauffälligkeit und Unmarkiertheit sind auch für die vorliegende Untersuchung interessant. Es stellt sich die Frage, ob die von Pörksen (1988) beschriebenen Plastikwörter tatsächlich ausschließlich ein Phänomen der Umgangssprache sind oder ob sie auch innerhalb der Wissen|| 6 Im Folgenden wird aus der zweiten Auflage zitiert, die ebenfalls im Jahr 1988 erschienen ist.

Theorie, Methode oder Disziplin | 205

schaftssprache vorkommen, obwohl diese postuliert, eine besonders eindeutige und exakte Sprache zu sein. In der Beispieldefinition in der Einleitung wurde die Korpuslinguistik sowohl als Disziplin als auch als eine Methode kategorisiert, obwohl – wie sich später noch zeigen wird – sich die lexikographische Bedeutung von Disziplin und Methode wesentlich unterscheidet. Es gilt nun zu überprüfen, ob diese Ausdrücke in der wissenschaftlichen Kommunikation als Plastikwörter gebraucht werden.

4 Zum Gebrauch der Ausdrücke Theorie, Methode und Disziplin in der sprachwissenschaftlichen Kommunikation Bei den folgenden Ausführungen handelt es sich um die Darstellung erster Vorüberlegungen und Probeanalysen, die noch weiterer Überprüfung bedürfen. Wie bereits in der Einleitung des Beitrags erwähnt, liegt den Ausführungen die Hypothese zugrunde, dass im Zuge des Etablierungsprozesses neuer Ansätze Vagheiten entstehen, die sich in Form von Plastikwörtern (Pörksen 1988) äußern. Im Folgenden konzentrieren sich die Darstellungen auf die Korpuslinguistik, Konstruktionsgrammatik und Diskurslinguistik. Seit geraumer Zeit kennen wir innerhalb der kulturwissenschaftlich ausgerichteten Sprachwissenschaft ein Phänomen, das wir als Korpuslinguistik bezeichnen. Was genau aber darunter zu verstehen ist, darüber herrscht bis dato keine Einigkeit. Ist Korpuslinguistik eine Methode oder eine eigenständige Disziplin? Während Berthele (2006: 7) konstatiert, die Korpuslinguistik sei „keine Theorie, sondern eine Methode, und zwar eine exzellente Methode“ und auch Scherer (2006: 2) angibt, Korpuslinguistik sei „neben der Befragung von Sprechern und Experimenten eine der Methoden, um Sprachgebrauch anhand von authentischen Sprachdaten zu untersuchen“, bezeichnet beispielsweise Sinclair (1998: 111) Korpuslinguistik als eine eigenständige Disziplin. In den zahlreichen korpuslinguistischen Arbeiten findet sich häufig ganz explizit die Frage danach, ob Korpuslinguistik eine Methode oder eine Disziplin ist. Auch im WikipediaArtikel Korpuslinguistik wird diese Frage aufgegriffen. 7 Der Anglist Joybrato

|| 7 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Korpuslinguistik, zuletzt abgerufen am 12.01.2014.

206 | Nina Kalwa Mukherjee (2009: 30) definiert Korpuslinguistik sogar als Methode und als Disziplin. Somit scheint die Zuordnung der Korpuslinguistik zu (mindestens) zwei Kategorien möglich: Sie kann sowohl als Disziplin als auch als Methode (oder auch als beides) definiert werden und eine eindeutige Zuordnung erscheint bisher nicht möglich. Laut Lemnitzer und Zinsmeister ist sogar der Übergang von einer Methode zu einer Disziplin möglich: Die linguistische Arbeit mit digitalen Textsammlungen hat sich in den letzten Jahren von einer Methode zu einer eigenen Disziplin der Linguistik gemausert. (Lemnitzer & Zinsmeister 2006: Klappentext)

Dies ist nun vor allem deshalb beachtenswert, weil die lexikographische Bedeutung von Disziplin und Methode sich so stark unterscheidet, dass eine einfache Abgrenzung nahe gelegt wird: Methode: 1. auf einem Regelsystem aufbauendes Verfahren zur Erlangung von [wissenschaftlichen] Erkenntnissen oder praktischen Ergebnissen 2. Art und Weise eines Vorgehens 8 Disziplin: 1. a) das Einhalten von bestimmten Vorschriften, vorgeschriebenen Verhaltensregeln o. Ä.; das Sicheinfügen in die Ordnung einer Gruppe, einer Gemeinschaft b) das Beherrschen des eigenen Willens, der eigenen Gefühle und Neigungen, um etwas zu erreichen 2. Wissenschaftszweig; Teilbereich, Unterabteilung einer Wissenschaft 3. Teilbereich, Unterabteilung des Sports; Sportart 9

Während also eine Methode ein Verfahren und die Art und Weise eines Vorgehens darstellt, wird die Disziplin u.a. als ein eigener Teilbereich, einer Unterabteilung einer Wissenschaft definiert. 10 Laut diesen Definitionen müsste somit eindeutig unterscheidbar sein, ob etwas eine Methode oder eine Disziplin darstellt. Die zahlreichen wissenschaftstheoretischen Überlegungen, was eine Disziplin im Kern ausmacht, fasst Stichweh (2013: 17) wie folgt zusammen:

|| 8 http://www.duden.de/rechtschreibung/Methode, zuletzt abgerufen am 07.03.2014. 9 http://www.duden.de/rechtschreibung/Disziplin, zuletzt abgerufen am 07.03.2014. 10 Die anderen vorgeschlagenen Definitionen von Disziplin beziehen sich ganz offensichtlich auf eine andere Lesart und werden deshalb in den Überlegungen nicht berücksichtigt.

Theorie, Methode oder Disziplin | 207 Zur Identifizierung und Charakterisierung einer »Disziplin« verweisen wir typischerweise: 1) auf einen hinreichend homogenen Kommunikationszusammenhang von Forschern – eine »scientific community«; 2) auf einen Korpus wissenschaftlichen Wissens, der in Lehrbüchern repräsentiert ist, d.h. sich durch Kodifikation, konsentierte Akzeptation und prinzipielle Lehrbarkeit auszeichnet; 3) eine Mehrzahl je gegenwärtig problematischer Fragestellungen; 4) einen »set« von Forschungsmethoden und paradigmatischen Problemlösungen; 5) eine disziplinenspezifische Karrierestruktur und institutionalisierte Sozialisationsprozesse, die der Selektion und »Indoktrination« des Nachwuchses dienen. (Hervorhebung im Original)

Ein Kennzeichen wissenschaftlicher Disziplinen ist demzufolge, dass sie sich einer oder mehrerer Methoden bedient. Um zu unterscheiden, ob Korpuslinguistik nun eine Methode oder eine Disziplin ist, könnte also unter anderem die Beantwortung der Frage danach helfen, ob sie nun ein eigenes Vorgehen darstellt oder ob sich ihr wiederum bestimmte (verschiedene) Verfahren zuordnen lassen, mit denen Erkenntnisse gewonnen werden können. Vielleicht nachdem sich die Korpuslinguisten genau diese Frage gestellt haben, kommen schließlich die meisten zu einer genauen Festlegung, welcher Kategorie die Korpuslinguistik zugeordnet werden muss. Eine der für die kulturwissenschaftlich ausgerichtete Sprachwissenschaft bedeutendsten Arbeiten, die sich mit Korpuslinguistik beschäftigt, ist die Dissertation Bubenhofers aus dem Jahr 2009. Bubenhofer legt gleich im Untertitel seiner Arbeit fest, was Korpuslinguistik aus seiner Sicht darstellt: Sprachgebrauchsmuster – Korpuslinguistik als Methode der Diskurs- und Kulturwissenschaft. Trotz dieser scheinbar eindeutigen Zuordnung kommt jedoch Reichel (2010) in ihrer Rezension Bubenhofers (2009) zu einem anderen Schluss: Die Arbeit fasst die Korpuslinguistik grundsätzlich nicht als Instrument für die Linguistik, sondern als eigenständige Disziplin auf.

Eigenständige Disziplin – wie kommt Reichel zu diesem Schluss, obwohl Bubenhofer Korpuslinguistik im Untertitel seiner Arbeit ganz eindeutig als Methode definiert? Möglicherweise lässt sich ihre Interpretation erklären, wenn man beachtet, dass Bubenhofer selbst nicht auf seiner Position verharrt: Die Korpuslinguistik ist aber weit mehr als ein Methodenapparat und Werkzeugkasten. Ihre Art der Sprachanalyse führte zu wichtigen Paradigmenwechseln in der linguistischen Theorie: Stichwort ist hier das Prinzip der ‚corpus-‘ oder ‚data-driven‘ Korpuslinguistik, die mitunter traditionelle Sichtweisen auf Sprache auf den Kopf stellt. Dieser Paradigmenwechsel kommt einer linguistischen Diskursanalyse sehr entgegen […]. (Bubenhofer 2009: 97)

208 | Nina Kalwa Entgegen seiner im Untertitel des Buches vorgenommenen Zuordnung hebt Bubenhofer schließlich hervor, dass diese doch mehr sei als ein Methodenapparat. Die Äußerung, dass die Korpuslinguistik zu einem wichtigen Paradigmenwechsel führt, hat Reichel eventuell zu der Schlussfolgerung kommen lassen, dass Bubenhofer diese als eine Disziplin begreift. Auch Textpassagen wie die folgenden können zu diesem Eindruck beitragen: 1.

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In der Linguistik wird schon seit geraumer Zeit mit Textkorpora, also Sammlungen von Text, gearbeitet. Was die moderne (elektronische Korpuslinguistik jedoch davon unterscheidet, ist Folgendes: 1. In der Korpuslinguistik wird wann immer möglich mit großen Textmengen gearbeitet. (…) 2. In der Korpuslinguistik liegt das Interesse nicht bei einzelnen Texten, sondern beim Sprachgebrauch in großen Textgruppen. 3. Damit wird die Korpuslinguistik als empirisch verstanden und es wird mit quantitativen Methoden gearbeitet. (Bubenhofer 2009: 16) Die Korpuslinguistik hat mit der corpus-driven-Perspektive eine Perspektive eingenommen, die genau eine solche Korpusbefragung ermöglicht. (Bubenhofer 2009: 99)

Auch wenn Bubenhofer an dieser Stelle die Korpuslinguistik nicht direkt einer Kategorie zuordnet, legt die Verwendungsweise von Korpuslinguistik an dieser Stelle nahe, sie als eine Teildisziplin der Sprachwissenschaft aufzufassen. Wenn die Korpuslinguistik eine Methode wäre, so erscheint die Formulierung In der Korpuslinguistik wird mit großen Textmengen gearbeitet, in der Korpuslinguistik liegt das Interesse nicht bei einzelnen Texten (Beispiel 1) unschlüssig. Die syntaktische Verwendungsweise von Korpuslinguistik legt hier eine Interpretation nahe, den Ansatz als Disziplin zu begreifen. Dies ist auch dann der Fall, wenn ausgesagt wird, dass mit quantitativen Methoden gearbeitet wird, – schließlich kann die Korpuslinguistik doch eigentlich nicht mit Methoden arbeiten, wenn sie selbst eine darstellt – oder aber die Korpuslinguistik eine Perspektive einnimmt (Beispiel 2) Nicht nur im Zusammenhang mit Bubenhofers Dissertation kommt es bezogen auf die Korpuslinguistik zu solch unterschiedlichen Zuordnungen. Perkuhn et al. (2012: 9) geben im ersten Kapitel ihres Einführungsbandes Korpuslinguistik an, dass sie „erst gar nicht versuchen, diesen Begriff [Korpuslinguistik] exakt zu definieren, weder hier im ersten Kapitel noch an anderer Stelle in diesem Buch.“ Ganz explizit verneinen sie damit die Forderung nach Exaktheit. Im weiteren Verlauf des Textes nehmen sie dennoch Zuordnungen zu ganz unterschiedlichen Kategorien vor:

Theorie, Methode oder Disziplin | 209 1.

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Die Wortbildung »Korpuslinguistik« lässt bereits vermuten, dass dieses Fach sich nahe zur Linguistik, zur Sprachwissenschaft sieht und sich demzufolge auch mit Sprache beschäftigt. (Perkuhn et al. 2012: 9; Hervorhebungen im Original) Wir möchten Ihnen in diesem Kurs einige Gedanken zur Korpuslinguistik in diesem Sinne nahebringen: im Sinne von Korpuslinguistik als Methodologie (und nicht als Werkzeugkasten), und diese zunächst mit einigen Zitaten vorbereiten. (Perkuhn et al. 2012: 19; Hervorhebungen im Original) Das Buch vermittelt Grundlagen und Möglichkeiten der Korpuslinguistik als Methodik (…) (Perkuhn et al. 2012: Klappentext) Korpora in der Korpuslinguistik (Perkuhn et al. 2012: 45) In der Sprachwissenschaft dienen Korpora als empirische Grundlage und speziell in der Korpuslinguistik als eine Stichprobe (eines Ausschnitts) des Sprachgebrauchs. (Perkuhn et al. 2012: 45; Hervorhebungen im Original) In der Korpuslinguistik interessiert man sich für die mögliche Assoziation eines Wortes (bzw. einer Struktur) mit anderen sprachlichen oder auch außersprachlichen Objekten. (Perkuhn et al. 2012: 101) Das Buch vermittelt Grundlagen und Möglichkeiten der Korpuslinguistik als sprachwissenschaftliche Methode. 11

Korpuslinguistik wird hier als Fach (1), als Methodologie (2), als Methodik (3) bezeichnet. In den Werbeanzeigen für den Einführungsband wird zudem von Korpuslinguistik als Methode (7) gesprochen. Damit wird Korpuslinguistik Hyponym ganz unterschiedlicher Hyperonyme, die sich nicht in gleicher Weise für das Lexem Korpuslinguistik einsetzen lassen, wenn man sich die syntaktische Verwendung des Lexems ansieht. Betrachtet man zum Beispiel Satz 6, so wird deutlich, dass die Kategorien Methode und Methodik nicht anstelle von Korpuslinguistik stehen können. Methodologie und Fach hingegen wären möglich: In der *Methode, *Methodik, Methodologie, im Fach interessiert man sich für die mögliche Assoziation eines Wortes. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es zum einen ganz unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, ob Korpuslinguistik eine Methode oder eine Disziplin darstellt. Zum anderen zeigen sich sogar innerhalb einzelner Positionen Unstimmigkeiten. Einerseits scheint es also ein Klärungsbedürfnis zu geben, was genau unter Korpuslinguistik zu verstehen ist, und auf der anderen Seite scheint dies noch nicht eindeutig festlegbar zu sein. Die Unsicherheit bei der Zuordnung zu einer Kategorie, d.h. bei der Festlegung eines Hyperonyms, findet sich allerdings nicht nur bei der Auseinandersetzung mit der Korpuslinguistik. Auch die Zuordnung der Konstruktionsgram|| 11 http://books.google.de/books/about/Korpuslinguistik.html?id=mdq9Ky5N7NAC&redir_ esc=y oder http://www.buchhandel.de/detailansicht.aspx?isbn=9783825234331, beide zuletzt abgerufen am 03.02.2014, u. v. m.

210 | Nina Kalwa matik zu einer Kategorie ist keineswegs einheitlich. Ziem und Lasch (2013: 1) definieren in der Einleitung ihrer Monographie Konstruktionsgrammatik wie folgt: Die Konstruktionsgrammatik unterscheidet sich von anderen linguistischen Grammatikmodellen (wie der Transformationsgrammatik, der Valenzgrammatik, der Kategorial- und Montague-Grammatik) insbesondere durch das Ziel, ein umfassendes Modell sprachlicher Strukturen zu entwickeln, das nicht nur den Status einer allgemeinen Theorie der Repräsentation, des Erwerbs und Wandels sprachlichen Wissens hat, sondern darüber hinaus den Anspruch erhebt, psychologisch plausibel und kognitiv ‚real‘ zu sein. Anders als in transformationsgrammatischen Ansätzen geht die Konstruktionsgrammatik dabei von einer ‚monostratalen‘ und oberflächenorientierten Grammatik aus […].

Die Konstruktionsgrammatik wird also definiert als Grammatikmodell, das sich zum Ziel setzt ein Modell zu entwickeln. Wie aber kann ein Modell ein (anderes) Modell entwickeln? Zumindest das als Teil des Determinativkompositums gebrauchte -modell scheint hier wie ein Platzhalter zu fungieren. Wieder zeigen sich Unsicherheiten bei der Festlegung, was genau denn nun unter Konstruktionsgrammatik zu verstehen ist. Diese Unsicherheit findet sich auch in anderen Arbeiten: Die Konstruktionsgrammatik ist eine vergleichsweise junge linguistische Theorie, oder vielmehr Bündel linguistischer Theorien, die die Annahme miteinander teilen, dass Morphologie, Lexikon und Grammatik einer Sprache vollständig als Inventar von Zeichen, also Form-Bedeutungspaaren, beschrieben werden können, wobei „Bedeutung“ hier Semantik und Pragmatik umfasst. Solche Zeichen werden als (grammatische) Konstruktionen bezeichnet. (Fischer & Stefanowitsch 2008a: 1)

Und zwei Seiten später definieren die Autoren noch einmal: Die Konstruktionsgrammatik ist derzeit (noch) keine einheitliche linguistische Theorie, sondern eher eine Familie von Theorien […] (Fischer & Stefanowitsch 2008b: 3)

Für Fischer und Stefanowitsch ist die Konstruktionsgrammatik am ehesten der Kategorie Theorie zuzuordnen. Dies kann jedoch anscheinend (noch) nicht wirklich belegt werden. Gleichzeitig präsupponiert das noch, dass es die Autoren eine Entwicklung der Konstruktionsgrammatik zu einer Theorie für wahrscheinlich halten. Was nun ist aber der entscheidende Faktor, der der Konstruktionsgrammatik noch fehlt, um als Theorie gelten zu können? Wann wird festgelegt und wer legt fest, ob etwas die notwendigen Kriterien erfüllt, um eine Theorie zu sein? In den bisher diskutierten Auszügen aus den Beiträgen zur Konstruktionsgrammatik konkurrierten die Kategorien Modell und Theorie. Beide finden sich auch in der Definition von Wikipedia wieder:

Theorie, Methode oder Disziplin | 211 Der Begriff Konstruktionsgrammatik (construction grammar, CxG) bezieht sich auf eine „Familie“ grammatischer Theorien oder Modelle, die von der Vorstellung ausgehen, dass die grundlegenden Einheiten der Grammatik nicht atomare syntaktische Einheiten und deren Kombinationsregeln sind, sondern sogenannte Konstruktionen. 12

Es handelt sich somit entweder um eine Familie von Theorien oder um eine Familie von Modellen. Fischer (2008: 81–82) definiert die Konstruktionsgrammatik wiederum sowohl als Modell als auch als Theorie: Die Konstruktionsgrammatik versteht sich als ein verwendungsbasiertes Modell von Sprache, das eine einheitliche Beschreibung sowohl von Form- als auch von semantischen und pragmatischen Bedeutungsaspekten von sprachlicher Einheiten erlaubt (siehe Fillmore et al.: 1988). […] Die Konstruktionsgrammatik in Verbindung mit dem Fillmoreschen Semantikkonzept versteht sich daher als umfassende Sprachtheorie ohne Sicherheitsnetz […].

An diesen Beispielen wird deutlich, dass es sowohl bei der Etablierung der Korpuslinguistik als auch bei der Etablierung der Konstruktionsgrammatik Unsicherheiten bezüglich der Zuordnung zu einer Kategorie wie Methode, Theorie, Modell oder Disziplin gibt. Trotzdem werden scheinbar eindeutige Kategorisierungen vorgenommen. Dass diese Vagheiten und Unsicherheiten keineswegs nur neuere linguistische Ansätze betreffen, soll zum Abschluss an einer bereits etablierten linguistischen Disziplin gezeigt werden, nämlich der linguistischen Diskursanalyse. Alle folgenden Beispiele finden sich in einem Aufsatz, der bei ihrer Etablierung der Diskursanalyse eine entscheidende Rolle gespielt hat. In ihrem bekannten Aufsatz aus dem Jahr 1994 stellen sich Dietrich Busse und Wolfgang Teubert die Frage, ob Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt ist. 1.

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Im folgenden sollen die Grundprinzipien einer linguistischen Diskursanalyse dargelegt werden, wie sie unseres Erachtens für eine künftige, als spezifisch linguistische Forschungsperspektive und Methodik erst noch zu etablierende diskurssemantische Forschung fruchtbar sein könnten. (Busse & Teubert 1994: 13) (Das ist eigentlich eine philologische Binsenweisheit; und es ist schon erstaunlich, daß eine Eigenständigkeit der semantischen Diskursanalyse oft bestritten wird, nur weil sie sich auch – aber nicht nur – herkömmlicher wortsemantischer und begriffsgeschichtlicher Methoden bedient.) (Busse & Teubert 1994: 13; Hervorhebung im Original) Vor allem diese Ebene der Diskursanalyse greift über bisherige linguistische Methoden teilweise hinaus, obwohl sie auf den mittlerweile etablierten Ansätzen der Satz-

|| 12 http://de.wikipedia.org/wiki/Konstruktionsgrammatik, zuletzt abgerufen am 20.01.2014, Hervorhebungen im Original.

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semantik und Textsemantik aufbaut. So gesehen könnte Diskursanalyse auch als eine Form der Wort-, Satz- oder Textsemantik angesehen werden, die Beziehungen zwischen Wort- oder Satzbedeutungen und Texten auch dann analysiert, wenn die Bezugsgrößen aus verschiedenen Texten stammen sollten. (Busse & Teubert 1994: 22) Zumindest ein Teil der Intentionen der französischen Diskursanalyse scheint uns auf einen semantischen Phänomenbereich zu zielen, der in der deutschen Linguistik mit dem Begriff "Argumentationsanalyse" bezeichnet wird. So gesehen liegen Diskursanalyse und etablierte linguistische Methoden gar nicht so weit auseinander, wie es manchmal den Anschein haben mag. (Busse & Teubert 1994: 23) Wenn auch die Diskursanalyse, insoweit sie nicht allein Begriffsanalyse, sondern auch Aussagenanalyse ist, den interpretativen Charakter ihrer Ergebnisse nicht leugnen kann, bedient sie sich doch objektivierbarer Methoden der linguistischen Satz- und Textanalyse, die den Vorwurf der Willkürlichkeit vielleicht entkräften können. (Busse & Teubert 1994: 23) Linguistische Diskursanalyse unterscheidet sich von den etablierten sprachwissenschaftlichen Disziplinen der Lexikologie, Lexikographie, Wort-, Satz- und Textsemantik also nicht so sehr in ihren Methoden; sondern der Unterschied besteht hauptsächlich in ihrer anderen Zielsetzung und in ihrer anderen Auswahl der untersuchten Bezugsgrößen, also etwa in der Zusammenstellung des Korpus oder in der Untersuchung von semantischen Beziehungen im Wortschatz bzw. innerhalb von Aussagegefügen über die Textgrenzen hinweg. (Busse & Teubert 1994: 26–27) Da dies offenkundig (und aus guten Gründen) heute nicht mehr zur Debatte steht, sollte auch die mit linguistischen Methoden arbeitende Diskursanalyse als eine mögliche Variante sprachwissenschaftlicher Forschung akzeptiert werden. (Busse & Teubert 1994: 27) Linguistisch-semantische Diskursanalyse unterscheidet sich schließlich von der vieldiskutierten, als Methode akzeptierten und seit vielen Jahren praktizierten Begriffsgeschichte v.a. durch eine andere Zielsetzung (sie ist nicht lexemgebunden), eine andere Quellenauswahl oder zumindest andere Kriterien bei der Auswahl und Zusammenstellung des Korpus (nicht durch das Vorhandensein einer Leitvokabel vorgegeben), und schließlich eine stärkere Berücksichtigung von semantischen Querbeziehungen, Begriffs-, Aussage- und Wissenselemente-Netzen (auch über Textund Epochengrenzen hinweg). (Busse & Teubert 1994: 27)

An verschiedenen Stellen sprechen Busse und Teubert hier von der linguistischen Diskursanalyse, jedoch an keiner Stelle von einer Diskurslinguistik. Es wäre noch zu prüfen, inwiefern die Ausdrücke linguistische Diskursanalyse und Diskurslinguistik in der gegenwärtigen Forschung eigentlich synonym gebraucht werden. 13 Gleich zu Beginn konstatieren Busse und Teubert, dass sie im Folgen|| 13 Auch Gardt (2007) fragt sich, ob die Diskursanalyse Theorie, Methode oder Haltung ist und kommt zu dem Schluss, dass sie allen drei Kategorien zugeordnet werden kann. Anders als Busse und Teubert (1994) zieht er nicht die Kategorie Disziplin in Erwägung. Auch dies legt die Hypothese nahe, dass sich in der Sprachwissenschaft mittlerweile der Begriff Diskurslinguistik

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den die Grundprinzipien einer linguistischen Forschung darlegen, die für sie eine als spezifische Forschungsperspektive und Methodik noch zu etablierende Forschung darstellt. Damit legen sie nahe, die linguistische Diskursanalyse als eine Teildisziplin der Sprachwissenschaft zu begreifen (1). Dieselbe Auffassung wird auch in Beispiel 2, 3, 5 und 7 deutlich, wenn gesagt wird, die Diskursanalyse bediene sich Methoden (2 und 5), arbeite mit Methoden (7) oder sie greife über Methoden hinaus (3). Aus Beispiel 4 hingegen geht hervor, die linguistische Diskursanalyse selbst als Methode aufzufassen: Die Diskursanalyse und etablierte Methoden liegen nicht weit auseinander. Beispiel 8 schließlich erlaubt verschiedene Interpretationen: Linguistisch-semantische Diskursanalyse unterscheidet sich schließlich von der vieldiskutierten, als Methode akzeptierten und seit vielen Jahren praktizierten Begriffsgeschichte v.a. durch eine andere Zielsetzung […] könnte zum einen präsupponieren, dass die Diskursanalyse mehr als eine Methode ist, weil sie sich von der Begriffsgeschichte unterscheidet, die wiederum eindeutig als Methode bezeichnet wird. Zum anderen könnte auch gemeint sein, dass die linguistisch-semantische Diskursanalyse ebenfalls eine Methode ist, die jedoch andere Zielsetzungen verfolgt und sich noch nicht etabliert hat. Die Überschrift des gesamten Kapitels – Diskurs- und Begriffsgeschichte als linguistische Methode (Busse & Teubert 1994: 25) – spricht für eine Interpretation als Methode, der Kotext legt aber eine Interpretation als Disziplin genauso nahe. Beispiel 6 hingegen lässt eindeutig darauf schließen, die linguistische Diskursanalyse sei eine (noch nicht etablierte) Disziplin, wenn ausgesagt wird, dass sie sich von etablierten Disziplinen unterscheide. Damit konkurrieren in diesem Aufsatz erneut die Kategorien Disziplin und Methode miteinander. Auch Busse und Teubert nehmen keine eindeutige Definition vor und präsupponieren an verschiedenen Stellen Zuordnungen zu unterschiedlichen Kategorien.

5 Theorie, Methode, Disziplin. Plastikwörter in der Germanistischen Sprachwissenschaft? Wann immer sich ein neues Phänomen in eine Wissenschaft zu etablieren versucht, muss deutlich gemacht werden, als was dieses aufzufassen ist. Die vorgestellte Analyse hat gezeigt, dass es zu Beginn des Etablierungsprozesses bei der Zuordnung der Korpuslinguistik, der Konstruktionsgrammatik und der linguis|| als Bezeichnung für eine Disziplin etabliert hat, während die Diskursanalyse, wie Gardt konstatiert, als Methode, Theorie oder Haltung aufgefasst werden kann.

214 | Nina Kalwa tischen Diskursanalyse zu einer Kategorie wie Methode, Theorie, Modell oder Disziplin zu Unsicherheiten kommt. Es scheint, als wollten die Verfasser der wissenschaftlichen Beiträge das Exaktheitspostulat erfüllen und ihr Phänomen möglichst präzise definieren. Diese exakte Definition ist jedoch ganz offensichtlich zu Beginn der Etablierung eines jeweiligen Ansatzes noch nicht möglich. Aber sind die Ausdrücke Methode, Theorie, Disziplin und Modell als Plastikwörter innerhalb der Sprache der Sprachwissenschaft aufzufassen? Nach Pörksen (1988) sind Plastikwörter ein Phänomen der Umgangssprache. Deren wesentliches Kennzeichen ist ein Missverhältnis von einem dominierenden Konnotat gegenüber einem fast nicht mehr vorhandenem Denotat (vgl. Roth 2009: 80). Betrachtet man den Gebrauch von Methode, Theorie, Disziplin und Modell, wird deutlich, dass diese Eigenschaft jedoch nicht zutrifft. Sie haben kein abgeschwächtes Denotat und es verstärken sich auch nicht die evaluativen Bedeutungskomponenten. Vielmehr scheint es, als würden die Grenzen zwischen den Bedeutungen der verschiedenen Kategorien immer unschärfer. Will man Korpuslinguistik, Konstruktionsgrammatik oder die linguistische Diskursanalyse definieren, so kommt für das Definiens nur eine begrenzte Anzahl an Bezeichnungen für Kategorien in Betracht: Neben Theorie, Methode und Disziplin könnte man vielleicht noch Ausdrücke wie Fach, Programm oder den etwas allgemeineren Ausdruck Ansatz in Erwägung ziehen. Sicherlich lassen sich noch einige weitere Kategorien finden, jedoch sind eben diese Bezeichnungen nicht willkürlich, sondern durch Ähnlichkeiten in einzelnen denotativen Bedeutungskomponenten verbunden. Wenngleich sich im Gebrauch der Lexeme quasi eine verminderte denotative Bedeutung zeigt – beispielsweise im Kontrast zu der lexikographischen Bedeutung – und dabei die Grenzen zwischen den Bedeutungen von Theorie, Methode, Disziplin etc. verschwimmen, so stellen sie dennoch keine „Luftblasen“ (Janich 2010: 171) dar. Der Begriff des Plastikworts – wie ihn Pörksen versteht – beinhaltet zudem eine sprachkritische Position, die nicht ohne weiteres auf die Beschreibung der Wissenschaftssprache übertragen werden kann. Mir erscheint diese Vagheit bei der Definition von noch zu etablierenden Ansätzen als eine Notwendigkeit. Sie ergibt sich quasi automatisch aus folgendem Widerspruch: Einerseits kann erst nach Abschluss des Aushandlungsprozesses sicher deutlich gemacht werden, als was die zu beschreibenden Ansätze denn nun innerhalb der Sprachwissenschaft fungieren. Andererseits existiert in der Fachsprachenforschung das Postulat der Exaktheit. Will man einen neuen Ansatz legitimieren, so geschieht das nicht zuletzt dadurch, dass er (scheinbar) exakt definiert werden kann. In Kapitel 2.2 wurden verschiedene unklare Definitionen nach Roelcke (2010) vorgestellt. Es handelt sich dabei um Zirkeldefinitionen, Definitionen in Form von echten Verneinungen, Definitionen mit einem zu eng festgelegten

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Definiens und Definitionen mit einem zu weit festgelegten Definiens (vgl. Roelcke 2010: 62). Die Analyse hat gezeigt, dass hier keine der genannten Phänomene zutrifft, obgleich bei den vorgestellten Kategorisierungen der Ansätze Korpuslinguistik, Konstruktionsgrammatik und Diskurslinguistik auch eine unzureichende Variante der aristotelischen Definition (vgl. Roelcke 2010: 62) vorgenommen wurde. Hier müsste die Liste erweitert werden, denn es handelt sich bei den diskutierten Beispielen um Definitionen mit einem scheinbar klaren Definiens.

6 Fazit Der vorliegende Beitrag hat die Frage gestellt, ob die Wissenschaftssprache als die eigentlichste Sprache gewertet werden kann oder ob sich dort auch uneigentliches Sprechen in Form von Plastikwörtern findet. Bereits die Auseinandersetzung mit der Fachsprachenforschung hat gezeigt, dass die Wissenschaftssprache nicht genuin exakt ist und Vagheiten zulässig sind. Dennoch wird die Exaktheit zu einem Ideal erhoben, dem man besonders nahe kommen möchte. Die Analyse hat deutlich gemacht, dass (Sprach-)Wissenschaftler dieser Forderung nach Exaktheit von Beginn eines Etablierungsprozesses an nachkommen wollen, obwohl zu diesem Zeitpunkt eine eindeutige Zuordnung zu einer Kategorie noch gar nicht möglich ist. Dies führt dazu, dass sich die Bedeutungen der Ausdrücke Theorie, Methode und Disziplin (sowie weitere Bezeichnungen solcher Kategorien) innerhalb des Aushandlungsprozesses annähern und die Begriffe nicht mehr scharf voneinander abgegrenzt werden. Die These, diese Wörter würden zu Plastikwörtern in der Wissenschaft, hat sich dennoch nicht bestätigt. Denn Plastikwörter zeichnen sich durch ein das Denotat dominierendes Konnotat aus, was auf die untersuchten Begriffe nicht zutrifft. Zudem beinhaltet das Konzept der Plastikwörter eine sprachkritische Position, die mit diesem Beitrag nicht vertreten wird. Es wird vielmehr angenommen, dass die vagen Definitionen innerhalb des Etablierungsprozesses notwendig erscheinen. D.h.: Auch die Wissenschaftssprache enthält Formen uneigentlichen Sprechens, die nicht negativ zu bewerten, sondern vielmehr unvermeidlich sind.

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7 Literatur 7.1 Quellentexte Bubenhofer, Noah (2009): Sprachgebrauchsmuster. Korpuslinguistik als Methode der Diskursund Kulturanalyse. Berlin, New York: de Gruyter. Busse, Dietrich & Wolfgang Teubert (1994): Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? Zur Methodenfrage der historischen Semantik. In: Dietrich Busse, Fritz Hermanns & Wolfgang Teubert (Hrsg.): Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik, Opladen: Westdeutscher Verlag, 10– 28. Fischer, Kerstin (2008): Die Interaktion zwischen Konstruktionsgrammatik und Kontextwissen am Beispiel des Satzmodus in Instruktionsdialogen. In: Kerstin Fischer & Anatol Stefanowitsch (Hrsg.): Konstruktionsgrammatik II. Von der Konstruktion zur Grammatik. 2. Aufl. Tübingen: Stauffenburg. Fischer, Kerstin & Anatol Stefanowitsch (2008a): Vorwort. In: Kerstin Fischer & Anatol Stefanowitsch (2008) (Hrsg.): Konstruktionsgrammatik I. Von der Anwendung zur Theorie. 2. Aufl. Tübingen: Stauffenburg, 1–2. Fischer, Kerstin & Anatol Stefanowitsch (2008b): Konstruktionsgrammatik: Ein Überblick. In: Kerstin Fischer & Anatol Stefanowitsch (Hrsg.): Konstruktionsgrammatik I. Von der Anwendung zur Theorie. 2. Aufl. Tübingen: Stauffenburg, 3–18. Perkuhn, Rainer, Holger Keibel & Marc Kupietz (2012): Korpuslinguistik. Paderborn: Fink. Reichel, Sibylle (2010): Rezension zu Noah Bubenhofer (2009): Sprachgebrauchsmuster. Korpuslinguistik als Methode der Diskurs- und Kulturanalyse. Linguistik online 42.2. Online-Zugriff über: http://www.linguistik-online.de/42_10/reichel.html Ziem, Alexander & Alexander Lasch (2013): Konstruktionsgrammatik. Konzepte und Grundlagen gebrauchsbasierter Ansätze. (Germanistische Arbeitshefte 44): Berlin, Boston: De Gruyter.

Internetquellen http://www.computerlinguistik.org/portal/portal.html?s=Korpuslinguistik http://books.google.de/books/about/Korpuslinguistik.html?id=mdq9Ky5N7NAC&redir_esc=y http://www.buchhandel.de/detailansicht.aspx?isbn=9783825234331 http://de.wikipedia.org/wiki/Konstruktionsgrammatik

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III Sprache und Referenz

Ekkehard Felder

Wes Geistes Kind oder Von der Sprache der Eigentlichkeit zur sprachgebundenen Authentizität Überlegungen zum Verhältnis von Sprache und Wahrheit || Universität Heidelberg, Hauptstraße 207–209, 69117 Heidelberg, [email protected]

Perspektivität ist der Realismus der Wahrnehmung. (Rombach 1980: 187)

1 Einleitung „An der Sprache erkennt man die Denke einer Person“. Diese verkürzte und saloppe Formel pointiert die Indikatorfunktion von Sprache. Ihr zufolge ist (in bestimmten Fällen) eine zu verurteilende Denkungsart anhand der ausgewählten sprachlichen Mittel zu identifizieren. Dieser Gedanke verbirgt sich hinter der heute noch verbreiteten Redensart Wes Geistes Kind, die im biblischen Kontext (Lk 9,55) allerdings nicht abwertend konnotiert ist. Das Erkenntnisinteresse meines Beitrags lässt sich in dem folgenden Gedankengebäude Humboldt’scher Provenienz verorten: Der Mensch lebt mit den Gegenständen hauptsächlich, ja, da Empfinden und Handeln in ihm von seinen Vorstellungen abhängen, sogar ausschließlich so, wie die Sprache sie ihm zuführt.“ (v. Humboldt 1827–1829/31963: 224) Dieses Zitat weist Sprache eine, wenn nicht sogar die zentrale Rolle bei der Bearbeitung der kulturellen Grundsatzfrage zu: Wie lässt sich die Welt der Gegenstände und Sachverhalte (Objektsphäre) mit Hilfe von natürlichsprachlichen Zeichen in Verbindung bringen mit der Welt des Denkens und Wissens (Wirklichkeitswahrnehmung/-verarbeitung des Subjekts)? Und wie sind in der Triade Sprache – Sprecher – Welt das Moment der Eigentlichkeit und das Verhältnis der einzelnen Komponenten (untereinander) zu verorten?

222 | Ekkehard Felder

2 Wahrheit und Sprache Es gibt kaum eine grundlegendere Frage des Menschen als die nach der Wahrheit (Gardt 2008). Das ist unmittelbar einleuchtend. Denn mit Fragen nach der Wahrheit, dem Richtigen, dem Gültigen sind Entscheidungen verbunden. Wie sollen wir denn entscheiden, wenn wir nicht wissen, woran wir uns orientieren können und sollen? Diesen Gesichtspunkt möge das folgende Beispiel illustrieren: Bertolt Brecht machte sich im Exil in einer Veröffentlichung aus dem Jahre 1935 Gedanken über „Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“. In diesem Text formulierte er den prägnanten Satz: „Wer in unserer Zeit statt Volk Bevölkerung [...] sagt, unterstützt schon viele Lügen nicht“ (Brecht 1935/1993: 81). Was er damit meinte, ist auch heute leicht zu verstehen. Ausdruck und Begriff Volk seien – trotz einer langen Tradition – zwischenzeitlich von nationalistischer oder nationalsozialistischer Gesinnung infiziert. Meidet man den Ausdruck, trägt man auch nicht zur Verbreitung der dazugehörigen Gesinnung bei. Dass sich die Einschätzung eines einzelnen Lexems in wenigen Jahrzehnten grundlegend ändern kann, zeigte sich 1989 in der DDR, als die Parole Wir sind das Volk zur zentralen Losung avancierte. Offensichtlich ist die sprachliche Ausdrucksseite – hier der Ausdruck Volk – kein zuverlässiger Indikator der Wahrheit! Der Ausdruck steht offenkundig nicht per se für eine entweder negativ oder positiv konnotierte Gruppe von Menschen, sondern entfaltet kontextabhängig ein facettenreiches Referenzspektrum. Die Brecht’sche Argumentation suggeriert, es gebe Ausdrücke, an denen das verwerfliche Gedankengut regelrecht klebe. Ausdrücke hätten also Schibboleth-Charakter, sie seien Erkennungszeichen für etwas. Mit Brecht lässt sich also vorläufig folgende Hypothese aufstellen: Falscher Sprachgebrauch und Unwahres bzw. Lüge gehören zusammen. Das lässt die Schlussfolgerung zu, dass umgekehrt auch richtiges Sprechen und Wahrheit zwei Seiten einer Medaille darstellen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welcher Art das Medium Sprache ist, in dem das Falsche oder das Richtige oder gar die Wahrheit aufgehoben sein soll: Wie ist also das Verhältnis von Medium und Inhalt – von sprachlichem Ausdruck und Gedanken? Gibt es im Sprachgebrauch Indikatoren der Wahrheit und Wahrhaftigkeit? Demzufolge stellt sich unmittelbar und zwangsläufig die Frage an das Medium, also an die Sprache: Woran erkenne ich den wahrhaftigen/ehrlichen, woran den unwahren/verlogenen Sprachgebrauch? Herkömmlich wird die Wahrheit entweder im Weltbezug oder in der Aufrichtigkeit des Menschen verankert. Da dem Medium Sprache die semiotischen

Von der Sprache der Eigentlichkeit zur sprachgebundenen Authentizität | 223

Eigenschaften der Arbitrarität, der Konventionalität und der Repräsentativität (Keller 1995: 147) zugeschrieben werden, richtet sich das Augenmerk auf die spezifischen Ausprägungen des Mediums Sprache. Denn das Verhältnis zwischen Ausdruck und Inhalt ist zunächst einmal willkürlich und taugt nur dank der Konventionalisierung überhaupt zur Kommunikation und Darstellung. Von einer eigentlichen, ursprünglichen oder wahrhaftigen Übereinstimmung von Ausdruck und Inhalt kann daher keine Rede sein. Daraus folgt: Wir haben einerseits den Weltbezug und andererseits den epistemologischen Kategorienapparat des Menschen. Mit Fragen nach dem Wahrhaftigen bewegen wir uns an der schwierigen und inspirierenden Schnittstelle von Sprachkritik und Ideologiekritik. Im Folgenden soll daher zunächst das Verhältnis von Ideologie und Sprache beleuchtet werden, bevor im Anschluss die Frage nach der Eigentlichkeit der Sprache diskutiert wird. Die Überlegungen münden in ein abschließendes Kapitel mit der programmatischen Überschrift Sprache und Authentizität.

3 Ideologie und Sprache Der Ausdruck Ideologie evoziert einen besonders schillernden und interessanten Begriff, weil ihm die Frage nach Objektivität und Wahrheit eingeschrieben zu sein scheint. Nicht nur in der Alltagssprache, mitunter auch in wissenschaftlichem und politischem Kontext ist mit der Behauptung, eine Person vertrete eine Ideologie, eine Abwertung des jeweiligen Standpunktes oder sogar der jeweiligen Person beabsichtigt. Die so bezeichnete Einstellung soll herabgesetzt werden, indem ihr zum Beispiel ein dogmatisch-totalitärer Herrschaftsanspruch oder eine intolerante Gesinnung unterstellt wird. Im Umkehrschluss wird insinuiert, eine andere als die ideologische Position sei eine „nicht-ideologische“ oder so etwas wie die eigentliche. Im 19. Jahrhundert wurde Ideologie dem französischen idéologie im Sinne von Gesamtheit der Ideen entlehnt (Duden Herkunftswörterbuch 2014). In der Politikwissenschaft wird der Ausdruck im analytischen Kontext entweder neutral beschreibend im Sinne der ›Lehre von Ideen‹ gebraucht oder unter Rückbezug auf die Aufklärung und weiterhin den Marxismus als ‚kritischer‘ Begriff reflektiert, insofern er der Hoffnung auf eine voraussetzungslose und unbeeinflusste Vernunfterkenntnis eine Absage erteilt, die vor-urteilsfreie Selbstreflexion (im Sinne Gadamers 1960/61990) über religiöse, ideengeschichtliche, soziale und ökonomische Zusammenhänge im Kontrast eines naturwissenschaftlichen Erkenntnisideals als Fiktion entlarvt und Ideen als partikulare Sicht von Grup-

224 | Ekkehard Felder pierungen aus dem Blickwinkel subjektiver Wahrnehmungskategorien problematisiert (vgl. Nohlen & Schultze 1989). Karl Mannheim vertritt 1929 in seinem Werk Ideologie und Utopie die wissenssoziologische Auffassung, alles Denken sei standortabhängig und ideologisch.1 Diese Auffassung ist letztlich kompatibel mit poststrukturalistischen Auffassungen, die sich von der Vorstellung, dass man allgemein gültige Wahrheiten und „harte“ Fakten entdecken könnte, abkehren und stattdessen das Ringen um das Richtige als einen Aushandlungsprozess in Diskursen verstehen. In diesen Diskursen versuchen Akteure Geltungsansprüche von Sichtweisen durchzusetzen, indem sie Gültigkeitsbedingungen von Aussagen im gesellschaftlichen Diskurs zu etablieren versuchen. Im sprachtheoretischen und philosophischen Kontext steht der Ideologiebegriff in einem Spannungsverhältnis zu dem Wissens- und Wahrheitsbegriff. Damit sind wir beim Problem des Erkennens und bei den Bedingungen, Erfahrungen zu machen, angelangt. Die Frage nach den Dingen an sich, dem Sein, wird seit Immanuel Kant ersetzt durch den Blick auf die Formen der Anschauung (in Raum und Zeit) und durch die Kategorien des Verstandes, welche unsere Sichtweise prägen. Unsere Wahrnehmungen sind stets beeinflusst von Vorwissen, Einstellungen, Erwartungen, kulturellen Prägungen und all dem, was wir bereits zu wissen glauben. Man denke nur daran, dass wir nach Medienberichten über z.B. Obdachlose auf einmal viel mehr Mitmenschen in den Städten wahrzunehmen glauben, von denen wir vermuten, sie könnten zu dieser Gruppierung gehören. Damit ist die philosophische Grundsatzfrage nach den Möglichkeiten und Bedingungen von Erkenntnis und Erfahrung berührt, die hier zu weit führen würde. Deshalb spitzen wir den Problemkreis auf sprachliche Aspekte zu. Es ist – unabhängig von der differenzierten Beantwortung der gestellten Fragen – zweifellos richtig, dass wir uns zum Austausch unserer Erfahrungen, Gefühle, Einstellungen und Wissensbestände der natürlichen Sprache bedienen müssen. Auf Grundlage dieser Erkenntnis gab es im 20. Jahrhundert einen wissenschaftlichen Paradigmenwechsel. Fortan wurden die Sprache, ihre Formen und Wirkungen in den Mittelpunkt der Geistes- und Sozialwissenschaften gestellt (als Referenzpunkt gilt in diesem Zusammenhang das Werk „The linguistic turn“ von Richard Rorty von 1967). Somit können wir festhalten: Jede Erkenntnis und Erfahrung ist auch sprachabhängig, weil Sprache das Medium darstellt, in dem || 1 Damit grenzte er sich von marxistischen Positionen ab, denen zufolge ideologische Verzerrungen der Wahrnehmung aufzudecken sind. Damit wurde grundsätzlich die Bedeutung der Ideologiekritik betont.

Von der Sprache der Eigentlichkeit zur sprachgebundenen Authentizität | 225

wir unser Wissen über die Welt ausdrücken. Pointiert formuliert könnte man sagen: Da sich die Menschen in der kommunikativen Interaktion nur mit Hilfe sprachlicher Mittel über die Sachverhalte in der Welt austauschen können, schafft die Sprache die Realität, über die wir uns verständigen. Dies schließt nicht aus, dass vor der kommunikativen Verständigung auch sprachunabhängige Primärerfahrungen mit Hilfe unserer Sinne gemacht wurden. Wollen wir aber über diese Eindrücke und Erfahrungen sprechen, müssen wir uns der Worte bedienen. Die grundlegende Relevanz dieser Gedanken für das Problem der Ideologie soll an einem Exempel gezeigt werden. Politisch interessant ist das Beispiel der sogenannten Berliner Mauer (vgl. Felder 2012), die beinahe dreißig Jahre lang zwei deutsche Staaten trennte. Auch sie konnte man direkt wahrnehmen, von verschiedenen Seiten mit unterschiedlichem Abstand. Dennoch kann in der Frage, ob es sich dabei um einen „antifaschistischen Schutzwall“ oder eine „menschenverachtende Grenze“ handelte, kein ideologiefreier Standpunkt bezogen werden. Aus sprachlicher Sicht stellt sich das Problem der Wahrheit oder Richtigkeit von daher unter dem Gesichtspunkt der Angemessenheit: ob also sprachliche Formulierungen aus der Sicht einzelner oder mehrerer Diskursteilnehmer dem referierten Sachverhalt, „der Sache gerecht werden“ kann oder nicht. Die Redeweise einer Sache gerecht werden impliziert, dass eine subjektunabhängige Betrachtungsweise möglich und damit die eigentliche Betrachtungsweise zumindest prinzipiell gegeben sei. Es stellt sich nun die Frage, welche Kriterien für das Herausfinden der eigentlichen Sichtweise angeführt werden könnten. Denn trotz der konstituierenden Kraft der Sprache wird hier keinem Relativismus das Wort geredet, sondern es geht um Verfahren, auf deren Grundlage Diskursakteure beanspruchen, einer wie auch immer bestimmbaren Eigentlichkeit gerecht zu werden. Und diese Kriterien sind auch Kriterien der Entscheidungsfindung, die in irgendeiner Weise dem angestrebten Wahrhaftigen, dem erstrebten Eigentlichen als Erkenntniskategorien entsprechen, unabhängig davon, für wie bindend diese Kategorien gehalten werden.

4 Sprache und Eigentlichkeit Eine so breit gestellte Frage wie die nach den Kriterien von Eigentlichkeit muss aus linguistischem Erkenntnisinteresse heraus präzisiert werden – und kann dann wie folgt formuliert werden: Mit welchen sprachlichen Elementen wird Sinn intersubjektiv gemäß einer bestimmten Ordnung konstituiert und vermit-

226 | Ekkehard Felder telt, und wie lassen sich solche Wissensbildungsprozesse mit Hilfe linguistischer Instrumentarien genauer beschreiben? Lassen sich eigentliche Wissensbildungsprozesse von ‚uneigentlichen‘ unterscheiden? Bei der Strukturanalyse von solchen Prozessen (= dem Verbinden der Objektsphäre mit der Subjektsphäre durch sprachliche Zeichen) gehe ich mit Köller (2004) davon aus, dass Konzeptualisierungen in Zeichenverkettungen als kommunikativ eingeübte und erfahrene Wissensformen ausfindig gemacht werden können. Spezifische Zeichenverkettungen können sich mit der Zeit sprachlich und sozial als Wahrnehmungs- und Objektivierungsmuster stabilisieren. Aufzuspüren sind solche Muster in Texten mit konventionalisierten Zeichen und Zeichensystemen bzw. Stiltraditionen (Textverstehen als Spurenlesen bei Scherner 1994) – sie können als sprachlich konstituierte Kulturprodukte angesehen werden. Erkenntnistheoretisch gesehen ordnen diese natürlichsprachlichen Strukturierungsmittel unsere Vorstellungsinhalte und gehören zu den konstitutiven Bestandteilen von wahrgenommenen Sinninhalten. Auf Grund dessen sind sprachliche Elemente idiomatische Steuerungsmittel und der Zugang zu der in kommunikativer Praxis vollzogenen Sachverhaltskonstitution und ihren kognitiven Repräsentationsformen (vgl. dazu den Band Faktizitätsherstellung in Diskursen des Forschungsnetzwerks Sprache und Wissen, hrsg. von Felder 2013). Im Kontext der Analyse von öffentlicher Kommunikation und veröffentlichter Meinung interessiert vor allem die Frage, dank welcher Qualitäten Sprache (inhaltsseitig sprachliches Wissen wie auch ausdrucksseitige Äußerungseigenschaften umfassend) als ein System der Verhaltensorientierung dienen kann. Die idiomatische Ordnung sprachlichen Wissens spiegelt sich in einer bestimmten Ausformung unseres Wissensrahmens wider und ist zugleich Orientierungsrahmen der Verständigung (vgl. Feilke 1994: 373). Sprecher nutzen demnach sprachlich benannte Unterscheidungen, um Erfahrungen und Vorstellungen zu artikulieren. Beispielsweise werden auf deutscher Seite im Kontext der geheimdienstlichen Aktivitäten der amerikanischen National Security Agency (der sog. NSA-Affäre) die Begriffsvorstellungen von Freundschaft mit den Verhaltensweisen der US-amerikanischen Akteure abgeglichen, wonach viele amerikanische Politiker für den Sachverhalt Deutsch-Amerikanische Beziehungen den Ausdruck Partnerschaft vorziehen. Und umgekehrt werden solche Nutzungserfahrungen zum Bestandteil sprachlichen Verwendungswissens, und der Gebrauch von Sprache orientiert sich in jedem Einzelfall an solchen Erfahrungen. Kant hat mit seiner Vernunftkritik eindrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass unsere Erkenntnisinhalte sich nicht auf Dinge an sich, sondern auf deren Erscheinungen beziehen:

Von der Sprache der Eigentlichkeit zur sprachgebundenen Authentizität | 227 Wenn die Anschauung sich nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten müsste, so sehe ich nicht ein, wie man a priori von ihr etwas wissen könne; richtet sich aber der Gegenstand (als Objekt der Sinne) nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens, so kann ich mir diese Möglichkeit ganz wohl vorstellen. (Kant 1781/41980: B XVII)

Er hat den Blickwinkel von der Ebene des Seins auf die Ebene der Erscheinungsbzw. Repräsentationsformate des Seins verlagert. Insofern sind Forderungen nach Echtheit erkenntnistheoretischen Herausforderungen gegenübergestellt, die wohl kaum einzulösen sind. Cassirer (41964) verwies mit seinem Konzept der symbolischen Formen darauf, dass das Apriori-Problem nicht nur auf die Struktur der Vernunft zu beziehen ist, sondern auf die kulturellen Objektivationsformen und Wahrnehmungsweisen von Welt auszudehnen ist (vgl. Gardt 2001: 32). Die Repräsentationsformen für Lebenssachverhalte sind im Wesentlichen natürlichsprachliche Zeichen, und die damit einhergehende Perspektivität ist eine apriorische Grundbedingung der Wahrnehmung. Damit ist jeder kulturellen Zeichenbildung eine spezifische Perspektivität immanent (= grundlegendes semiotisches Paradigma). Dieses perspektivische Moment kann eruiert werden, wenn wir nachzeichnen, wie Sprachzeichen mit Lebenssachverhalten in Beziehung gesetzt werden – wie also gesamtgesellschaftlich relevante Sachverhalte „zubereitet“ werden (Jeand’Heur 1998 zeigt dies eindrucksvoll für den Rechtsbereich). Die vom Menschen entwickelten kulturbedingten Wahrnehmungsmuster (verstanden als „Perspektivenrealisierungen“) in Form von sprachlichen Zeichen beinhalten die Möglichkeit, unsere Wahrnehmungsprozesse variantenreicher und intentional schärfer perspektiviert zu gestalten. Die semantische Vagheit (Wolski 1980) oder Unterbestimmtheit (Pinkal 1985) von Zeichen der natürlichen Sprache hat im Prinzip eher eine erkenntnisfördernde als eine erkenntnishemmende Funktion. Denn die semantische Vagheit der einzelnen Zeichen bringt sprachliche Objektivierungs- und Verstehensprozesse in Gang, in deren Verlauf wir dazu gezwungen werden, diese Zeichen nicht nur als Muster zu verstehen, sondern vielmehr als Größen, die erst im Gebrauchszusammenhang ihre konkrete Objektivierungsfunktion entfalten. Auch aus diesem semiotischen Blickwinkel heraus offenbaren sich unüberwindliche Grenzen der Forderungen nach Echtheit. Die Worte, die Sprachen sind kein neutrales Medium. Von besonderem Interesse ist demnach die Struktur kollektiven Wissens, das sich in sprachlichen Zeichen und Zeichenverkettungen verfestigt, welche wiederum unsere Objektivierungsprozesse konkreter Vorstellungen koorientieren (Schmidt 1996: 16). Wahrnehmungen werden durch Sprache nicht determiniert, sondern wie Schmidt (1996: 16) in seinem Werk mit dem sprechenden

228 | Ekkehard Felder Titel Die Welten der Medien treffend formuliert: „Zeichen und Zeichenverkettungen [können] kognitive wie kommunikative Prozesse orientieren, aber nicht determinieren.“ Die folgenden Ausführungen folgen nur ansatzweise dem konstruktivistischen Paradigma. Es kann nämlich den soziologischen und kognitionspsychologischen Modellen von Kommunikation in kritischer Würdigung eine Marginalisierung sprachlichen Wissens vorgeworfen werden. Obwohl in ihnen häufig von Sprache die Rede ist, reflektieren sie kaum über Sprache und sprachliche Kompetenz im Sinne eines durch eine bestimmte Kommunikations- und Kulturgemeinschaft hervorgebrachten Sprachwissens. Besonders schwierig ist neben der Analyse lexikalischer Strukturierungsmuster die Aufklärung von Perspektivität grammatischer Ordnungsmuster – und zwar von grammatischen Morphemen über syntaktische Korrelationsmuster bis zu fundamentalen grammatischen Organisationsprinzipien. Die vorstrukturierende Kraft sprachlicher Objektivierungsprozesse hat Humboldt in einer Definition des Formbegriffs zum Ausdruck gebracht, als er im Kontext des Energeia-Begriffs die geistigen Kräfte, die aus dem Sprachvermögen erwachsen, näher kennzeichnen wollte: „Unter Form kann man nur Gesetz, Richtung, Verfahrensweise verstehen“ (v. Humboldt 1906: 455). Humboldt verweist mit seinem Verständnis von Form als „Gesetz, Richtung, Verfahrensweise“ auf einzelsprachliche Unterschiede. Aus diesem Grunde geht es um das Ermitteln lexikalischer und grammatischer Ordnungsmuster sowie der in ihnen wirksamen sprachlichen Formungsprinzipien, um die Frage nach der Eigentlichkeit erörtern zu können. Diese unterschiedlichen Formungsprinzipien betrachtete schon Humboldt als das Einfallstor für den Einfluss der Sprache auf das Denken. Damit bin ich beim Kernpunkt meines Erkenntnisinteresses angelangt, das in der Frage mündet, ob angesichts der soeben dargelegten semiotischen, kognitiven und lexikalisch-grammatischen Voraussetzungen von Eigentlichkeit in der Sprache ausgegangen werden kann. Oder anders gefragt: Wie lässt sich der Wunsch nach Eigentlichkeit mit dem Grundsatz sprachlich gebundener Perspektivität in Einklang bringen? Es stellt sich demnach die Forschungsfrage, wie sich Perspektivität in sprachlichen Gebilden – also in Formen – ermitteln lässt und welche sprachlichen Mittel in Bezug auf einen bestimmten Sachverhalt die eigentliche Perspektive im Rahmen einer bestimmten Kommunikationssituation darstellen. Vor diesem Hintergrund berücksichtigt das linguistische Untersuchungsprogramm der pragma-semiotischen Textarbeit (Felder 2003 und 2012) die Ebene des Textes, Satzes sowie die Ebene der lexikalischen und grammatischen Grundformen. Ziel dabei ist, verschiedene Form-Funktions-Korrelationen bei gleichbleibendem Sachverhalt – also sprachformgebundenen Perspektiven –

Von der Sprache der Eigentlichkeit zur sprachgebundenen Authentizität | 229

nebeneinanderzustellen und zu fragen, wie bestimmten Sprachformen spezifische Wirkungsfunktionen unterstellt werden können. Diese Wirkungsfunktionen spezifischer Sprachformen werden in Bezug auf diskursrelevante und zentrale Lebenssachverhalte in Form von handlungsleitenden Konzepten als Interpretationskonstrukte verdichtet. Dieses Vorgehen versucht in diesem Punkt auch medienwissenschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden. Die in den Medienwissenschaften bekannte Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Realität (Schmidt 1996) ist hierbei hilfreich: Unter Wirklichkeit wird die mit den originären Sinnen erfahrbare und begreifliche Welt verstanden, Realität ist das medial konstituierte und also zwangsläufig gestaltete Szenario davon. Im Moment der sprachlichen Gebundenheit von Sachverhalten manifestiert sich der interpretative Akt bei der Konstitution des scheinbar intersubjektiven Gültigen, das in Medien beispielsweise als Information etikettiert wird. Vor diesem Hintergrund der Differenzierung sind wir als Medienrezipienten des sog. Informationszeitalters in erheblichem Maße mit Realität konfrontiert, also mit sprachlichen Produkten, die Wirklichkeit zu zeigen vorgeben. In der Medienwissenschaft ist in diesem Zusammenhang der schillernde Begriff der Information geläufig, dem gleichermaßen der Habitus der Echtheit im Sinne der Unverfälschtheit anhaftet – trotz seiner wahrnehmungsselektiven Verengungen. Folgende Definition illustriert den Zusammenhang: „Nur solche Ereignisse können zur journalistischen Information, zur Nachricht werden, die neben ihrer Unwahrscheinlichkeit (Überraschung) auch von Relevanz für eine möglichst große Zahl von Rezipienten sind“ (Merten 1999: 305). In der Rezeption von gesellschaftspolitisch relevanten Ereignissen haben wir es demnach mit gestalteten Materialien in sprachlicher Form zu tun, die Wirklichkeit in medienvermittelte Realität verwandelt haben. Massenmediale Sprach- und Bildzeichen und Zeichenverkettungen sind daher ein perspektivierter Ausschnitt von Welt zur interessengeleiteten Konstitution von Realität im Spektrum verschiedener Wirklichkeiten (Felder 2007). Die Formulierung von der „interessengeleiteten Wirklichkeitskonstitution“ ist unvereinbar mit Aspekten der Eigentlichkeit. Aus diesem Grund wird im Folgenden die Erkenntnismächtigkeit des Mediums Sprache diskutiert und in Beziehung zu Sprecher, Hörer und Objekt bzw. Sachverhalt gesetzt. Mit dieser Konstellation ist die Wahrheitsproblematik angesprochen, die nach Gloy (2004) in (1) die ontische Wahrheitstheorie (Sachwahrheit), (2) die Kohärenztheorie (Subjekt erhält in der Erkenntnisrelation die Priorität) und (3) die Korrespondenztheorie (das Erkennende sowie das zu Erkennende sind gleichrangig) unterteilt werden kann. Der Ideologiebegriff vermag Fragen der Eigentlichkeit wie oben dargelegt nicht zu erhellen, so dass es nun gilt, Kriterien der Eigentlichkeit

230 | Ekkehard Felder zusammenzutragen, um Forderungen des eigentlichen Sprechens präziser fassen zu können. Eigentlichkeit als „Zustand, der einer Sache oder jemandem ursprünglich und eigentlich zukommt“ (Duden Universalwörterbuch 2001) verweist – trotz ihrer tautologischen Redundanz mit den Lexemen Eigentlichkeit und eigentlich – im triadischen Wechselverhältnis von Ausdrucksweise, gedanklicher Konzeptualisierung und Weltbezug das Problem in den Bereich der Sache selbst. Ein Blick auf die Bedeutungserklärungen des Adjektivs eigentlich wie beispielsweise „wirklich bedeutsam, einer Sache in Wahrheit zugrunde liegend, in Wirklichkeit relevant, ausschlaggebend; tatsächlich wirklich“ (Duden Universalwörterbuch 2001) und Paraphrasierungen im Kontext des adverbialen Gebrauchs weisen auf die Ambivalenz von Anschein und Sein hin, wenn als Bedeutungsparaphrasierung „in Wirklichkeit (im Unterschied zum äußeren Anschein)“, „im Grunde, genau genommen; an und für sich“ angeboten wird (Duden Universalwörterbuch 2001). Diese Bedeutungserklärungen implizieren, es gebe sprecher-, hörer-, sprach- und denkunabhängig ein An-Sich-Sein einer Sache. Theodor W. Adorno (1964) warnt vor dem „Jargon der Eigentlichkeit“ und grenzt sich von Heideggers Sprache der säkularisierten Sakralisierung von Personen, Sachverhalten, Objekten, Begebenheiten (als eine Form der Mythologisierung) ab.2 Dazu schreibt Adorno: „Zwar hallt bei ihm und allen, die seiner Sprache folgten, abgeschwächt der theologische Klang bis heute nach.“ (Adorno 1964: 8) Mit Anspielung auf Heideggers Vita nach 1933 und sein Amt als Rektor der Universität Freiburg fährt er fort: „Denn in der Sprache sind die theologischen Süchte jener Jahre eingesickert, weit über den Umkreis derer hinaus, die damals sich als Elite aufwarfen.“ (Adorno 1964: 8) Daraufhin führt Adorno zwei Stränge zusammen: „Unterdessen aber gilt das Geweihte der Sprache von Eigentlichen eher dem Kultus der Eigentlichkeit als dem christlichen […] Die Autorität des Absoluten wird gestürzt von verabsolutierter Autorität.“ (Adorno 1964: 8) Adornos Ideologiekritik ist Sprachkritik. Dazu bemerkt er in seiner abschließenden Notiz: „Die zeitgemäße deutsche Ideologie hütet sich vor faßbaren Lehren wie der liberalen oder selbst der elitären. Sie ist in die Sprache gerutscht.“ (Adorno 1964: 138) Auch Adorno kommt nicht ohne die Annahme aus, den richtigen vom falschen Referenzfixierungsakt zu unterscheiden. Damit bewegt er sich auf der ontischen Ebene und impliziert die in die Sache einge-

|| 2 Vgl. zu dieser Kontroverse auch die Beiträge von Jochen A. Bär und Helmut Henne im vorliegenden Band.

Von der Sprache der Eigentlichkeit zur sprachgebundenen Authentizität | 231

schriebene Richtigkeit, die nicht sprachlich verschleiert oder mythologisiert werden soll. Der Begriff der Eigentlichkeit unterstellt also sowohl in Bezug auf die Sache als auch auf den kommunizierenden Menschen einen Zustand des vollkommenen So-Seins (vgl. dazu auch den Terminus der Dissimulatio in Ueding 1992), bei dem das Erscheinen mit dem Sein übereinstimmt oder – linguistisch gewendet – das durch sprachliche Zeichen konstituierte mentale Korrelat als Repräsentation mit der ontischen Entsprechung deckungsgleich ist (dies entspricht Annahmen der nicht zu haltenden Abbildtheorie). Der Begriff der Eigentlichkeit kann sein Versprechen nicht einhalten, ein solches Ansinnen ist nicht einzulösen. Die hohen Ansprüche dieses Konzepts überfordern das Medium Sprache. Aus diesem Grund wird der Begriff der Authentizität stark gemacht (vgl. zur Diskussion des Begriffs Knaller & Müller 2006 und auch Gardt 2008), der bereits in der rhetorischen Tradition einen zentralen Platz einnimmt (und zwar sowohl auf der Aussageebene als auch auf der Performanzebene des Orators; vgl. Ueding & Steinbrink 1986: 215) und die Qualität der Episteme (vgl. Foucault 1971) nicht nur ontisch, sondern auch von den individuellen Wissens- und Charaktervoraussetzungen sowie Lebenshaltungen („Sitz im Leben“) her zu fassen sucht. Er bietet den Vorteil, dass er die Wahrheitsproblematik weder einseitig auf den Sachbezug (ontische Wahrheitstheorie) noch einseitig auf den Kommunikationsteilnehmer (subjektimmanente Wahrheitstheorie) abwälzt. Stattdessen verweist Authentizität als relationaler Begriff auf die Beziehung zwischen dem einzelnen Sprecher und dem individuellen Hörer. Dabei wird die perspektivengebundene Medialisierung der Wirklichkeitsaspekte im Duktus der diskursiv auszuhandelnden Objektadäquatheit fokussiert. Es gibt also ein authentisches Sprechen des Individuums in der Interaktion mit seinen Kommunikationsteilnehmern, es gibt aber keine Eigentlichkeit in der Sprache. Dies wird im Folgenden ausgeführt.

5 Sprache und Authentizität Das im Folgenden vorgeschlagene Verständnis von Authentizität fokussiert im Unterschied zur Eigentlichkeit und Echtheit nicht einseitig den Weltbezug und setzt diesen auch nicht prioritär. Dadurch entlastet dieses Authentizitätsverständnis im Vergleich zur Eigentlichkeit das Medium Sprache, mittels dessen der Bezug zwischen erkennendem und sprechendem Subjekt einerseits und der

232 | Ekkehard Felder Welt andererseits hergestellt wird. 3 Was auf der Seite des sprachlichreferentiellen Weltbezugs nicht zweifelsfrei geklärt werden kann, vermag auch die Sprache aus sich heraus nicht zu klären. Die hohen Erwartungen und Anforderungen an die Erkenntnismächtigkeit von Sprache bedürfen der realistischen Anpassung, und diese Anpassung muss die semiotischen Voraussetzungen des Mediums berücksichtigen. Insofern bleibt nichts anderes übrig, als dass das Individuum die Verantwortung für die Angemessenheit von Wort-Welt-Bezügen in sprachlichen Äußerungen übernehmen muss, weil nur der einzelne als Diskursakteur in konkreten Kommunikationsakten die Unschärfepotentiale durch semantische Nachjustierung zu kompensieren vermag. Sowohl die einzelnen sprachlichen Zeichen des Mediums als auch der ontische Sachverhalt selbst sind unfähig zur Veränderung; nur Sprecher und Hörer können intentional solange die zeichenhafte Verknüpfung der Wort-Welt-Relationen diskursiv thematisieren, bis sie der Hoffnung oder Illusion des Verstehens erliegen und sich Authentizität bescheinigen. Versteht man also im Sinne dieses Ansatzes Sprechen als menschliche Tätigkeit bzw. als eine Form des kommunikativen Handelns, dem in verschiedenen Situationskontexten unterschiedliche Lebensformen oder „Sprachspiele“ (Wittgenstein 1958/111997: § 7, 19, 23) zugrunde liegen, so können – in Abhängigkeit des jeweiligen Handlungszusammenhangs – die einzelnen Sprachspiele als durch spezifische Regeln (vgl. Wittgenstein 1958/111997: § 185–242) bzw. sprachliche Verwendungsweisen konstituiert beschrieben werden, die die Sprachteilnehmer befolgen. Ohne Wittgensteins Regelbegriff hier problematisieren zu können (Busse 1993/22010: 253; Müller, Christensen & Sokolowski 1997: 74), ist es offensichtlich, dass das Sich-Einstellen von Authentizität in dem Sinne, dass der Hörer dieses Phänomen dem Sprecher zuschreibt, bestimmten Regeln folgen muss, die nicht oder nur zum Teil bekannt sind. Auf der Suche nach noch unbekannten Regeln (die Sprecher befolgen können, ohne sie zu kennen) drängt sich dabei die Analogie zur Bedeutungsexplikation auf. Der Wittgenstein’sche Grundsatz, die „Bedeutung eines Wortes“ sei sein (regelhafter) „Gebrauch in der Sprache“ (Wittgenstein 1958/111997: § 43), gehört in diesem Kontext zu den meist zitierten Texthinweisen. Dabei spielen diskursiv geprägte Wissensformen unterschiedlicher Fachlichkeit eine Rolle, die sich

|| 3 Diese Gedanken passen nahtlos zu der Information, die ich aus dem Einladungsschreiben zu diesem Sammelband erhalten habe: „Sowohl die Bezeichnung als auch die Frage nach einem ‚authentic turn‘ geht aus Gesprächen im Forschungskreis von Andreas Gardt hervor.“

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kognitiv in Wissensrahmen (Busse 1992: 37, Felder 2003: 89) der handelnden Subjekte verdichten und ausdrucksseitig regelhaft manifestieren. Vor diesem Hintergrund kommt ein pragma-semiotisches Modell (wie z.B. in Felder 2003, 2012 entwickelt) der Kommunikationspraxis und dem Desiderat, Regularitäten bei der Authentizitätsherstellung ausfindig zu machen, am nächsten, da es versucht, die Priorität des ontischen Weltbezugs zu ersetzen durch das, was Sprechen in Kommunikation wesentlich bestimmt: Sprecher und Hörer haben Interessen und verhalten sich dementsprechend in der Kommunikation. Somit wird die Wort-Welt-Relation in einem pragma-semiotischen Ansatz ernst genommen, genauso ernst wird auch das intentionale Sprechhandeln des Einzelnen vor dem Hintergrund individueller Wissensdispositionen, Interessen und Vorlieben in Rechnung gestellt. Damit wird deutlich: Das durch viele Variablen beeinflusste Phänomen der Authentizität hat sein Zentrum und seinen Ausgangspunkt in den agierenden Kommunikationsteilnehmern, und von dort ausgehend tritt Sprache als Kommunikationsmedium erst in Erscheinung. Ein etymologischer Blick (vgl. Kluge 221989; Duden 2014) bekräftigt diese Sichtweise auf Authentizität mit den hier wichtigen Bedeutungsexplikationen ‚verbürgt‘ und ‚eigenhändig‘: authentisch ‚(nach einem sicheren Gewährsmann) glaubwürdig und zuverlässig verbürgt‘: Das Wort wurde in der Kanzleisprache des 16. Jahrhunderts aus dem spätlateinischen authenticus ›zuverlässig verbürgt; urschriftlich eigenhändig (von Schriften) entlehnt‹. Mit diesen Bedeutungshinweisen wird die Person des Sprechers in den Aufmerksamkeitsfokus gerückt, was den folgenden Gedankengang unterstützt. Authentizität ist ein spezifisches und komplexes Verhältnis zwischen Sprecher und Hörer hinsichtlich der Qualität von Zuschreibungen in Bezug auf Sprecher-Intentionen und Wort-Welt-Relationen (Referenzfixierungsakten zur Sachverhaltskonstitution). Ein Hörer kann also eine bestimmte Äußerung, die Person A von sich gibt, als authentisch werten, aber die gleiche Äußerung, wenn sie von Person B kommt, als nicht authentisch wahrnehmen, obgleich Worte und referiertes Bezugsobjekt in der Welt gleich zu sein scheinen. Genauso kann eine spezifische Äußerung eines Sprechers von Hörer A als authentisch, von Hörer B als nicht authentisch wahrgenommen werden. Der perlokutive Effekt der Authentizität unterliegt also einem vielstelligen Variablengeflecht. Jemand kann demnach in einem bestimmten Zusammenhang mit spezifischen Äußerungen auf einen anderen authentisch wirken, diese Wirkung bleibt aber kontextuell gebunden und muss nicht dauerhaft wirken. Somit hängt Authentizität vom Zusammenwirken mehrerer sprachlicher und außersprachlicher Variablen ab. Authentizität ist ein psycho-soziales und emotionales Zuschreibungsverhältnis zwischen Menschen, das unter anderem und wesentlich durch sprachli-

234 | Ekkehard Felder chen Input gespeist wird. Authentizität ist nicht rein sprachlich, aber auch durch Sprache entstanden. Sprachliche Mittel sind Indikatoren, die gedeutet werden und zur Stabilisierung oder Destabilisierung des Zuschreibungsverhältnisses beitragen. Bedenkt man zusätzlich das Konzept der Überprüfbarkeit von Authentizität aus der Informationssicherheit (dort bezeichnet Authentizität die Eigenschaften der Echtheit und Vertrauenswürdigkeit, die überprüfbar sind), so ist zu erörtern, ob die Zuschreibung von Authentizität oder Nicht-Authentizität in diskursiven Konstellationen ebenfalls zu überprüfen ist. Es stellt sich dabei im Sinne Wittgensteins die Frage, ob es Regularitäten (oder gar Regeln) beim Entstehen von Authentizität in Kommunikationskontexten gibt. Diese Frage stellt ein Forschungsdesiderat dar und bedarf einer empirischen Untersuchung von Kommunikationskonstellationen, in denen mehrere Personen einer anderen metakommunikativ Authentizität bescheinigen und diese gegebenenfalls auf der Grundlage von Kriterien auch noch begründen. Auf einer solchen Textgrundlage inklusive der dazugehörigen Kontexte bzw. in solch einem umfangreicheren Textkorpus inklusive einer induktiv zu entfaltenden Kontexttypologie könnte induktiv das Wechselspiel von sprachlichen und außersprachlichen Faktoren (mit dem Ziel einer Kontextkonstellationstypologie zur Authentizität) erfasst werden. Metasprachliche Authentizitätszuschreibungen zwischen Diskursakteuren müssen dabei als Prototypen „authentischer Wirkung“ untersucht werden. Wir berücksichtigen damit auch außersprachliche Wirkfaktoren – und zwar aus der Sicht der Hörer und deren metakommunikativen Äußerungen über Integrität und Auftreten des Sprechers, Rollenerwartungen und Rolleneinhaltungen, Interessen, soziales Umfeld und Prestige, historische Kontexte usw. Indikatoren der Authentizität manifestieren sich demnach sprachlich in metakommunikativen Äußerungen von weiteren Diskursteilnehmern. Somit hängt die Zuschreibung von Authentizität vom Zusammenwirken verschiedener belebter und unbelebter Variablen ab. Wenn Authentizität tatsächlich – wie hier behauptet – ein psycho-soziales und emotionales Zuschreibungsverhältnis darstellt, dann wären Beispiele der Illustrierung hilfreich. Jean Paul Sartre (1962: 484) beispielsweise bezeichnet die Liebe „als ein von den Anderen fortwährend relativiertes Absolutes“ und setzt Authentizität in Beziehung mit dem Schamgefühl, das auf das Bewusstsein der Gegenwart eines Anderen gründet (Schumacher 2003: 15). Ein Schamgefühl ist da, stellt sich ein und kann nicht durch eine Haltung ausgeschaltet werden. Gleiches gilt für die Authentizität, die sich als Hörerwirkung einstellt oder nicht. Ein Hörer kann sich Authentizität nicht als Haltung erarbeiten oder vornehmen. Weitere Beispiele sind Berichte von Menschen, denen wir vertrauen, im Vergleich zu Schilderungen von Personen, die weniger hoch in unserer Gunst

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stehen. Unabhängig von der spezifischen Kompetenz oder Situationskonstellation neigen wir dazu, den von uns besonders geschätzten Personen besondere Authentizität zuzuschreiben. Ähnlich verhält es sich mit der Authentizität, die wir Nachrichtensendern, -quellen oder -publikationsorganen zuschreiben. Wir haben in der Vergangenheit diesbezüglich und hinsichtlich der Seriosität Erfahrungen gemacht, die unser aktuelles psycho-soziales und emotionales Zuschreibungsverhältnis prägen. Im Unterschied und in Abgrenzung zu den drei wahrheitstheoretischen Ansätzen hat dieses Format und Verständnis von Authentizität Vorteile gegenüber der bereits erwähnten (1) ontischen Wahrheitstheorie (Sachwahrheit), (2) der Kohärenztheorie (Subjekt erhält in der Erkenntnisrelation die Priorität) und (3) der Korrespondenztheorie (das Erkennende sowie das zu Erkennende sind gleichrangig) (Gloy 2004). Die Echtheit des Weltbezugs ist weder eine notwendige noch eine hinreichende Voraussetzung für Authentizitätszuschreibungen (so zum Beispiel, wenn man sagt: Seine Ausführungen haben mich nicht überzeugt, aber authentisch war er!). Auch die Kohärenztheorie mit der Priorität im Subjekt vermag nicht weiterzuhelfen, da Intentionen innerhalb der menschlichen Black Box kognitiver Prozesse per se nicht überprüfbar sind. Schließlich ist auch die Korrespondenztheorie defizitär, weil sie ein isoliertes Subjekt mit dem zu erkennenden Objekt allein lässt und keine Optionen der semiotisch reliablen Überprüfbarkeit der einzelnen Wort-Welt-Relation eröffnet. Diese Optionen werden durch den Ansatz der Multiperspektivität in Bezug auf verschiedene Diskursakteure und ihr soziales Miteinander ermöglicht. Authentizität ist also im diskursiven Prozess entstanden und liefert als Output oder Ergebnis ein Sprecher-Hörer-Wort-Welt-Verhältnis, das im Prozess der unendlichen Semiose der ständigen Überprüfung (Bestätigung und Modifikation) unterliegt (vgl. zur Figur der unendlichen Semiose in der juristischen und rechtspraktischen Bedeutungsexplikation Felder 2012a). Dies sei kurz erläutert: Versucht man auf der Grundlage semantischer Ansätze zu erklären, wie Kommunikationsteilnehmer Aussagen Bedeutung zuschreiben, so ist das Paradigma der (theoretisch unendlichen) Semiose als Erklärungsmodell diskursiver Bedeutungsfestsetzung heranzuziehen. In der Semiotik wird der Prozess, bei dem etwas als Zeichen fungiert, als Semiose bezeichnet: „Semiose ist die triadische ‚Handlung [action] des Zeichens‘, der Prozeß, durch den das Zeichen auf seinen Interpreten oder Quasi-Interpreten einen kognitiven Effekt ausübt“ (Nöth 22000: 62; vgl. dazu auch Peirce 1960: 5.472, 5.484). In der Theorie wird dieser Prozess auf Grund seiner Unabgeschlossenheit als unendlicher gedacht, da jedes Zeichen zum Interpretanten eines anderen wird (unbegrenzte Ersetzbarkeit von Zeichen durch Zeichen).

236 | Ekkehard Felder Unter „unendlicher Semiose“ versteht man also in der Folge von Charles Sanders Peirce und Umberto Eco den Umstand, dass das Zeichen im engeren Sinne oder die äußere Zeichengestalt nur durch Interpretanten im Sinne anderer sprachlicher Zeichen erklärt werden kann – kurz gesagt: Um die Bedeutung eines Wortes zu erklären, benötige ich ein weiteres, und um dieses zu veranschaulichen, wiederum ein weiteres. Nöth spricht von einem „unendlichen Prozeß der Semiose“ (Nöth 22000: 64), weil der Prozess der Semiose zwar unterbrochen, aber nie beendet werden kann. Deswegen ist der Prozess der Semiose zu spezifizieren: In der Rechtspraxis beispielsweise kann er in der Wirkung temporär endlich sein (nämlich hinsichtlich der Rechtsverbindlichkeit bestimmter Gerichtsentscheidungen), rechts- und sprachtheoretisch ist er im Rahmen des Rechtsdiskurses unendlich (da in ähnlich gelagerten Fällen Semioseprozesse anders ausfallen können als in früheren Gerichtsentscheidungen). Bezogen auf die Wort-Welt-Relationen und die diskursive Herstellung von Authentizität bedeutet dies: Authentizität (als eine übergeordnete hörerseitige Erwartungshaltung, analog zum Kooperationsprinzip der Grice’schen Konversationsmaximen) ist ein spezifisches und komplexes Verhältnis zwischen Sprecher und Hörer hinsichtlich der Qualität der Zuschreibungen in Bezug auf Sprecher-Intentionen und Wort-Welt-Relationen (Referenzfixierungsakten zur Sachverhaltskonstitution). Authentizität ist ein Wirkungsphänomen auf Rezipientenseite unter Rückbezug der Wort-Welt-Relation. Wir benötigen folglich zur Erfassung des Authentizitätsphänomens einen Bezugspunkt, der das Individuum mit seinen Epistemen (sprachlich gebundenen Wissensdispositionen, die sich in Wort-Welt-Relationen ausdrücken) in den Mittelpunkt rückt und gleichzeitig diese einer diskursiven und interaktiven Konstitution und Überprüfung aussetzt. Authentizität umfasst Subjektivität (im Sinne von individuellen Zuschreibungen) bis hin zur Intersubjektivität (z.B. die kollektive Authentizitätszuschreibung gegenüber Persönlichkeiten wie z.B. Nelson Mandela), berücksichtigt über die Referenzfixierungsakte und Sachverhaltskonstitutionen die sachbezogene Multiperspektivität und betrachtet das Verhältnis zwischen dem individuellen Sehepunkt der Menschen (vgl. Köller 2004) einerseits und den referierten Wirklichkeitsaspekten im Duktus der Objektadäquatheit andererseits – und zwar über die sprach- und perspektivengebundene Relation der sprachlichen Verständigung. Aus interaktionaler Sicht wird dieses Verhältnis vom Diskurspartner rezipiert und in irgendeiner Weise qualifiziert. Authentizität stellt sich ein oder nicht. Von welchen Variablen dieses Zuschreibungsverhältnis beeinflusst wird, ist bisher in der Forschung noch nicht systematisch aufgearbeitet worden und könnte im Paradigma der Korpuspragmatik intensiver erforscht werden (Felder, Müller &Vogel 2012; Müller 2015).

Von der Sprache der Eigentlichkeit zur sprachgebundenen Authentizität | 237

6 Schluss: Authentizität mit und in Sprache Inspiriert und ausgehend von der Redewendung Wes Geistes Kind (Lukas 9,55) wurde hier im Sinne des Sammelbandtitels Eigentlichkeit – zum Verhältnis von Sprache, Sprechern und Welt die Frage gestellt, ob Eigentlichkeit mit Hilfe sprachlicher Indikatoren präziser gefasst werden kann. Dazu wurden zunächst drei gängige Wahrheitstheorien in Erinnerung gerufen und der Ideologiebegriff problematisiert. Auf dieser Grundlage wurde die weltbezogene oder ontische Einseitigkeit des Eigentlichkeitsbegriffs als Problem benannt. Vor dem Hintergrund des Kantischen Diktums, dass uns die Dinge als Formen der Anschauung begegnen, und in Anbetracht der semiotischen Charakteristika sprachlicher Zeichen (Arbitrarität, Konventionalität, Repräsentativität) erweist sich die Suche nach Spuren der Eigentlichkeit in der Sprache selbst als Illusion. Das Medium Sprache vermag nicht zu klären und zu vereindeutigen, was im menschlichen Wahrnehmungsapparat als vage (durch Referenzfixierungsakte hervorgerufene und von Referenzobjekten evozierte) mentale Korrelate erscheint. Aus diesem Grund bedarf die Eigentlichkeit der Erweiterung, beziehungsweise Schwächen des Konzepts der Eigentlichkeit sollten in einem modifizierten Verständnis der Authentizität überwunden werden. Deshalb wurde der Sprecher in den Mittelpunkt gerückt, der allerdings nur durch den Hörer eine Rückmeldung in Bezug auf perlokutionäre Effekte seiner Rede erfährt. Daher sind Fragen der angemessenen und glaubwürdigen Wort-Welt-Relationen oder genauer Wort-Welt-Referenzfixierungsakte hier als Sprecher-Hörer-Wort-WeltVerhältnis modelliert. Dies hat den Vorteil, dass Fragen der Eigentlichkeit weder statisch und prioritär von der Sache (dem Ontischen oder der Sachwahrheit) fokussierend angegangen werden noch ausschließlich von der Fiktion der ‚eigentlichen Intentionen des Sprechers‘. Vielmehr wird das Phänomen Authentizität dynamisch in Kommunikationsprozessen durch die Fokussierung der sprachgebundenen Darstellungsformen aus dem Blickwinkel des Sprechers und Hörers unter Berücksichtigung sprachlicher und außersprachlicher Variablen betrachtet. Feststellbar oder zu objektivieren ist das Phänomen der Authentizität nur über metasprachliche Manifestationen weiterer Diskursakteure, die über die Wirkung bestimmter Aussagen von Akteuren Auskunft geben. Diese Grundstruktur wurde in ein Konzept der Authentizität überführt, das als ein psychosoziales und emotionales Zuschreibungsverhältnis zu definieren ist, welches wesentlich, aber eben nicht nur durch Sprache allein instruiert wird. Authentizität stellt sich beim rezipierenden Gegenüber ein oder nicht. Sie ist nicht nur sprachlich, sondern durch Sprache und vieles mehr entstanden. Die in der Semiotik entwickelte Idee von der unendlichen Semiose kann diese permanenten

238 | Ekkehard Felder diskursiven Vergewisserungsprozesse der Authentizität auf der sprachlichen Seite plausibel erhellen, auf der außersprachlichen rein kontextuellen Seite fehlt es bisher an der systematischen Identifizierung einschlägiger Faktoren.

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Jochen A. Bär

‚Eigentlichkeit‘ als Movens und als Gegenstand von Sprachkritik || Universität Vechta, Germanistische Sprachwissenschaft, Driverstraße 22–26, 49377 Vechta, [email protected]

1 Zum Gegenstand ‚Wort‘ und ‚Begriff‘ ist nicht das Gleiche. Auch wenn die Alltagssprache beide Substantive, Wort und Begriff, häufig synonym verwendet, hat die Sprachwissenschaft Anlass, einen kategorialen Unterschied zu konstatieren. Auf einen (freilich etwas zu einfachen) Punkt gebracht: Ein Wort kann für verschiedene Bedeutungen stehen; für einen Begriff können verschiedene Wörter stehen. Für das Wort Eigentlichkeit findet sich in den historischen Wörterbüchern, die über das Trierer Wörterbuchnetz (http://woerterbuchnetz.de) erschlossen sind, kaum ein Beleg; vgl. auch Gardt (1995: 145), der das Substantiv nur „gelegentlich“ verzeichnet. Das Findebuch zum mittelhochdeutschen Wortschatz hat eigenlichkeit in der Bedeutung ›Eigenschaft‹; das Deutsche Rechtswörterbuch nennt Eigentlichkeit in der Bedeutung ›Eigentum, Eigentumsrecht‹. Der zehnbändige Duden erläutert Eigentlichkeit in der Bedeutung ›Zustand, der einer Sache oder jemandem ursprünglich und eigentlich zukommt‹. Nicht alle diese Bedeutungen spielen eine Rolle – ›Eigentum‹ allenfalls in übertragenem Verständnis –, wenn es um den Begriff ‚Eigentlichkeit‘ (insbesondere, wie im vorliegenden Beitrag, im Zusammenhang der Sprachreflexion) geht; stattdessen kommen aber andere Wörter in Betracht, nämlich einerseits solche, die zum selben Wortbildungsfeld gehören (z.B. eigentlich, eigen, Eigenschaft, eigentümlich, Eigentümlichkeit; vgl. Gardt 1995: 145), und andererseits solche, die zum Wortfeld ‚Eigentlichkeit‘ gehören, die also eine Bedeutungsähnlichkeit mit dem Wort Eigentlichkeit aufweisen und/oder mit ihm in einem Kollokationsverhältnis stehen (z.B. Grund, grundrichtig, Natur, natürlich, Ding, Sache, Wesen; vgl. Gardt 1995: 147). ‚Eigentlichkeit‘ behandle ich im vorliegenden Beitrag in diesem letzteren Sinne: als Begriff oder semantisches Konzept. Darunter verstehe ich „das durch eine ausdrucksseitig prägnante beschreibungssprachliche Einheit fassbare Wissen eines historischen Semantikers von den semantischen Beziehungen

242 | Jochen A. Bär innerhalb eines Bündels objektsprachlicher Zeichen […], die sich um ein bestimmtes objekt- oder beschreibungssprachliches Wort oder Syntagma gruppieren lassen“ (Bär 2008: 7). Es geht also nicht nur um ein einzelnes Wort, sondern um einen Sachzusammenhang, der auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck gebracht sein kann. Mit anderen Worten: Es müssen für die Untersuchung des Konzepts ‚Eigentlichkeit‘ „auch Textstellen herangezogen werden, in denen dieses Konzept ohne Nennung einer Bildung mit ‚eigen‘ deutlich wird, und es sind charakteristischerweise Stellen, in denen die erwähnten Substantive ‚Grund‘, ‚Natur‘, ‚Wesen‘ etc. auftreten“ (Gardt 1995: 147). Das Konzept ‚Eigentlichkeit‘ erscheint, wie ich im Folgenden am Beispiel der Sprachkritik zeigen will, als eine Grundkonstante der Sprachreflexion. Es hat seine Wurzeln in der Sprachmagie, wo durch die Kenntnis und die Aussprache des rechten, eigentlichen Namens Macht über jemanden oder etwas ausgeübt werden soll. Als Gegenkonzept zur Arbitrarität, wonach sprachliche Zeichen wie Geldmünzen oder „Rechen-Pfennige“ (Leibniz 1717: 547) sind, die man letztlich beliebig zur Bezeichnung einsetzen kann, durchzieht der Gedanke der Eigentlichkeit das europäische Sprachdenken. Er äußert sich insbesondere in der Suche nach der ‚wahren‘, der ‚ursprünglichen‘ Bedeutung von Namen und Wörtern (bei Wolfram von Eschenbach, der den Namen seiner Hauptfigur auf die ‚eigentliche‘ Bedeutung zurückführt, 1 nicht anders als bei Jacob Grimm, dessen lexikographisches Konzept des Urbegriffs die Erschließung der ‚eigentlichen‘ Wortbedeutung postuliert: vgl. Reichmann 1990: 98–99; 1991: 303; Bär 2010: 11), findet sich aber auch überall dort, wo es um sachliche Adäquatheit sprachlicher Äußerungen geht. Unter Sprachkritik verstehe ich im Folgenden „die ohne direkten Frageanlass erfolgende Bewertung konkreter sprachlicher Äußerungen oder auch allgemein gebräuchlicher Klassen von sprachlichen Äußerungen“ (Bär 2002a: 240). Diese beiden Kriterien, Eigeninitiative und Bewertung, sind hinlänglich zur Unterscheidung von anderen Formen der Sprachreflexion. Sprachkritik muss nicht negativ bewerten (tadeln), sondern kann dies auch positiv (empfehlend) und sogar affirmativ tun: Auszeichnungen wie der Deutsche Sprachpreis oder der Medienpreis für Sprachkultur der Gesellschaft für deutsche Sprache sind demnach ebenso Sprachkritik wie das Lob einer guten Formulierung, das eine Deutschlehrerin ihrer Schülerin an den Rand ihres Aufsatzes schreibt.

|| 1 Vgl. Wolfram, Parzival III, 140, 17: „der nam ist rehte enmiten durh“ („der Name Parzival bedeutet ›geradenwegs mitten hindurch 11. September) erst einmal kommunikativ verfestigt, gilt für sie dasselbe wie für phraseologische Konstruktionen in der Sprache: Wir können sie nur noch schwer nicht als Einheit wahrnehmen, eine holistische Bedeutungsbildung nur noch schwer unterdrücken. Das gilt, auch wenn beide || andere Betrachter die visuellen Signifikanten auf eine ähnliche Weise – und damit zunächst holistisch – interpretieren würden. 10 Die Austauschbarkeit der gewählten Bildzeichenformen (bei Erhalt bestimmter verstehensrelevanter Prädikationen) bestätigte mir auch die Museumsmitarbeiterin, die das Plakat im Vorfeld der Ausstellung im Jahr 1999 erstellt hat.

‚Ich habe es doch mit eigenen Augen gesehen!‘ | 515

Deutungsalternativen, d.h. die eines festen Bildsyntagmas auf der einen und eines freien Bildsyntagmas auf der anderen Seite, in ikonischer Hinsicht im Grunde gleichberechtigt nebeneinander stehen müssten. Allein die Konvention hebt die Deutung als festes Bildsyntagma – heute – als die bessere bzw. zunächst plausiblere von beiden hervor.

2.2 Das Bild als symbolifiziertes Zeichen Syntaktisch sind die Teile des Bildsyntagmas austauschbar und daher – entgegen der seit mittlerweile mehr als einer Dekade etablierten Deutungskonvention – nicht als feste Bildzeichenverbindung zu verstehen. Semantisch haben sie eines gemeinsam: Alle benannten paradigmatischen Varianten der Bildzeichenverbindung, bei der auch die Konstituente World Trade Center hätte durch andere, für die Konstitution der Textbedeutung mögliche Varianten ersetzt werden können, wie z.B. durch eine Darstellung des Dubai’schen Burj Khalifa Wolkenkratzers oder des Shanghai World Financial Center, teilen sich den semantischen Bezug zur menschlichen Hybris. Vor ihrem Hintergrund sorgt sich der Mensch nicht um die Verschmutzung oder gar Zerstörung der Umwelt (hier konkret: um das „Aussterben der Tiere“, z.B. durch den unnötigen Verbrauch von Brennstoffen, das Vernichten ihrer Lebensräume etc.), sondern nur um das Wachstum der eigenen Entwicklungen (Wirtschaft, Reichtum, Freizeitgestaltung etc.). Die Bildzeichen Flugzeug und Twin Towers sind semantisch also durch ihre symbolische Bedeutung verbunden, die von mir gebotenen Alternativen zu den einzelnen Bildzeichen der Zeichenverbindung durch ihren symbolischen Bezug zum Kraftstoffverbrauch auf der einen und dem babylonisch in den Himmel wachsenden Wirtschaftsfortschritt auf der anderen Seite. Diese für das Textverstehen relevanten Bedeutungsaspekte können nicht über den assoziativen Weg der ikonischen Bildinterpretation erschlossen werden. Für das symbolische Verständnis der Bildzeichen müssen Rezipienten fest in die kulturspezifischen Wissensrahmen (Frames) ihrer Zeit und Gemeinschaft verwoben sein. Steht ihnen dieses verstehensrelevante, sozial geteilte Wissen nicht zur Verfügung, können sie die konventionelle Bedeutung der Zeichen nicht erfassen. Das gilt für die Bedeutung sprachlicher Zeichen ebenso wie für symbolifizierte Bedeutung bildlicher Zeichen. Auf die genannten Beispiele übertragen heißt das: Verfügt ein Zeichennutzer nicht über verstehensrelevantes konventionelles Wissen, können ihm Ähnlichkeitsschlüsse zwar dabei helfen zu erkennen, dass hier jemand ein Flugzeug, zwei Wolkenkratzer und ein mit verschiedenen Tieren besetztes Schiff dargestellt hat, das von einem LKW transpor-

516 | Nina-Maria Klug tiert wird. Er kann jedoch weder über die sprachlichen Zeichen im Text noch über eine ikonische Interpretation der offerierten Bildzeichen erschließen, dass dieser Jemand damit etwas über die menschliche Schuld am Aussterben der Tiere sagen und mit dem visuell-verbalen Verweis auf die Arche Noah zugleich den deontischen Appell an den notwendigen Schutz der Schöpfung vor ihrem Untergang richten wollte. Die Symbolifizierung der zunächst ikonisch erscheinenden Bildzeichen (vgl. zum Prozess der Symbolifizierung von Zeichen Keller 1995, s. auch Klug 2012: 80–104) verleiht ihnen in semantischer Hinsicht ähnliche Eigenschaften wie konventionellen sprachlichen Zeichen, mit dem Unterschied, dass die bildlichen Zeichen durch ihre formseitige Motiviertheit stets auch (oder bei nicht verfügbarem verstehensrelevanten Wissen zumindest) ikonisch interpretierbar bleiben. Allerdings kann diese Art der Interpretation allein nur wenig zum Verständnis des multimodalen Gesamttextes beisteuern.

2.3 Das Bild als generelles Zeichen Richtet man seinen Blick nun noch einmal auf die Tiere in der Arche, so kann man dort solche verschiedener Arten erkennen, z.B. einen Elefanten, einen Tiger, einen Panda, einen Säbelzahntiger, einen tasmanischen Tiger, einen Adler, ein Schnabeltier, eine Giraffe, ein Nashorn, ein Walross oder eine Meeresschildkröte. Die Darstellung dieser Tiere soll das dritte und letzte Beispiel für die konventionsbasierte Interpretation von Bildzeichen einleiten, das in diesem Beitrag gegeben wird. Entsprechend dem semiotischen Potential des Bildes kann man im Bild jeweils nur Einzelexemplare verschiedener Tierarten sehen.11 Trotzdem würde wohl kaum jemand von uns bei der Interpretation auf die Idee kommen, dieses Bild so zu deuten, dass es hier um das Sterben dieser Einzelexemplare ginge, um das Sterben dieses oder eines Pandas oder den Tod dieses oder jenes Adlers. Wie selbstverständlich abstrahieren wir bei der Bedeutungsbildung vom einzeln dargestellten Token, dem einzelnen Tier, auf den Typus, d.h. auf die aussterbende Art, Rasse oder Gattung. Im Falle dieses Ausstellungsplakats liegt das natürlich zu wesentlichen Teilen daran, dass Bild und Sprache sich im Rahmen der Bedeutungsbildung am multimodalen Text gegenseitig ergänzen, bestätigen oder engführen. Die sprachlichen Textteile bestimmen die Bildbedeutung hier durch die Angabe des Untertitels Vom Aussterben der Tiere. Sie legen eine, auf die gesamte Klasse der || 11 Zu den semiotischen Eigenschaften des Bildes vgl. umfassender Nöth (2000: 482–483).

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Tiere (und damit auf den Typus) generalisierte Bedeutungsbildung nahe. Schließlich bezieht sich die standardisierte Bedeutung des Worts Aussterben nicht auf das Sterben einzelner Tiere, sondern auf das Ende evolutionärer Stammlinien, also auf das Sterben ganzer biologischer Arten. Das Wort Tiere zeigt darüber hinaus an, dass die Gefahr des Aussterbens nicht einzelne Arten, sondern potentiell sogar alle Tiere betrifft, auch wenn manche (eben die visuell dargestellten) mehr gefährdet sind oder waren als andere. Jedoch: Wir abstrahieren selbst bei solchen Bildern vom dargestellten Token auf den Typus, bei denen es keine sprachlichen Hinweise gibt, die eine solche generalisierte Deutung des Gesamttextes fordern. Eine interpretative Abstraktion auf den Typus kann mit Blick auf die semiotischen Darstellungsmöglichkeiten des Bildes, das anders als die Sprache immer nur Einzelnes (Konkretes) darzustellen vermag, nie ikonisch bestimmt sein. Generalisieren wir eine Bildbedeutung – und ist das nicht durch die multimodale Einbettung des Bildes in einen explizit verallgemeinernden sprachlichen Kotext bestimmt –, dann kann diese Deutung nur konventionsbasiert erfolgen. Denken wir uns zur Illustration dieser Annahme ein Schild oder besser: Denken wir uns zwei Verbotsschilder, wie sie beispielsweise am Eingang des Dekanats im Institut für Germanistik der Universität Kassel ausgehängt sind (vgl. Abb. 6 unten). Derartige Verbotsschilder werden mit Blick auf die Peirce’schen Zeichenkategorien i.d.R. folgendermaßen bestimmt: 1. Dem runden weißen Schild mit signalrotem dicken Rand und breitem roten Querbalken wird ein symbolischer und damit konventioneller Wert zugesprochen. Hier muss man also die Konvention erlernt haben, um es als Verbot deuten zu können. 2. Die schwarzen Piktogramme, die Zusatzzeichen der Verbotsschilder, werden hingegen typischerweise als ikonische Zeichen verstanden, „die auf den verbotenen Gegenstand bzw. Handlung eindeutig hinweisen. [...] Es gibt bestimmte Normen für die Zeichen, jedes Schild wird von Experten begutachtet und auf Erkennbarkeit des Verbots getestet.“ (Wikipedia: Verbotszeichen, abgerufen am 10. November 2013) Die prinzipielle ikonische Erkennbarkeit eines singulären Referenzobjekts soll an dieser Stelle nicht in Frage gestellt werden, wohl aber die ikonische Erkennbarkeit eines generalisierten Referenten.

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Abb. 6: Verbotsschilder

Nehmen wir nämlich an, wir stünden im Treppenhaus des Fachbereichs 02 der Universität Kassel, vor dem Eingang zum Dekanat, und würden diese Schilder – ganz naiv (!) – betrachten. Was würden uns die Schilder sagen? Dass es sich beim roten durchgestrichenen Kreis um ein Verbotszeichen handelt, haben wir bereits konventionell erlernt. Eine ikonische Interpretation würde uns nun dabei helfen, das Verbot zu konkretisieren, denn es würde uns erkennen lassen, dass das Zusatzzeichen des unteren Verbotsschilds einen Hund darstellt. Wir würden einen schwarzen Hund mit verhältnismäßig langen Beinen erkennen. Ikonizitätsbasiert könnten wir damit einen Corgi oder einen Dackel als Referenzobjekt ausschließen. Wir sehen weiter einen Hund, der spitze Ohren hat. Einen Basset Hound oder einen Beagle als ikonisch erschließbaren Referenten müssten wir damit ebenfalls ausschließen. Zudem besitzt der dargestellte Hund einen kupierten Schwanz und eine lange, spitze Schnauze. Auch Mops, Pekinese oder Französische Bulldogge würden durch diese ikonischen Charakteristika der Zeichenform als Referenten sogleich wegfallen. Durch den hohen Grad von Schematizität des Piktogramms würde es uns, anders als sähen wir ein Verbotsschild, das mit einem Foto bestückt ist, schwer-

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fallen, das Zeichen auf einen singulären Hund einer ganz bestimmten Rasse hin zu deuten. Sind uns verschiedene Hunde(rassen) bekannt, auf die alle dargestellten ikonischen Merkmale passten, könnten wir nicht zweifelsfrei bestimmen, ob das Ikon des dargestellten Hundes auf einen Bullterrier, einen Mexikanischen Nackthund, einen Altägyptischen Haushund, einen Rehpinscher oder beispielsweise einen Chihuahua verweist. Wir könnten durch das Fehlen von Referenzgrößen im Bild weder etwas über die Größe des dargestellten Hundes und seiner Rasse sagen (deshalb kommen sowohl Chihuahua wie auch Bullterrier als Referenten des Bildes in Frage), geschweige denn könnten wir Aussagen darüber machen, ob sich die Darstellung auf diesen oder jenen Chihuahua oder Bullterrier bezieht. In dieser Hinsicht haben Piktogramme im Unterschied zu fotografischen oder realistischen, detailreichen Bildern einen per se abstrakteren, in gewissem Grade verallgemeinernden Charakter (vgl. dazu bereits die Ausführungen in Kapitel 1.1). Wir könnten bei der Rezeption des Piktogramms deshalb abstrahierend vermuten, dass sich das Verbot vielleicht gar nicht auf einen speziellen Hund, sondern auf alle Hunde bezieht, die in ikonischer Ähnlichkeitsbeziehung zu den Charakteristika des dargestellten Einzelexemplars im Bild stehen. Wir könnten mutmaßen, dass sich das Verbot vielleicht deshalb nur auf Hunde mit entsprechenden Charakteristika bezieht, weil z.B. Hunde mit spitzen Schnauzen leichter an zu schützende Dokumente in den Ablagen des Dekanats herankommen könnten als solche mit platten Schnauzen, weil kupierte Schwänze seit 1998 gesetzlich verboten sind oder weil Hunde mit spitzen Ohren und langen Beinen besonders schnell laufen und gut hören können und damit potentiell gefährlicher für Bedienstete oder Studierende der Universität sind als Hunde, die diese Merkmale nicht aufweisen. Dass dieses Verbotsschild laut BGV A8 und ASR A. 1.3 (2007) aber in völlig generalisierter Weise bedeutet: Mitführen von Tieren verboten, kann auf ikonischem Wege nicht erschlossen werden. Ähnlichkeitsschlüsse ermöglichten nicht einmal, von Hunderassen mit entsprechenden Charakteristika (schwarz, kupierter Schwanz, lange Beine, spitze Ohren und Schnauze) auf alle Hunde aller Rassen zu schließen und das Verbot pauschal als Mitführen von Hunden verboten zu verstehen. Derart generalisierende Bedeutungszuschreibungen sind nur mittels kultureller Deutungskonventionen möglich. Die Generalisierungskonvention aber muss ebenso erlernt werden wie das symbolische Wissen um die Verbots-Bedeutung der roten Schildumrandung. Erst vor dem Hintergrund unseres konventionellen Wissens darum, wie Piktogramme auf Verbotsschildern gemeinhin zu verstehen sind, begreifen wir dann auch die Bedeutung des oberen Schildes und wissen, dass wir das Zeichen hier nicht ausschließlich ikonisch zu interpretieren haben. Wir verstehen, dass sich das Verbot des mobi-

520 | Nina-Maria Klug len Telefonierens nicht nur an diejenigen richtet, die sich noch im Besitz von Uralt-Handys befinden, sondern dass auch wir unsere Smartphones nicht benutzen dürfen, selbst wenn diese schon längst keine Antennen mehr besitzen.

3 Fazit und Ausblick Die hier gegebenen Beispiele sollten zeigen, dass auch die Bedeutung von Bildzeichen vielfach nur auf der Basis konventionellen Wissens erschlossen werden kann. Anders als gemeinhin angenommen, markiert der Weg einer rein ‚analog‘ verlaufenden, ikonischen Bildinterpretation oft nur den ersten Schritt eines mehrdimensionalen und dynamischen Interpretationsprozesses von Bildzeichen. Durch die potentiellen Möglichkeiten einer ikonischen, indexikalischen und symbolischen Bildinterpretation (und damit Bezugnahme auf einen außerhalb des Bildes liegenden Referenten) kommen dem Bildzeichen komplexere semiotische Eigenschaften zu, als ein pauschaler Ikonizitätsbegriff vermuten lässt. Er kann deshalb nicht dazu dienen, das Wesen des Bildzeichens (bzw. seiner Interpretation) in Abgrenzung zu dem bzw. der des sprachlichen Zeichens zu erfassen. Das Bildzeichen hat nicht selten einen motivierten, ikonischen oder gar ikonisch-indexikalischen wie auch einen konventionellen Charakter zugleich. In der Eigenschaft der Konventionalität lassen sich Gemeinsamkeiten im semantischen Potential, den affordances, der Zeichenmodalitäten Bild und Sprache im Rahmen der Bedeutungsbildung feststellen. In der formseitigen Motiviertheit des bildlichen und der z.T. völligen Arbitrarität des sprachlichen Zeichens zeigen sich jedoch auch Unterschiede zur Sprache, die uns die semiotischen Eigenarten und Besonderheiten beider Zeichenmodalitäten klar vor Augen führen. Sie machen deutlich, dass es dem bildlichen Zeichensystem nicht entsprechen kann, Kategorien, die zur Beschreibung der Sprache entwickelt worden sind, unreflektiert auf die Analyse des Bildes zu übertragen. Die individuellen semiotischen Eigenschaften der verschiedenen Zeichenmodalitäten sowie die Strategien ihres reißverschlussartigen Ineinandergreifens im Rahmen der Bedeutungsbildung im Text, Gespräch (bzw. in verschiedenen Text- und Gesprächssorten) oder Diskurs sind ebenso wie die Möglichkeiten des methodischen oder terminologischen Zugriffs noch systematischer zu beschreiben (zur Metapher des Wort-Bild-Reißverschlusses vgl. ursprünglich Holly 2009, vgl. auch Klug & Stöckl 2015). Hier öffnet sich ein ebenso weites wie viel-

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versprechend-fruchtbares Feld für zukünftige Forschung. Diese kann vor allem von einer phänomenorientierten Sprachwissenschaft geleistet werden (vgl. zu diesem Paradigma einer neueren Sprachwissenschaft grundlegend Gardt demn.). Im Anliegen, kommunikative Phänomene möglichst holistisch zu erfassen und ihnen so – unabhängig von den disziplinären Grenzen, aus denen heraus geforscht wird – auf bestmögliche Weise gerecht zu werden, betrachtet diese Art der pragmatisch orientierten Sprachwissenschaft ihren Hauptgegenstand Sprache zunehmend auch im Kontext seiner multimodalen Zusammenhänge. Diese Form der Kontextualisierung bedeutet: Sie untersucht Sprache immer häufiger in ihrer für die Bedeutungsbildung relevanten kommunikativen Verknüpfung mit anderen para- und nicht-sprachlichen Zeichenmodalitäten – wie dem Bild oder der Typographie – und bietet so eine analytische Annäherung an unsere Kommunikation, ‚wie sie eigentlich ist‘, nämlich grundsätzlich multimodal (s. Kress & van Leeuwen 1998: 186).

4 Literatur Barthes, Roland (1989): Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Blunck, Lars (2010) (Hrsg.): Die fotographische Wirklichkeit. Inszenierung – Fiktion – Narration. Bielefeld: transcript. Busse, Dietrich (2007): Diskurslinguistik als Kontextualisierung: Methodische Kriterien. Sprachwissenschaftliche Überlegungen zur Analyse gesellschaftlichen Wissens. In: Ingo Warnke (Hrsg.): Diskurslinguistik nach Foucault. Berlin, New York: de Gruyter, 81–105. Busse, Dietrich (2012): Frame-Semantik. Ein Kompendium. Berlin, Boston: De Gruyter. Doelker, Christian (2002): Ein Bild ist mehr als ein Bild. Visuelle Kompetenz in der MultimediaGesellschaft. 3. Aufl. Stuttgart: Klett–Cotta. Gardt, Andreas (2008): Referenz und kommunikatives Ethos. Zur Forderung nach Wahrheit im Alltag des Sprechens. In: Steffen Pappert, Melani Schröter & Ulla Fix (Hrsg.): Verschlüsseln, Verbergen, Verdecken in öffentlicher und institutioneller Kommunikation. Berlin: Erich Schmidt, 15–30. Gardt, Andreas (demn.): Phänomenorientierte Sprachwissenschaft. Ein Plädoyer. Erscheint demnächst in: Vilmos Ágel & Andreas Gardt (Hrsg.): Paradigmen der aktuellen Sprachgeschichtsforschung (Jahrbuch für germanistische Sprachgeschichte 4). Berlin, Boston: De Gruyter. Gombrich, Ernest H. (1984): Bild und Auge. Neue Studien zur Psychologie der bildlichen Darstellung. Stuttgart: Klett–Cotta. Holly, Werner (2009): Der Wort-Bild-Reißverschluss. Über die performative Dynamik der audiovisuellen Transkriptivität. In: Angelika Linke & Helmuth Feilke (Hrsg.): Oberfläche und Performanz. Untersuchungen zur Sprache als dynamischer Gestalt. Tübingen: Niemeyer, 389–406. Jamieson, Harry G. (1985): Communication and Persuasion. London: Croom Helm.

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Nikola Roßbach

„in weniger als einer Stunde fühlte ich mich befreundet“ Aneignung fremder Dinge in Goethes Italienischer Reise || Universität Kassel, FB 02, Institut für Germanistik, Kurt-Wolters-Straße 5, 34125 Kassel, [email protected]

Wie glücklich mich meine Art die Welt anzusehn macht ist unsäglich, und was ich täglich lerne! und wie doch mir fast keine Existenz ein Rätsel ist. Es spricht eben alles zu mir und zeigt sich mir an. (Goethe 1990: 12; im Folgenden mit der Sigle TB belegt)

Goethe erobert Italien. Alles liegt offen da für den Reisenden und Reisebeschreibenden, der sich durch eine besondere Fähigkeit auszeichnet, die fremde Welt anzusehen – und dem noch dazu diese Welt bereitwillig und kommunikativ entgegenkommt: Sie spricht zu ihm und zeigt sich ihm an. Das Buch der Natur liegt dem Ich-Erzähler offen und lesbar vor Augen: Meine Übung, alle Dinge, wie sie sind, zu sehen und abzulesen, meine Treue, das Auge licht sein zu lassen, meine völlige Entäußerung von aller Prätention kommen mir einmal wieder recht zustatten und machen mich im stillen höchst glücklich. Alle Tage ein neuer merkwürdiger Gegenstand, täglich frische, große, seltsame Bilder und ein Ganzes, das man sich lange denkt und träumt, nie mit der Einbildungskraft erreicht. (Goethe 1974: 134; im Folgenden mit der Sigle IR belegt) 1

Die Bedeutung des Sehens für den ‚Augenmenschen‘ Goethe wurde vielfach betont. Zumal die aktuelle Forschung hat sich, im Zuge des wachsenden Interesses für material cultures, dem Goethe’schen Konzept der Anschauung, seinem gegenständlichen Denken und der Weimarer ‚Kultur des Sinnlichen‘ im Allgemeinen noch einmal intensiv zugewandt (vgl. z.B. Böhmer, Holm, Spinner & Valk 2012; darin v.a. Grave 2012). Geradezu paradigmatisch für die Vorfüh|| 1 Die Unterscheidung von Tagebuch und IR ist von der Forschung häufig diskutiert worden; das wird hier nicht wiederholt, da für mein Thema irrelevant. Es sind zwei verschiedene literarische Dokumente, die ein erzählendes Subjekt inszenieren, das nach Italien reist. Die Unterschiede betont z.B. Gendolla 2003, die Gemeinsamkeiten sehen van Ingen 1988 und Fuchs 1993.

524 | Nikola Roßbach rung und Reflexion visueller Wahrnehmung bei Goethe erscheinen die Texte zu seiner 1786–1788 unternommenen Italienreise, speziell das Tagebuch der italienischen Reise für Charlotte von Stein und die Italienische Reise. 2 Die Aufwertung der ‚unteren‘ Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögen in den ästhetik- und erkenntnistheoretischen Modellen des 18. Jahrhunderts wird in Goethes literarischer Fokussierung auf die sinnliche Erkenntnis fremdkultureller Phänomene gleichsam verlängert und pointiert. Im Folgenden soll der sprachlich gestaltete Zugriff des im Text inszenierten Italienreisenden auf die fremde Kultur, auf Menschen und Dinge, überprüft werden. Zu fragen ist nach Möglichkeiten und Strategien des Erzählsubjekts, auf das Andere in seiner Eigentlichkeit zuzugreifen, es wahrzunehmen und zu erkennen. Gibt es für den ‚kompetenten Sehenden‘ keine Rätsel, liegt die fremde Welt offen dar, ist tatsächlich „alles“ unvermittelt lesbar und damit zugleich sprachlich erfassbar? Was beschreibt das Ich, wenn es erklärt: „Zu meiner Weltschöpfung hab’ ich manches erobert“ (TB 27)? Gestaltet der Text die eigentliche Welt oder die eigene Welt?

1 Reiseziel Italien Seit dem Mittelalter ist Italien aufgrund seiner kulturellen und religiösen Bedeutung ein bedeutendes Reiseziel für die Deutschen – und noch im 20. Jahrhundert wird der Spruch geprägt, ein Deutscher ohne Italienerlebnis sei gar kein Deutscher (vgl. Emrich 1959). Zunächst machten sich vornehmlich Pilger auf den transmontanen Weg; seit dem Spätmittelalter wurden verstärkt Handwerker- und Studienreisen unternommen. Im späten 16. Jahrhundert gewinnt das Phänomen der Bildungsreise schärfere Konturen: Ihre markanteste Ausprägung erhält sie „als Reise zum Erwerb von Alltagswelt-Wissen“ (Leibetseder 2004: 19) der mittel- und westeuropäischen Oberschichten – bezeichnet als Kavalierstour oder auch, etwas unschärfer, als ‚Grand Tour‘ (vgl. Leibetseder 2004: 19–23). 3 Nach der Einschätzung Attilio Brillis (2012: 17) gab es zwischen dem Ende des 16. und dem 19. Jahrhundert keinen europäischen, insbesondere keinen englischen Intellektuellen, der nicht auf die eine oder andere Weise seine Pilgerfahrt || 2 Letztere erschien 1816/17 unter dem Titel Aus meinen Leben. Zweiter Abteilung Erster und Zweiter Teil und wurde 1829 als Italiänische Reise in der Ausgabe letzter Hand erneut publiziert, nun ergänzt um einen dritten Teil, den Zweiten römischen Aufenthalt. 3 Vgl. näher zur Terminologieproblematik Leibetseder 2004: 19–23. Einschlägig dazu ist Brilli 2012; vgl. auch Babel & Paravicini 2005.

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nach Italien unternommen und dazu die entsprechende Reiseliteratur verfasst hätte. Literarischen Reisen begegnet man ebenfalls verstärkt seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert: Das 18. Jahrhundert gilt als goldenes Zeitalter nicht nur des Reisens, sondern auch der Reiseliteratur. Die enzyklopädisch-kompilativen, normierten Reisebeschreibungen der Frühen Neuzeit werden seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allmählich abgelöst von empfindsamen, subjektorientierteren Reisen – paradigmatisch: Laurence Sterne, Wilhelm Heinse –, von Kunstreisen, Erlebnis- und Selbstfindungsreisen – paradigmatisch: Goethe, dessen italienische ‚Wiedergeburt‘ hier nur die populärste literarische Inszenierung ist, – und schließlich auch von gesellschafts-, kultur- und literaturkritischen Reisen – paradigmatisch: Johann Gottfried Seume, Heinrich Heine (vgl. dazu u.a. Kuhn 1966; Pütter 1998; Grimm 2007). Ein skizzenhafter Überblick wie dieser kann selbstredend nur grobe Linien ziehen. Die Teleologie des Genres Reisebeschreibung ist nicht so gradlinig, wie sie hier erscheinen mag. Es macht daher auch wenig Sinn, schematisch drei Epochen der Italienreise – Kavaliersreisen im 17., Künstlerreisen im 18., wissenschaftliche Reisen im 19. Jahrhundert (vgl. Kuhn 1966: 6) – zu unterscheiden: Noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gilt die normative Kraft der Apodemiken (vgl. Brilli 2012: 86, 118 u. ö.); noch die sentimental travellers gehen die gleichen Wege entlang wie die Kavaliere mit ihrem strikten Programm; noch Goethe orientiert sich erstaunlich eng am enzyklopädisch-gelehrten Modell der väterlichen Bildungsreise und sammelt, ganz wie die aristokratischen Reisenden der Frühen Neuzeit, Bildungsgüter als symbolisches Kapital zur Bestückung von Wohnung und Bibliothek (vgl. Miller 2002: 58–62). 4 Im 19. Jahrhundert stehen neben den ‚wissenschaftlichen‘ Reisen ganz andere Italienbilder, romantische, biedermeierliche und realistische. Jede literarische Italienreise präsentiert sich dabei als Wiederholung mit Unterschied, changierend zwischen Repetition und individueller Variation. Die literarische Moderne gestaltet Italien weiterhin als bedeutendes Reiseziel, das indessen nur in seiner Pluralität und Diversität angemessen zu erfassen ist. Signifikant ist dabei eine neue Semantik des Begriffs ‚Italien‘. Dieser erscheint nun nach der historischen Zäsur von 1861, der Nationalstaatsbildung nach Jahrhunderten des Partikularismus und der Fremdherrschaft, nicht mehr nur kulturell, sondern auch politisch aufgeladen. || 4 Anders Pütter (1998: 21 u. ö.), die die statistisch-enzyklopädische Wissenstradition bei Volkmann an ein Ende gekommen sieht. Goethe habe Volkmann zwar im Tornister, aber nur, um gebildete Selbstfindung betreiben zu können.

526 | Nikola Roßbach Die modernen Konstruktionen kulturellen Wissens über das Reiseziel Italien sind nicht ohne die literarische Tradition zu denken: Die „Pathetik des großen Bruchs“ (Grimminger 1995: 21) ist eine typisch moderne Geste, der (auch) in der Italiendichtung keine Realität in Form einer radikalen Zäsur entspricht. Weiterhin entstehen literarische Auseinandersetzungen mit Italien als Klassikland, als Kulturreservat, als Museum, als (H)Ort der Idee einer translatio imperii et studii. Einerseits arbeitet die Moderne weiter am Traum von Italien als ersehntem Land der Bildung, des Wissens, der Kunst, der Kultur, andererseits jedoch auch am Alptraum von Italien: Italienenttäuschung, geboren aus dem Widerspruch von Ideal und Wirklichkeit, ist schon seit dem 18. Jahrhundert topisch geworden. 5 Das Reiseziel Italien bedeutet in der literarischen Moderne also zugleich Mythos und Mythosdestruktion, Kunstkammer und deren Entrümpelung, Traumziel und Entzauberung.6 Die Erforschung der Italienreise gehört zum literaturwissenschaftlichen Mainstream. 7 Speziell das 18. Jahrhundert steht mit seinen aufklärerischen, empfindsamen und klassischen Reisebeschreibungen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Erst seit den 1980er Jahren etablierte sich die Reiseliteratur im Zuge der Erweiterung des Literaturbegriffs als Forschungsgegenstand. Noch 1992 schrieb Hans-Wolf Jäger in einem Tagungsband zu Europäischem Reisen im Zeitalter der Aufklärung, es mache vor allem Vergnügen, nicht in strikter Systematik über Reiseliteratur zu sprechen; und ginge es erst einmal ganz streng zu mit der vollständigen Auflistung alter Reisewege, dem peniblen Nachrechnen der Reisekosten, der bibliographischen totalen Verzeichnung der Itinera: dann ist diesem anmutigen Lese- und Forschungsfeld der Charme ausgetrieben, verflogen die Munterkeit in Untersuchung und Darstellung. (Jäger 1992: 7)

Ganz davon abgesehen, dass Goethes Budget schon längst ‚penibel nachgerechnet‘ wurde – es sind 7000 Taler (vgl. Schmidt 1986: 14) –, hat sich die Erforschung der Kunst des Reisens jedoch durchaus als gewinnbringend erwiesen. An sie wird hier angeknüpft.

|| 5 Italienhasser wie Johann Wilhelm von Archenholtz, Gustav Nicolai, August von Kotzebue und später Karl Scheffler sind die Ahnen moderner Italien-Bilderstürmer. Zur Tradition der Italienenttäuschung vgl. Battafarano 1997 und v.a. den Band von Imorde & Wegerhoff 2012. 6 Literarische Bild- und Sprachräume von Italien gestalten zahlreiche Autorinnen und Autoren des 20. Jahrhunderts (vgl. Maurer 1986; Ujma 2008). 7 Vgl. die Bibliographie zu Italienreisen in der deutschen Literatur (Kraemer & Gendolla 2003), die 260 Einträge zu Quellen und 808 zu Forschungsliteratur aufweist; vgl. auch den Forschungsüberblick bei Pütter 1998: 7–10.

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2 Auch ich in Arkadien: das Subjekt der Italienischen Reise Die Italienreise Johann Wolfgang von Goethes wird üblicherweise als subjektive, ästhetisch bildende Reise wahrgenommen: als klassische Kunstreise schlechthin, die sich klar abgrenzt von der enzyklopädischen Bildungsreise der Aufklärung. Diese Einschätzung verdankt sich weniger der konkreten Unternehmung selbst als dem inszenierten Textsubjekt. Das Italien-Tagebuch und noch mehr die Italienische Reise sind autobiographisch inspirierte, gleichwohl (semi)fiktionale Texte über die künstlerisch-ästhetische Entwicklung und den Bildungsgang eines großen Einzelnen, der selbst als erzählendes Ich von dieser Entwicklung Zeugnis gibt. Die wirkungsmächtige Inszenierung des spontan aufgebrochenen, erlebenden und empfindenden Kunstreisenden verschattet dabei wichtige Tatsachen der realen Reise, wie etwa den enzyklopädischen Anspruch Goethes (vgl. auch Boerner 1992) und sein Vorhaben, ein bestimmtes Programm umzusetzen, durchaus auch auf den Spuren des Vaters. Dieses Programm besteht darin, sich der Fremde in einer Weise anzunähern, die als kolonisierende Aneignung beschrieben werden kann. Auch ich in Arkadien – bereits das Motto der Italienischen Reise, das Goethe den beiden Bänden der Erstausgabe von 1816/1817 voranstellt, signalisiert Anspruch auf Landnahme. Das Subjekt besetzt das fremde Land. Und nicht nur in jener paratextuellen Formel schreibt sich das Ich der anderen Kultur ein, sondern auch piktural und monumental: Tischbeins berühmtes Porträt Goethe in der Campagna, von dessen Entstehung die Italienische Reise berichtet, platziert den Dichter in ein arkadisch-antikisiertes Italien. Darüber hinaus werden weitere Porträtgemälde und -zeichnungen erwähnt, zudem die „in schönem und edlem Stil“ gehaltene Büste, die Alexander Trippel im Auftrag Christian August von Waldecks 1787 von Goethe schuf und die dieser so kommentiert: „[...] ich habe nichts dagegen, daß die Idee, als hätte ich so ausgesehen, in der Welt bleibt.“ (IR 397) Das Ich imprägniert die Fremde – als Figur, als Bild, als Zitat. Wie gelangt es aber zur eigentlichen Erkenntnis des Fremden? Mühelos, behauptet es kontinuierlich, und nimmt sich selbst als Beobachtersubjekt zu diesem Zweck zurück. Die Objektivitätsmaxime wird allerdings nicht durchgehalten. Das erzählende Ich, in homodiegetischer Erzählsituation identisch mit dem erlebten Ich, bleibt durchgängig und unübersehbar präsent – und seine Präsenz ist entscheidend. Es existiert eine dialogische Beziehung zwischen Subjekt und Objekten der Erkenntnis: „Du weißt was die Gegenwart der Dinge zu mir spricht und ich bin den ganzen Tag in einem Gespräche mit den Dingen“ (TB 75). Inszeniert

528 | Nikola Roßbach wird eine gelungene, unmittelbare Kommunikation mit dem Fremden, das sich dem Reisenden in seiner Eigentlichkeit enthüllt. Dem Autor gelingt damit eine literarische Leserverführung, die vielfach erfolgreich war und ist: Die Behauptung, „alle Dinge, wie sie sind, zu sehen“ (IR 134), erscheint vielen Goethe-LeserInnen und -ForscherInnen bis heute als ‚Wahrheit‘. Heinrich Heine verspottete zwar den Goethe’schen Erkenntnisanspruch als selbstverliebten Größenwahn – „Die Natur wollte wissen, wie sie aussieht, und sie erschuf Goethe.“ (Heine 1986: 61) –, bewunderte aber zugleich doch Objektivität, Wahrheit und Reinheit seines dichterischen Zugriffs auf die Dinge (vgl. van Ingen 1988: 181). In seinen Italienreise-Texten setzt Goethe den Anspruch auf Darstellung von Eigentlichkeit nicht nur narrativ um, sondern reflektiert ihn; Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Versprachlichungsprozesse werden ausdrücklich thematisiert (vgl. Egger 2006: 14 u.ö.). Das Tagebuch und die Italienische Reise lassen sich daher als Vorführung von sinnlichen und kognitiven Aneignungsstrategien fremdkultureller Dinge lesen. Diese Strategien bestehen vor allem in zwei Praktiken: Sehen und Denken.

3 Ich mache große, große Augen: Sehen der fremden Dinge Dies Buch wär unvollständig, böte Es nicht auch ein Kapitel Goethe. Der Dichter reiste mit viel Mühn Ins Land, wo die Zitronen blühn [...] Und gleich – das soll uns Vorbild sein – Gab er viel acht auf das Gestein: Ob’s gelblich, rötlich oder schwarz, Ob es Granit sei, Schiefer, Quarz. [...] Kaum, daß er’s Frühstück nunterwürg’ Fuhr er schon weiter ins Gebürg Und reiste gleich, in einem Renner, Nach Mittenwald und auf den Brenner. Und wichtig schien ihm wieder dies: Bald sah er Kalk, bald sah er Kies. (Roth 1954: 332)

In humoristischer Zuspitzung entwirft Eugen Roth hier den Italien bereisenden Weimarer als ‚Augenmenschen‘, der sich besonders für die (mineralischen) Dinge interessiert.

„in weniger als einer Stunde fühlte ich mich befreundet“ | 529

Gotthold Ephraim Lessing hatte 1768 in Auseinandersetzung mit Winckelmanns Deutung des Borghesischen Fechters energisch erklärt: „Denn ich, ich bin nicht in Italien gewesen; ich habe den Fechter nicht selbst gesehen! – Was tut das? Was kömmt hier auf das selbst Sehen an?“ (Lessing 1974: 232) Goethe würde antworten: Alles. Im Gegensatz zu Lessing, der dann später doch, wenn auch mit wenig Enthusiasmus gen Süden reiste, ist es dem elf Jahre später aufbrechenden Italienfahrer Goethe gerade um das Sehen, um die eigene sinnliche Wahrnehmung der Dinge zu tun: „Man habe auch tausendmal von einem Gegenstande gehört, das Eigentümliche desselben spricht nur zu uns aus dem unmittelbaren Anschauen“ (IR 215). In diesem Sinne erscheint das erzählende Ich nicht nur der Italienischen Reise, sondern auch des Tagebuchs als eines, das beobachtend ‚herumschleicht‘ und „große, große Augen“ macht (IR 186): Ich gehe nur immer herum und herum und sehe und übe mein Aug und meinen innern Sinn. (TB 75) Ich habe nun erst die zwei Italiänischen Städte gesehn [...] und habe noch fast mit keinem Menschen gesprochen aber ich kenne meine Italiäner schon gut. [...] Ich schleiche noch immer herum, tue die Augen auf und sehe, wie natürlich, täglich mehr. (TB 77–78) Heute schlich ich beobachtend meiner Weise nach durch die Stadt [...]. (IR 199)

Sehen erscheint als Fertigkeit, zu der das Ich eine besondere persönliche Veranlagung hat, die aber auch einzuüben und zu entwickeln ist. Mit unverhohlenem Stolz heißt es, man müsse „nur die Kinder und die gemeinen Leute sehn, wie ich sie jetzt sehe und sehen kann [...]“ (TB 77). Jene Möglichkeit zum erklärtermaßen unvoreingenommenen und passiven Beobachten eröffnet sich nur dadurch, dass andere das obligatorische Beschreibungsprogramm bereits erfüllt haben. Längst Beschriebenes erneut zu beschreiben – diese Problematik ist ein Topos zahlreicher Italienreisebeschreibungen von der Frühen Neuzeit bis in die Moderne. Goethe schreibt an seinem Reiseführer Volkmann entlang, der ihn von den ‚statistischen‘ Berichtspflichten entlastet: „[...] nur schaffe dir Volckmanns Reise nach Italien, etwa von der Bibliothek, ich will immer die Seite anführen und tun als wenn du das Buch gelesen hättest“ (TB 56). Kann nun – bei derart optimierten Bedingungen – ein ‚reines Sehen‘ der eigentlichen Dinge gelingen? Geht so etwas überhaupt unter irgendwelchen Bedingungen? Zweifel sind angebracht. Gerade Goethes Italienreise-Texte erscheinen als literarisch-sprachliches Paradebeispiel für den heutigen (kognitions)wissenschaftlichen state of the art, dass individuelle menschliche Sinneswahrnehmung nicht objektiv, sondern ein von multiplen Bedingungen abhängiger Übertragungs- und Selektionsprozess ist: ‚Wirklichkeit‘ scheint bei

530 | Nikola Roßbach Goethe gerade nicht in ihrer Eigentlichkeit gesehen zu werden; sie wird selektiv wahrgenommen und häufig idealisiert. Der Grundtenor der italienischen Reiseerzählungen zielt auf Leben, Gegenwart, Schönheit, Positivität, Klassik. Abweichendes wie etwa die römische Barockarchitektur wird übergangen und selbst die Antike wird nur partiell, in ihren lebenszugewandt-harmonischen Aspekten, gewürdigt (vgl. van Ingen 1988: 188–191). Der Italienreisende zeigt sich allerdings zuweilen durchaus erkenntniskritisch – und deutet an, die fremde Kultur beobachtend doch nie ganz erfassen bzw. einer dauerhaften Erkenntnis der Dinge nicht habhaft werden zu können (vgl. Miller 2002: 83, 131). Hinter deklarativen Objektivitätsbehauptungen scheint die Ahnung auf, dass sinnliche Wahrnehmung keine final eindeutigen Referenzen auf eine ‚eigentliche‘ Wirklichkeit herstellen kann.

4 „Ich habe viel gesehen und noch mehr gedacht“ (IR 210): Denken als allgemeine Begriffsbildung Goethe gestaltet das Sehen nicht einfach nur als visuellen Wahrnehmungsvorgang, sondern immer schon auch als Denk- und damit Erkenntnis- und Verstehensprozess. Sinnliche Wahrnehmung ist von Anfang an auf das KognitivBegriffliche hin orientiert. Dadurch soll aus den gesehenen Dingen ein Allgemeines abgeleitet werden können, das sie zugleich transzendiert. In Verona versucht der Italienreisende, „aus der eigenen Anschauung das Fremde auf den Begriff zu bringen und beliebige Anregungen beim Spazierengehen ins Typische und Gültige zu verwandeln“ (Miller 2002: 63); in Rom will er „das bestehende, nicht das vorübergehende“ Rom sehen („Besonders ließt sich Geschichte von hier aus ganz anders, als in einem jeden andern Orte der Welt. Man meynt man sähe alles, alles reiht sich.“ [TB 109]), und auch in Neapel war er „nichts weniger als fleißig, doch hab’ ich viel gesehen und mir einen allgemeinen Begriff von dem Lande, seinen Einwohnern und Zuständen gebildet“ (IR 222). Die Suche nach der Analogie, nach dem Gesetz dahinter, nach dem Zusammenhang ist bekanntlich ein zentrales erkenntnistheoretisches Prinzip Goethes. In seinen Italienreise-Texten wendet er es bei der Beobachtung natürlicher, künstlerischer, architektonischer und sozialer Phänomene an. Dabei vollzieht sich der Übergang von der sinnlichen Anschauung der Dinge zu ihrem implizierten allgemeinen Begriff und damit auch zu ihrer behaupteten ‚Eigent-

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lichkeit‘ konkret mittels der Praktiken des Vergleichens und Ordnens von empirischen Einzelbeobachtungen. Zuweilen wird spürbar, dass jener Akt synthetisierenden Sehens und Denkens, des sinnlichen Erkennens ‚von etwas als etwas‘ bei aller inszenierten Mühelosigkeit mentale Anstrengung bedeutet – vor allem angesichts von Ruinenfeldern, deren chaotische Ungeordnetheit und Kontiguität (nicht nur) Goethe stark irritierte: Fühlt’ ich nicht solchen Anteil an den natürlichen Dingen und säh’ ich nicht, daß in der scheinbaren Verwirrung hundert Beobachtungen sich vergleichen und ordnen lassen, wie der Feldmesser mit einer durchgezogenen Linie viele einzelne Messungen probiert, ich hielte mich oft selbst für toll. (IR 211) Gewiß man muß sich einen eignen Sinn machen Rom zu sehn, alles ist nur Trümmer, und doch, wer diese Trümmer nicht gesehn hat, kann sich von Größe keinen Begriff machen. [...] Alle neue Palläste sind auch nur geraubte und geplünderte Theilgen der Welt – Ich mag meinen Worten keine weitere Ausdehnung geben! Genug man kann alles hier suchen nur keine Einheit keine Übereinstimmung. und das ists was viele Fremde so irre macht. Ich bin nun drey Wochen da und ich sage selbst: wenn es einem Ernst ist kann man ein halb Jahr bleiben, um nur erst gewahr zu werden wo man ist. (Goethe 1987: 109; in einem Brief an Herder vom 29.12.1786)

Meist jedoch vollzieht sich die Denkarbeit des Italienreisenden mit eleganter Leichtigkeit. Der In-Augenscheinnahme fremder Dinge folgt in kürzester Zeit die Vertrautheit mit ihnen und eine allgemeine Begriffsbildung, so etwa bei der Betrachtung sizilianischer Ruinen: [Ich] erinnerte mich der Kunstgeschichte […] vergegenwärtigte mir den strengen Stil der Plastik, und in weniger als einer Stunde fühlte ich mich befreundet, ja ich pries den Genius, daß er mich diese so wohl erhaltenen Reste mit Augen sehen ließ, da sich von ihnen durch Abbildung kein Begriff geben läßt. (IR 219–220)

Die fremde Kultur erscheint hier als sichtbar, lesbar, in ihrer Eigentlichkeit als ‚Ganzes‘ begrifflich fassbar. Archiviert wird sie im Text, den der Reisende rückblickend komponiert; als wichtiger ‚Zwischenspeicher‘ dienen allerdings das Ich und seine Memorialfunktion selbst: Der Erzähler inszeniert sich als neutralen Containerraum, der das Gesehene „in einem erfreulichen Gefäß bewahren“ (IR 300) kann; ähnlich heißt es später: „Meine Vorstellung, mein Gedächtnis füllt sich voll unendlich schöner Gegenstände“ (IR 369). Gemäß einer konventionellen, zunehmend angezweifelten Forschungsthese werden in Goethes Italienischer Reise die unvoreingenommen-objektive Betrachtung des Fremden und die daraus abgeleitete generalisierende Begriffsbildung nicht nur behauptet, sondern gelingen tatsächlich auch:

532 | Nikola Roßbach Goethe schreitet in Italien dank seiner vorurteilsfreien Aufnahme dieses neuen Landes, aber auch dank der ihm hier gewährten Distanz bei seinen Studien der Natur, der Kunst und der Gesellschaft jedesmal von konkreter Einzelbeobachtung zu immer stärkerer Abstraktion fort und entdeckt dabei nicht nur den engen Zusammenhang dieser drei Lebensbereiche, sondern in ihnen auch das gemeinsame Prinzip des Wahren, Gesetzlichen und Notwendigen, was sich auch als das Prinzip des Klassischen zusammenfassen läßt. (Niggl 1993: 109)

Doch ‚entdeckt‘ das Erzählsubjekt tatsächlich einen real vorhandenen ‚Zusammenhang‘ der Dinge – oder generiert es ihn vielmehr erst im diskursiven Raum des autobiographischen Textes? Eine Frage, die nicht nur erkenntnistheoretisch, sondern auch literarisch-erzählstrukturell relevant ist. Unbestritten fest steht, dass es sich bei den allgemeinen Begriffsbildungen in Goethes Italienreise-Texten um sprachliche Gesten der Behauptung handelt: Be-hauptet (im doppelten Sinn) wird der erfolgreiche Zugang zum eigentlichen Wesen des Fremden. Diese Geste soll im nächsten Abschnitt noch einmal genauer geprüft werden.

5 „alles Übrige seh’ ich auch schon im Ganzen“: sinnliches Erkennen der Ideen Es geht also ‚ums Ganze‘. Warum dieses zu erkennen so erstrebenswert und das Hauptziel hinter allem Sehen der Dinge ist, das formuliert am konzisesten in Goethes Sinn dessen römischer Freund Karl Philipp Moritz. In seinem Aufsatz „Über die bildende Nachahmung des Schönen“, der Aufnahme in die Italienische Reise fand, dient ihm eine anthropologisch bedingte Sehnsucht als Begründung: Von den Verhältnissen des großen Ganzen, das uns umgibt, treffen nämlich immer so viele in allen Berührungspunkten unsres Organs zusammen, daß wir dies große Ganze dunkel in uns fühlen, ohne es doch selbst zu sein. Die in unser Wesen hineingesponnenen Verhältnisse jenes Ganzen streben, sich nach allen Seiten wieder auszudehnen; das Organ wünscht sich nach allen Seiten bis ins Unendliche fortzusetzen. Es will das umgebende Ganze nicht nur in sich spiegeln, sondern, soweit es kann, selbst dieses umgebende Ganze sein. (IR 541)

Es sind nicht nur das fremde Land und die fremden Menschen, die Goethe ‚auf den Begriff bringen‘ will – er spricht beispielsweise von dem „großen, schönen, unvergleichbaren Gedanken von Sizilien“ (IR 322), von der „Haupt Idee [...] Volk“ (TB 90). Das Ganze, um das es ihm auf klassischem Boden vor allem geht,

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ist noch universaler ausgerichtet: die Idee eines allgemeinen Gesetzes bei der Metamorphose der Pflanzen: Den Hauptpunkt, wo der Keim steckt, habe ich ganz klar und zweifellos gefunden; alles übrige seh’ ich auch schon im ganzen, und nur noch einige Punkte müssen bestimmter werden. Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, das heißt, die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten und nicht etwa malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen. (IR 323–324)

Die Behauptung, eine Idee gleichsam mit den Augen zu sehen – hier die Idee der Urpflanze –, widerspricht der kantianischen Erkenntniskritik. Jonas Maatsch (2012) hat einen instruktiven Aufsatz zur anschaulichen Erkenntnis bei Goethe geschrieben und ausgeführt, warum diese Vorstellung den Kantianer Schiller nicht überzeugen konnte. Allgemeines Wissen aus Anschauung zu gewinnen, wie dies in Goethes ebenso synthetisierendem wie dynamischem Modell angelegt ist, ist nach Kant unmöglich, der rein rezeptive, sinnliche Anschauung des empirischen Gegenstandes und durch den Verstand geleistete verallgemeinernde Begriffsklassifikation unterscheidet. Dem Italienreisenden aus Weimar hingegen gelingt – in der narrativen Inszenierung – der Blick aufs Ganze, auf die eigentliche Idee, die zudem memorial und sprachlich gesichert werden kann: „Ich habe indes gut aufgeladen und trage das reiche, sonderbare, einzige Bild mit mir fort“ (IR 99). Alles im Gefäß der Erinnerung bewahren, ein Bild mit fortnehmen aus der Fremde, Begriffe mit nach Hause schleppen (vgl. IR 388) – solche metaphorischen Ausdrucksweisen implizieren die Vorstellung, dass Ideen nicht nur diskursiv im Text vorhanden sind, sondern reale, sinnlich erfahrbare Entitäten, die in gewisser Weise in den Dingen enthalten sind und zugleich über sie hinausgehen. Im philosophischen Universalienstreit würde der Verfasser der Italienischen Reise zweifellos keine nominalistische Position einnehmen, sondern eine stark realistische. Gerade Ideen sind für ihn das Realste, noch realer als die fremden Gegenstände selbst: „[ich] häufe so viel von allen diesen Begriffen und Talenten auf mich, als ich schleppen kann, und bringe auf diese Weise doch das Reellste mit“ (IR 388).

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6 „[…] es ist alles, wie ich mir’s dachte, und alles neu“: Bestätigen des Bekannten Daß ich sonst so an den Gegenständen klebte und haftete, hat mir nun eine unglaubliche Fertigkeit verschafft, alles gleichsam vom Blatt wegzuspielen, und ich finde mich recht glücklich, den großen, schönen, unvergleichbaren Gedanken von Sizilien so klar, ganz und lauter in der Seele zu haben. (IR 322)

Goethe imaginiert Sizilien als Gedanken, als Idee, die gleichsam ‚komponiert‘ ist aus einzelnen Gegenständen. Die Komposition erscheint dabei als etwas eigentlich Reales, das in Zeichen fixierbar ist – das Subjekt setzt sie in kongenialer Weise performativ in eigene Erkenntnis um. Wie erklärt sich die Mühelosigkeit seines Zugangs auf das Eigentliche, Wesenhafte? Zum einen erscheint das Subjekt der Italienischen Reise als besonders kompetent durch Begabung und Übung im Sehen und Denken. Hinzu kommt aber noch etwas Anderes: Es handelt sich keineswegs um fremde ‚Noten‘, die hier vom Blatt gespielt werden. Das Erlebnis des Neuen ist zugleich ein Wiedersehen von Bekanntem. Nichts ist wirklich neu – der Italienreisende findet bestätigt, was er seit seiner Kindheit imaginiert hat. Eine berühmte Textpassage, die seine Gefühlslage bei der Ankunft in Rom evoziert, sei hier erneut zitiert: Nun bin ich hier und ruhig und, wie es scheint, auf mein ganzes Leben beruhigt. Denn es geht, man darf wohl sagen, ein neues Leben an, wenn man das Ganze mit Augen sieht, das man teilweise in- und auswendig kennt. Alle Träume meiner Jugend seh’ ich nun lebendig; die ersten Kupferbilder, deren ich mich erinnere (mein Vater hatte die Prospekte von Rom auf einem Vorsaale aufgehängt), seh’ ich nun in Wahrheit, [….] wohin ich gehe, finde ich eine Bekanntschaft in einer neuen Welt; es ist alles, wie ich mir’s dachte, und alles neu. (IR 126)

Das Erzählsubjekt weiß und kennt schon alles. Die neuen Eindrücke werden lediglich – in einem subjektiv selegierenden Wahrnehmungs- und Begriffsbildungsprozess – in die vorhandene Vorstellungswelt eingebaut, um den ‚in- und auswendig gekannten‘ Begriff von Italien zu bestätigen und zu festigen. Dies steht nun in einem frappanten Widerspruch zu dem anfangs geäußerten Objektivitätsanspruch des Italienreisenden, die Dinge so zu sehen, wie sie eigentlich sind. Bemerkenswerterweise wird jene Abweichung von der ‚eigentlichen‘ Welt zugunsten der ‚eigenen‘ Welt ausdrücklich reflektiert – und bejaht: „Zu meiner Weltschöpfung hab ich manches erobert. Doch nichts ganz neues noch unerwartetes“ (TB 27). Es geht also nicht um die fremde Welt, sondern um die eigene. Der Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Diskursivierungsprozess zielt auf Generierung oder besser: Festigung eines Mythos von Italien, bei der die

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subjektive Imaginationskraft eine zentrale Rolle spielt: „In das neue lebendige Rom mag ich gar nicht hineinsehen, um mir die Immagination nicht zu verderben“, schreibt Goethe am 13.1.1786 an seinen Fürsten und Freund Karl August (Goethe 1987: 139). Zu diesem Mythos gehört auch die eigene ‚Wiedergeburt‘ des erzählenden Ich – „ich zähle einen zweiten Geburtstag, eine wahre Wiedergeburt, von dem Tage, da ich Rom betrat“ (IR 147) –, die oft als alles verändernde Wiedergeburt des klassischen Dichters affirmativ gefeiert wurde (vgl. z.B. Niggl 1993: 106; Florack-Kröll 1986: 132), inzwischen aber mehr und mehr als literarische Inszenierung erkannt wird. Besonders überzeugend widerlegt Willems (1997) den ‚Durchbruch‘-Mythos anhand der nach-italienischen literarischen Produktion Goethes. Zapperi bringt es schnodderig auf den Punkt: „Mit dem vielen Geschwafel von den klassisch antiken Einflüssen, die soviel Unheil in der GoetheForschung angerichtet haben, sollte endlich Schluß gemacht werden“ (Zapperi 1999: 102).

7 „auch alles, was ich schon lange weiß, wird mir erst eigen“: kolonisierendes Aneignen „[...] die Welt eröffnet sich mehr und mehr, auch alles, was ich schon lange weiß, wird mir erst eigen“ (IR 210): Der beschriebene Weltschöpfungsprozess, bei dem mittels der subjektiven Einbildungskraft Bekanntes am neu Erfahrenen bestätigt wird, funktionalisiert die fremde Kultur in bestimmter Weise. Im Diskurs werden fremde Dinge mit neuer eigenkultureller Bedeutung aufgeladen und zur kulturellen und individuellen Selbstbegründung eines Mythos Italien eingesetzt. Wenn das erlebende und erzählende Text-Ich in einem Akt kolonisierender Aneignung auf die fremden Dinge zugreift, zeigt sich das bis in die lexikalische Struktur hinein: Nun kommen mir Blumen aus der Erde die ich noch nicht kenne und neue Blüten von den Bäumen. Wie wird es erst in Neapel seyn. [...] Der Vesuv wirft Steine und Asche aus und bey Nacht sieht man den Gipfel glühen, gebe uns die würckende Natur einen Ausguß der Lava. Nun kann ich kaum erwarten, biß mir auch diese Gegenstände eigen werden. (Goethe 1987: 203; in einem Brief an Charlotte von Stein vom 19.2.1788)

Das Fremde wird angeeignet durch Sehen, durch Beobachten, aber auch durch Nachahmen: „Ich habe heut nach seinen [Palladios] Werken gezeichnet und will mir ihn recht herzlich eigen machen“ (TB 100). Dabei erscheint der Zugriff des Ich auf die fremden Dinge erneut als problemlos machbar: „Hab’ ich einem

536 | Nikola Roßbach Gegenstande nur die Spitze des Fingers abgewonnen, so kann ich mir die ganze Hand durch Hören und Denken wohl zueignen“ (IR 217). Wenn die Fremde grundsätzlich als bekannte, nur noch zu autopsierende identifiziert wird, kann keine echte Fremderfahrung stattfinden – „nonperception of otherness“ nennt Anne Fuchs (1993: 25) das und beobachtet es bei Laurence Sterne ebenso wie bei Goethe: Das ‚Andere‘ werde in der Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts zwar gefeiert, zugleich aber (wissenschaftlich) domestiziert und kolonisiert. Ein besonders prägnantes Beispiel für fehlende Fremderfahrung ist die Deutung von Darstellungen antiker Götter. Goethes römische Wirtin glaubt, ihre Katze bete vor dem monumentalen Jupiter-Gipskopf in Goethes Kammer Gottvater an (vgl. IR 151–153). Doch der Ich-Erzähler, der sich über diesen Irrtum amüsiert, agiert selbst nicht wesentlich anders. Auch er sieht nicht ein etwaiges ‚Eigentliches‘, sondern nur, was er schon kennt, und bewundert seinerseits in der so genannten Juno Ludovisi das antike Ideal einer heidnischen Göttin. Goethe hatte jene Kolossalbüste in der Villa Ludovisi gesehen und war so fasziniert von ihr, dass er einen Abguss in seiner römischen Wohnung aufstellte. Doch jenes von ihm erotisierte und humanisierte (vgl. dazu Maul & Oppel 1996: 99; Zapperi 2007: 101, 113), als „Liebschaft“ und als „Gesang Homers“ (IR 154) bezeichnete Kunstwerk, das in der Italienischen Reise eine wichtige Rolle spielt, stammt bekanntlich nicht, wie Winckelmann fälschlich gemeint hatte, aus der griechischen Antike und repräsentiert auch keine antike Göttin. Vielmehr handelt es sich um ein postumes Idealporträt der Antonia Augusta aus der julischclaudischen Dynastie, das wahrscheinlich zu einer Statue gehörte, die Kaiser Claudius in der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts n.Chr. zu Ehren seiner Mutter aufstellen ließ (vgl. Maul & Oppel 1996: 98–99). Die Forschung bescheinigt die Generalisierung des Einzelnen, die Suche nach der idea generale und die autopsierende Bestätigung des Bekannten meist dem Viaggio per l’Italia des Vaters Johann Caspar Goethe, der damit noch in der Tradition der enzyklopädischen Bildungsreise der Frühen Neuzeit stehe.8 Johann Wolfgang von Goethes Italienischer Reise wird hingegen immer wieder echte Fremderfahrung zugesprochen (vgl. Beyer 1997: 71). So spricht Albert Meier (1992: 72, 83–84 u.ö.) Vater Goethe eine reflektiert-räsonierende Bestandsaufnahme des fremden Landes zu, die konkrete Objekte nur vor der Folie des Allgemeinen wahrnehme. Dagegen sei die Reise des Sohns eine sensualis|| 8 Leibetseder (2004: 138) konstatiert zu den reisenden Kavalieren der Frühen Neuzeit: „Von einer generellen Unterschiedlichkeit europäischer (National-)Kulturen besitzen ihre Autoren keinen Begriff.“

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tisch-ästhetische, individuelle, die besondere Umstände einbeziehe und ein Bewusstsein von der Relativität der Kulturen habe. Doch nicht nur beim Älteren werden vorhandene Vorstellungen affirmiert. Die Begegnung mit Neuem ist auch bei Johann Wolfgang von Goethe keine echte Fremderfahrung; sie irritiert die tradierte Wissensordnung nicht, sondern bestätigt sie. Die Italienische Reise ist zwar genregemäß das Dokument einer körperlichen Bewegung, jedoch einer geistigen Stillstellung: Zu beobachten ist eine Petrifizierung von Wissen, so ‚lebendig‘ die sinnliche Erkenntnistheorie des Autors auch konzipiert sein mag. Goethes dynamischer Entwicklungsgedanke, seine Priorisierung der sinnlichen Erkenntnis des Ganzen durch morphologische Reihen- und Analogiebildung, mag in seiner realen Weimarer Sammelpraxis markant zum Ausdruck kommen. Die Italienische Reise als autobiographische Reiseerzählung ist hingegen das Dokument einer Monumentalisierung und Mythisierung von Gekanntem.

8 Eigentlichkeit? Es bleibt das Problem der Eigentlichkeit der Dinge und des sprachlichen Zugriffs auf sie. Angesichts konstruktivistischer und dekonstruktivistischer Modelle, sensibilisiert aber auch durch aktuelle Tendenzen eines realistic turn, einer material culture nicht-konstruktivistischer Realität, stellt sich weiterhin die Frage, ob hinter der Sprache etwas Eigentliches existiert oder nicht – und ebenso die Frage, ob jenes Eigentliche, sei es nun Idee, Phantasma oder (gegen Kant gedacht) Realie, ausschließlich in diskursiv-sprachlicher Vermittlung erfassbar ist oder ob gar jenseits der Sprache ein direkter (sinnlicher) Zugriff auf es möglich ist. Es kann natürlich nicht darum gehen, jene große Frage, welche die abendländische Philosophie vom antiken Universalienstreit bis zum Dekonstruktivismus beschäftigt, beantworten zu wollen. Relevant ist hier nur Goethes Antwort. In seinen Italienreise-Texten dominiert die positiv-realistische Perspektive: Ideen existieren real und können gesehen und versprachlicht werden, allgemeine Begriffsbildung gelingt mittels sinnlicher Erkenntnis der Dinge; ein gleichsam objektiver Zugriff auf das Eigentliche ist möglich. Durchkreuzt wird diese dominante Textspur allerdings von dem metaphorischen Konzept der ‚Weltschöpfung‘, in dem die subjektive Imaginationsleistung eine entscheidende Rolle spielt: Ideen sind Produkte der schaffenden Einbildungskraft des Ich. Das Tagebuch und die Italienische Reise selbst sind Doku-

538 | Nikola Roßbach mente einer derartigen poietischen Leistung: Geschaffen wird der literarische Mythos Italien. Goethes Reiseerzählungen geben also keine eindeutige Antwort. Die inhärenten Widersprüche, die zugleich narrative Spannung erzeugen, sind nicht aufzulösen. Festzuhalten bleibt: Nicht im konkreten Raum, weder auf den römischen Ruinenfeldern noch in den Sammlungsschränken des Gartenhauses am Frauenplan, ist Goethes Italien zu finden. Erst im diskursiven Text wird Kontiguität zu Kontinuität, wird das Fremde de- und rekontextualisiert und zum – ‚befreundeten‘ – Begriff. Die Eigentlichkeit des Fremden wird in den Reiseerzählungen als Begreifbare inszeniert. Ihre mythisierende Rekontextualisierung steht im Dienst einer ästhetisch-literarischen Selbstbegründung des Autorsubjekts und seines klassischen Kunstprogramms.

9 Literatur Babel, Rainer & Werner Paravicini (Hrsg.) (2005): Grand Tour, Adeliges Reisen und Europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert. Akten der internationalen Kolloquien der Villa Vigoni 1999 und im Deutschen Historischen Institut Paris 2000. Ostfildern: Thorbecke. Battafarano, Italo Michele (1997): Der Weimarer Italienmythos und seine Negation: TraumVerweigerung bei Archenholtz und Nicolai. In: Klaus Manger (Hrsg.): Italienbeziehungen des klassischen Weimar. Tübingen: Niemeyer, 39–60. Beyer, Andreas (1997): Reisen – Bleiben – Sterben. Die Goethes in Rom. In: Klaus Manger (Hrsg.): Italienbeziehungen des klassischen Weimar. Tübingen: Niemeyer, 63–84. Boerner, Peter (1992): Man reist ja nicht, um anzukommen, oder: Goethe als Reisender und Bleibender. In: Hans-Wolf Jäger (Hrsg.): Europäisches Reisen im Zeitalter der Aufklärung. Heidelberg: Winter, 86–92. Böhmer, Sebastian, Christiane Holm, Veronika Spinner & Thorsten Valk (Hrsg.) (2012): Weimarer Klassik. Kultur des Sinnlichen. Berlin, München: Deutscher Kunstverlag. Brilli, Attilio (2012): Als Reisen eine Kunst war. Vom Beginn des modernen Tourismus: Die ‚Grand Tour‘. Aus dem Ital. von Annette Kopetzki. 4. Aufl. Berlin: Wagenbach [ED 1995]. Egger, Irmgard (2006): Italienische Reisen: Wahrnehmung und Literarisierung von Goethe bis Brinkmann. München: Fink. Emrich, Wilhelm (1959): Das Bild Italiens in der deutschen Dichtung. Studien zur deutschitalienischen Geistesgeschichte/Studi Italiani 3, 21–45. Florack-Kröll, Christina (1986): Vom Erlebnis „Italien“ zur Veröffentlichung der ‚Italienischen Reise’. In: Jörn Göres (Hrsg.): … auf classischem Boden begeistert, Goethe in Italien. Eine Ausstellung des Goethe-Museums Düsseldorf. Katalog. Mainz: von Zabern, 126–132. Fuchs, Anne (1993): Sterne’s Sentimental journey and Goethe’s Italian journey. Two models of the non-perception of otherness. New comparison 16, 24–42.

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