Wächter der Gesundheit: Staat und lokale Gesellschaften beim Aufbau des Medizinalwesens im Russischen Reich 1762-1831 9783412218522, 9783412224615

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Wächter der Gesundheit: Staat und lokale Gesellschaften beim Aufbau des Medizinalwesens im Russischen Reich 1762-1831
 9783412218522, 9783412224615

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BEITRÄGE ZUR GESCHICHTE OSTEUROPAS BEGRÜNDET VON DIETRICH GEYER UND HANS ROOS HERAUSGEGEBEN VON JÖRG BABEROWSKI KLAUS GESTWA MANFRED HILDERMEIER JOACHIM VON PUTTKAMER BAND 48





Wächter der Gesundheit STAAT UND LOKALE GESELLSCHAFTEN BEIM AUFBAU DES MEDIZINALWESENS IM RUSSISCHEN REICH 1762–1831

VON DARIA SAMBUK

2015 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN



Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Volksbogen vom Nutzen der Pockenimpfung, in: Alles von Zarin und Teufel. Europäische Russlandbilder aus vier Jahrhunderten. Die gesamten Rovinskij-Materialien für eine Russische Ikonographie. Hg. von Hermann Goltz. Köln 2006. Bd. 1, S. 137. Die Umschlagabbildung wurde mit freundlicher Unterstützung von der Stiftung der Saalesparkasse bereitgestellt.

© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Anja Borkam, Jena Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-22461-5

I N H A LT ZUR REIHE  . . ............................................................................................................ 

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VORWORT  . . ............................................................................................................. 

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1. EINLEITUNG  . . ................................................................................................. 

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2. BEVÖLKERUNG, GESELLSCHAFT, BÜROKRATIE: DIE NEUE MEDIZINALPOLITIK  . . ..........................................................  27 2.1  „Die Sorge für die Gesundheit der Bürger ist eine Pflicht …“  ..........  33 2.2 Bevölkerungspolitik als neue Aufgabe der Staatsgewalt  . . ..................  40 2.3 Auf dem Weg zur Reform  .........................................................................  62 2.4 Die Reform des Jahres 1775: Ämter für gesellschaftliche Fürsorge  . . ..  78 2.5 Medizinalverwaltung um die Jahrhundertwende  .................................  87 2.6 Zusammenfassung  ......................................................................................  115 3. ÄRZTE, KRANKE, „SCHARLATANE“: AKTEURE DES MEDIZINALWESENS  ...................................................  119 3.1 Medizinalbeamte als Staatsdiener  ...........................................................  122 3.2 Verwaltung des Ärztemangels  . . ................................................................  137 3.3 Protagonisten des Medizinalwesens: Mediziner und Nichtmediziner  171 3.4 Zusammenfassung  ......................................................................................  217 4. HOSPITÄLER, LAZARETTE, KRANKENHÄUSER: ORTE DER STAATLICHEN MEDIZIN  ..................................................  4.1 Das Stadtkrankenhaus: Ein Novum in der russischen Provinz  .........  4.2 Krankenhauspatienten  .. ..............................................................................  4.3 Zusammenfassung  ...................................................................................... 

221 226 253 276

5. SPENDEN, IMPFEN, DENKMAL SETZEN: MEDIZINALWESEN ALS AUFGABENFELD LOKALER GESELLSCHAFTEN  . . ...............  5.1 Verordnete Verantwortung und Verhandlung der Rollen  . . ..................  5.2 Selbstverständnis im Wandel  . . ..................................................................  5.3 Aufgaben im Alltag und im Krieg  . . .........................................................  5.4 Die Pockenschutzimpfung  ........................................................................  5.5 Zusammenfassung  ...................................................................................... 

279 282 290 308 318 366

6

Inhalt

6. SCHLUSSBETRACHTUNG: DIE CHOLERAEPIDEMIE ALS PRÜFSTEIN FÜR STAATLICHE UND GESELLSCHAFTLICHE STRUKTUREN  ................................................................................................  6.1 Verwaltung  ...................................................................................................  6.2 Kommunikation  ..........................................................................................  6.3 Lokale Gesellschaften  . . .............................................................................. 

371 378 384 386

ANHANG  .................................................................................................................  Karten  .. ..................................................................................................................  Abbildungsnachweis  . . ........................................................................................  Abkürzungsverzeichnis  .....................................................................................  Quellen- und Literaturverzeichnis  ..................................................................  Personenregister  . . ................................................................................................  Ortsregister  .. ......................................................................................................... 

393 393 402 402 403 434 438

ZUR R EIHE

Die Beiträge für Geschichte Osteuropas erscheinen fortan in einem neuen ­Layout. Zwanzig Jahre nach der letzten Veränderung und nach einem partiellen Gene­ rationswechsel halten die Herausgeber eine solche Auffrischung für angezeigt. Sie verbinden die äußere Kur mit einer inhaltlichen Neuausrichtung. Ohne den bis­ herigen Schwerpunkt aufzugeben, der auf der russisch-sowjetischen Geschichte lag, möchten sie die Beiträge stärker sowohl zur ostmitteleuropäischen als auch zur ‚allgemeinen‘, westeuropäischen Geschichte öffnen. Die Reihe soll weiterhin vor allem Monographien aufnehmen, dabei aber Osteuropa – in Anknüpfung an ihre Anfänge – wieder breiter verstehen und vergleichenden Perspektiven gebührenden Raum geben. Sie trägt damit einer ebenso aktuellen wie alten Einsicht Rechnung: dass der Blick in die Tiefe zur klarsten Erkenntnis führt, wenn er in ein breites Sichtfeld eingebettet bleibt. Gerade in diesem Sinn soll die Reihe weiterhin sichern, wofür sie bislang zu stehen versucht hat: ein hohes Niveau an akribischer und zugleich reflektierter Forschung.

VO RWO R T

Diese Arbeit wurde 2011 als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Friedrich-­Schiller-Universität Jena eingereicht. Ihre Entstehung wurde von vielen Menschen begleitet, denen ich an dieser Stelle für ihre Unterstützung danken möchte. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Joachim von Puttkamer für die langjährige Förderung, die inspirierende und ermutigende Betreuung des Forschungsprojekts sowie für die große Hilfsbereitschaft bei allen wissenschaftsorganisatorischen Fragen. Für seine unzähligen Ratschläge, die immer in eine fruchtbare Richtung wiesen, ohne jemals die Entfaltung meiner Ideen einzuengen, bleibe ich ihm in tiefer Dankbarkeit verbunden. Joachim von Puttkamer gebührt ebenso wie den beiden anderen Gutachtern Jan Kusber und Andrea Meyer-Fraatz mein herz­ licher Dank für das reibungslose Promotionsverfahren. Ich danke der Studienstiftung des deutschen Volkes für die großzügige Förderung der Promotion samt mehreren Forschungsaufenthalten in Russland und die Mög­lichkeit, an Seminaren und Sprachkursen teilzunehmen. Dem Mainzer Leibniz-­ Institut für Europäische Geschichte danke ich für das Abschlussstipendium, das mir erlaubte, das Manuskript fertigzustellen. Der Verwertungsgesellschaft Wort bin ich für die Übernahme der Druckkosten für dieses Buch zu Dank verpf­lichtet. Den Herausgebern der Reihe Beiträge zur Geschichte Osteuropas danke ich für die Aufnahme meiner Studie und wertvolle Hinweise zum Manuskript. Dorothee Rheker-Wunsch, Julia Roßberg, Franziska Creutzburg und ihren Kollegen vom Böhlau Verlag gebührt mein herz­licher Dank für die feinfühlige und unkomplizierte Betreuung bei der Publikation der Arbeit. Dieses Buch hat viel von Anregungen aus den Reihen der Osteuropahistoriker und aus medizinhistorischen Kreisen profitiert. Ich möchte mich bei den Organisatoren der Kolloquien, in denen ich mein Projekt vorstellen durfte, sowie den interessierten und wohlwollenden Diskutanten bedanken: Irene Dingel (Mainz), Martin Dinges (Stuttgart), Heinz Duchhardt (Mainz), Lutz Häfner und Manfred Hildermeier (beide Göttingen), Robert Jütte (Stuttgart), Jan Kusber (Mainz), Heinz-Dietrich Löwe (Heidelberg), Stephan Merl (Bielefeld), Michael G. Müller (Halle), Dietmar Neutatz (Freiburg), Miloš Řezník (Chemnitz) und Martin Schulze Wessel (München). Den Kolloquiumsteilnehmern vom Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der Universität Jena danke ich für die Diskussion meines Projekts in verschiedenen Stadien seiner Entstehung.

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Ohne die Unterstützung, die mir durch Freunde und Kollegen zuteilwurde, wäre die Entstehung dieser Dissertation unmög­lich gewesen. Jörg Ganzenmüller danke ich herz­lich für intensive grundlegende Diskussionen und wertvolle Hinweise sowie für die kritische Lektüre einzelner Teile des Manuskripts. Auch Gottfried Schramm bin ich für sein wohlwollendes Interesse an meiner Arbeit und sehr grundsätz­liche Einsichten dankbar. Franziska Schedewie war während der Konzeptionsphase des Projekts eine unverzichtbare Ansprechpartnerin. Sie vermittelte mir erste Kontakte nach Voronež und half mir bis zur Abgabe der Dissertation mit wertvollen Ratschlägen in wissenschaft­lichen und organisatorischen Fragen. Dietmar Wulff danke ich für seine Unterstützung während meiner Recherchen im Schwarzerdegebiet. Nils Kessel, der einzelne Teile des Manuskripts las, bin ich für seine medizinhistorische Expertise zu Dank verpf­lichtet. Martin Kindervater und Michael Minarzik übernahmen die zeitaufwendige Endkorrektur der Dissertation. Martina Niedhammer danke ich für ihre große Hilfe bei der Erstellung des Buchmanuskripts. Mit ihrem feinen Sprachgefühl und ihrem scharfen kritischen Blick hat sie mich vor vielen inhalt­lichen und stilistischen Unwägbarkeiten bewahrt. Meinen Eltern und meinen Schwiegereltern danke ich für die langjährige Geduld und großzügige Unterstützung. Damien half mir über Jahre hinweg mit seinem frischen und kreativen Blick auf das Projekt. Er las mehrmals das Manuskript, machte kritische und umsichtige Anmerkungen und hatte immer ein aufmunterndes Wort parat. La Croix Valmer, im Sommer 2014

1.  E I N L E I T U N G

T he m a u nd Fr a ge s t el lu ng „Ich mag häufige Arztkonsultationen nicht besonders: Diese Scharlatane bringen uns mehr Schaden als Nutzen“, schrieb Katharina II. 1774 an Friedrich Melchior von Grimm.1 Ob die rus­sische Kaiserin ihrer Enttäuschung über den geringen Nutzen mancher medizinischer Eingriffe an ihrem alternden Körper Luft machte oder ob sie sich ledig­lich eines unter ihren Zeitgenossen beliebten Allgemeinplatzes bediente – in ihrer Regierungszeit wurde der Grundstein für ein öffent­liches Gesundheitswesen im Rus­sischen Reich gelegt. Seit dem achtzehnten Jahrhundert fügte sich Russland stärker als je zuvor in allgemeineuropäische Entwicklungslinien ein. Ohne unter den anderen Monarchien des Kontinents eine Sonderstellung einzunehmen, bietet das Land eine Variante der europäischen (Medizin-)Geschichte, die einen Blick lohnt. Der Kontrast zwischen Russland und den Ländern Mittel- und Westeuropas ist in Bezug auf das Medizinal­ wesen bei weitem nicht so groß, wie man gemeinhin vermutet. Sowohl auf der ideellen Ebene als auch in der Verwaltung und im medizinischen Alltag bestehen zu viele Ähn­lichkeiten, als dass eine Vernachlässigung Russlands innerhalb des gesamteuropäischen Rahmens gerechtfertigt wäre. Das Konzept der medizinischen Policey etwa, wie es sich um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts entwickelt hatte, lieferte den Monarchen mit aufgeklärt absolutistischem Anspruch in St. Petersburg ebenso wie in Wien oder Versailles die Grundlage für eine neuartige Sorge um den Gesundheitszustand der Bevölkerung. Die auf wissenschaft­licher Erkenntnis basierende akademische Medizin schuf ein schrift­lich fixiertes Wissenssystem, das von Universitätsabsolventen in all jene Länder getragen wurde, in denen sie als Ärzte praktizierten. Körper- und Krankheitsvorstellungen, Untersuchungs- und nicht zuletzt auch Behandlungsmethoden, die von studierten Ärzten angewandt wurden, g­lichen sich in London, Prag und Moskau. Auch in Bezug auf die Präsenz der Staatsgewalt im lokalen Medizinal­wesen war Russland im frühen neunzehnten Jahrhundert kein Außenseiter in Europa. Überall wurden Klagen über den Ärztemangel laut, und die fehlende Einsicht der Landbevölkerung in die Vorteile der Pockenschutzimpfung

1 Brief Katharinas II. an Friedrich Melchior von Grimm vom 19. April 1774, in: SIRIO Bd. 13, S. 407 – 410, hier S. 408.

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Einleitung

bildete sowohl an der Wolga als auch an der Rhône das Gegenstück zum aufgeklärten Glauben an die Macht der Vernunft. Diese Studie fragt danach, wie sich die Staatsgewalt in einem von Verwaltungsstrukturen noch kaum durchdrungenen Reich einen neuen Tätigkeitsbereich erschloss. Am Beispiel des Medizinal­wesens soll untersucht werden, wie sich ein Verwaltungszweig entwickelte und wie eine dem staat­lichen Einfluss bislang weitgehend verschlossene Sphäre – der mensch­liche Körper, seine Gesundheit und seine Krankheiten – zum Objekt obrigkeit­licher Normierung wurde. Der Aufbau einer Medizinal­verwaltung, die Gründung von Krankenhäusern, die Verbreitung der Pockenschutzimpfung und andere Aspekte des Medizinal­wesens sollen dazu dienen, sich anhand eines bislang wenig beachteten Themas der Frage nach der Regierbarkeit des Rus­sischen Reiches zu nähern. Wie in anderen europäischen Monarchien – etwa in Frankreich, Österreich oder Preußen – war der Aufbau einer staat­lichen Medizinal­verwaltung auch im Rus­sischen Reich eng mit dem inneren Staatsaufbau verbunden. Das Besondere am rus­sischen Beispiel war die parallele Bemühung, gesellschaft­liche Kräfte zu aktivieren. Diese sollten einerseits angesichts des Beamtenmangels der Staatsgewalt ein Hineinwirken in die Provinz ermög­lichen. Andererseits würden sie sich – so die Idee der Gesetzgeber – in Eigeninitiative einzelner Bereiche im Leben der Provinz annehmen. Die Studie ist also vorrangig folgenden Fragen gewidmet: Woher kamen die Impulse für den Aufbau eines Medizinal­wesens? Wie war die Verantwortung zwischen dem Zentrum und der lokalen Ebene verteilt? Welche Rollen waren dabei den unterschied­lichen Bevölkerungsgruppen zugedacht und wie gingen Akteure in der Provinz mit staat­lichen Rollenangeboten um?

For s chu ng s s t a nd u nd z e nt r a le B eg r i f fe Die Frage nach der Existenz und der Art gesellschaft­licher Strukturen beschäftigt die historische Forschung zum Rus­sischen Reich seit geraumer Zeit. Viele Jahrzehnte lang blieb die Vorstellung vom Zarenreich des späten achtzehnten Jahrhunderts von dem in den 1960er Jahren entstandenen Bild einer amorphen Gesellschaft dominiert.2 Seit den 1990er Jahren belegen Studien für die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts jedoch ein gewisses Maß an lokaler Initiative und Gesellschaft­lichkeit.3 2 Geyer, Gesellschaft. Speziell dem Adel wurde ein Desinteresse an lokalpolitischen Belangen bescheinigt von Ruffmann, Adel, S. 172 ff. 3 Zu den zentralen Studien, die für die Provinz des Zarenreichs die Existenz eines gesellschaft­lichen Lebens konstatieren, gehört der Sammelband von Hausmann (Hg.), Gesellschaft. Siehe unter

Einleitung

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Auch in Bezug auf das ausgehende achtzehnte Jahrhundert wird den Versuchen, in der Provinz des Rus­sischen Reiches Vergesellschaftungsprozesse zu initiieren, inzwischen nicht mehr nur ein Scheitern attestiert.4 Das Interesse für das Verhältnis zwischen den Herrschaftsansprüchen des Fürsten beziehungsweise Monarchen und den Spielräumen der Untertanen ergibt sich nicht etwa ausschließ­lich aus einer vermeint­lichen Besonderheit des Rus­sischen Reiches, das vorgeb­lich durch stark zentralisierte politische Prozesse sowie fehlende gesellschaft­liche Strukturen gekennzeichnet ist. Diese Frage stellt ein wichtiges Thema auch in der nicht auf Russland spezialisierten Frühneuzeitforschung dar, denn die Suche nach Ansätzen (zivil-)gesellschaft­licher Strukturen, auf die sich viele Russlandhistoriker nach dem Fall des Eisernen Vorhangs begeben haben, fügt sich in den Forschungszweig der europäischen Frühneuzeit ein, der nach den unterschied­lichen Modi der Machtausübung und Implementierung der Normen vor dem Hintergrund vielgestaltiger Kommunikationsprozesse zwischen dem Fürsten, seiner Verwaltung und den Untertanen fragt.5 Das Medizinal­wesen des Zarenreichs hat bisher verhältnismäßig selten das Interesse der Historiker auf sich gelenkt. In diesem Punkt ist die Historiographie von einem doppelten Ungleichgewicht gekennzeichnet: Zum einen ist die Medizin­ geschichte Russlands weitgehend von rus­sischen und sowjetischen Historikern geschrieben worden. Neben dem geographischen besteht darüber hinaus auch ein zeit­liches Ungleichgewicht: Die meisten Studien, die außerhalb Russlands entstanden, setzen mit der zemstvo-Medizin, und damit erst in den 1860er Jahren, ein.6 Die wenigen Monographien zur Medizingeschichte vor den Reformen Alexanders II. befassen sich mit großen Epidemien: so etwa die Arbeit von John T. Alexander über die Pest der 1770er Jahre und die Studie von Roderick McGrew zur ersten Choleraepidemie des neunzehnten Jahrhunderts.7 Der Alltag im Medizinal­wesen gerät bei dieser thematischen Gewichtung weitgehend aus dem Blickfeld. Das größte Interesse wurde wohl verschiedenen Vertretern medizinischer Berufe entgegengebracht, nicht zuletzt deutschen Ärzten im Zarenreich.8 Zentrale Fragen der



dem gleichen programmatischen Titel auch die Studie von Häfner, Gesellschaft. Dass diese Forschungsrichtung noch nicht erschöpft ist, zeigen etwa Bönker, Metropolen und Sperling (Hg.), Zarenmacht. 4 Einen wesent­lichen Beitrag zur Revision der These Dietrich Geyers hat Jan Kusber mit seiner Habilitationsschrift geleistet: Kusber, Eliten- und Volksbildung. 5 Brakensiek, Herrschaft. 6 Zum Beispiel Frieden, Physicians; Ramer, Zemstvo; ders., Healers; ders., Childbirth (1978) und (1992). 7 Alexander, Bubonic Plague; McGrew, Russia. 8 Zu den ältesten und nach wie vor wichtigen Studien gehört Brückner, Ärzte. Die meisten Publikationen zu diesem Bereich sind Teil der von Ingrid Kästner herausgegebenen Reihe: Deutsch-­russische

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Einleitung

­ edizingeschichte Westeuropas, etwa Körper- und Krankheitsvorstellungen, der M institutionelle Wandel oder das Verhältnis zwischen Ärzten und Kranken, sind in Bezug auf das Rus­sische Reich noch kaum gestellt worden. Frei­lich berücksichtigen manche Medizinhistoriker das Zarenreich gelegent­lich in ihrer Forschung. Hier stechen vor allem die Arbeiten von Martin Dinges hervor.9 Doch inhalt­lich wie methodisch bietet die Medizingeschichte Russlands noch viel Raum für Neuentdeckungen. Der erste Ausbruch aus dem engen thematischen Rahmen der Medizingeschichte des Zarenreichs gelang Andreas Renner mit seiner Habilitationsschrift.10 Renner schreibt eine Geschichte des Wissenstransfers, bei dem das akademische medizinische Wissen aufgrund der Entscheidung der autokratischen Obrigkeit aus Westeuropa importiert, an die spezifischen Gegebenheiten des Rus­sischen Reichs angepasst und schließ­lich in den medizinischen Alltag weitergereicht wird. Dabei stellt Renner fest, dass das importierte Wissen sich vor allem dort am besten verbreitete, wo die Nähe zur Politik und zu den Eliten am größten war. Mit der zunehmenden Entfernung ließ die Wirkung dieses Wissens nach. Die Befunde dieser Studie – die Verbindung zwischen akademisch gebildeten Heilkundigen und der Staatsgewalt, die Professionalisierung der Ärzteschaft sowie die Einblicke in Krankheitsvorstellungen unterschied­licher sozialer Gruppen – bieten zahlreiche Anknüpfungspunkte für weitere Untersuchungen. Auch die Frage, inwieweit die Konflikte zwischen importierten und einheimischen medikalen Kulturen mit der Dichotomie „rus­sisch – europäisch“ hinreichend eingefangen werden können, erscheint weiterhin diskussionswürdig. In der in Russland entstandenen Forschung zu diesem Themengebiet lassen sich drei Phasen ausmachen. In chronolo­gischer Reihenfolge sei zunächst die Histo­ riographie des späten Zarenreichs genannt, die stark faktographisch geprägt ist. Zu den bekanntesten Untersuchungen – ein Teil von ihnen ist in deutscher Sprache verfasst –, die auch das achtzehnte und den Beginn des neunzehnten Jahrhunderts behandeln, zählen etwa das umfangreiche Werk von Wilhelm Richter, die Arbeiten von Alexander Brückner oder die Studien zu Choleraepidemien von Grigorij ­Archangel’skij.11 Diese Gesamtdarstellungen sind heute, ebenso wie Untersuchungen von Lev Zmeev, Jakov Chanykov oder Jakov Čistovič, in erster Linie als Fakten­ kompendien von Bedeutung.12



Beziehungen in Medizin und Naturwissenschaften. Aachen 2000 ff. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang Müller-Dietz (Hg.), Ärzte sowie ders., Militärarzt. Die einzige Monographie zum Hebammenwesen stammt ebenfalls aus den 1970er Jahren: Stahnke, Hebammen-Ausbildung. 9 Dinges, Aufklärung importieren. 10 Renner, Autokratie. 11 Brückner, Ärzte; Archangel’skij, Ėpidemii; ders., Cholera; Richter, Geschichte. 12 Zmeev, Byloe; ders., Čtenija; Chanykov, Očerk; Čistovič, Istorija; ders., Očerki.

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Die sowjetische Geschichtswissenschaft zeichnete sich in diesem Bereich vor allem dadurch aus, dass sie zu einem großen Teil dem Dogma von einer autoch­ thonen rus­sischen Medizin folgte, die zu keiner Zeit der Importe aus dem Westen Europas bedurft habe. In dieser Lesart bilden ausländische Mediziner, die bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts dieses Berufsfeld in Russland dominierten, einen krassen Gegensatz zu einheimischen Ärzten. Den Ersteren attestierte man gern eine schlechte Qualifikation und Geldgier, den Letzteren nicht nur bessere medizinische Kenntnisse, sondern auch mora­lische Integrität und eine Nähe zum Volk. Als Beleg für das geringe Interesse der Staatsgewalt, die medizinische Versorgung der Bevölkerung zu verbessern, fungierte die Behauptung, in der Provinz seien nur alte und kranke Ärzte tätig gewesen.13 Auch für den Bereich der Medizingeschichte muss darauf verwiesen werden, dass die fehlende Nachprüfbarkeit der Ergebnisse der meisten sowjetischen Studien diese nur begrenzt brauchbar macht. Die postsowjetische Zeit hat zu medizinischen Themen vor allem Gesamtdarstellungen und zahlreiche Regionalstudien hervorgebracht. Den zuverlässigsten Überblick über die Entwicklung des Medizinal­wesens im Zarenreich bieten zwei – über weite Strecken identische – Publikationen von Mark Mirskij.14 Obwohl nicht mehr eindeutig dogmatisch ausgerichtet, halten bei weitem nicht alle neueren Studien einer Prüfung auf Wissenschaft­lichkeit stand. Abgesehen von den nach wie vor oft fehlenden Quellen- und Literaturnachweisen übernehmen manche Autoren unhinterfragt Deutungsmuster von sowjetischen Historikern. Das Dogma von der Unabhängigkeit der rus­sischen medizinischen Wissenschaft ist einem gewissen Stolz auf das einheimische Medizinal­wesen gewichen und findet häufig Eingang vor allem in lokalhistorische Darstellungen. Manchen dieser kraevedčeskie (wört­lich: heimatkund­lichen) Abrisse liegt das Bestreben zugrunde, den angeb­lichen Erfolg des aktuellen Gesundheitswesens in zweihundertjähriger Kontinuität zu sehen.15 Allerdings lassen neuere Arbeiten Einblicke in die Funktionsweise des Medizinal­ wesens und seiner Verwaltung vermissen. Dieses Desiderat hat auch die Geschichtswissenschaft jenseits von Russland noch nicht behoben. Einzelne Aspekte weckten zwar bisweilen das Interesse der Historiker wie etwa die Pockenschutzimpfung, das Hebammenwesen oder die Militärärzte.16 Doch weder existieren für diesen 13 Siehe etwa Furmenko, Očerki Bd. 1, S. 76 ff.; Kancel’bogen, Dejatel’nost’; Kiselev u. a., Samoj­ lovič; Taradin, Materialy. 14 Mirskij, Medicina (1996); ders., Medicina (2005). 15 Als Beispiele seien hier genannt: Osincev u. a. (Hg.), 225 let; Mezencev (Hg.), Istorija; Bagin, Na službe. Auch in der sowjetischen Historiographie wurden Krankenhausgründungen als besondere Errungenschaften positiv hervorgehoben und die Geschichte des lokalen Medizinal­wesens unter dem Aspekt des Fortschritts dargestellt. Siehe etwa Beljaev, Zdravoochranenie. Zur Entwicklung der Lokalgeschichtsschreibung in Russland siehe Glagoleva, Dvorjanstvo, S. 37 – 43. 16 Klein, Pocken-Inokulation; Müller-Dietz, Militärarzt; Stahnke, Hebammen-Ausbildung.

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Themenbereich Gesamtdarstellungen, die eine zuverlässige Referenz für die institutionellen Zusammenhänge in der lokalen Medizinal­verwaltung böten, noch hat die jüngere Hinwendung innerhalb der Osteuropäischen Geschichte zur Provinz die lokalen medizinischen Einrichtungen und das medizinische Personal erreicht. Auch methodisch hinkt die Medizingeschichte des Rus­sischen Reiches hinter der Erforschung medizinhistorischer Fragen in Frankreich, Preußen oder Österreich hinterher. Vor allem in den 1980er und 1990er Jahren wandten Medizinhistoriker die damals aufkommende Idee einer von der Staatsgewalt betriebenen Sozialdisziplinierung auf die Geschichte der Medizin an, wobei das Medizinal­wesen und auch der mensch­liche Körper in erster Linie als Objekte staat­licher Regulierungstätigkeit erschienen.17 Dieses ebenso beachtete wie umstrittene Konzept der Medikalisierung, dessen Gültigkeit für unterschied­liche Perioden und Länder seit mehreren Jahrzehnten geprüft wird, hatte bisher keine Auswirkungen auf die Geschichte des Medizinal­ wesens in Russland.18 Fragen nach dem Verhältnis zwischen Ärzten und Kranken oder den unterschied­lichen Körper- und Krankheitsvorstellungen sind in Bezug auf das Rus­sische Reich so gut wie nie gestellt worden.19 Sie können frei­lich auch in der vorliegenden Arbeit nicht erschöpfend behandelt, sondern meist nur angerissen werden. Die Geschichte des Medizinal­wesens hätte ihren Platz beispielsweise auch innerhalb einer allgemeinen Verwaltungsgeschichte des Zarenreichs finden können, erscheint in diesem Zusammenhang allerdings nur am Rande. Die lokale Verwaltung sowie ihr Wechselspiel mit den hauptstädtischen Machtstrukturen auf der einen und lokalen Akteuren auf der anderen Seite stellt nach wie vor ein lohnendes Untersuchungsfeld dar. Eine wichtige Grundlage hierfür legte Ende der 1970er Jahre Bernhard Schalhorn, der in seiner Studie einen Überblick über strukturelle Zusammenhänge der Lokalverwaltung und der ständischen Gesellschaft bietet.20 Die Verbindung zwischen beiden Bereichen definiert Schalhorn in erster Linie über das Bestreben Katharinas II. und ihrer Nachfolger, die gesellschaft­lichen Formationen in den Dienst der Staatsgewalt zu stellen. In den vergangenen Jahrzehnten richtete die Geschichtsforschung ihren Blick häufig auf die rus­sische Provinz. Seit Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts entwickelt sich in Russland zudem die sogenannte Neue Imperialgeschichte, die sich darum bemüht, gleichzeitig das Besondere und allgemeine, für das gesamte Rus­sische Reich typische Phänomene zu berücksichtigen.21 17 Frevert, Krankheit; Loetz, Vom Kranken zum Patienten. 18 Gegen das Konzept der Medikalisierung wendet sich der Sammelband von Henderson; Horden; Pastore (Hg.), Impact. 19 Eine erfreu­liche Ausnahme bildet in dieser Hinsicht die Studie von Bogdanov, Vrači. 20 Schalhorn, Lokalverwaltung, insbesondere S. 11 – 65. 21 Gerasimov, V poiskach, v. a. S. 22 – 28.

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Die lange vorherrschende dichotome Sichtweise auf Staat versus Gesellschaft wird in der Arbeit von Susanne Schattenberg, die eine neuartige Kulturgeschichte der Verwaltung des Zarenreichs vorgelegt hat, vollständig aufgelöst.22 Anhand von Lokalstudien zu sieben Gouvernements gelingt es ihr, die leitenden Vorstellungen und Prinzipien zu erforschen, die den Handlungsrahmen der Verwaltungsbeamten innerhalb der unterschied­lichen Netzwerke bildeten. Ein wesent­liches Verdienst des Buches ist der von der Ethnologie inspirierte Blick, der die Provinz des Rus­sischen Reiches entexotisiert. Die Beschäftigung mit der Verwaltung des Rus­sischen Reiches wirft zugleich die Frage nach dem Verhältnis staat­licher und gesellschaft­licher Impulse auf. Auch wenn im Rahmen einer Kulturgeschichte des Politischen einzelne Akteure ins Blickfeld rücken, nimmt der Begriff „Gesellschaft“, der zugleich den schillernden Terminus „Zivilgesellschaft“ impliziert, einen zentralen Stellenwert in der Russlandforschung ein.23 Dieser Untersuchung liegt ein Verständnis von Gesellschaft als Produkt von Vergemeinschaftungsprozessen, also als überindividuelle Handlungs- und Kommunikationsform, zugrunde. Im Unterschied zur Auffassung von Gesellschaft im zwanzigsten und zum Teil schon im späten neunzehnten Jahrhundert, die – und hier grenzt der Begriff an den Terminus „Zivilgesellschaft“ – eine sozial übergreifende und bisweilen auch in Opposition zum Staat befind­liche Gesellschaft bezeichnete, steht hier der plurale Charakter des Begriffs im Mittelpunkt. „Gesellschaft“ kann sowohl geographisch als auch sozial begrenzt sein, was sich in unerläss­lichen adjektivischen Präzisierungen äußert – dem zeitgenös­sischen Gebrauch entsprechend etwa städtisch, adlig, kaufmännisch et cetera – und die Verwendung der Pluralform rechtfertigt, gerade in der frühen Phase der Vergesellschaftung im Zarenreich.24 Unter Zivilgesellschaft versteht man dagegen gemeinhin „die Gesamtheit der öffent­lichen Assoziationen, Vereinigungen und Verbände“.25 Um eine schärfere 22 Schattenberg, Provinz. 23 Zum Begriff „obščestvo“ im Russland des 18. Jahrhunderts siehe Schierle, Begriffssprache. Auf die unter Katharina II. stark zugenommene Verwendung des Begriffs geht ein: Ključevskij, Portrety, S. 329. Zum Begriff „Zivilgesellschaft“ siehe Kocka, Zivilgesellschaft, S. 14 – 21. Auf die Russlandforschung bezogen: Bönker, Metropolen, S. 15 – 25; Hildermeier, Rußland. 24 Zu Recht hat Manfred Hildermeier seinerzeit darauf hingewiesen, dass sich der Begriff „obščestvo“ „in einem sehr engen und größtenteils institutionellen Sinne nur auf die recht­lichen Korporationen“ bezog. Hildermeier, Bürgertum, S. 30. Ingrid Schierle geht in ihrer Studie zur Begriffssprache des 18. Jahrhunderts auf die verschiedenen semantischen Felder des rus­sischen Begriffs „obščestvo“ ein und verwendet den Begriff ebenfalls im Plural, etwa in Bezug auf bürger­liche Gesellschaften, siehe Schierle, Begriffssprache, S. 283 f.: „‚Obščestvo‘ wurde ebenfalls angewandt auf die in der Regierungszeit Katharinas II. geschaffenen gesellschaft­lichen Teilverbände, welche als ‚staat­liche Veranstaltungen‘ mit körperschaft­lichen Rechten ausgestattet waren.“ Ebd., S. 281, siehe auch ebd. S. 305 f. 25 Klein, Zivilgesellschaft, S. 339. Eine ähn­lich breite Definition findet sich in der vielbeachteten Publikation von Cohen; Arato, Civil Society, S. ix: „a sphere of social interaction between economy and state, composed above all of the intimate sphere (especially the familiy), the sphere of

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Trennlinie zwischen den beiden Begriffen zu ziehen, wird hier der wesent­liche Unterschied im Verhältnis zum Staat gesehen. Hierfür ist ein engeres Verständnis von Zivilgesellschaft hilfreich, und zwar als eine Gesellschaft, die sich freiwillig und autonom organisiert.26 Zwar impliziert schon der Begriff „Gesellschaft“ eine Abgrenzung von der staat­lichen – nicht aber der politischen – Sphäre. Zivilgesellschaft betont hingegen die Existenz von Werten, konkreten Zielen und Handlungsmustern in einer Gesellschaft, die von deren staat­licher Definition losgelöst sind.27 Dabei können diese zwar in Opposition zueinander treten, aber auch ebenso gut deckungsgleich sein. Eine Zivilgesellschaft ist somit eine vom Staat emanzipierte Gesellschaft. Diese Unterscheidung ist wichtig, um den Charakter von Handlungsund Kommunikationsmustern jenseits der Staatsgewalt zu bewerten.

Vor gehe n s wei s e u nd Q u el le n Dieser Untersuchung liegt kein geschlossenes theoretisches Konzept zugrunde. Dennoch reiht sich die Arbeit in eine Diskussion ein, die sowohl die historische Forschung zur Frühen Neuzeit als auch Medizinhistoriker beschäftigt: die Frage nach der Umsetzung staat­licher Politik auf lokaler Ebene. In Bezug auf die europäische Frühneuzeit ist die Vorstellung von einer gewaltsamen Durchsetzung der Normen und einer mehr oder weniger erfolgreichen Sozialdisziplinierung der Idee einer Implementation der Normen gewichen.28 Das Konzept der Sozialdisziplinierung hat sein medizinhistorisches Pendant in der Medikalisierung gefunden. Diese Forschungsrichtung fragt nach der Unterwerfung vor allem der unteren sozialen Gruppen unter Normen des Gesundheits- und Krankheitsverhaltens, die von der politischen Elite zusammen mit der professionalisierten Ärzteschaft kreiert wurden.29





associations (especially voluntary associations), social movements, and forms of public communication“. 26 Den Aspekt der autonomen Organisation enthält auch die Definition von Wolfgang Merkel und Hans-Joachim Lauth. Hier nach Lauth, Zivilgesellschaft, S. 28. 27 Diese Werte können je nach Gesellschaft und Zeit variieren und sind keineswegs mit der heutigen normativen Implikation von Freiheit, Gewaltlosigkeit oder Menschenrechten verbunden. Zur Normativität des Begriffs siehe z. B. Bönker, Metropolen, S. 17 ff. Die Autonomie der Zivilgesellschaft betonen vor allem neuere politikwissenschaft­liche Definitionen: Klein, Zivilgesellschaft, S. 339; Thiery, Zivilgesellschaft, S. 704 f. Die Diskussion um den Begriff und das Phänomen im Fach Osteuropäische Geschichte hat neuerdings zusammengefasst Hackmann, Zivilgesellschaft. Zum Autonomiegedanken ebd., S. 13. 28 Landwehr, Policey. 29 Grundlegend: Foucault, Geschichte der Gouvernementalität Bd. 2; ders., Klinik; Frevert, Krankheit.

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In dieser Arbeit geht es weniger um Machtkonstellationen, innerhalb derer medizinisches Wissen zum Machtinstrument wird. Vielmehr richtet die Studie ihren Blick auf Versuche, neue Normen zu vermitteln. Das hier zugrunde liegende Verständnis von Medikalisierung ist nicht das von einer mit Zwang verbundenen und auf Widerstand stoßenden Umsetzung eines politischen Konzepts. Stattdessen wird die Medikalisierung ledig­lich als eine – in ihrer theoretischen Form durchaus totale – Idee begriffen, auf der die staat­liche Medizinal­politik des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts basierte. Es handelte sich um einen offenen Prozess, in dessen Zuge die Staatsgewalt den Untertanen eine neue medikale Kultur anbot, die jedoch nicht als Ganzes angenommen oder abgelehnt, sondern den lokalen und individuellen Vorstellungen angepasst wurde, worauf die Urheber medizinalpolitischer Konzepte wiederum reagierten. Die Medikalisierung bedeutete also keine Unterwerfung unter die neuen Normen, sondern deren partielle Implementierung, die mit vielfältigen Kommunikations- und Anpassungsprozessen verbunden war. Indem die vorliegende Arbeit ihren Blick auf die lokale Ebene richtet und die Kommunikation der Akteure sowohl innerhalb als auch außerhalb der jeweiligen Verwaltungszusammenhänge untersucht, möchte sie einen Beitrag zu jenem Forschungszusammenhang leisten, der unter dem Dach der Kulturgeschichte des Politischen Beziehungskonstellationen zwischen Akteuren rekonstruiert und dadurch Fragen nach dem „Wandel von Herrschaftsstrukturen“ und Normen nachgeht.30 Vor allem für die Erforschung des Rus­sischen Reiches im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert – das einerseits gleichzeitig mit anderen europäischen Monarchien den inneren Staatsaufbau vorantrieb, andererseits im Vergleich mit ihnen und gemessen an den eigenen Ansprüchen stark unterverwaltet war – ist die Frage nach der Implementierung staat­licher Politik auf lokaler Ebene von besonderem Interesse. In diesem Zusammenhang soll analysiert werden, welche Instrumente der Staatsgewalt zur Verfügung standen und welche Akteure Einfluss auf die Gestaltung einzelner Bereiche des Medizinal­wesens nahmen. Dabei sollen Staat und Gesellschaft nicht als zwei klar abgrenzbare, einander gegenüberstehende Einheiten erscheinen.31 Vielmehr wird der Fokus auf Akteure sowie ihre Kommunikations- und Aktionsmuster auf lokaler Ebene gerichtet. Diese Analyse betrifft drei Ebenen: die zentrale Verwaltung, die den politischen Rahmen absteckte; die lokale Verwaltung, die für die Umsetzung der zentral vorgegebenen Anweisungen und für den Informationsfluss zwischen dem Zentrum und der Provinz zuständig war; und schließ­lich die Ebene der lokalen Bevölkerung, die Objekt, Adressat und Akteur der Medizinal­politik war.

30 Stollberg-Rilinger, Kulturgeschichte, S. 21 ff., Zitat S. 21. 31 Konzeptionell wendet sich gegen diesen Dualismus Sperling, Autokratie.

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Die Untersuchung basiert auf folgendem Material: Die erste Gruppe bilden normative Quellen, die in der Vollständigen Gesetzessammlung des Rus­sischen Reiches (Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii) veröffent­licht sind. Anhand dieses Bestands wird die zentralstaat­liche Linie in der Medizinal­politik von den 1760er bis zum Beginn der 1830er Jahre nachgezeichnet. Die zweite Gruppe besteht aus der Korrespondenz der lokalen Verwaltungsebene mit zentralstaat­lichen Behörden auf der einen und Akteuren vor Ort auf der anderen Seite. Ein Teil dieses Schriftguts findet sich für das achtzehnte und die ersten Jahre des neunzehnten Jahrhunderts im Rus­sischen Staatsarchiv der alten Akten (Rossijskij gosudarstvennyj archiv drevnich aktov), ab circa 1802 im Rus­sischen historischen Staatsarchiv (Rossijskij gosudarstvennyj istoričeskij archiv). Die dritte Gruppe umfasst schließ­lich sowohl Schriften, die der Vermittlung medizinischer Inhalte an ein breites Publikum dienten – Aufklärungsschriften und Periodika –, als auch Quellen persön­licher Provenienz, die Einblicke in Begegnungen zwischen Ärzten und Kranken gewähren. Ferner liegen dieser Arbeit drei Regionalstudien zu den Gouvernements ­Jaroslavl’ (Karte 1, Seite 394 – 395), Tambov (Karte 2, Seite 396 – 397) und Voronež (Karte 3, Seite 398 – 399) zugrunde. Die Struktur des Rus­sischen Reiches mit den Zentren Moskau und St. Petersburg erlaubt es nicht, Befunde über die beiden Hauptstädte auf das rest­liche Land zu übertragen. Die Bevölkerungszahl und -dichte, die soziale Zusammensetzung sowie die Konzentration an Kapital und Bildungseinrichtungen machen sowohl die alte als auch die neue Hauptstadt in vielen Bereichen zu Ausnahmeerscheinungen in dem weit ausgedehnten Reich. Die Wahl ist aus folgenden Gründen auf die drei genannten Gouvernements gefallen. Gesucht wurden Gegenden, die eine unterschied­liche wirtschaft­liche und gesellschaft­liche Struktur aufwiesen und damit eine gewisse Bandbreite an Varianten abdecken können. Jaroslavl’, eine mittelalter­liche Stadt im Nordosten von Moskau, zeichnete sich seit der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts durch Handwerk, Manufakturen und eine zahlenmäßig starke Kaufmannschaft aus. Um die Jahrhundertwende war sie zu einem der wichtigsten industriellen Zentren des Reiches aufgestiegen. Das nordwest­lich von Jaroslavl’ gelegene Rybinsk war einer der größten Warenumschlagplätze an der Wolga. Verhältnismäßig schwach war in dieser Gegend die Landwirtschaft, die sich durch kleineren und mittleren Grundbesitz auszeichnete. Den Gegenpol zu diesem nörd­lichen Gouvernement bilden Tambov und Voronež. Die beiden aneinandergrenzenden Gouvernements liegen im fruchtbaren Schwarzerdegebiet und bildeten bis zur Verwaltungsreform des Jahres 1775 Provinzen des Gouvernements Voronež. Die Stadt Voronež entstand im sechzehnten Jahrhundert als eine Festung gegen tatarische Einfälle; Tambov wurde, ebenfalls als Festung, im siebzehnten Jahrhundert gegründet. Im Gouvernement Voronež waren noch im späten achtzehnten Jahrhundert große Landstriche dünn besiedelt, während Tambov aufgrund seiner

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„verhältnismäßig hohen Bevölkerungsdichte und hervorragender Schwarzerde […] zu einer der wirtschaft­lich solidesten Kräfte des Rus­sischen Reiches geworden ist […]. Die Tambover Bevölkerung zeichnete sich nie durch die Geschick­lichkeit und Begabung der Bewohner von Jaroslavl’, die Unternehmensfreudigkeit der Bewohner von Vladimir und Kostroma, den Mut der Bewohner von Archangel’sk oder die Kühnheit der Bewohner des Wolgagebiets aus. Der mužik von Tambov war vorwiegend grau. Auch andere Stände zeichneten sich nicht durch eine besondere Entwicklung aus. […] Mit einem Wort: ­Tambov erscheint uns als Verkörperung der tiefen großrus­sischen Provinz.“ 32

Für den Tambover Lokalhistoriker war die von ihm in den 1880er Jahren beschriebene Gegend vor allem wegen ihrer Mittelmäßigkeit eine typische Vertreterin der rus­ sischen Provinz. In der vorliegenden Untersuchung repräsentieren Tambov, ­Voronež und Jaroslavl’ aus einem anderen Grund die rus­sische Provinz. Sie lagen nicht in der weit entfernten Peripherie, sondern wurden schon im neunzehnten Jahrhundert als Teil des sogenannten Kernrusslands betrachtet.33 Bei diesen Gouvernements handelt es sich nicht um kürz­lich kolonisierte oder von anderen Staaten eroberte Gebiete mit einer besonderen ethnischen, wirtschaft­lichen und kulturellen Prägung. Damit soll allerdings keine größere Homogenität der dortigen Bevölkerung oder Uniformität der Lebensweisen als in Wirk­lichkeit suggeriert werden, die – zum Teil beträcht­liche – Unterschiede nivellieren würde. Der Zweck der vorgestellten Auswahl an Lokalstudien ist es, zahlreiche Variablen, die eine Umsetzung staat­ licher Medizinal­politik in relativ jungen Besitzungen des Reiches beeinflussten, auszuschließen: etwa das Fehlen des Adels in sibirischen Gouvernements, bereits bestehende nichtstaat­liche Wohlfahrtseinrichtungen im Baltikum oder die Existenz einer großen fremdstämmigen Elite auf dem ehemals polnischen Territorium, in den sogenannten Westgouvernements. Das Interesse der Arbeit gilt nicht den zahlreichen Sonderfällen des von Diversität geprägten Imperiums. Vielmehr sollen innerhalb der untersuchten Gebiete Entwicklungen aufgezeigt werden, die sich womög­lich auf andere Gegenden eines imaginierten Kernrusslands übertragen lassen. So ließe sich das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit wie folgt formulieren: Wie erschloss die Staatsgewalt einen neuen Tätigkeitsbereich, wie baute sie ihre Herrschaft in jenen Gebieten aus, die als ihr stabiles Zentrum galten? Die Überlieferungsdichte in den drei Regionalarchiven ist sehr unterschied­lich und erlaubt in der Regel nicht, die Geschichte einer Verwaltungsinstitution, eines Krankenhauses, eines Arztes oder gar eines Kranken über mehrere Jahre hinweg 32 Dubasov, Tambovskij kraj, Nr. 8, S. 314 f. 33 Zur Konstruktion Kernrusslands und der Entwicklung des Begriffs im Zusammenhang mit der geographischen Expansion und seinen semantischen Implikationen siehe Gorizontov, Circle, v. a. S. 71 f.

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zu verfolgen. Während das Staatsarchiv des Jaroslavl’er Gebiets (Gosudarstvennyj archiv Jaroslavskoj oblasti) sich zu Recht seiner großen Dokumentensammlung rühmt, hat das Gebietsarchiv von Voronež während des Zweiten Weltkrieges einen Großteil seines Bestandes verloren. Die Überlieferung für das späte achtzehnte Jahrhundert hat dadurch einen irreversiblen Schaden erlitten, der sich nur zum Teil durch entsprechende Funde in zentralen Archiven ausgleichen lässt. Auch in ­Tambov ist die Überlieferung der lokalen Zivil- und Medizinal­verwaltung recht dürftig. Daher wird kein symmetrischer Vergleich zwischen den drei Gouvernements angestrebt. Schon allein die unterschied­liche Überlieferungsdichte würde das Unterfangen, die Implementation ein und derselben Maßnahmen in Voronež, Tambov und Jaroslavl’ vergleichend zu verfolgen, zum Scheitern verurteilen. Vielmehr werden die drei Fallbeispiele eher als Sonden benutzt, um Situationen und Prozesse auf lokaler Ebene zu erfassen. Sie rücken vor allem dann in den Vordergrund, wenn es darum geht, die Tätigkeit des medizinischen Personals vor Ort, die Kommunikation der Provinzverwaltung mit Vertretern des Adels und der städtischen Selbstverwaltung oder die Organisation der Pockenschutzimpfung zu beleuchten. Um ein mög­lichst facettenreiches Bild von der Medizinal­verwaltung des Zarenreichs und dem Alltag im Medizinal­wesen zu zeichnen, ist es allerdings immer wieder notwendig, auch Beispiele aus anderen Landesteilen mit einzubeziehen. Für Fragen des medizinischen Alltags, der in den Verwaltungsakten selten Niederschlag fand, sind individuelle Erlebnisse wichtig, die für diese Arbeit aus veröffent­lichten Egodokumenten zusammengetragen wurden.34 Doch da ihre Anzahl verhältnismäßig gering ist und der Fokus der Studie auf der Verwaltung liegt, können sie allerdings nur bruchstückhafte Einblicke in die Welt jenseits staat­licher Einrichtungen gewähren. Sicher­lich lohnend, aber im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht mög­lich wäre eine Untersuchung des medizinischen Alltags und der medikalen Kulturen auf den Landgütern einzelner Adliger. Der chronolo­gische Rahmen umfasst etwa sieben Jahrzehnte: vom Machtantritt Katharinas II. im Jahre 1762 bis zur Choleraepidemie der späten 1820er und frühen 1830er Jahre. Die Notwendigkeit, einen vergleichsweise großen Zeitrahmen zu wählen, ergibt sich aus dem Bestreben, die mittelfristige Wirkung politischer Konzepte und Veränderungen in deren Annahme durch die beteiligten Gruppen zu untersuchen. Die Konzentration auf eine kurze Zeitspanne kann leicht zu einer verzerrten Beurteilung der Wirkung einzelner Maßnahmen oder der Entwicklung einzelner Institutionen führen.35

34 Zu dieser Quellengattung siehe den lesenswerten Artikel von Herzberg, Autobiographik und Gretchanaja; Viollet, Tagebücher. 35 Für große Untersuchungszeiträume plädiert auch Jan Kusber, dessen Studie 150 Jahre in den Blick nimmt. Zu der methodischen Begründung mit weiterführenden Literaturhinweisen siehe Kusber, Eliten- und Volksbildung, S. 11 ff.

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Je nach Fragestellung sind für die zweite Hälfte des achtzehnten und die erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts verschiedene Periodisierungen mög­lich. Befasst man sich mit der Entwicklung der Städte, erscheint das Jahr 1785, in dem Katharina II. die beiden Gnadenurkunden erließ, als ein geeigneter Ausgangspunkt. Ebenfalls bietet sich das Jahr 1775, das eine grundlegende Reform der lokalen Verwaltung markiert, für den Beginn einer Studie an. Etwas weniger eindeutig sind dagegen die mög­lichen Einschnitte im neunzehnten Jahrhundert. In Bezug auf die Innenpolitik bilden die Jahre 1861 und 1864 die wohl größten Wendepunkte. Für diese Arbeit sollen die chronolo­gischen Grenzen allerdings wie folgt definiert werden: Im Vordergrund stehen die medizinalpolitischen Zielsetzungen, die maßgeb­lich von den Monarchen bestimmt wurden. Deswegen ist es sinnvoll, die Untersuchung mit der Machtübernahme Katharinas II. beginnen zu lassen. Ihre Politik unterschied sich zwar nicht immer so radikal von der ihres Vorgängers, wie sie die Zeitgenossen und die Nachwelt glauben machen wollte, doch hatte sie der Medizinal­politik eine neue Stoßrichtung gegeben, die lange vorherrschend blieb. Den Schlusspunkt dieser Arbeit bildet die Choleraepidemie der späten 1820er und frühen 1830er Jahre. Gewiss spräche manches dafür, die Untersuchung bis zur Gründung der zemstva im Jahre 1864 auszudehnen. Doch gibt es auch gewichtige Argumente für einen etwas kürzeren Zeitraum. In den drei Jahrzehnten zwischen der Choleraepidemie und der Reform der lokalen Selbstverwaltung bewegte sich die Medizinal­politik weitgehend in den vorgegebenen Bahnen und ließ im Gegensatz zum ausgehenden achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert keine grundlegend neuen Konzepte erkennen. Außerdem werden die folgenden Ausführungen zeigen, dass die Saat der Bemühungen Katharinas um gesellschaft­liche Aktivität früher aufging als in den 1860er Jahren, auch wenn es sich dabei erst um Anfänge einer Vergesellschaftung handelte. Die Choleraepidemie – die in ihrem Ausmaß die größte Katastrophe ihrer Art nach der Pest der 1770er Jahre darstellte – eignet sich als Prüfstein für die Verwaltungs- und Kommunikationsstrukturen, die seit der Gouvernementsreform des Jahres 1775 entstanden.

Au f b a u d e r St u d ie Ziel dieser Arbeit ist es nicht, die Entwicklung des Medizinal­wesens in all seinen Bestandteilen lückenlos chronolo­gisch nachzuzeichnen. Auch wird weniger Wert auf eine erschöpfende Geschichte aller Institutionen gelegt, die in das Medizinal­ wesen und die soziale Fürsorge involviert waren. Manche Einrichtungen – etwa die Kaiser­liche Philanthropische Gesellschaft oder die Anstalten der Kaiserin Maria – werden hier nur gestreift. Die medizinische Ausbildung bleibt ebenfalls weitgehend ausgeklammert. Vielmehr stehen im Fokus der einzelnen Kapitel Wendepunkte, die

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den jeweiligen Bereich entscheidend geprägt haben. Die Untersuchung geht dabei in konzentrischen Kreisen vor: von der Staatsgewalt im Zentrum des Reiches über die lokale Verwaltungsebene und die Beamten bis hin zur lokalen Bevölkerung, die in Form von unterschied­lichen Gruppen und als einzelne Individuen in Erscheinung tritt. Das Kapitel Bevölkerung, Gesellschaft, Bürokratie fragt nach dem Ursprung der Entscheidung, ein ziviles Medizinal­wesen zu schaffen. Es nimmt die Regierungszeit Katharinas II. in den Blick, um herauszufinden, woher die Impulse für die Ausdehnung der medizinischen Versorgung auf die Zivilbevölkerung kamen. Auf die Schilderung der gesundheitspolitischen Konzepte folgend, rückt deren institutionelle Umsetzung in den Mittelpunkt: das Amt für gesellschaft­liche Fürsorge, das im Rahmen der Gouvernementsreform von 1775 geschaffen wurde und als erstes Verwaltungsorgan auf lokaler Ebene für den Aufbau medizinischer Einrichtungen zuständig war. Anschließend wird nach den unterschied­lichen Akzenten gefragt, die Katharinas Nachfolger in der Medizinal­politik setzten. Im Zentrum stehen die Reorganisation des Medizinal­wesens unter Paul I. – einem Kaiser, dessen politisches Werk sonst nur wenig Spuren hinterlassen zu haben scheint – und die Gründung der Ministerien in der Regierungszeit Alexanders I. Im Jahre 1797 erfuhr die lokale Ebene eine grundlegende Umgestaltung, während die Ministerialreform in erster Linie zentrale Verwaltungsstrukturen betraf. Beide Reformen führten neue Prinzipien in die Verwaltung ein. Der dritte und vierte Abschnitt der Arbeit verschieben den Fokus von den politischen Rahmenbedingungen hin zur Funktionsweise des Medizinal­wesens im Alltag. Zunächst stehen Mediziner im Mittelpunkt des Interesses: als Objekt der staat­lichen Politik, die sich der Verwaltung des Ärztemangels widmete, und als Akteure auf lokaler Ebene, die unterschied­liche Lebensläufe und Karrieren aufwiesen und in einer ambivalenten Rolle als Staatsbeamte und Heilkundige zugleich der Bevölkerung gegenübertraten. Der vierte Teil richtet das Augenmerk auf Provinzkrankenhäuser und fragt nach ihrer Entstehung und Integration in das Leben der Provinzstädte. Wie war diese neue Institution beschaffen? An wen richtete sich das Angebot der stationären Behandlung und wer nahm es an? Das letzte Hauptkapitel untersucht die unterschied­lichen Rollen der lokalen Bevölkerung im Medizinal­wesen. Es fragt zum einen nach den Aktionsräumen, die von der Staatsgewalt für verschiedene Bevölkerungsgruppen geschaffen wurden. Zum anderen steht die Art und Weise, wie sich einzelne Individuen und Bevölkerungsgruppen die neuen Rollen aneigneten und wie sie diese für sich selbst definierten, im Mittelpunkt. Als Beispiel für die Kooperation zwischen der Staatsgewalt, ihren Repräsentanten in der Provinz und der lokalen Bevölkerung dient die Verbreitung der Pockenschutzimpfung. Von den 1760er Jahren bis zum ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts soll nicht nur nachverfolgt werden, wie ein solches Projekt entwickelt und finanziert wurde, sondern auch, wie die dafür notwendigen Kapazitäten mobilisiert wurden, um das Vorhaben zu vermitteln.

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Anstelle einer Zusammenfassung, die der Struktur der Kapitel folgt, beschließt ein Blick auf die Choleraepidemie der frühen 1830er Jahre die vorliegende Arbeit. Anhand der Seuchenbekämpfung wird gezeigt, welche Entwicklung das Medizinal­ wesen des Rus­sischen Reiches seit den katharinäischen Reformen zurückgelegt hatte und wie weit die Vergesellschaftungsprozesse gediehen waren. Abschließend seien einige formale Anmerkungen angebracht. Die Umschrift rus­ sischer Begriffe und Eigennamen folgt den Regeln der wissenschaft­lichen Transliteration. Ausnahmen werden bei allgemein akzeptierten Eindeutschungen sowie bei Zarennamen gemacht: also Wolga statt Volga, Katharina statt Ekaterina und so weiter. Obwohl viele der in Russland tätigen Ärzte deutscher Herkunft waren, lässt sich die ursprüng­lich deutsche Schreibweise ihrer Namen in den wenigsten Fällen eruieren, zumal die rus­sischsprachigen Quellen hier meist keine eindeutigen Rückschlüsse erlauben. Aus diesem Grund erscheinen soweit nicht anders vermerkt sämt­liche Personennamen, unabhängig von ihrem Ursprung, in der wissenschaft­ lichen Transliteration. Rus­sischsprachige Titel mit dem Erscheinungsjahr vor 1918 sind der reformierten rus­sischen Rechtschreibung angeg­lichen. Die Aufnahme der Fachliteratur endete mit dem Einreichen der Dissertation. Nach 2011 veröffent­lichte Publikationen wurden nicht mehr systematisch rezipiert. Soweit nicht anders vermerkt, erscheinen alle Zitate aus fremdsprachigen Texten in eigener Übersetzung.

2 .   B E VÖ L K E RU N G , G E S E L L S C H A F T, B Ü RO K R AT I E: D I E N E U E M E D I Z I N A L ­P O L I T I K

Die Geschichte des zivilen Medizinal­wesens im Rus­sischen Reich begann lange bevor Katharina II. den Thron bestieg. Seit dem frühen achtzehnten Jahrhundert ent­ wickelte sich die medizinische Versorgung zunehmend zu einem von der Staatsgewalt regulierten Bereich. Vor allem aber brachte die Neuorientierung des Landes nach Westen hin den Import einer akademischen medizinischen Wissenschaft mit sich, die mit der politischen Struktur und den Zielsetzungen des autokratischen Staates kompatibel war.1 Zu den zahlreichen Neuerungen, die Peter I. initiiert hatte, gehörten auch die medizinische Versorgung der Streitkräfte und die Anfänge einer systema­ tischen medizinischen Ausbildung.2 Im Zentrum der staat­lichen Medizinal­politik im zivilen Bereich standen zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts der Seuchenschutz und Hygienemaßnahmen auf öffent­lichen Märkten. Neue Akzente wurden in der Regierungszeit Elisabeths gesetzt, die mit der Förderung der Pockenimpfung eine wesent­liche Maßnahme des präventiven Seuchenschutzes vorantrieb.3 Die Kaiserin bemühte sich außerdem, die bestehende, fast ausschließ­lich dem Militär vorbehaltene medizinische Versorgung auf weitere soziale Gruppen auszuweiten. Doch eine gänz­lich neue Qualität gewann die staat­liche Medizinal­politik in Bezug auf die Zivilbevölkerung erst unter der Federführung Katharinas II.4 Der Anspruch der europäischen Staatsgewalten, immer mehr Lebensbereiche normativ zu durchdringen, machte einen vertikalen und horizontalen Ausbau der Verwaltungsstrukturen notwendig.5 Im Rus­sischen Reich des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts bestand die Herrschaftsausübung vor allem darin, das Land überhaupt regierbar zu machen. Nachdem mit den Reformen der 1770er und 1780er Jahre ein Meilenstein auf

1 Zu diesem Themenkomplex siehe Renner, Autokratie, insbesondere S. 64. 2 Siehe dazu Alexander, Medical Developments. Von Horsley Gantt wird Peter I. als der „Vater der rus­sischen Medizin“ bezeichnet, Gantt, Medicine, S. 49. Siehe auch Richter, Geschichte Bd. 1, S. 1 – 79. Wie in so vielen Bereichen griff der Kaiser auch hier selbst zum Werkzeug und ließ sich von Fachleuten instruieren. Alexander, Medical Developments, S. 199 ff. 3 Siehe dazu Chanykov, Očerk, S. 57. 4 Die unterschied­liche Schwerpunktsetzung in der Medizinal­politik Peters I. und Katharinas II. betonen unter anderem Brückner, Ärzte, S. 13 und Ševčenko, Dejatel’nost’, S. 55. Beim Hervorheben dieses Gegensatzes geht allerdings unter, dass die medizinische Versorgung der Zivilbevölkerung bereits unter Elisabeth in den Blickpunkt der Staatsmacht geriet. 5 Reinhard, Staatsgewalt, S. 125.

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dem Weg der inneren Staatsbildung gesetzt worden war, erfuhr sowohl die zentrale als auch die lokale Verwaltungsebene bis zum Beginn der Herrschaft Nikolaus’ I. wiederholt große Umbrüche. Das Kapitel richtet den Blick auf neue staat­liche Strukturen im Medizinal­wesen in der zweiten Hälfte des achtzehnten und im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts. Die Fragestellung des Kapitels reiht sich zum einen in die Diskussion über die Tragweite innerer Reformen, vor allem der Zeit Katharinas, ein und möchte zum anderen einen Beitrag zur Verwaltungsgeschichte leisten. Die Figur Katharinas II. und das politische Werk der Kaiserin haben ebenso viel Interesse wie kontroverse Bewertungen hervorgerufen – sowohl bei den Zeitgenossen als auch in der Historiographie.6 Zwei Fragenkomplexe standen lange Zeit im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen mit dieser Herrscherin: Der erste befasste sich mit der Überlegung, ob Katharinas „Werk aus einer aufgeklärten Geisteshaltung hervorgegangen“ oder ob „Aufklärung bei ihr nur Zeitkolorit, nur Drapierung, ja, zugespitzt: ein bloßes Täuschungsmanöver“ war.7 Diese Kontroverse entsprang zu einem großen Teil Erwartungen, die liberale Zeitgenossen und die Nachwelt an die Kaiserin stellten. Katharinas Interesse für die aufgeklärte Philosophie und die von ihr hervorgebrachten Staatstheorien erweckte schon zu Lebzeiten der Kaiserin die Vorstellung, sie strebe eine radikale Umgestaltung Russlands an, die die Ideen der Aufklärung in aller Konsequenz verwirk­lichen werde. Hinzu kam, dass die Aufklärer selbst ihre Schriften als Anleitung zum konkreten Handeln verstanden.8 Die Enttäuschung darüber, dass Katharina auf den Adel als Stütze der Monarchie setzte, die Leibeigenschaft beibehielt und mit ihrer Politik auch nicht auf eine Erziehung ihrer Untertanen zu politisch mündigen Bürgern abzielte, führte zu einer Bewertung ihrer aufgeklärten Geisteshaltung als bloße Selbstdarstellung.9 6 Einen Überblick über die nach wie vor maßgeb­lichen Studien zur Regierung Katharinas II. bietet das Handbuch der Geschichte Rußlands. Insbesondere der Entwicklung der rus­sischen und sowjetischen Historiographie wird darin viel Beachtung geschenkt. Siehe Scharf, Das Zeitalter Katharinas II., S. 527 – 567. Eine kursorische Zusammenschau der wichtigsten Deutungen der Herrschaft ­Katharinas II. mit einem Schwerpunkt auf der rus­sischen Historiographie findet sich bei Kamenskij, Ot Petra do Pavla, S. 315 – 329. 7 Zusammengefasst von Schramm, Rückblick, Zitat S. 411. Kurz mit weiterführenden Literaturhinweisen Geyer, Absolutismus, S. 178 f. 8 Stichweh, Funktion, S. 34 f. 9 Ein Überblick über die sowjetische Historiographie, die der Politik Katharinas Verlogenheit und ein Bündnis mit dem Adel vorwarf, und über die Bewertung der Leibeigenschaftsfrage in der Forschungsliteratur findet sich bei Griffiths, Catherine II, S. 323 f., 327 – 331. Georg Sacke sieht die Politik Katharinas II. vorrangig vor dem Hintergrund der Machtusurpation und bewertet die Aneignung der aufgeklärten Ideen als Versuch der Herrschaftsstabilisierung. Sacke, Kommission, S. 1, 8 f., 76 ff., 132, 156 ff. Ein zwiespältiges Urteil fällte seinerzeit Erich Donnert. Einerseits schrieb er, dass die „rus­sische Kaiserin […] nicht nur in ihren Schriften ein Bekenntnis zu den Idealen und Zielen der Aufklärung abgelegt, sondern sich ebenso im Rahmen der sozialen und wirtschaft­lichen

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Dabei handelt es sich um ein allgemeines Rezeptionsproblem in der Ideen­ geschichte des achtzehnten Jahrhunderts: Es wurde ein Bild der Aufklärung konstruiert, das im Dienste der jeweiligen zeitgenös­sischen politischen Zielsetzung stand.10 Im Falle Katharinas II. deuteten viele Historiker sowohl im neunzehnten als auch im zwanzigsten Jahrhundert die Vision der Aufklärer vom klas­sischen republikanischen Ideal des Allgemeinwohls 11 im Sinne des Liberalismus und reproduzierten dadurch ein grundlegendes Missverständnis: Die Vorstellung der Aufklärer vom mündigen Bürger verband sich in der Tradition der liberalen Geschichtsschreibung mit der Idee einer bürger­lichen Gesellschaft, die unter anderem das staat­liche Dasein bestimmt.12 Aus dieser Interpretation ergab sich ein vermeint­licher Widerspruch zwischen den Idealen der Aufklärung und absolutistischer Herrschaft. Vor diesem Hintergrund konnte die Politik Katharinas II. nur mehr unter dem Vorzeichen einer vorgetäuschten aufgeklärten Gesinnung erscheinen. Dabei blieben zwei Umstände unbeachtet: Erstens konnten die von den Aufklärern entwickelten Ideen nur mit der Macht eines uneingeschränkten Souveräns verwirk­licht werden. Das Ziel der guten Ordnung und der damit einhergehenden Glückseligkeit – deren Herstellung nur mög­lich war, wenn man die Prinzipien der Vernunft befolgte – legitimierte das Eingreifen der Staatsmacht in alle Bereiche des mensch­lichen Lebens. An diesem Punkt wurde zweitens die Policeywissenschaft relevant, die eine regulierende Intervention seitens der Staatsgewalt um der guten Ordnung willen einforderte. Die Legitimation zu solch allumfassenden Eingriffen stand nur einem absoluten Herrscher zu. Dieses entscheidende Moment löst die scheinbare Unverträg­lichkeit zwischen Aufklärung und Absolutismus auf und macht die Frage, ob Katharina II. eine Aufklärerin oder eine absolute Herrscherin war, obsolet.13





Gegebenheiten um deren Verwirk­lichung bemüht“ hat. Andererseits betonte er, dass es ihr nach dem Machtantritt vor allem darum ging, „die franzö­sischen Philosophen zur Rechtfertigung ihrer Politik zu benutzen“. Donnert, Katharina II., S. 92, 95. Auf unterschied­liche Bewertungen der Kaiserin und ihrer Herrschaft durch die Zeitgenossen geht in seiner biographischen Skizze ein Ključevskij, Portrety, S. 284 – 290. Gewürdigt und in einem äußerst positiven Licht dargestellt wird die Herrschaft Katharinas II. von Vasilij Bil’basov, der auch ihre programmatischen Erklärungen ernst nahm. Bil’basov, Monografii Bd. 2, S. 311 – 370. Mit der Problematik der Bewertung der Regierungszeit Katharinas II. setzt sich auseinander Aretin, Katharina die Große, S. 33 – 40. Die Langlebigkeit des Topos der heuchlerischen Kaiserin beweist die Veröffent­lichung von Waldron, Tsarist Russia, S. 2. Diese Interpretation wird entschieden abgelehnt von Scharf, Innere Politik, S. 709 ff. 10 Edelstein, Enlightenment, S. 1 – 18; Pečar; Tricoire, Falsche Freunde. Ich danke den Autoren, die mir freund­licherweise ihr unveröffent­lichtes Manuskript zur Verfügung gestellt haben. 11 Pocock, Vertu, S. 57 – 72. 12 Die Quintessenz dieser Interpretation bringt auf den Punkt Aretin, Katharina die Große, S. 39: „Eine an den Idealen der Aufklärung ausgerichtete Gesellschaft läßt sich nicht durch Strafbestimmungen erzwingen. Sie setzt den selbstbestimmten Bürger voraus.“ 13 Obsolet schien diese Debatte schon Isabel de Madariaga in den 1980er Jahren. Ihr differenziertes, aber insgesamt positives Bild der Herrscherin ist zusammengefasst in: Madariaga, Russia, S. 582 ff.

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Diese Anschuldigung wird ebenfalls relativiert, wenn man berücksichtigt, dass die Kaiserin während ihrer gesamten Herrschaft eine in Sachzwänge eingebundene Realpolitikerin blieb. Die Gedanken diverser Staatstheoretiker und Philosophen passte sie stets ihrer Sicht auf die Verhältnisse im Rus­sischen Reich an.14 So erscheint es angebracht, Katharinas Rezeption aufgeklärter Ideen ledig­lich als eine allgemeine Richtlinie ihrer Politik zu begreifen.15 Auch ist es in der heutigen Forschung zum Absolutismus im Allgemeinen umstritten, welchen Einfluss Aufklärer überhaupt auf europäische Monarchen und deren Politik hatten. Zumeist gilt das Primat der Staatsräson.16 Insgesamt scheint das Urteil von David Griffiths treffend, der feststellte, dass die Diskrepanz zwischen Worten und Taten bei Katharina II. nicht größer war als bei anderen Herrschern dieser Zeit.17 Während die Frage nach der Glaubwürdigkeit der aufgeklärten Gesinnung ­Katharinas II. vor allem die ältere Forschung bestimmte und seit den 1990er Jahren weitgehend gelöst scheint, hat sich der zweite Fragenkomplex bei weitem nicht erschöpft. Er betrifft die Reichweite der gesellschaft­lichen Veränderungen, die ­Katharina II. in Gang setzen wollte. Mit dem Etikett „staat­liche Veranstaltung“ versehen, galten die Reformen K ­ atharinas im Bereich der Gesellschaftspolitik im







Hans-Joachim Torke ging dagegen noch 1997 von einem Widerspruch zwischen Autokratie und Aufklärung aus, den Katharina II. seiner Ansicht nach gemildert habe. Siehe Torke, Einführung, S. 130. In Deutschland begann die Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, sich gegen den aufgeklärten Absolutismus zu wenden. Siehe Schneiders, Philosophie, S. 43 – 46. 14 Deut­lich wird dieser Sachverhalt unter anderem in der Art und Weise, wie Katharina den Begriff „Gesellschaft“ in ihr Gesetzeswerk einbaute. Dabei wurden Aspekte, die für den Begriff „société“ konstituierend waren, etwa der Vertragscharakter, weggelassen, wenn sie bei der Übertragung auf Russland für unpassend erachtet wurden. Am Beispiel der Großen Instruktion und anhand der Schriften von Beccaria und Montesquieu demonstriert dies Schierle, Begriffssprache, S. 283 ff. Dass die Begriffe durch die Adoption eine Bedeutung verliehen bekamen, die ihrer ursprüng­lichen sogar widersprechen konnte, ist ein Indiz dafür, dass es der Kaiserin nicht um die Umsetzung ganzer philosophischer Konzepte ging. Ebd., S. 285. 15 Gegen das Messen der Politik Katharinas an den Idealvorstellungen der Aufklärung und ihrer Philo­ sophie wendet sich auch Kamenskij, Ot Petra do Pavla, S. 333 ff. 16 Freist, Absolutismus, S. 97. Zum Verhältnis von Aufklärung und Absolutismus siehe grundlegend Duchhardt, Zeitalter, insbesondere S. 127 – 139; zu Russland ebd., S. 137 ff.; Aretin, Problem, v. a. S. 856 f.; Omelchenko, Absolutism, S. 31 – 38. Laut Omelchenko hatten die Ideen des aufgeklärten Absolutismus eine tiefgehende Wirkung auf Russlands staat­liche Strukturen, das Rechtssystem und die politische Ideologie. Gleichzeitig betrachtet er die Ideen der Aufklärung und den Absolutismus als inkompatibel. Ebd., S. 33 – 37. Einen wertvollen Überblick der älteren Diskussion gibt Geyer, Absolutismus. Zur Geschichte des Phänomens und seiner Bewertung in der Historiographie siehe Torke, Autokratie, S. 32 – 49. Mit dem Einfluss der Aufklärung auf Katharinas Große Instruktion befasst sich Okenfuss, Catherine, S. 322 – 329. Siehe auch Bil’bassov, Formation, insbesondere S. 26 – 40. Laut Kamenskij ließ sich die Kaiserin – trotz allen Idealismus – bei ihren Entscheidungen in erster Linie von „gesundem Verstand“ leiten. Siehe Kamenskij, Reformen, S. 340. 17 Griffiths, Catherine II., S. 343.

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Allgemeinen als gescheitert.18 Die Gültigkeit dieses Urteils wird allerdings immer mehr in Frage gestellt, unter anderem durch Studien, die für das ausgehende Zarenreich weitreichende gesellschaft­liche Aktivität belegen und nach deren Wurzeln fragen.19 Sicher­lich wäre es falsch zu behaupten, dass die Verwaltungsgeschichte des Rus­ sischen Reiches in der zweiten Hälfte des achtzehnten und zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts gänz­lich unerforscht sei. Vor allem zentrale Verwaltungsstrukturen sind wiederholt untersucht worden.20 Doch wenn Marc Raeff 1979 schrieb, dass über die eigent­liche Funktionsweise der Verwaltung auf zentraler und auf lokaler Ebene wenig bekannt sei, so bleibt dieses Desiderat in Bezug auf die lokale Verwaltung mit Ausnahme weniger Wissensinseln noch heute bestehen.21 Für die Frage nach der Entwicklung der Medizinal­verwaltung in dieser Zeit konnten sich Historiker in Russland selbst wie auch außerhalb seiner Grenzen nur selten erwärmen. Dabei verspricht eine Untersuchung der Medizinal­verwaltung Einblicke in das Zusammenspiel zwischen der zentralen und der lokalen Ebene. Denn dort, wo es auf der zentralen Ebene kaum und auf der lokalen Ebene keine gewachsenen Strukturen gab, lässt sich verfolgen, welche Vorstellungen von der Staatsverwaltung, der Verflechtung ihrer einzelnen Ebenen und der Kompetenzverteilung an der Staatsspitze existierten und wie ein neuer Verwaltungszweig in einem unterverwalteten Reich Gestalt annahm.

18 Geyer, Gesellschaft, zugespitzt auf S. 22. John LeDonne spricht außerdem auch den Verwaltungsreformen ­Katharinas II. einen zukunftsweisenden Charakter ab. LeDonne, Herrschaft, S. 347 – 363. 19 Trotz bedeutender Mängel hebt Janet Hartley die positiven Ergebnisse hervor, die die Reformen ­Katharinas in der lokalen Verwaltung erzielt haben: Hartley, Reformen, S. 476. Siehe auch Hausmann, Gesellschaft; Häfner, Gesellschaft; Sperling, Zarenmacht; Bönker, Metropolen. Am Bereich der Bildung demonstriert Jan Kusber die Aktivierung gesellschaft­licher Kräfte in der Provinz des 18. Jahrhunderts. Siehe Kusber, Eliten- und Volksbildung. Eine allgemeine, auf das ausgehende Zarenreich bezogene Reflexion zum Phänomen der Zivilgesellschaft findet sich bei Hildermeier, Rußland. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der Befund zum Engagement der Unternehmer im Bereich der medizinischen Versorgung im Südwesten des Zarenreichs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Siehe Lindner, Unternehmer, S. 392 – 403. 20 Den besten Überblick bieten Hellmann; Schramm; Zernack (Hg.), Handbuch Bd. 2. Eine knappe Zusammenschau mit Deutungen, die sich nach den Dogmen der sowjetischen Geschichtswissenschaft richten, findet man bei Eroškin, Istorija, S. 114 – 192. Von den neueren rus­sischen Veröffent­lichungen wäre der – allerdings etwas oberfläch­liche – Überblick von Šepelev zu nennen: Činovnyj mir, vor allem S. 25 – 90. Ein deut­licher Schwerpunkt auf der Entwicklung staat­licher Verwaltungsstrukturen liegt in der nach wie vor relevanten Studie von Yaney, Systematization. Für das 18. Jahrhundert maßgebend: Raeff, Police State. Unverzichtbar bleibt das Handbuch von Amburger, Behördenorganisation. Für das 19. Jahrhundert siehe auch das neuere, von Raskin herausgegebene Nachschlagewerk: Gosudarstvennye učreždenija, vor allem Bd. 2. 21 Raeff, Bureaucratic Phenomena, S. 409. Die lokale Ebene steht im Mittelpunkt der folgenden Studien: Kusber, Eliten- und Volksbildung; Schattenberg, Provinz.

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Die neue Medizinal­politik

Die Historiographie zur Medizinal­politik ist von demselben Defizit gekennzeichnet, das für die gesamte Forschung zum Russland des achtzehnten Jahrhunderts charakteristisch ist, die sich lange Zeit auf zentrale Strukturen beschränkte und die Provinz des Riesenreiches weitgehend außer Acht ließ.22 Seit den 1990er Jahren wird diese von der Geschichtswissenschaft im Rahmen der Neuen Imperialgeschichte 23 zwar verstärkt in den Blick genommen, doch ist die Reihe bisher nicht an das Medizinal­wesen gekommen. Ledig­lich in Russland – wo in den vergangenen Jahren eine deut­liche Hinwendung zur Region als Objekt der historischen Forschung zu verzeichnen ist – sind Lokalstudien zur Entwicklung der medizinischen Versorgung entstanden.24 Auch in der breiten Öffent­lichkeit scheint seit der Sowjetzeit ein beständiges Interesse für dieses Thema vorhanden zu sein.25 Allerdings haben wissenschaft­liche Studien bisher keine Ergebnisse zu Tage gefördert, aus denen die Funktionsweise der lokalen Medizinal­verwaltung oder ihr Verhältnis zur zentralen Bürokratie erkennbar würden. Den Beginn einer vom Staat organisierten medizinischen Versorgung in der Provinz verorten Lokalhistoriker in Tambov, Voronež und Jaroslavl’ – den Gouvernements, die der vorliegenden Studie als Fallbeispiele dienen – allesamt in den späten 1770er Jahren, als in den Gouvernementsstädten Ämter für gesellschaft­ liche Fürsorge gegründet wurden.26 Dennoch reichen die meisten Untersuchungen nicht in diese Zeit zurück. Selbst für institutionelle Zusammenhänge lassen sich kaum zuverlässige Referenzwerke finden, sieht man von dem Standardwerk von Erik Amburger ab, das eine erste Orientierung in der ständig wachsenden Verwaltung bietet.27 Eine sorgfältig recherchierte Gesamtdarstellung zur Geschichte des Innenministeriums aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts stellt die Medizinal­ verwaltung des Rus­sischen Reiches verhältnismäßig detailliert vor, allerdings nur für den Zuständigkeitsbereich des genannten Ministeriums.28 Die umfangreichen 22 Paradigmatisch konzentriert sich Yaney auf die lokale Verwaltung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Zeit vor 1861 wird in seiner Untersuchung nur gestreift. Yaney, Systematization. 23 Grundlegend: Gerasimov u. a. (Hg.), Novaja imperskaja istorija; Miller (Hg.): Rossijskaja imperija; Burbank; Ransel (Hg.), Imperial Russia. 24 Beispiele aus den letzten Jahren: Farber, Očerki istorii; Ščukin; Bykova, Medicinskaja pomošč’; Osincev u. a. (Hg.), 225 let; Mezencev (Hg.), Istorija. In Jaroslavl’ erscheint seit 2000 eine Reihe mit dem Titel Istorija zdravoochranenija Jaroslavskoj oblasti, die sich allerdings auf die Zeit nach der Gründung der zemstva 1864 konzentriert. 25 Dieses Interesse lässt sich vor allem an Artikeln in der lokalen Presse erkennen. Gabelko, Voronežskie ėskulapy; Kožemjakin, Voronežskie apteki; Popov, Apteka; ders., Ėliksir; Bagrova, Jaroslavl’; Stepanov, Otkrytie bol’nicy. 26 Siehe etwa den Jubiläumsband, der in Jaroslavl’ zum 225. Gründungstag des lokalen Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge erschienen ist: Osincev u. a. (Hg.), 225 let. 27 Amburger, Behördenorganisation, S. 149 – 160. 28 Varadinov, Istorija.

„Die Sorge für die Gesundheit der Bürger ist eine Pflicht …“

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Arbeiten von Mark Mirskij konzentrieren sich auf die Schaffung neuer Behörden im Machtzentrum und zum Teil in der Provinz, ohne sie jedoch im Zusammenspiel untereinander, mit anderen Ressorts oder mit der lokalen Verwaltung zu betrachten.29 Die Kenntnis der Geschichte der Medizinal­verwaltung ist zum Teil so gering, dass in der wissenschaft­lichen Literatur nicht nur kleinere Ungenauigkeiten auffallen, sondern auch gravierende Fehler, die den institutionellen Aufbau betreffen.30 Die Funktionsweise der Medizinal­verwaltung im Zentrum und vor allem in der Provinz des Rus­sischen Reiches muss noch heute zu einem großen Teil aus normativen Akten rekonstruiert werden. Dieses Kapitel richtet den Blick zunächst auf den Entstehungszusammenhang der Medizinal­politik ­Katharinas und die Weichenstellung für die weitere Entwicklung dieses Bereichs, die in den 1760er und 1770er Jahren vorgenommen wurde. Es fragt nach dem Ursprung der Impulse für die Schaffung eines öffent­lichen Medizinal­wesens, indem es die Diskussionen der 1760er Jahre analysiert. Ein weiterer Abschnitt ist der ersten Institution der Medizinal­verwaltung auf lokaler Ebene, dem Amt für gesellschaft­liche Fürsorge, gewidmet. Anschließend lenkt das Kapitel die Aufmerksamkeit auf die Wendepunkte in der Medizinal­politik des ausgehenden achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts.

2 .1  „ D ie Sor ge f ü r d ie G e s u nd heit d e r Bü r ge r i s t ei ne P f l icht …“ Als ­Katharina II. 1762 den rus­sischen Thron bestieg, bekam die staat­liche Politik eine breite theoretische Grundlage, deren Wurzeln im europäischen Westen lagen.31 Mit 29 Mirskij, Medicina (1996); ders., Medicina (2005). Einen sehr knappen Überblick über die Behördengeschichte findet man in ders., Istoričeskij opyt. 30 Samuel C. Ramer erwähnt in seinem Überblick über die medizinische Versorgung der Provinz vor der Einführung der zemstva zwar die Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge, jedoch nicht die lokalen Medizinal­behörden, die seit 1797 für das Medizinal­wesen in den Gouvernements zuständig waren. Ramer, Zemstvo, hier S. 282 f. Zur fehlenden Klarheit in der Frage, ob Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert geschlossen wurden, siehe Anm. 284. 31 Zitat aus der Instruktion vom 30. Juli 1767, in: PSZ I Bd. 18, Nr. 12.949, S. 192 – 280, hier S. 240. Die zeitgenös­sische Übersetzung ins Deutsche ist bis heute in zahlreichen Neuauflagen zugäng­lich: Katharinä der Zweiten Instruction, S. 77. In Russland ist eine Edition erschienen, die den Gesetzestext neben der rus­sischen auch in der franzö­sischen, lateinischen, deutschen und in zwei eng­lischen Fassungen enthält. Imperatrica Ekaterina Vtoraja, Nakaz, dt. Fassung ebd., S. 271 – 362, hier S. 313. Diese von ­Katharina II. autorisierte Übersetzung ins Deutsche weicht von dem Text ab, den August von Schlözer unter dem Pseudonym M. Haigold veröffent­licht hat. Siehe das Vorwort von V. A. Tomsinov zu der Ausgabe, S. VII–X, hier S. IX, sowie Syromjatnikov, Absoljutnaja monarchija, S. 531. Zu ­Katharinas Reformen und deren Zusammenhang mit der zeitgenös­sischen Staatstheorie und Philosophie siehe Kamenskij, Reformen.

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Die neue Medizinal­politik

dem Selbstverständnis einer aufgeklärten Autokratin bezog die Kaiserin in einem bis dahin ungekannten Maße Ergebnisse philosophischer und wirtschaftstheore­ tischer Schriften in ihre Regierungskonzepte, konkreter: in ihre Überlegungen zu einer tiefgreifenden Umgestaltung der politischen, sozialen und wirtschaft­lichen Strukturen im Rus­sischen Reich mit ein. Doch wenn ­Katharina ihren Beamten Werke von Beccaria, Montesquieu, Locke, Blackstone oder Bielfeld empfahl, wollte sie kein fremdes Gewächs in Russland einpflanzen. Vielmehr sollte das Rus­sische Reich an der allgemeineuropäischen Entwicklung partizipieren, auch im Bereich der Medizinal­politik, die durch die Rezeption kameralistischer Staatstheoretiker und aufgeklärter Philosophen erheb­lich beeinflusst wurde.32 Nicht nur in der Geisteshaltung war die neue Politik nach Westen ausgerichtet. Auch bei der Vorbereitung einer grundlegenden Umgestaltung des Medizinal­wesens in Russland wurden entsprechende Regelungen aus anderen europäischen Staaten rezipiert.33 Hier soll es allerdings nicht darum gehen, einzelne medizinalpolitische Projekte auf die eine oder andere Schrift dieses oder jenen Denkers zurückzuführen. Vielmehr wird ein breiterer Fokus gewählt, in dem Russland – entsprechend dem Selbstverständnis seiner Eliten seit dem frühen achtzehnten Jahrhundert – als Teil Europas erscheint.34 Aus diesem Blickwinkel heraus betrachtet, wirkt die Rezeption der Ideen, die in Frankreich, Preußen, Österreich oder England entstanden waren, nicht wie eine bloße Nachahmung. Denn die zielgerichtete Wendung Russlands nach Europa, mit der auch eine geistige Öffnung einherging, brachte nicht nur das Bewusstsein für die eigene relative Rückständigkeit mit sich, sondern auch die Entscheidung, am europäischen Ideentransfer teilzuhaben. Nimmt man also das Selbstverständnis und die Selbstdarstellung des Rus­sischen Reiches ernst und betrachtet das Land als einen Teil Europas, rückt die Offenheit gegenüber neuen Ideen – mehr als der Einfluss einzelner Denker – in den Vordergrund. In Bezug auf das medizinische Wissen bildet das Europa des späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts einen Raum, der in großem Maße von 32 Alexander, Catherine the Great, S. 188 f.; Clendenning, Dimsdale, S. 116. 33 In einem Senatserlass hieß es zum Beispiel, dass für Geisteskranke spezielle Häuser eingerichtet werden sollten, „wie für gewöhn­lich auch im Ausland Irrenhäuser [dol’gauzy] eingerichtet werden“. Senatserlass vom 20. August 1762, in: PSZ I Bd. 16, Nr. 11.647, S. 56 – 57, hier S. 56. In den Akten der inneren Verwaltung der 1770er Jahre findet sich eine Kopie vom Manifest der Kaiserin Maria Theresia zur Medizinal­verwaltung in der Provinz ihres Reiches. Siehe RGADA f. 16, op. 1, d. 328, l. 181 – 184 und 194 – 215ob. 34 Die bekannteste Manifestation dieser Ansicht, die zugleich politisches Programm war, findet sich in der Großen Instruktion ­Katharinas II.: „Rußland ist eine Europäische Macht.“ Imperatrica Ekaterina Vtoraja, Nakaz, S. 273. Olaf Mörke zufolge ist eine historische Betrachtung Russlands im 18. Jahrhundert durch „die Interpretation der Rolle des Fürsten als bestimmendem Element von Staat­lichkeit“ gerechtfertigt. Mörke, Diskussion, S. 12. Siehe auch Scharf, Tradition, S. 69.

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Transferprozessen gekennzeichnet war. Zentren der medizinischen Forschung und Ausbildung – etwa Leiden oder Edinburgh – zogen sowohl angehende als auch erfahrene Mediziner aus verschiedenen Gegenden des Kontinents an. Diese fungierten wiederum als Vehikel für die Verbreitung des Wissens in ihren angestammten Ländern. Auch die Praxis, renommierte Ärzte aus dem Ausland einzuladen, förderte den Austausch in diesem Bereich. Er brachte eine gewisse Homogenisierung und Standardisierung des akademischen medizinischen Wissens im europäischen Raum mit sich, zu dem seit dem achtzehnten Jahrhundert auch Russland gehörte. ­Katharinas staatspolitisches Denken formierte sich zu einer Zeit, als im Westen Europas kameralistische Konzepte umgesetzt wurden und der wohlgeordnete Policeystaat als das beste politische System galt.35 So erstaunt es nicht, dass sie, die als Russlands Monarchin darum bemüht war, das Riesenreich in all seinen Bereichen zu reformieren, sich das Modell des wohlgeordneten Policeystaates zu eigen machte.36 Die Policeywissenschaft widmete sich vor allem zwei Fragen: „Mit welchen Erkenntnisverfahren und Wissensprozeduren [ist] der Zustand der Bevölkerung eines Territorialstaates feststellbar?“ und „Mit welchen Technologien und Regulierungsmaßnahmen [kann] die Bevölkerung vergrößert und ihr Zustand verbessert werden?“ 37 Die Aufgaben der Policey umfassten unter anderem das Medizinal­wesen und reichten dabei von der Hygiene im öffent­lichen Raum bis hin zur Privatsphäre des Individuums. Die Idee von einer „vollständigen medicinischen Polizey“, wie sie Johann Peter Frank Ende der 1770er Jahre zu entwickeln begann,38 war das Produkt einer nach merkantilistischen Prinzipien ausgerichteten Politik, deren Ansätze sich bis in die Staatstheorien des sechzehnten Jahrhunderts zurückverfolgen lassen. Die Unabhängigkeit eines Staates von fremder Hilfe war eines der zentralen Motive merkantilistischen Denkens und bildete die Grundlage dafür, dass Vorstellungen von einer Produktionssteigerung durch Bevölkerungszunahme entwickelt wurden.39

35 Raeff, Police State, S. 222. Zum Policeybegriff siehe Iseli, Policey, S. 14 ff., 28 – 31. 36 Scharf, Innere Politik, S. 709 – 713; Daniel, Teplov, S. 24. Anklänge sozialpolitischer Konzepte aus dem England des 17. Jahrhunderts findet in Russland wieder Clendenning, Dimsdale, S. 124. Siehe auch Alexander, Catherine the Great, S. 186. 37 Sohn, Policey, S. 73. 38 Frank, System. Zusammenfassung und Einordnung des Werks bei Labisch, Homo hygienicus, S. 88 ff. Zum Begriff siehe Dinges, Medicinische Policey, S. 263 – 267. 39 Rosen, Merkantilismus, S. 63. Dass auch andere Politikfelder mit der Peuplierungspolitik verbunden waren, demonstriert am Beispiel der Friedensvorstellungen K ­ atharinas Schippan, ­Katharina II., S. 251 ff. Gewisse Parallelen – vor allem in Bezug auf die Bedeutung gesunder Kinder für ein Gemeinwesen und die Gesundheit als Ausdruck innerer Harmonie und Gleichgewichts – lassen sich auch zum Gesundheitsbegriff in Platons Gesellschaftsentwurf erkennen. Zur „öffent­lichen Gesundheit“ bei Platon siehe Labisch, Homo hygienicus, S. 23 ff.

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Dem leib­lichen Wohl des Individuums kam in diesem Konzept eine doppelte Rolle zu. Zum einen war die Gesundheit eine wichtige Voraussetzung für die Produktivität der Bevölkerung. Zum anderen war sie für die Glückseligkeit eines Menschen unabdingbar – ein Gedanke, der auch religiös konnotiert sein konnte. An dieser Stelle knüpften kameralistische Vorstellungen von einer staat­lichen Bevölkerungspolitik an.40 Zudem hatte sich bereits im späten siebzehnten Jahrhundert ein neues Verständnis von den Aufgaben der Staatsgewalt entwickelt, zu denen auch ein positives Handeln in Fragen der Sozial- und Gesundheitspolitik gehörte. Somit stellt die Medizinal­politik als Teil der Policey ein Beispiel für das Aufkommen von positiven, zum Teil erzieherischen Maßnahmen in der staat­lichen Regulierungstätigkeit im Allgemeinen dar.41 Der „guten Policey“ – wie auch dem Selbstverständnis der absoluten Herrschaft – lag die Vorstellung zugrunde, dass der Monarch als Gesalbter des Herrn für die Herstellung und Wahrung der Ordnung auf Erden zuständig sei, die dem Allgemeinwohl dienen müsse. Dieses Allgemeinwohl wollte die Aufklärung in Gesetzen festgehalten wissen und forderte von einem Souverän deren Einhaltung ein.42 An die Stelle des Allgemeinwohls trat in der deutschsprachigen Literatur häufig der Begriff der allgemeinen Glückseligkeit,43 die das zentrale Moment der „guten Policey“ bildete. Eine wesent­liche Komponente der individuellen und damit

40 Etwa bei François de la Mothe-Fénelon. Siehe dazu Rosen, Merkantilismus, S. 64 ff.; Landwehr, Volk, S. 216 f. Zur Bedeutung der Glückseligkeit in Monarchien mit absolutistischem Selbstverständnis siehe auch Freist, Absolutismus, S. 95. Zum Zusammenhang zwischen medizinischer Policey, Absolutismus und Glückseligkeit siehe Dinges, Medicinische Policey. Rosen betont, dass „die theoretischen Ideen und praktischen Vorschläge der Enzyklopädie über die sozialen Beziehungen von Gesundheit und Krankheit […] im Zusammenhang mit Vorschlägen und Maßnahmen zur Förderung des Bevölkerungswachstums […] den klarsten Ausdruck erfahren“. Rosen, Merkantilismus, S. 71 f. Der Pariser Philanthrop Claude Humbert Piarron de Chamousset brachte diesen Zusammenhang 1754 in seinen Ausführungen zu einer Krankenversicherung auf den Punkt: „Die Menschen sind der wertvollste Besitz des Staates und die Gesundheit wiederum ist ihr wertvollster Besitz.“ Annan, Hospitalization Insurance, S. 116. 41 Rosen, Merkantilismus, S. 65. Dieselbe Wende beobachtet Marc Raeff in westeuropäischen Staaten in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Raeff, Police State, S. 150 ff. 42 Flügge, Reformation, S. 25 f.; Syromjatnikov, Absoljutnaja monarchija, S. 526 f. Das „gemeine Wohl“ hatte bereits Peter I. „zum Leitprinzip seiner rationalistischen Reformtätigkeit erhoben“. Scharf, Tradition, S. 69. Erich Donnert spricht von der Entscheidung ­Katharinas im Sinne der deutschen und österreichischen Kameralisten für das Wohl der Untertanen und gegen deren Freiheit, die von den Denkern der franzö­sischen Aufklärung propagiert wurde. Donnert, ­Katharina II., S. 111, 115, 223. Zum Geist der Großen Instruktion ­Katharinas II. siehe Schierle, Grundbegriffe, S. 42 f. 43 Sohn, Policey, S. 73. Im Rus­sischen verwendeten die Zeitgenossen die Begriffe „obščestvennoe blago“ und „sčast’e“. Siehe etwa Syromjatnikov, Absoljutnaja monarchija, S. 526 f. Die Glückseligkeit der Untertanen war ein wesent­licher Bestandteil des aufgeklärten Absolutismus. Siehe Aretin: ­Katharina die Große, S. 34 f.

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auch der allgemeinen Glückseligkeit war das leib­liche Wohl. Dieser Auftrag des Monarchen und seine Verantwortung vor Gott machten auf der einen Seite den Herrscher zum Diener seines Volkes und legitimierten auf der anderen Seite die obrigkeit­lichen Eingriffe in Fragen der individuellen Gesundheit.44 Somit handelte es sich bei der Aufwertung des Menschenlebens und der Gesundheit nicht um ein ausschließ­lich wirtschaft­liches Interesse, das ledig­lich mit aufgeklärtem Anstrich versehen wurde. Im Falle der Medizinal­politik lassen sich kameralistische Vorstellungen ebenso wenig wie das Konzept der „guten Policey“ von den Ideen der Aufklärung trennen.45 Vielmehr waren beide Ziele harmonisch miteinander verbunden. Das merkantilistische Streben nach wirtschaft­licher Stärke durch effiziente Nutzung der Ressourcen – zu denen auch die mensch­lichen zählten – entwickelte sich zu einer neuen Bevölkerungspolitik, in der der Staatsgewalt eine neue Aufgabe zukam. Diese sollte mög­lichst günstige Bedingungen schaffen, unter denen sich die Bevölkerung mehren und der Staat prosperieren würde. Diesem Verständnis von den Aufgaben des Staates entsprechend lassen sich seit ­Katharinas Machtantritt zwei Neuerungen feststellen: das Bemühen um eine bessere Kenntnis des Reiches und die Formulierung einer Bevölkerungspolitik. Letztere stand im Zusammenhang mit dem Bestreben, alle vorhandenen Ressourcen im Staatsinteresse intensiver zu nutzen: Zum einen sollte mit der gezielten Besiedlung verschiedener Gebiete deren landwirtschaft­liche Erschließung vorangetrieben werden, zum anderen galt es, einer als Vergeudung der Ressourcen verstandenen Dezimierung der Bevölkerung durch Krankheiten entgegenzuwirken. Aufschlussreich für die Art und Weise, wie ­Katharina II. ihre monarchischen Pf­lichten deutete, ist ihr Manifest zur Gründung eines Waisenhauses in Moskau, die auf die Initiative von Ivan Beckoj zurückging: „Die Armenfürsorge und die Sorge um die Mehrung gesellschaft­lich nütz­licher Einwohner sind die zwei obersten Pf­lichten und Tugenden jedes gottverehrenden Herrschers.“ 46

Bezeichnenderweise begründete ­Katharina ihre eigene Pf­licht zur Sorge um die Armen und Schwachen mit der staatsbürger­lichen Verpf­lichtung zum Nutzen der 44 Syromjatnikov, Absoljutnaja monarchija, S. 527. ­Katharina II. betonte, dass ihre Untertanen ihr von Gott anvertraut wurden. Ihre Verantwortung für das Wohlergehen des Volkes setzte sie mit der Mutterrolle gleich. Schierle, Begriffssprache, S. 281 f.; Sohn, Policey, S. 73; Iseli, Gute Policey, S. 24. 45 Siehe dazu Pratt, Free Economic Society, S. 563. Zum Stellenwert des körper­lichen Wohlbefindens im Allgemeinen und der Gesundheit im Besonderen im Denken der Aufklärer siehe Brockliss; Jones, Medical World, S. 370 – 378. 46 Manifest und kaiser­lich bestätigtes Projekt von Ivan Beckoj vom 1. September 1763, in: PSZ I Bd. 16, Nr. 11.908, S. 343 – 365, hier S. 343 f.

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Allgemeinheit. Die Anrufung dieser Pf­licht diente als Appell an die „Kinder des Vaterlandes“, dem Beispiel der Kaiserin und ihres Sohnes zu folgen und das Waisenhaus zu unterstützen.47 Aus dem neuen Anspruch, den die europäischen Staatsgewalten im achtzehnten Jahrhundert an sich selbst stellten, wird in der Forschung häufig eine Totalität abgeleitet, mit der im Rahmen einer Medikalisierung das gesamte mensch­liche Leben sukzessive dem Zugriff der Staatsgewalt unterworfen wurde.48 Diese Sichtweise ist für Entwicklungen im west­lichen Teil Europas wiederholt in Frage gestellt und durch andere Konzepte ersetzt worden, die Aushandlungsprozesse zwischen staat­ lichen und privaten Akteuren und deren Interessen stärker berücksichtigen.49 Auch für Russland erscheint das Postulat einer restlosen Unterwerfung der Bevölkerung unter die staat­lich diktierte akademische medikale Kultur problematisch. Zum einen berührt diese Frage das Verhältnis zwischen einem theoretischen Modell und der realen Politik. Die grundlegende Veränderung im Gesundheits- und Krankheitsverhalten der Menschen konnte als Zielsetzung bei politischen Entscheidungen ledig­lich richtungweisend wirken. Zum anderen widerspricht die Vorstellung von „Menschenmaterial“ 50 auf eklatante Weise dem aufgeklärten Verständnis von Glückseligkeit, das eine Aufwertung des Individuums samt seinem Körper beinhaltete. Hinzu kommt, dass die relativ schwach ausgeprägten staat­lichen Strukturen insbesondere im Rus­sischen Reich des achtzehnten Jahrhunderts die Idee von einer totalen Beherrschung der medikalen Kultur geradezu utopisch erscheinen lassen. Wie in anderen Bereichen dominierte K ­ atharina II. auch in der Medizinal­politik den Diskurs.51 Doch im Falle der neuen Bevölkerungspolitik war es nicht nur die belesene Kaiserin, die sich eingehend mit dem Thema auseinandersetzte. Eine der wichtigsten Schriften zu diesem Themenkomplex stammt von Michail Lomonosov. Der Gelehrte betonte in seinen Ausführungen aus dem Jahr 1761 – wohlgemerkt noch vor der Thronbesteigung K ­ atharinas II. –, dass „die Größe, die Macht und der Reichtum“ des Staates nicht in seiner geographischen Ausdehnung begründet lägen, die ohne Einwohner nutzlos sei. Am wichtigsten sei „die Bewahrung und die Mehrung des rus­sischen Volkes“.52 Am Anfang dieses Projekts müsse die Verhinderung

47 Ebd., S. 344. 48 Den Grundstein legte Foucault, Geschichte der Gouvernementalität Bd. 2, insbesondere S. 20. Besonders radikal erscheint dieses Konzept bei Barthel, Medizinische Polizey, z. B. S. 28. 49 Sehr überzeugend hat Achim Landwehr die Ausweitung des staat­lichen Kompetenzbereichs anhand von Policeyordnungen als einen Prozess der Implementation untersucht: Landwehr, Policey. 50 Barthel, Medizinische Polizey, S. 28. 51 Für Bildungspolitik siehe Kusber, Eliten- und Volksbildung, S. 210. 52 Lomonosov, O sochranenii, S. 384. Eine den Dogmen der sowjetischen Geschichtswissenschaft folgende Deutung dieses Dokuments findet sich bei Grombach, Voprosy mediciny.

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der Heirat von Menschen mit großem Altersunterschied stehen, denn solche Ehen blieben oft kinderlos. Auch wollte Lomonosov das Mönchtum für Frauen unter fünfundvierzig Jahren und für Männer unter fünfzig Jahren verboten wissen. Unehe­liche Kinder sollten in Waisenhäusern untergebracht werden, die ihr Überleben sichern würden. Auch eine Aufklärung der Frauen über Schwangerschaft und Niederkunft, die Betreuung der Geburten durch Hebammen und eine breite Unterrichtung über Kinderkrankheiten und deren Behandlung sollten die Kindersterb­lichkeit verringern. Übermäßiges Essen und Trinken kritisierte Lomonosov ebenso wie manche religiösen Bräuche, die er als schäd­lich erachtete. Ferner bemängelte er die fehlenden Mög­lichkeiten der Bevölkerung, ihre Kranken von ausgebildeten Medizinern behandeln zu lassen, und die geringe Anzahl der Ärzte im Militär. Zwar gebe es Heilkundige, die mit ihrem Können studierte Ärzte überträfen, doch sei es besser, eine medizinische Versorgung nach den Regeln der medizinischen Wissenschaft zu ermög­lichen. Als Gegenmaßnahmen schlug er vor, die medizinische Ausbildung im Inland zu fördern, rus­sische Studenten ins Ausland zu schicken und ausreichend Apotheken zu gründen.53 Bemerkenswert ist, dass Krankenhäuser in Lomonosovs Überlegungen keine Rolle spielten. Wichtig erschien ihm dagegen die Aufklärung der Bevölkerung über Viehseuchen und Naturkatastrophen, aber auch über die Vorkehrungen gegen das Ertrinken und verheerende Brände. Darüber hinaus nannte er die übermäßige Belastung der Bauern und den Militärdienst als Faktoren, die unter anderem im Westen des Landes zur Abwanderung führten.54 In den Ausführungen Lomonosovs – die zu seinen Lebzeiten zwar nicht veröffent­ licht wurden, aber dennoch einem breiten Kreis Gebildeter bekannt waren 55 – finden sich alle wesent­lichen Programmpunkte des Populationismus. Ähn­liche Überlegungen erschienen wenige Jahre später in der Großen Instruktion K ­ atharinas II.56 Ein wichtiger Aspekt ist bei Lomonosov allerdings eher zwischen den Zeilen zu lesen: die Rolle der Obrigkeit bei der Verbesserung der Lebensumstände. So beklagte er an einer Stelle die geringe Anzahl der Apotheken, die es nicht einmal in großen Städten gebe. Darum habe man sich „längst kümmern müssen“, merkte er in einem

53 Lomonosov, O sochranenii, S. 384 – 397. 54 Ebd., S. 397 – 402. Solche Überlegungen bildeten keine Ausnahme im aufgeklärten Diskurs. In den 1780er Jahren kursierte in der Petersburger Verwaltung ein anonymer Brief, der Missstände im Militär schilderte und Verbesserungen empfahl. Anonymer Brief an Friderik Baron Leven vom 18. Dezember 1787. RGADA f. 16, op. 1, d. 214, l. 3 – 3ob. 55 So Grombach, Voprosy mediciny, S. 45 ff. 56 ­Katharina soll nach eigener Auskunft bei der Erarbeitung der Großen Instruktion Werke von Denis Diderot, Charles de Montesquieu, Cesare Beccaria, Johann Heinrich Gottlob von Justi und Jakob von Bielfeld einbezogen haben. Schierle, Grundbegriffe, S. 42. Es mutet wahrschein­lich an, dass auch Lomonosov Werke dieser Autoren kannte, die das populationistische Denken in mehreren europäischen Staaten beeinflusst haben.

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Die neue Medizinal­politik

Nebensatz an.57 An wen genau sich diese Aufforderung richtete, verriet Lomonosov jedoch nicht. Der Adressat seines Vorschlags, den Kirchenkalender so zu verändern, dass etwa die Fastenzeit nicht in eine Jahreszeit falle, die in Russland wegen der klimatischen Bedingungen besonders arm an Lebensmitteln war, wurde dagegen klar benannt: die Kirchenväter. Die dafür nötigen Umstellungen verg­lich Lomonosov mit den enormen Umwälzungen, die Peter I. initiiert hatte.58 Um solche Veränderungen durchzusetzen, bedürfe es einer starken, von oben ausgehenden Kraft. Bemerkenswert ist diese Schrift nicht nur, weil sie die zeitgenös­sischen bevölkerungspolitischen Vorstellungen auf die Verhältnisse im Rus­sischen Reich anwendet, sondern auch, weil sie von der entstehenden Erwartung zeugt, die Staatsgewalt müsse sich für die Verbesserungen der Lebensbedingungen einsetzen. Als ­Katharina II . daranging, ihre medizinalpolitischen Ziele zu formulieren, waren populationistische Vorstellungen in Russland bereits verbreitet. Über das Vorhaben, Russland reicher und seine Bevölkerung gesünder, glück­licher und zahlreicher zu machen, herrschte in den aufgeklärten Zirkeln Konsens.59 Nun sollten Ideen der kameralistischen Bevölkerungspolitik von der autokratischen Staatsgewalt in verschiedenen Lebensbereichen implementiert werden – eine Regierungspraxis, für die Michel Foucault den Begriff der Biopolitik geprägt hat 60 – und zu einer allgemeinen Glückseligkeit als Voraussetzung für das Prosperieren des Staates führen. Welche Konsequenzen hatte diese Richtungsentscheidung?

2 . 2   B evöl ke r u ng s p ol it i k a l s ne u e Au fg a b e d e r St a at sge wa lt Grigorij Orlov, den ­Katharina II . 1771 nach Moskau entsandt hatte, um dort die Bekämpfung der Pest zu organisieren, brachte das Neuartige an der Medizinal­ politik der Aufklärung auf den Punkt: „Gottes Wege sind unergründ­lich, doch die Vernunft [blagorazumie], die uns vorsichtig zu sein lehrt, ist des Schöpfers erste Gabe an die Menschheit, und die Vernunft zu gebrauchen, ist die heiligste und gottgenehmste Erfüllung von Gottes Willen.“ 61 Die Aufklärer erhoben die Gesundheit zu einem neuen Wert und übertrugen nicht nur dem Herrscher die Verantwortung für das Wohl seiner Untertanen, sondern forderten auch von jedem Individuum

57 Lomonosov, O sochranenii, S. 389. 58 Ebd., S. 391 – 396. 59 Siehe dazu einen kurzen Abriss bei Daniel, Teplov, S. 24 f. Die Medizinal­politik ­Katharinas II. wird skizziert bei Scharf, Innere Politik, S. 762 – 769. 60 Foucault, Geschichte der Gouvernementalität Bd. 2, S. 435. 61 Bekanntmachung des Grafen Grigorij Orlov vom 30. September 1771, in: PSZ I Bd. 19, Nr. 13.665, S. 319 – 321, hier S. 319.

Bevölkerungspolitik als neue Aufgabe der Staatsgewalt

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einen sorgsamen und bewussten Umgang mit ihr. Gesundheit wurde in dieser neuen Sichtweise sowohl für Individuen als auch für ganze Gesellschaften steuerbar.62 Staat­liche Regulierung der medizinischen Versorgung und des Krankheitsverhaltens der Bevölkerung implizierte eine neuartige Tätigkeit in unterschied­lichen, dem Zugriff des Staates bislang verschlossenen Bereichen. Um in diese hineinwirken zu können, bedurfte es auch neuer Herrschaftsinstrumente. Die neuen Sphären staat­licher Regulierungstätigkeit sollen im Folgenden vorgestellt werden.

Topographie und Statistik Eine zentrale Voraussetzung für die neue Bevölkerungspolitik bildete die Erkundung des Landes. Zu den wichtigsten Mitteln gehörten wissenschaft­liche Expeditionen, deren Ergebnisse der zeitgenös­sischen Öffent­lichkeit in mehr oder weniger umfangreichen Publikationen zugäng­lich gemacht wurden, und Fragenkataloge, mit denen die Akademie der Wissenschaften versuchte, Informationen über die einzelnen Landesteile des Riesenreiches zu sammeln.63 In den 1780er Jahren erschienen zwei Beschreibungen des Gouvernements ­Voronež: 1781 Istoričeskoe i geografičeskoe opisanie zemli Voronežskogo namestničestva (Historische und geographische Beschreibung des Landes der Statthalterschaft Voronež) und 1785 Topografičeskoe opisanie Voronežskomu namestničestvu (Topographische Beschreibung der Statthalterschaft Voronež).64 Ebenfalls zu Beginn der 1780er Jahre kam auch Ėkonomičeskoe opisanie Tambovskogo namestničestva (Ökonomische Beschreibung der Statthalterschaft Tambov) heraus. Die Stadt ­Jaroslavl’ und das dazugehörige Gebiet wurden in einem ähn­lichen Format dargestellt. Aus dem neunzehnten Jahrhundert sind außerdem detaillierte Beschreibungen einzelner Städte und des ganzen Rus­sischen Reiches überliefert.65 Diese Quellenart soll hier anhand der bereits genannten Beschreibungen der Statthalterschaft ­Voronež aus den Jahren 1781 und 1785 näher vorgestellt werden. Die beiden Fragenkataloge enthielten sowohl historische Daten und geographische Gegebenheiten des Gebiets als auch Angaben zu dessen Bevölkerung und deren Lebensweisen, zu denen etwa die Tätigkeit im Handel und in der Landwirtschaft, aber auch der Gebrauch von Heilkräutern gehörte. Der Katalog von 1781

62 So auch Risse, Mending Bodies, S. 237. 63 Zu den bekanntesten gehören die Aufzeichnungen von Lepechin, Dnevnye zapiski. Dieser Bericht ist bereits im 18. Jahrhundert ins Deutsche übertragen worden: Lepechin, Tagebuch. Siehe dazu Mumenthaler, Reich; Fradkin, Akademik. 64 Anan’eva, Topografičeskoe opisanie; Ševčenko, Istoričeskoe i geografičeskoe opisanie. 65 Zum Beispiel Gomilevskij, Opisanie; Zjablovskij, Zemleopisanie.

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ging dabei ausführ­licher auf medizinisch-topographische Aspekte ein. Er fragte nach Heilquellen, saisonal bedingten Krankheiten und Viehseuchen sowie nach Mitteln, die dagegen angewandt wurden.66 Der spätere Fragebogen beschränkte sich auf den Gebrauch von Pflanzen zu Heilzwecken.67 Wie groß der tatsäch­liche Ertrag solcher Kataloge für den medizinischen Bereich war, lässt sich schwer einschätzen. Während der historische und geographische Teil der Beschreibungen verhältnismäßig ausführ­lich war, wurden medizinische Fragen oft nur mit einem Satz beantwortet. Im Jahr 1781 hieß es aus den meisten Kreisen der Statthalterschaft Voronež, dass keine besonderen Krankheiten des Menschen bekannt seien.68 Zu den ausführ­lichsten Antworten gehört der Nachtrag zur Auskunft aus Ostrogožsk: „Bis heute sind keine besonderen und seltenen Krankheiten bei Menschen bemerkt worden, doch treten gewöhn­liche Krankheiten auf: etwa Kopfkrankheit mit spürbarer Kraftlosigkeit, Lähmung, Schwächung der Sinne, Augen- und Zahnkrankheiten, Enge in der Brust und Atemnot, Husten, Seitenstechen, Durchfall und Bauchgrimmen, Hämorrhoiden, Pocken, Masern, Krätze, Schwindsucht, fljus [Periostitis, D. S.] und Nierenkrankheit, an denen allerdings nicht besonders viele leiden; Einwohner – vor allem jene, die in weiter Entfernung leben – behandeln sich bei einfachen Krankheiten selbst mit Heilkräutern […], bei schweren Krankheiten nehmen sie – gelegent­lich mit erwünschtem Erfolg – Medikamente ein, die von Ärzten und Unterärzten empfohlen werden, wofür es seit der Gründung der Statthalterschaft Voronež (außer dem Regimentsarzt und Unterärzten des Husarenregiments von Ostrogožsk) einen Vertragsarzt mit einem Gehalt von der Krone, einen recht geschickten Stabsarzt im Amt eines Wundarztes gibt.“ 69

In den meisten Kreisen gebe es außer den „gewöhn­lichen Fieberkrankheiten“ nichts Besonderes, diese seien vor allem im Frühjahr und Herbst verbreitet.70 Auch in der Beschreibung des Gouvernements Voronež aus dem Jahr 1785 fiel die Antwort für die meisten Kreise knapp aus: „Dass Einwohner irgendwelche Kräuter

66 Die Antworten aus den einzelnen Kreisen aus dem Jahr 1781 sind abgedruckt in: Vejnberg (Hg.), Materialy, Heft 15, Dok.-Nr. 727, S. 1640 – 1652; Dok.-Nr. 729, S. 1672 – 1682; Dok.-Nr. 730, S. 1683 – 1699; Dok.-Nr. 736, S. 1713 – 1722; Dok.-Nr. 754, S. 1782 – 1793; Heft 16, Dok.-Nr. 774, S. 1820 – 1828; Dok.-Nr. 776, S. 1840 – 1853; Dok.-Nr. 777, S. 1855 – 1877; Dok.-Nr. 779, S. 1896 – 1908; Dok.-Nr. 780, S. 1909 – 1918; Dok.-Nr. 781, S. 1918 – 1928; Dok.-Nr. 782, S. 1929 – 1834; Dok.-Nr. 783, S. 1935 – 1968; Dok.-Nr. 784, S. 1969 – 1981; Dok.-Nr. 798, S. 2007 – 2016; Dok.-Nr. 799, S. 2016 – 2029. 67 Zagorovskij (Hg.), Opisanie. 68 Vejnberg (Hg.), Materialy, Heft 16, S. 1826 (Kreis Zemljansk), S. 1850 (Kreis Kalitva) und S. 2014 (Kreis Belovodsk). 69 Ebd., S. 1962. 70 Ebd., S. 1906, ähn­lich auch S. 1916 (Kreis Livensk) und S. 1979 (Kreis Pavlovsk).

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als Heilmittel benutzten, ist nicht bemerkt worden.“ 71 Aus dem Kreis Valujki war dagegen bekannt, dass die dortige Bevölkerung unter anderem Salbei, Minze, Ziest, Steinklee, Wegerich und Beifuß als Heilkräuter verwandte.72 Die dürftigen Auskünfte deuten darauf hin, dass die lokalen Obrigkeiten selbst nur wenig über die Lebensweise und Gewohnheiten in den von ihnen verwalteten Gegenden wussten. Vor allem das Gesundheits- und Krankheitsverhalten, dessen Kenntnis engere Kontakte zu verschiedenen Bevölkerungsgruppen über einen längeren Zeitraum hinweg erfordert hätte, war ihnen fremd. Mit diesen Fragen befassten sich Beamte und Angestellte der lokalen Verwaltung äußerst selten. Und die wenigsten von ihnen nahmen den Fragenkatalog der Akademie der Wissenschaften zum Anlass, die Bräuche in ihrem Gouvernement gründ­lich zu studieren. Das Vorhaben, Auskünfte über die einzelnen Teile des Reiches zu sammeln, war mitnichten eine rus­sische Erfindung. Das Kennenlernen der lokalen Ebene war eines der zentralen Projekte frühneuzeit­licher Monarchien. Auch sind topographische Beschreibungen, die in Russland seit dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert angefertigt wurden, nicht nur im Kontext eines geographisch weit ausgedehnten Landes zu sehen, in dem die Staatsmacht zum ersten Mal ein systematisches Interesse an entlegenen Regionen zeigte, um sie besser verwalten zu können. Da die Staatsgewalt neue Aufgabenbereiche für sich entdeckte, bedurfte sie ausführ­licher Informationen über Verhältnisse vor Ort, um eine geeignete Verwaltung aufzubauen. Systematische Befragungen dienten dazu, Wissen zu akquirieren.73 Diese Praxis war bereits im Italien des sechzehnten Jahrhunderts verbreitet gewesen, und auch im frühneuzeit­lichen Frankreich waren Statistiken erarbeitet worden, die neben wirtschaft­lichen Daten detaillierte demographische, historische und politische Informationen enthielten. Die Erstellung medizinischer Topographien, zu der in der Provinz tätige Medizinal­beamte verpf­lichtet waren, bedeutete einen Übergang zur systematischen Erfassung von Informationen über das Land, die allmäh­lich an die Stelle der Berichte über Kuriositäten trat.74 Für die Erschließung und Erforschung des Landes im achtzehnten Jahrhundert spielten auch wissenschaft­liche Expeditionen eine große Rolle, die von der Akademie der Wissenschaften organisiert wurden. In die Vorbereitung der Expeditionen der Jahre 1768 bis 1774 bezog die Akademie auch andere Institutionen mit ein: die

71 Zagorovskij (Hg.), Opisanie, S. 85 (Kreis Zadonsk), S. 89 (Kreis Bobrov), S. 97 (Kreis Nižnedevick) und S. 142 (Kreis Korotojak). 72 Ebd., S. 115. 73 Freist, Absolutismus, S. 35 f. 74 Auch in Frankreich wurden im späten 18. Jahrhundert im staat­lichen Auftrag medizinische Topographien angefertigt. Foucault, Klinik, S. 48. Siehe dazu auch Rosen, Merkantilismus, S. 64, 66 f., 69; Barthel, Medizinische Polizey, S. 19.

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Freie Ökonomische Gesellschaft, das Berg-Kollegium und das Medizinal­kollegium.75 Zu den Bereichen, deren Erforschung als vordring­lich galt, zählte auch die Frage nach dem Krankheitsverhalten der lokalen Bevölkerung: „Untersuchungen und Beobachtungen der reisenden Naturkundler müssen im Allgemeinen folgende Gegenstände betreffen, und zwar: […] die Beschreibung besonderer Krankheiten, die in dieser Gegend für gewöhn­lich auftreten, ebenfalls Viehseuchen; wenn Krankheiten und Viehseuchen irgendwo auftreten, vermerken, welche Mittel in der jeweiligen Gegend dagegen angewandt werden bzw. welche Mittel nach Meinung der Naturkundler erfolgreich angewandt werden könnten; und insgesamt vermerken, womit sich Bauern und andere heidnische Völker für gewöhn­lich gegen verschiedene Krankheiten behandeln; […] die Kenntnis verschiedener in der Medizin, Wirtschaft und im Handel gebräuch­licher Kräuter, vor allem solcher, die entweder die ausländischen übertreffen oder einen gänz­lich neuen Handelszweig begründen können.“ 76

Die Aufgabe der Expeditionen g­lich jener der Fragebögen, die an lokale Verwaltungen verschickt wurden. Somit gehörte zur Bevölkerungspolitik des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts nicht nur das Erforschen der topographischen Beschaffenheit verschiedener Regionen des Reiches, sondern auch ein Studium der lokalen Alltagskulturen. Zugleich bildete der medizinische Bereich einen Wirtschaftszweig, in dem vor allem der Handel mit Arzneimitteln sowohl innerhalb als auch außerhalb des eigenen Landes eine Rolle spielte. Der Wert, den die Erträge der Expedition von 1768 bis 1774 besaßen, lässt sich daran erkennen, dass sie bis heute als Quelle von Historikern herangezogen werden, deren Interesse dem Menschen und seiner – natür­lichen wie künst­lich geschaffenen – Umwelt des achtzehnten Jahrhunderts gilt.77 Dieses Sammeln von Informationen ging der Schaffung einer Infrastruktur voran, die die Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustands der Bevölkerung zum Ziel hatte.

75 Fradkin, Akademik, S. 43. 76 Instrukcija dlja otpravlennych ot imperatorskoj Akademii nauk v Rossiju fizičeskich ėkspedicij (Instruktion für die von der kaiser­lichen Akademie der Wissenschaften nach Russland gesandten physika­lischen Expeditionen), zitiert nach Fradkin, Akademik, S. 209 – 212, hier S. 210 f. 77 Wohl am meisten Beachtung hat der mehrbändige Expeditionsbericht von Ivan Lepëchin bekommen: Lepechin, Dnevnye zapiski.

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Kinderschutz Die Vorstellung, durch staat­liche Eingriffe das Bevölkerungswachstum positiv beeinflussen zu können, war in den 1760er Jahren auch in Russland nicht mehr neu.78 Das Ziel einer gesunden und produktiven Bevölkerung beschäftigte K ­ atharina II. bereits in den ersten Jahren ihrer Herrschaft, mög­licherweise auch schon vor ihrer Thronbesteigung. Es lohnt, einen Blick in die wohlbekannte Große Instruktion zu werfen, die ­Katharina der Kommission für die Verfassung eines neuen Gesetzbuchprojekts gegeben hat und die ein „Kompendium der Grundprinzipien [für eine] gute Regierung“ darstellt.79 Das zwölfte Kapitel der Instruktion trägt den Titel Von der Vermehrung des Volks im Reiche.80 Darin wird als Erstes festgehalten, dass Russlands Bevölkerung zahlenmäßig zu gering sei. Viele der von K ­ atharina vorgeschlagenen Maßnahmen zur Steigerung des Bevölkerungswachstums betrafen wirtschaft­liche Fragen, wobei vor allem Bauern als Objekt der staat­lichen Politik im Vordergrund standen. Die Kaiserin kritisierte die überhöhten Zinsabgaben und alle Aufträge, die Männer zu lange von ihren Hauswirtschaften und ihren Familien fernhielten. Dass Reichtum unter Bauern negativ konnotiert war, erschien ihr für die Wohlstandsmehrung hinder­lich.81 Ein wesent­licher Teil des Kapitels betraf schließ­lich den körper­lichen Aspekt im Leben der Bauern: „Die Bauern haben größtenteils zu 12, 15 biß 20 Kinder aus Einer Ehe; selten aber komt der vierte Teil davon zu einem vollkommnen Alter. Es muß also notwendig an einem Feler liegen, es sei in Ansehung der Narung, der Lebensart, oder der Erziehung, durch welchen diese Hoffnung des Reichs aufgerieben wird. In was für einen blühenden Zustand würde dieses Reich nicht versetzt werden, wenn man durch kluge Einrichtungen ein so verderb­liches Uebel abwenden, oder demselben zuvorkommen könnte!“ 82

Diese Passage der Instruktion, die Kinder als „Hoffnung des Reichs“ in den Mittelpunkt der Bevölkerungspolitik rückt, liest sich wie eine programmatische Erklärung für die folgenden Jahrzehnte. Nicht nur wird hier die hohe Kindersterb­lichkeit als 78 Alexander, Catherine the Great, S. 186 f. 79 Madariaga, Russia, S. 151, 582. So auch Omelchenko, Absolutism, S. 33. 80 PSZ I Bd. 18, Nr. 12.949, S. 239 – 244. Dt.: Imperatrica Ekaterina Vtoraja, Nakaz, S. 312. Heinz Duchhardt bezeichnete die Instruktion als „das mit Abstand eindrucksvollste und vielleicht sogar geschlossenste theoretische Konzept für die Umsetzung von ‚Aufklärung‘ in Staat und Gesellschaft“. Duchhardt, Zeitalter, S. 137. Zum Dokument – mit einem deut­lichen Schwerpunkt auf Rechtsfragen – siehe auch Madariaga, Russia, S. 151 – 163. 81 PSZ I Bd. 18, Nr. 12.949, S. 239 ff. Dt.: Imperatrica Ekaterina Vtoraja, Nakaz, S. 313 f. 82 PSZ I Bd. 18, Nr. 12.949, S. 239. Hier zitiert nach Katharinä der Zweiten Instruction, S. 76 f.

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ein gravierendes Übel bezeichnet. In diesem Dokument werden auch Punkte aufgezeigt, an denen die Gegenmaßnahmen ansetzen sollen: Nahrung, Lebenswandel und Erziehung. Ebenfalls programmatisch erscheint der Ausdruck „kluge Einrichtungen“: Die Medizinal­gesetzgebung des achtzehnten Jahrhunderts war nicht nur in Russland Ausdruck eines optimistischen Glaubens der Aufklärer, dass sich mit der richtigen Anwendung des Wissens selbst die Zerbrech­lichkeit der mensch­lichen Existenz beheben lasse. Im Zentrum dieser Überlegungen stand die Vorstellung, dass jedes gesunde und tüchtige Individuum der Allgemeinheit nütz­lich sei und die Aufgabe der Staatsgewalt darin bestehe, den individuellen Kräften und Fähigkeiten zur Entfaltung zu verhelfen.83 Dementsprechend bildete die Bemühung um Verringerung der Kindersterb­lichkeit einen wesent­lichen Bestandteil der katharinäischen Bevölkerungspolitik, die auch in diesem Punkt der Entwicklung im west­lichen Europa entsprach.84 Die Maßnahmen im Bereich des Kinderschutzes lassen sich in zwei Gruppen unterteilen: Zum einen sollten unehe­lich geborene Kinder und Waisen bessere Überlebenschancen bekommen, indem man Waisenheime mit medizinischer Versorgung einrichtete. Zum anderen sollte das Leben der Kinder nach den Erkenntnissen der Diätetik – der Lehre vom gesunden Leben – ausgerichtet werden. Dazu gehörten in erster Linie die Betreuung der Schwangeren und Wöchnerinnen,85 aber auch Ernährungsrichtlinien, Ratschläge zur Kleidung, zu phy­sischer Aktivität und zur Erziehung. Zu den aufsehenerregendsten Ereignissen im Bereich des Kinderschutzes gehörte die bereits erwähnte Errichtung des Waisenhauses von Ivan Beckoj in Moskau im Jahre 1763 – eines der prominentesten Wohltätigkeitsprojekte zu Zeiten ­Katharinas, worauf noch in einem anderen Zusammenhang zurückzukommen sein wird. Mit seinem Bittgesuch an die Kaiserin reihte sich Beckoj in den staat­lichen bevölkerungspolitischen Diskurs ein. Er appellierte unter anderem an die Gottesfurcht ­Katharinas und sprach auch von dem Schaden, der dem Staat durch den Tod zahlreicher Kinder entstehe. Denn bei entsprechender Erziehung und aufgrund ihrer Fähigkeiten könnten sie sich zu nütz­lichen Mitgliedern der Gesellschaft entwickeln.86 Das Statut für das Waisenhaus demonstriert die zeitgenös­sischen Regeln der Kinderpflege auf eine besonders anschau­liche Art und Weise und soll deswegen hier vorgestellt werden.

83 Raeff, Police State, S. 120. Siehe auch PSZ I Bd. 16, Nr. 11.908, S. 346, 349 und 356 f. 84 Foucault, Politique, S. 15 ff. 85 Wie so viele Projekte der katharinäischen Regierungszeit war auch die Förderung der staat­lichen Hebammenausbildung bereits in den 1750er Jahren in Angriff genommen worden. Siehe dazu Stahnke, Hebammen-Ausbildung, S. 40 – 91. 86 PSZ I Bd. 16, Nr. 11.908, S. 346. Zur Diskussion über die Kindersterb­lichkeit im Zarenreich siehe Renner, Autokratie, S. 276 f.

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Die richtige Kindererziehung beginne mit der Ernährung. Bei der Planung eines Waisenhauses wandte sich Beckoj gegen die weitverbreitete Meinung, dass man Säuglinge mit Kuh- oder mit Ziegenmilch füttern könne. Beckoj berief sich auf Beobachtungen aus Frankreich und England, die nachwiesen, dass die Sterb­ lichkeit unter den Kindern, die Kuhmilch bekamen, höher sei als unter denjenigen, die nur Muttermilch tranken.87 Er bezog damit Stellung zu einer breiten aktuellen Diskussion über das Stillen, die nicht nur medizinische Aspekte berührte, sondern auch zahlreiche kulturelle Implikationen hatte.88 Für das Stillen der Kinder durch ihre leib­liche Mutter trat in Russland auch der Präsident des Medizinal­kollegiums im Plenum der Gesetzgebenden Kommission im Jahre 1767 ein. Als Beleg für die zahlreichen Vorteile der Muttermilch verwies Baron Georgij Aš darauf, dass Bäuerinnen einen deut­lich gesünderen Nachwuchs hätten als Adlige, die ihre Kinder Ammen anvertrauten.89 Wenn man sein Kind dennoch einer Amme anvertrauen wolle, solle man sie mit größter Sorgfalt aussuchen. Der Leitfaden für die Kindererziehung, den der Senat aus unterschied­lichen Schriften zusammenstellen und 1766 an zahlreiche Behörden verschicken ließ, enthielt folgende Kriterien für die Auswahl einer Amme: „Nach Mög­lichkeit soll man gesunde und wohlgesittete Ammen aussuchen, die fröh­lich sind, ohne sich zu verstellen, rotes Zahnfleisch und weiße Zähne haben, gesund, ordent­lich und geschickt sind. Rothaarige sind aber ausgeschlossen.“ 90 Kinder ab drei Jahren sollten – so die Regeln des Moskauer Waisenhauses – sowohl pflanz­liche als auch tierische Nahrung bekommen, wobei vor allem auf die Qualität der Lebensmittel zu achten sei. Auffällig ist hier der Hinweis, dass die Wünsche der Kinder ernst genommen werden sollten.91 Die Ernährung diente in dieser Schrift jedoch nicht nur der bloßen Stärkung des Körpers: „Manchmal, vor allem an Festtagen soll man erlauben, Süßes, Milchspeisen und andere ähn­liche Lebensmittel zu verzehren, damit sie [die Kinder, D. S.] sich an das Vergnügen

87 PSZ I Bd. 16, Nr. 11.908, S. 347 ff. 88 Zum Diskurs über das Stillen in Frankreich und in Deutschland im 18. Jahrhundert und zur Praxis der Kinderernährung siehe Fues, Amme. 89 Stellungnahme des Deputierten des Medizinal­kollegiums Baron Georgij Aš als Antwort auf die Vorlage des Deputierten Lev Naryškin zur Volksgesundheit. 74. Sitzung der Kommission am 11. Dezember 1767, in: SIRIO Bd. 8, S. 352 – 360, hier S. 353 f. Siehe auch Bočkarev, Vračebnoe delo, S. 471 f. 90 Kurze Anleitung, zusammengestellt aus Werken der besten Autoren, mit einigen phy­sischen Anmerkungen zur Erziehung der Kinder von der Geburt bis zur Adoleszenz vom 16. November 1766, in: PSZ I Bd. 17, Nr. 12.785, S. 1050 – 1062, hier S. 1050. 91 Generalplan des Moskauer Waisenhauses vom 11. August 1767, in: PSZ I Bd. 18, Nr. 12.957, S. 290 – 326, hier S. 302 f.

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erinnern, das wir an Feiertagen empfinden, die vom Gesetz und nach den Regeln des bürger­lichen [graždanskoj] Lebens geschaffen sind.“ 92

Mithilfe einer Reglementierung der Ernährung sollten Kinder zudem allmäh­lich an die Bräuche der Gesellschaft gewöhnt werden, der sie später als nütz­liche Individuen dienen sollten. Das gesamte Erziehungskonzept zielte darauf ab, „freund­liche Menschen zu schaffen, die dem Gesetz folgen sowie Gott und ihre Vorgesetzten fürchten und ehren“.93 Auch der Kleidung der Kinder widmete der Autor viel Raum in seinen Ausführungen. Für Kinder unter sechs Jahren plädierte er für eine einfache Kleidung, wobei die Kleinen nur an Festtagen Schuhe tragen sollten. Vom sechsten bis zum zwölften Lebensjahr sollte die Kleidung jener der Tscherkessen ähneln. Auf welche Details der Tracht der Tscherkessen der Autor besonderen Wert legte, präzisierte er nicht. Vermut­lich sollten Jungen Stiefel, lange Hosen, ein Hemd und einen halboffenen weiten Mantel ohne Knöpfe tragen. Als oberstes Prinzip waren feste Schnürung und enge Schuhe zu meiden, denn sie „verhindern den freien Blutfluss und führen folg­lich zu einer Schwäche der Körperteile“. Die wichtigste Voraussetzung für gute Gesundheit sei allerdings die Sauberkeit. Deswegen müssten Kinder saubere Kleidung tragen und sich täg­lich Hände und Füße waschen.94 Eine genaue Wiedergabe aller Regeln würde viele Seiten füllen. Schlaf, frische Luft, Bewegung: All das fand im Statut des Waisenhauses Erwähnung. Die Existenz dieser Regeln bedeutet mitnichten, dass sie tatsäch­lich angewendet wurden. Doch für die Fragegestellung dieses Kapitels sind ledig­lich die Ideen von Bedeutung, die darin zum Ausdruck kommen. Das Besondere an diesen Vorschriften waren der große Wert, der dem Leben jedes Menschen im aufgeklärten Diskurs beigemessen wurde, und die Überzeugung, mit der richtigen, wissenschaft­lich fundierten Anleitung die hohe Kindersterb­lichkeit bekämpfen zu können. Die Propaganda eines als gesund definierten Lebenswandels durch staat­liche Strukturen und der Kaiserin nahestehende Personen bedeutete nicht, dass ähn­liche Vorstellungen nicht auch jenseits der Beamten- und der Aufklärerkreise existierten. Im Diskurs über das Gesundheitsverhalten der länd­lichen Eliten lassen sich durchaus Überschneidungen mit den Inhalten der staat­lichen Aufklärungspolitik feststellen. Anna Labzina, die Tochter einer kleinadligen Familie, berichtet, wie sie als Kind in den 1760er Jahren abgehärtet worden sei. Ihre Mutter habe sie ausschließ­lich grobe Nahrung zu sich nehmen lassen, das Mädchen habe keinen Pelzmantel und

92 Ebd., S. 302. 93 Ebd., S. 304. 94 Ebd., S. 303, Zitat ebd.

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keine warmen Schuhe besessen und sich viel draußen aufhalten müssen. Sie sei selbst bei bitterster Kälte spazieren geschickt worden. Im Sommer habe man sie bei Sonnenaufgang geweckt und im Fluss baden lassen. Zum Frühstück habe es Schwarzbrot und Milch gegeben, Tee hätten sie nicht gekannt.95 In der retrospektiven Darstellung der eigenen Erziehung spielt zweifellos das Ethos der christ­lich motivierten Bescheidenheit eine wesent­liche Rolle. Inwieweit die Erinnerungen die tatsäch­lichen Erziehungsmethoden widerspiegeln, lässt sich hingegen nicht nachprüfen. Doch sie zeigen, dass zumindest die erwachsene Labzina ein bestimmtes Ideal des gesundheitsfördernden Verhaltens verinner­licht hatte. Auch Grigorij Vinskij, ebenfalls aus dem Kleinadel, schrieb in seinen Memoiren über die eigene Kindheit in den 1750er Jahren folgende Zeilen: „[M]it der Muttermilch genährt worden zu sein heißt mit dem Leben einen festen Körperbau, sauberes Blut und gesunde Säfte bekommen zu haben, die zusammengenommen dem Menschen einen robusten Körper und eine mutige Seele geben – Vorteile, die allein den Menschen wahrhaft edel und glück­lich machen. [D]och Grafen-, Fürsten- und alle anderen distinguierten Häuser beachten dies nicht, und deswegen gibt es in ihren Familien so viele Spiele der Natur!“ 96

Diese Interpretation der eigenen Kindheit ist ohne die Lebenserfahrung des über Sechzigjährigen undenkbar. Außerdem stammen beide Berichte aus dem adligen Milieu und können keineswegs als repräsentativ für das allgemein akzeptierte Gesundheitsideal gelten. Dennoch lässt sich anhand dieser Quellen erkennen, dass die Vorstellungen von einem gesunden und nachahmenswerten Lebenswandel, die im aufgeklärten Gesundheitsdiskurs dominierten, nicht ausschließ­lich von einer schmalen aufgeklärten Elite in der hohen Bürokratie geteilt wurden. Inwieweit sie als kulturelle Praxis verbreitet waren, lässt sich auf der Grundlage der vorliegenden Texte allerdings nicht beurteilen. Die Kindersterb­lichkeit nahm einen prominenten Platz im bevölkerungspolitischen Diskurs der katharinäischen Zeit ein. Doch Maßnahmen, die staat­licherseits unternommen wurden, betrafen nur Kinder, die Institutionen angehörten. Zwar sollte idealerweise die gesamte Bevölkerung aufgeklärt und dazu gebracht werden, ihren Nachwuchs entsprechend den Regeln einer gesunden Lebensführung großzuziehen. Doch konkrete Schritte wurden zumeist dort unternommen, wo nicht die Eltern das Sagen hatten, sondern das Leben der Kinder staat­lich festgelegten Normen unterworfen war: in Waisenhäusern und Lehranstalten.

95 Labzina, Vospominanija, S. 5 f. Zu dieser Quelle siehe Schmähling, Tugendpfad. 96 Vinskij, Moe vremja, S. 3 f.

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Der in den 1760er Jahren ausgegangene Impuls zeigte eine langanhaltende Wirkung. Die Sorge um die Gesundheit heranwachsender Untertanen war zum festen Bestandteil der zarischen Medizinal­politik geworden. Auch im neunzehnten Jahrhundert sah es die Staatsgewalt als ihre Pf­licht an, Vorkehrungen zum Schutz der Kinder und ihrer Gesundheit zu treffen. So enthielt zum Beispiel das Gründungsstatut des Richelieu-Lyzeums in Odessa aus dem Jahr 1817 Bestimmungen zum gesunden Lebenswandel der Schüler. Für das Lyzeum waren ein Doktor und ein Wundarzt (lekar’) vorgesehen, die die Einrichtung täg­lich zu besuchen hatten.97 Regelungen zum Kinderschutz wurden stets ausgeweitet, wobei alltäg­liche Erfahrungen die Bürokratie neue Bereiche entdecken ließen, die einer Normierung unterworfen werden konnten. Der Kinderschutz war eine der ersten Aufgaben, denen sich die staat­liche Gesundheitspolitik im Zivilbereich widmete. Waisenhäuser und Erziehungseinrichtungen wurden schon in den 1760er Jahren zur Projektionsfläche für zeitgenös­sische Vorstellungen von einem – körper­lich wie see­lisch – gesunden Leben. Von dem zentralen Projekt des Kinderschutzes, der Pockenimpfung, wird an einer anderen Stelle zu sprechen sein.98

Diätetik und Hygiene Die Maßnahmen, die von der Regierung des Rus­sischen Reiches seit der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts beschlossen wurden, um den Gesundheitszustand der Bevölkerung zu verbessern, lassen sich in zwei Bereiche unterteilen: Im ersten Bereich übernahm die Staatsgewalt die führende Rolle, indem sie sich die Wahrung der öffent­lichen Hygiene zur Aufgabe machte. Im zweiten Bereich fungierte sie zwar ebenfalls als Initiatorin, die Umsetzung der Ideen lag jedoch bei der Bevölkerung selbst. Hierbei ging es um eine Erziehung der Untertanen zu einem Lebensstil, der sich nach den Grundsätzen der Diätetik richtete. Diese Verhaltensregeln für ein gesundes Leben sollten nicht nur – wie im Falle der institutionalisierten Kindererziehung – in staat­lichen Einrichtungen befolgt werden, sondern sich zu Leitlinien für das allgemeine Gesundheitsverhalten entwickeln. Wie in anderen Bereichen der staat­lichen Medizinal­politik beschritt Russland in der europäischen Gesamtschau auch hier kein Neuland. Um eine gesunde, aktive und produktive Bevölkerung zu schaffen, forderten die Gesetzgeber etwa in den

97 Kaiser­lich bestätigtes Gründungsstatut des Richelieu-Lyzeums vom 2. Mai 1817, in: PSZ I Bd. 34, Nr. 26.827, S. 239 – 256, hier S. 253. 98 Siehe dazu Kapitel 5.4.

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deutschen Staaten des achtzehnten Jahrhunderts ebenfalls die Verbreitung eines einheit­lichen Lebensstils.99 Die klas­sischen Reglements der Diätetik – von Galen an der Wende vom zweiten zum dritten Jahrhundert als sex res non naturales bezeichnet – umfassten folgende, mit dem mensch­lichen Leben verbundene Bereiche: Licht und Luft, Essen und Trinken, Bewegung und Ruhe, Schlafen und Wachen, Ausscheidungen und Absonderungen sowie Gemütsbewegungen.100 Auf diesem Konzept, das als Voraussetzung für gute Gesundheit ein Gleichgewicht in jedem der Bereiche fordert, fußten zahlreiche Verhaltensregeln. Im Zentrum stand dabei die Mäßigung – im achtzehnten Jahrhundert ein wesent­licher Bestandteil des christ­lichen Lebenswandels, der sich durch Tugendhaftigkeit auszeichnen sollte. Eine als gesund empfundene Lebensführung war sowohl durch die maßvolle Aufnahme von Nahrung und Getränken als auch durch die Beherrschung von Emotionen charakterisiert, die eine eindeutig mora­lische Komponente enthielt. Befolgte der Mensch diese Richtlinien, schuf er nach den zeitgenös­sischen Vorstellungen die besten Bedingungen für ein langes und gesundes Leben.101 Doch auch äußere, körperungebundene Faktoren spielten im Zusammenhang mit dem Gesundheitszustand der Bevölkerung eine wichtige Rolle. Der Begriff „Hygiene“ wurde zwar im achtzehnten Jahrhundert in die rus­sische Sprache aufgenommen, dort allerdings vor allem für die Bezeichnung der medizinischen Disziplin verwendet. In den zeitgenös­sischen Verwaltungsakten findet er sich noch nicht.102 Ohne dass explizit von Hygiene die Rede war, wurde jedoch zum Beispiel der Sauberkeit große Bedeutung beigemessen, so etwa in dem bereits besprochenen Statut für das Moskauer Waisenhaus, und hier vor allem in Bezug auf private Haushalte. Ivan Beckoj verg­lich die Verhältnisse in Holland und Italien, wobei er feststellte, dass die vorbild­liche Sauberkeit in Holland auch der Gesundheit zugutekomme.103 Als weiteres Beispiel dafür, dass der Zusammenhang zwischen äußeren Einflüssen auf den mensch­lichen Körper und seiner Gesundheit lange Zeit vor den großen Hygienediskussionen des neunzehnten Jahrhunderts leitend für das Verhalten der Mediziner war, seien hier zwei Begebenheiten dargestellt: eine aus der Statthalterschaft Ufa und eine aus Jaroslavl’. Nach mehreren Berichten über eine ansteckende 99 Raeff, Police State, S. 84. 100 Jütte, Ärzte, S. 57, 59, 62 – 65. Zu den zeitgenös­sischen medizinischen Konzepten siehe Sarasin, Maschinen, S. 32 – 94. 101 Zu den im 18. Jahrhundert verbreiteten Konzepten siehe Renner, Autokratie, S. 302 – 312. An den Vorschriften zur gesunden Lebensführung aus der Zeit der Aufklärung lässt sich der Charakter der Gesundheit als normatives Konstrukt besonders deut­lich zeigen. Siehe dazu Labisch, Homo hygienicus, S. 14 – 17 und Canguilhem, Das Normale, S. 134, 155. 102 Zum Hygienediskurs und -begriff siehe Renner, Autokratie, S. 266 – 292. 103 PSZ I Bd. 16, Nr. 11.908, S. 349.

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und häufig töd­lich endende Krankheit im Kreis Čeljabinsk schrieb der Senat dem Medizinal­kollegium, der zentralen Medizinal­behörde des Landes, im Spätherbst 1785 vor, Ärzte nach Sibirien zu schicken. Diese sollten die Krankheit untersuchen und Mittel zu ihrer Bekämpfung finden. Zu den Beobachtungen, die die entsandten Mediziner machten, gehörten auch topographische Besonderheiten der Gegend. In ihrem Abschlussbericht wiesen sie auf zahlreiche Sümpfe hin. Die damit zusammenhängende schlechte Luftqualität verursache bestimmte Krankheiten. Ein weiterer Grund für die Entstehung und Verbreitung von Krankheiten sei die Lebensweise der dortigen Bevölkerung: In kleinen Häusern seien große Familien zusammen mit Haustieren untergebracht, so dass die Luft „schwer“ werde. Innerhalb und außerhalb der Siedlungen würden feuchte Stellen und Niederungen gedüngt. An Fluss- und Seeufern sammelten sich ebenfalls Dung und Abfälle, und die austretende Flüssigkeit gelange in Gewässer, aus denen Trinkwasser für Menschen und für das Vieh entnommen werde. Das verseuchte Trinkwasser verunreinige das Blut und verursache dadurch Krankheiten. In entlegenen Gegenden würden Tierkadaver wahllos verscharrt, häufig auch unweit von Gewässern und Sümpfen, so dass „fliegende faule und ansteckende Teilchen“ frei entweichen und in der Nähe weidende Tiere befallen könnten. Manche ließen ihr totes Vieh einfach liegen, was ebenfalls zur Ausbreitung von Krankheiten führe.104 Ähn­liches wurde in Jaroslavl’ beobachtet. Ende des achtzehnten Jahrhunderts stellte die lokale Medizinal­behörde des Gouvernements fest, dass in denjenigen Häusern, in denen viele Bedienstete auf engem Raum wohnten und die Zimmer warm waren, eine Krankheit ausgebrochen war.105 Staat­liche Verwaltungsorgane wurden verstärkt seit dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert in die Pf­licht genommen, Gesundheitsrisiken zu minimieren. So waren lokale Verwaltungen seit 1797 verpf­lichtet, Dörfer mit „Wasser von guter Qualität“ zu versorgen.106 Zivile Medizinal­beamte hatten darauf zu achten, dass Menschen unverdorbene Nahrungsmittel bekamen. Ergebnisse der Lebensmittelkontrollen ergaben, dass es sich dabei um eine sinnvolle Einrichtung handelte.107 Zur „guten Policey“ – in den zeitgenös­sischen Schriften auch unter dem Begriff blagočinie anzutreffen – gehörte auch die Sorge um die Sauberkeit der Straßen, Flüsse, Brunnen und anderer Wasserquellen sowie um die Qualität der Lebensmittel und der Getränkevorräte.108

104 Senatserlass vom 18. Juli 1795, in: PSZ I Bd. 23, Nr. 17.360, S. 732 – 758, hier S. 732 f., Zitate S. 733. 105 Sitzungsprotokoll der Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 29. November 1799. GAJaO f. 86, op. 1, d. 10, l. 170 – 171, hier l. 170ob. 106 Chanykov, Očerk, S. 75. 107 Siehe etwa das Sitzungsprotokoll der Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 17. Januar 1800. GAJaO f. 86, op. 1, d. 10, l. 191ob. 108 PSZ I Bd. 18, Nr. 13.075, S. 476. Dt.: Imperatrica Ekaterina Vtoraja, Nakaz, S. 351.

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Zur Normierung dieses Bereichs gehörten auch Sanktionen gegen Zuwiderhandlungen. So wurde zum Beispiel im Jahre 1808 ein Gutsbesitzer angeklagt, weil er Schweine mit Aas gefüttert hatte. Der Medizinal­rat hatte diese Praxis für schäd­ lich befunden. Dem Gutsbesitzer wurde eine Strafe in Höhe von fünfhundert Rubel auferlegt. Ferner sollte die Stellungnahme des Medizinal­rats veröffent­licht und allenthalben das Verbot ausgesprochen werden, Tiere, die zum Verzehr bestimmt waren, mit Aas zu füttern.109 Auf diese Weise entstanden aus lokal begrenzten Präzedenzfällen reichsweit gültige Normen. Der Vorstoß der Staatsgewalt in der Lebensmittelkontrolle und Regulierung der öffent­lichen Hygiene stand nicht zwangsläufig im Gegensatz zu den Interessen der lokalen Bevölkerung. Bereits in ihren Instruktionen für die Gesetzgebende Kommission im Jahr 1767 äußerten Deputierte aus Moskau und St. Petersburg den Wunsch, unter anderem Gewässer zu schützen, weil diese durch die zunehmende Verbreitung der Industrie verschmutzt würden.110 Obwohl auch in der Bevölkerung vereinzelt Stimmen für bessere hygienische Bedingungen laut wurden, kritisierten Medizinal­beamte das mangelnde Bewusstsein der Bevölkerung für schäd­liche Einflüsse auf den mensch­lichen Körper. Das wollte die erzieherische staat­liche Medizinal­policey ändern. Mit Hilfe von Medizinal­ beamten begann die Staatsgewalt im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert in Häuser hineinzusehen und auch private Räume als eine Sphäre zu begreifen, die medikalisiert werden sollte. Medikalisierung bedeutete also nicht nur die Einbindung der Bevölkerung in ein staat­liches System medizinischer Versorgung. Der andere und nicht minder wichtige Bestandteil dieser Politik war die Umerziehung der Untertanen zu einem neuen Gesundheitsverhalten und damit eine Art Sozialdisziplinierung.

Medizinische Aufklärung Neben allgemeinen Richtlinien für das individuelle Gesundheitsverhalten lässt sich auf Seiten der Staatsgewalt sowohl in der zweiten Hälfte des achtzehnten als auch im neunzehnten Jahrhundert das Bestreben beobachten, ein bestimmtes Minimum an medizinischem Wissen mög­lichst weit zu verbreiten. Im Mittelpunkt dieser Aufklärung stand die Rettung des Menschenlebens. Zu den wichtigsten Zielgruppen der staat­lich initiierten medizinischen Aufklärung gehörte die Landbevölkerung, vor allem Bauern. Da die Staatsgewalt jedoch keine Mög­lichkeiten hatte, sich direkt an diese Gruppe zu wenden – die zum größten Teil

109 Kaiser­licher Erlass vom 20. März 1808, in: PSZ I Bd. 30, Nr. 22.909, S. 145 – 146. 110 Kovrigina; Sysoeva; Šanskij, Medicina, S. 68.

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aus Analphabeten bestand –, versuchte sie, andere Autoritäten zwischenzuschalten und als Multiplikatoren des Wissens einzusetzen. Für diese Rolle kamen Gutsbesitzer und -verwalter, aber auch Provinzbehörden und die lokale Geist­lichkeit in Frage. Für sie wurden Aufklärungsschriften verfasst, die etwa elementare Brandschutzregeln oder Hinweise zur Rettung von Ertrinkenden enthielten.111 Solche Schriften waren auch in anderen europäischen Ländern verbreitet. Die Ideengeber, denen an einer mög­lichst breiten Streuung solcher Ratschläge gelegen war, teilten den Wunsch, der Bevölkerung die fatalistische Einstellung zu Gesundheit und Krankheit beziehungsweise zu Unfällen, die zum Tod führen konnten, zu nehmen.112 Der Mensch sollte seine – durch die Vernunft erworbenen – Fähigkeiten dazu nutzen, die gött­liche Gabe des Lebens und der Gesundheit zu wahren.113 Dabei bestand kein grundsätz­licher Widerspruch zu der Auffassung einer Erkrankung oder eines Unfalls als gött­liche Strafe. Wer es versäumte, auf die eigene Gesundheit zu achten, konnte genau dadurch den Zorn Gottes auf sich ziehen. Eine wichtige Aufgabe bei der Vermittlung des Wissens übernahm die 1765 gegründete Freie Ökonomische Gesellschaft. Zu ihren bemerkenswertesten Projekten im Bereich der medizinischen Aufklärung gehörte die Herausgabe eines dreibändigen Dorfspiegels, einer Adaption des Noth- und Hülfsbüchleins von Rudolf Zacharias Becker, der in den Jahren 1798 und 1799 erschien.114 Die Veröffent­lichung richtete sich an Grundbesitzer und Gutsverwalter. Sechs Kapitel des Buches sind medizinischen Themen gewidmet und behandeln verschiedene Aspekte des Gesundheitsverhaltens und der medizinischen Versorgung: etwa das Verhältnis zum eigenen Körper und zur Gesundheit, die Notwendigkeit, Dorfkrankenhäuser einzurichten und Behandlungsmög­lichkeiten auf dem Land zu schaffen, die Pockenschutzimpfung und Ähn­liches. Auch der Umgang mit Heilkräutern und die Krankenpflege werden in dem Handbuch thematisiert. Es soll hier exemplarisch für die Vorstellungen der Staatsgewalt und der Eliten von der Erziehung der unteren Gesellschaftsschichten zu einem als richtig empfundenen Gesundheitsverhalten vorgestellt werden. 111 Es wurden aber auch staat­liche Verordnungen verfasst, etwa die Kurze Anleitung für schnellste Hilfeleistungen bei Ertrunkenen [sic] vom Dezember 1811, in: PSZ I Bd. 31, Nr. 24.941, S. 944. 112 Für den deutschsprachigen Raum in der zweiten Hälfte des 18. und im 19. Jahrhundert bestätigt dies Böning, Volksaufklärung, S. 16. 113 Einen Überblick über Veröffent­lichungen des 18. Jahrhunderts zu medizinischen Themen, die sich nicht nur an Ärzte, sondern auch an Laien richteten, bietet Grombach, Literatura; zu Periodika: ebd., S. 122 – 165. 114 Derevenskoe zerkalo. Dt. Vorlage: Becker, Noth- und Hülfsbüchlein. Da die rus­sische Publikation selbst nicht verrät, dass es sich um eine Adaption eines anderen Werks handelt, wurde der Autor bisweilen für unbekannt erklärt, so zum Beispiel bei Decker, Volksaufklärung, S. 88 f. Vieles deutet jedoch darauf hin, dass die Schrift von Andrej Bolotov übersetzt und adaptiert wurde. Siehe Milov, Ot Nestora, S. 303 – 321. Zum Dorfspiegel siehe auch Renner, Autokratie, S. 267 f.; Grombach, Literatura, S. 186 ff.

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Das erste Kapitel zum Thema Gesundheit eröffnet ein Bild, auf dem sich ein Gutsverwalter mit dem sprechenden Namen Pravdivin an die Bauern wendet.115 Er steht in einem väter­lichen Verhältnis zu den Bauern, die seine Liebe erwidern, indem sie ihn als Autorität akzeptieren, ihm Vertrauen entgegenbringen und Dankbarkeit bezeugen.116 „Mein einziger Trost“, sagt Pravdivin, „besteht darin, dass ihr gesund seid und alles Nötige habt.“ 117 Die Kommunikation zwischen dem Verwalter und den Bauern verläuft in Dialogform, wobei die Bauern den Ratschlägen des Verwalters mit großem Interesse lauschen. Damit malte der Autor ein Idealbild von den Verhältnissen auf einem Landgut und stellte es als Vorbild für alle Beteiligten dar. Das Leitmotiv des Buches ist die Verantwortung. Der Verwalter ist verantwort­ lich für das Wohlergehen der Bauern, deren Anliegen er sich sehr zu Herzen nimmt. Dem Bild, das am Beginn des Kapitels steht, ist ein Gedicht beigefügt, das wiederum die Bauern an ihre Verantwortung für ihre Nächsten erinnert: „Wer sich nicht schont, seine Gesundheit nicht wahrt, Der wird vorzeitig an einer Krankheit sterben; Vielleicht lässt er eine Frau und verwaiste Kinder zurück, Die er zum Betteln aus Armut zwingt. Wiegt denn die Sünde, Selbstmörder zu sein, Unglück und Unheil über die eigene Familie zu bringen, nicht schwer?!“ 118

Dieser Appell richtete sich an Familienväter, die Verantwortung für ihre Schutzbefohlenen trugen. Verbunden wurde es mit dem christ­lichen Verständnis von Sünde, die hier als Drohung eingesetzt wurde. Der Autor wählte eine Argumentation, die sich auf die Erfahrungswelt der Leibeigenen bezog. Die Publikation schrieb Gutsverwaltern vor, einmal in der Woche den Bauern so lange Ratschläge für eine gesunde Lebensführung vorzulesen, bis sich diese das entsprechende Verhalten eingeprägt hatten. Die Interpretation der Verantwortung in einem christ­lichen Sinne wurde jedoch nicht erst in die rus­sische Fassung eingefügt, sondern findet sich auch im deutschen Original, wo ein Priester als zentrale Vermittlerfigur fungiert. Die Fürsorgepf­licht, die den länd­lichen Eliten von der Staatsgewalt auferlegt wurde, ging allerdings über das Erteilen von Ratschlägen hinaus. Ein Kapitel des Dorfspiegels ist der Notwendigkeit gewidmet, Krankenhäuser in Dörfern einzurichten, und zwar mit der Begründung: „Die christ­liche Pf­licht und die Nächstenliebe

115 Der Name ist von pravda (die Wahrheit) abgeleitet. 116 Derevenskoe zerkalo Bd. 2, S. 23. 117 Ebd., S. 22. 118 Ebd., S. 1. Siehe dazu auch Renner, Autokratie, S. 268.

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verlangen es, den Bauern bei Krankheiten zu helfen …“ 119 Diese Verantwortung für das leib­liche Wohl der Bauern bringe die Pf­licht zum Handeln für Gutsherren und Geist­liche mit sich, die besonders aktiv sein müssten, solange es zu wenig Ärzte gebe. Auch hier benutzt der Autor eine Parabel. Sie handelt von einem Adligen namens Serdobolov, der in seinem Dorf Pomogalovo ein Krankenhaus für Bauern errichtet, Hebammen einstellt und sich von einem populären medizinischen Handbuch leiten lässt.120 Zu den Pf­lichten eines vorbild­lichen Gutsbesitzers, wie ihn sich Russlands aufgeklärte Intellektuelle vorstellten, gehörte also die Überzeugung vom Nutzen medizinischer Einrichtungen, eine gewisse – auf Erkenntnissen der akademischen Medizin basierte – Grundbildung in Fragen der Selbstmedikation und die Bereitschaft, in Krankenhäuser und in medizinisches Personal auf dem eigenen Landgut zu investieren. Medizinische Aufklärung richtete sich nicht nur an untere soziale Gruppen, die durch lesekundige Multiplikatoren zu einer gesundheitsfördernden Lebensweise erzogen werden sollten. Auch für ein gebildetes Publikum entstand in den letzten Jahrzehnten des achtzehnten Jahrhunderts ein breites Angebot an Informationsquellen zu medizinischen Themen.121 So waren bei der Einrichtung einer chirur­ gischen Hochschule in Simferopol’ 1794 neben den eingeschriebenen Studenten auch Gasthörer vorgesehen. Für eine Gebühr von drei Rubel im Monat konnten diese Interessenten alle Veranstaltungen besuchen, die bei Medizinstudenten auf dem Curriculum standen.122 Im späten achtzehnten Jahrhundert entwickelten sich Fachzeitschriften, die wissenschaft­liche Artikel und Berichte über Entdeckungen und neue Behandlungsmethoden enthielten.123 Außerdem gab es seit den 1780er Jahren Periodika, die unter anderem Informationen und Ratschläge medizinischer Natur enthielten. Das in Tobol’sk erscheinende Magazin mit dem Titel Biblioteka učenaja, ėkonomičeskaja,

119 Derevenskoe zerkalo Bd. 3, S. 83. 120 Ebd., S. 84 f. Es handelt sich aller Wahrschein­lichkeit nach um das Handbuch von Peken [Pecken], Domašnij lečebnik. Wie in der ersten Parabel tragen die Protagonisten auch in diesem Kapitel sprechende Namen: Der Familienname Serdobolov ist vom rus­sischen Wort für „Mitleid“, serdobolie, abgeleitet. Das Dorf trägt den Namen Pomogalovo, vom Verb pomogat’ (helfen). 121 Neben der Presse spricht der Jaroslavl’er Historiker Boris Lozinskij von Vorlesungen rus­sischer Wissenschaftler als einem der wichtigsten Träger für die Verbreitung des medizinischen Wissens im 18. Jahrhundert. Da jedoch sowohl die Zahl der rus­sischen Naturwissenschaftler als auch der wissenschaft­lichen Einrichtungen im Zarenreich des 18. Jahrhunderts äußerst begrenzt war, lässt sich das Ausmaß dieser Art von Aufklärung noch weniger einschätzen als die Wirkung von Presse. Siehe Lozinskij, Istorija, S. 3. 122 Kaiser­licher Erlass vom 21. Juni 1794, in: PSZ I Bd. 23, Nr. 17.218, S. 525 – 526, hier S. 526. 123 Etwa Akademičeskie izvestija, Ežemesjačnye sočinenija i izvestija o učenych delach oder Vseobščij žurnal vračebnoj nauki. Eine Übersicht der Bücher zu medizinischen Themen im 18. Jahrhundert findet sich bei Renner, Autokratie, S. 288.

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nravoučitel’naja, istoričeskaja i uveselitel’naja v pol’zu i udovol’stvie vsjakogo roda čitatelej (Wissenschaft­liche, ökonomische, mora­lische, historische und unterhaltende Bibliothek zum Nutzen und Vergnügen der Leser aller Art) brachte etwa im Jahr 1793 Berichte über die Eigenschaften des Blutes, die Entdeckung des Blutkreislaufs und verschiedene wissenschaft­liche Experimente, aber auch Ratschläge bei schweren Geburten und Brandwunden sowie einen Artikel über ein Heilmittel gegen Krebs.124 Die 1793 gegründete Zeitschrift Sanktpeterburgskie vračebnye vedomosti (Sankt Petersburger medizinische Nachrichten) erklärte in ihrer ersten Ausgabe, sie wolle „Menschen aller Art und Stände“ nütz­lich sein, indem sie das Ziel verfolge, „allgemeinverständ­liche Wahrheiten der medizinischen Wissenschaft zu verbreiten und über Mittel zur Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit zu unterrichten“.125 In den 1780er Jahren kam eine Zeitschrift für Kinder und Jugend­liche heraus, die unter anderem körper­liche Mäßigung und eine gesunde Lebensführung propagierte.126 Zu den bekanntesten Periodika jener Zeit gehörte aber Ėkonomičeskij magazin (Das ökonomische Magazin), das regelmäßig Ratschläge zur persön­lichen Hygiene und zur Behandlung verschiedener Leiden publizierte. Darin finden sich zahlreiche Artikel etwa zum Zähneputzen oder zur Versorgung von Schlangen- und Hundebissen.127 Diesen und vielen anderen Publikationen ist gemein, dass sie Empfehlungen gaben, wie man ohne ärzt­liche Hilfe die Gesundheit erhalten kann. Diese Ratschläge stießen durchaus auf Interesse, und zwar auch in der Provinz des Rus­sischen R ­ eiches. Ėkonomičeskij magazin hatte über die Hälfte seiner Abonnenten außerhalb der beiden Hauptstädte.128 Im Jahre 1780 wurden sechs Exemplare der Zeitschrift ins Gouvernement Tambov geschickt und jeweils zwei nach Voronež und Jaroslavl’.129 Die Anzahl der verkauften Exemplare gibt jedoch nur bedingt Auskunft über die tatsäch­liche Verbreitung einer Zeitschrift. Man kann annehmen, dass die Inhalte auch außerhalb der Abonnentenhaushalte bekannt wurden, gab es doch die Mög­ lichkeit, die Zeitschrift weiterzugeben oder anderen Personen daraus vorzulesen.

124 Biblioteka učenaja Bd. 1, S. 46 – 49, 62, 64, 68. 125 Sanktpeterburgskie vračebnye vedomosti Bd. 1, o. S. 126 Detskoe čtenie Bd. 2, S. 27 – 29, 44 – 46. 127 Ėkonomičeskij magazin Bd. 1, Nr. 21, S. 336; Nr. 25, S. 394. Nach Angaben von Brown habe die Zeitschrift insgesamt 940 Artikel zu medizinischen Themen veröffent­licht und könne daher als die erste medizinische Zeitschrift in Russland bezeichnet werden. Brown, Landowner, S. 118. 128 95 der 169 Abonnenten, und damit 56 Prozent, bestellten die Zeitschrift in die Provinz. Siehe dazu Samarin, Čitatel’, S. 199. 129 Imena podpisavšichsja osob na Ėkonomičeskij magazin, v Moskve i v raznych gorodach, in: Ėkonomičeskij magazin Bd. 1, Anhang S. 1 – 14. Voronež, Tambov und Jaroslavl’ gehörten zu den knapp zwanzig Städten im Rus­sischen Reich, in denen es im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts Buchläden gab. Samarin, Čitatel’, S. 163.

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Neben den Periodika wurden in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts auch zahlreiche medizinische Ratgeber publiziert, von denen sich einige großer Popularität erfreuten. Das Interesse an solchen Büchern lässt sich etwa am Beispiel des medizinischen Ratgebers von Christian Pecken ablesen, der zwischen 1765 und 1793 vier Auflagen erlebte und mit insgesamt 9532 Exemplaren erschien.130 Die Autoren von Schriften zu medizinischen Themen waren bei weitem nicht immer gelehrte Mediziner. So publizierte der Gutsbesitzer Andrej Bolotov zahlreiche Artikel zu verschiedenen medizinischen Fragen.131 Ein fünfbändiger medizinischer Ratgeber, der mehrmals wiederaufgelegt wurde, stammte von Parfenij Engalyčev, einem Adligen aus dem Gouvernement Tambov.132 Die Bemühungen der Staatsgewalt, die Verbreitung eines standardisierten medizinischen Wissens zu ermög­lichen, liefen keineswegs den Bedürfnissen der Bevölkerung zuwider. Lesekundige Untertanen traten nicht nur als Konsumenten, sondern auch als Multiplikatoren dieses Wissens auf. Die Interessen dürften dabei jedoch unterschied­lich gelagert gewesen sein: Während staat­licherseits bevölkerungspolitische und disziplinierende Überlegungen leitend waren, kann man vermuten, dass die Käufer und Leser medizinischer Ratgeber in erster Linie nach Informationsquellen zur Selbstmedikation suchten.

Militär und Zivilbevölkerung Das Neuartige an der Medizinal­politik ­Katharinas II. war die konsequente Sorge um die Zivilbevölkerung in verschiedenen Lebensbereichen. Dabei darf man jedoch nicht übersehen, dass die Kaiserin keineswegs die Interessen des Militärs aus dem Blick ließ. Vielmehr bildete die medizinische Versorgung der Armee, die nach zeitgenös­sischen Vorstellungen zu wünschen übrig ließ, einen Ausgangspunkt für erste medizinalpolitische Überlegungen der 1760er Jahre.133 Wenige Monate nach dem Tod Peters III . richtete sich K ­ atharina II . an das Kriegskollegium des Rus­sischen Reiches mit einer ausführ­lichen Instruktion. Dieses Dokument enthielt folgende Zeilen:

130 Peken, Domašnij lečebnik. Die Übersetzung des Begriffs lečebnik mit „Arzneimittelbuch“, wie es das Wörterbuch von Pawlowski vorschlägt, erscheint mir nicht ganz zutreffend. Denn ein lečebnik enthielt in der Regel nicht nur Anleitungen zur Herstellung und Anwendung von Arzneimitteln, sondern auch allgemeine Informationen über Krankheiten und Ratschläge zur Krankenpflege. 131 Brown, Landowner, S. 118. 132 Engalyčev, O prodolženii. 133 Zum Zusammenhang zwischen Krieg, der Ressourcenextraktion und dem Wachstum staat­licher Strukturen in Europa siehe Reinhard, Kriegsstaat.

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„Der vergangene preußische Krieg [der Siebenjährige Krieg, D. S.] ist ein Beweis dafür, dass aufgrund des Mangels an Ärzten in der Armee – an Wundärzten, geschickten Unterärzten und Arztlehrlingen – Verwundete in den Regimentern unnötige Leiden und Verstümmelungen ertragen mussten und einige durch manche Behandlung vielleicht sogar vorzeitig ihr Leben verloren haben. In diesem schreck­lichen Fall, der zu einer ungewollten Vernichtung des Menschengeschlechts führt, muss man aus christ­licher Pf­licht bemüht sein, diese Vernichtung mit allen Mitteln zu verringern, damit der Leidende nicht ohne Fürsorge auf unserem Gewissen bleibt, deswegen ist ärzt­liche Hilfe, die in der Armee etwas vernachlässigt ist, hier von großer Bedeutung.“ 134

Um diesem gravierenden Mangel Abhilfe zu schaffen, sollte es für jedes Regiment zwei Ordnungen geben: eine für die Friedenszeit und eine für den Kriegsfall. Für den ersteren Fall war eine verhältnismäßig geringe Anzahl an Ärzten vorgesehen. Im Kriegsfall sollte es dort mehr Doktoren, Wundärzte, Unterärzte und Arztlehrlinge geben, wo Feldapotheken vorhanden waren.135 Eines der ersten Dokumente der Regierungszeit ­Katharinas, das von der Verbesserung der medizinischen Versorgung handelte, erwähnte die Zivilbevölkerung mit keinem Wort.136 Maßnahmen, die eine Verbesserung der medizinischen Versorgung im Militär herbeiführen sollten, begründete K ­ atharina II . mit zwei Überlegungen: Zum einen sei es eine „christ­liche Pf­licht“, auch den niedrigen militärischen Rängen eine „angemessene Behandlung“ zu Friedens- wie zu Kriegszeiten zu ermög­lichen. Zum anderen „würde es ihre Freude am Dienst stark heben, wenn sie merkten, dass man sich um ihre Gesundheit gebührend kümmert“.137 Diese Begründung entspricht dem Denkmuster jener aufgeklärten Monarchen des späten achtzehnten Jahrhunderts, für die sich aus Staatsräson und christ­licher Moral eine Pf­licht zur Sorge um die Gesundheit der Untertanen ergab. Die Interessen des Militärs rangierten dabei frei­lich ganz oben, denn Russland war wegen der Kriege – bis 1762 beteiligte sich 134 Instruktion ­Katharinas II. an das Kriegskollegium vom 9. November 1762. Zitiert nach Mirskij, Medicina (2005), S. 169. 135 Ebd. 136 Dieses Thema beschäftigte nicht nur Vertreter der Staatsgewalt, sondern auch weitere Elitekreise im Zarenreich des 18. Jahrhunderts. Die Gesundheit der Soldaten wurde unter anderem vom Philosophen Aleksandr Radiščev kritisiert. Siehe Radiščev, Putešestvie, S. 60 – 73, insbesondere S. 69. Während die Veröffent­lichung von Radiščevs kritischem Buch schwere Folgen nach sich zog, war die schlechte medizinische Versorgung der Armee innerhalb der Verwaltung des Rus­sischen Reiches kein Tabu. Siehe etwa den Bericht über die Inspektion des Kalinkin-Krankenhauses und der Chirur­gischen Schule von Pёtr Zavadovskij vom 7. September 1784. RGADA f. 16, op. 1, d. 518, l. 1 – 5ob., hier l. 4ob. Zur Bedeutung der Ressource Mensch für Russlands Streitmacht siehe Hartley, Russia, S. 137 – 145. 137 Instruktion für den Oberst des Kavallerieregiments vom 14. Januar 1766, in: PSZ I Bd. 17, Nr. 12.543, S. 481 – 529, hier S. 493.

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das Rus­sische Reich am Siebenjährigen Krieg, 1768 begann der Krieg gegen das Osmanische Reich – auf eine schlagkräftige Truppe angewiesen. Auch wenn bereits in den 1760er Jahren der Handlungsbedarf im Bereich der medizinischen Versorgung des Militärs als groß galt und Vorschriften zu deren besserer Organisation gemacht wurden, traten die Nöte der Militärangehörigen mit der Zeit noch deut­licher zu Tage. Es war der Krieg gegen das Osmanische Reich, der Ende der 1760er und in den frühen 1770er Jahren das Ausmaß der Mängel im medizinischen Bereich verdeut­lichte. Auf 120.000 Mann kamen fünfzehn Mediziner. Die Pestepidemie, die 1769 in der kämpfenden Truppe ausgebrochen war, steigerte den Gegensatz zwischen der Nachfrage des Militärs nach medizinischer Versorgung und der Fähigkeit der Staatsgewalt, dieser auch nur ansatzweise zu entsprechen. Absolventen der einheimischen medizinischen Bildungsstätten konnten den Bedarf nicht decken.138 Um überhaupt eine medizinische Versorgung in der Armee zu ermög­ lichen, wurde beschlossen, für das Militär Ärzte aus dem Ausland einzuladen. Graf Nikita Panin beauftragte Russlands Gesandte in Berlin, Dresden und Hamburg im Jahr 1770, zweiundvierzig geeignete Mediziner ausfindig zu machen, die den Dienst in den kämpfenden Armeen antreten würden. Zu diesem Zweck war die Regierung des Rus­sischen Reiches bereit, zusätz­liche Kosten auf sich zu nehmen.139 Doch auch wenn die medizinische Versorgung des Militärs in den ersten Jahren der Herrschaft ­Katharinas II. die höchste Priorität in der Medizinal­politik genossen zu haben scheint, wurde die Zivilbevölkerung zur selben Zeit in einem für Russland bis dahin ungekannten Ausmaß ebenfalls berücksichtigt. Das Vorhaben, die Gesundheit der Untertanen zur Aufgabe der Staatsmacht zu erheben, trat bereits zu Beginn von ­Katharinas Herrschaft zu Tage. Schon in den frühen 1760er Jahren sammelte sie Material, um die Schaffung eines zivilen Medizinal­wesens vorzubereiten.140 In ihrer geheimen Instruktion an Jakob Sievers, den ­Katharina 1765 als Gouverneur nach Novgorod entsandte, schrieb sie ausdrück­lich vor, in Novgorod und Pskov jeweils einen Arzt zu beschäftigen, in den übrigen Städten Unterärzte und Lehrlinge. Darüber hinaus sollten die beiden Städte jeweils eine Apotheke haben.141 Die Neudefinition der kaiser­lichen Pf­lichten im Sinne der aufgeklärt absolutistischen Monarchie und des wohlgeordneten Policeystaats bildete den Rahmen für

138 Alexander, Bubonic Plague, S. 57 – 60. 139 Schreiben des Grafen Nikita Panin nach Berlin an den Gesandten Fürst Vladimir Dolgorukij, nach Dresden an den Gesandten Fürst Andrej Belosel’skij und nach Hamburg an Herrn Gross vom 13. Januar 1770, in: SIRIO Bd. 97, S. 13 – 14, hier S. 13. 140 Alexander, Catherine the Great, S. 191; ders., Bubonic Plague, S. 42. 141 Geheime Instruktion ­Katharinas II. für Jakob Sievers vom 1. Februar 1765, in: Blum, Staatsmann Bd. 1, S. 172 – 182, hier S. 181. Dieses Modell ähnelt sehr den Strukturen, die zehn Jahre später durch die Gouvernementsreform geschaffen wurden.

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die neue Medizinal­politik. Innerhalb dieses Rahmens aber rückten konkrete materielle Gründe, sich dauerhaft der medizinischen Versorgung der Zivilbevölkerung anzunehmen, in den Vordergrund. Im Jahr 1762 diskutierte der Senat in Anwesenheit ­Katharinas das Problem, „dass in vielen rus­sischen Städten eine nicht geringe Anzahl Menschen unter ansteckenden Krankheiten leiden, die sowohl wegen der fehlenden Doktoren und Wundärzte in diesen Gegenden als auch wegen der Scham diese Krankheiten verstecken, dadurch setzen sich solche schäd­lichen Krankheiten in ganzen Familien fest, wodurch Unschuldige und vor allem kleine Kinder vorzeitig aus dem Leben scheiden“.142

An dieser Beschreibung lässt sich erkennen, dass es in der Senatssitzung um ­ansteckende Geschlechtskrankheiten ging. Um die Ausbreitung solcher Krankheiten zu verhindern, beschloss der Senat auf Anordnung der Kaiserin, in einer gehörigen Entfernung von Städten spezielle Häuser einzurichten und darin eine anonyme Behandlung zu ermög­lichen.143 Neben der besseren medizinischen Versorgung des Militärs gewann zu Beginn der Herrschaft K ­ atharinas II. die Bekämpfung ansteckender Krankheiten an Bedeutung, denn diese dezimierten die Bevölkerung. Dieser Umstand bildete den wesent­lichen Impuls für den Ausbau des zivilen Medizinal­wesens. Die erste Maßnahme, mit der die Reorganisation des Medizinal­wesens begann, betraf gleichermaßen das Militär wie die Zivilbevölkerung. Die Umwandlung der Medizinal­kanzlei in ein Medizinal­kollegium 1763 sollte Kontinuität in die Verwaltung des Medizinal­wesens bringen. In ihrer Instruktion zur Gründung des Kollegiums vom 12. November 1763 schrieb ­Katharina der neuen Behörde vor, Ärzte in die Provinz des Reiches zu schicken und dafür zu sorgen, dass auch außerhalb der beiden Hauptstädte Krankenhäuser und Apotheken gegründet wurden.144 Vieles spricht für die These von John T. Alexander, dass es in erster Linie die häufigen Kriege waren, die ­Katharina II. zwangen, der medizinischen Versorgung des Militärs besondere Aufmerksamkeit zu schenken.145 Doch der Gegensatz zwischen den Interessen des Militärs und der Zivilbevölkerung in Bezug auf die medizinische Versorgung erscheint bei näherem Hinsehen kleiner, als man vermuten könnte. Die strukturellen Probleme, von denen die als unzureichend empfundene medizinische Versorgung herrührte, waren im Militär und im zivilen Ressort gleich: der Mangel 142 Senatserlass vom 19. Dezember 1762, in: PSZ I Bd. 16, Nr. 11.728, S. 133. 143 Ebd. 144 Instruktion für das Medizinal­kollegium vom 12. November 1763, in: PSZ I Bd. 16, Nr. 11.965, S. 413 – 419, hier S. 413, 416. Siehe auch Alexander, Bubonic Plague, S. 51. 145 Alexander, Bubonic Plague, S. 50.

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an Ärzten, Apotheken und Heilanstalten. Der Ausbau medizinischer Bildungseinrichtungen würde gleichermaßen dem Militär und der Zivilbevölkerung mehr Ärzte zur Verfügung stellen, von Provinzapotheken aus könnten sowohl Militäreinheiten als auch die lokale Bevölkerung mit Medikamenten versorgt werden, die Schaffung von Regimentshospitälern würde der Zivilbevölkerung genauso zugutekommen wie der Bau von Krankenhäusern für Nichtmilitärs, denn beide würden die Ausbreitung ansteckender Krankheiten verhindern.146 So lassen sich die zentralen Überlegungen zur Medizinal­politik unter K ­ atharina II. zusammenfassen.

2 . 3   Au f d e m Weg z u r Refor m Mit der Gründung des Medizinal­kollegiums im November 1763, etwas über ein Jahr nach der Machtübernahme, hatte ­Katharina II. die Reorganisation des Medizinal­ wesens eingeleitet. Doch mit der Schaffung einer neuen zentralen Behörde war die Reform der medizinischen Versorgung nicht beendet. Das Thema wurde auch in den folgenden Jahren im Zusammenhang mit der Umgestaltung staat­licher Strukturen im Rus­sischen Reich diskutiert.

Medizinische Versorgung als Thema der Gesetzgebenden Kommission Eines der wichtigsten Projekte der katharinäischen Herrschaft war die Einberufung von Abgeordneten aus allen Landesteilen des Rus­sischen Reiches, die in Form von Instruktionen verschiedene Belange vorbringen und gemeinsam Problemlösungen ausarbeiten sollten.147 Die Arbeit der Gesetzgebenden Kommission gehörte lange Zeit zu den umstrittensten Vorhaben K ­ atharinas II. Während dieses Gremium vor allem in der älteren Forschung negativ beurteilt wurde – als bloßes Mittel der Herrschaftslegitimation oder als gescheitertes Gesetzbuchprojekt –, so besteht heute ein weitgehender Konsens darüber, dass zum einen das Ziel des Projekts nicht die

146 Ähn­lich auch ebd., S. 57. 147 Zur Kommissionsarbeit, der ihr vorangegangenen Großen Instruktion und der Bewertung beider Ereignisse siehe Scharf, Innere Politik, S. 713 – 751. Eine detaillierte Darstellung der Wahl in die Versammlung und deren Arbeit findet sich bei Madariaga, Russia, S. 139 – 150, 164 – 183. Zur Wahl der Deputierten und Zusammensetzung der Kommission auch Brikner [Brückner], Bol’šaja Komissija, hier Oktober, S. 275 – 283. Siehe auch Florovskij, Sostav. Einen knappen Überblick über die Arbeit der Kommission und die ihr zugrundeliegende Instruktion bietet V. O. Ključevskij in seinen Vorlesungen zur Geschichte Russlands, die vor kurzem neu aufgelegt wurden: Ključevskij, Russkaja istorija, S. 778 – 797, allerdings interpretiert Ključevskij die Instruktion als einen Impuls zur Schaffung eines Gesetzbuches. Ebd., S. 782.

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Beschränkung der Autokratie durch eine Verfassung war und zum anderen die Kommissionsarbeit eine wichtige Grundlage für die spätere Gesetzgebung geschaffen hat.148 Obwohl die sogenannte Große Kommission – das Plenum der Abgeordneten – häufig Gegenstand der historischen Forschung geworden ist, haben Wissenschaftler das Thema der medizinischen Versorgung sowohl in den Instruktionen als auch in den Debatten weitgehend außer Acht gelassen. Im Folgenden sollen die Instruktionen, die in den verschiedenen Landesteilen verfasst wurden, und die überlieferten Diskussionen der Kommission zu medizinischen Themen analysiert werden. Eine Gesamtschau der veröffent­lichten Instruktionen soll einen Eindruck vermitteln, welchen Stellenwert die medizinische Versorgung für die Bevölkerung des Rus­sischen Reiches hatte. Die Akten der Teilkommission, die sich mit Fragen des Bevölkerungszuwachses und der medizinischen Versorgung befasste, sind leider nicht erhalten. Das veröffent­lichte Material der Kommission, vor allem die Protokolle, ist wegen der zahlreichen Lücken und der starken Überarbeitung bisweilen in die Kritik geraten.149 Die redaktionellen Eingriffe und der Umstand, dass manche Instruktionen einen beinahe identischen Wortlaut haben, lassen die Texte als eine äußerst problematische Quelle erscheinen. Doch nahmen die Instruktionen trotz der formalen Ähn­lichkeiten durchaus Bezug auf die lokalen Verhältnisse, was sie wiederum wertvoll für die Frage nach dem Inhalt der zeitgenös­sischen medizinalpolitischen Diskussionen macht.150 Was antworteten nun die Verfasser der lokalen Instruktionen?

148 Eine Ausnahme bildet etwa Heiko Haumann, der noch 2003 schrieb, ­Katharina habe mit der Kommission das Ziel verfolgt, „ihre Herrschaft durch eine solche Versammlung absichern zu lassen“. Haumann, Geschichte, S. 195 f., Zitat S. 196. Zum negativen Urteil bei den zeitgenös­sischen Beobachtern und in der Historiographie des 19. Jahrhunderts siehe Brikner, Bol’šaja Komissija, September, S. 1 – 16. Paradigmatisch für die sowjetische Geschichtsschreibung Pavlenko, Idei, S. 401. Eine legislative Funktion spricht Madariaga der Kommission gänz­lich ab. Madariaga, Russia, S. 141. Siehe auch Gradovskij, Vysšaja administracija, S. 220. Zur symbo­lischen Bedeutung des Projekts siehe Wortman, Scenarios Bd. 1, S. 122 – 128. 149 Siehe etwa Sacke, Kommission, S. 19 – 33. Zur Problematik der Stadtinstruktionen als Quelle siehe die Abhandlung aus dem Jahr 1898 von Kizevetter, Proischoždenie, insbesondere S. 204 ff. In der jüngsten Zeit ist SIRIO zusammen mit allen „unter den Bedingungen zarischer Zensur erschienenen Quelleneditionen“ als eine „nach wie vor wichtige Grundlage für die Forschung“ dargestellt worden, die allerdings den „heutigen Anforderungen in keiner Weise genügen“ können. Siehe den Tagungsbericht von Erren, Russland. Zitate ebd. 150 Siehe dazu Kizevetter, Proischoždenie, S. 204, 220 – 223, 228. Kizevetter erklärt die formale Ähn­lichkeit der Instruktionen mit ihrer Grundlage: Sie entstanden aus den Petitionen der Beisassengemeinden (mirskie posadskie čelobitnye), die sich deswegen g­lichen, weil Beisassengemeinden von ähn­lichen Problemen geplagt waren. Dagegen argumentiert Voznesenskij, Nakazy, Dezember, S. 272 – 277, der allerdings ebenfalls anerkennt, dass der Wert der Quelle in der Widerspiegelung der tatsäch­lichen lokalen Probleme besteht. Ebd., S. 282 f.

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Das Thema Medizinal­wesen kam in den meisten Instruktionen gar nicht zur Sprache. Dieser Umstand deutet darauf hin, dass die Verfasser der Instruktionen nicht deswegen auf bestimmte Themen eingingen, weil sie glaubten, die Kaiserin erwarte es von ihnen. Vielmehr problematisierten nur diejenigen die medizinische Versorgung, die darin einen Handlungsbedarf sahen. So waren aus dem Gouvernement Voronež siebzehn Instruktionen des Adels eingetroffen. Auf medizinalpoli­ tische Fragen ging nur der Adel des Kreises Rjažsk ein. Er berichtete beispielsweise, dass es in der Kreisstadt weder eine Apotheke noch einen Arzt gebe, beide aber zum allgemeinen Nutzen (dlja obščej pol’zy) nötig seien.151 Die Eliten von Ostrogožsk im Gouvernement Sloboda-Ukraine reichten zusammen mit ihrer Instruktion auch eine Bittschrift ein. Darin erwähnten sie unter anderem den Ärztemangel. Für die Bevölkerung von fünf Provinzen, die etwa 150.000 Einwohner ausmache, gebe es ledig­lich Ärzte in den Husarenregimentern. Für die Städte seien gar keine Mediziner vorgesehen. „Wegen dieses Ärztemangels kommen viele Menschen vorzeitig zu Tode durch Krankheiten, die zweifellos abgewendet werden könnten, wenn dem nicht das äußerste Fehlen [krajnee neimenee] der medizinischen Wissenschaft kundiger Personen im Wege stünde.“ 152

Die Verfasser der Instruktion baten darum, in jede Provinz Doktoren und Wund­ ärzte zu schicken. Die Einwohner der Stadt Rjažsk im Gouvernement Voronež betonten in ihrer Instruktion, dass in allen Städten Hospitäler nötig seien.153 Auch der Adel des Kreises Kozel’sk griff die Frage der medizinischen Versorgung auf: „Für den Schutz der mensch­lichen Gesundheit haben wir, die wir in den Kreisen leben, keine Mittel. Zu diesem Zweck möge man geruhen, in jeder Stadt und in jedem Kreis eine hinläng­liche Apotheke und einen Arztposten einzurichten […].“ 154

Ein beinahe identischer Wortlaut findet sich in der Instruktion des Adels von Meščovsk.155 Der Adel des Kreises Tula thematisierte ebenfalls die medizinische Versorgung. Er wünschte sich allerdings die Einrichtung eines Krankenhauses, in

151 Instruktion des Adels von Rjažsk, in: SIRIO Bd. 68, S. 372 – 401, hier S. 388. 152 Instruktion und Petition des Adels und der Gutsbesitzer von Ostrogožsk, in: SIRIO Bd. 68, S. 284 – 303, hier S. 301. 153 Instruktion der Einwohner der Stadt Rjažsk, in: SIRIO Bd. 144, S. 236 – 255, hier S. 250. 154 Instruktion des Adels des Kreises Kozel’sk, in: SIRIO Bd. 4, S. 265 – 271, hier S. 269. 155 Instruktion des Adels des Kreises Meščovsk, in: SIRIO Bd. 8, S. 517 – 522, hier S. 521.

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dem sich vor allem die Landbevölkerung behandeln lassen könne.156 Einzigartig erscheint in diesem Zusammenhang die Instruktion der Kaufleute von Epifan’ im Gouvernement Moskau. Sie baten darum, die Zahl der Ärzte entsprechend der Einwohnerzahl zu erhöhen, denn zurzeit sei man auf ungebildete Heiler angewiesen.157 In anderen zeitgenös­sischen Schriftstücken wird in der Regel kein Zusammenhang zwischen der Bevölkerungszahl und der Anzahl des medizinischen Personals hergestellt. Gelegent­lich gingen Beschwerden über Ärzte mit der Bitte einher, einen besseren Arzt in die jeweilige Stadt zu schicken.158 Nicht nur Adlige und Kaufleute aus verschiedenen Landesteilen äußerten sich zur medizinischen Versorgung.159 Auch Behörden, in deren Zuständigkeit das Medizinal­ wesen oder seine Teile fielen, unterbreiteten detaillierte Vorschläge. So sprach der Senat das Problem der mangelhaften medizinischen Versorgung im Rus­sischen Reich an: Viele Provinzen litten unter dem Ärztemangel, wobei mancherorts die Bevölkerung „wegen ihrer unsitt­lichen Gedanken“ gar keine Ärzte wolle, andernorts nicht in der Lage sei, medizinisches Personal zu unterhalten.160 Während die Mehrheit der Instruktionen in erster Linie auf die Versorgung der Zivilbevölkerung mit Ärzten und Medikamenten einging, zielte das Medizinal­ kollegium in seiner Instruktion auf die innere Organisation und Regulierung des Medizinal­wesens: etwa auf die Herstellung und den Verkauf von Medikamenten sowie Sanktionen bei Normverstößen in diesem Bereich und die Approbation des medizinischen Personals.161 Der Präsident des Kollegiums, der als Deputierter an den Kommissionssitzungen teilnahm, Georgij Aš, trug der Versammlung die Ziele der Medizinal­politik – wie das Kollegium sie definierte – vor. Er erklärte, „die Erhaltung des Volkes durch medizinische Behandlung“ gehöre zu den wichtigsten Aufgaben der Gesetzgebenden Kommission. Unbedingt sollten bei der Erstellung eines Gesetzbuches folgende Bereiche geregelt werden: die Versorgung der Gouvernements 156 Instruktion des Adels des Kreises Tula, in: SIRIO Bd. 4, S. 398 – 415, hier S. 406. Eine weitere Instruktion aus dem Gouvernement Tula forderte die Einstellung von Ärzten in den Städten. Siehe die Instruktion des Adels des Kreises Aleksin, in: SIRIO Bd. 8, S. 536 – 543, hier S. 542. 157 Instruktion der kaufmännischen Gesellschaft der Stadt Epifan’, in: SIRIO Bd. 107, S. 3 – 14, hier S. 6. Siehe auch die Instruktion der Einwohner der Stadt Moskau, in: SIRIO Bd. 93, S. 119 – 135, hier S. 123. 158 Siehe etwa die Instruktion der Einwohner der Stadt Kursk, in: SIRIO Bd. 144, S. 433 – 441, hier S. 439. 159 In den Instruktionen der Bauern kommt das Thema Gesundheit und medizinische Versorgung mit wenigen Ausnahmen nicht vor. Nur die Bauern von Kargopol’ stellten einen Zusammenhang zwischen Armut, Ernährung und Krankheiten her. Siehe das Protokoll der 8. Sitzung der Gesetzgebenden Kommission am 20. August 1767, in: SIRIO Bd. 4, S. 68 – 75, hier S. 69 f. 160 Instruktion des Senats, in: SIRIO Bd. 43, S. 3 – 42, hier S. 7. 161 Instruktion des Deputierten des Medizinal­kollegiums, Baron Georgij Aš [Georg von Asch], in: SIRIO Bd. 43, S. 215 – 217, hier S. 216 f.

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mit medizinischem Personal und dessen Finanzierung sowie die Einrichtung von Apotheken und Heilanstalten für das Militär und die Zivilbevölkerung.162 Bemerkenswert an der Instruktion des Medizinal­kollegiums ist die – im Europa des achtzehnten Jahrhunderts weitverbreitete – Verbindung zwischen der medizinischen Versorgung und der Armenfürsorge. Es wurde vorgeschlagen, in Provinzstädten Lazarette und Apotheken für Bedürftige einzurichten, wobei die Apotheken auch von der rest­lichen lokalen Bevölkerung genutzt werden sollten.163 Das Hauptmagistrat und die Hauptpolizei kritisierten in ihren Instruktionen, dass Vorschriften, Krankenhäuser für Waisen, Kranke, Behinderte und Alte zu errichten, nirgends befolgt würden.164 Der Blick auf die Instruktionen zeigt, dass der Wunsch nach mehr Ärzten, Krankenhäusern und Apotheken nicht nur auf der Ebene der Staatsgewalt existierte, sondern zum Teil auch auf lokaler Ebene, obwohl nur die wenigsten Antworten aus der Provinz auf Fragen der medizinischen Versorgung eingingen. Darüber hinaus verdeut­licht das Material der Gesetzgebenden Kommission Folgendes: Der Zustand des Medizinal­wesens wurde von denjenigen Akteuren – auch auf lokaler Ebene –, denen das Thema am Herzen lag, als miserabel empfunden.165 Die Unzufriedenheit mit der medizinischen Versorgung bildete den kleinsten gemeinsamen Nenner jener Instruktionen, die sie überhaupt thematisierten. Doch die Meinungen darüber, wie die Situation verbessert werden könne, gingen deut­lich auseinander. Der wesent­liche Streitpunkt war die Frage, wer die finanzielle Last des Medizinal­ wesens tragen sollte. Die Kaufmannschaft der Stadt Pavlovsk zahlte jähr­lich zweiundzwanzig Rubel für den Unterhalt eines Arztes in Voronež. In ihrer Instruktion an die Gesetzgebende Kommission bat sie darum, sie von diesen Zahlungen zu befreien, denn „nicht nur sieht die Kaufmannschaft keinen Nutzen in diesem Wundarzt, sie kennt ihn auch gar nicht“.166 Auch die Kaufmannschaft von Temnikov, ebenfalls im Gouvernement Voronež, wollte nicht mehr für den Unterhalt des Arztes in der Provinz Šack aufkommen. Sie brauche diesen Arzt überhaupt nicht, hieß es in der Instruktion.167 Mit dieser Forderung standen die Kaufleute des Schwarzerdegebiets nicht allein da. Die Klage, die Kaufmannschaft unterhalte auf eigene Kosten Ärzte, habe aber

162 Ebd., S. 215 f. 163 SIRIO Bd. 43, S. 215. Siehe auch Brinkschulte, Institutionalisierung, S. 188 – 191. 164 Instruktion des Hauptmagistrats, in: SIRIO Bd. 43, S. 237 – 296, hier S. 243; Instruktion der Hauptpolizei, in: SIRIO Bd. 43, S. 296 – 362, hier S. 303 f. 165 So Bočkarev, Vračebnoe delo, S. 445. 166 Instruktion der Einwohner der Stadt Pavlovsk, in: SIRIO Bd. 144, S. 153 – 156, hier S. 155. 167 Instruktion der Einwohner der Stadt Temnikov, in: SIRIO Bd. 144, S. 255 – 263, hier S. 262.

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keinen Nutzen von ihnen, findet sich in mehreren Instruktionen wieder.168 Die Kaufleute von Pereslavl’ Rjazanskij hielten jeg­liche medizinischen Einrichtungen in ihrer Stadt für überflüssig: „Und wenn jemand von den Kaufleuten gegen seine Krankheiten Medikamente einnehmen möchte, kann er diese nach Mög­lichkeit in Moskau in den Apotheken kaufen.“ 169 In der Instruktion aus Uglič hieß es, nur der Adel lasse sich vom Arzt behandeln.170 Aus der Stadt Kasimov kam eine ähn­liche Beschwerde.171 Fast der gleiche Wortlaut findet sich in der Instruktion aus Penza: Man trage die Kosten für einen Arzt, der weder für die Kaufmannschaft noch für die Zünfte von Nutzen sei.172 Teilweise klagten Kaufleute zudem über die ihrer Ansicht nach ungerecht verteilten Kosten für den Unterhalt eines Stadtarztes. Die Kaufmannschaft von Jaroslavl’ schrieb in ihrer Instruktion, dass sie ganz allein das Gehalt und die Wohnung des Arztes finanziere und dadurch in große Schwierigkeiten gerate. Da der Arzt nicht nur Kaufleute behandle, sondern auch Adligen, Bauern und Angehörigen verschiedener Ränge (raznočincy) in der ganzen Provinz helfen könne, sollten alle für seinen Unterhalt aufkommen.173 Den Grund für diese Klagen bildete eine Regelung aus dem Jahr 1737, die in den 1760er Jahren weiterhin gültig war. Kaiserin Anna hatte sich bereits in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts der medizinischen Versorgung der Zivilbevölkerung angenommen und vorgeschrieben, dass es Stadtärzte nun nicht mehr nur in den beiden Hauptstädten geben sollte, sondern auch in der Provinz. Die Städte hatten ihnen sowohl ein Gehalt zu zahlen als auch eine Wohnung zur Verfügung zu stellen.174 Der Unwille, einen Arzt zu finanzieren, wurde häufig damit begründet, dass die Kaufmannschaft, die für dessen Gehalt und Wohnung aufkomme, seine Dienste gar

168 Siehe etwa die Instruktion der Einwohner der Stadt Pereslavl’ Rjazanskij, in: SIRIO Bd. 93, S. 259 – 274, hier S. 270 f., die Instruktion der Einwohner von Veneva, in: SIRIO Bd. 93, S. 240 – 246, hier S. 243 f., die Instruktion der Kaufmannschaft der Stadt Romanov an der Wolga, in: SIRIO Bd. 93, S. 397 – 416, hier S. 410, die Instruktion der Einwohner des Dorfes Vjaznikovskaja, in: SIRIO Bd. 93, S. 416 – 426, hier S. 423, die Instruktion der Einwohner der Stadt Uglič, in: SIRIO Bd. 93, S. 541 – 583, hier S. 553 f. und die Instruktion der Einwohner der Stadt Belgorod, in: SIRIO Bd. 144, S. 403 – 416, hier S. 413. 169 SIRIO Bd. 93, S. 271. 170 Ebd., S. 553 f. 171 Instruktion der Einwohner der Stadt Kasimov, in: SIRIO Bd. 144, S. 167 – 175, hier S. 172 f. 172 Instruktion der Einwohner der Stadt Penza, in: SIRIO Bd. 107, S. 467 – 476, hier S. 469. 173 Instruktion der Einwohner der Stadt Jaroslavl’, in: SIRIO Bd. 93, S. 336 – 347, hier S. 341 f. So auch in SIRIO Bd. 107, S. 469. Siehe auch Bočkarev, Vračebnoe delo, S. 448. Weitere Klagen in diesem Sinne: SIRIO Bd. 43, S. 244; Instruktion der Bürgerschaft (graždanskoe obščestvo) der Stadt Alatyr’, in: SIRIO Bd. 134, S. 17 – 19, hier S. 19; Instruktion der Einwohner der Stadt Čuchloma, in: SIRIO Bd. 123, S. 361 – 367, hier S. 366. 174 Instruktion des Hauptmagistrats, in: SIRIO Bd. 43, S. 237 – 296, hier S. 243 f.

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nicht in Anspruch nehme. In der Stadt Civil’sk im Gouvernement Kazan’ gebe es zwar offiziell einen Arzt, doch habe dieser die Stadt nie betreten und dort niemanden behandelt. Er halte sich nur in Svijažsk auf. Wer einen Arzt brauche, der hole einen auf eigene Kosten aus Čeboksary. Vor diesem Hintergrund sei bei den Einwohnern von Civil’sk der Eindruck entstanden, dass der Arzt ledig­lich des Lohnes wegen da sei. Also würden sie gern auf ihn verzichten.175 Auch die Einwohner von Vasil’evo im Gouvernement Kazan’ wollten ihren Arzt nicht mehr haben, denn niemand aus der Kaufmannschaft habe sich jemals von ihm behandeln lassen oder werde es in Zukunft tun.176 Kaufleute aus Gorochovec im Gouvernement Moskau meinten, wenn jemand einen Arzt brauche, könne er ihn auf eigene Kosten aus dem unweit gelegenen Nižnij Novgorod rufen.177 Und die Kaufmannschaft von Insara in der Provinz Tambov beschwerte sich über den dortigen Arzt Ivan Daev, der während seiner gesamten bisherigen Amtszeit niemals Medikamente verschrieben – und damit in den Augen der Kaufleute nicht erfolgreich behandelt – habe. Aus diesem Grund wurde dieser Arzt als überflüssig dargestellt.178 All diesen Instruktionen ist gemeinsam, dass die Provinzbevölkerung – in diesem Fall die Kaufmannschaft oder Stadtbewohner – von ihrem eigenen Bedarf an medizinischer Versorgung ausging. Oft wurde das Argument hervorgebracht, man bezahle einen Mediziner, dessen Dienste man nicht in Anspruch nehme. Der Gedanke einer allgemein zugäng­lichen medizinischen Versorgung war den Verfassern dieser Instruktionen also fremd. Gesundheit und Krankheit waren für die meisten Privatsache. Der häufig geäußerte Unwille, einen Arzt zu finanzieren, ging allerdings nicht zwangsläufig mit einer grundsätz­lichen Ablehnung dieser Art von medizinischer Versorgung in der Provinz einher. Die Kaufleute von Cholmogory im Gouvernement Archangel’sk etwa wollten dem Arzt nur deswegen kein Gehalt zahlen, weil er zu weit von Cholmogory entfernt lebe, um dort Kranke zu behandeln.179 Die Beschwerden der Kaufleute bedeuteten auch nicht, dass sie auf jeg­liche Mediziner verzichten wollten. Die Einwohner des ebenfalls im Gouvernement Archangel’sk gelegenen Galič hielten es zwar für sinnvoll, einen Arzt in ihrer Gegend zu haben. Allerdings wollte die dortige Kaufmannschaft nicht allein für seinen Unterhalt

175 Instruktion der Einwohner der Stadt Civil’sk, in: SIRIO Bd. 107, S. 499 – 509, hier S. 506. 176 Instruktion der Einwohner der Stadt Vasil’evo, in: SIRIO Bd. 107, S. 482 – 485, hier S. 484. 177 Instruktion der kaufmännischen Gesellschaft der Stadt Gorochovec, in: SIRIO Bd. 107, S. 175 – 179, hier S. 178 f. 178 Instruktion der Einwohner der Stadt Insara, in: SIRIO Bd. 144, S. 286 – 288, hier S. 287 f. 179 Instruktion der Einwohner der Beisassengemeinde Cholmogory, in: SIRIO Bd. 123, S. 440 – 444, hier S. 441.

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aufkommen. Vorschläge zur Finanzierung seiner Tätigkeit machte sie aber keine.180 Etwas konkreter äußerten sich die Kaufleute aus Astrachan’. Sie schlugen vor, den Unterhalt eines Arztes entweder dem Staat zu übertragen oder die Kosten gleichmäßig auf die gesamte lokale Bevölkerung zu verteilen.181 Eine Neuordnung der Kosten schlugen auch die Einwohner von Elec vor.182 Der Adel von Kerensk im Gouvernement Voronež, der in seiner Instruktion nicht explizit auf das Medizinal­ wesen einging, plädierte dafür, diverse Strafgelder für die Finanzierung des Hospitals zu verwenden.183 In den Vorschlägen, die Finanzierung der Stadtärzte anders als bisher zu regulieren, lassen sich zwei Tendenzen erkennen: In manchen Instruktionen baten Städter darum, sie von dieser Last gänz­lich zu befreien. Gelegent­lich war dieser Wunsch mit dem Vorschlag verbunden, der Staat solle alle Kosten übernehmen.184 Eine zweite Gruppe bildeten Instruktionen, die in verschiedenen Finanzierungsmodellen eine Beteiligung der lokalen Bevölkerung vorsahen: sei es der gesamten Bevölkerung einer Provinz, der jeweiligen städtischen Gesellschaft oder des Adels, der als Einziger die ärzt­lichen Dienste in Anspruch nehme.185 Diese verhältnismäßig konkreten Änderungsvorschläge in Bezug auf die medizinische Versorgung der Provinz sind ein wichtiges Zeugnis für die Kommunikation der Untertanen mit der Staatsgewalt. Der Adel sowie Vertreter städtischer Gesellschaften und der Kaufmannschaft nahmen die Anfrage ­Katharinas II. ernst und zeigten sich bereit, gemeinsam über die Lösung ständisch oder lokal bezogener Probleme zu diskutieren.186 Der Umgang mit dem Thema medizinische Versorgung war in den Instruktionen recht uneinheit­lich. Unübersehbar war jedoch der Wunsch nach einer Neuregelung,

180 Instruktion der Einwohner der Stadt Galič, in: SIRIO Bd. 123, S. 395 – 406, hier S. 405. 181 Instruktion der Kaufmannschaft der Stadt Astrachan’, in: SIRIO Bd. 134, S. 131 – 158, hier S. 152 f. 182 Instruktion der Einwohner der Stadt Elec, in: SIRIO Bd. 144, S. 268 – 273, hier S. 271. Den Wunsch der Kaufleute vieler Städte, nicht allein den Unterhalt des Stadtarztes zu tragen, konstatiert auch Demkin, Nakazy, S. 226, frei­lich ohne ihn zu interpretieren. Weitere Vorschläge in diesem Sinne auch in der Instruktion der kaufmännischen Gesellschaft der Stadt Mologa, in: SIRIO Bd. 107, S. 75 – 83, hier S. 78 f. und in der Instruktion der kaufmännischen Gesellschaft der Stadt Murom, in: SIRIO Bd. 107, S. 84 – 88, hier S. 85 f. 183 Instruktion des Adels von Kerensk, in: SIRIO Bd. 68, S. 436 – 447, hier S. 437, 440. 184 So etwa die Instruktion der meščane-Gesellschaft der Stadt Pereslavl’ Zalesskij, in: SIRIO Bd. 107, S. 149 – 157, hier S. 154. Ähn­lich auch die Instruktion der Bürgerschaft von Arzamas vom April 1767, in: SIRIO Bd. 134, S. 20 – 31, hier S. 28 f. Siehe auch Bočkarev, Vračebnoe delo, S. 480. 185 Siehe SIRIO Bd. 93, S. 336 – 347, S. 541 – 583; SIRIO Bd. 144, S. 268 – 273; SIRIO Bd. 107, S. 84 – 88, S. 467 – 476; SIRIO Bd. 43, S. 244; SIRIO Bd. 4, S. 269 f.; SIRIO Bd. 8, S. 521 und die Instruktion des Adels des Kreises Kašira, in: SIRIO Bd. 4, S. 459 – 478, hier S. 461. Siehe dazu auch Bočkarev, Vračebnoe delo, S. 480. 186 So auch Kusber, Eliten- und Volksbildung, S. 19.

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denn die bestehende Ordnung schien die lokale Bevölkerung finanziell ungleich­ mäßig zu belasten und berücksichtigte nicht die tatsäch­lichen Bedürfnisse, die regional unterschied­lich sein konnten. Angesichts dieser Situation schlug der Senat in seiner Instruktion vor, die Verantwortung für die medizinische Versorgung des Landes in die Hände der Staatsgewalt zu legen. Denn das Verhalten der Provinzbevölkerung – und damit war die häufig geäußerte fehlende Bereitschaft gemeint, die Kosten zu tragen – ließ in seinen Augen nicht auf eine Besserung der Lage hoffen.187 Die Instruktionen bildeten die Grundlage für die Arbeit der Deputiertenversammlung, die am 31. Juli 1767 in Moskau zu tagen begann.188 Außer im Plenum arbeiteten die Gesandten auch in sechzehn Teilkommissionen (častnye komissii), wo sie sich mit einzelnen Themenbereichen befassten. Darunter gab es auch eine Kommission zur Mehrung des Volkes und eine zur Policey.189 Im Folgenden sollen anhand des publizierten Materials der Großen Kommission die unterschied­lichen Vorstellungen von den nötigen Maßnahmen untersucht werden, die im Plenum aufeinandertrafen. Einen der Streitpunkte bildete die Rolle, die der lokalen Bevölkerung beim Ausbau des Medizinal­wesens zukommen sollte. Baron Georgij Aš, der als Deputierter des Medizinal­kollegiums an den Kommissionssitzungen teilnahm, war bereit, die gesellschaft­liche Initiative ledig­lich bei der Einrichtung von Dorfkrankenhäusern zuzulassen. Sein Vorschlag stieß auf heftigen Widerspruch. Viele forderten eine stärkere Verantwortung der lokalen Eliten und der Geist­lichkeit im Bereich des zivilen Medizinal­wesens, wie es sie etwa in Schweden gebe.190 Ende des Jahres 1767 entbrannte im Plenum der Kommission eine lange Diskussion zwischen Lev Naryškin, der den Adel von Peremyšl’ und Vorotynsk vertrat, und dem Präsidenten des Medizinal­kollegiums. Auch wenn es sich dabei nur um einen Ausschnitt aus der allgemeinen Diskussion handeln kann, lohnt ein genauer Blick auf diese Debatte, die einen Eindruck von zeitgenös­sischen Denkmustern vermittelt. Naryškin entwarf einen medizinalpolitischen Handlungsplan, wobei er sich vor allem auf untere soziale Gruppen konzentrierte. Diese Akzentsetzung war alles andere als selbstverständ­lich, denn zunächst wandte sich Naryškin gegen die verbreitete Meinung, das einfache Volk habe einen starken und widerstandsfähigen 187 SIRIO Bd. 43, S. 7. 188 Ein Abriss der Tätigkeit der Gesetzgebenden Versammlung findet sich im Vorwort zu SIRIO Bd. 4, S. XVII–XXXVI. 189 Einen knappen Überblick über die Tätigkeit der Großen Kommission und der Fachausschüsse bietet Omel’čenko, Kommission, S. 170 – 178. Brikner, Bol’šaja Komissija, Dezember, S. 192 f. Akten der Teilkommission für medizinalpolitische Fragen haben sich nach meinem Kenntnisstand im RGADA nicht erhalten. 190 Siehe etwa die Stellungnahme des Deputierten der Orenburger Kosaken, Chariton Samsonov. 77. Sitzung der Gesetzgebenden Kommission am 14. Dezember 1767, in: SIRIO Bd. 8, S. 378 – 382. Dazu auch Bočkarev, Vračebnoe delo, S. 468.

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Körper, dem Krankheiten nichts anhaben könnten. Er wies darauf hin, dass auch von Natur aus starke Körper von Krankheiten geschwächt würden.191 Naryškins Vorschläge waren in drei Gruppen unterteilt: Sie betrafen die Lebensführung, die Hilfe bei leichteren Erkrankungen und schließ­lich die Behandlung schwerer Leiden. Handlungsbedarf im ersteren Bereich sah er vor allem in Bezug auf Frauen. Diese sollten sich unbedingt an – man wird ergänzen dürfen: staat­ lich zugelassene – Hebammen wenden, um sich selbst und ihren Kindern nicht zu schaden. Die Aufklärung der Frauen wollte Naryškin der Geist­lichkeit auferlegen, denn Landbewohner brächten Geist­lichen Vertrauen entgegen. Für sie wiederum sollten kurze Leitfäden verfasst werden, deren Inhalt die Geist­lichen dann münd­ lich weitergeben könnten.192 Aufklärung sollte laut Naryškin jedoch nicht nur in Bezug auf die Lebensführung stattfinden. Es wäre hilfreich, wenn Ärzte Anleitungen verfassten, die über ­simple Behandlungsmethoden und einfache Medikamente informieren. Diese Bücher sollten zusammen mit Arzneimitteln ebenfalls an die Provinzgeist­lichkeit versandt werden. Als Vorbild nannte Naryškin „andere europäische Staaten“, in denen die Geist­lichkeit bei der medizinischen Versorgung der Landbevölkerung eine äußerst wichtige Rolle spiele. Auch Adlige hätten mit einfachen Behandlungsmethoden schon manchem Leibeigenen das Leben gerettet.193 Der dritte Punkt in Naryškins Ausführungen enthielt den Vorschlag, in allen Kreisen Ärzte einzustellen. Diese sollten zwei oder drei Mal im Jahr mit ihrer Apotheke den ganzen Kreis bereisen und Menschen mit schweren Erkrankungen behandeln. Bei ansteckenden Krankheiten sollten sich Ärzte in der jeweiligen Gegend länger aufhalten. Naryškin zeigte sich zuversicht­lich, dass niemand diesem Projekt seine Unterstützung – gemeint war wohl vor allem die finanzielle Förderung, vielleicht auch in Form regulärer Abgaben – versagen würde.194 Etwa einen Monat später antwortete der Präsident des Medizinal­kollegiums auf die Empfehlungen von Naryškin und offenbarte eine grundlegend andere Sichtweise auf die genannten Probleme. Die Vorschläge des Adligen aus Peremyšl’ empfand er als einen Vorwurf, die Medizinal­verwaltung habe wichtige Fragen vernachlässigt, und verteidigte daher das Medizinal­kollegium. In harschen Worten warf der Beamte Naryškin vor, sich nicht die geringste Mühe gemacht zu haben, um sich über die Entwicklung des Problems zu erkundigen. Sonst hätte er gewusst, so Aš, dass in Moskau bereits 1762 ein Leitfaden für Schwangere, Gebärende und Wöchnerinnen 191 Vorschlag des Deputierten des Adels von Peremyšl’ und Vorotynsk, Lev Naryškin. 64. Sitzung der Gesetzgebenden Kommission am 19. November 1767, in: SIRIO Bd. 8, S. 302 – 306, hier S. 303. 192 Ebd., S. 304. 193 Ebd., S. 304 f., Zitat S. 304. 194 Ebd., S. 305.

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erschienen sei. Außerdem dürfe sich sowohl in Moskau als auch in Petersburg jeder in der Geburtshilfe ausbilden lassen. Zu diesem Zweck unterhalte das Medizinal­ kollegium Ärzte und Accoucheure.195 Diese Bedingungen brächten es mit sich, dass jeder Gutsbesitzer, der sich aus Menschenliebe um seine Untergebenen kümmern möge, ledig­lich dafür geeignete Frauen in eine der beiden Hauptstädte zur Ausbildung zu schicken brauche. Auch allgemeine Ratschläge zur Behandlung von Krankheiten seien veröffent­licht worden.196 Bemerkenswert an der Argumentation von Aš ist, dass er im Gegensatz zum Laien Naryškin, der von der Schwächung auch starker Körper durch Krankheiten und durch fehlende medizinische Versorgung sprach, beim Bild von der unterschied­ lichen Konstitution der Bauernfrauen und der Adligen blieb. Bei Frauen, die durch Arbeit und Bewegung gestärkt seien, verlaufe die Geburt in der Regel ohne ­größere Schwierigkeiten. Ihre Kinder zeichneten sich im Vergleich zu jenen höherer Gesellschaftsschichten ebenfalls durch eine kräftigere Konstitution aus: „Folg­lich ­brauchen sie gar keine Medikamente“, schlussfolgerte Aš. Der Beweis für die bessere Gesundheit der Bauern im Vergleich zum Adel sei laut Aš der Zustand des Heeres, das ganz aus gesunden Bauern bestehe. Wenn man die Kindererziehung auf dem Land ändern wollte, würde dies zweifelhafte Folgen für das ganze Reich haben.197 Unabhängig davon, ob sich die Meinung von Aš mit der anderer Vertreter der Medizinal­verwaltung deckte, weisen seine Worte darauf hin, dass die Notwendigkeit einer professionellen medizinischen Versorgung für die Landbevölkerung nicht unumstritten war. Zwar verfolgte die zentrale Medizinal­behörde entsprechend ihrer gesetz­lich vorgeschriebenen Aufgabe das Ziel, die Gesundheit der Bevölkerung insgesamt zu verbessern. Allerdings hielt es der Leiter der Medizinal­verwaltung für ausreichend, den unteren Bevölkerungsschichten zur Selbstmedikation zu verhelfen. Den Grund für die niedrige Bevölkerungszahl im Rus­sischen Reich, die ­Katharina II. als ein zentrales Problem bezeichnete, sah der Präsident des Medizinal­ kollegiums darin, dass Krankheiten im einfachen Volk falsch behandelt würden, denn viele ließen sich von unkundigen Menschen verarzten. Zöge man noch die Geist­ lichkeit heran, würde sich dieser Zustand nur verschlimmern, konterte Aš auf die Forderung, den Klerus mangels Ärzten auf dem Land stärker in die medizinische Versorgung einzubeziehen.198 Während Naryškin eine pragmatische Lösung vortrug, die vom Ärztemangel ausging, trat der Deputierte der höchsten medizinischen

195 Als Accoucheure bezeichnete man Ärzte, die auf die Geburtshilfe spezialisiert waren. 196 SIRIO Bd. 8, S. 352 f. 197 Ebd., S. 353 ff., Zitat S. 353. Der Topos vom „gesunden Landleben“ war seit der Mitte des 18. Jahrhunderts auch im europäischen Westen verbreitet. Siehe Böning, Volksaufklärung, S. 21. 198 SIRIO Bd. 8, S. 355.

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Behörde des Landes für ein absolutes Behandlungsmonopol der akademischen Mediziner und staat­lich geprüfter Helfer ein. Während Naryškin sich ausschließ­lich auf die medizinische Versorgung der Zivilbevölkerung auf dem flachen Lande konzentrierte, sah der Präsident des Medizinal­ kollegiums die Probleme ganz woanders. Die größte Gefahr für Russlands Bevölkerung gehe laut Aš von den Pocken aus. Die europäische Erfahrung habe gezeigt, dass eine Impfung die töd­liche Gefahr bannen könne. Eine weitere Plage stelle die Syphilis dar.199 Zu ihrer Verbreitung trage vor allem das Heer bei.200 Die Entstigmatisierung dieser Krankheit, wie sie etwa durch Aufhebung von Strafen für Erkrankte im Militär geschehe, könne ihre Bekämpfung unterstützen. Dennoch sei es schwierig, die Krankheit zu besiegen, denn sie sei im Anfangsstadium nicht sichtbar und die Betroffenen schämten sich, ihr Leiden zuzugeben.201 Nimmt man die Vorschläge und Forderungen Naryškins und die Entgegnung des Barons Aš zusammen, so ergibt sich das folgende Bild: In der zentralen Medizinal­ verwaltung waren die von den Deputierten angesprochenen Probleme durchaus bekannt. Dagegen wurden Maßnahmen ergriffen, die auf eine Verbreitung des medizinischen Wissens zielten. Diese Mittel wie etwa die Publikation von Ratschlägen oder Mög­lichkeiten zur Ausbildung in verschiedenen medizinischen Hilfsberufen hatten aber bis zum Zusammentreffen der Kommission nicht die erwünschte Wirkung gezeigt. Wenn selbst ein Deputierter des Adels, dem die Gesundheitsfürsorge am Herzen zu liegen schien, von den existierenden Mitteln nichts wusste, bestand ein Vermittlungsproblem. Dass Naryškin genau die Maßnahmen forderte, die bereits ergriffen worden waren, zeugt davon, dass sie ihre Adressaten nicht erreicht hatten. Während der Vertreter des Provinzadels die Interessen seines Standes hervorhob und eine bessere medizinische Versorgung für die Landbevölkerung forderte, rückte der Präsident des Medizinal­kollegiums eine Monopolisierung der Krankenbehandlung durch professionelles medizinisches Personal in den Vordergrund. Die Landbevölkerung schloss er – von der Pockenschutzimpfung und der Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten abgesehen – beinahe vollständig von seinen Überlegungen aus. Die Materialien der Gesetzgebenden Kommission zeigen ein Spektrum an Problemen und Interessen auf, die mit dem Medizinal­wesen verknüpft waren. Die Häufigkeit, mit der die medizinische Versorgung und ihre Mängel in den Instruktionen angesprochen wurden, und die heftigen Debatten über einzelne Fragen des 199 Aš nannte die Krankheit nicht bei ihrem Namen, sondern sprach – wie ­Katharina II. in ihrer Großen Instruktion – ledig­lich von einer „aus Amerika nach Europa gebrachten Krankheit“. Ebd., S. 357. 200 Hier widersprach Aš sich selbst, denn diese Feststellung passte nicht zu dem von ihm gezeichneten Bild des Heeres, das „ganz aus gesunden Bauern“ bestehe. Siehe SIRIO Bd. 8, S. 353 ff. 201 Ebd., S. 356 f.

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Medizinal­wesens zeugen davon, dass nicht erst die Pestepidemie der frühen 1770er Jahre der Staatsgewalt die Notwendigkeit grundlegender Reformen in diesem Bereich vor Augen geführt hat.202 Zwar hatte die Kaiserin mit der Großen Instruktion die medizinische Versorgung des Landes zu einem öffent­lichen Thema gemacht und Diskussionen gefordert. Auch war es die Staatsgewalt gewesen, die mit ihren veränderten Interessen die medizinische Versorgung als Problem auf die Tagesordnung gebracht hatte. Die Antworten auf ihren Vorstoß weisen aber darauf hin, dass die Veränderung der Politik es der lokalen Ebene mög­lich machte, Mängel und Probleme von unten nach oben zu kommunizieren. Neu war die Aufforderung zum Meinungsaustausch, der die zentralstaat­liche Ebene über die bestehenden lokalen und ständisch definierten Interessen in Kenntnis setzen sollte. Ebenfalls neu war die Bereitschaft der Staatsgewalt, Aufgaben im Bereich der medizinischen Versorgung zu übernehmen. Auch wenn die Gesetzgebende Kommission kein Gesetzbuch hervorgebracht hat, war ihre Tätigkeit von großer Bedeutung.203 Bei der Vorbereitung der Gouvernementsreform des Jahres 1775 soll ­Katharina II. auf das Material der Kommission zurückgegriffen haben. Bočkarëv erkennt sogar in der Organisation der medizinischen Versorgung und der sozialen Fürsorge durch die Gouvernementsreform direkte Einflüsse der Diskussionen einzelner Kommissionssitzungen.204 Die Kommissionsarbeit wurde 1768 wegen des Krieges gegen das Osmanische Reich abgebrochen, der die desolate Lage der medizinischen Versorgung im Militär erneut deut­lich zu Tage treten ließ. Kurze Zeit nach Beginn der Kampfhandlungen erschütterte eine weitere Katastrophe das Land: die Pest.

Die Pestepidemie Die Geschichte der Pestepidemie der 1770er Jahre ist von John T. Alexander geschrieben worden. Sein Buch kann bis heute als eine verläss­liche Referenz sowohl für den Verlauf der Epidemie als auch für die Vorgehensweise der politischen Akteure gelten.205 Diese Geschichte soll hier nicht neu erzählt werden. An dieser Stelle gilt es

202 Vgl. Alexander, Bubonic Plague, S. 299, 301. 203 Donnert bewertet das Ergebnis der Kommissionsarbeit als „recht bescheiden“, spricht ihr aber dennoch in Bezug auf spätere Reformen große Bedeutung bei. Donnert, ­Katharina II., S. 122, 207. 204 Bočkarev, Vračebnoe delo, S. 483. Eine große Bedeutung misst dem Projekt auch Marc Raeff bei: Raeff, Police State, S. 226. 205 Alexander, Bubonic Plague, v. a. S. 101 – 304. Von den neueren Erscheinungen zu diesem Thema sei hier die Studie von Nikolai Kuhl genannt, der nicht nur das Geschehen detailliert wiedergibt, sondern auch eine lesenswerte Interpretation anbietet. Kuhl, Pestaufstand.

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ledig­lich zu klären, welche Rolle die Pestepidemie für die Medizinal­gesetzgebung ­Katharinas II. spielte. Denn in der Forschung zur Medizingeschichte im Russland des achtzehnten Jahrhunderts begegnet man häufig der Meinung, sie sei ein wesent­ licher Impuls für die Gründung medizinischer Einrichtungen durch die Reform des Jahres 1775 gewesen.206 Im September 1771, als die Pest schon längst Moskau erreicht hatte, erschien ein Manifest, in dem K ­ atharina II. öffent­lich zugab, dass ihre Bemühungen um die Gesundheit des Volkes vergebens seien. Viele Menschen beachteten die Präventivmaßnahmen gegen die Pest nicht und versuchten sogar, sie zu umgehen. Sie missachteten die Quarantäne und versteckten Kranke und Tote. Man werfe Leichen auf die Straße, trage somit zur Verbreitung der Krankheit bei und verwehre Christen eine angemessene Bestattung.207 Im Klartext bedeutete dieses Manifest das Eingeständnis, dass die Staatsgewalt keinen Einfluss auf das Verhalten der Bevölkerung hatte. Die Kaiserin erklärte, die Aufgabe einer Regierung sei es, gegen Verletzungen der Ordnung vorzugehen, und ordnete Strafen bei Verstößen gegen Quarantänevorschriften an. Doch wie gering die Aussichten auf Erfolg dieser Maßnahmen waren, zeigt eine weitere Passage des Manifests: ­Katharina verlangte von Beamten, bei Hausdurchsuchungen und Überführungen der Menschen in die Quarantäne mit größter Freund­lichkeit und Sorgfalt vorzugehen. Unterdrückung, Bedrängung, Grobheit und Unverschämtheit sollten verboten werden. Beamte aller Ränge sollten ständig ermahnt werden, sich nicht bestechen zu lassen und niemanden zu erpressen. Staatsdiener, über deren Verhalten Beschwerden vorgebracht würden, sollte der Senat hart bestrafen.208 Offensicht­lich taten diese nur wenig, um der Bevölkerung die Angst vor der Quarantäne zu nehmen. Viele nutzten offenbar den Ausnahmezustand und die Verwirrung in der Bevölkerung aus, um daraus persön­lichen Nutzen zu ziehen.209 Die Staatsgewalt bemühte sich also nicht nur vergeb­lich darum, die Bevölkerung zur Einhaltung bestimmter Regeln zu bewegen. Schwerer wog der Umstand, dass zunächst Beamte der Staatsgewalt unterworfen werden mussten. Ohne ihre Mitwirkung waren der Regierung die Hände gebunden. Ihr Verhalten, zu dem oft Gewalt und Schikane gehörten, war im Hinblick auf das staat­lich definierte Ziel kontraproduktiv. Die staat­lichen Seuchenschutzmaßnahmen bauten

206 So etwa Renner, Aufklärung, S. 47; ders., Wissenschaftstransfer, S. 197; Dinges, Aufklärung importieren, S. 222. Ähn­lich auch Vlasov, Obitel’, S. 21. Auch Alexander geht von einer größeren Wirkung der Pestepidemie auf die Gestaltung des Medizinal­wesens im Rahmen der Reform von 1775 aus. Alexander, Bubonic Plague, S. 299, 301. 207 Kaiser­liches Manifest vom 9. September 1771, in: PSZ I Bd. 19, Nr. 13.653, S. 309 – 310, hier S. 309. 208 Ebd., S. 310. 209 Siehe Dörbeck, Geschichte, S. 77.

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darauf, dass alle Bevölkerungsgruppen der Obrigkeit gehorchten und den Vorschriften und Empfehlungen Folge leisteten. Dokumente staat­licher Provenienz legen bisweilen das Urteil nahe, vor allem untere soziale Gruppen handelten wider die staat­lichen Vorschriften. Dies entsprach dem Bild der Eliten vom einfachen Volk, das einer vernünftigen und aufgeklärten Anleitung bedürfe.210 Das prominenteste Beispiel für die Machtlosigkeit der Obrigkeit sind die Moskauer Unruhen vom September 1771, die unter anderem den Erzbischof Amvrosij das Leben kosteten. Doch es war nicht nur der „Pöbel“, der Quaran­tänevorschriften missachtete, sondern auch manche Aristokraten. So soll Graf Grigorij Orlov Novgorod passiert haben, ohne die Quarantäne einzuhalten. Dass solche Handlungen vor allem von Personen in herausgehobener gesellschaft­licher Stellung gravierende Folgen für die vorgeschriebene Ordnung haben mussten, war auch den Zeitgenossen bewusst. Jakob Sievers, zu der Zeit Generalgouverneur von Novgorod, Tver’ und Pskov, schrieb über diesen Vorfall: „Er [Orlov, D. S.] hat eine kleine Bresche in unsere Regeln der Quarantäne geschlagen.“ 211 Dabei war die Staatsgewalt auf die Eliten angewiesen, um gegen die Pest agieren zu können. Im Herbst 1771 erging die Vorschrift an den lokalen Adel, Aufseherposten zu übernehmen, um ein eventuelles Auftreten der Pest in dem jeweiligen Kreis zu melden und für die Umsetzung der angeordneten Maßnahmen zu sorgen.212 ­Mangels Beamten griff die Staatsgewalt in den 1770er Jahren auf den Adel dort zurück, wo zentral angeordnete Maßnahmen umgesetzt werden sollten. Doch war der edle Stand zuverlässiger als die Beamtenschaft? Kurze Zeit nach den Unruhen in Moskau bekam die Provinzialkanzlei von Šack die Anweisung, Adlige zu Quarantäneaufsehern zu ernennen. Darüber hinaus wurde dem Adel eine Vorbildrolle zugeschrieben: Adlige sollten „zu Hause sitzen“ und dadurch dem „unverständigen Volk ein Beispiel des ordent­lichen Lebens“ geben.213 Die Ernennung adliger Quarantäneaufseher bedeutete mitnichten, dass angeordnete Maßnahmen tatsäch­lich vorschriftsmäßig ausgeführt wurden. Zum einen weigerten sich manche Gutsbesitzer, solchen Aufsehern Zutritt auf das eigene Landgut zu gewähren. Aber auch Quarantäneaufseher ließen sich manches zuschulden kommen: So sollen sie gelegent­lich Durchreisende regelrecht ausgeraubt haben.214 Doch nicht nur mangelnde Kooperationsbereitschaft oder gar kriminelle Energien

210 Diese Haltung tritt etwa in Aufrufen an den Adel zu Tage. Siehe zum Beispiel Dubasov, Očerki, S. 227. 211 Blum, Staatsmann Bd. 1, S. 348. 212 Befehl des Senators Aleksej Mel’gunov an Aufseher, die in den Kreis Moskau geschickt wurden, vom 14. Dezember 1771. GAJaO f. 72, op. 3, d. 5, l. 1 – 6ob., hier l. 5. 213 Dubasov, Očerki, S. 227. 214 Ebd., S. 228 f.

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durchkreuzten die Pläne des Staates von einer Eindämmung der Epidemie durch Quarantänen. Oft waren es sch­lichtweg praktische Gründe, die eine Umsetzung der Maßnahmen unmög­lich machten. Als Wachen standen an Kordonposten häufig Analphabeten, die Durchreisende so lange festhielten, bis der lesekundige Quarantäneaufseher eintraf. „Gegen Wodka und Geld“ ließen sie aber die Reisenden häufig weiterziehen. Auch hatten Besitzer von gefälschten Passierscheinen in der Regel keine Schwierigkeiten an den Sanitärkordons.215 Über das Verhalten der Adligen lassen sich keine quantifizierenden Aussagen machen. Doch selbst wenn man bedenkt, dass in offiziellen Quellen in erster Linie Missstände festgehalten wurden, fällt auf, dass sich der Adel bei weitem nicht immer als eine im Vergleich zur Beamtenschaft zuverlässigere Stütze der Staatsgewalt erwies. Vor dem Hintergrund der geschilderten Missstände darf allerdings nicht außer Acht gelassen werden, dass auch Fälle überliefert sind, in denen Adlige ihre Pf­lichten gewissenhaft erfüllten.216 Andrej Bolotov schildert in seinen Memoiren die Vorkehrungen zum Seuchenschutz auf seinem Landgut. Er habe „alle Dorfbewohner“ versammelt, „um mit ihnen gemeinsam alle Ein- und Ausfahrten in [ihrer, D. S.] Siedlung abzugehen und aus den eigenen Reihen Wachen zu bestellen, die streng Obacht geben sowie Feuer entzünden mußten und überdies den Befehl erhielten, keine Fremden in das Dorf einzulassen und die bekannten Durchreisenden anzutreiben und sie nicht haltmachen zu lassen, sondern so schnell wie mög­lich aus dem Ort fortzujagen“.217

Bolotovs Schilderung – ob sie sein tatsäch­liches Verhalten wiedergibt, lässt sich im Nachhinein nicht nachprüfen – bezieht sich auf individuell beschlossene Maßnahmen zum Schutz privaten Besitzes. Hinweise auf etwaige organisierte Selbsthilfe­ unternehmungen auf lokaler Ebene gibt es dagegen keine.218 Man darf allerdings annehmen, dass Bolotovs Berichte nur bedingt generalisierbar sind. Schließ­lich gehörte der Gutsbesitzer zu den am besten gebildeten Adligen und zeigte insgesamt ein großes Interesse an medizinischen und medizinalpolitischen Fragen. Auch wird man annehmen dürfen, dass er seine Memoiren so verfasste, um der Nachwelt genau dieses Bild seiner selbst zu hinterlassen.

215 Ebd., S. 228. 216 Ebd., S. 229. 217 Bolotow, Leben Bd. 2, S. 139; siehe auch ebd. S. 150 f. Zu Entstehung und Besonderheiten dieser Quelle siehe Kraus, Gefühlswelten, v. a. S. 127 – 133. Zum Verfasser, dem „aufgeklärtesten Adligen“ der katharinäischen Zeit, siehe Brown, Landowner, Zitat S. 172. 218 Siehe dazu auch Dinges, Pest, S. 300 f.

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Festzuhalten bleibt, dass weder die Beamtenschaft noch der lokale Adel sich in den 1770er Jahren als ein zuverlässiges Instrument in den Händen der Staatsgewalt erwiesen. Wenn die Pestepidemie einen Einfluss auf die nachfolgende Medizinal­gesetzgebung hatte, dann vor allem insofern, als sie die Notwendigkeit einer Ausbreitung eines staat­lichen Medizinal­wesens in die Provinz ein weiteres Mal schmerz­lich vor Augen führte.219 So wie die Reform des Jahres 1775, die dem Riesenreich eine neue Lokalverwaltung gab, Produkt mehrjähriger Arbeit und keine direkte Reaktion auf den Pugačëv-Aufstand war,220 war auch die Schaffung lokaler Verwaltungsstrukturen im medizinischen Bereich keine spontane Antwort auf die Pestepidemie, sondern Ergebnis langjähriger Überlegungen. Vieles spricht dafür, dass die Reform der lokalen Verwaltung wegen des rus­sisch-türkischen Krieges nicht direkt an die Arbeit der Gesetzgebenden Kommission angeschlossen werden konnte. Erst nach dem Ende der Kriegshandlungen im Sommer 1774 war es ­Katharina II. wieder mög­lich, sich der Umgestaltung der Reichsstrukturen zu widmen.

2 .4   D ie Refor m d e s Ja h r e s 1775: Ä mt e r f ü r ge s el l s ch a f t l iche Fü r s or ge Eines der umfangreichsten Reformwerke der Herrschaft K ­ atharinas II. verfolgte das Ziel, durch eine tiefgreifende Umgestaltung der lokalen Verwaltung die innere Konsolidierung der Staatsgewalt voranzutreiben.221 Durch die Neugliederung des Landes in Gouvernements veränderte die Reform des Jahres 1775 die äußere administrative Gestalt des Rus­sischen Reiches. Das neue Netz der staat­lichen Regionalverwaltung, das engmaschiger war als je zuvor, sollte den Zugriff des Staates auf Bereiche ermög­lichen, die für ihn bisher nicht oder nur schwer zugäng­lich waren.

219 Ähn­lich auch Pratt, Free Economic Society, S. 563; Alexander, Bubonic Plague, S. 271, 301. Auch anderswo beschleunigten die Reaktionen auf Pestepidemien die Institutionalisierung der medizinischen Versorgung. Dinges, Pest, S. 304. 220 Dazu mit weiterführenden Literaturhinweisen Scharf, Grundbesitz, S. 426 f. und ders., Innere Politik, S. 789. 221 Eine kurze Zusammenfassung der wesent­lichen Inhalte des Reformwerks und einen Überblick über seine Beurteilung in der Geschichtswissenschaft bietet Scharf, Grundbesitz, S. 421 – 425. Eine ausführ­liche Darstellung der Neuerungen findet sich bei Madariaga, Russia, S. 277 – 291 und bei Schalhorn, Lokalverwaltung, S. 13 – 32. Als Beispiel für die ältere Forschung, in der die Auswirkungen des Pugačëv-Aufstandes hervorgehoben werden, siehe Jones, Catherine II. Laut Pavlova-Sil’vanskaja wäre die Reform ohnehin umgesetzt worden, nur habe der Aufstand diesen Prozess beschleunigt. Siehe Pavlova-Sil’vanskaja, Social’naja suščnost’, S. 462. Erich Donnert bezeichnet die Verwaltungsreformen – neben der Reform des Jahres 1775 auch die neue Adels- und Städteordnung von 1785 – als jene „zwei Bereiche, in denen sich ­Katharina II. als Verfechterin aufgeklärter Ideen zeigte“. Donnert, ­Katharina II., S. 206.

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Um weitere Räume für die staat­liche Tätigkeit in der Provinz zu erschließen, wurden neue Institutionen geschaffen. Ein wirk­liches Novum war dabei, dass unter diesen Einrichtungen auch eine Behörde vorgesehen war, die sich unter anderem medizinischen Belangen widmen sollte: das Amt für gesellschaft­liche Fürsorge (prikaz obščestvennogo prizrenija).222 Wie über die gesamte Regierungszeit ­Katharinas II., so herrscht auch in Bezug auf einzelne Reformprojekte dieser Epoche keine Einigkeit unter den Historikern. Die Kontroversen um das Verwaltungsstatut für die Gouvernements des Rus­sischen Reiches (Učreždenija dlja upravlenija gubernij Vserossijskoj imperii) sowie um die Gnadenurkunden für den Adel und die Städte aus dem Jahr 1785 kreisen vor allem um folgende Fragen: Welche Machtverhältnisse zwischen der Provinz und der Hauptstadt schuf die Reform? Welche Rolle spielte der lokale Adel in den neuen Verwaltungsstrukturen? Und inwieweit erhöhte die Umgestaltung der Regio­ nalverwaltung deren Effizienz und Qualität?223 Von diesen Fragen lässt sich auch die vorliegende Untersuchung leiten. Von der sowjetischen Geschichtswissenschaft sind Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge als weitgehend nutzlose Einrichtungen dargestellt worden, in denen vor allem Missbrauch herrschte.224 Dagegen tendieren Russlands Lokalhistoriker seit einigen Jahren dazu, die Erfolgsgeschichte des Medizinal­wesens in der eigenen Region gerade bei diesen Ämtern beginnen zu lassen.225 Auch in Studien zu größeren historischen Zusammenhängen werden diese Einrichtungen als ein „wichtiger Schritt zur Schaffung einer das ganze Land umfassenden Infrastruktur der Volksbildung, des Medizinal­wesens und der sozialen Fürsorge“ gewürdigt.226 Historiker außerhalb Russlands haben dagegen die Tätigkeit der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge nie über einen längeren Zeitraum hinweg zu beleuchten versucht.227 Obwohl diese neue Einrichtung in der deutschsprachigen Forschung bislang keine besondere Aufmerksamkeit erfahren hat, haben sich verschiedene Bezeichnungen etabliert, die jedoch dem Originalbegriff nicht ganz gerecht werden. Das

222 Zur Einrichtung der neuen Institution siehe Verordnungen zur Verwaltung der Gouvernements des Allrus­sischen Reiches vom 7. November 1775. Erster Teil, in: PSZ I Bd. 20, Nr. 14.392, S. 229 – 304, hier S. 271 – 278. 223 Der Überblick wurde übernommen von Scharf, Grundbesitz, S. 422 f. 224 Ein Überblick über die Bewertung der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge bei Sokolov, ­Blago­tv­oritel’nost’, S. 204 f. Sokolov weist darauf hin, dass die meisten Autoren keine Belege für Missbräuche in den Ämtern anführen. 225 Siehe etwa: Mezencev (Hg.), Istorija, v. a. S. 12 f.; Osincev (Hg.), 225 let. Ansatzweise auch Ševčenko, Dejatel’nost’. 226 Kamenskij, Ot Petra do Pavla, S. 431. 227 Wohl am meisten Aufmerksamkeit hat das Amt für gesellschaft­liche Fürsorge von Janet Hartley erfahren. Hartley, Philanthropy, insbesondere S. 178 – 188.

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Handbuch der Geschichte Rußlands übernimmt die zeitgenös­sische Übersetzung des Namens als „Kollegium der allgemeinen Fürsorge“.228 Erik Amburger verwendet den Begriff „Kollegium für öffent­liche Fürsorge“,229 in manchen Arbeiten begegnet man der Bezeichnung „Wohlfahrtsamt“,230 gelegent­lich liest man auch „Amt für öffent­liche Fürsorge“.231 Bei der Übersetzung stellen sich also zwei Fragen: Gibt man das rus­sische prikaz als „Kollegium“ oder als „Amt“ wieder, und bedeutet obščestvennyj in diesem Kontext „allgemein“, „öffent­lich“ oder „gesellschaft­ lich“? In dieser Untersuchung wird vom „Amt für gesellschaft­liche Fürsorge“ die Rede sein, und zwar aus folgenden Gründen: Erstens ist prikaz eine allgemeine und unspezifische Bezeichnung für eine Verwaltungsinstitution, die keine Aussage über die Beschaffenheit dieser Behörde beinhaltet. Die neuen Einrichtungen arbeiteten zwar tatsäch­lich nach dem kollegialen Prinzip. Doch obwohl der Begriff kollegija zu dieser Zeit auch im Rus­sischen existierte, wurde er für diese Institution nicht gewählt. Zweitens bereitet das Adjektiv obščestvennyj immer Schwierigkeiten bei der Übersetzung, weil es sowohl von obščestvo, „Gesellschaft“, als auch von obščestvennost’, „Allgemeinheit“ und „Öffent­lichkeit“, abgeleitet werden kann. Obščestvennost’ ist allerdings ein Begriff, der erst im neunzehnten Jahrhundert aufgekommen ist.232 Die zeitgenös­sische Bezeichnung für „Öffent­lichkeit“ lautete publika. Hinzu kommt, dass der Auftrag der neuen Einrichtung darin bestand, lokale Gesellschaften, die sich zugleich durch neue Aufgaben konstituieren sollten, zur aktiven Teilnahme an Belangen des Gemeinwohls zu bewegen. Mit der Gesetzgebung ­Katharinas, die auf die Schaffung gesellschaft­licher Strukturen abzielte, ging auch eine semantische Erweiterung des Begriffs obščestvo einher, das „Gemeinwesen, Gemeinschaft, Gesellschaft bis hin zu Sozietät, Verein, Genossenschaft, Korporation“ umfasste: „,Obščestvo‘ bezeichnete die […] neuen sozialen Organisationsformen des freiwilligen Zusammenschlusses von Personen zur Verfolgung gemeinsamer Ziele.“ 233 Somit ist obščestvennyj in diesem Fall vom rus­sischen Begriff für „Gesellschaft“ abgeleitet worden und ist richtigerweise als „gesellschaft­lich“ zu übersetzen – auch um den Kontrast zur staat­lichen Fürsorge (gosudarstvennoe prizrenie)234 deut­lich zu machen. 228 Scharf, Innere Politik, S. 800; ähn­lich: Schalhorn, Lokalverwaltung, S. 21. 229 Amburger, Behördenorganisation, S. 139, 159 f. 230 Schattenberg, Provinz, S. 136. 231 Etwa bei Stahnke, Hebammen-Ausbildung, S. 37. 232 Dieser Begriff findet sich weder in den Quellen des 18. Jahrhunderts noch im Slovar’ Akademii Rossijskoj Bd. 4. 233 Siehe Schierle, Begriffssprache, S. 280 f., Zitate S. 281. Obščestvo gehörte „als Bezugsrahmen für nütz­liches, dem Gemeinwohl dienendes Handeln […] zum Vokabular der politischen Pädagogik der Regierung“. Ebd. 234 Sokolov, Blagotvoritel’nost’, S. 84.

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Die Ämter spezialisierten sich nicht auf die medizinische Versorgung. Der Text des neuen Gouvernementsstatuts umriss acht Tätigkeitsfelder der neuen Institution: Volksschulen, Waisenhäuser, „Hospitäler oder Krankenhäuser für die Heilung ­Kranker“, Armenhäuser, Asyle für bedürftige unheilbar Kranke, Irrenhäuser, Arbeitshäuser und Zuchthäuser.235 Mit der Einrichtung der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge zeigte die Staatsgewalt, dass sie in vielen Bereichen einen Regulierungsbedarf sah, die bisher nicht als Aufgabenfelder des Staates gegolten hatten. Doch sie wollte die Verantwortung für die Zuständigkeitsbereiche der neuen Ämter nicht allein übernehmen. Betrachtet man das neugeschaffene Amt ausschließ­lich als eine staat­liche Institution, läuft man Gefahr, sein wesent­liches Charakteristikum zu übersehen: die Aktivierung gesellschaft­licher Kräfte unter der Ägide einer staat­lichen Einrichtung. Am deut­ lichsten tritt diese Eigenschaft in der Art und Weise zu Tage, wie das Amt finanziert wurde. Bei seiner Gründung bekam jedes Amt aus der Staatskasse, genauer gesagt, aus dem Gouvernementsbudget, einmalig fünfzehntausend Rubel.236 Diese Anschub­ finanzierung sollte dauerhaft die wirtschaft­liche Grundlage des Amtes bilden. Um das Budget zu vergrößern, sah das neue Verwaltungsstatut im Wesent­lichen zwei Mög­lichkeiten vor: Das Geld konnte angelegt werden und so Zinsen einbringen. Darüber hinaus durfte das Amt Spenden annehmen.237 Der Staat gab der neuen Institution eine Starthilfe, übertrug aber die Sorge um die weitere Finanzierung und damit auch ihre schiere Existenz den lokalen Akteuren. Die Verpf­lichtung zum Gemeinwohl wurde somit zu einer wesent­lichen Komponente der Schaffung lokaler Gesellschaften.238 Ebenso wie das Aufgabenfeld der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge breit gefächert war und neben der medizinischen Versorgung der Zivilbevölkerung zahlreiche weitere Bereiche umfasste, waren auch seine Mitglieder nicht auf die Medizinal­verwaltung spezialisiert. Den Vorsitz des Amtes hatte der Gouverneur selbst inne. Die anderen sechs Posten waren wie folgt besetzt: zwei adlige Mitglieder des Adelsgerichts (zasedateli verchnego zemskogo suda), zwei Mitglieder des Gouvernementsmagistrats aus der Kaufmannschaft und zwei Mitglieder des Gerichts für Bauern und Einhöfer (verchnjaja rasprava), die sich aus den Reihen

235 PSZ I Bd. 20, Nr. 14.392, S. 271. 236 Ebd. 237 Ebd. Details zur Finanzierung werden erläutert in Mušinskij, Ustrojstvo, S. 3 f. 238 Die Verpf­lichtung des Einzelnen, der Allgemeinheit bzw. der Gesellschaft nütz­lich zu sein, wurde sogar in das Stichwort obščestvo des Rus­sischen Akademiewörterbuchs aufgenommen, das im ausgehenden 18. Jahrhundert erschienen war. Slovar’ Akademii Rossijskoj Bd. 4, Sp. 602. Siehe auch Schierle, Begriffssprache, S. 286.

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der Staatsbauern rekrutierten.239 Der Gouvernementsadelsmarschall und das Stadtoberhaupt konnten vom Amt für gesellschaft­liche Fürsorge bei Bedarf zu einzelnen Sitzungen eingeladen werden, gehörten aber nicht zu seinen ständigen Mitgliedern. Die personelle Besetzung des Gremiums stellte einen Versuch dar, die lokalen städtischen wie länd­lichen Eliten sowie Staatsbauern – die im Gegensatz zu den beiden Ersteren eine Zielgruppe der Einrichtungen der Ämter darstellten – in die Arbeit einzubinden.240 Das kollegiale Entscheidungsprinzip sollte die Berücksichtigung verschiedener Interessen ermög­lichen und gleichzeitig vor Missbrauch schützen. Das Gouvernementsstatut übertrug die Organisation der medizinischen Versorgung in der Provinz den Ämtern für gesellschaft­liche Fürsorge. Sie sollten sich darum bemühen, vor allem in Städten mit vielen Einwohnern Hospitäler (­gošpitali) und Krankenhäuser (bol’nicy) einzurichten.241 Dieser Auftrag ging mit einer genauen Regelung des Krankenhausalltags einher, die der Gouvernementsordnung in Form eines Musterstatuts beigelegt wurde. Auch war das Amt verpf­lichtet, dafür Sorge zu tragen, dass Krankenhäusern, ihrem Personal und ihren Patienten stets alles Nötige zur Verfügung stand.242 Obwohl Ämtern für gesellschaft­liche Fürsorge die Verwaltung von Krankenhäusern oblag, fanden sich unter ihren Mitgliedern keine Mediziner. Dies sollte sich erst im neunzehnten Jahrhundert ändern.243 Mit der Gouvernementsreform von 1775 wurde die Verantwortung für das lokale Medizinal­wesen nicht nur einer Institution übertragen, in der Adel, Kaufmannschaft und Bauern vertreten waren. Auch die Polizei und private Hausbesitzer hatten Aufgaben im medizinischen Bereich bekommen. Sie mussten zum Beispiel das Auftreten ansteckender Krankheiten melden und auf die Sauberkeit der Luft achten.244 Der Landeshauptmann (zemskij ispravnik) war unter anderem für die Sauberkeit der Straßen und Brücken verantwort­lich. Ihm fiel insgesamt eine wichtige Funktion im Bereich des Seuchenschutzes zu: Er trug bei Ausbruch ansteckender Krankheiten die Verantwortung dafür, dass sich das medizinische Personal dieser annahm, er

239 PSZ I Bd. 20, Nr. 14.392, S. 271. Siehe dazu auch Ševčenko, Dejatel’nost’, S. 55. 240 Ähn­lich bewertet die Zusammensetzung der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge auch Bočkarev, Vračebnoe delo, S. 484 – 489. 241 Zu den Begriffen siehe Kapitel 4. 242 PSZ I Bd. 20, Nr. 14.392, S. 272 f. 243 1818 wurde beschlossen, dass die Funktionsweise der Hospitäler für die Zivilbevölkerung die Präsenz eines Medizinal­beamten im Amt für gesellschaft­liche Fürsorge erforder­lich machte. In St. Petersburg und Moskau sollte der jeweilige Stadtphysikus zum Mitglied des Amtes ernannt werden, in Gouvernementsstädten der Inspektor der jeweiligen Medizinal­verwaltung. Sollten sie nicht anwesend sein können, müssten sie von dem Medizinal­beamten vertreten werden, der im Rang direkt nach ihnen kommt. Kaiser­licher Erlass vom 23. Februar 1818, in: PSZ I Bd. 40, Nr. 27.292a, Anhang S. 124. 244 Chanykov, Očerk, S. 74.

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musste die Kranken von den Gesunden trennen und bei Epidemien für die Umsetzung von Seuchenschutzmaßnahmen sorgen. Nicht zuletzt war er verpf­lichtet, die Vorkommnisse den lokalen Behörden zu melden. Er hatte also eine für die Kommunikation medizinisch relevanter Informationen überaus wichtige Position inne.245 Somit hatte ­Katharina II. die medizinische Versorgung zu einem lokalen Anliegen erklärt. Das Amt für gesellschaft­liche Fürsorge sollte sie nun auch zu einem gesellschaft­lichen Anliegen machen. Wie fügte sich diese Institution ins Leben der rus­sischen Provinz ein? Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge wurden durch das Gesetz von 1775 ins Leben gerufen. Es dauerte allerdings mehrere Jahre, bis sie in den Gouvernementsstädten tatsäch­lich gegründet wurden. Das erste Amt entstand in Novgorod im Jahre 1776, ein Großteil eröffnete erst in den 1780er Jahren.246 In Jaroslavl’ wurde das Amt 1778 eingerichtet und begann seine Tätigkeit mit der Gründung zweier Armenhäuser. Wenig später entstand eine Volksschule „für 50 Personen unterschied­lichen Standes“ und gegen Ende des Jahres ein Zuchthaus. Ein Jahr später wurde ein Irrenhaus und im November 1780 ein Krankenhaus „für Personen unterschied­lichen Standes und für Arme, die kostenlos behandelt werden“, eröffnet. 1781 kamen ein Arbeitshaus und ein Findelhaus hinzu.247 In Voronež und Tambov entstanden die Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge etwas später, und zwar im Jahre 1780.248 Nach dem Gouvernementsstatut von 1775 unterstanden Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge dem Senat. 1798 ordnete Paul I. die Ämter den neugegründeten Stadtverwaltungen (gorodskie pravlenija) unter.249 1801 wurde die Tätigkeit der Ämter auf der bisherigen Grundlage wiederhergestellt. 1810 wurden sie in die Zuständigkeit 245 PSZ I Bd. 20, Nr. 14.392, S. 253 f. An diese Pf­licht wurden lokale Verwaltungen wiederholt erinnert. Siehe etwa den Senatserlass vom 18. Mai 1786, in: PSZ I Bd. 22, Nr. 16.394, S. 600 – 601, hier S. 601. 246 Sokolov, Blagotvoritel’nost’, S. 207. 247 Bericht der Statthalterei und des Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge von Jaroslavl’ an den Statt­ halter Aleksej Mel’gunov über die Tätigkeit des Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge seit der Gründung der Statthalterschaft vom 22. Januar 1785. GAJaO f. 83, op. 1, d. 1, l. 3 – 11, hier l. 3 – 3ob. 248 Sokolov, Blagotvoritel’nost’, S. 207; Gasparjan, K istorii, S. 991. 249 Kaiser­licher Erlass vom 12. September 1798, in: PSZ I Bd. 25, Nr. 18.662, S. 369. Über diese Entscheidung besteht in der historischen Forschung keine Einigkeit. In dem zu Beginn des 21. Jahrhunderts erschienenen mehrbändigen Nachschlagewerk zu Russlands Staat­lichkeit wird fälsch­licherweise behauptet, Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge seien 1798 abgeschafft und 1801 wiedergegründet worden. Siehe Art. „Prikaz obščestvennogo prizrenija“, in: Kozlov (Hg.), Gosudarstvennost’ Bd. 3, S. 397 – 398, hier S. 397. Nach Eroškin, Istorija, S. 130 seien die Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge „fast allenthalben“ geschlossen worden. Auch Kločkov schreibt, Paul I. habe die Ämter schließen lassen. Kločkov, Očerki, S. 417. Von einer etwaigen Abschaffung dieser Einrichtung ist weder in dem Kompendium von Erik Amburger noch in der sorgfältig recherchierten Studie des Spezialisten für die Geschichte der Wohltätigkeit, Aleksandr Sokolov, die Rede. Amburger, Behördenorganisation, S. 159 f.; Sokolov, Blagotvoritel’nost’, S. 214. Mirskij weist zu Recht darauf hin, Paul habe ledig­lich die Eigenständigkeit der Ämter erheb­lich eingeschränkt, indem er sie den

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des Polizeiministeriums übergeben, um durch den Erlass vom 4. November 1819 zum Bestandteil des Innenministeriums zu werden.250 Die Einbindung der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge in ministeriale Strukturen ging mit einer stärkeren Regulierung ihrer Tätigkeit und einer zunehmenden Kontrolle durch die Zentralgewalt einher.251 Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge entwickelten sich in den verschiedenen Gegenden des Reiches höchst unterschied­lich. Der Jahresbericht des Innenministers von 1803 enthält Informationen zur finanziellen Lage der Ämter und zu deren Tätigkeit: Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge in den Gouvernements Jaroslavl’, Tambov und Voronež im Jahr 1803 252 Gouvernement Jaroslavl’

Kapital (in Rubel)

Einnahmen (in Rubel)

Ausgaben (in Rubel)

Einrichtungen

235.802,70

9370,75

10.025,72 neun Volksschulen zwei Waisenhäuser zwei Armenhäuser ein Lazarett ein Arbeitshaus ein Zuchthaus ein Irrenhaus

Tambov

83.954

5333,10

6882,56 vier Volksschulen ein Krankenhaus ein Armenhaus ein Waisenhaus ein Irrenhaus ein Zuchthaus ein Arbeitshaus

Voronež

74.825,23

5008,47

3962,74 sechs Volksschulen ein Invalidenhaus ein Krankenhaus ein Waisenhaus

Anhand dieser Zusammenstellung lassen sich wesent­liche Entwicklungslinien der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts verdeut­lichen: Erstens war das Eigenkapital seit der Gründung der Ämter um ein städtischen Verwaltungen untergeordnet habe. Mirskij, Medicina (1996), S. 132; ders., Medicina (2005), S. 178. 250 Kozlov (Hg.), Gosudarstvennost’ Bd. 3, S. 398. 251 Duplij, Stanovlenie, S. 21; Mušinskij, Ustrojstvo, S. 11. 252 Die Angaben sind entnommen aus Tabeli k otčetu za 1803 god, Tabelle Nr. 21, o. S.

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Vielfaches gewachsen: in Tambov und Voronež jeweils etwa um das Fünffache des Gründungsetats, in Jaroslavl’ ungefähr um das Fünfzehnfache. Der Kapitalanstieg war in Jaroslavl’ besonders rasant. 1785, nur sieben Jahre nach seiner Gründung, verfügte das Amt für gesellschaft­liche Fürsorge bereits über 60.838 Rubel.253 Im Jahre 1803 war es nach St. Petersburg und Tver’ das drittreichste Amt für gesellschaft­ liche Fürsorge in Kernrussland. Die Ämter von Voronež und Tambov lagen mit ihrer Kapitalhöhe im Mittelfeld, wobei die Spanne sehr groß war: Sie reichte von 4.537 Rubel in Olonec bis zu 561.762 Rubel in St. Petersburg.254 Proportional zur Kapitalhöhe entwickelte sich in den drei Gouvernements auch die Anzahl der amtseigenen Einrichtungen: Das Gouvernement mit dem höchsten Kapital unterhielt die meisten Einrichtungen, das mit dem niedrigsten die wenigsten. Die meisten amtseigenen Einrichtungen waren Volksschulen, gefolgt von Institutionen der Armenfürsorge. Krankenhäuser machten einen verhältnismäßig geringen Teil aus.255 Wie sich die finanzielle Ausstattung der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge bis zum Ende des Untersuchungszeitraums entwickelte, zeigt der Bericht des Innenministeriums aus dem Jahr 1828: Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge in den Gouvernements Jaroslavl’, Tambov und Voronež zu Beginn des Jahres 1828 256 Gouvernement Jaroslavl’

Kapital (in Rubel) Silber

Assignaten –

Einnahmen (in Rubel) Silber

Assignaten

Ausgaben (in Rubel) Silber

Assignaten

2.699.142,64



89.019,29



79.785

1.325,84

211.055,23

1.549,05

31.879,37

Tambov

42.138,92

1.615.132,51

Voronež

15.347

1.658.282,38

– 360.233,72

– 304.302,96

Seit 1803 war das Kapital der Ämter beträcht­lich angewachsen, wobei das Jaro­ slavl’er Amt im Vergleich mit den beiden Ämtern im Schwarzerdegebiet immer noch über das größte Kapital verfügte.

253 GAJaO f. 83, op. 1, d. 1, l. 10 – 10ob. 254 Größer waren nur die Kapitale der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge in Wilna und Minsk. Tabeli k otčetu za 1803 god, Tabelle Nr. 21, o. S. 255 Duplij erkennt eine andere Reihenfolge. In ihrer Studie rangieren Bildungs- und medizinische Einrichtungen vor Institutionen der Armenfürsorge. Duplij, Stanovlenie, S. 23. Dieser Eindruck mag entstehen, wenn man alle Anstalten, die einen Arzt hatten – etwa Erziehungsheime und Irrenhäuser –, zu medizinischen Einrichtungen zählt. Gegen diese Betrachtungsweise spricht die Zielsetzung der einzelnen Institutionen. Irren- und Invalidenhäuser dienten ledig­lich der Verwahrung, während allein Krankenhäuser den Anspruch hatten, die Gesundheit ihrer Patienten wiederherzustellen. 256 Die Angaben wurden übernommen aus Žurnal MVD Teil 1, Buch 2, S. 272.

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Die neue Medizinal­politik

Nicht alle Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge waren in der Lage, ein Netz von Krankenhäusern in ihrem Gouvernement aufzubauen. In Kazan’ sah sich das Amt im Jahre 1805 außerstande, das dortige Stadtkrankenhaus auszubauen.257 Auch das Amt in Nižnij Novgorod verfügte nicht über ausreichende Mittel, um das Krankenhaus in der Gouvernementsstadt auszubauen und entsprechende Einrichtungen in den Kreisstädten ins Leben zu rufen.258 Doch wird man vorgreifen dürfen und einen Blick in die Statistik werfen, die das Wirtschaftsdepartement des Innenministeriums im Jahr 1835 erstellte. Diese deutet eine Entwicklung an, die Krankenhäuser unter der Obhut der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge im gesamten Reich bis zum ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts erlebten: Einrichtungen der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge im Rus­sischen Reich von 1833 bis 1835 259 Anzahl der Einrichtungen Krankenhäuser Kreiskrankenhäuser

Anzahl der Betten

Aufgenommene Personen

70

4322

403

5868

98.491

Irrenhäuser

32

456

2102

Apotheken

9





Insgesamt

514

10.646

100.593

Regionale Unterschiede werden im Folgenden wiederholt thematisiert, um die breite Palette der Entwicklungsvarianten im Riesenreich aufzeigen zu können. Ein Blick auf das gesamtstaat­lich Erreichte ist jedoch ebenfalls wichtig: Er lässt unter anderem erkennen, dass die Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge keineswegs eine Totgeburt waren. Mit der Gründung der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge war in der Provinz des Rus­sischen Reiches zum ersten Mal eine Institution entstanden, die sich unter anderem der medizinischen Versorgung widmete. Indem diese Ämter einen Aufgabenbereich für lokale Gesellschaften schufen, sollten sie zu deren Konstituierung beitragen. Die entstandenen gesellschaft­lichen Strukturen sollten sich genauso wie 257 Schreiben des Gouverneurs von Kazan’, Boris Mansurov, an den Innenminister, Viktor Kočubej, vom 19. Dezember 1805. RGIA f. 1287, op. 11, d. 293, l. 1 – 2, hier l. 1. 258 Bericht des Gouverneurs von Nižnij Novgorod, Andrej Runovskij, an den Polizeiminister, Aleksandr Balašov, vom 31. Oktober 1811. RGIA f. 1287, op. 11, d. 859, l. 1 – 4, hier l. 1ob. 259 Die Tabelle wurde auf der Grundlage des Dokuments über die Einrichtungen der Ämter für gesell­ schaft­liche Fürsorge im Jahr 1833 vom Juli 1835 erstellt. RGIA f. 1287, op. 12, d. 1291, l. 3. Die Tabelle enthält nur Informationen zu Einrichtungen des Medizinal­wesens. Angaben zu Armenhäusern, Fabriken, Waisenhäusern, Schulen etc. bleiben unberücksichtigt.

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einzelne Individuen für das Allgemeinwohl einsetzen, das die Kaiserin, dem klas­ sischen republikanischen Verständnis von der Funktionsweise eines Gemeinwesens entsprechend, zum zentralen Prinzip ihrer Gesellschaftspolitik erhoben hatte.260 ­Katharina II. gab der lokalen Ebene einen Impuls, der Eigeninitiative hervorrufen sollte. Als Ergebnis sollte ein Medizinal­wesen entstehen, das sowohl den Erwartungen der Staatsgewalt als auch den verschiedenen lokalen Interessen entsprechen würde. Mit der Gouvernementsreform des Jahres 1775 hatte die Kaiserin aber auch die medizinische Versorgung der Zivilbevölkerung als ein Feld definiert, von dem sich die Staatsgewalt nicht mehr zurückziehen konnte.

2 . 5   Me d i z i n a l­v e r wa lt u ng u m d ie Ja h r hu nd e r t we nd e Um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts hatte es Russlands Staatsgewalt sich zur Aufgabe gemacht, ein System von Institutionen zu schaffen, das die medizinische Versorgung des Militärs und der Zivilbevölkerung quantitativ und qualitativ verbessern sollte. Die Dynamik dieses Prozesses, der ein Bedürfnis nach einer immer höheren Anzahl von Medizinal­beamten und einem stetig dichteren Netz medizinischer Einrichtungen schuf, stellte die Medizinal­verwaltung vor beständig neue Herausforderungen. Mit welchen Konzepten reagierte die hohe Bürokratie auf neue Problemlagen? Welche Methoden wurden im ausgehenden achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert angewandt, um die Verwaltung eines Bereichs, in dem der Staat erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit aktiv war, den sich wandelnden Vorstellungen von einer funktionierenden Verwaltung anzupassen? Im Folgenden sollen Mechanismen freigelegt werden, die sich in der Medizinal­ verwaltung seit der Gründung der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge bis zum ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts herausgebildet haben. Im Vordergrund stehen Weichenstellungen, die Verwaltungsstrukturen im Bereich des Medizinal­ wesens nachhaltig prägten. Die Auswertung der Gesetze und Verordnungen sowie des Verwaltungsschriftwechsels soll dabei die Frage beantworten, welche Vorstellungen von einer funktionierenden Verwaltung hinter den einzelnen strukturellen Eingriffen standen und, darauf aufbauend, welche Ziele die Medizinal­politik jener Zeit verfolgte.

260 Dietrich Geyers Kritik, die zu schaffenden Gesellschaften sollten vor allem „Dienstleistungseinrichtungen der Staatsgewalt“ sein, erscheint somit anachronistisch. Vgl. Geyer, Absolutismus, S. 184 f., Zitat S. 184. Ausführ­licher ders., Gesellschaft.

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Die neue Medizinal­politik

Kompetenzverteilung zwischen Hauptstadt und Provinz: Die Reform der lokalen Medizinal­verwaltung 1797 Im Dezember 1796, wenige Wochen nach dem Tod seiner Mutter, schlug Paul I. dem Medizinal­kollegium vor, in den Gouvernements Inspektorenämter einzurichten, um eine staat­liche Kontrollinstanz über Apotheken, Hospitäler und die Patientenbehandlung im Militär und im Zivilbereich zu schaffen.261 Dadurch sollte eine Lücke in der Hierarchie des medizinischen Personals geschlossen werden, die zwischen der lokalen Ebene und dem Zentrum klaffte. Auf diesen Vorschlag nahm der Hauptdirektor des Kollegiums, Aleksej Vasil’ev, Bezug, als er zu Beginn des Jahres 1797 dem Kaiser einen ausführ­lichen Bericht seiner Behörde vorlegte. Das von Paul I. vorgesehene Amt des Inspektors diente darin als Auftakt zu einer fundamentalen Kritik des Medizinal­wesens. Doch Vasil’ev beließ es nicht bei einer bloßen Feststellung der Missstände, sondern entwickelte ein Konzept zu einer umfassenden Reorganisation des lokalen Medizinal­wesens. Betrachtet man die äußerst kurze Zeitspanne zwischen dem Machtantritt Pauls I. und dem Bericht des Medizinal­ kollegiums, muss man davon ausgehen, dass Vorarbeiten zu dieser Reform noch zu Lebzeiten K ­ atharinas II. geleistet worden waren.262 Der Bericht des Medizinal­kollegiums zeichnete ein düsteres Bild von der medizinischen Versorgung des Militärs und der Zivilbevölkerung, wobei Vasil’ev drei zentrale Probleme herausgriff. Zunächst wies er darauf hin, dass Militärärzte keine Mög­lichkeit hätten, die medizinische Versorgung der ihnen anvertrauten Truppeneinheiten zu überwachen, da sich die Einheiten häufig teilten und zu weit voneinander entfernten, um von einem einzigen Arzt betreut werden zu können.263 Zum Zweiten kritisierte das Medizinal­kollegium die fehlende Aufsicht über das medizinische Personal in der Provinz. Auch die direkte Unterordnung der Medizinal­beamten unter das Medizinal­kollegium habe keine Kontrollmög­lichkeiten geschaffen, so dass Provinzärzte auch zwei Jahrzehnte nach der Gouvernementsreform von 1775 keinerlei Aufsicht unterstünden, denn der lokalen Verwaltung fehle die Kompetenz, um die Qualität der medizinischen Versorgung zu beurteilen. Der dritte Kritikpunkt

261 Kaiser­lich bestätigter Bericht des Medizinal­kollegiums vom 19. Januar 1797, in: PSZ I Bd. 24, Nr. 17.743, S. 287 – 296, hier S. 287. 262 Ebd., S. 287 – 296. Laut Roderick McGrew wusste Paul lange Zeit vor dem Tod seiner Mutter, was er in Russland reorganisieren wollte, und die Reform der lokalen Verwaltung gehörte in seinen Augen zu den dring­lichsten Aufgaben. McGrew, Paul I, S. 207, 221 f. Siehe auch Kločkov, Očerki, S. 72 f. 263 PSZ I Bd. 24, Nr. 17.743, S. 287. Zu einem früheren Zeitpunkt war eine Beschwerde aus dem Kriegskollegium eingetroffen, dass sich Ärzte im Urlaub bisweilen zu weit von ihren Einheiten entfernten und nicht mehr oder zumindest nicht rechtzeitig zu diesen zurückkehren könnten. Siehe den Erlass des Kriegskollegiums vom Oktober 1796, in: PSZ I Bd. 23, Nr. 17.528, S. 968.

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betraf ein gravierendes Problem im Medizinal­wesen des Rus­sischen Reiches: die Besoldung der Medizinal­beamten. Die Löhne der Kreisärzte seien so niedrig, dass sich diese weder medizinische Bücher noch Instrumente kaufen könnten.264 Als Quintessenz des Berichts lässt sich festhalten: Der Staat entsende zwar Ärzte in die Provinz, sorge jedoch nicht dafür, dass diese ihren Dienst tuen. Die kritische Bestandsaufnahme endete mit der Feststellung, dass die Gouvernementsetats zu wenig Stellen für Accoucheure und Operateure vorsähen.265 Damit ließ die bestehende Struktur des Medizinal­wesens jene Bereiche links liegen, die nach Ansicht der obersten Medizinal­behörde den Kern der medizinischen Versorgung auf dem flachen Land bilden sollten: die professionelle Geburtshilfe und – ebenfalls vom staat­lich geprüften medizinischen Personal vorgenommene – operative Eingriffe. Fasst man die Kritik des Medizinal­kollegiums zusammen, ergibt sich das folgende Bild: Erstens war das medizinische Personal im militärischen Staatsdienst mit seinen Aufgaben überfordert. Zweitens existierte keine wirksame Kontrolle über die medizinische Versorgung sowohl des Militärs als auch der Zivilbevölkerung. Drittens beeinträchtigten die schlechten finanziellen Bedingungen die Arbeit der Provinzärzte. Viertens entsprach die Ausstattung der Gouvernements mit medizinischem Personal nicht den Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung, wie sie von der Staatsgewalt definiert wurden. Die Schlussfolgerung des Berichts lautete: Die personelle Situation im Medizinal­wesen mache es unmög­lich, in der medizinischen Versorgung des zivilen und des militärischen Bereichs die gebührende Ordnung herzustellen.266 Auf das vernichtende Urteil über den Zustand des Medizinal­wesens folgte im Bericht des Medizinal­kollegiums ein detaillierter Vorschlag zur grundlegenden Reorganisation dieses Bereichs. Das Amt des Inspektors, wie Paul es vorgeschlagen hatte, war darin zwar nicht vorgesehen, wohl aber die Idee, zwischen Provinzärzten und der zentralen Medizinal­verwaltung eine weitere Verwaltungsinstanz einzurichten. Diese wurde auch in der Gesetzesvorlage von 1797 beibehalten. Anstelle einer einzigen Person, der die Kontrolle über die medizinische Versorgung eines Gouvernements obliegen würde, richtete man eine neue, dem Medizinal­kollegium unterstellte Behörde ein: die lokale Medizinal­behörde (vračebnaja uprava). Diese nur wenige Monate nach dem Machtantritt Pauls I. ins Leben gerufene Struktur sollte das Medizinal­wesen in der rus­sischen Provinz bis 1865 prägen.267

264 PSZ I Bd. 24, Nr. 17.743, S. 287. 265 Ebd. Operateure waren auf chirur­gische Eingriffe spezialisierte Ärzte. 266 Ebd. 267 Die Entwicklung in der lokalen Medizinal­verwaltung bestätigt die These von Hugh Ragsdale von der weitreichenden Wirkung paulinischer Reformen. Siehe Ragsdale, Conclusion. Trotz ihrer Tragweite hat die Reform des Jahres 1797 in der Fachliteratur nur wenig Beachtung gefunden. Als

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Die neue Medizinal­politik

Die neuen Medizinal­behörden wurden in der Regel kurze Zeit nach der Verkündung des Erlasses vom 19. Januar 1797 gegründet. In Jaroslavl’ lässt sich die Tätigkeit der Medizinal­behörde bereits für den März des Jahres 1797 belegen.268 Im selben Jahr entstand auch die Medizinal­behörde im Gouvernement Tambov.269 Doch wie sollte diese neue Instanz die genannten Missstände beheben? Um diese Frage zu beantworten, ist es sinnvoll, den Aufbau und die Funktionsweise des neuen Verwaltungsorgans im Detail zu betrachten. Der Reformvorschlag des Medizinal­kollegiums sah die Einrichtung einer Medi­ zinal­behörde in jeder Gouvernementsstadt vor. Als „Wächter der Gesundheit“ sollte sie für die medizinische Versorgung sowohl des Militärs als auch der Zivilbevölkerung zuständig sein. Ihr waren sämt­liche medizinische Einrichtungen und das gesamte medizinische Personal eines Gouvernements untergeordnet: Ärzte der im jeweiligen Gouvernement stationierten Militäreinheiten, Kreisärzte, Hospitäler, Regimentslazarette sowie staat­liche und private Apotheken. Gleichsam als verlängerter Arm der zentralen Medizinal­verwaltung des Reiches sollte die neue Einrichtung dafür Sorge tragen, dass „in allem, was die Behandlung der Kranken angeht, die in St. Petersburg beschlossene Ordnung eingehalten wird“.270 Im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert sah die hohe Bürokratie die Hauptaufgabe der Medizinal­politik darin, die wachsende Anzahl der Ärzte, Hebammen und Apotheker, die unterschied­lichen Stufen der Medizinal­verwaltung und die medizinischen Einrichtungen der Kontrolle der Staatsgewalt zu unterwerfen. Um jedoch überhaupt erst eine Aufsicht über den medizinischen Alltag eines Gouvernements zu ermög­lichen, mussten neue Kommunikationswege etabliert werden, wobei den neugeschaffenen Medizinal­behörden eine aktive Rolle in den verschiedenen Ausnahmen siehe etwa Chanykov, Očerk, S. 64, 75; Mirskij, Medicina (1996), S. 133; Eroškin, Istorija, S. 131. Sogar bei Kločkov, der recht genau die Veränderungen in der lokalen Verwaltung zur Regierungszeit Pauls I. analysiert, heißt es, Medizinal­beamte seien nicht von Veränderungen betroffen gewesen. Kločkov, Očerki, S. 418. Von einem „wunderbaren Denkmal der Tätigkeit des Medizinal­kollegiums“ spricht dagegen in Bezug auf die lokalen Medizinal­behörden Čistovič, Očerki, S. 48 f. Der sowjetischen Kritik an der Bürokratie des Zarenreichs folgend beurteilt der Voronežer Historiker Ivan Taradin die Schaffung der Medizinal­behörden ledig­lich als eine zusätz­liche finanzielle Belastung der Provinz, die zwar mehr Beamte, aber nicht mehr medizinische Versorgung bekommen habe. Taradin, Materialy, S. 526. Etwas differenzierter betrachten den Sachverhalt die Historiker Kovrigina, Sysoeva und Šanskij. Sie bezeichnen die Gründung dieser und anderer Institutionen des zivilen Medizinal­wesens als den „Anforderungen der Zeit entsprechend“. Ihre Kritik zielt auf die Konzentration der medizinischen Versorgung in den Städten und die Vernachlässigung länd­licher Gegenden. Kovrigina; Sysoeva; Šanskij, Medicina, S. 56. 268 Istoričeskaja spavka. http://www.yararchive.ru/funds/fund38393/ Zuletzt aufgerufen am 14.4.2014. 269 Bykova, Zdravoochranenie, S. 199. 270 Moskau und St. Petersburg waren von dieser Regelung ausgenommen, weil sich dort das Medizinal­ kontor bzw. das Medizinal­kollegium befanden und damit eine zusätz­liche Kontrollinstanz überflüssig erschien, in: PSZ I Bd. 24, Nr. 17.743, S. 288.

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Kontrollprozessen zukam. Wollte ein Arzt eine private Praxis aufmachen, musste er der lokalen Medizinal­behörde seine Zeugnisse vorlegen. Hebammen hatten die Medizinal­behörde regelmäßig über ihre Tätigkeit zu informieren. Außer den Krankenhäusern mussten Mitglieder der neugegründeten Medizinal­behörden auch Apotheken inspizieren, indem sie diese unangemeldet aufsuchten. Die Ergebnisse sämt­licher Inspektionen waren dem Medizinal­kollegium in St. Petersburg zu melden.271 Die Medizinal­behörden schlossen also die institutionelle Lücke zwischen der zentralen und der lokalen Ebene des Medizinal­wesens. Das Projekt von 1797 ließ alle Fäden des lokalen Medizinal­wesens auf der Gouvernementsebene zusammenlaufen und sicherte damit – zumindest auf dem Papier – den Zugriff des Petersburger Medizinal­kollegiums auf die medizinische Versorgung der Provinz. Die neue Behörde sollte nicht nur einer besseren Kontrolle des Medizinal­wesens dienen, sondern war auch als eine wichtige Schaltstelle in der Kommunikation zwischen der lokalen und der zentralen Ebene geplant. Ihrer Aufgabe als Mittlerin zwischen lokalen Medizinal­beamten und dem Medizinal­kollegium entsprechend hatte sie als Filter für die Korrespondenz mit der Hauptstadt zu fungieren und dadurch die zentrale Medizinal­verwaltung vor einer ungeordneten Flut lokaler Anliegen zu schützen.272 Manche Fragen – vor allem im Personalbereich – sollten die Medizinal­ behörden lösen können, ohne sich ans Medizinal­kollegium zu wenden. Die neue Instanz sollte also auch die oberste Medizinal­behörde entlasten, indem sie ihr Entscheidungen abnahm, die vor Ort getroffen werden konnten. Die personelle Zusammensetzung der neuen Institution liest sich wie eine gezielte Maßnahme gegen jene Mängel in der medizinischen Versorgung der Provinz, die im Bericht des Medizinal­kollegiums angesprochen wurden. Die lokalen Medizinal­behörden sollten aus drei Mitgliedern bestehen: einem Inspektor, einem Operateur und einem Accoucheur. Zu den Hauptaufgaben des Inspektors gehörte eine regelmäßige Überprüfung der Regimentslazarette und der Stadtkrankenhäuser eines Gouvernements. Über den Zustand dieser Einrichtungen musste er dem Medizinal­kollegium Bericht erstatten. Grundsätz­lich war eine Kopie der gesamten Korrespondenz des Inspektors sowie seiner Anordnungen dem Medizinal­kollegium vorzulegen.273 Seine Kontrollpf­lichten entsprachen dem Bedürfnis der zentralen Verwaltung, einen Überblick über das lokale Medizinal­wesen zu bekommen und vor allem für die Einhaltung neugeschaffener Normen zu sorgen. Der Zuständigkeitskatalog des Inspektors lässt einen deut­lichen Schwerpunkt auf der medizinischen Versorgung des Militärs erkennen. Als höchster Medizinal­beamter

271 Ebd., S. 292 f. 272 Ebd., S. 291 f. 273 Ebd., S. 288 – 294.

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Die neue Medizinal­politik

eines Gouvernements hatte der Inspektor darauf zu achten, dass provisorische Hospitäler für Militäreinheiten den Vorschriften entsprechend eingerichtet und mit allem Notwendigen ausgestattet wurden.274 Die lokalen Medizinal­behörden waren auch für die Versorgung des Militärs mit Medikamenten zuständig. Mitunter musste der Inspektor sogar Militäreinheiten ins Ausland begleiten – im Kriegsfall zusammen mit dem Operateur –, was vor allem für Gouvernements an der Grenze des Rus­ sischen Reiches relevant war. Für diese Zeit wurde der Inspektor von sämt­lichen Pf­lichten in der Medizinal­verwaltung entbunden.275 Diese Konstruktion war eine Antwort auf den Mangel an medizinischem Personal im Militär. Den Kern bildete die Überlegung, für das Militär ein ständiges Angebot an medizinischer Versorgung vor Ort zu schaffen, anstatt die Zahl der Medizinal­ beamten in den Einheiten zu erhöhen. Im Kriegsfall war das zivile Medizinal­ wesen den Bedürfnissen des Militärs unterzuordnen. Doch aus dieser Feststellung ist noch keine notorische Vernachlässigung der Zivilbevölkerung durch die staat­ liche Medizinal­politik abzuleiten. Vor allem Paul I. attestiert die Forschung oft ein übersteigertes Interesse an den Belangen des Militärs.276 Obwohl der Impuls für die Reform des Jahres 1797 vom Bestreben ausging, die medizinische Infrastruktur für das Militär auszubauen, sollte die lokale Zivilbevölkerung von diesem Aufbau profitieren. Auch sollten die Vorteile für die Zivilbevölkerung nicht zufällig und beiläufig entstehen. Vielmehr ging der Ausbau des zivilen Medizinal­wesens mit der Erweiterung der medizinischen Versorgung des Militärs Hand in Hand.277 Um der Zivilbevölkerung eine staat­lich kontrollierte medizinische Versorgung zugäng­lich zu machen, sollten die beiden anderen Stellen in der Medizinal­verwaltung eines Gouvernements von einem Operateur und einem Accoucheur besetzt werden. Während die Kompetenzen des Inspektors vor allem im administrativen Bereich lagen, mussten sich seine beiden Kollegen der eigent­lichen medizinischen Versorgung der lokalen Bevölkerung widmen: Der Operateur war für chirur­gische Eingriffe zuständig, der Accoucheur war „dafür da, um Gebärenden ohne jeg­liche Verzögerung Hilfe zu leisten“.278

274 Ebd., S. 292 und 294. 275 PSZ I Bd. 24, Nr. 17.743, S. 288 und 293 f. 276 Siehe z. B. Keep, Paul I; McGrew, Paul I, S. 59 f., 152, 158 ff., 227 – 331; mit einem äußerst differenzierten Blick auf Paul: Stadelmann, Die Romanovs, S. 135 – 144. 277 Die Behauptung im Ėnciklopedičeskij slovar’, die medizinische Versorgung der Zivilbevölkerung sei ledig­lich eine Zusatzaufgabe der Medizinal­behörden gewesen, erscheint angesichts der programmatischen Absichtserklärungen sowie der Reformen im Bereich des zivilen Medizinal­wesens nicht ganz zutreffend. Vgl. Art. „Vračebnyj ustav“, in: Brokgauz; Efron (Hg.), Ėnciklopedičeskij slovar’ Bd. 7, S. 344. 278 PSZ I Bd. 24, Nr. 17.743, S. 295. Darüber hinaus gehörte zu den Aufgaben der lokalen Medizinal­ behörden die Sorge um die Qualität der Lebensmittel und die Organisation des Seuchenschutzes.

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Der vom Medizinal­kollegium ausgearbeitete Reformvorschlag veränderte nicht nur die personellen Strukturen des Medizinal­wesens. Indem Zuständigkeiten auf der Gouvernementsebene gebündelt wurden, sollten vor allem im Militär Stellen entfallen und damit größere finanzielle Einsparungen mög­lich sein. Insgesamt würden die Staatsausgaben im Bereich der medizinischen Versorgung der Provinz nach den Berechnungen des Medizinal­kollegiums um 35.972 Rubel pro Jahr sinken 279 – ein überaus wichtiger Punkt, denn Paul I. war um die „Gesundung der zerrütteten Staatsfinanzen“ bemüht.280 Bedenkt man, dass der Reformvorschlag neue Strukturen der Medizinal­verwaltung auf lokaler Ebene schaffen sollte, mag der Versuch, gleichzeitig bedeutende Einsparungen zu erzielen, wie ein Widerspruch erscheinen. Jedoch ging es an dieser Stelle nicht in erster Linie darum, Staatsausgaben im Bereich der Medizinal­verwaltung zu kürzen. Vielmehr strebten die Autoren der Reform danach, mit den vorhandenen finanziellen Mitteln mehr Aufgaben zu erfüllen, als dies bis dahin der Fall gewesen war. Durch die Einsparung sollte es zum Beispiel mög­lich sein, pensionierten Ärzten eine Rente zu zahlen. Das eingesparte Geld würde auch ausreichen, um jenen Medizinal­beamten Prämien und Lohnzuschläge zu zahlen, die entweder im Auslandseinsatz waren oder zu Zeiten von Epidemien besonders viele Kranke behandeln mussten.281 Die Umstrukturierung der regionalen Medizinal­verwaltung zielte auf eine Differenzierung der Aufgabenbereiche ab, die mit einer deut­licheren Kompetenztrennung zwischen den einzelnen Ämtern einherging. Mit der Medizinal­behörde war auf Gouvernementsebene das erste professionelle medizinische Verwaltungsorgan entstanden. Seine Mitglieder waren Medizinal­beamte, die durch ihre Ausbildung befähigt waren, die Qualität der medizinischen Versorgung zu beurteilen. Auch waren sie in die Hierarchie der Medizinal­verwaltung des Reiches eingebunden, indem sie dem Medizinal­kollegium – und nicht, wie Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge, dem Senat – untergeordnet waren. Damit ging die Verantwortung für die medizinische Versorgung der Provinz von den Ämtern für gesellschaft­liche Fürsorge auf die lokalen Medizinal­behörden über.282 Zwar wurden städtische Krankenhäuser nach wie vor von Ämtern für gesellschaft­liche Fürsorge und Stadtdumas eingerichtet und getragen. Der gesamte medizinische Bereich unterstand aber seit der Ebd., S. 289 f. 279 Ebd., S. 288. 280 Oberländer, Rußland, S. 623. Nach McGrew war die gesamte Reorganisation der lokalen Verwaltung darauf ausgerichtet, die Kosten zu senken. McGrew, Paul I, S. 221 f., 225; Kločkov, Očerki, S. 412. 281 PSZ I Bd. 24, Nr. 17.743, S. 288 f. 282 Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge waren nun nur noch für ihre eigenen Einrichtungen zuständig, zu denen in der Regel auch ein Krankenhaus in der jeweiligen Gouvernementsstadt gehörte. Siehe dazu Otčet za 1804 god, S. 137.

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Reform des Jahres 1797 den lokalen Medizinal­behörden, und Medizinal­beamte des gesamten Gouvernements mussten ihnen Rechenschaft über Krankenhäuser ablegen. Die Professionalisierung im Bereich der Medizinal­verwaltung nahm auf der Gouvernementsebene im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert ihren Anfang.283 Im neunzehnten Jahrhundert zeigte sie auch Auswirkungen auf Ämter für gesellschaft­ liche Fürsorge, zu deren Mitgliedern ab 1818 auch ein Mediziner zählte.284 Lässt sich aus der Schaffung der lokalen Medizinal­behörden folgern, dass Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge – ein wesent­licher Bestandteil der Gouvernementsreform von 1775 – nun zur Bedeutungslosigkeit verdammt waren? Vor allem in der älteren historischen Forschung ist oft ein eklatanter Widerspruch zwischen den innenpolitischen Entscheidungen Pauls I. und den Reformen seiner Mutter postuliert worden.285 Roderick McGrew zufolge hätten Pauls Reformen den Schöpfungen ­Katharinas in der lokalen Verwaltung einen Todesstoß gegeben und gleichzeitig die Grundlage für jene Verwaltungsstrukturen geschaffen, die Russland im neunzehnten Jahrhundert prägen sollten.286 Auch Autoren jüngerer Studien beurteilen aus diesem Grund die Neuerungen dieser kurzen Regierungszeit oft skeptisch.287 Diesem

283 Damit ergibt sich eine wichtige Ausnahme von der Regel, die Susanne Schattenberg in ihrer Studie zu Beamten des Zarenreichs postuliert hat. Schattenberg, Provinz, S. 46; siehe auch Torke, Beamtentum, S. 166 f. Die Entstehung lokaler Medizinal­behörden im Jahre 1797 relativiert auch die allgemeine Feststellung Schattenbergs, erst Alexander I. habe versucht, „Bildung unter seinen Beamten durchzusetzen“. Schattenberg, Provinz, S. 84 f. Medizinal­beamte, für die bereits im späten 18. Jahrhundert geprüftes Fachwissen eine Voraussetzung für den Staatsdienst war, bildeten hier eine Ausnahme. Welche Rolle Patronagenetzwerke innerhalb der Medizinal­beamtenschaft spielten, könnte eine lohnende Fragestellung für künftige Studien sein. John Keep sieht dagegen in der Innenpolitik Pauls I. eine Entwicklung hin zur Professionalisierung der Verwaltung. Keep, Paul I, S. 96 f. Wolfgang Reinhard definiert Professionalisierung anhand von vier Merkmalen, die sich nacheinander entwickelt hätten: „(1) spezialisierte Ausbildung, (2) Absonderung vom als ‚Laien‘ abqualifizierten Rest der Menschheit, unter Umständen mit Hilfe einer besonderen Berufsorganisation, (3) auf überlegenen Sachverstand gegründete Selbständigkeit und Verantwort­lichkeit von Entscheidungen, (4) die Vorstellung, daß bestimmte Dienstleistungen dem Zweck des Berufs und daher den ‚privaten’ Interessen des Berufsmenschen voranzustellen sind“. Reinhard, Staatsgewalt, S. 193 f. Legt man dieses Schema zugrunde, entspricht die Medizinal­verwaltung im Russland des späten 18. Jahrhunderts den ersten drei Punkten mit Ausnahme einer Berufsorganisation für Ärzte. Die Frage nach dem Selbstverständnis dieses Berufsstandes könnte für künftige Forschungsarbeiten interessant sein. Zur Beamtenschaft und ihrer Professionalisierung siehe auch Mironov, ­Social’naja istorija Bd. 2, S. 199 – 208. Als Periode der Professionalisierung der Beamtenschaft nennt Mironov die Zeit von 1700 bis 1917. Ebd., S. 206 f. 284 Kaiser­licher Erlass vom 23. Februar 1818, in: PSZ I Bd. 40, Nr. 27.292a, Anhang S. 124. 285 Etwa Schiemann, Geschichte Bd. 1, S. 14 – 24. Dagegen betont Hans-Joachim Torke, dass Paul in vielem den Kurs seiner Mutter fortsetzte. Torke, Einführung, S. 139. 286 McGrew, Paul I, S. 355 f. Kamenskij betont die emotionale Auflehnung Pauls I. gegen das Werk seiner Mutter: Kamenskij, Ot Petra do Pavla, S. 492. 287 Kamenskij spricht der Regierung Pauls die Existenz eines Programms ab, weist vor allem auf Widersprüche hin und erklärt Pauls politische Vorhaben für gescheitert: Kamenskij, Ot Petra do

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Urteil steht eine Deutung gegenüber, die in der Innenpolitik Pauls I. vor allem die Schaffung neuer Denk- und Verwaltungsstrukturen sieht, die eine Grundlage für das kommende Jahrhundert bildeten.288 Doch auch wenn der Kaiser selbst darum bemüht war, sich öffent­lich von der Herrschaft seiner Mutter abzugrenzen,289 darf seine Haltung nicht den Blick auf sein politisches Werk verstellen.290 Vieles spricht dafür, die vorwiegend negative Einschätzung seiner Regierungszeit zumindest in Bezug auf das Medizinal­wesen zu revidieren. Der Kern der Reform von 1797 war in der Tat einem anderen Prinzip geschuldet als die Gründung der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge. Wenn K ­ atharina II. bei der Organisation der medizinischen Versorgung in der Provinz den Akzent auf die Beteiligung lokaler Gesellschaften gelegt hatte, um damit eine gesellschaft­liche Aktivität ins Leben zu rufen, übertrug Paul die Verantwortung für diesen Bereich zu einem großen Teil dem Staat. Zu diesem Zweck brachte der Kaiser den Staat in Form einer professionalisierten Medizinal­verwaltung in die Provinz. Damit war aber keineswegs die eigent­liche Tätigkeit der Wohlfahrtseinrichtungen in Frage gestellt. Vielmehr vollzog sich eine Trennung zwischen der Medizinal­verwaltung und der sozialen Fürsorge, indem durch die Gründung der lokalen Medizinal­behörden die medizinische Versorgung aus dem Zuständigkeitsbereich der Ämter für gesellschaft­ liche Fürsorge herausgelöst und auf eine professionelle Grundlage gestellt wurde. Das Medizinal­wesen war Ende des achtzehnten Jahrhunderts nicht mehr Bestandteil des Wohlfahrtsdiskurses. Es wurde in den Kontext einer im Ausbau begriffenen Staatsbürokratie gestellt, in dem andere Anforderungen herrschten: Effizienz und Kontrolle.291 Damit blieb den Ämtern für gesellschaft­liche Fürsorge die Aufgabe, die lokale Bevölkerung oder sich formierende lokale Gesellschaften zu einer freiwilligen Pavla, S. 481 – 512, v. a. S. 494 f., 499 ff., 507, 511 f. Einen Überblick über die unterschied­lichen Deutungsrichtungen mit weiterführenden Literaturhinweisen bietet Fischer, Herrschaft, insbesondere S. 935 ff. Siehe auch Kamenskij, Ot Petra do Pavla, S. 473 – 481. Eine Gesamtschau der Historiographie über Paul I. findet sich bei McGrew, Paul I, S. 6 – 14. Mit der älteren Literatur setzt sich auseinander: Kločkov, Očerki, S. 46 – 92, zur Einschätzung Pauls in den Memoiren seiner Zeitgenossen: ebd., S. 1 – 46. Kločkov bemüht sich in seiner Studie um eine Revision des vorwiegend negativen Urteils. Marc Raeff betont in seinem differenzierten Überblick über die Herrschaft Pauls I. auch dessen „gute Absichten“ und positive Entwicklungen wie etwa die Transformation der Kollegien. Siehe Raeff, Imperial Russia, S. 27 f. 288 Diese Deutung, die den Tenor in dem von ihm herausgegebenen Sammelband bildet, bringt Hugh Ragsdale in der Schlussbemerkung auf den Punkt: Ragsdale, Conclusion, S. 178. 289 So Zernack, Epochencharakter, S. 872; auch McGrew, Paul I, S. 194 – 197. Hugh Ragsdale betont, dass Paul I. ledig­lich andere Vorstellungen von einem europäischen Monarchiemodell hatte als seine Mutter. Ragsdale, Conclusion, S. 173. 290 In der Forschungsliteratur finden sich vereinzelte Stimmen, die für eine genauere Untersuchung der Herrschaft Pauls I. plädieren, so etwa vor einem halben Jahrhundert Scharf, Staatsauffassung. 291 John Keep definiert Effizienz in der Verwaltung als eines der innenpolitischen Ziele Pauls I. Siehe Keep, Paul I, S. 92 f. Zu den entsprechenden Prozessen in Frankreich siehe Foucault, Politique, S. 12 – 15.

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Förderung des Gemeinwohls – auch im Bereich des Medizinal­wesens – zu bewegen. Dass diese Trennung der Schöpfung K ­ atharinas II. nicht geschadet hat, zeigt die Blütezeit privater Wohltätigkeit im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts.292 Kennzeichnend für das neue System der Medizinal­verwaltung war eine dreigliedrige hierarchische Struktur, an deren Spitze das Medizinal­kollegium stand und deren unterste Stufe die in den Kreisen tätigen Medizinal­beamten bildeten. Der Ausbau der Verwaltungshierarchie betraf im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert nicht nur das Medizinal­wesen in der Provinz. Nach einem ähn­lichen Prinzip wurde im April 1797 auch das Medizinal­kollegium um den Posten des Vizepräsidenten erweitert. Dieser sollte – ähn­lich den Inspektoren der Medizinal­behörden in den Gouvernements – im Medizinal­kontor in Moskau anwesend sein und alle Einrichtungen in der alten Hauptstadt beaufsichtigen, die dem Medizinal­kollegium unterstanden.293 Die Verwaltungspolitik im Bereich des Medizinal­wesens zielte unter ­Katharina II. darauf ab, mit der Schaffung der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge die medizi­ nische Versorgung auf der Gouvernementsebene zum ersten Mal in der Geschichte des Zarenreichs zu institutionalisieren. Die Reorganisation der Medizinal­verwaltung unter Paul I. sollte die lokale Ebene stärker mit den zentralen Behörden verknüpfen. Nach der Reform des Jahres 1797 mussten die neugeschaffenen Medizinal­ behörden auf der Gouvernementsebene zunächst einmal in Verwaltungsabläufe eingebunden werden. Es verging jedoch einige Zeit, bis neue Dienst- und Kommunikationswege eingeübt waren. So meldete das Medizinal­kollegium 1798, dass es nach wie vor häufig Anfragen von Militärdienststellen aus der Provinz bekomme, die sich eigent­lich an die jeweilige Medizinal­behörde richten müssten. Lokale Medizinal­behörden – so die Begründung aus dem Medizinal­kollegium – überblickten im Gegensatz zur Zentrale in St. Petersburg die Lage vor Ort. Das Kollegium müsse sich dagegen zunächst über den jeweiligen Sachverhalt informieren, was langwierige Briefwechsel erfordere und Problemlösungen unnötig in die Länge ziehe. Die lokalen Medizinal­behörden würden in Fragen, die sie selbst nicht entscheiden könnten, das Medizinal­kollegium informieren, wobei sie die Lage genau beschreiben und eine Stellungnahme zum jeweiligen Problem abgeben würden, hieß es im Schreiben der obersten Medizinal­behörde.294 Der Zuständigkeitsbereich der neuen Institution war kurze Zeit nach ihrer Gründung also noch nicht hinreichend bekannt.

292 Zur Höhe des Kapitals der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge im 19. Jahrhundert siehe Tabeli k otčetu za 1803 god, Tabelle Nr. 21, o. S. Siehe auch: Varadinov, Istorija, S. 131, 148, 168, 197. 293 Kaiser­licher Erlass vom 30. April 1797, in: PSZ I Bd. 24, Nr. 17.943, S. 598. Demselben Prinzip war auch die Schaffung eines neuen Amtes beim Medizinal­kollegium geschuldet, das der Aufsicht über das zivile Medizinal­wesen der Hauptstadt dienen sollte. Siehe den kaiser­lichen Erlass an Aleksej Vasil’ev vom 28. Juni 1798, in: PSZ I Bd. 25, Nr. 18.567, S. 287. 294 Erlass aus dem Kriegskollegium vom September 1798, in: PSZ I Bd. 25, Nr. 18.685, S. 597 – 598.

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Die Schaffung effektiver Kontrollmechanismen zur Überwachung der medizinischen Versorgung in der Provinz bildete auch in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts eines der Hauptthemen in der Medizinal­gesetzgebung. Die Staatsmacht war nach wie vor bemüht, eine geregelte Kommunikation zwischen den verschiedenen Stufen des Medizinal­wesens aufzubauen, die eine zuverlässige Versorgung der zentralen Verwaltung mit Informationen gewährleisten würde. Während in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts auf Seiten der Staatsgewalt der Wunsch im Vordergrund stand, das Reich mit seinen regionalen Besonderheiten kennenzulernen, um angemessene Verwaltungsformen zu finden, wurden um die Jahrhundertwende neue Prioritäten gesetzt. Die Information entwickelte sich zu einem Kontrollinstrument und dieses wiederum zu einem Mittel zur Implementation von Normen. Wie aber war der Informationsaustausch zwischen der lokalen und der zentralen Ebene der Medizinal­ verwaltung im späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert geregelt? Zeitgleich mit der Umsetzung der 1797 verkündeten Verwaltungsreform unternahm das Medizinal­kollegium einen Versuch, den Informationsfluss von der Provinz ins Zentrum zu systematisieren. Als Anlass diente ein Besuch des Kaisers im Petersburger Generalhospital. Paul I. „hatte gesehen, wie dringend Kranke Hilfe brauchen“, und betraute den Direktor des Medizinal­kollegiums mit der Aufgabe, sich persön­lich darum zu kümmern, dass Kranke in einer Heilanstalt nicht unter beengten Verhältnissen litten.295 Von diesem Auftrag ausgehend, ordnete der Direktor des Medizinal­kollegiums an, die lokalen Medizinal­behörden mit einer regelmäßigen Revision sowohl der Militärlazarette als auch der Krankenhäuser für die Zivilbevölkerung zu beauftragen. Diese Pf­licht war bereits im Dokument vom Januar 1797 festgeschrieben,296 doch bedurfte es eines konkreten Anlasses, um die allgemein formulierte Vorschrift mit Inhalt zu füllen und ihre Gültigkeit zu bestätigen. Bei der Besichtigung der Heilanstalten sollten Mitglieder der Medizinal­ver­ waltungen Informationen über das Krankenhausgebäude, die Unterbringung der Kranken und deren Versorgung sammeln. Das Medizinal­kollegium interessierte sich nicht nur für den Zustand der Krankenhäuser, sondern verlangte auch Einsicht in Gebäudepläne, anhand derer es überprüfen wollte, inwieweit die Einrichtung der jeweiligen Heilanstalt ordnungsgemäß war. Auch der Entwicklung der Patientenzahlen mussten die Inspektoren Aufmerksamkeit widmen und nach St. Petersburg berichten, ob und wann ein großer Patientenandrang und eine damit zusammenhängende Überfüllung der Krankenhäuser vorlag. In Bezug auf die Kranken wollte das Medizinal­kollegium wissen, ob getrennte Räume für Patienten mit ansteckenden Krankheiten und für Frauen eingerichtet waren, ob es Mängel in der Verpflegung und

295 PSZ I Bd. 24, Nr. 17.902, S. 522 f. 296 PSZ I Bd. 24, Nr. 17.743, S. 287 ff., 292 ff.

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Kleidung der Patienten, in der Aufsicht und Sauberkeit gab, wie die Versorgung mit Medikamenten war und ob in der inspizierten Einrichtung Personalmangel herrschte. Darüber hinaus sollten lokale Medizinal­behörden herausfinden, ob es in ihrem Gouvernement Gegenden gab, in denen keinerlei öffent­liche Unterkünfte für bedürftige Kranke existierten, wo aber die Einrichtung eines Krankenhauses mög­lich wäre.297 Dieses Dokument zeugt davon, dass der zentralen Medizinal­verwaltung des Landes vor der Einrichtung der Medizinal­behörden auf Gouvernementsebene so gut wie keine Informationen über den Zustand der medizinischen Einrichtungen des Reiches vorlagen. Zwar sind bereits aus den 1760er Jahren Anordnungen überliefert, die Ärzten vorschrieben, die zentrale Medizinal­verwaltung über alle Vorgänge in ihrem jeweiligen Krankenhaus zu unterrichten.298 Doch offenbar genügten der Staatsgewalt die Informationen, die sie von der lokalen Ebene erhielt, nicht. Hinzu kam, dass mit der Anzahl der Ärzte und der medizinischen Einrichtungen – die schon im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert stieg und nach den Plänen der Regierung weiter steigen sollte – auch die Menge an Informationen aus der Provinz zunahm. Der neugeschaffenen Zwischenebene in der Medizinal­verwaltung kam dabei die Aufgabe zu, Informationen zu bündeln und sie über geordnete Informationskanäle an die Zentrale in St. Petersburg weiterzuleiten. Diese Informationspf­licht bestand für alle Akteure des Medizinal­wesens auf staat­ licher Seite. So sollten etwa Medizinal­beamte des Militärressorts, die in den beiden Hauptstädten tätig waren, wöchent­liche Berichte über alle von ihnen behandelten Kranken an das Physikat in St. Petersburg beziehungsweise an das Medizinal­kontor in Moskau schicken.299 Befehlshaber aller Divisionen mussten einmal im Monat Hospitäler in der Gegend inspizieren, in der die jeweilige Division stationiert war. Diese Bestandsaufnahmen sollten am Ende eines jeden Monats nach St. Petersburg geschickt werden.300 Des Weiteren mussten Provinzärzte den lokalen Medizinal­ behörden monat­lich über ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereich Meldung erstatten, welche wiederum die Gouvernementsverwaltung zu informieren hatten, die ihrerseits für den Informationsfluss in die Hauptstadt sorgte. Zentrale Behörden verlangten zunehmend nach detaillierten Nachrichten aus der Provinz und forderten bisweilen sehr konkrete Berichte. Vor allem dann, wenn Probleme auftraten, die nicht

297 PSZ I Bd. 24, Nr. 17.902, S. 523. 298 Siehe etwa den Senatserlass vom 19. Dezember 1762, in: PSZ I Bd. 16, Nr. 11.728, S. 133. 299 Kaiser­licher Erlass vom 17. April 1808, in: PSZ I Bd. 30, Nr. 22.973, S. 192. Das Physikat – mit einem Stadtphysikus an der Spitze – war eine Einrichtung der hauptstädtischen Medizinal­verwaltung. Auch in anderen Ressorts entstanden seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert Regelungen, die der zentralen Verwaltungsebene „zumindest ausschnittartige Blicke“ auf die Wirk­lichkeit des jeweiligen Bereichs gewährten, etwa in der Schulbildung. Siehe Kusber, Eliten- und Volksbildung, S. 213 f. 300 Kaiser­licher Erlass vom 23. März 1808, in: PSZ I Bd. 30, Nr. 22.915, S. 147 – 148.

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auf lokaler Ebene gelöst werden konnten, musste die Verwaltung in St. Petersburg genau unterrichtet werden.301 Die Dichte an Berichten über Krankenhäuser, ihre Patienten, das medizinische Personal und bald auch über Pockenimpfungen nahm in den regionalen wie zen­ tralen Archiven um die Jahrhundertwende deut­lich zu. Daraus lässt sich schließen, dass die 1797 geschaffenen Verwaltungsstrukturen ihrer Rolle als Informationskanäle im Allgemeinen gerecht wurden. Zwar kam es vor, dass fehlende Berichte den Informationsfluss von der Provinz in die zentrale Verwaltung behinderten,302 dennoch waren der hohen Bürokratie die Verhältnisse auf der Gouvernements­ebene im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts deut­lich besser bekannt als in den Jahrzehnten zuvor. Die ausgetauschten Nachrichten bildeten wiederum eine wichtige Grundlage für den eigent­lichen Auftrag, den die Medizinal­behörden zu erfüllen hatten. Als Repräsentanten der Staatsgewalt sollten sie die Implementation der Normen im Medizinal­bereich überwachen. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts lassen sich Anzeichen dafür finden, dass es die lokalen Medizinal­behörden durchaus als ihre Aufgabe betrachteten, die zentral festgelegten Normen in der Provinz umzusetzen. Ihre Funktion beschränkte sich nicht darauf, Regelverstöße zu melden. Als oberste Medizinal­instanz eines Gouvernements konnten Medizinal­behörden Normverletzungen auch bestrafen. Die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ verbot beispielsweise einem Apothekenprovisor im Jahr 1806, für einen neuangekommenen Arzt namens Feliks Laevskij Medikamente herzustellen und an diesen zu verkaufen. Denn dieser habe der Medizinal­behörde noch keine Zulassungsbestätigung vorgelegt.303 Laevskij hatte sich näm­lich während seiner Tätigkeit in Nižnij Novgorod wegen falscher Angaben zu Leichenobduktionen und wegen anderer Vergehen verantworten müssen und war vom Dienst suspendiert worden.304 Folg­lich versuchte die Medizinal­behörde in diesem Fall, einen nicht mehr zugelassenen Arzt daran zu hindern, als Mediziner zu praktizieren. Von der Forschung wird mit Blick auf Pauls Innenpolitik vor allem das Bemühen, mithilfe von „politischer Zentralisierung und bürokratischer Rationalisierung“ 301 Siehe beispielsweise das Schreiben des stellvertretenden Polizeiministers und Generalgouverneurs von St. Petersburg, Sergej Vjazmitinov, an den Gouverneur von Simbirsk, Michail Magnickij, vom 21. März 1818. RGIA f. 1287, op. 11, d. 1600, l. 6. 302 Etwa im Falle der Pockenschutzimpfung: Bericht des Kreisarztes von Myškin, Ivan Gorčakov, an die Medizinal­verwaltung von Jaroslavl’ vom 5. April 1829. GAJaO f. 86, op. 1, d. 392, l. 63 – 64, hier l. 63 – 63ob. 303 Erlass der Medizinal­behörde von Jaroslavl’ an den Apothekenprovisor Fёdor Kunce vom 26. Februar 1806. GAJaO f. 86, op. 1, d. 102, l. 1 – 1ob., hier l. 1. 304 Kaiser­licher Erlass an die Strafgerichtskammer von Nižnij Novgorod vom 28. September 1805. GAJaO f. 86, op. 1, d. 102, l. 2.

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die Staatsverwaltung effizienter zu gestalten, betont.305 Inwieweit gilt dieses Urteil auch für die Medizinal­politik seiner Regierungszeit? Es war ein erklärtes Ziel des Medizinal­kollegiums, mit der Schaffung lokaler Medizinal­behörden vom Zentrum aus eine stärkere Kontrolle über die Gouvernementsebene zu ermög­lichen. Kontrolle war eines der zentralen Leitmotive in der Regierungszeit Pauls I. Der Kaiser, mit der Politik des preußischen Königs Friedrichs II. wohlvertraut, übernahm den im europäischen Vergleich zeitgemäßen Anspruch der Staatsgewalt, vom Machtzentrum aus den Zugriff auf immer mehr Bereiche in der vertikalen und der horizontalen Ebene auszuweiten.306 Bei der Reform der Medizinal­verwaltung ging es um eine stärkere Anbindung der lokalen an die zentrale Ebene, um die Kommunikation zu verbessern und damit eine effizientere Kontrolle zu ermög­lichen. Doch sollten dabei nicht etwa alle Entscheidungswege zentralisiert werden. Die Schaffung lokaler Medizinal­ verwaltungen stellte einen weiteren Schritt in der Durchdringung der Provinz mit der Staatsgewalt dar. Im Zuge dieser Territorialisierung des Reiches wurden sogar einzelne Kompetenzen – die frei­lich nicht immer klar definiert waren – in die Gouvernements verlagert, um die hohe Bürokratie zu entlasten und die Verwaltungsvorgänge zu beschleunigen. Zu den wichtigsten Regelungen der Reform des Jahres 1797 gehörte die Übertragung mancher Entscheidungen über medizinisches Personal aus dem Zentrum auf die Gouvernementsebene. Wenn ein Arzt Interesse an einem Kreisarztposten hatte, musste er sich an die zuständige lokale Medizinal­ verwaltung wenden. Das galt auch für Wechsel auf der Kreisebene innerhalb eines Gouvernements. Arztlehrlinge konnten von der lokalen Medizinal­behörde sowohl eingestellt als auch entlassen werden. Zwar musste die Einstellung oder Versetzung eines Arztes vom Medizinal­kollegium in St. Petersburg bestätigt werden. Doch der Auswahlprozess fand in der Provinz statt und dort wurde auch die Entscheidung über die Einstellung oder die Versetzung innerhalb des Gouvernements getroffen.307 Somit kann der Grundsatz, dass unter Pauls Regie eine Zentralisierung stattfand, die ­Katharinas Dezentralisierungsbemühungen konterkarierte, für die Medizinal­ verwaltung nicht bestätigt werden.308

305 Fischer, Herrschaft, S. 942; Zitat Oberländer, Rußland, S. 621; siehe auch McGrew, Paul I, S. 217; Seton-Watson, Russian Empire, S. 63; Stadelmann, Die Romanovs, S. 139. 306 Wortman, Images, S. 62 f. 307 PSZ I Bd. 24, Nr. 17.743, S. 291. 308 Zur Bedeutung der Dezentralisierung in ­Katharinas Gesetzgebung siehe Gradovskij, Vysšaja administracija, S. 202. Auf Zentralisierung reduziert die Regierungszeit Pauls I. Eroškin, Istorija, S. 117. Mark Mirskij dagegen betrachtet die Gründung lokaler Medizinal­behörden als einen Schritt zur Dezentralisierung der Verwaltung. Mirskij, Medicina (1996), S. 133; ders., Medicina (2005), S. 180 f.

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Doch gleichzeitig mit der Verlagerung mancher Entscheidungsbefugnisse auf die Gouvernementsebene lassen sich Tendenzen erkennen, die auf den ersten Blick im Widerspruch zur Idee der Verwaltungsreform des Jahres 1797 stehen, so etwa die Entlassungspraxis. Seit Dezember 1796 durften Medizinal­beamte, die in der Provinz tätig waren, nur noch vom Medizinal­kollegium und nicht wie bisher von der lokalen Verwaltung entlassen werden. Die Verlagerung dieser Entscheidungskompetenz betraf neben der medizinischen Versorgung der Zivilbevölkerung auch das Militärmedizinalwesen.309 Allerdings wurde diese Regelung 1797 insofern verändert, als lokale Medizinal­verwaltungen diejenigen Medizinal­beamten entlassen durften, die sich schwere Verbrechen hatten zuschulden kommen lassen oder denen „die Gesellschaft eines ganzen Kreises […] schlechtes Benehmen und Schlamperei [nepriležnost’]“ bescheinigte.310 Bei näherem Hinsehen aber erscheint die Bestimmung des Jahres 1796 nicht als Schritt hin zu einer alle Bereiche umfassenden Zentralisierung. Vielmehr war sie Ausdruck einer zunehmenden Professionalisierung der Mediziner, die sich aus den unspezifischen Strukturen der Provinzverwaltung herauslösen wollten. Nicht ein Zivilgouverneur oder ein Befehlshaber sollte über die Einstellung, Versetzung oder Entlassung von Medizinal­beamten entscheiden, sondern die höchste Medizinal­behörde des Reiches beziehungsweise lokale Medizinal­verwaltungen. Insofern fügt sich diese Entscheidung in die allgemeine Differenzierung der Verwaltung und Herausbildung einer professionellen Medizinal­verwaltung ein, die auch in der Gründung der lokalen Medizinal­behörden ihren Niederschlag fand. In dieser neuen Institution ist ein Instrument zu sehen, mit dem die Staatsgewalt im Bündnis mit einer sich professionalisierenden Ärzteschaft die Qualität der medizinischen Versorgung im ganzen Land zu sichern suchte, indem sie ihr gemeinsames Monopol in diesem Bereich ausbaute. Die 1797 gegründeten Medizinal­verwaltungen existierten in ihrer ursprüng­lichen Form bis 1865, um dann den Gouvernementsregierungen angegliedert zu werden.311 Die einzige Änderung im Medizinal­wesen auf lokaler Ebene vor den Umwälzungen der 1860er Jahre fand erst nach der Choleraepidemie, 1834, statt. Doch diese Reform erweiterte ledig­lich die bestehenden Strukturen, ohne sie grundlegend zu modifizieren.312

309 PSZ I Bd. 24, Nr. 17.660, S. 244; PSZ I Bd. 27, Nr. 20.831, S. 719 f. Dieses Problem wird auch angesprochen im Erlass aus dem Kriegskollegium vom April 1804, in: PSZ I Bd. 28, Nr. 21.279, S. 295. 310 PSZ I Bd. 24, Nr. 17.743, S. 291. 311 Amburger, Behördenorganisation, S. 154. 312 Gemeint ist hier die Einteilung der Gouvernements – zusätz­lich zu Kreisen und nur im Bereich der medizinischen Versorgung – in Bezirke im Jahre 1834, um das Netz der medizinischen Einrichtungen zu verdichten. Siehe dazu Kapitel 4.1.

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Paradigmenwechsel in der zentralen Verwaltung: Gründung der Ministerien Nachdem Ende des achtzehnten Jahrhunderts das Medizinal­wesen in der Provinz grundlegend reorganisiert und zum Zweck einer besseren Kontrolle den neuen Prinzipien der Professionalisierung und der Vereinheit­lichung unterworfen worden war, betrafen die meisten Umstrukturierungen im frühen neunzehnten Jahrhundert die zentrale Ebene der Medizinal­verwaltung.313 Sucht man in der Fachliteratur nach Anhaltspunkten für wechselnde Zuständigkeiten der einzelnen Behörden, stellt man schnell fest, dass sich im ersten Drittel des Jahrhunderts auf zentraler Verwaltungsebene eine ganze Reihe von Organen mit medizinischen Fragen beschäftigte. In diesem Abschnitt sollen die großen Entwicklungslinien in der zentralen Medizinal­verwaltung des frühen neunzehnten Jahrhunderts nachgezeichnet werden. Erneut steht die Frage im Vordergrund, welche Zielvorstellungen die Autoren der Reformen mit den Veränderungen verbanden. Ende des achtzehnten Jahrhunderts sollte die oberste medizinische Behörde des Reiches, das Medizinal­kollegium, den veränderten Anforderungen der Staatsgewalt an das Medizinal­wesen angepasst werden. In einem Bericht aus dem Jahre 1799 merkte der Hauptdirektor des Medizinal­kollegiums, Aleksej Vasil’ev, unter anderem an, dass die Versammlungszeiten des Medizinal­kollegiums – montags und donnerstags von zehn bis zwölf Uhr – seit langem nicht mehr der Fülle der Aufgaben des Kollegiums entsprächen. Gleichzeitig erlaube die Arbeitsbelastung seiner Mitglieder nicht, die Arbeitssitzungen des Kollegiums zu verlängern. Schließ­lich betrügen die Gehälter der Kollegienmitglieder ledig­lich zwischen zwei- und dreihundert Rubel im Jahr. Dieser Zustand, so Vasil’ev, sei von großem Nachteil für das gesamte Medizinal­wesen.314 Um die Situation in der obersten Medizinal­verwaltung zu verbessern, stellte Vasil’ev dem Kaiser ein ausführ­liches Programm von insgesamt 17 Punkten vor, von denen hier die wichtigsten angesprochen werden sollen. Damit die Arbeit des Kollegiums beschleunigt würde, sollten seine Mitglieder keine weiteren Posten annehmen. Dafür aber müssten ihre Gehälter attraktiv werden.315 Vasil’ev begriff die Einträg­lichkeit der Posten in der staat­lichen Verwaltung als einen Schlüssel zu deren Effizienz. Die Aufgaben der Medizinal­verwaltung waren im Vergleich zu den 1770er Jahren derart angewachsen, dass die Mitglieder des Medizinal­ kollegiums ihrer Arbeit in der höchsten staat­lichen Medizinal­behörde nicht mehr sinnvoll nachgehen konnten, wenn sie nebenbei eine weitere Tätigkeit ausübten und 313 Einen kursorischen Überblick über die einzelnen Veränderungen auf der zentralen Verwaltungs­ ebene des Medizinal­wesens bietet Chanykov, Očerk, S. 75 – 82. 314 Kaiser­lich bestätigter Bericht des Hauptdirektors des Medizinal­kollegiums, Aleksej Vasil’ev, vom 12. Februar 1799, in: PSZ I Bd. 25, Nr. 18.854, S. 555 – 562, hier S. 556. 315 PSZ I Bd. 25, Nr. 18.854, S. 556.

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sich nur zwei Mal in der Woche im Plenum trafen. Die Beamten konnten nur dann auf eine Nebentätigkeit verzichten, wenn ihnen das Gehalt für den Posten im Kollegium eine standesgemäße Existenz ermög­lichte. Ein Jahresgehalt von zweihundert Rubel entsprach 1799 dem Einkommen eines Unterarztes zweiter Klasse im Militär 316 und konnte nicht den Ansprüchen eines höheren Beamten genügen. Eine Steigerung der Gehälter erschien also als ein absolut notwendiger Schritt. Gleichzeitig sollten die Mitglieder des Medizinal­kollegiums häufiger tagen, um im Plenum zu diskutieren und Entscheidungen zu treffen. Zu den bisherigen Versammlungstagen sollten zwei weitere hinzukommen.317 Somit fand im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert eine Professionalisierung der Beamten in zweifacher Hinsicht statt: Zum einen mussten Medizinal­ beamte über bestimmte Qualifikationen, näm­lich über eine medizinische Ausbildung, verfügen, zum anderen erschien es notwendig, die Verwaltungstätigkeit auf zentraler Ebene zur Hauptbeschäftigung der jeweiligen Medizinal­beamten zu machen. Es zeigten sich also bereits um die Jahrhundertwende erste Ansätze eines Berufsbeamtentums. Des Weiteren wollte Vasil’ev die personelle Ausstattung des Medizinal­kollegiums verbessert sehen. Notwendig wurde diese Maßnahme in seinen Augen dadurch, dass sich das Rus­sische Reich vergrößert und seine Truppen vermehrt hätten. Hinzu kam die Gründung der Medizinal­behörden in den Gouvernementsstädten, die eine Erhöhung der personellen Kapazitäten in der Verwaltung des Medizinal­wesens erforder­ lich machte. Die Medizinal­verwaltung sei langsam und unübersicht­lich geworden, was das Medizinal­kollegium in eine prekäre Lage gebracht habe. Um diesem Missstand Abhilfe zu schaffen, schlug Vasil’ev vor, einen leitenden Kanzlisten, einen Sekretär und einen Protokollanten einzustellen. Darüber hinaus sollte der Etat ein wenig vergrößert werden, um weitere Stellen zu schaffen.318 Die vorgeschlagenen Mittel zum Ausbau der Medizinal­verwaltung bildeten kein Spezifikum des medizinischen Bereichs. Das ausgehende achtzehnte und frühe neunzehnte Jahrhundert zeichnete sich im Allgemeinen durch einen deut­lichen Anstieg der Beamtenzahlen in allen Ressorts aus.319 Auch eine bessere finanzielle Ausstattung des Kollegiums und der ihm unterstehenden Institutionen sowie eine höhere Transparenz seiner Finanzverwaltung sollten die Arbeit der obersten Medizinal­verwaltung verbessern. Der Etat des Medizinal­kollegiums aus dem Jahr 1786, der 114.000 Rubel betrug, wurde 1799 auf 215.000 Rubel erhöht und damit beinahe verdoppelt.320 Dieser Umstand

316 Müller-Dietz, Militärarzt, S. 78. 317 PSZ I Bd. 25, Nr. 18.854, S. 556. Zum Effizienzgedanken in der Verwaltung siehe Gradovskij, Vysšaja administracija, S. 257 ff. 318 PSZ I Bd. 25, Nr. 18.854, S. 557. 319 Šepelev, Činovnyj mir, S. 113. 320 PSZ I Bd. 25, Nr. 18.854, S. 556, 561. Zum Medizinal­kollegium gehörten: das St. Petersburger Stadtphysikat, das Medizinal­kontor in Moskau als Zweigstelle des Kollegiums, zwei Medizinisch-Chirur­gische

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zeugt von der großen Bedeutung, die der Medizinal­verwaltung von der Staatsmacht beigemessen wurde. Nicht nur war Paul I. bereit, für die Versorgung des Landes mit Ärzten Geld aufzuwenden. Auch kostspielige strukturelle Veränderungen in der Verwaltung wurden einer Unterstützung würdig befunden. Bemerkenswert an den beiden vorgestellten Reformen ist, dass sowohl die Umstrukturierung der lokalen Medizinal­verwaltung im Jahre 1797 als auch die Pläne zur Reorganisation der zentralen Verwaltungsebene von der Medizinal­verwaltung selbst herausgearbeitet wurden und sich die Rolle des Monarchen in der Gesetzgebung verändert hatte. Während der Anteil K ­ atharinas II. an der Gestaltung der medizinischen Versorgung der Provinz im Rahmen der Gouvernementsreform von 1775 so groß war, dass man zu Recht vom Reformwerk der Kaiserin sprechen kann,321 ist der Einfluss Pauls I. auf den Inhalt der Reformen von 1797 und der darauffolgenden strukturellen Veränderungen der Medizinal­verwaltung weniger deut­lich zu erkennen. Zwei Jahrzehnte nach der Gouvernementsreform waren interne Kenntnisse der Spezifika dieses Verwaltungszweigs notwendig, um adäquate Antworten auf neue Herausforderungen zu finden. Die erste Reform, die tiefgreifende strukturelle Veränderungen für die oberste Ebene der Medizinal­verwaltung brachte, war die Gründung der Ministerien am 8. September 1802.322 Das Medizinal­kollegium wurde zum Bestandteil des Innenministeriums. Die Übertragung der Medizinal­verwaltung in den Verantwortungsbereich des Innenministers entsprach den im Gründungsmanifest festgehaltenen Zuständigkeiten des Ministeriums: „Das Amt des Innenministers verpf­lichtet diesen, für das allgemeine Wohlergehen des Volkes, für Ruhe, Frieden und die gute Ordnung [blagoustrojstvo] des ganzen Reiches Sorge zu tragen. […] Seiner Leitung untersteht auch die Errichtung und Instandhaltung aller öffent­lichen Gebäude.“ 323

Akademien, vier Militärhospitäler, vier Fabriken für medizinische Geräte, das St. Petersburger Apothekenmagazin, neun staat­liche Apotheken und vier botanische Gärten. Chanykov, Očerk, S. 65. 321 So auch Kamenskij, Ot Petra do Pavla, S. 331; Kločkov, Očerki, S. 407. Dies bedeutet aber nicht, dass ­Katharina II. auf Konsultationen verzichtete oder keine Aufgaben an Fachleute delegierte. In die Umgestaltung des Medizinal­wesens hatte sie vor allem Baron Ivan Čerkasov einbezogen, der maßgeb­lich an der Gründung des Medizinal­kollegiums beteiligt war. Siehe Mirskij, Medicina (1996), S. 124 f. Zu den wichtigsten Mitarbeitern an der Gouvernementsreform des Jahres 1775 gehörte auch Jacob Johann Sievers. Siehe Blum, Staatsmann Bd. 2, S. 85 – 112. 322 Zur Entstehung dieser Reform und zu internen Verhandlungen in ihrem Vorfeld siehe Safonov, Problema, S. 203 – 209. Einen kursorischen Überblick über die Funktionsweise der Ministerien mit Ein­blicken in ihren Alltag bietet Šepelev, Činovnyj mir, S. 27 – 55. 323 Manifest zur Errichtung der Ministerien vom 8. September 1802, in: PSZ I Bd. 27, Nr. 20.406, S. 243 – 248, hier S. 244 f., Zitat S. 244.

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Das „allgemeine Wohlergehen des Volkes“ beinhaltete unmissverständ­lich auch dessen leib­liches Wohl. Zur „guten Ordnung“ gehörte unter anderem die soziale Fürsorge.324 In der „Errichtung und Instandhaltung aller öffent­lichen Gebäude“ war die Verantwortung für Stadtkrankenhäuser mit inbegriffen. Seit der Gründung der Ministerien war kein Jahr vergangen, als die zentrale Medizinal­verwaltung erneut von einer Umstrukturierung betroffen war, diesmal ausgelöst durch eine Neuordnung des Innenministeriums. Die Begründung für diese weitere Reorganisation des Medizinal­wesens liefert der Bericht des Innenministers Viktor Kočubej. Darin hält Kočubej fest, dass die Aufgaben der Medizinal­verwaltung im Wesent­lichen zwei Bereiche umfassen: die Wissenschaft und die Verwaltung. Die bisherige Behandlung beider Sphären durch ein und dieselben Personen habe nach Ansicht des Ministers zu folgenden Problemen geführt: Erstens hielten laufende Verwaltungsgeschäfte die Mitglieder des Medizinal­kollegiums von „wichtigen Aufgaben“ ab – gemeint waren inhalt­liche und konzeptionelle fachmedizinische Entscheidungen. Zweitens erschwerten die großen Unterschiede zwischen den beiden Aufgabenbereichen des Kollegiums die Auswahl von geeignetem Personal. Denn die Mitglieder des Medizinal­kollegiums müssten sowohl herausragende Kenntnisse auf dem Gebiet der medizinischen Wissenschaft aufweisen als auch über Erfahrungen in Wirtschafts- und Verwaltungsfragen verfügen.325 Diese Ausführungen waren nur die Vorrede zur eigent­lichen Botschaft des Erlasses vom Dezember 1803, der Auflösung des Medizinal­kollegiums. Den beiden zentralen Kritikpunkten Kočubejs entsprechend, wurde die Medizinal­verwaltung innerhalb des Innenministeriums reorganisiert, das seinerseits zur gleichen Zeit in drei Expeditionen eingeteilt wurde. Sämt­liche Angelegenheiten, mit denen sich das Medizinal­kollegium befasst hatte, sollten von der Expedition der Reichsmedizinalbehörde (Ėkspedicija Gosudarstvennoj Medicinskoj Upravy) besorgt werden. Zur Verbesserung des Medizinal­wesens – gemeint war seine fachmedizinische Seite – wurde ein Medizinal­rat geschaffen. Die Belange der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge wurden der Zweiten Expedition übergeben, denn sie gehörten eher in den Bereich der Policey als zur eigent­lichen Medizinal­verwaltung.326 So war aus einer eigenständigen Behörde, die eine „besondere Aufsicht und Protektion“ ­Katharinas II. genoss,327 nach knapp vierzig Jahren eine Unterabteilung des Innenministeriums geworden. Allerdings bedeutete diese Veränderung keine

324 Über Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge musste der Innenminister von Gouverneuren regelmäßig unterrichtet werden, siehe PSZ I Bd. 27, Nr. 20.406, S. 245. 325 Kaiser­licher Erlass an den Senat vom 31. Dezember 1803, in: PSZ I Bd. 27, Nr. 21.105, S. 1102 – 1114, hier S. 1108. 326 Ebd., S. 1102 f. 327 Kaiser­licher Erlass an den Senat vom 12. November 1763, in: PSZ I Bd. 16, Nr. 11.964, S. 413.

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Degradierung der Medizinal­verwaltung. Sie hatte ledig­lich ihren Charakter verändert. Im frühen neunzehnten Jahrhundert hatten medizinische Angelegenheiten eben nicht mehr den Sonderstatus, den sie noch in der Regierungszeit Pauls I. genossen hatten. Die medizinische Versorgung des Landes war zu einem regulären Verwaltungsbereich geworden und wurde auf zentraler Ebene folgerichtig in die allgemeine Adminis­ tration des Reiches integriert. Gleichzeitig erfuhr die zentrale Medizinal­verwaltung zum ersten Mal eine Ausdifferenzierung. Während im achtzehnten Jahrhundert das Medizinal­kollegium für sämt­liche Fragen des Medizinal­wesens zuständig war, wurden 1803 die Verwaltung des Medizinal­wesens und die Wissenschaft voneinander getrennt. Die zunehmende Vielfalt an Aufgaben ließ es nicht mehr sinnvoll erscheinen, sie ungeteilt in der Zuständigkeit einer einzigen Behörde zu belassen. Die Umstrukturierung der zentralen Medizinal­verwaltung zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts war darüber hinaus Ausdruck eines Paradigmenwechsels in der gesamten Bürokratie des Rus­sischen Reiches. Auch wenn sich diese Entwicklung bereits früher angebahnt hatte und im Bereich der Medizinal­verwaltung nicht zuletzt in der Struktur der lokalen Medizinal­behörden zum Vorschein kam, nahm man unter Alexander I. endgültig Abschied vom kollegialen Prinzip.328 Die Aufteilung der Medizinal­verwaltung in zwei Bereiche und ihre Verankerung in der Hierarchie des Innenministeriums sollten zwar zur Lösung mancher Probleme beitragen, schufen aber gleichzeitig neue Schwierigkeiten und machten bestehende Probleme evident. Kurze Zeit nach der Auflösung des Medizinal­kollegiums, im Sommer 1805, erfuhr die Medizinal­verwaltung daher eine weitere tiefgreifende Veränderung. In seinem Vorschlag zur Reorganisation der medizinischen Versorgung des Heeres und der Flotte berührte der Innenminister Kočubej einige grundsätz­liche Punkte des inneren Staatsaufbaus im Allgemeinen und der Medizinal­verwaltung im Besonderen: „Die Erfahrung und die Beobachtungen der in politischen Wissenschaften erfahrensten Menschen ergeben unbestreitbar, dass die Art der Verwaltung, in der verschiedene Gewalten [vlasti] miteinander kollidieren und dadurch in ihrer Tätigkeit eingeschränkt werden, in sich den Keim des Missbrauchs birgt, der allmäh­lich zu ihrer [der Verwaltung, D. S.] Zerstörung führt.“ 329

328 Das von Paul I. ursprüng­lich vorgesehene Inspektorenamt sollte die Macht bei einer Person und nicht bei einer Behörde konzentrieren. Kločkov attestiert Paul I. eine Abneigung gegen das kollegiale Prinzip. Kločkov, Očerki, S. 114 f. Siehe dazu Raeff, Imperial Russia, S. 82; Gradovskij, Vysšaja administracija, S. 200 – 284. Den Beginn dieses Prozesses verortet Kamenskij bereits in der Regierungszeit ­Katharinas II. Kamenskij, Ot Petra do Pavla, S. 435 ff. Zum kollegialen und zum ministerialen Prinzip allgemein siehe Yaney, Systematization, S. 85 – 90, 193 – 220. 329 Kaiser­lich bestätigter Bericht des Innenministers, Viktor Kočubej, vom 4. August 1805, in: PSZ I Bd. 28, Nr. 21.866, S. 1153 – 1165, hier S. 1153.

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Das Ziel der Medizinal­verwaltung bestehe in der „Bewahrung der mensch­lichen Gesundheit. Dieses Gebiet umfasst sowohl die Vorbeugung als auch die Behandlung von Krankheiten.“ „[D]ie Einheit des Ziels verlangt nach der Einheit der steuernden Gewalt“, schlussfolgerte der Innenminister. Und genau diese Einheit sei im Rus­sischen Reich in vielerlei Hinsicht gestört: So unterstehe die Finanzierung der medizinischen Versorgung des Heeres und der Marine der Aufsicht des Innenministers. Die eigent­liche Organisation der medizinischen Versorgung obliege aber der militärischen Leitung. Für die Verwaltung dieser Angelegenheiten seien lokale Medizinal­behörden zuständig, die wiederum in keiner Weise von der Militärverwaltung abhingen, sondern dem Innenministerium untergeordnet seien. Das Innenministerium entscheide allein, ohne Rücksprache mit der militärischen Leitung, über die Einstellung und Versetzung von Medizinal­beamten. Letztere träten über die Köpfe der militärischen Leitung hinweg mit Medizinal­behörden in Kontakt. Die Mittel zur Finanzierung der im Militär tätigen Medizinal­beamten vergebe das Innenministerium an Militärdepartements.330 Diese unklare Kompetenzverteilung ging nach Meinung des Innenministers noch weiter. Die auf Gouvernementsebene bestehenden Medizinal­behörden seien für die Organisation der medizinischen Versorgung sowohl im zivilen Bereich als auch im Militär zuständig. Selbst bildeten sie aber – seit der Auflösung des Medizinal­ kollegiums – einen Teil der zivilen Gouvernementsverwaltung. Von den Einrichtungen, die den Medizinal­behörden unterstehen, würden einige aus dem Budget der zivilen Medizinal­verwaltung, andere aber aus Mitteln des Militärs finanziert. So besäßen einige Hospitäler und Apotheken, die vom Militärdepartement unterhalten werden, einen festen Etat. Andere hätten gar keinen Etat und würden aus Mitteln finanziert, die durch die unvollständige Besetzung der Stellen mit Medizinal­beamten übrig bleiben. Wiederum andere würden aus dem Budget der Medizinal­verwaltung finanziert. Die Versorgung aller Einrichtungen mit medizinischem Gerät und sonstigen Bedarfsmaterialien obliege allein der obersten Medizinal­verwaltung.331 In einer Anmerkung wurde das absurd anmutende Finanzierungssystem im Detail ausgeführt: „Die Haupthospitäler der Landstreitkräfte in St. Petersburg und in Moskau, die Haupthospitäler der Marine in St. Petersburg und in Kronstadt zahlen ihren Angestellten Löhne aus dem Medizinal­budget, alle anderen Ausgaben werden aus den Mitteln des Militärs bestritten. Andere Hospitäler, sowohl die der Marine als auch jene der Landstreitkräfte, etatmäßige und außeretatmäßige, werden von den Militärdepartements mit allem versorgt. Außeretatmäßig sind die Apotheken in Vyborg, Fredrikshamn, Riga und Reval. Alle Feldapotheken werden aus dem Medizinal­budget finanziert, bis auf die Apotheke in

330 Ebd., S. 1153 f. 331 Ebd., S. 1154.

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Grodno, deren Angestellte ihren Lohn vom Militärdepartement und invalidy [das heißt aus dem Dienst ausgeschiedene Mitarbeiter, D. S.] vom Medizinal­departement bekommen, und die Apotheke in Orenburg, die teilweise aus den Einnahmen des Medizinressorts, teilweise aus den Einnahmen des Gouvernements finanziert wird.“ 332

Deut­licher hätte man das Durcheinander im Verwaltungsalltag wohl kaum schildern können. Diese teilweise widersinnige Verteilung von Aufgaben und Verantwortung machte der Innenminister für offensicht­liche Schwächten in der Funktionsfähigkeit der Verwaltung verantwort­lich: Meinungsverschiedenheiten, Ungehorsam, Langsamkeit und Unübersicht­lichkeit. Häufig kosteten diese Mängel in der Medizinal­ verwaltung die Kranken das Leben.333 In den Augen des Innenministers litt die Medizinal­verwaltung des Rus­sischen Reiches vor allem darunter, dass es keine klare Trennung zwischen den einzelnen Aufgabenbereichen in Bezug sowohl auf Hierarchien als auch auf die Finanzierung gab. Als Konsequenz wurde 1805 die Verwaltung der zivilen medizinischen Angelegenheiten von jener der militärischen getrennt. Die Leitung der Medizinal­verwaltung des Heeres, der Lazarette für Landstreitkräfte und aller anderen Einrichtungen, die dem Kriegskollegium unterstanden, wurde dem Minister für Landstreitkräfte übertragen. Geschäftsführer sollte der Generalstabsdoktor sein, dem ein Generalstabsarzt als Helfer zur Seite gestellt wurde.334 Wenige Jahre später wurde der Generalstabsdoktor durch eine Medizinal­expedition im Kriegsministerium ersetzt, die aus einem Direktor und vier Beratern bestand.335 Im Zuge einer erneuten Reorganisation des Kriegsministeriums im Jahre 1812 wurde dort ein Medizinal­departement eingerichtet, das wiederum die Medizinal­expedition ablöste.336

332 Ebd., S. 1154, Anm. 1. 333 Ebd., S. 1154. Dieses Urteil fand auch Eingang in die historische Forschung. Siehe etwa Gradovskij, Vysšaja administracija, S. 279. 334 Chanykov, Očerk, S. 76. PSZ I Bd. 28, Nr. 21.866, S. 1158. Die Medizinal­verwaltung der Flotte wird dem Marineminister unterstellt, unter dessen Befehl ebenfalls ein Generalstabsdoktor und ein Generalstabsarzt arbeiten. Ebd., S. 1159. 335 Kaiser­licher Erlass vom 26. Juli 1808, in: PSZ I Bd. 30, Nr. 23.183, S. 459 und Budko; Šabunin, Doktory, S. 83. Im zivilen Medizinal­wesen wurde das Amt des Generalstabsdoktors beibehalten. Seine Kompetenzen, die praktische Medizin, Gerichts- und Polizeimedizin umfassten, wurden 1812 in einem Erlass an den Polizeiminister festgehalten. Dem Generalstabsdoktor unterstanden die Physikate der beiden Hauptstädte, Kreisärzte und frei praktizierende Mediziner, freie Apotheken und solche der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge, Stadtkrankenhäuser, Hospitäler der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge, Heilquellenhospitäler, private Krankenhäuser, Impfkomitees und die medizinische Leitung der Quarantänen. Siehe das kaiser­lich bestätigte Reglement des zivilen Generalstabsdoktors vom 14. März 1812, in: PSZ I Bd. 32, Nr. 25.037, S. 230 – 231. 336 Kaiser­lich bestätigte Einrichtung des Kriegsministeriums vom 27. Januar 1812, in: PSZ I Bd. 32, Nr. 23.971, S. 23 – 39, hier S. 32 f. Siehe auch Chanykov, Očerk, S. 77.

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Diese Umgestaltung der Medizinal­verwaltung offenbart einen Paradigmenwechsel in der hohen Bürokratie des frühen neunzehnten Jahrhunderts. Die Tendenz zur Vereinheit­lichung der obersten Staatsverwaltung ließ die Medizinal­verwaltung in der Form, in der sie im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert bestand, als eine Zusammenfassung dreier voneinander weitgehend getrennter Bereiche erscheinen, die vor dem Hintergrund der veränderten Vorstellungen von einer effizienten Verwaltung als wenig zusammenhängend gelten mussten: die medizinische Wissenschaft, die medizinische Versorgung der Zivilbevölkerung und das Medizinal­wesen des Militärs. Da diese drei Bereiche unterschied­liche Interessengruppen bedienten und deswegen nach unterschied­lichen Prinzipien funktionierten, musste eine Vereinfachung der Dienstwege auf ihre Trennung hinauslaufen.337 Die Tendenz zur Auffächerung von Kompetenzen brachte es mit sich, dass die oberste Medizinal­verwaltung in den ersten zwei Dezennien des neunzehnten Jahrhunderts wiederholt umgestaltet wurde. Hinzu kam, dass Ministerien als eine neue Einrichtung in den ersten Jahrzehnten ihrer Existenz häufig Reorganisationen erleben mussten, die auch das Medizinal­wesen betrafen. Nachdem die Medizinal­ verwaltung des Heeres und der Marine 1805 von der zivilen Medizinal­verwaltung getrennt worden waren, löste die Gründung des Polizeiministeriums im Jahre 1811 eine erneute Umstrukturierung aus. Das neue Ministerium erhielt ein Medizinal­ departement sowie einen Medizinal­rat und übernahm damit jenen Teil der Medizinal­ verwaltung, der bis dahin dem Innenministerium unterstanden hatte.338 1810 bekam das neugegründete Ministerium für Volksaufklärung die Aufsicht über medizinische Bildungseinrichtungen und denjenigen Teil der Medizinal­verwaltung zugeteilt, der sich mit der Wissenschaft befasste.339 Die zahlreichen Änderungen in den Zuständigkeitsbereichen einzelner Behörden, die zum Teil nach einiger Zeit wieder rückgängig gemacht wurden, sollen im Folgenden in einer Tabelle veranschau­licht werden:

337 Joachim Stahnke sieht diese Entwicklung im Keim bereits 1775 angelegt, erläutert allerdings nicht, in welcher Form sie sich in den Ämtern für gesellschaft­liche Fürsorge widerspiegelte. Damit bleibt seine Feststellung nicht nachvollziehbar. Siehe Stahnke, Hebammen-Ausbildung, S. 37 f. 338 Siehe das Gründungsstatut der Ministerien vom 25. Juni 1811, in: PSZ I Bd. 31, Nr. 24.686, S. 686 – 756, hier S. 721 – 727. 339 Gründungserlass für das Ministerium für geist­liche Angelegenheiten und Volksaufklärung vom 24. Oktober 1817, in: PSZ I Bd. 34, Nr. 27.106, S. 814 – 834, hier S. 820 f.

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Die neue Medizinal­politik

Zentrale Medizinal­verwaltung im Rus­sischen Reich von 1763 bis 1822340 Behörde

1763

Medizinal­kollegium Gründung Innenministerium

1802 Eingliederung ins Innenministerium Bei der Gründung: Übernahme des Medizinal­kollegiums

1803

Aufteilung des Medizinalkollegiums in die Expedition der Reichsmedizinalbehörde und den Medizinal­rat

1805

Zivile Medizinal­ verwaltung

Kriegsministerium a Marineministerium Ministerium für Volksaufklärung b Polizeiministerium

a  Bis 1815: Ministerium der Landstreitkräfte. Amburger, Behördenorganisation, S. 295. b  Von 1817 bis 1824: Ministerium für geist­liche Angelegenheiten und Volksaufklärung. Amburger, Behördenorganisation, S. 121.

Versucht man, in der geschilderten Entwicklung der obersten Medizinal­verwaltung des Militärressorts ein Muster zu erkennen, ergibt sich eine starke Auffächerung von Zuständigkeiten innerhalb von sieben Jahren. Das Amt des Generalstabsdoktors, dem ledig­lich ein Generalstabsarzt zur Seite stand, wurde wie bereits erwähnt 1808 durch eine fünfköpfige Abteilung ersetzt. Diese wiederum wurde vier Jahre später durch ein ganzes Departement abgelöst, um die wachsende Fülle an Aufgaben und die damit verbundene Zunahme des Schriftverkehrs zu bewältigen. Die Schaffung von Medizinal­expeditionen für den zivilen und den militärischen Staatsdienst bedeutete zugleich eine weitere Differenzierung innerhalb des Verwaltungspersonals, die zwei Arten von Beamten immer stärker voneinander trennte: Die höheren Beamten – in der Medizinal­verwaltung waren es vor allem Mitglieder der Medizinal­räte und Generalstabsärzte – waren nunmehr von der Verwaltungsroutine befreit und sollten sich in erster Linie konzeptionellen Aufgaben und der Kontrolle 340 Nach Amburger, Behördenorganisation, S. 150 ff. Siehe dazu auch folgende Akten: Kaiser­lich bestätigte Verteilung staat­licher Angelegenheiten auf die Ministerien vom 17. August 1810, in: PSZ I Bd. 28 Bd. 31, Nr. 24.326, S. 323 – 328; Einrichtung des Polizeiministeriums, o. D. [1811], in: PSZ I Bd. 31, Nr. 24.687, S. 719 – 728; Kaiser­licher Erlass an den Senat vom 30. Mai 1822, in: PSZ I Bd. 38, Nr. 29.057, S. 218.

Medizinal­verwaltung um die Jahrhundertwende

1810

Übergabe des Medizinal­rats an das Ministerium für Volksaufklärung

1811

1819

Übergabe der Übernahme der Medizinal­verwaltung an Medizinal­verwaltung das Polizeiministerium vom Polizeiministerium; Gründung eines Medizinal­rats

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1822

Übernahme des Medizinal­rats vom Ministerium für Volksaufklärung; Verschmelzung beider Medizinal­räte

Übernahme der Medizinal­verwaltung für das eigene Ressort Übernahme der Medizinal­verwaltung für das eigene Ressort Übernahme des Medizinal­rats vom Innenministerium Bei der Gründung: Übernahme der Medizinal­verwaltung vom Innenministerium, Schaffung eines Medizinal­departements und eines Medizinalrats

Übergabe des Medizinal­rats an das Innenministerium

Bei der Auflösung: Übergabe der Medizi­ nal­verwaltung an das Innenministerium

der Verwaltung widmen; die stetig wachsende mittlere Beamtenschaft übernahm dagegen die eigent­lichen Verwaltungsaufgaben, die vor allem in der Kommunikation mit anderen Stellen bestanden. Doch die Umsetzung neuer Verwaltungsprinzipien beseitigte bei weitem nicht alle Probleme, die Innenminister Kočubej 1805 angesprochen hatte. Manche Ungereimtheiten blieben weiterhin bestehen. Die auf den ersten Blick klare Trennung zwischen dem Bereich der medizinischen Ausbildung, der ab 1810 dem Ministerium für Volksaufklärung unterstand, und der Medizinal­verwaltung, die 1811 in die Zuständigkeit des neugegründeten Polizeiministeriums übergegangen war, erweist sich bei näherem Hinsehen als weniger konsequent. So blieb etwa die Apothekerschule dem Polizeiministerium unterstellt, weil sie aus den Einnahmen des Medizinal­departements finanziert wurde und ihre Schüler – Kinder von ausgedienten und aktiven Militärangehörigen niedriger Ränge – in die Zuständigkeit der Medizinal­verwaltung fielen.341 Zwei Jahre nach der Trennung der zivilen Medizinal­verwaltung von jener des Militärs herrschte in der hohen Bürokratie Unzufriedenheit mit der Lage im Medizinal­wesen. 1807 legte der Innenminister dem Kaiser einen Bericht vor, der

341 Kaiser­licher Erlass an den Minister für Volksaufklärung vom 22. September 1811, in: PSZ I Bd. 31, Nr. 24.787, S. 851.

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vermut­lich von Medizinal­beamten vorbereitet worden war. Darin wurde der allgemein bekannte Missstand angeprangert, dass sowohl in der Hauptstadt des R ­ eiches als auch an seiner Peripherie Personen als Ärzte praktizierten, die dazu nicht berechtigt waren. Die staat­liche Medizinal­verwaltung unternehme nichts, um dieses Übel zu bekämpfen. In Zeiten, als das Medizinal­kollegium existierte, habe es zwar auch Missstände gegeben, allerdings in viel geringerem Maße, so der Bericht. Die Gründe dafür lägen in der Abschaffung der Behörde, die das gesamte Medizinal­wesen beaufsichtigt habe. Das Medizinal­kollegium habe als einzige Institution die Kompetenz, Ärzte zuzulassen. Außerdem sei die Öffent­lichkeit (publika) durch Zeitungen über jeden neu zugelassenen Arzt in Kenntnis gesetzt worden. Seit die Verwaltung des militärischen Medizinal­wesens dem Kriegs- und dem Marineministerium übertragen wurde, stellten sie ohne Rücksprache mit dem Innenministerium auch ausländische Ärzte ein. Die Missbräuche hätten ebenso zugenommen, seit die Universitäten das Recht bekommen hatten, Ärzte ohne Rücksprache mit der Hauptmedizinalverwaltung des Landes zuzulassen.342 Das katastrophale Bild, das dieser Bericht zeichnet, lässt sich einfach auf den Punkt bringen: Die oberste Medizinal­verwaltung wurde dem seit Beginn des neunzehnten Jahrhunderts an sich selbst gestellten Anspruch, das sich immer stärker ausdifferenzierende Medizinal­wesen zu kontrollieren, nicht gerecht, weil aufgrund der zahlreichen Umstrukturierungen die rechte Hand nicht mehr wusste, was die linke tat. Statt eine effizientere Kontrolle der einzelnen Bereiche zu erreichen, sah sich die Medizinal­bürokratie immer weniger in der Lage, die Anwendung selbstkreierter Normen zu überwachen. Mit der Aufteilung des Medizinal­kollegiums in den Medizinal­rat und die Expedition der Reichsmedizinalbehörde im Jahre 1803 hatte die Medizinal­verwaltung ihr zentrales Organ eingebüßt und war zum Bestandteil der Zivil- und der Militärverwaltung geworden. Die Ausdifferenzierung der Medizinal­verwaltung ging nach Ansicht des Innenministers Kočubej auf Kosten der Übersicht­lichkeit. Während man die Trennung der zivilen und der militärischen Medizinal­verwaltung damit begründet hatte, dass die Konzentration aller Entscheidungsabläufe bei einer einzigen Behörde zu deren Überforderung führe und Entscheidungen verlangsame, wurde nun das Fehlen einer alles überblickenden Instanz bemängelt. Womög­lich gingen hier auch die Interessen der allgemeinen Staatsverwaltung und der Mediziner auseinander. Die Aufteilung der zentralen Medizinal­verwaltung in einen zivilen und einen militärischen Bereich war Ausdruck zweier dominierender Prozesse in der Verwaltung des Rus­sischen Reiches, die im Medizinal­wesen zu Beginn des neunzehnten

342 Kaiser­lich bestätigter Bericht des Innenministers, Viktor Kočubej, vom 20. Juni 1807, in: PSZ I Bd. 29, Nr. 22.539, S. 1198 – 1201, hier S. 1199 f.

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Jahrhunderts in Konkurrenz zueinander traten: Streben nach Kontrolle einerseits und Professionalisierung, die mit einer immer stärkeren Differenzierung der Verwaltung einherging, andererseits. Während die Reform des Jahres 1797 die lokale Medizinal­verwaltung dem ersteren Prinzip unterworfen hatte – wohlgemerkt bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Professionalisierungstendenzen –, machte die Gründung der Ministerien auf der zentralen Verwaltungsebene die Differenzierung zum dominierenden Prinzip. Diese ging auf Kosten der Übersicht­lichkeit und der Kontrolle. Nun waren Brücken vonnöten, um eine Verbindung zwischen den getrennten Bereichen zu schaffen. Um einen Überblick über das legal praktizierende medizi­ nische Personal zu behalten, schlug der Innenminister vor, einen Kalender zu erstellen, der die Namen aller zugelassenen Ärzte auflisten würde, unabhängig davon, welchem Departement sie unterstanden. Dieser alphabetische Kalender sollte an alle Apotheken verkauft werden. Apotheken, die Medikamente nach Rezepten von nicht zugelassenen Ärzten ausgaben, würden künftig zur Verantwortung gezogen. Über Neuzulassungen würden Zeitungen und Ergänzungen zum Kalender informieren.343 Wie schon bei der Einrichtung von lokalen Medizinal­behörden war den Beteiligten die Kompetenzverteilung zwischen den einzelnen Institutionen auch nach der Reorganisation der obersten Medizinal­verwaltung nicht immer klar. Ein Briefwechsel aus dem Jahr 1804 soll verdeut­lichen, welchen Weg manche Anfragen aus der Provinz in den Petersburger Behörden nahmen: Ein Gutsbesitzer wandte sich – an der lokalen Medizinal- und an der Gouvernementsverwaltung vorbei – an die Expedition der Reichsmedizinalbehörde mit der Bitte, in der Stadt Izjum im Gouvernement Sloboda-Ukraine ein Krankenhaus einzurichten.344 Die Dritte Expedition des Innenministeriums leitete das Anliegen an die Zweite Expedition weiter, die für die Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge zuständig war. Einige Zeit später landete die Akte erneut in der Dritten Expedition. Diesmal übergab man den Vorgang an die Zweite Expedition mit dem Hinweis, die Medizinal­verwaltung habe nichts mit dem Bau von Krankenhäusern zu tun, sondern befasse sich nur mit medizinischen Angelegenheiten. Die Einrichtung von Krankenhäusern und ihr Unterhalt fielen in die Zuständigkeit der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge, die der Zweiten Expedition unterstünden.345 Der Briefwechsel zwischen den beiden Expeditionen des Innenministeriums dauerte zwei Monate, ohne dass der Inhalt der Petition aus Izjum auch nur einmal zur Sprache gekommen wäre. 343 Ebd., S. 1200. 344 Schreiben Nikolaj Šidlovskijs an das Innenministerium vom 18. Februar 1804. RGIA f. 1287, op. 11, d. 202, l. 2 – 3. 345 Schreiben der Dritten Expedition des Innenministeriums an die Zweite Expedition vom 30. April 1804. RGIA f. 1287, op. 11, d. 202, l. 4.

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Die Regierungszeit Alexanders I. steht im Allgemeinen für zahlreiche Veränderungen im Staatsapparat.346 Auch im Bereich des Medizinal­wesens ist seine Herrschaft durch wiederholte massive Eingriffe in die Struktur der zentralen Verwaltung gekennzeichnet. Doch während sein Vorgänger auf dem Kaiserthron darum bemüht war, die lokale Verwaltungsebene stärker an die Zentrale anzubinden, fehlt den Reformen im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts der Gedanke an eine Verzahnung der beiden Ebenen. Nicht nur Kompetenzstreitigkeiten,347 sondern zu einem großen Teil auch die Unkenntnis der genauen Kompetenzabgrenzungen sprachen dem Streben nach einer effizienten Verwaltung Hohn. Das sprichwört­lich gewordene Wuchern bürokratischer Strukturen in der nikolaitischen Epoche betraf in den ersten Regierungsjahren Nikolaus’ I. nicht das Medizinal­ wesen.348 Doch auch diesem Kaiser erschien die medizinische Versorgung im Rus­sischen Reich verbesserungsbedürftig zu sein, und so gründete er 1828 ein Komitee, das sich diesem Problem widmen sollte.349 Im Jahre 1836 erfolgte eine weitere Reorganisation in der obersten Medizinal­verwaltung. Den Kern des Reformvorschlags, der von einem Sonderkomitee ausgearbeitet wurde, bildete – wie schon oft zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts – die Überlegung, die medizinische Fachverwaltung von der „wirtschaft­ lichen“ Verwaltung dieses Bereichs besser zu trennen. Nach der Umgestaltung sollte ein neues Medizinal­departement unter der Leitung des Generalstabsdoktors für medizinisches Personal und seine Ausbildung, Medizinal­policey und Gerichtsmedizin zuständig sein. Ein Departement für medizinische Vorräte (Departament vračebnych zagotovlenij) war für die Versorgung des Landes mit medizinischen Geräten und Medikamenten zuständig.350 Der Medizinal­rat hatte zwei Funktionen: Zum einen befasste er sich mit medizinischen Schriften, Untersuchungen und Entdeckungen sowie der Prüfung ausländischer Ärzte, zum anderen bildete er eine Kontrollinstanz für die Versorgung des Landes mit Medikamenten und für den gerichtsmedizinischen Bereich.351 346 Thaden etwa bietet in seiner umfangreichen Monographie zum Russland des 19. Jahrhunderts einen Einblick in die administrativen Reformen unter Alexander I. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach der Zukunft der Leibeigenschaft. Thaden, Russia, S. 37 – 52. Siehe auch Friedmann; Krautheim, Reformen, S. 956 – 964, 979 f. 347 Als maßgebend für „erheb­liche Störungen des politisch-bürokratischen Ablaufs“ bezeichnen die Kompetenzstreitigkeiten Friedmann; Krautheim, Reformen, S. 980. 348 Eine für die sowjetische Geschichtswissenschaft typische Deutung der Regierungszeit Nikolaus’ I. findet man bei Eroškin, Istorija, S. 140. Die nikolaitische Periode steht aber auch in der west­lichen Geschichtswissenschaft synonym für eine wuchernde Bürokratie. Siehe etwa Keep, Paul I, S. 101; Starr, Decentralization, S. 9 f.; Torke, Beamtentum, S. 209 – 221. 349 Siehe die kaiser­lich bestätigte Gründung des Medizinal­departements des Innenministeriums vom 17. Juni 1836, in: PSZ II Bd. 11 Teil 1, Nr. 9317, S. 709 – 712, hier S. 709. 350 Ebd. 351 Kaiser­lich bestätigte Gründung des Medizinal­rats vom 17. Juni 1836, in: PSZ II Bd. 11 Teil 1, Nr. 9319, S. 722 – 724, hier S. 723 f.

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Die Reorganisation, die das Medizinal­wesen unter Nikolaus I. erfuhr, stand im Zeichen einer Differenzierung der Verwaltung, deren Regeln bereits die Reformen unter Alexander I. gefolgt waren. Die im Sommer 1836 beschlossenen Änderungen brachten keine grundsätz­lichen Neuerungen im Bereich der Medizinal­verwaltung. Sie bewegten sich in einem Rahmen, der durch die Gründung der Ministerien vorgegeben war, und bestanden in geringeren Kompetenzverschiebungen zwischen den existierenden Abteilungen und Ämtern.352 Nachdem die Staatsgewalt um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts damit begonnen hatte, ein von ihr kontrolliertes und auf akademischer Medizin basierendes System medizinischer Versorgung aufzubauen, gestaltete sie an der Wende zum neunzehnten Jahrhundert vor allem die administrative Seite des Medizinal­ wesens. In Form von lokalen Medizinal­verwaltungen fasste das professionalisierte Medizinal­wesen in der Provinz Fuß. Das Medizinal­kollegium, bis zur Gründung der Ministerien die oberste zentrale Medizinal­behörde, wurde dem Prinzip der Differenzierung in einer sich immer stärker professionalisierenden Staatsverwaltung geopfert, in seine Bestandteile zerlegt und in verschiedene Ministerien eingegliedert. Doch wenn die Staatsgewalt Kontrollmacht im Medizinal­wesen besitzen wollte, musste sie in erster Linie das medizinische Personal ihren Normen unterwerfen, mit anderen Worten: disziplinieren.

2 .6  Zu s a m me n f a s s u ng Die Entscheidung ­Katharinas, sich von Beginn ihrer Herrschaft an medizinalpolitischen Fragen zu widmen, beruhte auf zwei Überzeugungen: Zum einen hatte die Entwicklung medizinalpolitischer Maßnahmen ihre Gründe in der Peuplierungspolitik, die den Faktor Gesundheit zunehmend aufwertete. Zum anderen war die Medizinal­politik Teil der inneren Staatsbildung und stellte einen Bereich unter vielen dar, den die Staatsmacht sowohl durch den vertikalen als auch durch den horizontalen Ausbau der Verwaltung zu normieren suchte.353 Den ideellen Rahmen dieser Entscheidung bildete das im Geiste der Aufklärung und der Policeywissenschaft veränderte Selbstverständnis monarchischer Herrschaft, die stärker als bisher für die „gute Ordnung“ verantwort­lich war. Dazu gehörte die Aufwertung

352 Aus diesem Grund erscheint die besondere Bedeutung des Jahres 1836 für die Geschichte des Medizinal­wesens in Russland, die ihm im Handbuch der Geschichte Rußlands zugesprochen wird, nicht gerechtfertigt. Vgl. Krautheim; Kölm, Prinzip, S. 1057. Bei Erik Amburger findet es wegen seiner geringen Bedeutung keine Erwähnung. Siehe Amburger, Behördenorganisation, S. 152. 353 Für andere Staaten mag das Urteil anders ausfallen. Am Beispiel Badens etwa verschiebt sich das Gewicht zugunsten des Staatsaufbaus. Siehe Loetz, Vom Kranken zum Patienten, S. 321.

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der Gesundheit – als persön­liches und als allgemeines Gut. Mit der Erhebung der Gesundheit zu einem allgemeinen Wert hörte die Krankheit auf, eine ausschließ­lich private Angelegenheit zu sein. Jede obrigkeit­liche Regulierung in diesem Bereich manifestierte diesen Wandel.354 Die tätige Sorge um die Gesundheit der Untertanen, der sich die Kaiserin seit den 1760er Jahren widmete, umfasste unterschied­liche Maßnahmen, die sich in drei Gruppen einteilen lassen: In die erste Gruppe gehören Bestimmungen, die den Lebensstil betrafen, wobei es für jedes Alter sehr konkrete Vorstellungen vom Ideal eines gesunden – und das hieß im achtzehnten Jahrhundert vor allem maßvollen und sittsamen – Lebens gab. Ziel war es, die Bevölkerung darüber aufzuklären und sie entsprechend umzuerziehen. Eine weitere – neue und frei gewählte – Aufgabe der Staatsgewalt bestand darin, der Bevölkerung des Reiches ein bestimmtes Maß an medizinischer Versorgung zugäng­lich zu machen. Und schließ­lich galt es, ein Netz von Verwaltungsinstitutionen über das Land zu spannen, das die zentrale mit der lokalen Ebene verbinden sollte. Die Wünsche der Bevölkerung, die in den Instruktionen für die Gesetzgebende Kommission zum Ausdruck gebracht wurden, sind im Kern in der Gouverne­ mentsreform des Jahres 1775 verwirk­licht worden:355 Die Provinz des Reiches wurde – zunächst auf dem Papier – mit medizinischem Personal und medizinischen Einrichtungen ausgestattet, deren Finanzierung nicht mehr auf den Schultern der Kaufmannschaft allein lastete.356 Die Spannungsfelder zwischen der Verantwortung des Zentrums und der Provinz, zwischen den Interessen der Bevölkerung und der Mediziner und schließ­lich zwischen den Bedürfnissen des Militärs und der Zivilbevölkerung waren bereits in den 1760er Jahren abgesteckt worden. Alle nachfolgenden Ereignisse – der rus­sisch-türkische Krieg und die Pest – spielten sich vor dem Hintergrund eines akuten Problembewusstseins ab und konnten ledig­lich die Dring­lichkeit der Lage erhöhen. Es war kein rus­sisches Spezifikum, dass die Initiative zur Durchdringung des Landes mit medizinischen Institutionen von der Staatsmacht ausging.357 Die Ausweitung der Medizinal­verwaltung auf untere Verwaltungsebenen war Teil der inneren Staatsbildung, die frei­lich im Rus­sischen Reich weniger weit fortgeschritten war als

354 Diesen Sachverhalt schildert für den europäischen Westen im Zusammenhang mit der Pest Dinges, Pest, S. 304 f. 355 Bočkarev, Vračebnoe delo, S. 488. Siehe auch Schramm, Rückblick, S. 417 und Omel’čenko, Kommission, S. 176. 356 PSZ I Bd. 20, Nr. 14.392, S. 232, 271, 276 ff. 357 Dinges, Aufklärung importieren, S. 233. Foucault weist dagegen auf den Einfluss anderer Akteure auf das von ihm als „noso-politique“ bezeichnete Phänomen im west­lichen Europa des 18. Jahrhunderts hin. Foucault, Politique, S. 11 f.

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in Frankreich, Preußen oder in der Habsburgermonarchie.358 Diesen Prozess begleitete der Umstand, dass die Regionalverwaltung des Zarenreichs um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts im Allgemeinen nur dürftig entwickelt war. So konnte sich die erste Einrichtung des öffent­lichen Medizinal­wesens auf Gouvernementsebene, das Amt für gesellschaft­liche Fürsorge, nicht etwa in ein bestehendes Netz lokaler Verwaltung mit eingespielten Geschäftsgängen einordnen. Die gesamte Provinzial­ verwaltung, in die das Amt eingebunden war, entstand gleichzeitig mit diesem. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts erlebte das Medizinal­wesen in Russland einen Wandel, der auch aus anderen europäischen Staaten bekannt ist: Während im achtzehnten Jahrhundert die medizinische Versorgung des Landes im Zeichen einer kameralistisch begründeten Bevölkerungspolitik stand, verschoben sich die Akzente um die Jahrhundertwende hin zum Ausbau eines öffent­lichen Medizinal­wesens.359 Die medizinische Versorgung wurde aus dem Wohlfahrtsdiskurs herausgelöst, in den neuen Zusammenhang einer sich professionalisierenden und ausdifferenzierenden Staatsverwaltung integriert und den sich wandelnden Bedürfnissen angepasst. Diese Entwicklungen gingen mit dem wachsenden Anspruch des Staates einher, die eigenen Kontrollmög­lichkeiten sowohl horizontal als auch vertikal auszuweiten. Die Territorialisierung gehörte zu den folgenreichsten Phänomenen der europäischen Neuzeit und wurde auch im Rus­sischen Reich verstärkt seit der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts betrieben.360 Paul I. stellte die Weichen in diesem Projekt insofern neu, als eine sich zunehmend professionalisierende Beamtenschaft zum Protagonisten des lokalen Medizinal­wesens bestimmt wurde, und nicht, wie von seiner Mutter vorgesehen, lokale Gesellschaften. Pauls Regierungszeit zeichnet sich im Bereich des Medizinal­wesens durch eine starke Systematisierung sowohl der Verwaltung als auch der medizinischen Versorgung aus. Mit der Einrichtung von Hospitälern an all jenen Orten, an denen beispielsweise Schützenbataillone dauerhaft stationiert waren, sollte eine Grund­ voraussetzung dafür geschaffen werden, dass Militäreinheiten – zumindest dort, wo sie länger bleiben mussten – die nötige medizinische Versorgung erhielten. Doch entgegen der verbreiteten Forschungsmeinung galt Pauls Sorge nicht ausschließ­lich dem Militär. Die wichtigste Veränderung in diesem Bereich, die Schaffung lokaler Medizinal­behörden auf Gouvernementsebene, ging zwar ursprüng­lich von den Interessen des Militärs aus. Doch die tatsäch­liche Ausgestaltung der neuen Behörde

358 Einen Überblick über die Erschließung der Gesundheit durch staat­liche Strukturen im frühneuzeit­ lichen Europa – allerdings etwas schematisch und allzu radikal Michel Foucaults Idee von der „Geburt der Klinik“ umsetzend – bietet Labisch, Homo hygienicus, S. 80 – 111. 359 Allgemein: Sohn, Policey. Am Beispiel Badens demonstriert diese Entwicklung Loetz, Vom Kranken zum Patienten, v. a. S. 86. 360 Siehe etwa Raeff, Police State, S. 45.

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kam auch der medizinischen Versorgung der Zivilbevölkerung zugute. Die Reform des Jahres 1797 hob die Medizinal­verwaltung in einem Punkt von anderen Verwaltungszweigen ab: Die Gründung von Medizinal­behörden auf Gouvernementsebene brachte eine Professionalisierung in der Medizinal­verwaltung früher als in anderen Bereichen. Diese Professionalisierung war ein erster Schritt, mit dem die Staatsgewalt ihre Kontrolle auf der lokalen Ebene zu behaupten versuchte. Bemerkenswert an dieser Reform ist auch die Verlagerung mancher Kompetenzen von der Hauptstadt in die Provinz, die gegen das bestehende Bild von der Herrschaft Pauls I. als Jahre der Zentralisierung spricht. Im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts war die zentrale Medizinal­ verwaltung durch die Gründung der Ministerien denselben Prozessen unterworfen wie die gesamte Verwaltung des Reiches. Im Zuge dieser Reformen, die das größte Projekt der Regierung Alexanders I. darstellten, erfuhr sie gravierende Veränderungen, in deren Folge sie allerdings mit den Verwaltungsstrukturen auf lokaler Ebene inkompatibel wurde. Das Streben nach Professionalisierung der Verwaltung führte zu einer immer stärkeren Differenzierung der zentralen Strukturen, die, anstatt klare Kompetenztrennung zu ermög­lichen und zu deren besserer Kenntnis beizutragen, jenes bürokratische Chaos schuf, das auch die Herrschaft Nikolaus’ I. prägte. Unter Paul I. kam in der Medizinal­verwaltung ein neues Prinzip zum Ausdruck, das unter seinen Nachfolgern auch auf der zentralen Verwaltungsebene umgesetzt wurde. Die Reorganisation der Verwaltungsstrukturen diente nicht mehr nur dem Zweck, neue Bereiche für den Zugriff der Staatsgewalt zu erschließen. Vielmehr ging es seit dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert darum, verschiedene Verwaltungszweige der inneren Logik und den Erfordernissen anzupassen, die sie zum Teil selbst produziert hatten.361 Die Organisation und Funktionsweise der Medizinal­verwaltung im Rus­sischen Reich lässt im ausgehenden achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert ein Merkmal als typisch erscheinen: die Diskrepanz zwischen dem steigenden Kontrollanspruch der Staatsgewalt und ihrer Fähigkeit, diesen durchzusetzen. Die Veränderungen auf der zentralen und lokalen Ebene waren Versuche, gegen die geringe Durchdringung der Verwaltungsstrukturen mit zentralstaat­licher Kontrolle anzukämpfen. Die Staatsgewalt beanspruchte das Monopol der Normsetzung im Bereich des Medizinal­wesens. Doch zunächst musste sie die Mittel für die Implementation der Normen schaffen.

361 Diesen Prozess bezeichnet George Yaney als Systematisierung. Yaney, Systematization, S. 5.

3.  Ä R Z T E , K R A N K E , „ S C H A R L ATA N E “: A K T E U R E D E S M E D I Z I N A L­W E S E N S

Die Bemühungen, im Medizinal­wesen ein staat­liches Monopol durchzusetzen, gehen auf die Herrschaft ­Katharinas II. zurück. Den Zweck der Maßnahmen zur Qualitätssicherung der medizinischen Versorgung begründete die Gesetzgeberin mit dem Schutz der Bevölkerung und stellte damit die Staatsgewalt als Hüterin allgemeiner Interessen dar.1 Mit der Zeit wurden immer mehr Aspekte der medizinischen Versorgung dem normierenden Eingriff der Staatsgewalt unterworfen, in erster Linie das medizinische Personal. Zu den zentralen Zielsetzungen der staat­ lichen Medizinal­politik gehörte die Vermehrung der Ärztezahl. Obwohl Amtsärzte spätestens seit der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts aus dem Alltag der rus­sischen Provinz nicht mehr wegzudenken waren, bleiben sie schillernde Gestalten, deren Bild sich im öffent­lichen Bewusstsein vor allem aus der Belletristik speist.2 Eine Darstellung der Mediziner als reale Akteure in ihrem spezifischen Umfeld ist die Geschichtswissenschaft bisher schuldig geblieben. Dieses Kapitel richtet den Blick auf die medizinischen Berufe und sie ausübende Personen und fragt nach deren Charakteristika sowie Rollen im Beziehungsgeflecht zwischen der Staatsgewalt und dem Individuum. Die historische Forschung zum medizinischen Berufsstand im Westen Europas hat Ärzte vor allem aus zweierlei Blickwinkeln heraus betrachtet: In Untersuchungen, die sich auf die staat­liche Medizinal­politik konzentrieren, erscheinen sie in erster Linie als Protagonisten der Medikalisierung, die sich aber gleichzeitig der Staatsmacht bedienten, um professionelle Interessen durchzusetzen.3 Seit den 1990er Jahren figurieren Ärzte in der Forschungsliteratur immer häufiger als Akteure in Aushandlungsprozessen, die durch das Auftreten von Krankheiten als individuelles und soziales Phänomen ausgelöst wurden.4 Als Ergebnis der letzteren Studien soll



1 Siehe etwa den kaiser­lichen Erlass an den Präsidenten des Medizinakollegiums, Aleksej Rževskij, vom 17. März 1784, in: PSZ I Bd. 22, Nr. 15.963, S. 82. 2 Siehe Rammelmeyer, Arzt. Ärzte gehörten neben Gutsbesitzern und Verwaltungsbeamten zu den beliebtesten Figuren der Volksschauspiele. Siehe dazu Berkov (Hg.), Drama, S. 17, 26 und darin zwei kurze Stücke, in denen Ärzte die Hauptrolle spielen: Gollandskij lekar’ i dobryj aptekar’, S. 84 – 85 und Doktor i bol’noj, S. 86. 3 Herausragendste Beispiele: Frevert, Krankheit, S. 36 – 44; Foucault, Klinik, S. 51 f. 4 Für die Ausweitung dieser Perspektive plädiert Dinges, Seuchengeschichte.

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für diese Arbeit eine Herangehensweise an Mediziner fruchtbar gemacht werden, die sie verstärkt als Individuen und nicht ausschließ­lich als sozial oder über ihren Beruf definierte Gruppe auffasst. In der spär­lichen Literatur zu diesem Thema in Bezug auf Russland figurieren Ärzte bisher ledig­lich in ihrer Funktion als Vertreter einer neuen Profession: Die meisten Autoren interessieren sich etwa für die staat­liche Politik im Bereich der medizinischen Ausbildung oder die Besoldung der Mediziner.5 Seit den 1990er Jahren sind zahlreiche Arbeiten entstanden, die sich dem Schicksal deutscher Ärzte im Rus­sischen Reich widmen.6 So groß ihr Beitrag zur Entwicklung der medizi­ nischen Versorgung war, werfen ihre Biographien doch nur einen äußerst schmalen Lichtstrahl auf den Alltag im Medizinal­wesen des Rus­sischen Reiches, denn die meisten von ihnen praktizierten in den beiden Hauptstädten oder waren im Militär angestellt. In diesen Forschungsarbeiten treten sie als Träger eines importierten Wissens auf, als Vertreter eines neuen Berufsstandes, als Ausländer. Einheimische Mediziner und das Medizinal­wesen außerhalb von Moskau und St. Petersburg bleiben bei diesem Fokus weitgehend unbeachtet. In der neuesten Studie zur Medizingeschichte des Rus­sischen Reiches, der Habilitationsschrift von Andreas Renner, erscheinen Ärzte als eine neue Reichselite, die als Fachexperten in Koalition mit der autokratischen Staatsgewalt dem importierten medizinischen Wissen zum Monopol zu verhelfen suchten.7 Die Aufmerksamkeit rus­sischer Historiker galt bisher ebenfalls vor allem ausländischen Ärzten. In der dogmatischen Lesart der sowjetischen Historiographie bildeten ausländische Ärzte einen deut­lichen Kontrast zu den einheimischen Medizinern. Erstere zeichneten sich angeb­lich durch Habgier, Gewinnsucht und mangelhafte fach­liche Qualitäten aus.8 Rus­sische Ärzte stehen dagegen nicht nur als die besseren Mediziner da, sondern auch als Gegner der herrschenden sozialen Ordnung und somit als eine politisch aktive Kraft.9 Im Bestreben, studierte Ärzte nicht 5 Stahnke, Hebammen-Ausbildung. Besonders hervorzuheben ist die Überblicksstudie von Müller-Dietz, Militärarzt. 6 Als einer der Ersten hat sich Erik Amburger mit dieser Gruppe beschäftigt: Beiträge, S. 24 – 52. Eine detaillierte Studie zu ausländischen Ärzten im Russland des 15. bis 17. Jahrhunderts hat vorgelegt: Dumschat, Mediziner. Siehe auch die Schriftenreihe des DFG-Projekts Deutsch-rus­sische Beziehungen in der Medizin des 18. und 19. Jahrhunderts am Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig: Deutschrus­sische Beziehungen in Medizin und Naturwissenschaft. Hg. von Dietrich von Engelhardt und Ingrid Kästner. 7 Renner, Autokratie. 8 Paradigmatisch Furmenko, Očerki Bd. 1, S. 76 ff. 9 Siehe etwa Kancel’bogen, Dejatel’nost’; Kiselev u. a., Samojlovič. Trotz einer etwas differenzierteren Sichtweise steht auch die Studie von Kovrigina, Sysoeva und Šanskij in der Tradition der sowjetischen Geschichtsschreibung, erscheinen doch alle Ärzte als ausgezeichnete Spezialisten, die

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als eine Elitegruppe erscheinen zu lassen, bemühen sich manche Autoren darum, ihnen eine gewisse Volksverbundenheit nachzuweisen.10 Im Wesent­lichen sind in der Literatur im Verlauf eines Jahrhunderts drei Typen von Ärzten entstanden: der selbstlose Helfer, der geldgierige Scharlatan und der Kämpfer für die Interessen der Benachteiligten.11 Im Folgenden soll das medizinische Personal, das vom letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts bis zur Choleraepidemie von 1830/31 in der Provinz des Zarenreichs tätig war, deut­lichere Konturen bekommen, als es bisher in der Forschung der Fall gewesen ist. Dabei stehen Vertreter verschiedener medizinischer Berufe – Amtsärzte, ihre Lehrlinge und, soweit mög­lich, Hebammen – im Mittelpunkt: mit ihrer Herkunft, ihrem Karriereverlauf, ihrem Verhältnis zu zentralen und lokalen Behörden sowie zu den Kranken. Auch wenn das zur Verfügung stehende Material nicht ausreicht, um eine repräsentative Kollektivbiographie zu erstellen, sollen Schlag­lichter auf die Gouvernements Jaroslavl’, Tambov und Voronež ein für diese konkreten lokalen Bedingungen aussagekräftiges Bild ermög­lichen. An dieser Stelle sei auf einen wesent­lichen Unterschied zwischen dem medizinischen Personal in Russland und im Westen Europas hingewiesen. Er bestand darin, dass etwa im deutschsprachigen Raum oder auf den Britischen Inseln neben den studierten und promovierten Ärzten auch handwerk­liche medizinische Berufe existierten. Die Ausbildung und Qualitätskontrolle der Handwerkschirurgen und Barbiere lag bei den entsprechenden Zünften.12 Im Rus­sischen Reich waren die Unterschiede zwischen den medizinischen Berufen weniger stark ausgeprägt.13 Lekari, wört­lich „Heiler“, in der Regel aber als „Wundärzte“ übersetzt, lassen sich nur bedingt als ein Pendant zu Handwerkschirurgen betrachten.14 Ihre Ausbildung





in ihren Bemühungen um die Gesundheit der lokalen Bevölkerung bisweilen gegen den bürokratischen Staatsapparat kämpfen mussten. Siehe Kovrigina; Sysoeva; Šanskij, Medicina, S. 69 ff., 84. 10 Etwa Lušnikov, Klinika, S. 169 f. Diese Tradition wird in der heutigen Geschichtsschreibung zum Teil fortgeführt. Siehe etwa Lozinskij, Istorija, S. 4. 11 Zu den positiven Gestalten gehört etwa Friedrich Josef Haass. Zu seiner Tätigkeit siehe Koni, Haass. In diesem Sinne ist auch seine auf Quellen basierende Biographie in Romanform verfasst: Lew Kopelew, Der heilige Doktor Fjodor Petrowitsch. Die Geschichte des Friedrich Joseph Haass. Bad Münstereifel 1780 – Moskau 1853. Hamburg 1984. Bagin bezeichnet Ärzte – allerdings in Bezug auf die zemstvo-Mediziner – als „Patrioten-Einzelgänger“, Bagin, Na službe, S. 164. D’jakonov erwähnt in seiner Studie vor allem Ärzte, die durch ihre höchst unrühm­lichen Taten in die Geschichte eingegangen sind, D’jakonov, Šackie mediki, S. 22. 12 Heischkel-Artelt, Welt, S. 2; Jütte, Ärzte, S. 22. 13 Renner, Wissenschaftstransfer, S. 75 f. Für das 17. Jahrhundert siehe Dumschat, Mediziner, S. 19 f., 355. 14 Andreas Renner bezeichnet lekari als „surgeons and physicians without academic degrees“. Renner, Concept, S. 365. Es ist zwar richtig, dass lekari keine promovierten Mediziner waren. Diese Aussage ist jedoch, wie oben gezeigt, dahingehend einzuschränken, dass die Berufsbezeichnung lekar’ bis 1762 nur mit Zustimmung der Medizinal­kanzlei und ab 1763 nur nach einer Prüfung durch das

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fand an staat­lichen medizinischen Bildungseinrichtungen statt: den Hospitalschulen, der Kaiser­lichen Medizinisch-Chirur­gischen Akademie und den Universitäten. Nur diejenigen Mediziner durften sich als lekari bezeichnen, die eine entsprechende Prüfung bestanden hatten. Damit existierte im Rus­sischen Reich kein gleichberechtigtes Nebeneinander von akademisch ausgebildeten Medizinern, die im Staatsdienst standen, und handwerk­lichen, in Zünften organisierten Heilberufen. Sämt­liche medizinischen Berufe befanden sich in der Hand des Staates.15 Alle anderen, sofern sie nicht eine Behandlungserlaubnis bekommen hatten, wurden mit dem Aufbau des staat­lichen Monopols in der medizinischen Versorgung in die Illegalität verdrängt, auch wenn diese Grenzziehung vermut­lich nur geringe Auswirkungen auf die tatsäch­liche Verbreitung nichtlizenzierter Heiler hatte. Im Folgenden wird es zunächst um medizinisches Personal als Objekt der staat­lichen Politik gehen. Anschließend stehen Ärzte, Apotheker, Hebammen und Arztlehrlinge als reale Personen in ihrem Berufsalltag im Mittelpunkt des Interesses.

3.1  Me d i z i n a l­b e a mt e a l s St a at s d ie ne r Medizinische Ausbildung im Russischen Reich ­Katharina II. sah in den 1760er Jahren den Grund für den Ärztemangel darin, dass zu wenig Ärzte in Russland ausgebildet würden. Deswegen müsse man Ärzte aus dem Ausland nach Russland holen, auf deren Qualität man keinen Einfluss habe. Doch selbst diese reichten nicht aus, um im Innern des Reiches und vor allem in den entlegenen Provinzen die nötige medizinische Versorgung zu gewährleisten.16 Der Ausbau der medizinischen Ausbildung im Rus­sischen Reich sollte also dem folgenden Zweck dienen: der Erhöhung der Ärztezahl, die wiederum zur Stärkung des staat­lichen Monopols im Medizinal­wesen und zur Qualitätssicherung medizinischer Leistungen beitragen sollte. Um dem Thema der medizinischen Ausbildung gerecht zu werden, muss es vor dem Hintergrund der allgemeinen Hochschul- und Bildungspolitik untersucht

Medizinal­kollegium verliehen werden konnte und an bestimmte Anforderungen im Studium gebunden war. Čistovič, Istorija, S. 325; Instruktion an das Medizinal­kollegium vom 12. November 1763, in: PSZ I Bd. 16, Nr. 11.965, S. 413 – 419, hier S. 416. Siehe auch Maurer, Hochschullehrer, S. 245. 15 Siehe dazu Hutchinson, Society. 16 Instruktion an das Medizinal­kollegium vom 12. November 1763, in: PSZ I Bd. 16, Nr. 11.965, S. 413 – 419, hier S. 413.

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werden.17 Allerdings kann ein so wesent­licher Aspekt wie das Verhältnis zwischen Norm und Realität mit der gebührenden Gründ­lichkeit nur im Rahmen einer auf die medizinische Ausbildung fokussierten Forschungsarbeit analysiert werden.18 Da eine systematische Aufarbeitung dieses Komplexes jedoch weit über die Fragestellung dieser Studie hinausführen würde, sei an dieser Stelle ledig­lich kursorisch auf allgemeine Entwicklungstendenzen hingewiesen. „Der häufige Wechsel bei den aus dem Ausland eingeladenen Medizinern und erheb­liche Mängel bei den Lehrmitteln in Russland haben es nötig gemacht, rus­sische Studenten an ausländische Hochschulen zu entsenden, damit diese dort ihr Studium beenden und höhere medizinische Qualifikationen erreichen. Die Nachfolger Peters I. haben sich darum bemüht, die Zahl der Professoren und Medizinstudenten zu erhöhen, und damit das erwünschte Ziel erreicht, dass die Einladung ausländischer Ärzte nach Russland und die Entsendung rus­sischer Studenten ins Ausland vollständig aufhörte.“ 19

So lautete eine Passage im historischen Rückblick, den der Direktor des Medizinal­ kollegiums, Aleksej Vasil’ev, seinem Bericht aus dem Jahr 1799 voranstellte. Ein erklärtes Ziel der Staatsmacht war es also, im Rus­sischen Reich eine eigenständige medizinische Wissenschaft aufzubauen. Das Vorhaben, Mediziner in Russland auszubilden, und zwar nach Mög­lichkeit so viele, dass man keine mehr aus dem Ausland einladen müsste, verursachte in erster Linie ein institutionelles Problem. Obwohl die Anfänge einer einheimischen medizinischen Ausbildung in Russland bereits im siebzehnten Jahrhundert lagen,20 hatte sie bis zum Machtantritt K ­ atharinas II. noch keine nennenswerte Entwicklung vollzogen. Wundärzte erhielten im Rus­sischen Reich eine vor allem chirur­gische Ausbildung an den vier Haupthospitälern des Heeres und der Marine.21 Diese ­Schulen

17 Grundlagen dazu haben folgende Studien gelegt: Maurer, Hochschullehrer; Kusber, Elitenund Volksbildung. 18 Auf die Unabdingbarkeit dieser Frage für die Untersuchung der Hochschullandschaft im Russland des 19. Jahrhunderts weist hin: Maurer, Hochschullehrer, S. 20. 19 PSZ I Bd. 25, Nr. 18.854, S. 555. 20 Siehe dazu Alexander, Medical Developments. 21 Čistovič, Istorija, S. 323 – 327. Siehe auch Mirskij, Medicina (2005), S. 147 – 155. Die Geschichte der medizinischen Ausbildung in Russland vor den Großen Reformen ist bisher auf kein nennenswertes Interesse der Historiker gestoßen. Einen kurzen Überblick über den Stand der medizinischen Ausbildung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bietet Frieden, Physicians, S. 21 – 32. Auch in Russland scheint das Interesse für die Ausbildung von Ärzten im 18. und frühen 19. Jahrhundert gering zu sein. Dagegen sind im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert umfangreiche Studien zu diesem Thema entstanden, die aufgrund ihres faktographischen Charakters heute vor allem einen enzyklopädischen Wert haben. Zu nennen sind in erster Linie Čistovič, Istorija und – für die erste Hospitalschule – Alelekov, Istorija, S. 373 – 386 und 506 – 523.

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wurden 1786 von den Hospitälern getrennt und in eigenständige Ausbildungsanstalten in St. Petersburg, Moskau und Kronstadt umgewandelt. 1798 entstand die Medizinisch-Chirur­gische Akademie: mit jeweils einer Abteilung in der neuen und in der alten Hauptstadt.22 Ein Medizinstudium war seit 1764 an der Moskauer Universität mög­lich, jedoch noch keine Promotion. Allerdings durfte das Medizinal­kollegium seit 1764 den Doktortitel verleihen. Die Medizinische Fakultät der Moskauer Universität erhielt hingegen erst 1791 das Promotionsrecht.23 So bildete während des gesamten achtzehnten Jahrhunderts ein Studium im Ausland die wichtigste und lange Zeit die einzige Mög­lichkeit, medizinisches Fachwissen zu erwerben und vor allem die höchste Qualifikationsstufe zu erreichen.24 Die rus­sische Regierung war nicht nur bei der sofortigen Versorgung des Landes und seiner Truppen mit Ärzten auf das westeuropäische Ausland angewiesen, sondern auch bei der Ausbildung der eigenen Mediziner.25 Der Ausbildung wurde keine geringere Bedeutung beigemessen als der Einladung von Ärzten aus dem Ausland. Gleich zu Beginn von K ­ atharinas Herrschaft war die Zahl der Auslandsstipendien für rus­sische Ärzte gestiegen.26 Die Praxis, junge Männer zum Studium der Medizin nach Westeuropa zu entsenden, wurde auch beibehalten, als das Rus­sische Reich bereits über eigene Stätten der höheren medizinischen Bildung verfügte. Doch im April 1798 wurde ihr „aufgrund der verderb­lichen Grundsätze, die unreife Gemüter erhitzen“, ein Ende bereitet.27 Der Versuch, das Verbot eines Auslandsstudiums aufzuheben, scheiterte. Der Hauptdirektor des Medizinal­kollegiums schlug im Rahmen seines bereits zitierten Berichts aus dem Jahr 1799 vor, alle drei Jahre jeweils drei rus­sischstämmige junge Wundärzte oder Chirurgen für drei Jahre ins Ausland zu schicken, damit diese dort ihre Kenntnisse auf den Gebieten, die sie besonders interessierten, verbessern könnten. Diesen Vorschlag lehnte Paul I. jedoch mit der Begründung ab, die aktuellen Zustände im Westen Europas hätten eine negative Auswirkung auf

22 Mirskij, Medicina (1996), S. 128 f. 23 Kaiser­licher Erlass an das Medizinal­kollegium vom 9. Juni 1764, in: PSZ I Bd. 16, Nr. 12.179, S. 795. Die erste Promotion zum Doktor der Medizin fand in Russland 1768 statt. Brückner, Ärzte, S. 12 und 60; Dumschat, Mediziner, S. 72. 24 Zu rus­sischen Studenten, darunter auch Studenten der Medizin, im Ausland, vornehm­lich an deutschen Universitäten, siehe Amburger, Beiträge, S. 214 – 232. Siehe auch das Kapitel „Das Collegium medico-chirurgicum in Berlin als medizinische Lehrstätte für Osteuropa im 18. Jahrhundert“, ebd., S. 233 – 251. 25 Maurer, Hochschullehrer, S. 22 f. Zur Entsendung rus­sischer Wissenschaftler – Studenten und Dozenten – aller Fachrichtungen ins Ausland siehe ebd., S. 120 – 143. 26 Brückner, Ärzte, S. 12. 27 Kaiser­licher Erlass vom 9. April 1798, in: PSZ I Bd. 25, Nr. 18.474, S. 186 – 187, hier S. 186. Siehe auch Kusber, Eliten- und Volksbildung, S. 279.

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die Studenten.28 So wurde der wissenschaft­liche Austausch im Bereich der Medizin zurückgestellt, um zusammen mit dem medizinischen Wissen einen Transfer politischer Ideen nach Russland zu verhindern, die als äußerst gefähr­lich galten.29 Die Entsendung rus­sischer Medizinstudenten ins Ausland blieb bis zum Herrschaftsantritt ­Alexanders I. unterbunden.30 Vergleichbar mit der unzureichenden Versorgung des Landes mit medizinischem Personal litt auch das medizinische Bildungswesen im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert unter Personalmangel.31 Dementsprechend bestand die wichtigste Aufgabe der Bildungspolitik im Bereich der Medizin darin, mög­lichst hohe Absolventenzahlen zu erzielen, um auch ausreichend einheimische Medizindozenten zu haben. Diesem Projekt standen einige Hindernisse im Weg. In seinem Bericht schlug Vasil’ev Maßnahmen vor, die sowohl Dozenten als auch Studenten der Medizin betrafen. Für Professoren, die sich während ihrer fünfzehnjährigen Lehrtätigkeit besonders hervorgetan hatten, war eine Erhöhung des Jahresgehalts um zwei- bis dreihundert Rubel vorgesehen. Neben einem Belohnungssystem für herausragende Leistungen plädierte das Medizinal­kollegium dafür, auch die Versorgung pensionierter Dozenten zu verbessern.32 Darüber hinaus sollten Medizinstudenten je nach Lernerfolg unterschied­lich behandelt werden.33 Hinter den beiden Vorschlägen lässt sich dasselbe Prinzip erkennen, von dem sich Vasil’ev schon bei der Reorganisation der Medizinal­verwaltung wenige Jahre zuvor hatte leiten lassen: ein leistungsorientiertes Belohnungssystem. Die Lukrativität der Stellen – sei es im Bereich der praktischen Medizin, sei es an medizinischen Bildungsanstalten – betrachtete Vasil’ev als den wichtigsten Schlüssel zur Anwerbung von qualifiziertem medizinischen Personal. Neben attraktiven Löhnen spielte auch eine bessere materielle Ausstattung der medizinischen Lehranstalten eine wichtige Rolle im Vorschlag des Medizinal­ kollegiums. Darunter fiel die Bestellung medizinischer Publikationen, die Vermehrung der botanischen Gärten und die Versorgung der Anstalten mit chirur­gischen Instrumenten. Dieses Vorhaben der obersten Medizinal­behörde des Landes ließ sich jedoch nur mit einer beträcht­lichen Erhöhung des Budgets umsetzen. Allein

28 PSZ I Bd. 25, Nr. 18.854, S. 558 und 562. 29 Siehe dazu Kamenskij, Ot Petra do Pavla, S. 503 und McGrew, Paul I, S. 180 ff., 285. Zu den Auswirkungen politischer Ereignisse auf die Anwerbung ausländischer Wissenschaftler für den Dienst im Rus­sischen Reich siehe auch Maurer, Hochschullehrer, S. 94 und 115 f. 30 Kaiser­licher Erlass an das Medizinal­kollegium vom 15. Januar 1802, in: PSZ I Bd. 27, Nr. 20.110, S. 10. 31 Siehe etwa Alelekov, Istorija, S. 520. 32 PSZ I Bd. 25, Nr. 18.854, S. 557. 33 Ebd., S. 558.

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für Bücher, Instrumente und botanische Gärten sah das Umgestaltungsprogramm fünftausend Rubel vor. Seine Forderungen nach höheren Gehältern für Professoren und einer besseren materiellen Ausstattung der Einrichtungen leitete Vasil’ev allerdings mit der Versicherung ein, „die Investition werde dadurch entlohnt, dass man der Gesellschaft [obščestvo] kundige Ärzte zur Verfügung stellt, die absolut unabdingbar sind“.34 Der Bericht des Medizinal­kollegiums enthält einen Hinweis auf das zentrale Problem in der medizinischen Ausbildung. Die wichtigsten Forderungen von Vasil’evs Behörde verlangten nach einer bedeutenden Erhöhung der Staatsausgaben in diesem Bereich. Die medizinische Ausbildung war vor dem Hintergrund der Anforderungen, die an sie gestellt wurden, dramatisch unterfinanziert. Ein Blick auf die institutionelle Entwicklung der medizinischen Bildung zeigt, dass ihre Struktur von denselben Veränderungen betroffen war, die zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts im Bereich der Medizinal­verwaltung auftraten. Die alten Strukturen wurden allmäh­lich in das neue System eingepasst: Die Petersburger Medizinisch-Chirur­gische Akademie wurde 1810 aus der Zuständigkeit des Innenministeriums herausgenommen und dem Ministerium für Volksbildung übergeben.35 Auch die Prüfungsanforderungen an angehende Mediziner wurden zwischen den Universitäten und der Medizinisch-Chirur­gischen Akademie angeg­lichen.36 Die Bildungspolitik im Bereich der Medizin musste bisweilen einen Spagat zwischen den steigenden quantitativen Anforderungen an Bildungsanstalten und der Qualitätssicherung in der Ausbildung meistern. Als 1803 durch die Beteiligung der rus­sischen Truppen an den Koalitionskriegen der Bedarf des Militärs an medizinischem Personal zugenommen hatte, wurde erlaubt, Medizinstudenten noch vor dem Studienabschluss in den Dienst zu entlassen. Wenige Jahre später kritisierte der Innenminister diese Regelung als ein großes Hindernis auf dem Weg zu einer guten Ausbildung. Die vorzeitige Entlassung der Medizinstudenten aus ihren Bildungseinrichtungen habe zur Folge, dass sie ohne die nötige Qualifikation in den Dienst träten und dadurch nicht nur häufig unnütz seien, sondern auch Schaden anrichten könnten.37 Diese Praxis führt deut­lich vor Augen, dass die Kapazitäten medizinischer Ausbildungsstätten in Russland im frühen neunzehnten Jahrhundert den Bedarf des Landes an Ärzten, vor allem im Militär, bei weitem nicht zu decken

34 Ebd., S. 557 f. 35 Kaiser­licher Erlass an den Minister für Volksbildung vom 20. Mai 1810, in: PSZ I Bd. 31, Nr. 24.236, S. 191. 36 Siehe die kaiser­lich bestätigte Prüfungsordnung für Medizinal­beamte vom 15. Juli 1810, in: PSZ I Bd. 31, Nr. 24.298, S. 255 – 262, hier S. 255 f. 37 Kaiser­lich bestätigter Bericht des Innenministers vom 21. April 1808, in: PSZ I Bd. 30, Nr. 22.974, S. 192 – 198, hier S. 192 ff.

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vermochten. Um den Bedürfnissen der Streitkräfte zumindest ansatzweise nachzukommen, machte man Abstriche bei der Qualität der medizinischen Ausbildung. Im Jahr 1808 schlug der Innenminister vor, zur gewohnten Ausbildungspraxis der Medizinisch-Chirur­gischen Akademie zurückzukehren und die vorzeitigen Prüfungen einzustellen. Die Prüfungsordnung der Akademie sah eine vierjährige Ausbildungszeit, gefolgt von einem praktischen Jahr in einem Militärhospital, vor.38 Nachdem im Frühjahr 1808 diese Maßnahme zur Qualitätssicherung der medizi­ nischen Ausbildung beschlossen worden war, passte die Medizinisch-Chirur­gische Akademie die Inhalte der Ausbildung den Anforderungen an, die im Alltag an Mediziner gestellt wurden. Erstens sollte die Akademie ihr Curriculum nicht allein auf die Humanmedizin beschränken, sondern auch die Veterinärmedizin und die Pharmazie darin aufnehmen. Zweitens sollten sich Professoren ausschließ­lich auf die Lehre konzentrieren können. Zu diesem Zweck wurden die Wissenschafts- und die Wirtschaftsverwaltung der Akademie ihrem Präsidenten und dem Vizepräsidenten übertragen. Um dem Bedarf des Landes an medizinischem Personal – wie die Staatsgewalt ihn definierte – nachzukommen, wurde drittens die staat­liche Unterstützung für Studenten ausgeweitet. Die Zahl der Studienplätze für Selbstzahler war unbegrenzt. Viertens durften ab sofort auch unfreie Personen aufgenommen werden.39 Diese Öffnung des Medizinstudiums bedeutete im Grunde genommen das Eingeständnis, dass die medizinische Laufbahn für die studienberechtigten Bevölkerungsgruppen weitgehend unattraktiv war. Man bemühte sich, künftige Mediziner aus anderen sozialen Kreisen zu rekrutieren, für die der Staatsdienst sonst verschlossen war. Dieser Schritt brachte daher auch eine teilweise und punktuelle Entkoppelung des Staatsdienstes – und damit des sozialen Aufstiegs – von der sozialen Herkunft mit sich, wobei das Medizinstudium eine Ausnahme in einem System bildete, das Menschen aus unteren gesellschaft­lichen Gruppen tendenziell von den Universitäten fernzuhalten versuchte.40 Die stetig wiederholte Forderung nach mehr Ärzten kann den Eindruck entstehen lassen, die einheimischen medizinischen Bildungsanstalten hätten dem Bedarf an Ärzten nicht nachzukommen vermocht und die staat­liche Politik sei in diesem Bereich gescheitert. Doch auch wenn der Ärztemangel stets präsent war, darf nicht übersehen werden, dass die Zahl der Medizinstudenten und Absolventen der medizinischen Studiengänge während des untersuchten Zeitraums gewachsen war. Wenn es im Jahr 1803 an der Medizinisch-Chirur­gischen Akademie 272 Studenten gab, so wurden 1813 allein aus Priesterseminaren 450 junge Männer an unterschied­liche 38 Ebd., S. 193 f. 39 Statut der Kaiser­lichen Medizinisch-Chirur­gischen Akademie vom 28. Juli 1808, in: PSZ I Bd. 30, Nr. 23.185, S. 460 – 473, hier S. 460 f. 40 Siehe dazu Maurer, Hochschullehrer, S. 48 f.

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medizinische Bildungseinrichtungen geschickt, und 1827 zählte die Akademie 731 Studenten.41 Im Bereich der medizinischen Ausbildung herrschte somit kein Stillstand, auch wenn die Verantwort­lichen mit der Entwicklung nicht zufrieden waren. Den Bemühungen der Staatsmacht, die Zahl der Medizinstudenten zu erhöhen, waren auch insofern Grenzen gesetzt, als zu den Aufnahmekriterien an der Medizinisch-Chirur­gischen Akademie und ab 1804 an den Universitäten neben Lese- und Schreibfähigkeiten auch Lateinkenntnisse gehörten. An welche Zielgruppe konnten sich die Aufrufe zum Medizinstudium in einem Land richten, dessen Bevölkerung überwiegend aus Analphabeten bestand?42 Bereits während der Herrschaft der Kaiserin Elisabeth sollten Zöglinge der Geist­lichen Akademie (Duchovnaja akademija) an chirur­gische Schulen geschickt werden.43 Ende des achtzehnten Jahrhunderts wurde diese Rekrutierungspraxis systematisiert. Ein kaiser­licher Erlass von 1797 schrieb dem Synod vor, jähr­lich fünfzig Schüler von Priesterseminaren, die gute Noten in geisteswissenschaft­lichen Fächern hatten, bereitzuhalten, damit sie auf Verlangen des Medizinal­kollegiums an medizinische Ausbildungsstätten geschickt werden könnten. Mitglieder der lokalen Medizinal­behörden sollten Schüler von Priesterseminaren, die eine Neigung zum Medizinstudium verspürten, in Latein und anderen geisteswissenschaft­lichen Fächern prüfen.44 So nutzte die zentrale Bürokratie die neuen Verwaltungsorgane auf der Gouvernementsebene nicht nur für Aufgaben in der medizinischen Versorgung, sondern setzte sie auch zur Rekrutierung künftiger Medizinstudenten ein. Schüler von Priesterseminaren gehörten zu den wenigen, die die Aufnahmekriterien für ein Medizinstudium erfüllten: Sie konnten lesen, schreiben und verfügten über Lateinkenntnisse. Vor dem Hintergrund der niedrigen Alphabetisierungsrate im Rus­sischen Reich erstaunt daher der übermäßig hohe Anteil der Studienanfänger mit geist­lichem Hintergrund nicht.45

41 Otčet za 1803 god, S. 138; Torke, Beamtentum, S. 111; Žurnal MVD Teil 1, Buch 3, S. 505. 42 Der Alphabetisierungsgrad betrug im Jahr 1757 unter Männern 19,3 Prozent, unter Frauen 5,2 Prozent. Im Jahr 1808 konnten 38,3 Prozent der Männer sowie 18,7 Prozent der Frauen lesen und schreiben. Die Angaben wurden übernommen von Kusber, Eliten- und Volksbildung, S. 273. 43 Bočkarev, Vračebnoe delo, S. 445. Richter verweist auf den Erlass vom 9. Juni 1748, der der geist­ lichen Schule in Moskau befahl, „von den dort befind­lichen Zöglingen eine gehörige Zahl für die chirur­gischen Schulen, zur Erlernung der medicinischen Wissenschaften, abzusenden“. Richter, Geschichte Bd. 3, S. 309. 44 Synodalerlass vom 26. September 1797, in: PSZ I Bd. 24, Nr. 18.161, S. 746 – 748, hier S. 746 f. 45 Siehe etwa den Synodalerlass vom 25. Januar 1787, in: PSZ I Bd. 22, Nr. 16.500, S. 800 – 802, hier S. 801. Siehe auch das Schreiben des Innenministers, Aleksej Kurakin, an die Medizinal­ verwaltung von Jaroslavl’ vom 13. Mai 1808. GAJaO f. 86, op. 1, d. 145, l. 21 – 22, hier l. 21. Siehe auch Cezarevskij, Stranička und Litvinov, Pitomcy. Die knapp 150 Seiten umfassende Liste der ehemaligen Seminarschüler aus Voronež führt diesen Sachverhalt deut­lich vor Augen: Die überwiegende Mehrheit der aufgeführten Männer schlug nach dem Verlassen des Priesterseminars eine

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Die Rekrutierungspraxis der Medizinstudenten offenbart eine Besonderheit im Vergleich zu anderen Studiengängen. Bei der Auswahl der künftigen Medizinstudenten an Priesterseminaren sollten nicht nur die intellektuellen Fähigkeiten der Schüler eine Rolle spielen, sondern zunehmend auch ihre eigenen Wünsche und Neigungen. Studienanfänger sollten somit nicht erst an der Universität feststellen, dass sie für ein Medizinstudium ungeeignet waren, denn es führe zu Geldverschwendung und gefährde das gesamte Unternehmen, so der Regierende Synod in einem Erlass aus dem Jahr 1802.46 In dieser Regelung kommt außerdem die zeitgenös­sische Vorstellung vom Arztberuf zum Vorschein. Von einem Arzt erwartete man nicht nur bestimmte fach­liche Fähigkeiten, sondern auch positive Charaktereigenschaften, wie etwa ausgesprochenes Einfühlungsvermögen. Schon in ihrer Instruktion an das Kriegskollegium von 1762 schrieb ­Katharina II. vor: Ärzte sollten den Leidenden Menschenliebe entgegenbringen.47 Um sicherzugehen, dass steigende Studentenzahlen sich auch tatsäch­lich positiv auf die Ärztezahlen auswirkten, sollten Studenten, die auf Staatskosten studierten, nach dem Abschluss ihrer Ausbildung zum Dienst verpf­lichtet werden.48 Ein Blick ins Innere der medizinischen Bildungseinrichtungen gibt Aufschluss über ein weiteres Problem der Arztausbildung in Russland im achtzehnten Jahrhundert. 1783 wurde in St. Petersburg das Medizinisch-Chirur­gische Institut gegründet, dessen Unterricht in deutscher Sprache stattfand.49 Dass dies negative Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Ärzten und Kranken hatte, war den hohen Medizinal­ beamten um die Jahrhundertwende bekannt. Traten Absolventen des MedizinischChirur­gischen Instituts ihren Dienst im Heer oder in der Marine an, hatten sie wegen ihrer mangelnden Rus­sischkenntnisse nicht selten Schwierigkeiten, sich







medizinische Laufbahn ein. Dieses Spezifikum blieb während des gesamten 19. Jahrhunderts bestehen. Laut Frieden entstammten im Jahr 1880 43 Prozent der Medizinstudenten an der Universität Char’kov der Geist­lichkeit. Frieden, Physicians, S. 205. 46 Erlass des Regierenden Synods an den Erzbischof von Jaroslavl’ und Rostov, Pavel, vom 21. August 1802. GAJaO f. 86, op. 1, d. 39, l. 5 – 6, hier l. 5ob. 47 Kaiser­liche Instruktion an das Kriegskollegium vom 9. November 1762. Zitiert nach Mirskij, Medicina (1996), S. 122. Von den Studienanfängern der Medizinisch-Chirur­gischen Akademie wurde erwartet, dass sie gutes Benehmen an den Tag legten. Siehe das Schreiben des Innenministers, Aleksej Kurakin, an die Medizinal­verwaltung von Jaroslavl’ vom 13. Mai 1808. GAJaO f. 86, op. 1, d. 145, l. 21 – 22, hier l. 21. 48 Ähn­liche Regelungen galten auch in anderen Fachbereichen. Siehe dazu Torke, Beamtentum, S. 42 f. Diese Praxis geriet in den 1820er Jahren in die Kritik, wurde jedoch weiterhin beibehalten. 1822 verkürzte man die Dienstpf­licht auf sechs Jahre für rus­sische Untertanen und auf acht Jahre für Ausländer. Siehe den kaiser­lich bestätigten Beschluss des Staatsrats vom 24. Januar 1822, in: PSZ I Bd. 38, Nr. 28.886, S. 30 – 31, hier S. 31. 49 Wegen ihrer Lage in der Nähe der Kalinkin-Brücke ist die Einrichtung unter dem Namen Kalinkin-­ Institut bekannt geworden. Ein kurzer Überblick über die ersten Jahrzehnte seiner Existenz findet sich in PSZ I Bd. 27, Nr. 20.531, S. 373 f.

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mit den Kranken zu verständigen.50 Daraus wurden Lehren gezogen, und wenige Jahre später verpf­lichtete das Gründungsstatut der Universität Wilna ausländische Studenten zum Erlernen der rus­sischen Sprache.51 An diesem Beispiel lässt sich beobachten, wie sich die Schwerpunkte in der Organisation der medizinischen Ausbildung innerhalb von knapp zwei Jahrzehnten verschoben hatten. Während es bei der Gründung des Medizinisch-Chirur­gischen Instituts in erster Linie darum ging, junge Menschen für ein Studium der Medizin zu gewinnen und ihnen dafür die Bedingungen zu erleichtern, rückten im Laufe der Zeit die Bedürfnisse des Medizinal­wesens in den Vordergrund. Die alltäg­lichen Erfahrungen in der medizinischen Versorgung diktierten die Richtung für Modifikationen in der medizinischen Ausbildung. Die zahlreichen Veränderungen im Bereich der medizinischen Ausbildung lassen sich auch als wichtige Schritte im Aufbau eines staat­lichen Monopols deuten. Die Staatsgewalt hatte Einfluss auf die Inhalte der verschiedenen Studiengänge und bestimmte, wer ein Studium absolvieren konnte. Sie legte die Prüfungsanforderungen fest und garantierte mit ihrer Kontrolle – zumindest auf dem Papier –, dass jeder Abschluss bestimmte Qualifikationen voraussetzte. Indem sie die Modalitäten des Medizinstudiums veränderte, passte sie die verschiedenen medizinischen Berufe den an sie gestellten Anforderungen an. Nun musste sie durchsetzen, dass nur Inhaber eines staat­lichen Diploms tatsäch­lich Kranke behandelten.

Disziplinierung der Medizinal­beamten Die normsetzende Tätigkeit der Staatsgewalt in Bezug auf das medizinische Personal nahm ihren Anfang in den gesetz­lich verankerten Pf­lichten einzelner Berufe. Von Apothekern, Hebammen und Ärzten wurde die Kenntnis ihrer Pf­lichten und des Strafmaßes bei deren Nichterfüllung erwartet. Die Unterwerfung der Mediziner unter die staat­lich festgesetzte Ordnung fand ihren symbo­lischen Ausdruck in ihrer Vereidigung.52 Spätestens seit Beginn des neunzehnten Jahrhunderts war die Staatsmacht bestrebt, einen Überblick über das medizinische Personal des Reiches zu erlangen. Im Jahr 1808 wurde angeordnet, im Innenministerium eine Liste mit allen Ärzten des Landes zu führen, und man erinnerte leitende Stellen der Zivil- und 50 Ebd., S. 375. 51 PSZ I Bd. 29, Nr. 22.414, S. 964. 52 Siehe etwa die Instruktion über den Dienst staat­licher Heeres- und Marineapotheken vom 20. Oktober 1796, in: PSZ I Bd. 23, Nr. 17.520, S. 950 – 959, hier S. 950 und die Hebammenordnung vom 20. September 1789, in: PSZ I Bd. 23, Nr. 16.804, S. 76 – 78, hier S. 76.

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Militärverwaltung wiederholt an ihre Pf­licht, dem Innenministerium Informationen über die ihnen unterstellten Medizinal­beamten zukommen zu lassen.53 Welchen Einfluss die professionalisierte Ärzteschaft auf die Entstehung von Regelungen hatte, die auf die Errichtung eines staat­lichen Monopols in der medizinischen Versorgung des Landes abzielten, lässt sich im Detail nicht nachvollziehen. Hält man sich die Entwicklung in anderen europäischen Ländern vor Augen, fällt vor allem der Kampf der akademischen Medizin um Deutungshoheit auf: etwa in Preußen, wo der medizinische Berufsstand als Akteur neben der Staatsgewalt auftrat.54 In Frankreich ging die akademische Ärzteschaft ein Bündnis mit der Staatsgewalt ein.55 Zu den wichtigsten Maßnahmen zur Durchsetzung des Monopols der akademischen Medizin gehörte die Verdrängung der nichtakademischen Heilkunde – auch im Rus­sischen Reich. Dabei ging es nicht um Konkurrenz in Bezug auf Ämter in der Verwaltung oder in Heilanstalten und nicht einmal in erster Linie um Kunden. Es ging um das Monopol des akademischen medizinischen Wissens in allen Bereichen, die Gesundheit und Krankheit betrafen. Bemerkenswert ist der Umstand, dass ein Konkurrenzdenken bei den kaiser­lichen Medizinal­beamten in den Quellen keinen Niederschlag findet. Akademische Mediziner traten in Russland während des Untersuchungszeitraums zwar weniger deut­lich als im Westen Europas in Form einer professionellen Korporation auf. Doch ist auch hier eine Symbiose entstanden zwischen der Staatsmacht, die ihr Monopol im Bereich der medizinischen Versorgung durchzusetzen versuchte, und Vertretern der akade­mischen Wissenschaft, die als Instrument zur Verwirklichung staat­licher Interessen dienten und dabei ihr professionelles Monopol anstrebten. Die Staatsgewalt hatte im Rus­sischen Reich die Deutungshoheit über die Tätigkeit des medizinischen Personals. Seine Disziplinierung fing mit der staat­lich reglementierten Ausbildung und Zulassung zur medizinischen Praxis an und umfasste zahlreiche Dienstvorschriften, die ebenfalls gesetz­lich festgehalten wurden. Von jedem medizinischen Beruf existierten in der obersten Verwaltung genaue Vorstellungen. So legte die Apotheker-Ordnung aus dem Jahr 1789 fest: „Die Eigenschaften des Apothekers als guten Bürgers, sein Amt nach Eid und Pf­licht red­lich auszuüben, bestehen hierin: er muß beständig ehr­lich, gewissenhaft, vernünftig, geschickt, nüchtern, unverdrossen bei den Geschäften allezeit gegenwärtig seyn, und alles treu­lich in Erfüllung setzen, damit er zum allgemeinen Besten nütz­lich werde.“ 56



53 Senatserlass vom 28. Januar 1821, in: PSZ I Bd. 37, Nr. 28.532, S. 569 – 570, hier S. 570. 54 Siehe dazu Frevert, Krankheit, S. 36 – 44. 55 Foucault, Klinik. 56 PSZ I Bd. 23, Nr. 16.806, S. 80. Im Original Rus­sisch und Deutsch. Auch für Hebammen existierten Anforderungen in Bezug auf ihren Lebenswandel. Siehe Stahnke, Hebammen-Ausbildung, S. 157 f.

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Dem Amt des Apothekers wurde eine besondere Verantwortung zugesprochen, da der Leiter einer Apotheke Einfluss auf das Leben und die Gesundheit der Menschen hatte. Deshalb sollte er sich auch in seinem Privatleben durch Disziplin und andere Tugenden auszeichnen. Ihre Deutungshoheit in Bezug auf medizinische Berufe nutzte die Staatsgewalt auch, um den Preis der ärzt­lichen Dienstleistungen festzuschreiben. 1789 wurde vom Medizinal­kollegium eine Preisliste für die Dienste der Ärzte und der Hebammen herausgegeben. Jedoch legte die Taxe nicht für alle medizinischen Eingriffe Preise fest: „Chirur­gische Operationen, als Staarstechen, Steinschnitte u. s. w. sind nicht in der Taxe angeführt; sondern dem billigen Uebereinkommen des Helfenden und Hülfsbedürftigen, freigestellt, doch mit der Warnung für den Arzt, daß das Reichs Medizinische Kollegium allen übertriebenen Forderungen abhelfen wird.“ 57

Der Gesetzgeber ließ den Ärzten also einen beträcht­lichen Freiraum, über den Wert ihrer Leistungen zu verhandeln. Gleichzeitig erkannte er aber die Gefahr, die ein solches Bezahlungsprinzip in sich barg, näm­lich die Bevorzugung wohlhabender Kranker, die zwangsläufig zur Benachteiligung weniger gut Betuchter führen musste. Dem sollte zum Beispiel eine Verpf­lichtung der Hebammen, „unabhängig von ihrem Vermögen [alle Gebärenden] gleich [zu] behandeln und nicht die Reichen den Armen vor[zu]ziehen“, entgegenwirken.58 Damit versuchte die Staatsgewalt, den gewährten Freiraum einzugrenzen. Eine weitere Form, das medizinische Personal einer Disziplinierung zu unterwerfen, bestand in seiner Einbindung in staat­lich vorgeschriebene und regulierte Kommunikationssysteme. Eines dieser Systeme bildete der Informationsaustausch zwischen den verschiedenen Verwaltungsebenen – vor allem aber zwischen Provinz und Hauptstadt, zwischen dem lokalen Medizinal­wesen und zentralen Behörden –, der es der Staatsgewalt ermög­lichen sollte, die Tätigkeit der Ärzte zu kontrollieren und die Qualität der medizinischen Versorgung zu sichern. Erwartungsgemäß stieß die Staatsgewalt mit der Disziplinierung des medizi­ nischen Personals schnell an ihre Grenzen. Selbst die Kommunikation funktionierte nicht so reibungslos, wie es die Verordnungen vorsahen. Dabei war es nicht immer die räum­liche Distanz zur zentralen Verwaltung, die den Informationsfluss behinderte. Der Innenminister meldete dem Kaiser im Jahr 1807, dass viele Ärzte, die in 57 Taxe für alle vom Reichs Medizinischen Kollegio abhängenden Aerzte, Wundärzte, Hebammen u. s. w. vom 20. September 1789, in: PSZ I Bd. 23, Nr. 16.805, S. 78 – 80, hier S. 80. Im Original Rus­sisch und Deutsch. 58 PSZ I Bd. 23, Nr. 16.804, S. 76.

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der Hauptstadt praktizierten, keine Berichte über die von ihnen behandelten Kranken schickten.59 Um die säumigen Ärzte zu finden, ließ sich der Innenminister von den Apotheken die Namen aller Ärzte geben, die seit Beginn des Jahres Rezepte ausgestellt hatten. Dabei traten einige Ungereimtheiten zu Tage: Während die Zahl jener Ärzte, die wöchent­lich Krankenberichte erstatteten, sich gerade einmal auf einhundert Personen belief, waren Rezepte von 580 verschiedenen Ärzten ausgestellt worden.60 Bei den Recherchen stellte sich heraus, dass der Medizinal­verwaltung zweihundert Ärzte gänz­lich unbekannt waren. Man nahm an, dass etwa ein Viertel dieser Ärzte bisher ledig­lich keinen Eintrag in den Büchern des Heroldsamts bekommen hatte. Die übrigen seien entweder ausländische Ärzte, die nicht geprüft wurden, oder Scharlatane und sogenannte Empiriker,61 die über keine Zulassung verfügten. Unter den zweihundert Unbekannten befanden sich außerdem neunzehn Personen, die ausdrück­lich kein Recht auf freie Praxis besaßen. Laut dem Bericht des Innenministers hatte diese Unordnung in manchen Gouvernements erschreckende Ausmaße angenommen. Dort würden demnach nicht nur ungeprüfte Heiler praktizieren, sondern auch Hausangestellte, die keinerlei medizinische Ausbildung genossen hatten.62 Obwohl dieser Missstand bereits zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts bekannt war, sah sich der Generalstabsarzt noch zwanzig Jahre später genötigt, die Gouverneure darauf hinzuweisen, dass nur wenige Medizinal­behörden der zentralen Verwaltungsebene Informationen über den Zustand der medizinischen Versorgung in der Provinz zukommen ließen. Erwartet wurden Inspektionsberichte zu Krankenhäusern und Apotheken, medizinisch-topographische Beschreibungen des jeweiligen Gouvernements, Listen der Medizinal- und Apothekenbeamten, deren Personalakten sowie Berichte über den Verlauf der Pockenschutzimpfung.63 Wie dringend die Verbesserung der Kontrolle des medizinischen Personals in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts den Vertretern der Staatsgewalt erschien, zeigt etwa ein Protokoll der Gouvernementsverwaltung von Jaroslavl’ aus dem Jahr 1821. Darin wird festgehalten, dass der Stabsarzt des Kreises Romanov seinen Posten ohne Erlaubnis seitens der Obrigkeit verlassen habe und sich in ­Jaroslavl’ befinde.64 Ein Großteil der überlieferten Verstöße der Medizinal­beamten gegen ihre



59 PSZ I Bd. 29, Nr. 22.539, S. 1198 f. 60 Ebd., S. 1199. 61 Hierbei handelt es sich um eine abwertende Bezeichnung für Heiler ohne akademische Ausbildung. 62 PSZ I Bd. 29, Nr. 22.539, S. 1199. 63 Rundschreiben des Generalstabsarztes, Joseph Rehmann, an die Gouverneure vom 22. August 1828. GAJaO f. 73, op. 1, d. 803, l. 52 – 52ob., hier l. 52. 64 Sitzungsprotokoll der Gouvernementsverwaltung von Jaroslavl’ vom 13. April 1821. GAJaO f. 79, op. 1, d. 125, l. 9 – 14, hier l. 10.

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professionellen Pf­lichten bestand in Beschwerden lokaler Verwaltungen über mangelhaft oder gar nicht durchgeführte Leichenobduktionen.65 Die Obduktion von Leichen gehörte zu den unbeliebtesten Pf­lichten und fiel häufig der großen Arbeitsbelastung der Provinzärzte zum Opfer. So beklagte sich das Landschaftsgericht des Kreises Myškin, dass der dortige Arzt – der zusätz­lich zum Dienst in Myškin die Aufgaben in einem weiteren Kreis übernehmen musste – oft nicht für die Aufträge der Polizei zur Verfügung stehe.66 Einige Jahre zuvor hatte auch das Gericht des Kreises Mologa Schwierigkeiten gehabt, den dortigen Arzt für die Obduktion von Leichen zu gewinnen.67 Diese Praxis musste die Aufklärung von Verbrechen behindern, da Leichname schnell verwesten und oft ohne Obduktion bestattet werden mussten. Der Staatsmacht war es aber ein besonderes Anliegen, dass Ärzte gerade diese Arbeit, die für die Justiz von großer Bedeutung war, gewissenhaft verrichteten. Damit Normen Anwendung finden, müssen sie zum einen bekannt sein und zum anderen muss jemand bereit sein, sie notfalls auch mit Gewalt zu verteidigen. Wie reagierte die Staatsgewalt auf Normverstöße im medizinischen Bereich? In dem geschilderten Fall aus Jaroslavl’ mussten mehrere Verwaltungsbehörden eingeschaltet werden, um die Kreisärzte zur vorschriftsmäßigen Ausübung ihrer Pf­lichten zu zwingen. Als letzte Maßnahme wandte sich der Gouverneur an die lokale Medizinal­behörde und befahl ihr, den Medizinal­beamten aller Kreise vorzuschreiben, jeder Einladung eines Gerichts – ob zur Leichenobduktion oder wegen anderer Aufgaben – unverzüg­ lich Folge zu leisten.68 Hier wurde ledig­lich die Gültigkeit der Norm wiederholt. Das Instrumentarium, dessen sich die zentrale Verwaltung bediente, enthielt einen breiten Katalog an Strafmaßnahmen: Für die unwahrheitsgemäße Angabe der Todesursache eines Bauern kam der zuständige Arzt vor Gericht.69 Für die Ausstellung eines falschen Zeugnisses über eine Gesundheitsprüfung wurden sämt­liche Mitglieder der Medizinal­behörde von Smolensk zu einer Geldstrafe verurteilt.70 Die Strafversetzung in eine andere Gegend scheint eine gebräuch­liche Maßnahme gegen Vergehen der Arztlehrlinge gewesen zu sein. So wurde ein Lehrling von Rybinsk

65 Siehe zum Beispiel das Sitzungsprotokoll der Medizinal­verwaltung von Jaroslavl’ vom 30. April 1803. GAJaO f. 86, op. 2, d. 1, l. 49ob.–50, hier l. 49ob.; Sitzungsprotokoll der Medizinal­verwaltung von Jaroslavl’ vom 19. Mai 1803. GAJaO f. 86, op. 2, d. 1, l. 59ob.–60, hier l. 59ob. 66 Schreiben der Gouvernementsverwaltung von Jaroslavl’ an den Generalgouverneur von Novgorod, Tver’ und Jaroslavl’, Georg von Oldenburg, vom 10. März 1810. GAJaO f. 72, op. 2, d. 1997, l. 1 – 2, hier l. 1 – 1ob. 67 Schreiben des Gouverneurs von Jaroslavl’, Michail Golicyn, an die Medizinal­verwaltung des Gouvernements vom 18. Oktober 1806. GAJaO f. 86, op. 1, d. 88, l. 1 – 2, hier l. 1. 68 Ebd., l. 1ob.–2. 69 Schreiben des Gouverneurs von Jaroslavl’, Aleksandr Bezobrazov, an die Gouvernementsverwaltung vom 15. Februar 1823. GAJaO f. 77, op. 1, d. 294, l. 1 – 15ob., hier l. 14ob.–15. 70 Senatserlass vom 2. Mai 1827, in: PSZ II Bd. 2, Nr. 1071, S. 408 – 409.

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nach Myškin versetzt, weil er ohne Erlaubnis des Arztes Kranke behandelt haben soll.71 Eine nachlässige Ausübung der Pf­lichten konnte bei Medizinal­beamten sogar zur Amtsenthebung führen.72 Allerdings wurden bei der Bestrafung auch Zugeständnisse an den Bedarf an medizinischem Personal gemacht. So wurde 1808 festgelegt, dass Befehlshaber im Militär die Ärzte in ihrer Einheit bestrafen konnten, indem sie ihnen den Unteroffiziersrang entzogen, sie jedoch nicht ihres Postens enthoben.73 Es gehörte zur Disziplinierung des medizinischen Personals, dass Verstöße gegen den gesetz­lich festgeschriebenen Verhaltenskodex eine Bestrafung nach sich zogen und dass dieser Automatismus allgemein bekannt war. Zu diesem Zweck wurden Strafmaßnahmen bisweilen um die Einbeziehung einer – in der Regel auf Fachkollegen und die Verwaltung – begrenzten Öffent­lichkeit ergänzt. Das Innenministerium sorgte daher dafür, dass Vergehen der Medizinal­beamten im ganzen Reich publik gemacht wurden. Berichte über verschiedene Verstöße verschickte die zentrale Verwaltung als Rundschreiben an alle Medizinal­behörden des Landes.74 Sie sollten auf Medizinal­beamte abschreckend wirken und die Gültigkeit der Normen bestätigen. Die Disziplinierung des medizinischen Personals betraf nicht nur Apotheker, Kreisärzte und deren Lehrlinge, sondern auch Hebammen. Auch ihr Verhalten rief bei der lokalen Verwaltung gelegent­lich Unmut hervor. 1809 beklagte sich der Innenminister über Hebammen, die sich weigerten, Gebärenden aus ärmeren Verhältnissen Hilfe zu leisten. Aus diesem Grund würden sich ärmere Schwangere an ungelernte Hebammen wenden, die nichts von ihrer Sache verstünden und häufig sowohl Müttern als auch Kindern schadeten.75 Bemerkenswert ist hierbei die Überzeugung des Ministers, dass nur unter staat­licher Aufsicht ausgebildete und von akademischen Ärzten geprüfte Hebammen gute Dienste leisten könnten. Das staat­liche Monopol auf die medizinische Ausbildung musste behauptet werden, indem Absolventen staat­licher Einrichtungen gegen die Konkurrenz von sogenannten Scharlatanen geschützt wurden. Im Bereich der Geburtshilfe hatte das ausgebildete medizinische 71 Sitzungsprotokolle der Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 1. und vom 19. März 1803. GAJaO f. 86, op. 2, d. 1, l. 30, 36. Von einer Strafversetzung auf einen niedrigeren Posten berichtet das Sitzungsprotokoll der Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 19. Januar 1799. GAJaO f. 86, op. 1, d. 10, l. 11 – 11ob. 72 Siehe etwa die Akte zum Streit zwischen dem Stabsarzt des Stadtkrankenhauses von Minsk und dem dortigen Finanzverwalter. Nach Ansicht der lokalen Verwaltung hatte sich das Verhalten sowohl des Arztes als auch des Finanzverwalters negativ auf die Behandlung der Kranken ausgewirkt. Beide Männer mussten ihre Posten räumen. Abschrift aus dem vom Innenminister bestätigten Protokoll vom 30. Juni 1809. RGIA f. 1287, op. 11, d. 544, l. 14. 73 Erlass aus dem Kriegskollegium vom September 1808, in: PSZ I Bd. 30, Nr. 23.290, S. 593. 74 Siehe zum Beispiel das Rundschreiben des Innenministers, Aleksandr Kurakin, an lokale Medizinal­ verwaltungen vom 13. Oktober 1808. GAJaO f. 86, op. 1, d. 145, l. 62. 75 Schreiben des Gouverneurs von Jaroslavl’, Michail Golicyn, an die Medizinal­verwaltung vom 4. Juni 1809. GAJaO f. 86, op. 1, d. 200, l. 30 – 30ob., hier l. 30.

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Akteure des Medizinal­wesens

Personal einen besonders schweren Stand bei der lokalen Bevölkerung. Allerdings konnten beim Staat angestellte Hebammen einiges dazu beitragen, dass ihre Dienste angenommen wurden: Nur wenn sie ihre Aufgaben gewissenhaft erfüllten, bestand die Aussicht, von der ört­lichen Bevölkerung akzeptiert zu werden. So schrieb der Gouverneur von Jaroslavl’, Michail Golicyn, der lokalen Medizinal­behörde vor, die Hebammen an ihre auf Menschenliebe gründende Pf­licht zu erinnern. Um die Bedeutung dieser Pf­licht zu unterstreichen, sollten sie zudem einen Eid leisten, gleichermaßen wohlhabende und weniger gut betuchte Schwangere zu betreuen, denn für diese Dienste würden sie aus der Staatskasse bezahlt. Golicyn erinnerte hier die Verwaltung daran, dass die Lohnauszahlung an bestimmte Pf­lichten gebunden war und der Geldgeber auf deren Erfüllung achtete. Zuwiderhandelnde Hebammen waren vor Gericht zu bringen. Gleichzeitig sollte die Stadt- und Landpolizei die Bevölkerung über das bestehende Angebot an Hebammen informieren.76 Die Staatsgewalt setzte sich nicht das Ziel, alle Geburten im Reich ausschließ­ lich von ausgebildeten Hebammen begleiten zu lassen. Bei der geringen Zahl der Geburtshelferinnen hätte dieses Vorhaben utopisch bleiben müssen. Vielmehr war man bemüht, die vorhandenen Hebammen so weit wie mög­lich auszulasten, damit zum einen wenigstens ein Teil der Geburten unter Aufsicht von Fachkräften verlief und sich zum anderen die Bevölkerung an professionelle medizinische Hilfe von Staatsangestellten gewöhnte. Die Disziplinierung der Beamtenschaft im frühen neunzehnten Jahrhundert betraf nicht nur das medizinische Personal des Reiches. Medizinal­beamte selbst dienten der Staatsgewalt auch als Instrument zur Disziplinierung anderer Staatsdiener. Wenn ein Angestellter der lokalen Verwaltung wegen Krankheit seinen Dienst nicht antreten konnte, wurde ein Arzt zu ihm geschickt, um in Anwesenheit eines weiteren Beamten seinen Gesundheitszustand zu überprüfen.77 Indem Beamte einen Anspruch auf die Überwachung des Gesundheitszustands anderer Beamter hatten, hörte ihre Gesundheit auf, ausschließ­lich eine Privatangelegenheit zu sein. Mithilfe von Medizinal­ beamten beanspruchte die Staatsgewalt einen Zugriff auf den mensch­lichen Körper. Die Professionalisierung der Verwaltung, die im medizinischen Bereich mit der Reform des Jahres 1797 ihren Anfang nahm, hatte weitreichende Folgen. Nicht nur Verwaltungsstrukturen und Kommunikationsabläufe wurden neuen Regeln unterworfen. Auch medizinische Berufe waren als Teil des staat­lichen Monopolanspruchs einer Disziplinierung ausgesetzt, die sie in zuverlässige Instrumente staat­licher Medizinal­politik verwandeln sollte.

76 Ebd. l. 30 – 30ob. 77 Sitzungsprotokoll der Stadtduma von Borisoglebsk vom 10. August 1810. GAVO f. i–135, op. 1, d. 7, l. 39.

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3. 2   Ve r wa lt u ng d e s Ä r z t e m a ngel s Fragen der Quantität und Qualität Die Geschichte der Ärzte in Russland ist vor allem die Geschichte ihres ­Mangels.78 Die Entscheidung europäischer Monarchen mit aufgeklärt absolutistischem Anspruch, das Medizinal­wesen auszubauen und immer größeren Bevölkerungsteilen eine medizinische Versorgung zur Verfügung zu stellen, schuf im Bereich der staat­lichen Medizin einen Bedarf an medizinischem Personal. Ob gesundheits- und medizinalpolitische Aufgaben durchgeführt werden konnten, hing von den personellen Kapazitäten ab, und die tatsäch­liche Ärztezahl entsprach bei weitem nicht immer den von der Staatsgewalt formulierten Zielen. Dieses Phänomen gehört zu den wesent­lichen Kennzeichen des europäischen Medizinal­wesens im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert.79 Wie war es in dieser Hinsicht um das medizinische Personal im europäischen Teil des Zarenreichs in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts bestellt? Frei­lich darf die Anzahl der Ärzte nicht zum Gradmesser eines vermeint­lichen medizinischen Fortschritts werden.80 Hier soll es vielmehr darum gehen zu prüfen, wieweit die Staatsgewalt in der Lage war, einem an sich selbst gestellten Anspruch gerecht zu werden. Die Erhöhung der Ärztezahl und die Reproduktion des medizinischen Personals im eigenen Land gehörte zu den wichtigsten Aufgaben der staat­ lichen Medizinal­politik des späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts. Das Gouvernementsstatut des Jahres 1775 schrieb die folgende Verteilung der Mediziner im Land vor: In jedem Kreis sollte es einen promovierten Arzt, einen Wundarzt, zwei Unterärzte und zwei Arztlehrlinge geben.81 Doch wie viele Mediziner praktizierten tatsäch­lich in den drei untersuchten Gouvernements? Außer zivilen Medizinal­beamten gab es in vielen Ecken des Reiches Militärärzte, die vor jenen Ärzten in die Provinz gekommen waren, die eigens zur medizinischen Versorgung der Zivilbevölkerung entsandt wurden. So ist der erste Arzt im Gouvernement Tambov, ein Militärarzt, für das Jahr 1681 urkund­lich belegt. In Voronež gab es zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts nur einen Regimentsarzt. Aus dem Gouvernement ­Jaroslavl’ ist für das Jahr 1753 die Existenz eines pensionierten Militärarztes überliefert.82 Neben ihrer Tätigkeit in der jeweiligen Militäreinheit führten solche Ärzte



78 Siehe Seton-Watson, Russian Empire, S. 97, 212 f. 79 Alber; Dornheim, Fackel, S. 168. 80 Kritik an dieser Vorgehensweise mit weiterführenden Literaturangaben bei Renner, Autokratie, S. 27. 81 Anordnungen zur Verwaltung der Gouvernements des Allrus­sischen Reiches vom 7. November 1775. Erster Teil, in: PSZ I Bd. 20, Nr. 14.392, S. 229 – 304, hier S. 232. 82 Bykova, Zdravoochranenie, S. 199; Vejnberg, Voronežskij kraj, S. 529; Radovskaja (Hg.), 225 let, S. 5.

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Akteure des Medizinal­wesens

in der Regel eine private Praxis und behandelten diejenigen, die es sich finanziell leisten konnten.83 Im Jahr 1779 soll es im Gouvernement Voronež drei Ärzte gegeben haben. Zwei von ihnen waren in der Gouvernementsstadt tätig.84 Zwei Jahre später arbeiteten in demselben Gouvernement schon acht Ärzte, 1784 wurden zwölf gezählt. Im Jahr 1785 ist bereits von fünfzehn Ärzten die Rede. Dabei hatte diese Gegend noch im Jahr 1768 außer dem erwähnten Regimentsarzt keine Mediziner gekannt.85 Zeitgenös­sische Berichte erwecken ebenfalls den Eindruck, dass es in der rus­sischen Provinz vor der Verwaltungsreform des Jahres 1775 kaum medizinisches Personal gab, das für die Versorgung der Zivilbevölkerung zuständig war.86 Zwar lässt sich nachträg­lich nicht mehr mit Sicherheit klären, inwieweit die absoluten Zahlen der Wirk­lichkeit entsprachen, doch die überlieferten Angaben vermitteln eine ungefähre Dimension.87 Die angeführten Zahlen ergeben einen Zuwachs an Ärzten um das Fünffache innerhalb von sechs Jahren. Eine ähn­liche Beobachtung lässt sich auch im Gouvernement Tambov machen. Der erste Stadtarzt soll hier im Jahr 1753 seine Praxis begonnen haben. Während der Pestepidemie 1771 soll es ledig­lich zwei Ärzte im Gouvernement gegeben haben. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts zählte man bereits zwölf Medizinal­beamte. Im Gouvernement Jaroslavl’ verhielt es sich ähn­lich: Für die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ist die Existenz eines

83 Siehe etwa Bagin, Na službe, S. 160 f. 84 In den Akten der Statthalterei von Voronež werden für das Jahr 1780 ebenfalls drei Ärzte angegeben: jeweils einer in Voronež, Ostrogožsk und Zemljansk. Siehe das Sitzungsprotokoll der Statthalterei von Voronež vom 6. März 1780. GAVO f. i–14, op. 1, d. 5, l. 18 – 18ob., hier l. 18ob. John T. Alexander irrt sich, wenn er schreibt, dass Voronež erst im Jahr 1788 fest angestellte Ärzte hatte. Alexander, Catherine the Great, S. 195. 85 Ševčenko, Dejatel’nost’, S. 57; Taradin, Materialy, S. 513. 86 Der Gutsbesitzer aus dem Gouvernement Tula und zeitweise Verwalter zweier Amtsbezirke, Andrej Bolotov, schrieb in seinen Memoiren, dass es zu Beginn der 1770er Jahre keine Hebammen in den Städten gab. Bolotow, Leben Bd. 2, S. 131. Auch in dem Reisebericht von Ivan Lepëchin aus den 1760er Jahren wurde kein medizinisches Personal in der Provinz erwähnt. Siehe Lepechin, Dnev­ nye zapiski Bd. 1. 87 Grombach übernimmt von Čistovič, Istorija, S. 353 folgende Angaben zur Anzahl der Ärzte im Jahr 1780: 46 Doktoren, 488 Wundärzte und 364 Unterärzte. Grombach, Literatura, S. 17. Die zuverlässigste Angabe zur Anzahl der Ärzte und Wundärzte in Rus­sischen Reich enthält der Bericht des Innenministers für das Jahr 1803. Dieser Quelle zufolge gab es in Russland zu Beginn des Jahres 1803 1519 Medizinal­beamte. Otčet za 1803 god, S. 135. Bei manchen Autoren ist die Herkunft der Angaben zur Anzahl der Ärzte unklar, etwa bei Jekutsch, Krankheitsbegriff, S. 175. Sie übernimmt die Angabe offenbar von Graham, der für das Jahr 1800 zweitausend Ärzte im Rus­sischen Reich zählt. Graham, Science, S. 245. Von etwa zweitausend Ärzten in Russland um 1803 spricht auch Frieden, Physicians, S. 28. Als einer der wenigen verweist Heinz Müller-Dietz auf das Problem, genaue Angaben über die Anzahl der Ärzte in Russland im 18. Jahrhundert zu machen: Müller-Dietz, Medizinal­wesen, S. 16.

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Arztes überliefert, im Jahr 1797 sollen neun Ärzte praktiziert haben, 1804 wurden bereits dreizehn Medizinal­beamte verzeichnet.88 Die Überlieferung erlaubt keine Rückschlüsse auf die Zugäng­lichkeit der medizinischen Hilfe in der Provinz, schon gar nicht auf ihre sozialen und geographischen Varianten. Doch anhand dieser spär­lichen Angaben lässt sich die ungefähre Richtung der quantitativen Entwicklung in der Verbreitung des medizinischen Personals in der Provinz ablesen. Die unübersehbar steigende Tendenz in den drei erwähnten Gouvernements ging mit dem allgemeinen Zuwachs des medizinischen Personals im Rus­sischen Reich einher.89 Der Ärztemangel, dessen Bekämpfung K ­ atharina II. in ihrer Großen Instruktion indirekt forderte,90 darf nicht als eine gleichsam naturgegebene Erscheinung betrachtet werden. Die Nachfrage nach medizinischem Personal war erst durch die – auf Staatsebene gefällte – Entscheidung entstanden, dem Militär und der Zivilbevölkerung medizinische Versorgung zur Verfügung zu stellen. Indem die Staatsgewalt den Bedarf an Ärzten propagierte, machte sie deren Fehlen spürbar, und der Mangel an Ärzten stieg proportional zum Bedarf. Wenn der Personalbestand für Medizinal­ beamte im Jahr 1799 539 Beamte im zivilen Medizinal­wesen vorsah, waren es ein oder zwei Jahre später bereits 662. Damit war der Bedarf an Medizinal­beamten in kürzester Zeit um knapp 23 Prozent gestiegen.91 Die Vermehrung der Stellen im Bereich des zivilen Medizinal­wesens erweist sich als eine Konstante während des untersuchten Zeitraums. Der ab 1818 wirksame Personalbestand sah folgende Verteilung des medizinischen Personals im Rus­sischen Reich vor:

88 Molčanova; Olonceva; Ščukin (Hg.), Tambov, S. 308; Tabeli k otčetu za 1804 god, o. S. Bykova zählt zusammen mit Arztlehrlingen fünfzig Mediziner zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Bykova, Zdravoochranenie, S. 199. Gasparjan spricht, leider ohne Quellenverweis, von 25 Ärzten. Gasparjan, K istorii Bd. 4, S. 990, 994. Aller Wahrschein­lichkeit nach hat Gasparjan Medizinal­beamte und frei praktizierende Ärzte zusammengezählt. Nach dem Bericht des Innenministers arbeiteten im Gouvernement Tambov im Jahre 1804 zwölf Medizinal­beamte und zwölf frei praktizierende Mediziner. Siehe dazu auch Osincev u. a. (Hg.), 225 let, S. 6; Lozinskij, Medicina, S. 131. 89 Brückner, Ärzte, S. 12 f. Leider gibt Brückner nicht an, woher die von ihm verwendeten Angaben stammen. Für das Jahr 1826 berechnet Bulgakova anhand des Rossijskij medicinskij spisok na 1826 god 3969 Mediziner. Bulgakova, Profession, S. 218. 90 Instruktion, gegeben der Kommission für die Verfassung eines neuen Gesetzbuchprojekts vom 20. Juli 1767, in: PSZ I Bd. 18, Nr. 12.949, S. 192 – 280, hier S. 241. Dt.: Katharinä der Zweiten Instruction, S. 79. 91 Bericht über die etatmäßige Anzahl der Medizinal­beamten in der Armee, Flotte und in den Gouvernements und die fehlenden Medizinal­beamten, o. D. [1800 oder 1801]. RGADA f. 344, op. 3, Anhang S. 110. Nach Angaben von Chanykov setzte sich dieser Trend im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts fort. Chanykov, Očerk, S. 85.

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Akteure des Medizinal­wesens

Personalbestand (Soll) der zivilen Medizinal­beamten und der Hebammen von 1818 92 Gouvernements

Anzahl der Kreise pro Gouvernement

Anzahl der Stellen für das medizinische Personal pro Gouvernement

Astrachan’, Estland

4

21

Cherson, Kaukasus, Kurland, Livland

5

25

Olonec, Taurien

7

33

Archangel’sk, Ekaterinoslav, Irkutsk, Grodno, Pskov

8

37

St. Petersburg

8

49

Stadt St. Petersburg



28

Tobol’sk

9

41

10

45

Jaroslavl’, Minsk, Novgorod, Penza, Saratov, Simbirsk, Sloboda-Ukraine, Vjatka, Vologda Kaluga, Nižnij Novgorod, Wilna

11

49

Kazan’, Kiew, Kostroma, Mogilëv, Orenburg, Orël, Perm’, Podolien, Rjazan’, Smolensk, Tambov, Tula, Tver’, Vitebsk, Wolhynien

12

53

Vladimir, Voronež

13

57

Moskau

13

69



43

Stadt Moskau Černigov, Kursk, Poltava INSGESAMT

15

65

486

2280

Dieser Personalbestand berechnete den Bedarf eines Gouvernements nach medizinischem Personal anhand der Kreise. Eventuelle Unterschiede – etwa besonders häufiges Auftreten bestimmter Krankheiten, unterschied­liche Bevölkerungsdichte oder große Truppenkontingente – fanden darin keinen Niederschlag. Nur für die beiden Hauptstädte und ihre Gouvernements ging man von einem höheren Bedarf aus. Ebenfalls gegen die Betrachtung des Ärztemangels als eine absolute Gegebenheit spricht der Umstand, dass die von der Staatsgewalt beschlossene und angestrebte Ausweitung der medizinischen Hilfe nicht von allen Beteiligten als eine Notwendigkeit angesehen wurde. Man denke etwa an die unterschied­liche Gewichtung der medizinischen Versorgung in den Instruktionen für die Große Kommission und 92 Die folgende Tabelle wurde auf der Grundlage des Personalbestands für das medizinische Personal und Hebammen in den Gouvernements vom 17. Oktober 1817 erstellt. RGIA f. 1287, op. 11, d. 1622, l. 4 – 6.

Verwaltung des Ärztemangels

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an die Tatsache, dass Bauerninstruktionen nie die Bitte nach einer Erhöhung der Ärzte­zahl in der Provinz enthielten. Auch die Auffassung, dass sich die Landbevölkerung, in erster Linie Bauern, durch einen gesünderen Lebenswandel auszeichne, einen robusteren Körper habe und dadurch viel weniger auf medizinische Hilfe angewiesen sei als Städter,93 ist ein weiterer Hinweis auf die starke Relativität des vehement beklagten Ärztemangels. Das Bedürfnis nach Ärzten existierte in Russland auf zwei Ebenen: Instruktionen für die Gesetzgebende Kommission zeugen von einer partiellen Nachfrage nach einem besseren medizinischen Angebot bei manchen städtischen und länd­lichen Eliten. Mit der Entscheidung, das Medizinal­wesen sowohl für den zivilen als auch für den militärischen Bereich auszubauen, schuf die Staatsgewalt auf staat­licher Ebene ebenfalls einen Bedarf an Ärzten. Das Bestreben, ein mög­lichst engmaschiges Netz von Medizinal­beamten über das Reich zu spannen und die medizinische Versorgung im Militär und im Zivilbereich auszuweiten, bedeutete keineswegs die absolute Priorität der Quantität vor der Qualität. Auf Vorschlag des Hauptdirektors des Medizinal­kollegiums, Aleksej Vasil’ev, wurde zum Beispiel am 16. Juli 1799 die Position des Unterarztes abgeschafft. Dieser Posten war 1735 eingeführt worden, um dem Militär mehr medizinisches Personal zur Verfügung zu stellen. Die Qualifikation der Unterärzte ließ jedoch häufig zu wünschen übrig. Ihre Ausbildung bekamen sie an den Chirur­gischen Schulen, die sie nicht selten noch vor dem Abschluss verließen, um dringend zu besetzende Stellen anzutreten. So nahm man in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts nach Meinung des Medizinal­kollegiums eine niedrige Qualifikation des medizinischen Personals in Kauf, um den Bedarf des Militärs zu decken.94 Die Beschäftigung unzureichend qualifizierter Ärzte betrachtete das Medizinal­ kollegium in seinem Bericht aus dem Jahr 1799 jedoch als schäd­lich. Zwar sei die Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Medizinern auf dem Papier so, dass Unterärzte ledig­lich Hilfsarbeiten verrichteten. In der Praxis müssten sie jedoch häufig die ihnen vorgesetzten Wundärzte vertreten. Ihr Kenntnisstand erlaube es ihnen nicht, Krankheiten richtig zu diagnostizieren und zu behandeln. Dies habe für Kranke häufig fatale Folgen. Angesichts der Tatsache, dass eine systematische Weiterbildung der Unterärzte die Staatskasse erheb­lich belasten würde, schlug die oberste Medizinal­behörde vor, Unterärzte im Heer und in der Marine durch

93 Stellungnahme des Deputierten des Medizinal­kollegiums Baron Georgij Aš als Antwort auf die Vorlage des Deputierten Lev Naryškin zur Volksgesundheit. 74. Sitzung der Gesetzgebenden Kommission am 11. Dezember 1767, in: SIRIO Bd. 8, S. 352 – 360, hier S. 353. 94 Kaiser­lich bestätigter Bericht des Medizinal­kollegiums vom 16. Juli 1799, in: PSZ I Bd. 25, Nr. 19.036, S. 721 – 727, hier S. 722.

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Akteure des Medizinal­wesens

Wundärzte zu ersetzen, die eine Ausbildung an der Medizinisch-Chirur­gischen Akademie abgeschlossen hatten.95 Diese Maßnahme ging mit einer zahlenmäßigen Verringerung des medizinischen Personals im Militär einher. 804 Unterärzte, die für das Jahr 1799 für Heer und Marine vorgesehen waren, sollten durch 544 Wundärzte ersetzt werden.96 Die von Vasil’evs Behörde ausgearbeitete strukturelle Veränderung im Stab der Medizinal­ beamten zielte darauf ab, eine höhere Qualität der medizinischen Versorgung des Militärs zu gewährleisten. Dafür nahm man quantitative Verluste in Kauf. Dass die Verbesserung der medizinischen Versorgung nicht darin bestehen konnte, immer höhere Personaletats zu beschließen, ohne die Zahl der tatsäch­ lich vorhandenen Mediziner zu berücksichtigen, erklärte der Innenminister 1805 in aller Deut­lichkeit: „Die große Anzahl der Wundärzte, die im Etat vorgesehen ist, nimmt der Hauptmedizinalverwaltung beinahe jede Mög­lichkeit, alle Stellen mit Medizinal­beamten zu besetzen. […] Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass man nicht aufgrund der großen Zahl, sondern aufgrund der Fähigkeiten der Ärzte eine erfolgreiche Behandlung erwarten kann; und es ist hinreichend bekannt, dass eine große Anzahl der Ärzte, die nicht über ausreichende Kenntnisse verfügen, mehr Schaden anrichtet, als sie Nutzen bringt.“ 97

Die Prioritäten zwischen Qualität und Quantität hatten sich um die Jahrhundertwende deut­lich zugunsten der Qualität verschoben. Allerdings wurden Studenten der Medizinisch-Chirur­gischen Akademie während der Koalitionskriege trotz aller Kritik weiterhin vor dem Abschluss ihrer Ausbildung beim Militär eingestellt. Um eine qualifizierte medizinische Versorgung der Armee zu gewährleisten, wurden außerdem von April bis Oktober 1808 insgesamt 121 Ärzte aus dem Ausland nach Russland eingeladen 98 – eine Praxis, auf deren Überwindung die Medizinal­politik seit der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts ausgerichtet war. Diese Maßnahme brachte aber neue Probleme in Bezug auf medizinische Standards, die staat­ lich garantiert werden sollten.

95 Ebd., S. 723. 96 Ebd., S. 725. 97 Kaiser­lich bestätigter Bericht des Innenministers, Viktor Kočubej, vom 4. August 1805, in: PSZ I Bd. 28, Nr. 21.866, S. 1153 – 1165, hier S. 1156. 98 Kaiser­lich bestätigter Bericht des Innenministers, Aleksej Kurakin, vom 30. Oktober 1808, in: PSZ I Bd. 30, Nr. 23.322, S. 656 – 659, hier S. 656 f.

Verwaltung des Ärztemangels

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Ausländische Mediziner Russlands erste Ärzte kamen aus dem Ausland, und ihre Einladung zum Dienst im Rus­sischen Reich war lange Zeit die wichtigste Methode zur Rekrutierung akademisch ausgebildeter Mediziner.99 Stieg der Bedarf nach medizinischer Versorgung, etwa zu Kriegszeiten, wurden noch mehr Ärzte als üb­lich aus dem Ausland eingeladen.100 Diese Praxis war nicht nur für das Medizinal­wesen reserviert: Auch für andere Bereiche, in denen im Rus­sischen Reich die Kompetenz fehlte, ließ man Fachleute aus dem Ausland kommen.101 Die Dominanz der Ausländer im rus­ sischen Medizinal­wesen war wiederholt Gegenstand wissenschaft­lichen und publizistischen Interesses.102 Die sowjetische Historiographie entwickelte den Topos eines ausländischen Arztes in Russland, der sich durch eine mangelhafte fach­liche Qualifikation auszeichnete und ledig­lich aus Abenteuerlust und wegen der hohen Gage nach Russland kam, sich aber in seiner Berufsausübung als unfähig erwies.103

99 Siehe Müller-Dietz, Rekruten. Zur Geschichte der Ärzte in Russland bis zum Ende des 17. Jahrhunderts siehe Dumschat, Mediziner und dies., Ärzte. Einen knappen Überblick über die Einladung ausländischer Ärzte nach Russland und deren zahlenmäßige Entwicklung bietet Clendenning, Dimsdale, S. 111 ff., 125. Clendenning stellt fest, dass um die Mitte des 18. Jahrhunderts der größte Teil des Medizinal­wesens „in den Händen deutscher Ärzte“ war. Ebd., S. 119. Weitere Angaben – leider ohne Quellennachweis – zur Herkunft der im Rus­sischen Reich tätigen Ärzte finden sich bei Brückner, Ärzte, S. 16 – 68. Brückners Daten von S. 13 und 68 werden übernommen von Gantt, Medicine, S. 72 und finden sich auch bei Alexander, Catherine the Great, S. 194 wieder: Die Zahl der ausländischen Ärzte stieg diesen Autoren zufolge von 94 im Zeitraum von 1760 bis 1770 auf 236 im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts. Die Zahl der einheimischen Ärzte sei in der gleichen Zeit von 21 auf 38 gestiegen. 100 Amburger, Beiträge, S. 37. 101 So war etwa die gesamte Hochschulbildung in der Gründungsphase der Universitäten auf ausländische Dozenten angewiesen. Zur Entwicklung dieser Praxis im 19. Jahrhundert siehe Maurer, Hochschullehrer, S. 90 – 120 und S. 198 – 201. In diesem Sinne passt der Befund von Andreas Renner, dass die zarische Regierung sich für den Import der akademischen Medizin aus dem Westen Europas entschieden hat, weil dieses Wissen und seine Träger „mit den Erfordernissen der rus­ sischen Reichs- und Staatsbildung“ kompatibel waren. Renner, Autokratie, S. 323. 102 Clendenning zählt um die Jahrhundertwende 40 registrierte einheimische Ärzte zusammen mit 236 Ausländern. Clendenning, Dimsdale, S. 125. Darauf, dass die Bewertung ausländischer Fachkräfte in Russland auch in anderen Bereichen ambivalent ausfiel, weist Jan Kusber am Beispiel der Universitätsprofessoren hin. Kusber, Eliten- und Volksbildung, S. 226, Anm. 71. 103 Beispielhaft für eine xenophobe Polemik Nikol’skij, Nemeckoe zasilie. Siehe auch Furmenko, Očerki Bd. 1, S. 44, 76; Alelekov, Istorija, S. 366. Das Narrativ von der Eigenständigkeit der „vaterländischen“ Wissenschaft dominierte seit der Stalinzeit nicht nur in Bezug auf die Medizin, sondern auch im Zusammenhang mit anderen Disziplinen. Siehe Maurer, Hochschullehrer, S. 5. Statt eines Pauschalvorwurfs gegen sämt­liche ausländische Mediziner konstatiert Brückner für Melchior Weikard den Erwerb eines Vermögens als das Hauptziel seiner Arbeit in Russland, wo er von 1784 bis 1789 lebte. Brikner, Ekaterina, S. 535, 544. Fehlende verbind­liche Lohnbedingungen für ausländische Ärzte brachten eine Ungleichbehandlung mit sich, die unter den Medizinern

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Akteure des Medizinal­wesens

Diese Deutung war ein integraler Bestandteil des Dogmas von einer autochthonen rus­sischen medizinischen Wissenschaft, die zu keiner Zeit von Wissens- und Personaltransfer abhängig gewesen sei.104 Doch inzwischen kann diese Behauptung als widerlegt gelten.105 Die Einladung ausländischer Ärzte konnte auf Empfehlung von Personen erfolgen, die dem Hof nahestanden.106 Unter ­Katharina II. spielte Johann Georg Zimmermann, der der Kaiserin seinerzeit vom Fürsten Grigorij Orlov empfohlen worden war, eine prominente Rolle in der Rekrutierung ausländischer Ärzte.107 Manchmal verfolgte die Anwerbung von Medizinern im Ausland ein konkretes Ziel. So wurde Zimmermann einmal aufgefordert, Ärzte für den Dienst in der Armee zu finden.108 Andere Mediziner sollten allesamt in die Provinz geschickt werden, wo Verdacht auf die Pest bestand.109 Doch gerade der Dienst in der Provinz hatte auf viele ausländische Ärzte eine abschreckende Wirkung. Einige der nach Russland eingeladenen Ärzte wandten sich an Zimmermann mit der Bitte, die Kaiserin anzuflehen, sie nicht in allzu entfernte Provinzen zu schicken.110 Doch aus dem Ausland eingeladene Ärzte konnten nicht allein den stetig wachsenden Bedarf an medizinischem Personal in Russland decken.111 Auch brachte diese Praxis Probleme mit sich. Zum einen waren die Gehälter solcher Mediziner zu hoch, als dass man auf diese Art und Weise das ganze Land versorgen konnte. Während das Jahresgehalt eines einheimischen Arztes in den 1780er Jahren zwischen

bisweilen Unmut hervorrief. Siehe ebd., S. 536 f. Eine äußerst positive Bewertung der unterschied­ lichen Rollen deutscher Ärzte im Russland des 18. und 19. Jahrhunderts findet sich bei Sorokina, Gestalt. 104 Siehe etwa Grombach, Literatura, S. 4 f. 105 Siehe Renner, Aufklärung, S. 47. 106 Häufig wurde der erste Kontakt zur Kaiserin durch die Vermittlung einer ihr mehr oder weniger nahestehenden Person geknüpft, etwa im Falle des Arztes Melchior Weikard, dessen Buch Der philosophische Arzt dem Grafen Andrej Šuvalov bei seinem Besuch in Fulda in die Hände gefallen war. Nach seiner Rückkehr empfahl Šuvalov die Publikation ­Katharina II. Schließ­lich musste der Graf Verhandlungen mit Weikard über dessen Engagement in Russland aufnehmen. Brikner, Ekaterina, S. 533 f. Außer diesen Personen haben spätestens seit Beginn des 18. Jahrhunderts „die rus­sischen diplomatischen Vertreter, die sich an allen politisch wichtigen Plätzen niederließen, für Nachschub gesorgt“. Amburger, Beiträge, S. 30. 107 Bodemann (Hg.), Briefwechsel, S. V. Dieser Briefwechsel berührte gelegent­lich auch praktische Aspekte des Dienstes ausländischer Ärzte im Rus­sischen Reich. 108 Brief Johann Georg Zimmermanns an K ­ atharina II. vom 18. April 1789, in: Bodemann (Hg.), Briefwechsel, S. 95 – 99, hier S. 98. 109 Brief ­Katharinas II. an Johann Georg Zimmermann vom 17. April 1786, in: ebd., S. 27 – 28, hier S. 28. 110 Brief Johann Georg Zimmermanns an ­Katharina II. vom 28. Mai 1786, in: ebd., S. 28 – 32, hier S. 29. 111 PSZ I Bd. 16, Nr. 11.965, S. 413.

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zwei- und vierhundert Rubel betrug,112 lag die Untergrenze für „gute Chirurgen“ aus dem Ausland laut Zimmermann bei sechshundert Rubel. Manchen der von ihm eingeladenen Ärzte wurden sogar achthundert Rubel versprochen.113 Zum anderen fühlte sich die Staatsgewalt außerstande, Garantien für die Qualifikation dieser Ärzte abzugeben.114 Ein weiterer Nachteil bei der Versorgung des Landes mit ausländischen Ärzten bestand schließ­lich darin, dass diese in der Regel kein Rus­sisch sprachen, was die Kommunikation mit den Kranken erheb­lich erschwerte.115 Außer der Kaiserin und ihren Vertrauensmännern im Ausland war auch das Medizinal­kollegium mit der Einladung von Ärzten nach Russland beschäftigt. Der Ärztemangel im Militär hatte den Direktor des Medizinal­kollegiums 1788 veranlasst, ­Katharina II. vorzuschlagen, erfahrene Ärzte aus dem Ausland einzuladen und mit ihnen Verträge für den Dienst in der Armee und in der Flotte abzuschließen. Die Kaiserin genehmigte diesen Vorschlag, ermahnte den Direktor allerdings gleichzeitig, dafür zu sorgen, dass „Lehrlinge und Studenten an rus­sischen Krankenhäusern ihre Ausbildung ordent­lich abschließen“.116 Die Praxis, Ärzte aus dem Ausland einzuladen, wurde von der Staatsmacht also als eine vorübergehende Maßnahme angesehen und sollte nicht dauerhaft die einzige Mög­lichkeit bilden, das Reich mit medizinischem Personal zu versorgen. Grundsätz­lich strebte man danach, den Bedarf mit einheimischen Ärzten zu decken. Dass die Rekrutierung der Ärzte im Ausland auch im frühen neunzehnten Jahrhundert eine wichtige Rolle spielte, zeigen Regeln für die Aufnahme ausländischer Mediziner, die 1808 formuliert wurden.117 Die Ärzte sollten für sechs Jahre

112 Müller-Dietz, Militärarzt, S. 76. 113 Brief Johann Georg Zimmermanns an ­Katharina II. vom 7. April 1786, in: Bodemann (Hg.), Briefwechsel, S. 26 – 27, hier S. 26. 114 Siehe etwa PSZ I Bd. 16, Nr. 11.965, S. 413. Manchmal erreichten die höhere Verwaltung Klagen über die unzureichende Qualifikation von Ärzten. Siehe etwa den kaiser­lich bestätigten Bericht des Hauptdirektors des Medizinal­kollegiums, Aleksej Vasil’ev, vom 12. Februar 1799, in: PSZ I Bd. 25, Nr. 18.854, S. 555 – 561, hier S. 555. 115 PSZ I Bd. 25, Nr. 18.854, S. 555. Das Kommunikationsproblem war in der höheren Verwaltung bekannt. Ein Erlass von 1809 schrieb vor, in erster Linie „Slawen, Böhmen oder Mähren“ als Veterinärärzte nach Russland einzuladen. Denn aufgrund der Ähn­lichkeit ihrer Sprache mit dem Rus­sischen würden sie schnell Rus­sisch lernen. Kaiser­licher Erlass vom 22. Mai 1809, in: PSZ I Bd. 30, Nr. 23.650, S. 962 – 963, hier S. 962. In der Fachliteratur fungieren die mangelhaften oder gänz­lich fehlenden Rus­sischkenntnisse als ein weiteres Argument für den geringen Nutzen, den ausländische Ärzte im Russland des 18. Jahrhunderts gebracht hätten. Siehe etwa Alelekov, Istorija, S. 372. Dazu auch Lomonosov, O sochranenii, S. 397. 116 Kaiser­licher Erlass vom 1. Dezember 1788, in: PSZ I Bd. 22, Nr. 16.732, S. 1132. 117 Chanykov behauptet, die Praxis, Ärzte aus dem Ausland einzuladen, habe in der Regierungszeit Pauls I. an Bedeutung verloren, „weil er die medizinische Bildung in Russland gestärkt und verbessert hat“. Chanykov, Očerk, S. 66. Der sinkende Anteil der ausländischen Mediziner im Vergleich zu den einheimischen dient dem Autor als Beleg für die allmäh­liche Emanzipation der

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­ erpf­lichtet werden. Nach Ablauf dieser Frist war ihnen freigestellt, in Russland v zu bleiben oder in ihre Heimat zurückzukehren. Für ausländische Ärzte war eine dreistufige Klassifizierung vorgesehen. Ärzte erster Klasse, die die „gesamte medizinische Wissenschaft“ beherrschten, sollten wichtige Posten im Militär und im zivilen Staatsdienst besetzen. Sie mussten sich einer Prüfung in Anatomie, Physiologie, Pathologie, Therapie, Materia medica (Arzneimittellehre), Naturgeschichte, Physik und Chemie unterziehen. In erster Linie wurden von ihnen praktische und theoretische Kenntnisse der Chirurgie und Geburtshilfe verlangt. Auch mussten sie sich in der Gerichtsmedizin und Medizinal­polizei auskennen. Ärzte zweiter Klasse zeichneten sich nicht unbedingt durch Kenntnisse der praktischen Chirurgie aus, dagegen aber durch solide Kenntnisse anderer Bestandteile der medizinischen Wissenschaft. Diejenigen unter ihnen, die im Militär eingesetzt werden sollten, mussten Erfahrungen mit chirur­gischen Eingriffen vorweisen. Ärzte für den zivilen Staatsdienst mussten weniger erfahrene Chirurgen sein, als vielmehr praktische und theoretische Kenntnisse im Bereich der Chemie, Naturgeschichte, Gerichtsmedizin und Medizinal­polizei haben.118 In dieser Kategorisierung spiegeln sich die Unterschiede zwischen ärzt­licher Tätigkeit im Militär und im zivilen Staatsdienst wider. Zu den Aufgaben eines Militärarztes gehörte fast ausschließ­lich die Behandlung von Verletzungen und Krankheiten. Das Betätigungsfeld der zivilen Medizinal­beamten war deut­lich breiter. Es umfasste neben der Behandlung von Kranken unter anderem auch gerichtsmedizinische Gutachten, die Pockenschutzimpfung, Inspektion von Lebensmitteln, das Sammeln von Heilkräutern, die Rekrutenmusterung und Erstellung medizinisch-­ topographischer Berichte.119 Was die formalen Kriterien für die Aufnahme der Ärzte der ersten zwei Klassen in den rus­sischen Dienst betrifft, so ging man davon aus, dass sie in den meisten Fällen einen Doktorgrad haben würden.120 Die dritte Klasse war für medizinisches Personal vorgesehen, dem sowohl praktische Erfahrung als auch profunde theoretische Kenntnisse der Medizin fehlten. Diejenigen, die keine medizinische Ausbildung absolviert hatten, sollten zunächst in die Medizinisch-Chirur­gische Akademie aufgenommen werden. Als Voraussetzung reichten entweder theoretische Kenntnisse oder praktische Fähigkeiten rus­sischen Medizin von der westeuropäischen. Dagegen steht der Rückgang wissenschaft­licher Kontakte zwischen Russland und westeuropäischen Staaten um die Jahrhundertwende vor allem im Zusammenhang mit den politischen Entwicklungen in Frankreich. Paul befürchtete die Übertragung liberaler oder gar revolutionärer Ideen nach Russland und fror die Verbindungen ein. Siehe dazu auch Kamenskij, Ot Petra do Pavla, S. 503 ff. 118 Kaiser­lich bestätigter Bericht des Innenministers, Aleksej Kurakin, vom 21. April 1808, in: PSZ I Bd. 30, Nr. 22.974, S. 192 – 198, hier S. 195 ff., Zitat S. 195. 119 Taradin, Materialy, S. 589 – 594. 120 PSZ I Bd. 30, Nr. 22.974, S. 196.

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aus. „Deutschland hat solche Leute im Überfluss, die ledig­lich einer kleinen Hilfe bedürfen, um in kürzester Zeit zu beiden Arten des Dienstes [dem zivilen und dem militärischen Staatsdienst, D. S.] befähigt zu werden“, schrieb der Innenminister im Jahre 1808.121 Die obligatorischen Prüfungen zeugen davon, dass die Medizinal­verwaltung des Rus­sischen Reiches eine professionelle und standardisierte Qualitätskontrolle der medizinischen Versorgung umzusetzen begann. Dies war eine deut­liche Veränderung gegenüber dem Zustand im späten achtzehnten Jahrhundert. Damals hatten Ärzte, die auf Empfehlung einer Vertrauensperson engagiert worden waren, von den Prüfungen befreit werden können.122 Von den siebzig Ärzten, die bis zum Herbst 1808 in St. Petersburg eingetroffen waren, wurden nach einer Prüfung durch den Medizinal­rat und die MedizinischChirur­gische Akademie ledig­lich dreizehn für sofort diensttaug­lich befunden und im Militär eingestellt. Von diesen dreizehn erfüllte nur ein Einziger die Anforderungen der höchsten Qualifikationskategorie. Jeweils sechs Ärzte wurden in die zweite und die dritte Klasse eingestuft. Von denjenigen, deren Qualifikation zu niedrig war, kehrten vierzehn in ihre Heimat zurück. Fünfundzwanzig Männer konnte der Innenminister dazu bewegen, in Russland zu bleiben und ein Studium an der MedizinischChirur­gischen Akademie aufzunehmen.123 Niedrig qualifizierte Mediziner aus dem Ausland betrachtete man nicht als einen Zugewinn für das Medizinal­wesen. So forderte der Innenminister die rus­sischen Gesandten im Ausland auf, nur diejenigen Ärzte, die sich in ihrem Heimatland einen guten Ruf erworben hatten und den Kriterien der ersten und zweiten Klasse entsprachen, nach Russland einzuladen.124 Im frühen neunzehnten Jahrhundert war die Vermehrung der Ärztezahl nach wie vor ein wichtiges Ziel der staat­lichen Medizinal­politik. Noch stärker wurde allerdings die Umsetzung staat­licher Qualitätsnormen gewichtet. Die Regeln für die Aufnahme ausländischer Ärzte in den rus­sischen Staatsdienst zeugen davon, dass sich die Bemühungen um Qualitätskontrolle der medizinischen Hilfe mitnichten auf die in Russland ausgebildeten Mediziner beschränkten.

121 Ebd. 122 So verließ sich ­Katharina II. manchmal auf das Urteil von Johann Georg Zimmermann und sah von der Prüfung einiger Ärzte durch das Medizinal­kollegium ab. Siehe ­Katharina an Zimmermann am 17. April 1786, S. 28. 123 PSZ I Bd. 30, Nr. 23.322, S. 658. Bis Mitte Dezember 1808 waren Einladungen an insgesamt 162 ausländische Ärzte ergangen. 133 von ihnen befanden sich bereits in Russland. Mit bestandener Prüfung zum Dienst zugelassen wurden 56 Ärzte. 16 kehrten in ihre Heimat zurück, 31 wurden als Studenten an die Medizinisch-Chirur­gische Akademie aufgenommen. Siehe den kaiser­lich bestätigten Bericht des Innenministers vom 15. Dezember 1808, in: PSZ I Bd. 30, Nr. 23.404, S. 723 – 725, hier S. 724. 124 PSZ I Bd. 30, Nr. 23.322, S. 658.

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Akteure des Medizinal­wesens

Prioritäten: Zivilbevölkerung – Militär Der Mangel erfordert von denjenigen, die ihn verwalten, Prioritätensetzung. Die historische Forschung hat in Bezug auf das Medizinal­wesen in Russland ein Axiom vom Primat des Militärs aufgestellt, jedoch nicht ausreichend belegt.125 Dass die medizinische Versorgung des Militärs eine wichtige Rolle für den Ausbau des Medizinal­wesens im achtzehnten Jahrhundert gespielt hat, ist unbestritten. Doch wie im Einzelfall die Interessen des Militärs tatsäch­lich gegen jene des zivilen Bereichs abgewogen wurden, ist meist nicht bekannt. Die folgenden Ausführungen sollen eine differenziertere Betrachtung des Interessenausgleichs ermög­lichen. Die Knappheit des medizinischen Personals bestimmte zum großen Teil den Alltag im Medizinal­wesen. Zu Zeiten, in denen Ärzte in der Provinz des Rus­sischen Reiches besonders rar waren, konnten Mediziner aus dem Militär gelegent­lich auch im zivilen Medizinal­wesen eingesetzt werden. So ordnete zum Beispiel der Statthalter von Tambov 1786 an, den Bataillonsarzt zum Dienst im dortigen Stadthospital zu verpf­lichten. Auf diese Weise sollte gewährleistet werden, dass im Krankenhaus immer ein Arzt anwesend war.126 Das Thema des Ärztemangels dominierte auch in der Kommunikation zwischen verschiedenen Behörden. So leitete der Inspektor der Medizinal­behörde von ­Astrachan’ den Bericht eines Stabsarztes weiter, in dem unter anderem ein Anstieg epidemischer Krankheiten in der Zivilbevölkerung gemeldet wurde. Um diese Krankheiten zu bekämpfen, fehlten zusätz­liche Medizinal­beamte. Also schlug der Arzt vor, bei Bedarf auf jene Mediziner zurückzugreifen, die in den vor Ort stationierten Militäreinheiten tätig waren. Doch da sich die Befehlshaber der jeweiligen Einheiten weigerten, Medizinal­beamte für Aufgaben im zivilen Medizinal­wesen zur Verfügung zu stellen, bat er um eine entsprechende Anordnung seitens des Medizinal­ kollegiums. Das Kollegium schrieb der Medizinal­behörde von Astrachan’ vor, in solchen Fällen, in denen es sich nicht lohne, ein Mitglied der Medizinal­behörde zu entsenden, auf Stadtärzte zurückzugreifen. Nur dort, wo es keine Stadtärzte gebe, solle man Militärärzte einsetzen. Allerdings müsse die Medizinal­behörde dafür Sorge tragen, dass die Kranken in den betroffenen Regimentern nicht ohne medizinische Hilfe blieben. Um eine entsprechende Anordnung für das Militär zu erwirken, wandte sich das Medizinal­kollegium an das Kriegskollegium.127 Dort setzte man die Prioritäten jedoch etwas anders: In erster Linie müsse sich das Kriegskollegium um Militärangehörige kümmern, auch wenn es sich ebenfalls verpf­lichtet fühle, seinen 125 Etwa Seton-Watson, Russian Empire, S. 97. 126 Bericht des Kommandanten von Tambov an den dortigen Statthalter, Gavrila Deržavin, vom 12. Juni 1786. GATO f. 2, op. 8, d. 19, l. 2. 127 Erlass aus dem Kriegskollegium vom November 1798, in: PSZ I Bd. 25, Nr. 18.771, S. 462 – 463.

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Beitrag zum Allgemeinwohl zu leisten. Die Anzahl der Medizinal­beamten beim Militär sei gerade einmal groß genug, um die allernötigste Versorgung der Kranken zu gewährleisten. Es sei daher unmög­lich, ohne Einbußen für die Krankenpflege auf medizinisches Personal zu verzichten. Mit dieser Begründung bat das Kriegskollegium das Medizinal­kollegium, den Medizinal­behörden des Reiches vorzuschreiben, nur in äußersten Notfällen auf der Entsendung von Medizinal­beamten aus Militär­ einheiten und Militärlazaretten zu bestehen. Das Kriegskollegium erklärte sich mit dem Vorschlag des Medizinal­kollegiums insgesamt einverstanden, stellte jedoch zwei Bedingungen: Die zusätz­lichen Aufgaben müssten den Medizinal­beamten genügend Zeit lassen, ihren Pf­lichten beim Militär nachzugehen. Auch dürfe ihr Einsatz im zivilen Bereich nicht zu lange dauern.128 Auffällig an der Entstehungsgeschichte dieses Erlasses ist das gegenseitige Verständnis, das zwei konkurrierende Behörden einander entgegenbrachten. Beide Seiten wussten um die Knappheit der Medizinal­beamten, beide Ressorts waren von diesem Missstand direkt betroffen. Diese Grundeinstellung hatte eine gewisse Kompromissbereitschaft sowohl des Medizinal- als auch des Kriegskollegiums zur Folge. Sie kam auch in der Berufung auf das Allgemeinwohl zum Ausdruck: Es konnte nicht im Interesse des Militärs sein, ganze Einheiten der Ansteckungsgefahr auszusetzen, die zu Zeiten von Epidemien von der Zivilbevölkerung ausging. Ebenso war die Provinzverwaltung an einer funktionierenden medizinischen Versorgung der Militäreinheiten interessiert, die in ihrem Zuständigkeitsbereich stationiert waren. Doch nicht nur standen Behörden vor der Frage, wie man das medizinische Personal am besten verteilt, auch Ärzte hatten nach dem Dienst im Militär die Wahl zwischen dem zivilen und dem militärischen Medizinal­wesen.129 Die Bitte eines Arztes an die zentrale Medizinal­verwaltung aus dem Jahr 1815, ihn vom Posten des Stadtarztes von Tomsk in den Militärdienst zu versetzen,130 erscheint vor dem Hintergrund des überlieferten Quellenmaterials ungewöhn­lich. Denn die Laufbahn eines Medizinal­beamten begann in der Regel im Militär, bevor er in den zivilen Staatsdienst wechselte. Der Generalstabsdoktor, der als Chef der zivilen Medizinal­ verwaltung für die Angelegenheit zuständig war, lehnte die Bitte ab. Seine Begründung lautete, im Gouvernement Tomsk würden dringend Ärzte für die medizinische Versorgung der Zivilbevölkerung benötigt. Daher sei es nicht mög­lich, den Arzt in den Militärdienst zu entlassen oder auf einen anderen Posten zu versetzen.131

128 Ebd., S. 463. 129 PSZ I Bd. 30, Nr. 22.974, S. 194 f. 130 Schreiben des Generalstabsdoktors, Aleksandr Krajten [Alexander Crichton], an den Gouverneur von Jaroslavl’, Michail Bravin, vom 29. November 1815. GAJaO f. 73, op. 1, d. 938, l. 10. 131 Ebd.

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In diesem Fall stufte die zentrale Medizinal­verwaltung die Interessen der Zivilbevölkerung höher als jene des Militärs ein. Bei Tomsk handelte es sich um eine Gegend, die vom Ärztemangel besonders stark betroffen war. Frei­lich hat man es hier mit einem Einzelfall zu tun, von dem man nicht auf die allgemeine Praxis schließen kann. Zwar wurde der medizinischen Versorgung des Militärs stets eine hohe Priorität eingeräumt. Allerdings lässt sich das Verhalten des Generalstabsdoktors als Beleg dafür ansehen, dass daraus nicht zwangsläufig eine prinzipielle Bevorzugung der Interessen des Militärs gegenüber jenen des zivilen Medizinal­ wesens folgte. Dennoch standen die Interessen des Militärs häufig im Vordergrund der staat­ lichen Politik. So sollten ausländische Mediziner, die zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts nach Russland eingeladen wurden, vor allem Posten in den Streitkräften übernehmen.132 Auch nach dem Ende der Invasion Napoleons wurden für den Dienst „in den Regimentern und provisorischen Hospitälern ausländische Ärzte aller Nationen und Ränge eingeladen“.133 Mit fortschreitender Zeit wurden die Bemühungen der Staatsgewalt um die medizinische Versorgung des Militärs keinesfalls schwächer. Im Jahre 1827 informierten der Innenminister, das Kriegsministerium und der Leiter des Marinestabs Nikolaus I. über den allgemeinen Ärztemangel. Der Kaiser befahl, für das Heer und die Marine Ärzte aus dem Ausland und rus­sische Ärzte, die sich entweder im Ruhestand befanden oder nie im Staatsdienst gewesen waren, einzuladen. Für den zivilen Bereich sollte hingegen ausdrück­lich kein Aufruf erfolgen.134 Dieses Dokument ist in seiner Klarheit einzigartig. Der Bitte der beiden Militärangehörigen wurde stattgegeben, während die Nöte des zivilen Medizinal­wesens unbeachtet blieben. Wie Nikolaus I. seine Entscheidung begründete, ist unbekannt. Denkbar wäre etwa die Überlegung, die Staatsfinanzen nicht allzu stark zu belasten. Wenn nicht die Interessen sowohl des Militärs als auch der Zivilbevölkerung gleichzeitig befriedigt werden konnten, fiel die Entscheidung zugunsten des Militärs. Auch in der Finanzierung des medizinischen Bereichs lassen sich deut­liche Unterschiede zwischen dem zivilen und dem Militärressort feststellen. Spätestens seit dem bereits zitierten Bericht des Medizinal­kollegiums von 1797 – der die Reform der lokalen Medizinal­verwaltung vorbereitete – wurden die niedrigen Gehälter der

132 PSZ I Bd. 30, Nr. 22.974, S. 195. Daraus folgt aber nicht, dass die Staatsmacht dabei grundsätz­ lich das zivile Medizinal­wesen weitgehend unbeachtet ließ, wie es Ljudmila Bulgakova annimmt. Bulgakova, Profession, S. 216. Schließ­lich entstand im ausgehenden 18. Jahrhundert ein Medizinal­ wesen in der Provinz, weil rus­sische Monarchen seit ­Katharina II. der medizinischen Versorgung der Zivilbevölkerung immer mehr Aufmerksamkeit widmeten. 133 PSZ I Bd. 32, Nr. 25.508, S. 705. 134 Senatserlass vom 29. Dezember 1827, in: PSZ II Bd. 2, Nr. 1664, S. 1121 – 1123, hier S. 1121.

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Medizinal­beamten zum Thema in der zentralen Bürokratie.135 Dennoch blieb das Problem auch im neunzehnten Jahrhundert bestehen. In einer Sitzung des Staatsrats im Jahre 1817 kam die unzureichende Entlohnung der zivilen Medizinal­beamten zur Sprache und machte eine ungleiche Entwicklung im Militär und im zivilen Staatsdienst augenfällig. Als die neugegründeten Ministerien für Kriegswesen und Marine im Jahr 1805 die Medizinal­verwaltung des jeweiligen Bereichs übernommen hatten, lagen die Gehälter der Medizinal­beamten in den Regimentern unter den Gehältern der Provinzärzte. Nach Angaben des Staatsrats betrug das Jahresgehalt eines Regimentsarztes zwischen zwei- und dreihundert Rubel, ein Kreisarzt verdiente jähr­lich drei- bis vierhundert Rubel. Doch während die Gehälter der Medizinal­beamten im Militär 1805 auf bis zu siebenhundertfünfzig Rubel pro Jahr angehoben wurden, blieben die Gehälter der Ärzte im zivilen Staatsdienst unverändert.136 Zeitweilig war man also bereit, den Dienst im Militär deut­lich höher zu entlohnen als die Arbeit der Provinzärzte. Die Personalpolitik lässt ebenfalls einen Schwerpunkt auf der medizinischen Versorgung des Militärs erkennen. 1808 wurde beschlossen, jeden Absolventen der Medizinisch-Chirur­gischen Akademie darauf zu verpf­lichten, mindestens sechs Jahre im Militär zu dienen, bevor er in den zivilen Staatsdienst wechseln oder aus dem Staatsdienst entlassen werden konnte.137 Dieser Vorschlag des Innenministers ist wohl der deut­lichste Beweis dafür, dass die Ausbildung des medizinischen Personals in erster Linie der Versorgung der Streitkräfte dienen sollte. Dennoch wurde die medizinische Versorgung der Zivilbevölkerung alles andere als vernachlässigt. Eine Gegenüberstellung der besetzten und der zu besetzenden Stellen soll dies veranschau­lichen:

135 Kaiser­lich bestätigter Bericht des Medizinal­kollegiums vom 19. Januar 1797, in: PSZ I Bd. 24, Nr. 17.743, S. 287 – 296, hier S. 287. Zu den Gehältern des medizinischen Personals im späten 18. Jahrhundert siehe Renner, Autokratie, S. 70 f. 136 Sitzungsprotokoll des Staatsrats vom 3. August 1817, in: Archiv gosudarstvennogo soveta Bd. 4, Teil 2, Sp. 1827 – 1829, hier Sp. 1827. 137 PSZ I Bd. 30, Nr. 22.974, S. 194 f.

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Akteure des Medizinal­wesens

Medizinal­beamte im Rus­sischen Reich um 1800 138 Im Etat vorgese­ hene Medizinal­ beamte

Medizinal­beamte im Dienst

Fehlende Medizinal­beamte

Anteil nicht besetzter Stellen in Prozent

1800 – 1801 Heer

758

473

285

37,6

Flotte

409

215

194

47,43

Ziviles Medizinal­ wesen

662a

629

33

4,98

GESAMT

1829

1317

512

27,99

514

24

1803 Heer

506

Flotte

221

Ziviles Medizinal­ wesen

900

GESAMT

2141

1627

a  Die Zahl setzt sich folgendermaßen zusammen: Für die Posten in den lokalen Medizinal­behörden waren 150 Beamte vorgesehen, daneben sollte es 512 Gouvernements- und Kreisärzte geben. Siehe RGADA f. 344, op. 3 Anhang, S. 110.

Diese Daten relativieren den Eindruck, die kaiser­liche Medizinal­politik hätte im ausgehenden achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert ausschließ­lich die Interessen des Militärs bedient. Der Anteil unbesetzter Stellen sowohl in der Armee als auch in der Flotte war um ein Vielfaches höher als im zivilen Staatsdienst. Im Vergleich zu diesem Mangel an Medizinal­beamten im Militär war die Ausstattung des zivilen Medizinal­wesens mit Beamten deut­lich besser. Auch war der Personalzuwachs im zivilen Bereich deut­lich schneller als im Militär: Ende des Jahres 1804 hatten das Heer und die Flotte 22 Prozent mehr Medizinal­beamte als um 1800; der Beamtenbestand im zivilen Medizinal­wesen war zur selben Zeit um 43 Prozent angewachsen. Die Versorgung des Militärs mit Medizinal­beamten rangierte auf der Prioritätenliste des Staates weit oben. Dieses Phänomen bildete eine Konstante des untersuchten Zeitraums, ohne dass Unterschiede zwischen den Regierungszeiten der einzelnen Monarchen erkennbar wären. Die zahlreichen Kriege, die das Rus­sische

138 Die Tabelle basiert auf den Daten aus RGADA f. 344, op. 3 Anhang, S. 110 und Otčet za 1803 god, S. 139.

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Reich am Ende des achtzehnten und zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts führte, ließen diese Politik als eine Notwendigkeit erscheinen. Doch die Ausstattung der Militäreinheiten mit Ärzten sollte nicht auf Kosten der Zivilbevölkerung gehen. Die Interessen des Militärs mochten zwar im Allgemeinen über jenen der Zivilbevölkerung stehen, sie führten allerdings nicht oder nur selten zu einer Verschlechterung der medizinischen Versorgung auf dem flachen Land. Vielmehr sollten beide Bereiche gleichzeitig wachsen. Manche kurzfristigen Maßnahmen – wie die Anhebung der Löhne oder die Verpf­lichtung der jungen Ärzte zum Militärdienst – sollten der Verbesserung der medizinischen Versorgung des Militärs dienen. Parallel dazu verfolgte man aber eine Politik, die mit der Förderung der medizinischen Ausbildung, dem Streben nach einer mög­lichst flächendeckenden Versorgung des Landes mit medizinischen Einrichtungen und medizinischem Personal sowie mit strukturellen Veränderungen auf eine langfristige Verbreitung und Sicherung der medizi­nischen Hilfe für das Militär und für die Zivilbevölkerung gleichermaßen zielte. Seit den 1760er Jahren kam der medizinischen Versorgung der Zivilbevölkerung mehr Bedeutung zu als je zuvor.

Anreize und Privilegien Der Mangel an medizinischem Personal bewegte die Staatsmacht immer wieder dazu, für medizinische Berufe Privilegien zu schaffen. Um Ärzte nicht an der Ausübung ihrer eigent­lichen Tätigkeit zu hindern, wurde zum Beispiel in den 1780er Jahren ein Verbot erlassen, sie als Landvermesser einzusetzen.139 1783 wurden Doktoren der Medizin und Wundärzte zusammen mit Lehrern und anderen Gelehrten für steuerfrei erklärt.140 Ein Senatserlass von 1807 bestätigte die besondere Bedeutung des Medikamentenhandels und den Status der Apotheker als namhafte Bürger (imenitye graždane).141 Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts wurden Apothekergesellen aus steuerpf­lichtigen Ständen von der Kopfsteuer befreit.142 Damit gehörte die Schaffung von Privilegien für studierte und gelernte Mediziner zu der allgemeinen Förderung jener Berufe, die von der Staatsgewalt als wichtig erachtet wurden.

139 Senatserlass vom 15. März 1782, in: PSZ I Bd. 21, Nr. 15.366, S. 441. 140 Siehe den Senatserlass vom 3. Januar 1806, in: PSZ I Bd. 29, Nr. 21.985, S. 4 – 6, hier S. 5. 141 Senatserlass vom 7. Oktober 1807, in: PSZ I Bd. 29, Nr. 22.642, S. 1297 – 1298, hier S. 1298. Damit hatte der Senat den Vorschlag der St. Petersburger Stadtduma, freie Apotheker in eine Gilde aufzunehmen, abgelehnt. Apotheker sollten nicht mit den übrigen Kaufleuten gleichgestellt werden und weiterhin von den Steuern befreit bleiben. 142 Kaiser­licher Erlass an den Senat vom 29. Oktober 1809, in: PSZ I Bd. 30, Nr. 23.941, S. 1233.

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Die Verbreitung der medizinischen Hilfe bereitete der Staatsgewalt einige Schwierigkeiten. 1786 berichtete der Generalgouverneur von Novgorod, Tver’ und Jaroslavl’, Aleksej Mel’gunov, der Kaiserin, dass es in einigen Städten des Gouvernements Vologda keine Ärzte gebe. Dabei komme in einigen Siedlungen eine ansteckende Krankheit vor.143 Offenbar war es deut­lich schwieriger, medizinisches Personal für den Dienst an entlegenen Orten als in größeren Städten zu gewinnen. Mel’gunov unterrichtete ­Katharina II. nicht nur über einen Missstand in der Provinz, sondern machte auch gleich einen Vorschlag, wie man dieses Problem lösen könnte. Er schlug vor, jenen Medizinern, die sich durch gute Arbeit ausgezeichnet hatten, das Gehalt der nächsthöheren Stufe zu zahlen, um sie auf diese Art und Weise zu motivieren: Wundärzte sollten ein Doktorengehalt bekommen, Unterärzte das eines Wundarztes.144 In diesem kurzen Schriftstück kommen drei Aspekte vor, die der Verwaltung des Rus­sischen Reiches des späten achtzehnten Jahrhunderts eigen waren. Erstens bedurfte es einer akuten Zuspitzung des Problems, damit zentrale Behörden auf einen schon länger existierenden Missstand aufmerksam wurden. Im geschilderten Fall war es der Ausbruch einer ansteckenden Krankheit. Dabei konnte es sein, dass lokale Beamte solche Vorfälle bewusst in den Mittelpunkt ihrer Berichte rückten, um ihrer Darstellung Gewicht zu verleihen. Zweitens richtete sich die Besoldung der Staatsbeamten nach ihrer Qualifikation und ihrem Dienstalter und nicht etwa nach dem Arbeitspensum oder der Art der Arbeit. Eine Abweichung von diesem Prinzip sollte es der Verwaltung ermög­lichen, auf manche Probleme, etwa den Personalmangel, flexibler zu reagieren. So schlug Mel’gunov vor, den Dienst unter besonders widrigen Umständen – hier war gemeint: an ungünstig gelegenen Orten – zu einem Kriterium zu machen, das den Wert des Dienstes steigerte und eine zusätz­ liche Entlohnung rechtfertigte. Zum anderen ging der Vorschlag des Generalgouverneurs dahin, eine Bezahlung nach Leistung einzuführen.145 Drittens ermög­lichte die institutionelle Stärkung der Gouvernementsebene – wie in der Reform des Jahres 1775 vorgesehen – eine bessere Versorgung des Machtzentrums mit Informationen über die Provinz sowie die Ausarbeitung von Lösungsvorschlägen für lokale

143 Schreiben des Generalgouverneurs von Novgorod, Tver’ und Jaroslavl’, Aleksej Mel’gunov, an ­Katharina II. vom 26. Februar 1786. GAJaO f. 72, op. 2, d. 966, l. 1. 144 Ebd. Um dem Ärztemangel zu begegnen, sah sich die Verwaltung im ausgehenden 18. Jahrhundert des Öfteren genötigt, Arztposten mit Personen zu besetzen, die dafür nicht qualifiziert waren. So sollten nach einem von Paul I. bestätigten Vorschlag des Medizinal­kollegiums aus dem Jahr 1797 Schüler der Knocheneinrenkerschule, die am Ende ihrer Ausbildung standen, aber noch keinen Abschluss hatten, nach Rücksprache mit dem Direktor des Medizinal­kollegiums auf Unterarztposten im Militär gesetzt und wie Unterärzte bezahlt werden. Siehe PSZ I Bd. 24, Nr. 17.773, S. 312. 145 ­Katharina II. nahm den Vorschlag Mel’gunovs an und gestattete, Doktorenstellen vorübergehend mit Wundärzten und Wundarztstellen mit Unterärzten zu besetzen. Siehe den Erlass K ­ atharinas II. an Aleksej Mel’gunov, o. D. GAJaO f. 72, op. 2, d. 966, l. 1.

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Probleme vor Ort. Wie diese Aufgaben erfüllt wurden, hing stark von den Qualitäten der jeweiligen Beamten ab. Der geschilderte Fall des Generalgouverneurs Mel’gunov unterstreicht eine Eigenschaft der Verwaltung im Allgemeinen und ihrer Kommunikationswege im Besonderen, die sich nicht nur im Rus­sischen Reich des achtzehnten Jahrhunderts wiederfindet. Der Forschungsansatz zum europäischen Absolutismus, der die Rolle der Untertanen bei der Staatsbildung untersucht, interpretiert „die Gesetzgebung […] teilweise als Folge der Beschwerden der Untertanen“.146 Zusätz­lich richten Histo­riker den Blick auf „Schnittstelle[n] zwischen Behörden und Bevölkerung“, auf individuelle Amtsinhaber und Herrschaftsträger.147 So lässt diese Herangehensweise die Rolle der Staatsbeamten neu definieren. Ihre Stellung in der Verwaltungshierarchie erlaubte es ihnen, als „Broker“ der Staatsgewalt zu agieren.148 In dieser Rolle machten sie auf Missstände auf lokaler Ebene aufmerksam und bewirkten Anpassungen der Verwaltung an die jeweiligen lokalen Gegebenheiten. Die Art und Weise, wie sich Mel’gunov um die Versorgung seiner Statthalterschaft mit Ärzten kümmerte, offenbart ein wesent­liches Charakteristikum der Kommunikation in der Verwaltung des Rus­sischen Reiches. Parallel zur Verteilung des medizinischen Personals durch das Medizinal­kollegium wurden Ärzte über persön­ liche Beziehungen und Empfehlungen in die Provinz vermittelt. Dieser Umstand unterstreicht die große Bedeutung von Einzelpersonen an den Schaltstellen der Verwaltung. Der geschilderte Fall wurde aus folgenden Gründen so schnell und für Vologda günstig gelöst. Erstens war Mel’gunov der Kaiserin als ein verdienter und vertrauenswürdiger Mann bekannt.149 Dieses Vertrauensverhältnis verlieh seiner Beurteilung der Lage in den Augen ­Katharinas besonderes Gewicht. Das Wissen der Kaiserin um Mel’gunovs Erfahrung dürfte seinem Vorschlag, die Gehälter der Ärzte zu erhöhen, eine günstige Ausgangsposition verschafft haben. Zweitens spielte der Medizinal­beamte von Vologda eine wichtige Rolle. Er hatte das Vertrauen des Generalgouverneurs gewonnen, was seinem Urteil wiederum besonderes Gewicht verlieh. Auch hatte das persön­liche Engagement des Arztes jenseits der offiziellen Dienstwege in der Medizinal­verwaltung die Kommunikation zwischen dem ­Zentrum und der Provinz und damit die Problemlösung beschleunigt. Der Fortgang des Schriftwechsels zwischen Mel’gunov und der Kaiserin ist für die Funktionsweise der Verwaltung ebenfalls aufschlussreich. Nachdem der Brief aus Jaroslavl’ bei K ­ atharina II. angekommen war, versprach sie, sich persön­lich um 146 Freist, Absolutismus, S. 27 f. 147 Brakensiek, Amtsträger, S. 50. 148 So bezeichnet Patrick Wagner die Beamten, die er als Vermittler zwischen Staat und Eliten sieht: Wagner, Bauern, S. 571. 149 Trefolev, Mel’gunov, S. 931.

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Akteure des Medizinal­wesens

die Versorgung des Gouvernements mit Ärzten zu kümmern.150 Sie maß also dem Medizinal­wesen besondere Bedeutung bei. Obwohl es eine zentrale Medizinal­ behörde des Reiches gab, das Medizinal­kollegium, hielt ­Katharina es für notwendig, selbst in die Lösung des Falls einzugreifen. So war seit dem ersten Brief Mel’gunovs kein Monat vergangen, als zwei Ärzte nach Vologda geschickt wurden.151 Das Personalproblem wurde dadurch gelöst, dass man Mediziner aus einer Gegend in eine andere versetzte: Der eine Arzt, Ivan Veber, war bis dahin am Obuchov-­Hospital in St. Petersburg tätig gewesen, der andere, Adam Blicner, hatte vor seiner Versetzung nach Vologda in Olonec gearbeitet.152 Dieser Praxis begegnet man auch einige Jahrzehnte später. Beispielsweise war die Hebamme Natal’ja Ottel’, die 1827 eine Stelle in Romanov-Borisoglebsk im Gouvernement Jaroslavl’ bekam, davor im St. Petersburger Waisenhaus tätig gewesen.153 Ihre Kollegin in Danilov hatte zuvor in Moskau gearbeitet.154 Indem man Mediziner von einem Ort an den anderen versetzte, schuf man dem Mangel an medizinischem Personal zwar punktuell Abhilfe. Doch in Wirk­lichkeit verteilte man damit den Mangel ledig­lich etwas gleichmäßiger über das Land. In der Regel waren es Behörden der lokalen Verwaltung, die sich an zentrale Stellen wandten, um Mediziner für die Provinz zu bekommen. In seltenen Fällen scheint es Abweichungen von diesem zentralisierten Kommunikationsweg gegeben zu haben. In Jaroslavl’ sollte zum Beispiel im Frühjahr 1790 bekanntgegeben werden, dass für die Apotheke von Ufa nahe des Urals ein Apotheker oder ein Apothekerlehrling gesucht werde, der in der Lage sei, eine Apotheke zu leiten.155 Die Anfrage aus Ufa wurde nicht etwa zunächst an das Medizinal­kollegium in St. Petersburg gerichtet, um von dieser zentralen Stelle aus in andere Gouvernements zu gelangen. Stattdessen begann die Statthalterei von Ufa selbst eine überregionale Suche nach einem Apotheker. Darüber, wie weit diese dezentralisierte Kommunikation verbreitet war oder ob es sich bei diesem Fall um eine Ausnahme handelte, lässt die Überlieferung nur Spekulationen zu. Es mutet jedoch wahrschein­lich an, dass dieser Kommunikationsweg aufgrund der Unkenntnis der Zuständigkeiten in den

150 Erlass ­Katharinas II. an Aleksej Mel’gunov, o. D. GAJaO f. 72, op. 2, d. 966, l. 1. 151 Siehe den Vertrag des Arztes Ivan Veber [Johann Adam Weber] vom 1. März 1786. GAJaO f. 72, op. 2, d. 966, l. 3 und das Schreiben des Medizinal­kollegiums an Aleksej Mel’gunov vom 12. März 1786. GAJaO f. 72, op. 2, d. 966, l. 5. 152 Ebd. 153 Schreiben des Gouverneurs von Jaroslavl’, Michail Bravin, an die Medizinal­behörde vom 10. August 1827. GAJaO f. 86, op. 1, d. 350, l. 1. 154 Schreiben der Medizinal­abteilung des Innenministeriums an die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom Dezember 1827. GAJaO f. 86, op. 1, d. 350, l. 11. 155 Schreiben der Statthalterei von Ufa an die Statthalterei von Jaroslavl’ vom 15. Februar 1790. GAJaO f. 77, op. 1, d. 2284, l. 1.

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lokalen Behörden beschritten wurde. Die zwischenbehörd­liche Kommunikation in der staat­lich normierten Form, die in diesem Fall über St. Petersburg geführt hätte, musste näm­lich zunächst eingeübt werden. Besonders akut wurde der Mangel an medizinischem Personal in den sibirischen Gouvernements empfunden. Daran änderte sich auch im fortgeschrittenen neunzehnten Jahrhundert nichts. 1814 erwog das Ministerkomitee zum Beispiel, straffällig gewordenen Medizinal­beamten, die nach Sibirien verbannt wurden, die Ausübung ihres Berufs vor Ort zu erlauben, um dem Ärztemangel zu begegnen.156 Doch waren nicht nur die Gegenden öst­lich des Urals von diesem Problem betroffen. So bedeutete eine Versetzung nach Georgien für manchen Arzt eine Strafe.157 Und in der Stadt Kola im Gouvernement Archangel’sk gab es noch im Jahr 1825 keinen einzigen Amtsarzt. Aufgrund der geographischen Lage der Halbinsel, der hohen Lebenshaltungskosten und des unwirt­lichen Klimas sei es schwer und bisweilen unmög­lich, einen Arzt für diese Region zu bekommen, klagte der dortige Gouverneur. Auf dieses Problem reagierte die oberste Verwaltungsebene mit ihrer inzwischen zum Standard gewordenen Lösung: Das Ministerkomitee legte fest, Medizinal­beamte, die sich für einen Dienst in Kola entschieden, entsprechend den Beschlüssen von 1812 und 1819 zu behandeln, also Ärzte in den nächsten Rang zu befördern und ihnen ein Jahresgehalt von eintausendzweihundert Rubel zu zahlen, wobei sie bei Dienstantritt zusätz­lich eine Prämie in Höhe eines Jahresgehalts bekommen sollten. Für Arztlehrlinge war eine Aufstockung des Gehalts um dreihundert Rubel pro Jahr vorgesehen.158 Auffällig an diesem Vorgang ist die Unkenntnis der Gesetzeslage in der lokalen Verwaltung. Der kaiser­liche Erlass vom Mai 1819 gestattete Gouvernementsverwaltungen, die Schwierigkeiten hatten, medizinisches Personal zu finden, die Gehälter der Arztlehrlinge – nicht aber der Ärzte – ohne Rücksprache mit den Behörden in St. Petersburg zu erhöhen.159 Dass die Behörden in Archangel’sk sechs Jahre nach dem Inkrafttreten dieser Regelung keinen Gebrauch von ihr machten, deutet auf einen Mangel in der Verwaltung hin, der im Europa des achtzehnten und neunzehnten

156 Beschluss des Ministerkomitees vom 16. Januar 1814, in: PSZ I Bd. 32, Nr. 25.518, S. 719 – 720. Siehe auch den Senatserlass vom 12. Juni 1819, in: PSZ I Bd. 36, Nr. 27.830, S. 225 – 226, hier S. 226 und den kaiser­lich bestätigten Beschluss des Sibirischen Komitees vom 27. August 1825, in: PSZ I Bd. 40, Nr. 30.464, S. 446 – 448, hier S. 446 f. 157 Siehe die kaiser­lich bestätigte Verfügung des Ministerkomitees vom 19. Juni 1817, in: PSZ I Bd. 34, Nr. 26.933, S. 403 – 408, hier S. 405. 158 Kaiser­lich bestätigter Beschluss des Ministerkomitees vom 14. März 1825, in: PSZ I Bd. 40, Nr. 30.293, S. 162 – 163, hier S. 162. 159 Rundschreiben des stellvertretenden Polizeiministers, Sergej Vjazmitinov, an die Gouverneure vom 23. Mai 1819. GAJaO f. 73, op. 1, d. 938, l. 81.

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Akteure des Medizinal­wesens

Jahrhunderts weit verbreitet war. Die Existenz von Bestimmungen war noch keine Garantie für deren Kenntnis und damit auch Umsetzung in der Praxis.160 Das Bonussystem, mit dessen Hilfe man Medizinal­beamte für den Dienst in entlegenen Gegenden gewinnen wollte, wurde nicht speziell für das Medizinal­wesen ausgearbeitet. 1815 hatte das Ministerkomitee beschlossen, Beamten im zivilen Staatsdienst, die nach Sibirien abgeordert wurden, bei ihrem Amtsantritt eine Prämie in Höhe eines Jahresgehalts auszuzahlen.161 In demselben Jahr ordnete Alexander I. an, Wundärzte, die ihren Dienst in den sibirischen Gouvernements antraten, für sechs Jahre zu verpf­lichten und mit dem Rang des Titularrats zu belohnen. Seit 1816 galt dies auch für den Dienst in Georgien und im Gouvernement Kaukasus. Eine allgemeine Regelung der Prämien für Ärzte und Apotheker beschloss das Ministerkomitee auf Vorschlag des Polizeiministers unter Berufung auf den „äußersten Mangel an Medizinal- und Apothekenbeamten in Sibirien“ erst 1819.162 Die Methoden des neunzehnten Jahrhunderts, Mediziner für entlegene und teils unwirt­liche Gegenden zu gewinnen, unterschieden sich nicht von jenen des achtzehnten Jahrhunderts. Sie hatten nur den Ausnahmecharakter verloren. Schon im Jahr 1786 ließ ­Katharina II. de facto eine – wenn auch vorübergehende – Gehaltserhöhung für Ärzte zu.163 Im neunzehnten Jahrhundert waren höhere Arztgehälter in weniger beliebten Gouvernements bereits die Regel. Die Löhne stiegen umgekehrt proportional zur Attraktivität des Ortes. So betrug das Jahresgehalt eines Kreisarztes im Jahr 1806 in Orenburg dreihundert Rubel, in Olonec vierhundert und in Tomsk und Tobol’sk jeweils sechshundert Rubel.164

160 Siehe Schlumbohm, Gesetze. 161 Erlass der Gouvernementsverwaltung von Voronež vom 31. September 1819. GAVO f. i–29, op. 1, d. 80, l. 155. 162 Ebd. Apotheker sollten ab 1816 mit Rängen belohnt werden und eine Reisekostenunterstützung erhalten, wenn sie ihren Dienst in Sibirien, Georgien oder im Kaukasus antraten. Siehe die kaiser­ lichen Erlasse vom 20. Juli 1816, in: PSZ I Bd. 33, Nr. 26.362, S. 948; vom 11. Juni 1816, in: PSZ I Bd. 33, Nr. 26.308, S. 887 und vom 5. Januar 1820, in: PSZ Bd. 37, Nr. 28.075, S. 3 – 4. Für Hebammen wurde erst 1827 beschlossen, beim Dienstantritt in Sibirien ein zusätz­liches Jahresgehalt auszuzahlen. Siehe den kaiser­lich bestätigten Beschluss des Ministerkomitees vom 1. September 1827, in: PSZ II Bd. 2, Nr. 1.351, S. 761 – 762. 163 GAJaO f. 72, op. 2, d. 966, l. 1. 164 Schreiben des Innenministers, Viktor Kočubej, an die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom Oktober 1806. GAJaO f. 86, op. 1, d. 103, l. 1 – 1ob., hier l. 1. Später wurde diese Regelung auf andere medizinische Berufe ausgeweitet. Die Erlasse aus den Jahren 1815 und 1816 enthielten die Vorschrift, Medizinal- und Apothekenbeamten, die ihren Dienst in Sibirien antraten, Reisegeld zu zahlen. Für Beamte, die nach Irkutsk fuhren, waren jeweils sechshundert Rubel vorgesehen, für den Weg nach Tomsk und Tobol’sk gab es vierhundert Rubel. Im Mai 1815 wurde beschlossen, die Reisekostenzuschüsse zu streichen, dafür aber den Beamten, die ihren Dienst in einem sibirischen Gouvernement antraten, beim Dienstantritt ein zusätz­liches Jahresgehalt auszuzahlen. Ledig­lich

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Den Dienst in einer dieser vier Städte hatte das Innenministerium einem Arzt namens Feliks Laevskij angeboten, der sich 1806 nach einer Stelle umsah. Zuvor war Laevskij in Nižnij Novgorod angestellt gewesen, war aber von diesem Posten unehrenhaft entlassen worden. Da er entweder in Jaroslavl’ oder in Moskau arbeiten wollte, lehnte er die weniger attraktiven Angebote des Innenministeriums ab.165 Während es weder in Moskau noch in Jaroslavl’ freie Stellen gab, war der Ärztemangel öst­lich des Urals so akut, dass die Verwaltung bereit war, auch Mediziner von schlechtem Ruf dorthin zu entsenden. Der Ärztemangel und die Bereitschaft der Staatsgewalt, höhere Löhne zu zahlen, hatten bereits im späten achtzehnten Jahrhundert Auswirkungen auf das Verhalten der Ärzte. Als Mel’gunov den Vologdaer Arzt bat, einige Mediziner für den Dienst in der Statthalterschaft zu empfehlen, schlug dieser fünf Ärzte aus Moskau vor, die nach einer Anstellung suchten. Diese waren zwar bereit, nach Vologda aufzubrechen, verlangten aber Doktorengehälter.166 Da sie wussten, sie würden in der Provinz dringend gebraucht, konnten sie auf einem höheren Gehalt bestehen. Obendrein hatten sie aufgrund der Tatsache, dass es bereits Präzedenzfälle gab, eine bequeme Verhandlungsposition. Zwar lässt sich die gewünschte Wirkung der neuen Lohnpolitik, die für Sibirien teilweise doppelt so hohe Gehälter wie für den europäischen Teil Russlands festlegte, punktuell belegen. Der Präsident des Medizinal­kollegiums meinte sogar schon 1799 einen positiven Effekt der Belohnungen und Renten auf die Attraktivität des Arztberufs feststellen zu können: Diese Änderungen hätten seiner Ansicht nach bei der jungen Generation das Interesse am Medizinstudium deut­lich gesteigert.167 Doch waren die genannten Maßnahmen kein Allheilmittel gegen die ungleichmäßige Verteilung des medizinischen Personals, und noch im neunzehnten Jahrhundert blieben im medizinischen Staatsdienst viele Stellen unbesetzt. In der Handhabung des Gehalts als Mittel, Anreize für Medizinal­beamte zu schaffen, lässt sich im neunzehnten Jahrhundert eine weitere Entwicklung beobachten. Wie bereits erwähnt, stimmte Alexander I. 1819 einem Vorschlag des Polizeiministers zu, in jenen Gouvernements, in denen großer Mangel an Arztlehrlingen herrschte, die Gehälter von der jeweiligen Gouvernementsverwaltung erhöhen zu lassen. Das Geld dafür sollte aus den Restmitteln stammen, die durch unbesetzte Stellen übrig blieben. Der Zuschlag durfte jedoch dreihundert Rubel nicht überschreiten. Eine

Beamten mit niedrigen Löhnen sollten Reisekostenzuschüsse gewährt werden. Siehe den Beschluss des Ministerkomitees vom 4. Oktober 1819, in: PSZ I Bd. 36, Nr. 27.939, S. 352. 165 Siehe GAJaO f. 86, op. 1, d. 103, l. 1 und den Bericht von Feliks Laevskij an die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 12. November 1806. GAJaO f. 86, op. 1, d. 103, l. 2 – 3, hier l. 2. 166 Schreiben des Generalgouverneurs von Novgorod, Tver’ und Jaroslavl’, Aleksej Mel’gunov (Empfänger unbekannt), vom 8. September 1787. GAJaO f. 72, op. 2, d. 966, l. 9 – 9ob., hier l. 9. 167 PSZ I Bd. 25, Nr. 18.854, S. 556.

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Akteure des Medizinal­wesens

Ausnahme bildeten sibirische Gouvernements, in denen Lehrlingslöhne um bis zu vierhundert Rubel erhöht werden konnten.168 Diese Regelung sollte der lokalen Verwaltung eine größere Flexibilität im Umgang mit Gehältern für medizinisches Personal gewähren, indem sie die Verant­ wortung für dessen Besoldung zum Teil aus dem Zentrum in die Provinz verlagerte. Doch da die alleinige Entscheidungsgewalt über Ärztelöhne weiterhin in St. Petersburg lag, fehlte der lokalen Verwaltung ein wesent­liches Instrument, um Medizinal­beamte etwa bei kurzfristig steigender Belastung zusätz­lich zu entlohnen. Sie konnte ledig­lich Gehälter der Lehrlinge erhöhen, ohne zentrale Verwaltungsstellen in den Entscheidungsprozess einzubeziehen.169 Bemerkenswert ist auch die Art und Weise, Lohnerhöhungen zu finanzieren: Das Geld sollte aus Restmitteln stammen, die der Verwaltung durch unbesetzte Stellen übrig blieben.170 In einem Gouvernement konnten also nur dann die Gehälter der Arztlehrlinge aufgestockt werden, wenn nicht alle Stellen in der Verwaltung besetzt waren. Dies bedeutete im Umkehrschluss, dass eine Vollbesetzung Lohnerhöhungen ausschloss, was auf eine chronische Unterfinanzierung des gesamten Verwaltungsbereichs hindeutet.171 Das vorgestellte Modell zeugt davon, dass die Bürokratie auch im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts kein Programm zur langfristigen Behebung des Ärzte­mangels an der Peripherie des Reiches ausarbeiten konnte. Die vorgeschlagene Finanzierung der Lohnerhöhungen konnte den Mangel an medizinischem Personal nur vorübergehend und punktuell verringern, denn sie schuf keine Basis für eine dauerhaft gesicherte Finanzierung dieses Bereichs. Dem grundlegenden Problem des Medizinal­wesens, der geringen Attraktivität des medizinischen Staatsdienstes, konnte die Bürokratie mit diesen Mitteln weder mittel- noch langfristig Abhilfe

168 GAJaO f. 73, op. 1, d. 938, l. 81. 169 An diese Kompetenzverteilung wurden lokale Verwaltungen wiederholt erinnert. Siehe etwa das Schreiben des Innenministers, Vasilij Lanskoj, an den Gouverneur von Jaroslavl’, Aleksandr ­Bezobrazov, vom 31. Dezember 1824. GAJaO f. 73, op. 1, d. 1888, l. 2 – 2ob., hier l. 2. 170 Dieses Finanzierungsmodell wird in den Quellen zur Medizinal­verwaltung häufig erwähnt. Siehe etwa den kaiser­lichen Erlass aus dem Kriegskollegium vom 16. November 1800, in: PSZ I Bd. 26, Nr. 19.652, S. 390 – 391. Darin wird die Finanzierung der Wundärzte für Grenadierbataillone aus Mitteln erlaubt, die durch unbesetzte Stellen übrig blieben. Siehe auch den kaiser­lich bestätigten Beschluss des Ministerkomitees vom 13. Mai 1819, in: PSZ I Bd. 36, Nr. 27.801, S. 194, der eine Gehaltserhöhung für Arztlehrlinge aus ebensolchen Mitteln vorsah. 171 Für das Prinzip, die finanzielle Situation im Medizinal­wesen durch einmalige Finanzspritzen vorübergehend zu verbessern, gibt es einen Beleg aus dem Jahr 1776. ­Katharina hatte die Summe, die für den Bau des Kremlpalasts vorgesehen war, kürzen lassen. Das übrig bleibende Geld sollte den im Militär tätigen Medizinern in Form von Zuschlägen zugutekommen. Siehe den kaiser­lichen Erlass vom 13. Oktober 1776, in: PSZ I Bd. 20, Nr. 14.518, S. 432 – 433, hier S. 432.

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schaffen.172 Als der Ärztemangel 1830, im Kampf gegen die Cholera, erneut spürbar wurde, stellte das Ministerkomitee fest, dass die „Dürftigkeit des Gehalts […] und der Mangel an freier Praxis“ viele Mediziner davon abhalte, in den Staatsdienst zu treten.173 Auffällig ist hierbei die Bereitschaft der Staatsgewalt, kurzfristig höhere Ausgaben zu tragen. Diese ging aber mit dem fehlenden Willen einher, Arztstellen insgesamt finanziell attraktiv zu gestalten. So blieben die Gehälter der Medizinal­beamten weiterhin gering bemessen, und die Staatsmacht sah sich gezwungen, einmalige Belohnungen zu zahlen, um freie Stellen zu besetzen. Eine solche Konstellation legt die Vermutung nahe, dass sich die Staatsgewalt nicht für eine volle Versorgung der Beamten zuständig fühlte, weil sie mög­ licherweise davon ausging, Beamte würden ihre Gehälter durch Zuwendungen der lokalen Bevölkerung aufbessern, obwohl seit dem achtzehnten Jahrhundert verstärkt Gesetze gegen Bestech­lichkeit erlassen wurden.174 Für Medizinal­beamte hätte es sich in diesem Fall nicht einmal um Einnahmen am Rande des gesetz­lich Tolerierten gehandelt. Mit ihrem Gehalt wurden sie für die Verwaltungsarbeit, staat­liche Aufträge und die kostenlose Behandlung Bedürftiger entlohnt. Sonst stand es ihnen frei, für ihre Dienste für Privatpersonen Zahlungsforderungen zu erheben. In Wirk­lichkeit war ihr Arbeitspensum allerdings so hoch bemessen, dass nicht nur die Betreuung zahlungsfähiger Patienten mit dem Erfüllen aller Amtspf­lichten unvereinbar war, sondern schon die Erledigung aller Amtspf­lichten oft zeit­lich unmög­lich schien. So konnte die Behandlung privater Patienten, die für die Aufbesserung des Gehalts unabdingbar war, nur auf Kosten des Staatsdienstes stattfinden. Gleichwohl bemühten sich die oberen Verwaltungsebenen, eine Grundlage dafür zu schaffen, dass medizinische Berufe auch mittelfristig attraktiver würden. Dieser Vorstoß blieb allerdings auf die finanzielle Ausgestaltung des Medizinal­ beamtendienstes beschränkt. So hatte der stellvertretende Polizeiminister ­Vjazmitinov zum Jahr 1818 vom Kaiser einen neuen Etat für Ärzte erbeten, in dem höhere Gehälter für Mediziner im zivilen Staatsdienst vorgesehen waren. Der Minister bezeichnete den Etat als Mittel gegen Schwierigkeiten, die durch den Ärztemangel in den Gouvernements des Reiches entstünden. Die Gehälter der Kreisärzte wurden von dreihundert auf fünf- bis sechshundert Rubel angehoben. Löhne für Ärzte in den 172 Nach Ansicht des Innenministers Kočubej hätte die geringe Attraktivität des Staatsdienstes für Mediziner ihre Gründe nur zum Teil in den Löhnen, die deut­lich unter jenen in der privaten Praxis lägen. Die unsichere Rechtslage und die besondere Gerichtsbarkeit für Medizinal­beamte wirkten ebenfalls abschreckend. Siehe PSZ I Bd. 28, Nr. 21.866, S. 1155. 173 Kaiser­lich bestätigter Beschluss des Ministerkomitees vom 9. Dezember 1830, in: PSZ II Bd. 5/2, Nr. 4178, S. 479 – 482, Zitat S. 479 f. 174 Dass diese Praxis in Russland wie in den Ländern des west­lichen Europas eine allgemein akzeptierte Normalität darstellte, betont Schattenberg, Provinz, S. 23 – 37.

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Akteure des Medizinal­wesens

sibirischen Gouvernements durften sogar darüber liegen. Auch die Lehrlingsgehälter wurden auf zweihundert Rubel für Oberlehrlinge und einhundertfünfzig Rubel für Unterlehrlinge erhöht.175 Doch die von der zentralen Verwaltung unternommenen Schritte reichten nicht aus, um den Arztberuf finanziell attraktiv zu gestalten. Noch in den 1840er Jahren kritisierte der Kriegsminister die niedrigen Gehälter der Medizinal­beamten im Militärdienst. Seiner Ansicht nach machten sie es unmög­ lich, erfahrene Ärzte für den Dienst im Militär zu gewinnen und dort zu behalten.176 Somit blieb die private Praxis auch im neunzehnten Jahrhundert für viele attraktiver als der Staatsdienst. Für Medizinal­beamte waren die Verdienstmög­lichkeiten im zivilen Bereich wiederum besser als im Militär. Dabei wurden die fehlenden finanziellen Anreize für Medizinal­beamte schon Ende des achtzehnten Jahrhunderts kritisiert. Nach Ansicht von Aleksej Vasil’ev, der dem Medizinal­kollegium vorstand, behindere der Mangel an „lukrativen und ruhigen Stellen für Ärzte, die lange Zeit eifrig und tadellos“ beim Militär gedient hätten, den Zuwachs an Ärzten. „Man kann die medizinische Ausbildung so weit fördern, wie man will: Wenn die Mühen der Ärzte nicht honoriert werden, wird es immer nur wenige Ärzte geben.“ 177 Ende des achtzehnten Jahrhunderts machte sich in der hohen Bürokratie die Vorstellung bemerkbar, der Staat müsse seinen Beamten mehr bieten als eine knapp bemessene Entlohnung, wenn sie zu seinen Diensten sein sollten. Erst allmäh­lich begann sie Wirkung auf die staat­liche Politik gegenüber den Beamten zu zeigen – in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts trug sie nur bescheidene Früchte.178

Medizinische Versorgung in der Provinz Mehrere Jahrzehnte nach der Gouvernementsreform des Jahres 1775, die ein Netz von medizinischem Personal über das Reich spannen wollte, gab es in vielen Ecken des Landes noch immer keine Ärzte. Die zahlreichen Bitten, zusätz­liche Mediziner in die Provinz zu entsenden, zeugen von einem akuten Bedarf an professioneller medizinischer Hilfe auf lokaler Ebene im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts. 175 Rundschreiben des stellvertretenden Polizeiministers, Sergej Vjazmitinov, an die Gouverneure vom Januar 1818. GAJaO f. 73, op. 1, d. 938, l. 51; kaiser­lich bestätigter Beschluss des Ministerkomitees vom 30. März 1818, in: PSZ I Bd. 35, Nr. 27.325, S. 178 – 179, hier S. 179; PSZ I Bd. 36, Nr. 27.801, S. 194. 176 Archiv knjazja A. I. Černyševa. Žizneopisanie, vsepoddannejšie doklady i perepiska knjazja ­Aleksandra Ivanoviča Černyševa, in: SIRIO Bd. 122, S. 225. 177 PSZ I Bd. 25, Nr. 18.854, S. 555 f. 178 So wurde zur Regierungszeit Pauls I. im Etat eine Summe vorgesehen, aus der Medizinal­beamten nach einem tadellosen Dienst Renten gezahlt werden sollten. Siehe ebd.

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Obwohl der Ärztemangel an der Peripherie des Rus­sischen Reiches besonders stark ausgeprägt war, dominierte er den medizinischen Alltag auch im euro­ päischen Teil Russlands. Das Problem blieb keineswegs auf das achtzehnte Jahrhundert beschränkt. Im Gouvernement Tambov gab es zum Beispiel im Jahre 1820 zwei Kreise – Lipeck und Kozlov –, in denen die staat­lich organisierte medizinische Versorgung ledig­lich von Arztlehrlingen besorgt wurde. Allerdings verfügten die beiden Kreise über frei praktizierende Ärzte. Vereidigte Hebammen gab es nur in der Gouvernementsstadt.179 Im benachbarten Gouvernement Voronež hatten zur selben Zeit die Kreise Korotojak, Pavlovsk und Valujki keinen einzigen, nicht einmal einen frei praktizierenden Arzt, so dass dort nur jeweils zwei Arztlehrlinge medizinische Hilfe leisten konnten.180 Fünf Jahre zuvor hatten im Gouvernement Tambov drei, im Gouvernement Voronež ganze acht Kreise ohne Medizinal­beamte auskommen müssen. In Voronež gab es nur in zwei der genannten Kreise frei praktizierende Mediziner, in Tambov blieb ein Kreis gänz­lich ohne Ärzte.181 Diesen Missstand hatte der Gouverneur von Voronež bereits im Frühjahr 1812 zu beheben versucht, indem er das Polizeiministerium um Entsendung von Ärzten gebeten hatte. Nach Auskunft des Ministeriums standen jedoch für den Dienst im zivilen Medizinal­wesen keine Ärzte zur Verfügung.182 Die folgenden Tabellen sollen einen Überblick über die besetzten Stellen in den Gouvernements Jaroslavl’, Tambov und Voronež zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts und im Jahr 1820 geben.183

179 Tabelle der Medizinal­beamten und frei praktizierenden Ärzte im Gouvernement Tambov für das Jahr 1820. RGIA f. 1299, op. 9, svjazka 18, d. 332b, l. 2 – 4. 180 Tabelle der Medizinal- und Apothekenbeamten im Gouvernement Voronež für das Jahr 1820. RGIA f. 1299, op. 9, d. 299, l. 8 – 9. 181 Tabellen über Medizinal­beamte in den Gouvernements Voronež und Tambov. RGIA f. 1299, op. 4, d. 373, l. 69 – 72 und 312 – 315. 182 Schreiben des Gouverneurs von Voronež, Matvej Šter, an den stellvertretenden Polizeiminister, Sergej Vjazmitinov, vom 12. April 1812; Schreiben des Medizinal­departements des Polizeiministeriums an den Gouverneur von Voronež, Michail Bravin, vom 15. Mai 1813. RGIA f. 1299, op. 1, d. 116, l. 1 bzw. l. 3. 183 Für das Jahr 1820 konnten keine Daten aus dem Gouvernement Jaroslavl’ ermittelt werden.

164

Akteure des Medizinal­wesens

Medizinal­beamte und frei praktizierende Ärzte in den Gouvernements Jaroslavl’, Tambov und Voronež im Jahre 1804 184 Etatmäßige Mediziner Gouver­ nement

Medizinal­beamte Mitglieder der Medi­zinalbehörde

Dok­ toren

Stabs­ ärzte

Wund­ ärzte

Heb­ ammen

Frei prak­ tizierende Ärzte

Arzt­ lehr­ linge

Jaroslavl’

3

1

6

3

1

20

5

Tambov

3



8

1

1



12

Voronež

3



10

2

3



4

Medizinal­beamte und frei praktizierende Ärzte im Gouvernement Tambov im Jahre 1820 185 Etatmäßige Mediziner Kreis

Medizinal­beamte Dokto­ ren

Stabs­ ärzte

Wund­ ärzte

Ärzte gesamt

Hebam­ men

Frei prak­ tizierende Ärzte

Arztlehr­ linge

Tambov









2

2

1

Moršansk



1



1



2

1

Šack



1



1



2



Elat’ma



1



1



2

2

Spassk



1



1



1



Temnikov





1

1



2



Kirsanov

1





1



2

– –

Borisoglebsk



1



1



2

Kozlov











2

1

Lipeck











1

3

Usman’



1



1



1



Lebedjan’



1



1



2



Medizinal­ behörde

2

1



3







GESAMT

3

8

1

12

3 [sic]

21

8

184 Die Angaben wurden übernommen aus Tabeli k otčetu za 1804 god, Tabelle C, o. S. Mög­licherweise lagen dem Innenminister keine Informationen über Arztlehrlinge in den beiden süd­lichen Gouvernements vor. 185 RGIA f. 1299, op. 9, svjazka 18, d. 332b, l. 2 ff.

Verwaltung des Ärztemangels

165

Medizinal­beamte und frei praktizierende Ärzte im Gouvernement Voronež im Jahre 1820 186 Etatmäßige Mediziner Kreis

Medizinal­beamte Dokto­ ren

Stabs­ ärzte

Wund­ ärzte

Ärzte gesamt

Heb­ ammen

Frei prak­ tizierende Ärzte

Arztlehr­ linge

Voronež



1



1



2

1

Zadonsk





1

1



2

1

Zemljansk





1

1



2



Nižnedevick





1

1



2



Bobrov





1

1



1

1

Birjuč





1

1



2



Ostrogožsk



1



1

1

2

1

Starobel’sk



1



1



1



Bogučar



1



1



2



Valujki











2



Pavlovsk











2



Korotojak











2



Novochopërsk









1

1

1

Medizinal­ behörde



2



2

2





GESAMT



6

5

11

4

23

5

Diese Tabellen ermög­lichen – bei aller Vorsicht gegenüber den absoluten Zahlen – folgende Beobachtungen: Die Anzahl der Medizinal­beamten blieb im Gouvernement Tambov in den ersten Dezennien des neunzehnten Jahrhunderts konstant, während sie im benachbarten Voronež sogar von fünfzehn Ärzten im Jahre 1804 auf elf Ärzte im Jahre 1820 sank. Hebammen gab es sowohl zu Beginn des Jahrhunderts als auch 1820 nur wenige, auch wenn ihre Zahl leicht gestiegen war.187 Wie wurde nun die medizinische Versorgung dort organisiert, wo es gemessen an den staat­lichen Forderungen zu wenige Ärzte gab? Ein Beispiel aus dem Gouvernement Jaroslavl’ soll verdeut­lichen, wie man auf lokaler Ebene dem Ärztemangel zu begegnen versuchte. Im Jahr 1810 gab es keine Ärzte in den Kreisen Mologa und Danilov. Der Kreisarzt von Rostov war so

186 RGIA f. 1299, op. 9, d. 299, l. 8 f. 187 Ivan Furmenko behauptet zu Unrecht, dass es keine Geburtshelfer gegeben habe. Furmenko, Očerki, S. 78 f.

166

Akteure des Medizinal­wesens

krank, dass er seinen Pf­lichten nicht nachkommen konnte. Die Aufgaben in Mologa übernahm der Arzt des benachbarten Kreises Myškin, Andrej Černoglazov.188 Diese erhöhte Arbeitsbelastung und der Umstand, dass Černoglazov größere Entfernungen zurücklegen musste, um Aufträge in Mologa zu erledigen, verringerte seine Präsenz in Myškin spürbar. Die gleichzeitige Arbeit in zwei Kreisen ging also auf Kosten mancher Aufgaben. So musste das Landschaftsgericht von Myškin den Kreisarzt des süd­lich angrenzenden Uglič bitten, zur Leichenobduktion zu kommen. Der Arzt von Uglič lehnte jedoch die Bitten des Landgerichts ab mit der Begründung, er müsse solchen Aufgaben bereits in zwei anderen Kreisen nachgehen: in Uglič, dem Ort seiner Anstellung, und zusätz­lich in Rostov, weil der dortige Arzt seit langer Zeit krank sei. So musste das Gericht von Myškin oft lange auf die Rückkehr Černoglazovs in die Kreisstadt warten. Leichname wurden häufig ohne Obduktion bestattet, weil sie vor allem in den Sommermonaten schnell verwesten.189 Aufgrund des Mangels an medizinischem Personal entstand zwischen den lokalen Behörden bisweilen Konkurrenz um die wenigen Ärzte. Das Landgericht von Myškin bat die Medizinal­behörde des Gouvernements, Kreisärzte zu ermahnen, ihre Zeit so einzuteilen, dass sie den Forderungen der Polizei nachkommen konnten.190 Das Gericht versuchte mithin, sich durch die Einbeziehung der lokalen Medizinal­ behörde ein Zugriffsrecht auf die Kreisärzte zu sichern. Die Konkurrenz um die Ärzte existierte nicht nur zwischen den Behörden innerhalb eines Kreises, sondern auch zwischen verschiedenen Kreisen.191 Den lokalen Medizinal­behörden kam dabei eine doppelte Rolle zu: Zum einen wurden sie angerufen, um die wenigen Ärzte zwischen den einzelnen Interessengruppen aufzuteilen; zum anderen sollten sie eine Kontrollfunktion über das medizinische Personal des Gouvernements ausüben. Anhand der geschilderten Kommunikationswege wird deut­lich, dass lokale Medizinal­behörden bereits wenige Jahre nach ihrer Gründung – wie vom Gesetzgeber vorgesehen – als zentrale medizinische Instanz auf der Gouvernementsebene akzeptiert waren. Standen zu wenige Medizinal­beamte zur Verfügung, weitete man die Suche auf frei praktizierende und pensionierte Ärzte aus, um freie Stellen zu besetzen. So findet sich zum Beispiel in den Akten der Jaroslavl’er Medizinal­behörde aus dem Jahr 1802 eine 188 GAJaO f. 72, op. 2, d. 1997, l. 1 – 1ob. Auch Arztlehrlinge mussten manchmal Aufgaben in zwei Kreisen übernehmen. 1819 wurde beschlossen, das Gehalt solcher Lehrlinge zu verdoppeln. Siehe den Beschluss des Ministerkomitees vom 13. März 1815, in: PSZ I Bd. 33, Nr. 25.802, S. 45. 189 GAJaO f. 72, op. 2, d. 1997, l. 1 – 1ob. 190 Ebd., l. 2. 191 Als das Gericht von Mologa den Kreisarzt von Rybinsk um die Obduktion von Leichen bat, kam von den Rybinsker Behörden die Antwort, der Arzt werde vor Ort benötigt. Siehe das Schreiben des Gouverneurs von Jaroslavl’, Michail Golicyn, an die Medizinal­behörde des Gouvernements vom 18. Oktober 1806. GAJaO f. 86, op. 1, d. 88, l. 1 – 2, hier l. 1.

Verwaltung des Ärztemangels

167

Aufforderung, eben jene Gruppen für vakante Posten im Staatsdienst zu gewinnen.192 Doch die Suche nach Ärzten blieb ohne Erfolg. Aus acht Kreisen kamen negative Antworten.193 Ledig­lich im Kreis Ljubim konnte ein pensionierter Arzt ausfindig gemacht werden.194 Mehrere Versuche der Gouvernementsverwaltung, in den Folgejahren mehr Medizinal­beamte für den Dienst in Jaroslavl’ zu bekommen, scheiterten ebenfalls.195 Frei praktizierende Ärzte ließen sich nicht ohne Weiteres durch die lokale Verwaltung als Ersatz für fehlende Medizinal­beamte einspannen. Ein Rundschreiben des Polizeiministers aus dem Jahr 1811 zeugt davon, dass es sich bei dieser ablehnenden Haltung um ein reichsweites Phänomen handelte.196 Um die gravierenden Folgen des Ärztemangels zumindest für jene Bereiche abzumildern, denen man eine besondere Bedeutung beimaß, wurden frei praktizierende Ärzte nun gesetz­lich verpf­lichtet, auf Verlangen der jeweiligen Gouvernementsverwaltung oder Medizinal­behörde an ihren Wohnorten bestimmte Aufgaben zu übernehmen. Diese Pf­licht bestand etwa in Fällen von Epidemien oder Viehseuchen. Ferner konnten frei praktizierende Ärzte zur Obduktion von Leichen oder zu anderen Aufgaben herangezogen werden, wenn vor Ort kein medizinisches Personal zur Verfügung stand oder wenn lokale Medizinal­ beamte durch Krankheit oder zu hohe Arbeitsbelastung verhindert waren.197 De facto bedeutete dieser Erlass, dass frei praktizierende Ärzte nicht nur in Notfällen und nicht nur dort, wo es keine Medizinal­beamte gab, von der lokalen Verwaltung eingesetzt werden konnten. Sie waren nun verpf­lichtet, auf Anfrage einer jeden lokalen Behörde 192 Erlass des Medizinal­kollegiums an die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 13. Dezember 1802. GAJaO f. 86, op. 1, d. 52, l. 1 – 1ob., hier l. 1. 193 Schreiben des Stabsarztes von Rostov, Pёtr Rel’, an die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 3. Januar 1803. GAJaO f. 86, op. 1, d. 52, l. 2; Schreiben des Stabsarztes von Rybinsk, Avgust Šreter, an die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 6. Januar 1803. GAJaO f. 86, op. 1, d. 52, l. 3 – 3ob.; Schreiben des Stabsarztes von Romanov, Samoil Švajger, an die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 5. Januar 1803. GAJaO f. 86, op. 1, d. 52, l. 4; Schreiben des Kreisarztes von Mologa, Karl Klejgil’s, an die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 5. Januar 1803. GAJaO f. 86, op. 1, d. 52, l. 5; Schreiben des Kreisarztes von Uglič, Ivan Nozdrovskij, an die Medizinal­behörde von ­Jaroslavl’ vom 7. Januar 1803. GAJaO f. 86, op. 1, d. 52, l. 6; Schreiben des Stabsarztes von Danilov, Filipp Žitnikov, an die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 7. Januar 1803. GAJaO f. 86, op. 1, d. 52, l. 7; Schreiben des Stabsarztes von Pošechon’e, Ivan Gofman, an die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 17. Januar 1803. GAJaO f. 86, op. 1, d. 52, l. 8 – 8ob.; Schreiben des Stabsarztes von Myškin, Andrej Černoglazov, an die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 11. Januar 1803. GAJaO f. 86, op. 1, d. 52, l. 11. 194 Schreiben des Kreisarztes von Ljubim, Ivan Šillin, an die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 20. Januar 1803. GAJaO f. 86, op. 1, d. 52, l. 10 – 10ob. 195 Siehe GAJaO f. 72, op. 2, d. 1997, l. 1ob. und das Schreiben des Gehilfen des Innenministers, Osip Kozodavlev, an den Generalgouverneur von Novgorod, Tver’ und Jaroslavl’, Georg von Oldenburg, vom 15. April 1810. GAJaO f. 72, op. 2, d. 1997, l. 7 – 7ob., hier l. 7ob. 196 Siehe etwa das Rundschreiben des Polizeiministers, Aleksandr Balašёv, an die Gouverneure vom 23. September 1811. GAJaO f. 73, op. 1, d. 806, l. 74. 197 Ebd.

168

Akteure des Medizinal­wesens

Aufgaben zu übernehmen, die andernfalls aus verschiedenen Gründen unerfüllt blieben. Damit weitete die Staatsgewalt ihre Monopolansprüche zumindest partiell auch auf jene Mediziner aus, die sich nicht im Staatsdienst befanden. Doch nicht nur Ärzte waren rar, sondern auch Hebammen und Apotheker. So waren zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts geprüfte Hebammen in den Kreisstädten des Gouvernements Jaroslavl’ selten. Dem Bericht des Gouverneurs aus dem Jahr 1811 zufolge beschäftigte zwar die Stadt Uglič bereits seit längerer Zeit eine Hebamme. In Rostov sei allerdings erst kürz­lich eine eingestellt worden, Rybinsk habe dagegen noch immer keine gelernte und staat­lich zugelassene Geburtshelferin.198 Mit zwei Apotheken war das Gouvernement Tambov 1804 vergleichsweise gut versorgt. Die Gouvernements Jaroslavl’ und Voronež mussten mit jeweils einer Apotheke in der Gouvernementsstadt auskommen.199 Der Versuch, der ungleichmäßigen Verteilung des medizinischen Personals mit der Entsendung von Ärzten aus den Hauptstädten in die Provinz zu begegnen, hatte seine Entsprechung auf der Ebene der Gouvernements- und Kreisstädte. Als der Gouverneur von Jaroslavl’ 1810 das Innenministerium bat, weitere Ärzte zu entsenden, damit die medizinische Versorgung in den Kreisstädten gewährleistet werden konnte, kam aus dem Ministerium der Vorschlag, eines der Mitglieder der lokalen Medizinal­behörde in eine der Kreisstädte zu versetzen.200 Die ungleiche Anzahl medizinischen Personals in der Provinz ging zum Teil mit dem unterschied­lichen Bedarf der Städte in diesem Bereich einher. Auf den Vorschlag, ein Mitglied der Medizinal­behörde zum Dienst in einen Kreis zu entsenden, erklärte der Vizegouverneur von Jaroslavl’, warum alle drei Medizinal­beamten in der Gouvernementsstadt benötigt würden: „[E]s wurde ein Rekrutenersatzdepot geschaffen, das 3000 Rekruten umfasst und keinen eigenen Mediziner hat. Der Stadtarzt von Jaroslavl’ behandelt Kranke im Lazarett dieses Depots. Die Mitglieder der Medizinal­behörde sind mit ihren alltäg­lichen Geschäften und Reisen in Kreisstädte ausgelastet. Der Gouvernementsarzt behandelt Patienten in den folgenden Einrichtungen: Stadtlazarett, Gefängniskrankenhaus, Haus der Nächstenfürsorge [dom prizrenija bližnego] und Findelhaus.“ 201

198 Schreiben des Gouverneurs von Jaroslavl’, Michail Golicyn, an den Generalgouverneur von Novgorod, Tver’ und Jaroslavl’, Georg von Oldenburg, o. D. [vor dem 19. Juli 1811]. GAJaO f. 73, op. 1, d. 806, l. 25 – 25ob. 199 Tabeli k otčetu za 1804 god, Tabelle G, o. S. 200 GAJaO f. 72, op. 2, d. 1997, l. 7ob. 201 Schreiben des Vizegouverneurs von Jaroslavl’, Ivan Urusov, an den Generalgouverneur von Novgorod, Tver’ und Jaroslavl’, Georg von Oldenburg, vom 17. Juni 1810. GAJaO f. 72, op. 2, d. 1997, l. 15 – 16ob., hier l. 15ob.

Verwaltung des Ärztemangels

169

Da Gouvernementsstädte wichtige regionale Zentren waren, umfasste ihr Medizinal­ wesen sehr viele Bereiche. Zusätz­lich zur Behandlung von Kranken in einem Stadtkrankenhaus kamen Aufgaben in den Einrichtungen des Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge und im Militär hinzu, welche die Pf­lichten des Arztes in den Kreisstädten um ein Vielfaches überstiegen. Dementsprechend war auch der Bedarf der Gouvernementsstädte an medizinischem Personal höher als der Bedarf der Kreisstädte. Negative Folgen für die medizinische Versorgung der kleineren Städte und des flachen Landes hatte auch die größere Bedeutung, die den Gouvernementsstädten aufgrund der höheren Konzentration der Bevölkerung, des Militärs und der Verwaltungsbehörden zukam.202 Diese Entwicklung zeichnete sich bereits im späten achtzehnten Jahrhundert ab. Der stellvertretende Generalgouverneur von Voronež und Saratov berichtete Anfang des Jahres 1793 dem Senat ein Anliegen, mit dem sich der Leiter der Statt­ halterei an ihn gewandt hatte. Nach dem von allerhöchster Stelle bestätigten Etat sollten sowohl die Gouvernementsstadt als auch die Kreisstädte jeweils einen Arzt und einen Wundarzt, je zwei Unterärzte und Arztlehrlinge haben. Diese seien nun in einigen Städten vorhanden. Voronež sei jedoch viel größer als die umliegenden Kreisstädte: Die Stadt zähle 186 Adlige, 352 Geist­liche, 1187 Kaufleute, 695 meščane, 4099 Angehörige verschiedener Ränge (raznočincy), insgesamt 6519 Einwohner und beherberge darüber hinaus viele Menschen aus anderen Städten und übergangsweise stationierte Militäreinheiten, die nicht selten medizinische Hilfe benötigten. Manchmal hielten sich in der Gouvernementsstadt bis zu fünfzehntausend Menschen auf, und dafür seien die Kapazitäten der medizinischen Versorgung sch­lichtweg zu gering. Dagegen seien Kreisstädte „vor allem mit Bauern gefüllt, die den ärzt­lichen Behandlungen ziem­lich fern sind“. Also bemühte sich der Leiter der Statthalterei, Mediziner von den Orten, an denen sie seiner Meinung nach weniger gefragt waren, in die Gouvernementsstadt zu beordern. Doch der ­Voronežer Kameralhof weigerte sich, diesen Ärzten ihren Lohn zu zahlen, da sie sich von ihrem jeweiligen Dienst­ ort entfernt hätten.203 Der Senat entschied, dass ein Generalgouverneur für das Wohl seines Gouvernements gegenüber der Allgemeinheit ebenso wie gegenüber dem Kaiser verantwort­lich sei und Maßnahmen gegen unerwünschte Entwicklungen ergreifen müsse. Also sei eine Berufung der an anderen Orten stationierten Ärzte in die Gouvernementsstadt oder woandershin gerechtfertigt und dürfe nicht als Abwesenheit vom Dienst betrachtet werden. Schon gar nicht dürfe die Lohnzahlung in solchen Fällen eingestellt

202 Auch in soziokultureller Hinsicht standen die Kreisstädte in ihrer Entwicklung den Gouvernementsstädten nach. Siehe Kuprijanov, Kul’tura, S. 470. 203 Senatserlass vom 12. Januar 1793, in: PSZ I Bd. 23, Nr. 17.092, S. 392 – 393, hier S. 392.

170

Akteure des Medizinal­wesens

werden. Dasselbe gelte auch für andere Mediziner in solchen Situa­tionen.204 Der Senat bestärkte in diesem Fall die Entscheidungsgewalt der lokalen Behörden in einem wesent­lichen Punkt. Damit sollten in Zukunft dringende personelle Probleme schnell vor Ort und ohne Sondergenehmigungen aus der Hauptstadt gelöst werden können. In Bezug auf die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Zentrum und Provinz ist diese Entscheidung insofern bemerkenswert, als sie die Kompetenz der lokalen Ebene explizit bestätigte. Der Senat argumentierte mit der Verantwortung des Gouverneurs für das Gemeinwohl der ihm anvertrauten Provinz. Diese Verantwortung machte es nötig, flexibel über die Versetzung der Beamten innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs zu entscheiden, auch wenn diese bisweilen von der gesetz­lich vorgeschriebenen Verteilung zwischen der Gouvernementsstadt und den Kreisstädten abweichen mochte. In der Verbreitung des medizinischen Personals lassen sich insgesamt drei Ungleichheiten erkennen: eine stärkere Konzentration von Ärzten in den Hauptstädten im Vergleich zum Rest des Reiches, eine bessere Versorgung der Gouvernementsstädte im Vergleich zu den Kreisstädten und ein dichteres Netz medizinischen Personals im europäischen Teil Russlands als jenseits des Urals. Diesen Problemen begegnete die Staatsgewalt auf zentraler und lokaler Ebene mit folgenden Mitteln: Erstens versuchte man, unattraktive Stellen zu besetzen, indem man Ärzten höhere Gehälter zahlte; zweitens mussten Ärzte Aufgaben übernehmen, die außerhalb ihres eigent­lichen Zuständigkeitsbereichs lagen; und drittens bemühte man sich, frei praktizierende Ärzte zumindest vorübergehend für den Staatsdienst zu gewinnen. Die beschriebenen Mittel bildeten auch im neunzehnten Jahrhundert das Instrumentarium, mit dem die Staatsgewalt gegen den Ärztemangel in der Provinz vorging. Erst 1833 beschloss das Innenministerium strukturelle Maßnahmen, die das Netz medizinischer Institutionen und des Personals in den Gouvernements verändern sollten. Seit der Gouvernementsreform von 1775 war die Struktur der medizinischen Versorgung nach der administrativen Gliederung des Reiches ausgerichtet. Regionale medizinische Zentren lagen in den Gouvernementsstädten, deren Bedeutung durch die Schaffung lokaler Medizinal­behörden 1797 verstärkt wurde. Die mehrjährige Erfahrung hatte die Bürokratie zu zwei Einsichten geführt: erstens, dass die Gouvernementsstädte oft nicht das einzige Zentrum eines Gouvernements bildeten, und zweitens, dass die Kapazitäten eines einzigen Kreisarztes häufig nicht ausreichten, um den Bedarf an medizinischer Versorgung in einem oder gar mehreren Kreisen zu decken. 1833 sollte dieses System durch ein neues institutionelles Netz erweitert werden. Um dem Ärztemangel in „großflächigen und dicht besiedelten“ Gouvernements zu begegnen, sollte zusätz­lich zu Stadtärzten das Amt des Bezirksarztes

204 Ebd., S. 393.

Mediziner und Nichtmediziner

171

(okružnoj vrač) geschaffen werden. Jeder Bezirksarzt würde für mehrere Kreise zuständig sein und dadurch die dortigen Kreisärzte entlasten. Unter diesen Bedingungen, so die Idee, hätten Kreisärzte genügend Zeit, die medizinischen Einrichtungen und die Kranken in ihrem Zuständigkeitsbereich zu betreuen. Zu diesem Zweck sollten mehrere Kreise zu einem Bezirk zusammengefasst werden.205 Diese Reform ließ die 1775 und 1797 geschaffenen Strukturen bestehen und ergänzte sie durch ein zusätz­liches personelles und institutionelles Netz.

3. 3  P r ot a go n i s t e n d e s Me d i z i n a l­w e s e n s: Me d i z i ne r u nd Nicht me d i z i ne r Als ­Katharina II . den Thron bestieg, waren akademische Ärzte in der Provinz des Rus­sischen Reiches keineswegs unbekannt. Seit 1737 existierten in manchen Städten sogenannte Stadtphysici, für deren Unterhalt die lokale Bevölkerung aufkommen musste.206 So gab es in Voronež bereits einige Jahre vor der Einrichtung des Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge einen Arzt. In Tambov praktizierte schon in den 1760er Jahren ein Stadtarzt. Auch aus Jaroslavl’ ist um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die Existenz eines Mediziners im Staatsdienst überliefert. An manchen Orten, wo es keine Ärzte gab, konnte die Bevölkerung die Dienste eines Apothekers in Anspruch nehmen.207 Wenn es bisher um die Anzahl der Mediziner und die Verteilung der Posten ging, soll nun die aktive Rolle der Ärzte im medizinischen Alltag in der Provinz in den Vordergrund rücken, die durch ihre doppelte Funktion als Staatsbeamte einerseits und als Heilkundige andererseits bestimmt war. Diejenigen Mediziner, die ausschließ­lich eine private Praxis betrieben oder von einzelnen Gutsbesitzern angestellt wurden, erscheinen hier nur am Rande. Das Hauptaugenmerk richtet sich auf Medizinal­beamte, die vom Staat in die Provinz geschickt wurden und in die lokale Medizinal­verwaltung eingebunden waren. Militärärzte werden ledig­lich dann ins Blickfeld rücken, wenn sie mit der medizinischen Versorgung der Zivilbevölkerung in Berührung kamen.

205 Rundschreiben des Generalstabsdoktors, Semën Gaevskij, an die Gouverneure vom 31. Mai 1833. GAJaO f. 73, op. 1, d. 2769, l. 1. 206 Dabei handelte es sich zunächst um pensionierte Militärärzte. Siehe Alexander, Bubonic Plague, S. 51. 207 So etwa in Jaroslavl’ in den 1740er Jahren: Taradin, Materialy, S. 514; Instruktion der Einwohner von Insar, in: SIRIO Bd. 144, S. 286 – 289, hier S. 286 f.; Radovskaja (Hg.), 225 let, S. 5 f.; Osincev u. a. (Hg.), 225 let, S. 6.

172

Akteure des Medizinal­wesens

Ärzte In der Forschungsliteratur sucht man vergebens nach einem plastischen Bild des Medizinal­beamten.208 In älteren rus­sischsprachigen Studien, die vor allem ein allgemeines Urteil über die gesamte Ärzteschaft anstrebten, herrscht eine negative Sicht auf die Provinzärzte vor.209 Auch die sowjetische Historiographie hat ihren Beitrag zu einem unvorteilhaften Image der Medizinal­beamten geleistet. Aus der Tatsache, dass es sich bei den ersten Ärzten, die im frühen achtzehnten Jahrhundert vom Staat in der Provinz eingesetzt wurden, um pensionierte Militärärzte handelte, ist die weitverbreitete Überzeugung geworden, Provinzärzte im Rus­sischen Reich seien auch im neunzehnten Jahrhundert vorwiegend alt, gebrech­lich und damit weitgehend dienstunfähig gewesen.210 Ob dieser Befund weiterhin gelten kann, wird im Folgenden anhand von Personalakten der Mediziner in Voronež und Jaroslavl’ überprüft. Gelegent­lich begegnet man in Arbeiten, die auf Lokalstudien gründen, allerdings auch positiven Urteilen: Ein Regionalhistoriker hat manchen Ärzten der Stadt Uglič im Gouvernement Jaroslavl’ das unverkennbar sowjetische Epitheton „Enthusiasten des Gesundheitswesens“ verliehen.211 Bevor jedoch die Aufgaben der Provinzärzte und ihre alltäg­liche Berufsausübung in den Mittelpunkt treten, soll zunächst ein Eindruck von ihren Lebensumständen vermittelt werden. Im Gouvernement Voronež lassen sich anhand des überlieferten Materials insgesamt 36 Ärzte ausfindig machen, die dort am Ende des achtzehnten und im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts tätig waren.212

208 Das Fehlen einer Sozialgeschichte der Amtsärzte in Europa beklagt Dinges, Medicinische Policey, S. 295. 209 Siehe etwa D’jakonov, Šackie mediki, S. 22. Eine ebenfalls negative Beurteilung eines Arztes vom Jaroslavl’er Lokalhistoriker Leonid Trefolev wird zitiert in: Osincev u. a. (Hg.), 225 let, S. 6. 210 Siehe etwa Čistovič, Istorija, S. 554 f.; Taradin, Materialy, S. 513, 526. 211 Kuročkin, Iz istorii, S. 56. Ein positives Bild der Provinzärzte findet sich auch in Mezencev (Hg.), Istorija, S. 15. 212 Wegen der lückenhaften Überlieferung kann hier kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden. Die angeführten Personen dienen als Fallbeispiele.

Mediziner und Nichtmediziner

173

Ärzte im Gouvernement Voronež am Ende des achtzehnten und im ersten Drittel des neunzehten Jahrhunderts  213 Name

Dienstbe­ zeichnung und -ort

Jahr­ Herkunft gang bzw. Stand

Ausbildungs­ stätte

Militär­ dienst

Beginn des Dienstes im zivilen Medizinal­ wesen

Aleksandrovič, Fëdor

Operateur der Medizinal­ behörde, Voronež

1787

Geist­lichkeit

MedizinischChirur­gische Akademie St. Petersburg

1811 – 1819

1819

Amarantov, Ignatij

Kreisarzt, Ostrogožsk

1797

Geist­lichkeit

MedizinischChirur­gische Akademie Moskau

1817 – 1830

1831

Arakin, Ignatij Accoucheur der Medizinal­ behörde, Voronež

1778

Geist­lichkeit

k. A.

1801 – 1811

1811

Artemovskij, Pavel

Kreisarzt, Valujki

1803

Geist­lichkeit

Universität Char’kov



1830

Bardovskij, Aleksandr

Kreisarzt, Zadonsk

1810

Adel

Universität Moskau

1831 – 1834

1838

Baženov, Jakov

Kreisarzt, Nižnedevick

1808

Sohn eines Oberoffiziers

Universität Char’kov



1831

Bazilev, Nikolaj

Kreisarzt, Birjuč

1803

Geist­lichkeit

MedizinischChirur­gische Akademie Moskau



1830

Bolchovskij, Nikandr

Kreisarzt, Pavlovsk

1793

Adel

MedizinischChirur­gische Akademie Moskau

1820 – 1832

1833

Efimov(ič) a, Fëdor

Inspektor der Medizinal­ behörde, Voronež

1757

Kleinrusse

k. A.

1783 – 1791

1791

Ėllinskij, Ivan Accoucheur der Medizinal­ behörde, Voronež

1764

Geist­lichkeit

k. A.

1790 – 1792

1792

213 Die Tabelle beruht auf folgendem Material: Abschriften aus den Personalakten der Ärzte, Arztlehrlinge und Hebammen aus dem Jahr 1840. GAVO f. i–2, op. 5, d. 1; Bestimmungen der Adelsversammlung aus dem Jahr 1817. GAVO f. i–29, op. 1, d. 73; Personalakten der Medizinal- und Apothekenbeamten aus dem Jahr 1804. RGIA f. 1297, op. 1, kniga 48, d. 7; Personalakten aus dem Gouvernement Voronež für das Jahr 1812. RGIA f. 1299, op. 1, d. 333; Personalakten aus dem Gouvernement Voronež aus dem Jahr 1831. RGIA f. 1299, op. 16, d. 322.

174

Akteure des Medizinal­wesens

Name

Dienstbe­ zeichnung und -ort

Jahr­ Herkunft gang bzw. Stand

Ausbildungs­ stätte

Militär­ dienst

Beginn des Dienstes im zivilen Medizinal­ wesen

Fotiev, Nikolaj

Stabskreisarzt, Birjuč

1768

Geist­lichkeit

k. A.

1805 – 1807

1807

Grinevič, Ivan Kreisarzt, Valujki

1791

Adel

MedizinischChirur­gische Akademie St. Petersburg

1822 – 1832

1833

Gromo­ slavskij, Fëdor

Kreisarzt, Zadonsk

1806

Geist­lichkeit

MedizinischChirur­gische Akademie Moskau



1831

Kopejčikov, Dem’jan

Kreisarzt, Korotojak

1792

Adel

Universität Char’kov



1816

Logvin(ov)-­ skij, Vasilij

Kreisarzt, Nižnedevick

1760

Kleinrusse

k. A.

1786 – 1793

1793

Malyšev, Ivan Kreisarzt, Voronež

1792

Geist­lichkeit

MedizinischChirur­gische Akademie St. Petersburg

1816 – 1823

1823

Mejerštejn, Nikolaj

Kreisarzt, Novochopërsk

1801

Ausländer, k. A. seit 1830 griechisch-orthodox

k. A.

1826

Melart, Gustav

Operateur der Medizinal­ behörde, Voronež

1747

Pastorensohn aus Finnland

k. A.

1777 – 1785

1785

Michajlovskij, Kreisarzt, Ivan Ostrogožsk

1770 oder 1772

Geist­lichkeit

k. A.

1793 – 1799

1799

Mironovskij, Aleksej

Kreisarzt, Korotojak

1799

Geist­lichkeit

MedizinischChirur­gische Akademie Moskau



1823

Naumov, Michajla

Kreisarzt, Bobrov

1810

Geist­lichkeit

Universität Char’kov



1830

Pachalin, Andrej

Kreisarzt, Birjuč

1762

Pastorensohn aus Schweden

k. A.

1782 – 1796

1796

Petrovskij, Michail

Kreisarzt, Pavlovsk

1771

Geist­lichkeit

Hospital in Elizavetgrad

1798 – 1801

1801

Poletaev, Ivan Kreisarzt, Nižnedevick

1809

Geist­lichkeit

Universität Moskau

1836 – 1838

1839

Ponomarëv, Ivan

Kreisarzt, Starobel’sk

1751

Pole

k. A.



1783

Postnikov, Efim

Kreisarzt, Bogučar

1808

Adel

Universität Moskau



1830

Mediziner und Nichtmediziner Name

Dienstbe­ zeichnung und -ort

Jahr­ Herkunft gang bzw. Stand

175

Ausbildungs­ stätte

Militär­ dienst

Beginn des Dienstes im zivilen Medizinal­ wesen

Roznjatovskij, Kreisarzt, Zem- 1761 Nikanor ljansk

Kleinrusse, Sohn eines Geist­lichen

k. A.

k. A.

vor 1801

Savickij, Elisej

Kreisarzt, Bogučar

Adel

k. A.

1782

vor 1804

Smirnovskij, Ivan

Kreisarzt, Zem- 1808 ljansk

Geist­lichkeit

Universität Moskau



1835

Švanskij, Nikolaj

Accoucheur der Medizinal­ behörde, Voronež

1792

Adel

MedizinischChirur­gische Akademie St. Petersburg

1812 – 1822

1822

Usov, Nikita

Kreisarzt, Novochopërsk

1760

Sohn eines Oberoffiziers

k. A.

1788 – 1800

1800

Vagner, Fëdor

Kreisarzt, Bobrov

1771

Ausländer, seit 1822 Adliger im Rus­sischen Reich

Leipzig



1808

Visvjatskij, Dmitrij

Kreisarzt, Birjuč

1805

Geist­lichkeit

Universität Moskau

1829

1831

Vološinov, Vasilij

Kreisarzt, Voro- 1766 než

Kleinrusse

k. A.

1785 – 1799

1799

1756

Zubov, Stepan Kreisarzt, Bobrov

1742

Adel

k. A.

1760 – 1782

1782

Zvonnikov, Jakov

1766

Kleinrusse

Infanteriehospital in St. Petersburg

1790– 1792

1792

Kreisarzt, Birjuč

a  In den Personalakten finden sich gelegent­lich unterschied­liche Schreibweisen eines Namens. Wenn eine Schreibweise nicht ohne Weiteres ausgeschlossen werden kann, werden beide Varianten angegeben.

176

Akteure des Medizinal­wesens

Zehn der angeführten 36 Ärzte hatten ihren Dienst im zivilen Medizinal­wesen im achtzehnten Jahrhundert angetreten und sollen hier gesondert betrachtet werden, um eventuelle Unterschiede zum neunzehnten Jahrhundert festzustellen.214 Das Durchschnittsalter beim Eintritt in den zivilen Staatsdienst betrug bei diesen Ärzten 32,5 Jahre. Der Jüngste von ihnen, Jakov Zvonnikov, hatte seinen Dienst in Voronež im Alter von 26 Jahren begonnen, der Älteste, Stepan Zubov, mit 40 Jahren. In den zivilen Staatsdienst wechselten sie durchschnitt­lich 8,7 Jahre nach Beginn ihrer Tätigkeit als Ärzte. Bis auf Ivan Ponomarëv hatten sie alle nach dem Ende ihrer Ausbildung zunächst im Militär gedient. Personalakten enthalten oft sehr heterogene Angaben zur Herkunft der Ärzte: Manche Beamte notierten den Stand, andere die ethnische Zugehörigkeit, manchmal in Kombination mit dem Stand oder mit dem Glaubensbekenntnis. Unter den zehn Voronežer Ärzten aus dem späten achtzehnten Jahrhundert waren zwei Söhne von Geist­lichen, ein Adliger, vier Kleinrussen sowie jeweils ein Arzt finnischer, pol­ nischer und schwedischer Abstammung. Bei den 26 Medizinal­beamten, die ihren Dienst im Gouvernement Voronež im neunzehnten Jahrhundert antraten, betrug das Durchschnittsalter circa 31 Jahre. Beim Dienstantritt im zivilen Medizinal­wesen war der jüngste Mediziner, Efim Postnikov, 22 Jahre alt, die drei ältesten 40 Jahre. Den Dienst in der zivilen Medizinal­verwaltung hatten 24 Ärzte durchschnitt­lich 5,6 Jahre nach Beginn ihrer Praxis begonnen.215 Zehn von ihnen hatten gar nicht im Militär gedient. Von den 26 Medizinal­beamten entstammten 15 der Geist­lichkeit, sieben waren adlig, zwei waren Söhne von Oberoffizieren. Zwei Ärzte wurden als Ausländer bezeichnet, einer als Kleinrusse. Stellt man die Ergebnisse für das achtzehnte und das neunzehnte Jahrhundert gegenüber, so ergibt sich das folgende Bild: Das Alter beim Eintritt in den zivilen Staatsdienst blieb weitgehend unverändert. Allerdings traten Ärzte im neunzehnten Jahrhundert etwas früher nach dem Abschluss der Ausbildung in den zivilen Staatsdienst ein als im ausgehenden achtzehnten. Auch wenn die Berechnungen nicht repräsentativ sein können, fällt dennoch auf, dass von den zehn Ärzten aus dem achtzehnten Jahrhundert nur einer keinen Militärdienst geleistet hatte, während dies im frühen neunzehnten Jahrhundert auf circa vierzig Prozent der vorgestellten Medizinal­beamten zutraf. Der Anteil der Ausländer war unter den Ärzten im neunzehnten Jahrhundert

214 Damit soll nicht suggeriert werden, dass es um 1800 eine Zäsur gegeben habe. Da jedoch die Verwaltungsreform des Jahres 1797 zumindest auf dem Papier mehr medizinisches Personal in die Provinz brachte und die Förderung der medizinischen Ausbildung durch die Gründung der Universitäten weiteren Aufschwung bekam, erscheint eine getrennte Betrachtung des 18. und des 19. Jahrhunderts in diesem Fall sinnvoll. Bei einer dichteren Überlieferung wäre es mög­lich gewesen, Daten für einzelne Jahrzehnte zu erheben. 215 Von zwei Medizinal­beamten gibt es keine Angaben zum Dienst im Militär.

Mediziner und Nichtmediziner

177

deut­lich geringer als im späten achtzehnten. Gestiegen war dagegen der Anteil der Adligen und der Mediziner mit geist­lichem Familienhintergrund. Mit einem Blick auf die Medizinal­beamten im Gouvernement Jaroslavl’ soll überprüft werden, inwieweit die Befunde von Voronež sich wiederholen. Ärzte im Gouvernement Jaroslavl’ am Ende des achtzehnten und im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts  216 Name

Dienstbezeichnung und -ort

Jahr­ gang

Herkunft bzw. Ausbildungs­ Stand stätte

Militär­ dienst

Beginn des Dienstes im zivilen Medizinal­ wesen

Bagrjanskij, Michajla

Inspektor der Medizinal­behörde, Jaroslavl’

1761

Geist­lichkeit

Leiden, Paris, Berlin



1797

Baženov, Ivan

Kreisarzt, Rybinsk

1791

Geist­lichkeit

MedizinischChirur­gische Akademie St. Petersburg

1813 – 1822

1822

Burkart, Ivan

Accoucheur der Medizinal­behörde, Jaroslavl’

1759

Ausländer

k. A.

1793 – 1797

1797

Černoglazov, Andrej

Kreisarzt, Myškin

1763

Geist­lichkeit

Infanteriehospital in St. Petersburg

1788 – 1796

1797

Dibek, Christian

Stadt- und Kreisarzt, Jaroslavl’

1793

Preuße

Universitäten Rostock, Dorpat



1822

Genneman, Genrich

Kreisarzt, Borisoglebsk

k. A.

Ausländer

k. A.

1772 – 1776

1778

Gorčakov, Ivan Kreisarzt, Myškin

1788

Geist­lichkeit

Universität Moskau



1823

Kazotti, Ivan

Kreisarzt, Jaroslavl’

1749

Grieche

k. A.



1774

Kirchner, Iogan

Operateur der Medizinal­behörde, Jaroslavl’

1747

Sachse

k. A.

1786 – 1798

1798

Klejgil’s, Karl

Kreisarzt, Mologa

1771

Sohn eines Stabsoffiziers

MedizinischChirur­gische Akademie St. Petersburg

1788 – 1790

1794

Korabčevskij, Nikolaj

Kreisarzt, Mologa

1794

Geist­lichkeit

k. A.

1821 – 1827

1827

1797

Sohn eines Oberoffiziers

Universität Moskau

k. A.

1828

Kritskij, Andrej Kreisarzt, Pošechon’e

216 Die Tabelle wurde auf der Grundlage von Abschriften der Personalakten der Ärzte erstellt. GAJaO f. 72, op. 1, d. 34; GAJaO f. 79, op. 1, d. 294; GAJaO f. 79, op. 1, d. 773; GAJaO f. 86, op. 1, d. 45; op. 2, d. 1. Auch hier kann kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden.

178

Akteure des Medizinal­wesens

Name

Dienstbezeichnung und -ort

Jahr­ gang

Herkunft bzw. Ausbildungs­ Stand stätte

Militär­ dienst

Beginn des Dienstes im zivilen Medizinal­ wesen

Lapčinskij, Nikolaj

Kreisarzt, Danilov

1804

Geist­lichkeit

Universität Moskau



1826

Lovcov, Pavel

Kreisarzt, Uglič

1792

Geist­lichkeit

MedizinischChirur­gische Akademie Moskau

1812 – 1814

1814

Ložnikov, Flegont

Kreisarzt, Uglič

1789

Sohn eines Soldaten

MedizinischChirur­gische Akademie St. Petersburg

1812 – 1813

1814

Miller, Ivan

Leitender Arzt des Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge, Jaroslavl’

1794

Deutscher

k. A.



1821

Nečaev, Il’ja

Kreisarzt, Ljubim

1789

Geist­lichkeit

MedizinischChirur­gische Akademie Moskau



1820

Nikolaevskij, Aleksandr

Kreisarzt, Rostov

1794

Geist­lichkeit

MedizinischChirur­gische Akademie Moskau

1817 – 1823

1823

Nozdrovskij, Ivan

Kreisarzt, Uglič

1772

Geist­lichkeit

Hospital in St. Petersburg

1798 – 1800

1800

Perevedencov, Vasilij

Kreisarzt, Pošechon’e

1799

Geist­lichkeit

MedizinischChirur­gische Akademie Moskau

1821 – 1822

1822

Popov, Ivan

Kreisstabsarzt, RomanovBorisoglebsk

1783

Geist­lichkeit

MedizinischChirur­gische Akademie Moskau

1811 – 1821

1821

Rel’, Pёtr

Kreisarzt, Rostov

1767

Deutscher

Infanteriehospital in St. Petersburg

1790 – 1792

1792

Šillin, Ivan

Kreisarzt, Ljubim

1764

Preuße

Infanteriehospital in St. Petersburg

1789 – 1800

1800

Šreter, Avgust

Kreisarzt, Rybinsk

1768

Sachse

k. A.

1791 – 1798

1798

Švajger, Samoil

Kreisarzt, Romanov

1763

Sohn eines Stabsarztes

k. A.

1781 – 1791

1791

Veber, Fёdor

Operateur der Medizinal­behörde, Jaroslavl’

1770

Preuße

Medizinische Akademie Berlin, MedizinischChirur­gische Akademie St. Petersburg

1791 – 1799

1799

Mediziner und Nichtmediziner Name

Dienstbezeichnung und -ort

179

Jahr­ gang

Herkunft bzw. Ausbildungs­ Stand stätte

Militär­ dienst

Beginn des Dienstes im zivilen Medizinal­ wesen

Višnevskij, Pёtr Inspektor der Medizinal­behörde, Jaroslavl’

1788

Geist­lichkeit

MedizinischChirur­gische Akademie St. Petersburg, Moskau

1812 – 1821

1821

Žitnikov, Filipp

1765

Sohn eines Soldaten

k. A.

k. A.

k. A.

Kreisarzt, Danilov

Auch hier sollen die elf Ärzte, die ihren Dienst im zivilen Medizinal­wesen im achtzehnten Jahrhundert begannen, getrennt von jenen sechzehn betrachtet werden, die im neunzehnten Jahrhundert in den zivilen Staatsdienst eintraten. Von Filipp ­Žitnikov fehlen Angaben zu seinem Dienstantritt, so dass er in die Altersberechnungen nicht mit einbezogen werden kann. Das Durchschnittsalter der zehn Ärzte aus dem achtzehnten Jahrhundert, deren Geburtsjahr bekannt ist, betrug beim Dienstantritt im zivilen Medizinal­wesen knapp 32 Jahre. Der jüngste Arzt war zu diesem Zeitpunkt 23 Jahre alt, der älteste 36. Zwischen dem Beginn ihrer Arzttätigkeit und dem Wechsel in den zivilen Staatsdienst waren durchschnitt­lich etwa sechs Jahre vergangen, wobei zwei Mediziner keinen Militärdienst geleistet hatten. Dieser Befund lässt keine nennenswerten Unterschiede im Vergleich zu den Daten aus dem Gouvernement Voronež erkennen. Die Angaben zur Herkunft der Jaroslavl’er Ärzte im achtzehnten Jahrhundert zeichnen jedoch ein gänz­lich anderes Bild als im Schwarzerdegebiet. Unter den zehn Medizinal­beamten fanden sich keine Adligen, nur zwei Geist­liche, allerdings sechs Ausländer, und damit doppelt so viele wie etwa zur gleichen Zeit in Voronež. Über die sechzehn Medizinal­beamten, die sich in Jaroslavl’ im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts im zivilen Staatsdienst befanden und deren Geburtsjahr und beruf­liche Laufbahn bekannt sind, lässt sich Folgendes sagen: Sie traten im Alter von durchschnitt­lich 29,5 Jahren in den zivilen Staatsdienst ein. Die beiden Jüngsten waren beim Dienstantritt 22 Jahre alt, der Älteste zählte 38 Jahre. Bis zum Beginn ihrer Tätigkeit im zivilen Medizinal­wesen waren sie im Durchschnitt etwas weniger als vier Jahre in der Praxis gewesen.217 Von den sechzehn Medizinern hatten fünf keinen Militärdienst geleistet, zu einem Arzt sind keine Angaben überliefert. Auch hier ergibt sich beim Altersdurchschnitt kein signifikanter Unterschied

217 Diese Berechnung basiert auf den Daten von nur fünfzehn Medizinal­beamten, da in einer Personalakte nicht alle nötigen Informationen enthalten sind.

180

Akteure des Medizinal­wesens

zu den Befunden aus Voronež. Nur hatten die Jaroslavl’er Medizinal­beamten im Schnitt weniger Zeit beim Militär verbracht als ihre Kollegen im Schwarzerdegebiet. Deut­lich höher als in Voronež war der Anteil der aus der Geist­lichkeit stammenden Ärzte: Elf von sechzehn hatten einen geist­lichen Familienhintergrund. Dagegen gab es unter den Ärzten in Jaroslavl’ im neunzehnten Jahrhundert keine Adligen und nur drei Ausländer. Die räum­liche Mobilität bestimmte das Leben der Ärzte zu einem großen Teil. Das Studium und der Staatsdienst hatten in der Regel mehrere Umzüge notwendig gemacht. Dieser Befund gilt nicht nur für Ärzte, die aus dem Ausland kamen. Die Personalakte des Stabsarztes Pavel Lovcov, der in den 1820er Jahren im Gouvernement Jaroslavl’ praktizierte, verzeichnet beispielsweise folgende Stationen: Vom Priesterseminar in Rjazan’ wechselte Lovcov in die Moskauer Abteilung der Medizinisch-Chirur­gischen Akademie. Kriegsbedingt wurde er im Sommer 1812 zur Behandlung der Verwundeten nach Vjaz’ma entsandt, um anschließend in einem Hospital in Moskau zu arbeiten. Nach einigen Monaten Dienst in Kasimov, im Gouvernement Rjazan’, wurde Lovcov ins Gouvernement St. Petersburg versetzt, wo er zunächst in Oranienburg und danach in Novaja Ladoga diente. 1819 kam er schließ­lich in die Kreisstadt Rybinsk im Gouvernement Jaroslavl’, deren Bewohner mit ihm unzufrieden waren, weswegen Lovcov etwa ein Jahr später nach Uglič versetzt wurde.218 Auch Lebensläufe, die etwas weniger Stationen aufwiesen, beinhalteten ein gewisses Maß an Mobilität. So hatte etwa Dem’jan Kopejčikov an der Universität Char’kov Human- und Veterinärmedizin studiert und bekam 1816, ein Jahr nach dem Abschluss, einen Kreisarztposten in Birjuč im Gouvernement Voronež. Nachdem er aus gesundheit­lichen Gründen den Dienst für zwei Jahre unterbrochen hatte, wurde er in Zemljansk angestellt und sieben Jahre später nach Korotojak versetzt.219 An der beruf­lichen Laufbahn Kopejčikovs fällt auf, dass er im Gegensatz zu Lovcov und vielen anderen Medizinal­beamten nur in einem einzigen Gouvernement tätig war. Anzumerken ist dabei, dass Ärzte nur einen begrenzten Einfluss auf die Auswahl ihres Dienstortes hatten. Sie konnten allenfalls Wünsche äußern, und manchmal wurde diesen auch entsprochen: etwa im Fall von Genrich Genneman, der 1778 um eine Anstellung im Gouvernement Jaroslavl’ bat,220 oder im Fall des Kreisarztes von

218 Abschrift aus der Personalakte des Kreisarztes von Uglič, Pavel Lovcov, aus dem Jahr 1823. GAJaO f. 79, op. 1, d. 294, l. 19 – 20. 219 Siehe die Abschrift aus der Personalakte des Kreisstabsarztes von Korotojak, Dem’jan Kopejčikov, aus dem Jahr 1840. GAVO f. i–2, op. 5, d. 1, l. 66 – 67. 220 Siehe das Schreiben des Arztes Genrich Genneman an den Generalgouverneur von Novgorod, Tver’ und Jaroslavl’, Aleksej Mel’gunov, vom 24. Februar 1778. GAJaO f. 72, op. 1, d. 34, l. 1. Für weitere Fälle siehe beispielsweise die Abschrift aus der Personalakte des Kreisarztes von Mologa,

Mediziner und Nichtmediziner

181

Pošechon’e, der 1824 auf eigenes Ersuchen hin auf den Posten des Operateurs nach Wilna versetzt wurde.221 Auch bei Arztlehrlingen kam es vor, dass sie dem eigenen Wunsch entsprechend den Dienstort wechseln konnten.222 Diese Schlag­lichter, die anhand der biographischen Daten der Ärzte aus den Gouvernements Voronež und Jaroslavl’ mög­lich sind, erlauben folgende Schlussfolgerungen: Erstens war der Anteil aus dem Ausland eingewanderter Ärzte in der Provinz des Rus­sischen Reiches im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert beträcht­ lich. In den folgenden Jahrzehnten schwand er allerdings zusehends.223 Zweitens widerlegt der Befund der beiden Lokalstudien die Forschungsmeinung, die Zivilbevölkerung sei von alten Ärzten versorgt worden. Zwar bildete der zivile Staatsdienst in der Regel die zweite – und meistens die letzte – Stufe in der professionellen Laufbahn der Medizinal­beamten. Doch in den beiden Gouvernements hatten sie ihren Dienst in der Provinz bereits im Alter von etwa dreißig Jahren begonnen. Hinzu kam, dass im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts mehr Ärzte direkt nach ihrer Ausbildung in den zivilen Staatsdienst eintraten, als dies in den letzten Jahrzehnten des achtzehnten Jahrhunderts der Fall gewesen war. Drittens war die Dominanz der Mediziner mit einem geist­lichen Familienhintergrund im frühen neunzehnten Jahrhundert noch stärker geworden als in den vorausgegangenen Jahrzehnten. Diese Beobachtung ist insofern wenig überraschend, als um die Jahrhundertwende die meisten Medizinstudenten der Geist­lichkeit entstammten.224 Die Anordnung Pauls I., jähr­lich fünfzig Priesterseminaristen in die medizinische Ausbildung zu geben, hatte also Früchte getragen.225 Viertens hatten fast alle einheimischen Medizinal­beamten, die im neunzehnten Jahrhundert in der Provinz arbeiteten, ein Studium an einer Bildungseinrichtung im Rus­sischen Reich absolviert. Von den 34 Medizinal­beamten aus den Gouvernements

Karl Klejgil’s, aus dem Jahr 1802. GAJaO f. 86, op. 1, d. 45, S. 42ob.–43; Abschrift aus der Personalakte des Kreisarztes von Ljubim, Il’ja Nečaev, aus dem Jahr 1829. GAJaO f. 79, op. 1, d. 773, l. 16ob.–17. 221 Schreiben des Vizegouverneurs von Jaroslavl’, Jakov Ipatovič-Garanskij, an die Medizinal­behörde vom 20. Juni 1824. GAJaO f. 86, op. 1, d. 300, l. 1. 222 Siehe etwa die Abschrift aus der Personalakte des Unterlehrlings von Mologa, Pavel Golovin, aus dem Jahr 1833. GAJaO f. 86, op. 2, d. 22, l. 2ob.–3; Abschrift aus der Personalakte des Oberlehrlings von Ljubim, Nikita Nelidov, aus dem Jahr 1833. GAJaO f. 86, op. 2, d. 22, l. 5ob.–6. 223 Dieser Befund entspricht der Feststellung, dass von 2508 Ärzten, die 1809 im Rus­sischen Reich tätig waren, die Mehrheit rus­sischer Herkunft gewesen seien. Bogdanov, Vrači, S. 28; Grombach, Literatura, S. 17. 224 Nach den Berechnungen von Ljudmila Bulgakova entstammte etwa ein Drittel der Ärzte vor den Reformen der 1860er Jahre der Geist­lichkeit. Bulgakova, Profession, S. 213 f. Für das 18. Jahrhundert siehe auch Renner, Autokratie, S. 71 f. Geist­liche gehörten zu den wenigen streuerfreien Nichtadligen, denen der zivile Staatsdienst offenstand. Siehe dazu Torke, Beamtentum, S. 104. 225 Synodalerlass vom 26. September 1797, in: PSZ I Bd. 24, Nr. 18.161, S. 746 – 748.

182

Akteure des Medizinal­wesens

Voronež und Jaroslavl’, deren Ausbildungsorte bekannt sind, hatte nur einer im Ausland Medizin studiert.226 Für die Provinz des Rus­sischen Reiches wurden also fast ausschließ­lich Absolventen der Medizinisch-Chirur­gischen Akademie und der inländischen Universitäten rekrutiert. Nur vier der ermittelten Ärzte hatten eine Ausbildung an einer hospitaleigenen Chirurgenschule erhalten. Fünftens muss der verhältnismäßig geringe Anteil des Adels im Arztberuf beziehungsweise das vollständige Fehlen adliger Medizinal­beamter im Gouvernement Jaroslavl’ festgehalten werden. Die wenigen Adligen, die den medizinischen Beruf gewählt hatten, gehörten in der Regel zu den ärmeren Vertretern ihres Standes. Von acht Medizinal­beamten adliger Herkunft, die im Gouvernement Voronež dienten, besaßen nur zwei Immobilien, wobei das Holzhaus des Kreisarztes von Pavlovsk, Bolchovskij, nicht einmal ihm persön­lich, sondern seiner Frau gehörte.227 Ein Universitätsstudium und der anschließende Staatsdienst boten die Mög­lichkeit eines sozialen Aufstiegs und konnten sogar zur Nobilitierung führen, wie im Folgenden am Beispiel zweier Ärzte aus dem Gouvernement Voronež gezeigt werden soll. Ignatij Fëdorovič Amarantov wurde 1797 in die Familie eines Geist­lichen geboren. Mit siebzehn Jahren trat er in die Moskauer Abteilung der Medizinisch-Chirur­ gischen Akademie ein und begann nach dem Studium, im Alter von zwanzig Jahren, den Militärdienst. Nach vierzehn Jahren in verschiedenen Regimentern wurde er 1831 zum Kollegienassessor befördert und wechselte als Stabsarzt auf den Kreisarztposten nach Ostrogožsk im Gouvernement Voronež. Fünf Jahre später war er bereits Hofrat und bekleidete den siebten Rang.228 Der Accoucheur der Voronežer Medizinal­behörde aus dem Jahr 1804, Ivan Nikitič Ėllinskij, hatte seine Karriere zwar auf einer niedrigeren Stufe begonnen als Amarantov, schaffte aber einen Aufstieg in den persön­lichen Adel. Auch er war Sohn eines Geist­lichen. Sein Berufsweg begann allerdings nicht mit einem Medizinstudium. Stattdessen war Ėllinskij im Alter von 23 Jahren zunächst Arztlehrling geworden. Zwei Jahre später trat er als Volontär ins Militär ein, das er mit 28 Jahren als Stabsarzt verließ. Mit dieser Qualifikation wurde er Kreisarzt und konnte 1799 den Posten des Accoucheurs in der Gouvernementsstadt antreten. Mit 38 Jahren erreichte er den Rang eines Kollegienassessors und stieg somit in den persön­lichen Adel auf.229

226 Als Ausländer gekennzeichnete Beamte wurden bei dieser Berechnung nicht berücksichtigt, da sie oft erst nach dem Abschluss ihrer Ausbildung nach Russland kamen. 227 Dienstlisten der Ärzte, Arztlehrlinge und Hebammen im Gouvernement Voronež für das Jahr 1840. GAVO f. i–2, op. 5, d. 1, l. 8 – 11, hier l. 8ob. 228 Abschrift der Personalakte des Kreisarztes von Ostrogožsk, Ignatij Amarantov, vom 15. Mai 1840. GAVO f. i–2, op. 5, d. 1, l. 59 – 60. 229 Personalakte der Medizinal­beamten des Gouvernements Voronež aus dem Jahr 1804. RGIA f. 1297, op. 1, kniga 47, d. 7, l. 272 – 284, hier l. 273ob.–274.

Mediziner und Nichtmediziner

183

Der Weg vom Arztlehrling zum Stabsarzt war zwar lang, aber nicht ungewöhn­ lich. Von den vierzehn Medizinal­beamten, die 1804 im Gouvernement Voronež praktizierten, hatten alle bis auf einen ihre Karriere als Lehrlinge begonnen. Selbst der höchste Beamte des Gouvernements, der Inspektor der Medizinal­behörde, war mit neunzehn Jahren Arztlehrling gewesen. Mit 32 Jahren war er bereits Stabsdoktor, mit 42 bekleidete er den Rang des Kollegienassessors.230 Eine Arztkarriere bedeutete zwar für manche einen sozialen Aufstieg. Zu Wohlstand brachten es jedoch nicht viele Provinzärzte. Von 31 Medizinal­beamten, die im späten achtzehnten und im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts im Gouvernement Jaroslavl’ praktizierten, sind Informationen über die Besitzverhältnisse überliefert. Nur einer von ihnen besaß ein „selbst gekauftes Holzhaus“.231 Vier Ärzte hatten immerhin jeweils zwei bis sechs leibeigene Hausangestellte (­dvorovye ­ljudi).232 Ärzte klagten häufig über zu niedrige Löhne, die es ihnen nicht erlaubten, medizinische Bücher oder Instrumente zu kaufen.233 Medizinal­beamte und ihre Lehrlinge bekamen ihre Gehälter dreimal im Jahr ausgezahlt. Bei einem Jahresgehalt von drei- bis vierhundert Rubel 234 standen einem Provinzarzt zwischen 25 und 33 Rubel im Monat zur Verfügung. Dies reichte zumindest dem Papier nach aus, um ein Auskommen zu sichern.235 Doch wenn ein Arzt etwa ein Drittel seines Einkommens für Dienstfahrten vorstreckte 236 oder Medikamente für seine Patienten bezahlte 237 – was häufig vorkam –, schränkte dies seinen finanziellen Spielraum erheb­lich ein. Schon 1799 meldete der Präsident des Medizinal­kollegiums, dass Ärzte oft ihre Dienstreisen aus eigener Tasche bezahlten, was sie in äußerste Bedrängnis bringe.238 Um eine Rückerstattung ihrer Reisekosten

230 Ebd., l. 272 – 279. 231 Es handelt sich um Vasilij Perevedencov, der seit 1826 Kreisarzt in Pošechon’e war. Personalakte von Vasilij Perevedencov aus dem Jahr 1827. GAJaO f. 79, op. 1, d. 609, l. 10ob.–11. 232 Personalakten der Medizinal­behörde von Jaroslavl’ für das Jahr 1802. GAJaO f. 86, op. 1, d. 45, l. 39 – 49, hier l. 40ob. und Personalakten des medizinischen Personals der Kreisstadt Romanov aus dem Jahr 1802. GAJaO f. 86, op. 1, d. 45, l. 20 – 24, hier l. 21ob.; Personalakten der Medizinal­ behörde von Jaroslavl’ für das Jahr 1829. GAJaO f. 79, op. 1, d. 773, l. 12ob.–13; Personalakten der Medizinal­beamten von Ljubim aus dem Jahr 1802. GAJaO f. 86, op. 1, d. 45, l. 30 – 31. 233 PSZ I Bd. 24, Nr. 17.743, S. 287. 234 Sitzungsprotokoll des Staatsrats vom 3. August 1817, in: Archiv gosudarstvennogo soveta Bd. 4, Teil 2, Sp. 1827 – 1829, hier Sp. 1827. 235 Siehe beispielsweise die Lebensmittelpreise in Voronež im Jahre 1817: Slavinskij, Opisanie, S. 180 f. 236 Siehe das Exzerpt der Medizinal­behörde von Jaroslavl’ aus den Berichten der Kreisärzte, o. D. [1802]. GAJaO f. 86, op. 1, d. 31, l. 9. 237 Siehe etwa den Bericht des Kreisarztes von Rostov, Pёtr Rel’, an die Medizinal­behörde von ­Jaroslavl’, o. D. [1797 oder 1798]. GAJaO f. 86, op. 1, d. 6, l. 17 – 19, hier l. 17. 238 Senatserlass vom 24. August 1799, in: PSZ I Bd. 25, Nr. 19.094, S. 767 – 768.

184

Akteure des Medizinal­wesens

zu verlangen, schickten die Ärzte des Gouvernements Jaroslavl’ im Jahr 1802 die folgende Aufstellung ihrer Ausgaben an die Medizinal­behörde: Dienstfahrten und Fahrtkosten der Ärzte im Gouvernement Jaroslavl’ von April bis Juni 1802 239 Arzt

Stadt

Kazotti

Jaroslavl’

Nozdrovskij

Uglič

Zurückgelegte Entfernung in Werst (in Kilometern)

Fahrtkosten in Rubel

1078 (1150)

32,12

556 (593,14)

22,24

Šreter

Rybinsk

646 (689,15)

25,84

Klejgil’s

Mologa

562 (599,54)

22,48

Šillin

Ljubim

308 (328,57)

12,32

Žitnikov

Danilov

242 (258,17)

9,68

Geht man von einem Jahresgehalt von drei- bis vierhundert Rubel aus, so legten die genannten Ärzte im zweiten Quartal des Jahres 1802 zwischen 13 und 32 Prozent ihres Gehalts für Dienstfahrten aus. Es ist anzunehmen, dass Provinzärzte private Patienten behandelten und somit ihren Lebensunterhalt aufbesserten. Der Arbeitsaufwand in der privaten Praxis und die Höhe der daraus resultierenden Einkünfte lassen sich anhand des überlieferten Materials leider nicht belegen. Doch wird hier einmal mehr deut­lich, dass die niedrigen Gehälter Ärzte geradezu zwangen, manche Amtspf­lichten zurückzustellen und die Behandlung zahlungsfähiger Patienten vorzuziehen. Mit niedrigen Löhnen schadete die staat­liche Politik dem Ansehen der Ärzte, indem sie medizinische Laufbahnen für höhere Gesellschaftsschichten unattraktiv machte.240 Die starke Bindung des Berufs an den Staat und die fehlende professio­ nelle Selbstorganisation der Ärzte unterschieden Russlands Mediziner von ihren Kollegen im Westen Europas.241 Ein Medizinstudium verhieß vor allem Kindern aus

239 GAJaO f. 86, op. 1, d. 31, l. 9. 240 Akademische Laufbahnen waren für Adlige im frühen 19. Jahrhundert im Allgemeinen unattraktiv. Siehe dazu Maurer, Hochschullehrer, S. 30, 82; Frieden, Physicians, S. 23. Dass sowohl Gehälter als auch das Prestige der Ärzte niedrig waren, konstatiert auch Jekutsch, Krankheitsbegriff, S. 175. Allerdings differenziert Jekutsch nicht zwischen den verschiedenen Positionen der Ärzte. Mediziner, die höhere Ämter in der zentralen Medizinal­behörde bekleideten, oder solche, die eine erfolgreiche Privatpraxis betrieben, unterschieden sich sowohl im Einkommen als auch in der gesellschaft­lichen Stellung von Medizinal­beamten auf den unteren Stufen des Medizinal­wesens in der Provinz und im Militär. 241 Siehe auch Frieden, Physicians, S. xiii–xiv. Trotz einer fehlenden Selbstorganisation besaßen Ärzte eine stärkere beruf­liche Identität als andere Beamte. Für das 18. Jahrhundert siehe Renner, Autokratie, S. 85 ff.

Mediziner und Nichtmediziner

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ärmeren Elternhäusern einen besseren sozialen Status – ein erfolgreicher Abschluss in Medizin oder Pharmazie führte zum Beispiel zur Befreiung von der Kopfsteuer 242 – und manifestierte die ärzt­liche Laufbahn als einen Beruf für Aufsteiger.243 Trotz der oft schwierigen Lebensumstände der Ärzte entwickelten sie keine professionelle Interessenvertretung. Medizinische Gesellschaften hatten in Russland in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts einen überwiegend wissenschaft­ lichen Charakter und wurden von ihren Mitgliedern nicht zur Vertretung professioneller Interessen genutzt.244 Rus­sische Ärzte des späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts waren eine Schöpfung der staat­lichen Politik. Sie kannten in ihrer Berufsausübung keine nennenswerte Konkurrenz, da ihre Anzahl gering war und ihr Streben nach dem Behandlungsmonopol vom Staat unterstützt wurde. Traten zwischen Ärzten und nichtlizenzierten Heilern Konflikte auf, stand die Staatsmacht auf Seiten der Medizinal­beamten. Das größte Problem der Medizinal­beamten war die geringe Besoldung. Doch konnte es in Einzelfällen durch Prämien gelöst werden. Hinzu kam, dass der Ausbau des Medizinal­wesens zu den wichtigsten innenpolitischen Zielen im untersuchten Zeitraum gehörte: Der Staat förderte sowohl die Ausbildung des medizinischen Personals als auch die medizinische Versorgung des Landes. Die Nachfrage überstieg stets das Angebot. Trotz des ausbleibenden Reichtums bedeutete der Staatsdienst für viele Ärzte bereits einen sozialen Aufstieg. Erst im späteren neunzehnten Jahrhundert entwickelten Mediziner ein stärkeres Selbstbewusstsein als unverzichtbare Experten und versuchten sich in ihren Karrierewegen vom Staat zu emanzipieren.245 Somit bildeten Ärzte keine Ausnahme unter Russlands Fachleuten, die im neunzehnten Jahrhundert keine professionelle Interessenvertretung kannten.

242 Kaiser­licher Erlass vom 28. Mai 1815, in: PSZ I Bd. 33, Nr. 25.864, S. 178. Galt diese Regelung zunächst nur für Studenten der Medizinisch-Chirur­gischen Akademie, wurde sie 1819 auch auf Universitätsstudenten ausgeweitet. Siehe den kaiser­lichen Erlass vom 29. November 1819, in: PSZ I Bd. 36, Nr. 28.008, S. 402. 243 Das galt für wissenschaft­liche Berufe insgesamt. Siehe Kusber, Eliten- und Volksbildung, S. 216, 374 f.; Maurer, Hochschullehrer, S. 209 – 223. Torke betont die „schnellen Aufstiegsmög­lichkeiten“ und „die bessere materielle Lage der Beamten“ – trotz der knapp bemessenen Beamtengehälter –, „die den [zivilen Staats-, D. S.] Dienst verlockend machte“. Torke, Beamtentum, S. 111. 244 Dies änderte sich jedoch in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Siehe Bulgakova, Profession, S. 222 – 231. 245 Doch die Versuche, sich zu organisieren, trugen nicht mehr den Charakter einer ausschließ­lichen Vertretung der Berufsinteressen, sondern waren Teil hochpolitisierter Organisationsbestrebungen, die die letzten Jahrzehnte der rus­sischen Monarchie prägten. Siehe dazu Hutchinson, Society; Frieden, Physicians, S. 32; Schramm, Staat, S. 1401.

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Akteure des Medizinal­wesens

Arztlehrlinge Bisher standen nur diplomierte Mediziner im Mittelpunkt der Untersuchung. Kreis­ ärzte, Beamte der lokalen Medizinal­behörden und Ärzte, die in den Einrichtungen der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge arbeiteten, machten aber nur einen Teil des medizinischen Personals in der Provinz aus. Wenn Ärzte in der Provinz fehlten, bestand das medizinische Personal oft nur aus Lehrlingen. Im Gouvernement ­Tambov kamen im Jahr 1820 auf zwölf Medizinal­beamte und acht frei praktizierende Mediziner einundzwanzig Lehrlinge.246 Im benachbarten Voronež gab es nur elf Medizinal­beamte, fünf frei praktizierende Ärzte und dreiundzwanzig Lehrlinge.247 Obwohl Arztlehrlinge im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts die zahlenmäßig größte Gruppe des medizinischen Personals in der Provinz des Zarenreichs darstellten, befinden sie sich nach wie vor vollkommen außerhalb des Blickfelds der Historiker. Die Bezeichnung lekarskie učeniki, Arztlehrlinge, ist nur zum Teil korrekt, denn sie beschreibt nur eine Seite ihrer Tätigkeit. Zwar erwarben Lehrlinge bestimmte Fähigkeiten in der Praxis und konnten ihren Kenntnissen und Fertigkeiten entsprechend vom Unter- zum Oberlehrling – vom mladšij zum staršij učenik – aufsteigen.248 Auch konnte ihre Stellung im achtzehnten Jahrhundert als Vorstufe zur weiteren medizinischen Ausbildung dienen und wurde als solche genutzt, wie manche der angeführten Arztbiographien bezeugen.249 Doch oft endete die Karriere eines Arztlehrlings auf dem Posten des Oberlehrlings.250 Das System, in dem einem Arzt Ober- und Unterlehrlinge zur Verfügung standen, konnte nur dann funktionieren, wenn alle drei Stufen – also beide Lehrlingsstellen und der Arztposten – besetzt waren. Auf diese Art und Weise konnte der Arzt einfachere Aufgaben nach unten delegieren, denn mit dem Oberlehrling hatte er – zumindest in der Theorie – einen erfahrenen Helfer an seiner Seite. Gleichzeitig konnte ein Unterlehrling angelernt werden, der zunächst ganz einfache Arbeiten

246 RGIA f. 1299, op. 9, svjazka 18, d. 332b, l. 2 ff. 247 RGIA f. 1299, op. 9, d. 299, l. 8 f. 248 Etwa Fëdor Belikov aus dem Gouvernement Jaroslavl’, der 1787 seinen Dienst in Borisoglebsk als Unterlehrling begonnen hatte und 1799 zum Oberlehrling in Pošechon’e aufgestiegen war. Siehe die Dienstlisten aus der Medizinal­behörde des Gouvernements Jaroslavl’ aus dem Jahr 1829. GAJaO f. 79, op. 1, d. 773, l. 27ob.–28. Ähn­lich war auch die Biographie des Oberlehrlings von Pavlovsk im Gouvernement Voronež, Maksim Černov, der seinen Dienst 1823 als Unterlehrling begonnen hatte und zehn Jahre später zum Oberlehrling aufgestiegen war. Siehe die Dienstlisten der Ärzte, Arztlehrlinge und Hebammen im Gouvernement Voronež aus dem Jahr 1840. GAVO f. i–2, op. 5, d. 1, l. 12 – 13. 249 PSZ I Bd. 29, Nr. 21.985, S. 4. 250 GAJaO f. 79, op. 1, d. 773, l. 27ob.–28; GAVO f. i–2, op. 5, d. 1, l. 12 f.

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verrichtete und sowohl den Oberlehrling als auch den Arzt bei ihren Tätigkeiten beobachtete. Machte ein Unterlehrling Fortschritte und zeichnete sich durch Fleiß und Pf­lichtbewusstsein aus, konnte er nach einer Zeit zum Oberlehrling aufsteigen. Störungen traten in diesem System auf, wenn – wie im Beispiel aus Ostrogožsk 251 – der Posten des Oberlehrlings unbesetzt blieb und einem Arzt nur ein unerfahrener Unterlehrling zur Verfügung stand. Damit fehlte dem Arzt ein Helfer, dem nicht jeder Handgriff erklärt werden musste. Die unbesetzte mittlere Stufe im System bedeutete auch, dass die Ausbildertätigkeit ungeteilt in die Pf­licht des Arztes fiel. Bei der Menge an sonstigen Aufgaben eines Kreisarztes war dies häufig ein unerwünschter Zusatz. Für ein Jahresgehalt von 30 bis 45 Rubel sollte ein Lehrling dem Arzt auf vielfältige Weise zur Hand gehen. Zu seinen Pf­lichten gehörten Botengänge, die Pockenschutzimpfung, die Überwachung der Ausführung ärzt­licher Anordnungen, das Wechseln von Verbänden, Aderlässe und andere Aufgaben.252 Wer waren nun diese Arztlehrlinge? Im Gegensatz zu Ärzten wurden Lehrlinge überwiegend aus der einheimischen Bevölkerung rekrutiert. Von den zwanzig Lehrlingen, deren Tätigkeit im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts im Gouvernement Voronež von den Quellen verbürgt wird, gehörten sechzehn der rus­sisch-orthodoxen Kirche an. Von den rest­ lichen vier sind keine Angaben zum Bekenntnis überliefert. Ihre Namen aber – Ivan Antonov, Fёdor Popov, Aleksej und Egor Volotov – legen die Vermutung nahe, dass es sich ebenfalls um orthodoxe Russen handelte.253 Von den 42 Arztlehrlingen, die zur selben Zeit im Gouvernement Jaroslavl’ angestellt waren, wurden in den Personalakten ledig­lich zwei als Personen ausländischer Herkunft gekennzeichnet.254 Angaben zum sozialen Hintergrund sind von 58 der insgesamt 64 Lehrlinge bekannt. Da sich keine Unterschiede zwischen den beiden Gouvernements erkennen lassen, können Arztlehrlinge aus Voronež und Jaroslavl’ in diesem Fall zusammen betrachtet werden.

251 Taradin, Materialy, S. 534. 252 29 Rubel 40 Kopeken bekam der Unterlehrling des Kreisarztes von Rostov im Jahr 1806. Das Gehalt des Oberlehrlings betrug im selben Jahr 44 Rubel 55 Kopeken. Das Jahresgehalt des Kreisarztes belief sich auf 297 Rubel. Siehe den Bericht des Kreisstabsarztes von Rostov, Pёtr Rel’, an die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 3. Januar 1807. GAJaO f. 86, op. 1, d. 132, l. 2. Siehe auch GAJaO f. 86, op. 1, d. 10, l. 11 – 11ob. und den Bericht des Kreisarztes von Myškin, Ivan Gorčakov, an die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 5. April 1829. GAJaO f. 86, op. 1, d. 392, l. 63 – 64, hier l. 63ob. 253 GAVO f. i–2, op. 5, d. 1. 254 Einer von ihnen war ein türkischer Gefangener. GAJaO f. 79, op. 1, d. 773; GAJaO f. 86, op. 2, d. 22.

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Akteure des Medizinal­wesens

Soziale Herkunft der Arztlehrlinge im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts in Voronež und Jaroslavl’  255 Herkunft a

Anzahl der Personen

Soldatenkinder

3

Offizierskinder

6

Kinder von Arztlehrlingen

7

Bauernkinder

3

ehemalige Leibeigene Geist­liche und Kirchendiener

7 20

Kanzleiangestellte

3

Freiwillige

1

Einhöfer

1

meščane

2

Waisenkinder

5

a  In den Personalakten wird stets die soziale Zugehörigkeit der Eltern angegeben.

Die mit Abstand größte Gruppe bilden Kinder von Geist­lichen beziehungsweise Kirchendienern. Diese Dominanz erklärt sich durch die Anforderungen, die an Arztlehrlinge gestellt wurden. Die Lese- und Schreibfähigkeit als Einstellungsvoraussetzungen schlossen den überwiegenden Teil der Bevölkerung aus. Für viele war die Anstellung als Arztlehrling die erste beruf­liche Tätigkeit. Ledig­lich neun von sechzig Lehrlingen waren einer anderen Beschäftigung nachgegangen, bevor sie als Arztlehrlinge anfingen. Dementsprechend waren sie älter als der Durchschnitt: Zu Beginn ihrer Tätigkeit als Lehrlinge waren sie durchschnitt­lich 26 Jahre alt, während das Durchschnittsalter der Anfänger bei den Arztlehrlingen bei 19 Jahren lag.256 Der Jüngste war ein Unterlehrling aus Ljubim, der – wenn die überlieferten Angaben zutreffen – mit neun Jahren in den Dienst getreten war.257

255 Die Grundlage für die Tabelle bilden folgende Materialien: GAVO f. i–2. op. 5, d. 1 für das Gouvernement Voronež. Für Jaroslavl’: GAJaO f. 79, op. 1, d. 773; f. 86, op. 1, d. 45; d. 140; op. 2, d. 22. 256 Die Berechnungen wurden auf der Grundlage folgender Akten angestellt: GAVO f. i–2. op. 5, d. 1; GAJaO f. 79, op. 1, d. 773; f. 86, op. 1, d. 45; GAJaO f. 86, op. 1, d. 140; GAJaO f. 86, op. 2, d. 22. 257 Abschrift aus den Personalakten des Stabsarztes von Ljubim, Ivan Šillin, und seines Lehrlings, Ivan Kuvšinov, vom 6. Mai 1802. GAJaO f. 86, op. 1, d. 45, l. 30 – 31, hier l. 31.

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Das medizinische Personal bestand in der Provinz also aus zwei durch ihre Qualifikation und Aufgabenbereiche klar voneinander getrennten Gruppen:258 den Doktoren und Wundärzten, die nach der Ausbildung an einer staat­lichen Einrichtung die Zulassung zur medizinischen Praxis bekommen hatten und – oft nach einem mehrjährigen Dienst in den Streitkräften – die Posten der Kreisärzte oder in der lokalen Medizinal­behörde bekleideten, und dem Hilfspersonal, das keine theo­retische Fachausbildung besaß und in der Praxis angelernt wurde. Nicht nur im Bildungsgrad und in der sozialen Herkunft unterschieden sich die beiden Gruppen des medizinischen Personals. Im Gegensatz zu den Ärzten war für Arztlehrlinge der Verbleib innerhalb eines Gouvernements die Regel.259 Viele von ihnen verbrachten sogar ihr gesamtes Arbeitsleben an einem einzigen Ort.260 Eine Ausnahme bildeten manche Lehrlinge, die zuvor eine andere Tätigkeit ausgeübt hatten. Pavel Berezin stammte aus dem Gouvernement Kursk und diente seit 1803 als Barbier im Infanterieregiment von Narva, bevor er 1820 den Posten des Unterlehrlings in Uglič im Gouvernement Jaroslavl’ bekam und etwas später nach Myškin wechselte.261 Nikita Nelidov hatte ebenfalls zunächst als Barbier gearbeitet und wurde danach Feldscher. Zu seinen Stationen gehörten die Militärhospitäler in Jaroslavl’, Moskau und Archangel’sk, bevor er 1831 auf eigenen Wunsch hin als Oberlehrling nach Ljubim kam.262 Die Praxis, Arztlehrlinge aus dem jeweiligen Gouvernement zu rekrutieren, lag in der geringen Attraktivität dieser Stellen begründet. 1806 berichtete der Innenminister Kočubej dem Senat von Schwierigkeiten, die lokale Medizinal­behörden bei der Suche nach Arztlehrlingen hätten. Diese Stellen seien so schlecht dotiert, dass die Gehälter nicht zur Befriedigung der Grundbedürfnisse ausreichten. Also gebe es kaum Interessenten aus Ständen, die sich eine lukrativere Beschäftigung aus­ suchen konnten. Um vakante Lehrlingsstellen zu besetzen, erlaubte die Medizinal­ verwaltung des Reiches daher, kopfsteuerpf­lichtige meščane und Bauern als Arztlehrlinge zu beschäftigen.263 Nach dem Gesetz von 1798 durften Arztlehrlinge nur aus kopfsteuerfreien Bevölkerungsgruppen rekrutiert werden, da sie sich später zu Ärzten ausbilden lassen und in den Staatsdienst eintreten könnten. Der Senatserlass aus dem Jahr 1806 interpretierte die Rolle der Lehrlinge jedoch grundlegend neu: Sie sollten „wegen ihrer

258 Staat­lich zugelassene Hebammen müssen bei dieser Betrachtung ausgespart bleiben, weil ihre Existenz in den Gouvernements Voronež und Jaroslavl’ in den Quellen so gut wie keinen Niederschlag findet. 259 Siehe dazu GAJaO f. 79, op. 1, d. 773; f. 86, op. 1, d. 45; op. 2, d. 22 und GAVO f. i–2, op. 5, d. 1. 260 GAJaO f. 86, op. 1, d. 45, l. 30ob.–31.; GAJaO f. 86, op. 2, d. 22, l. 4ob.–5. 261 GAJaO f. 79, op. 1, d. 773, l. 25ob.–26. 262 GAJaO f. 86, op. 2, d. 22, l. 5ob.–6. 263 PSZ I Bd. 29, Nr. 21.985, S. 4.

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unzureichenden Bildung nie zu Wundärzten befördert und wegen ihrer Unkenntnisse der Geisteswissenschaften [slovesnye nauki] nicht einmal in Akademien aufgenommen werden“. Damit stufte man Arztlehrlinge als Handwerker ein, deren Aufgabe ausschließ­lich in der Unterstützung der Ärzte bestand.264 Mit dieser Begründung und mit dem Ziel, die Zahl der Lehrlinge zu erhöhen, wurde die bisherige Beschränkung auf kopfsteuerfreie Schichten aufgehoben und die Lehrlingslaufbahn für weitere Bevölkerungsgruppen geöffnet. Diese Regelung spaltete die medizinische Laufbahn in zwei Teile: Von dem Abschnitt der Karriereleiter, der über mehrere Stufen – das Studium, den Dienst im Militär – zum sozialen Aufstieg führen konnte, wurden jene Stufen getrennt, die von jungen Männern ohne Voraussetzungen für ein Medizinstudium als Einstieg hätten genutzt werden konnten. Der beruf­liche und soziale Aufstieg war von nun an nur noch jenen vorbehalten, die aufgrund ihrer Herkunft bereits im Kindes- und Jugendalter ein bestimmtes Maß an Bildung hatten erwerben können. Von diesem eng mit der Wissenschaft verbundenen Teil der medizinischen Berufe wurde der handwerk­liche Teil getrennt und unteren sozialen Gruppen zugäng­lich gemacht. Die Öffnung des Berufs für breitere Bevölkerungsschichten und wiederholte Gehaltserhöhungen erzielten im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts jedoch nicht ganz die gewünschte Wirkung. Zwar konnten einige Kreisstädte, in denen es zu Beginn des Jahrhunderts keine Arztlehrlinge gab, im Laufe der Zeit solche Arzthelfer finden.265 Doch hatten viele lokale Behörden noch 1819 nach wie vor Schwierigkeiten, vakante Lehrlingsstellen zu besetzen. Selbst im Gouvernement St. Petersburg waren von den vorgeschriebenen 32 Lehrlingen nur acht im Dienst, „von anderen, weiter entfernten Gouvernements ganz zu schweigen“, hieß es aus dem Polizeiministerium. Als Gegenmaßnahme wurde eine weitere Lohnerhöhung in Erwägung gezogen.266

Ärzte und Kranke Nachdem das medizinische Personal, das für das zivile Medizinal­wesen in der Provinz zuständig war, vorgestellt wurde, soll nun dessen Alltag betrachtet werden. Wie war der Aufgabenbereich der Ärzte definiert? Mit welchen Menschen und

264 Ebd. 265 Siehe Tabeli k otčetu za 1804 god, Tabelle C, o. S.; RGIA f. 1299, op. 9, svjazka 18, d. 332b, l. 2 ff.; RGIA f. 1299, op. 9. d. 299, l. 8 f. 266 Kaiser­lich bestätigter Beschluss des Ministerkomitees vom 13. Mai 1819, in: PSZ I Bd. 36, Nr. 27.801, S. 194.

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Behörden hatten sie bei ihrer Berufsausübung zu tun? Welche Probleme ergaben sich bei ihrer Tätigkeit? In die Zuständigkeit der Provinzärzte fiel nicht nur die Behandlung von Kranken. Medizinal­beamte mussten unter anderem darauf achten, dass Menschen mit unverdorbenen Nahrungsmitteln versorgt wurden.267 Zu ihren Aufgaben gehörte auch die Gesundheitsprüfung von Rekruten.268 Schließ­lich erwartete man von einem Provinzarzt, dass er trotz seiner räum­lichen Entfernung von den Forschungsstätten einen Beitrag zur medizinischen Wissenschaft leistete: in Form von sogenannten topo­ graphischen Beschreibungen und von Berichten über ungewöhn­liche Ereignisse.269 Kreisärzte waren gleichsam der verlängerte Arm der Medizinal­behörde und sollten ihr von der Gouvernementsstadt aus einen Zugriff auf die Kreisebene ermög­lichen. In dieser Rolle wurden Ärzte nicht nur als Heiler eingesetzt, sondern mussten auch Verwaltungsaufgaben übernehmen. Die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ hatte beispielsweise den Kreisarzt von Uglič, Ivan Nozdrovskij, damit beauftragt, den Bau eines Lazaretts in seiner Stadt zu beaufsichtigen und alles in seiner Macht Stehende zu tun, um das Bauprojekt mög­lichst schnell zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen.270 Der Arzt hatte Interesse daran, Patienten in einem zweckmäßigen Gebäude und unter günstigeren Bedingungen zu behandeln. Nozdrovskij durfte als einzige fachkundige Person im Kreis Uglič die Gestaltung des Krankenhauses so weit mitbestimmen, dass er dem Gouverneur seinen Plan der Inneneinrichtung vorstellte, der denn auch bewilligt wurde.271 In diesem Fall hatte das medizinische Fachpersonal einen Einfluss auf die Gestaltung medizinischer Einrichtungen. Kreisärzte mussten auf Anforderung der Polizeimeister und anderer Dienststellen häufig in umliegende Dörfer fahren, etwa wenn es ungeklärte Todesfälle, ansteckende Krankheiten und Viehseuchen gab oder wenn jemand totgeschlagen wurde. Neben den Aufgaben im Bereich der Medizinal­polizei, der Krankenbehandlung und der Gerichtsmedizin waren Provinzärzte für den Informationsfluss vom Zentrum auf die lokale Ebene und in die umgekehrte Richtung zuständig und kommunizierten

267 Der Kreisarzt von Danilov, Filipp Žitnikov, berichtete der Jaroslavl’er Medizinal­behörde über seine Inspektion. Siehe das Sitzungsprotokoll der Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 17. Januar 1800. GAJaO f. 86, op. 1, d. 10, l. 191ob. 268 Kaiser­lich bestätigte Anleitung für Ärzte, die bei Aushebungen anwesend sind, vom 24. September 1806, in: PSZ I Bd. 29, Nr. 22.282, S. 732 – 741, hier S. 740. 269 Siehe etwa das Sitzungsprotokoll des Medizinal­kollegiums von Jaroslavl’ vom 2. Januar 1800. GAJaO f. 86, op. 1, d. 10, l. 187 – 187ob. 270 Siehe den Bericht des Kreisarztes von Uglič, Ivan Nozdrovskij, an die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 23. Oktober 1802. GAJaO f. 86, op. 1, d. 48, l. 4. 271 Bericht des Kreisarztes von Uglič, Ivan Nozdrovskij, an die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 6. April 1804. GAJaO f. 86, op. 1, d. 48, l. 8; Erlass des Gouverneurs von Jaroslavl’, Michail Golicyn, an die Stadtduma von Uglič vom 16. Juni 1804. GAJaO f. 86, op. 1, d. 8, l. 10 – 10ob.

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deshalb mit verschiedenen Ämtern. Doch die Hauptaufgabe der Ärzte bildete die Behandlung der Kranken.272 Das Verhältnis zwischen Ärzten und Kranken in verschiedenen Ländern des west­lichen Europas ist zu einem vielbeforschten Feld geworden. Der Blick der Medizinhistoriker richtet sich immer mehr auf das Individuum.273 In Bezug auf Russland ist die Begegnung zwischen Ärzten und Kranken dagegen bisher in erster Linie als literarisches Motiv untersucht worden.274 In der Forschungsliteratur gehört die Skepsis vor allem unterer Bevölkerungsgruppen und mangelnder Respekt gegenüber akademisch gebildeten Ärzten zu Axiomen der Medizingeschichte.275 Verbreitet ist auch die Darstellung des Arztes als eines vertrauensunwürdigen, geldgierigen Scharlatans, die sich über Jahrhunderte hinweg gehalten hat.276 Zwar lassen sich aus solchen Publikationen wertvolle Hinweise auf verbreitete Stereotype gewinnen. Im Folgenden sollen jedoch nichtliterarische Quellen nach realen Begegnungen der Kranken mit Medizinern befragt werden. Kulturgeschicht­liche Studien haben in den letzten Jahren die These hervorgebracht, dass zwischen der importierten medizinischen Wissenschaft und rus­sischen Krankheitsvorstellungen ein Gegensatz existierte, der zu einer Ablehnung der akademisch gebildeten Ärzte vor allem durch die unteren Bevölkerungsschichten geführt habe. Diese Interpretation bezieht sich meistens auf Unruhen während der Pestepidemie der 1770er Jahre und der Choleraepidemie der 1830er.277 Hier soll überprüft werden, inwieweit im Alltag eine ablehnende Haltung gegenüber Vertretern der akademischen Medizin in Erscheinung trat und was sie verursacht haben könnte. Das Verhältnis zwischen Ärzten und ihren Kunden und Patienten findet selten direkten Niederschlag in den Quellen und tritt meist am Rande anderer Handlungen, etwa auf Reisen, bei Aufenthalten auf dem Land et cetera auf. Sogenannte Patientenbriefe oder gar Briefwechsel zwischen Ärzten und ihren Kranken sind

272 Furmenko behauptet fälsch­licherweise, die Krankenbehandlung gehörte nicht zu den unmittelbaren Pf­lichten der Ärzte. Furmenko, Očerki Bd. 1, S. 75. 273 Zu den wichtigsten Arbeiten in diesem Bereich gehört Stolberg, Homo patiens. Programmatisch: Porter, Patient’s View. 274 Siehe etwa Rammelmeyer, Arzt, v. a. S. 130 – 152, der allerdings auf weiterführende Interpretationen verzichtet; Pokrovskij, Smertodavcy; Brusjanin, Doktora; Skvorcov; Skvorcova, Obrazy. 275 Siehe etwa Dmitrieva, Medicina, S. 16; Taradin, Materialy, S. 523. 276 Siehe etwa die Arztfiguren in den Bühnenstücken Gollandskij lekar’ i dobryj aptekar’, in: Berkov (Hg.), Drama, S. 84 f.; Doktor i bol’noj, in: ebd., S. 86; Petruška, on že Van’ka-Ratatuj, in: ebd., S. 115 – 123, hier S. 117 f.; Car’ Maksimilian, in: ebd., S. 180 – 250, hier S. 241 ff. Auch im Westen Europas waren Ärzte eine beliebte Zielscheibe literarischer Angriffe. Lindemann, Medicine, S. 224; Brockliss; Jones, Medical World, S. 337 – 344. 277 In Bezug auf die Pest: Renner, Wissenstransfer, v. a. S. 193, 199. Kirsten Mörters deutet die Petersburger Choleraunruhen als Ausdruck der Ablehnung einer „west­lichen“ Lebensweise: Mörters, Hurra.

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zumindest für den Zeitraum dieser Arbeit nicht überliefert.278 Hinzu kommt, dass der überwiegende Teil der Quellen persön­licher Provenienz von Vertretern der höheren sozialen Kreise in Form von Briefen, Tagebüchern oder Memoiren verfasst worden ist und damit über das Verhalten ledig­lich eines kleinen Segments der Bevölkerung Aufschluss gibt.279 Geht man also Fragen nach, wie die Kommunikation zwischen Ärzten und Kranken verlief, welche Vorstellungen beide Seiten von ihrem Verhältnis hatten und welche Konflikte diese Interaktion mit sich bringen konnte, muss man sich darüber im Klaren sein, dass es sich bei der Überlieferung meist um Einzelfälle handelt, die sich nur begrenzt generalisieren lassen. Behandelt man die Frage nach den gegenseitigen Vorstellungen sowie nach der Kommunikation eines Arztes mit seiner Umgebung, muss auch auf ein weiteres grundsätz­liches Quellenproblem hingewiesen werden: Zum einen schlagen sich in Verwaltungsakten für gewöhn­lich nur solche Begebenheiten nieder, die Defizite offenbaren. Hier ist also besondere Vorsicht geboten, wenn es darum geht, Einzelfälle zu verallgemeinern. Ähn­lich verhält es sich mit Auskünften über Begegnungen zwischen einem Kranken und einem Arzt, die sich in persön­lichen Quellen finden. In der Regel hielten Autoren nur solche Vorkommnisse fest, die ihnen wegen ihrer Dramatik besonders erwähnenswert erschienen und somit markante Ausnahmen vom Alltag bildeten. Ein letzter quellenkritischer Hinweis bezieht sich auf Rückschlüsse von Geschildertem auf die tatsäch­liche Qualität der medizinischen Hilfe. Klagen eines Kranken oder seiner Angehörigen über einen unfähigen Arzt verraten nicht mehr als dessen Wahrnehmung durch den Verfasser. Denn nicht nur konnten und können Ärzte nicht jedes Leiden kurieren. Auch hatten ihre Kunden und Patienten mit ihrem Krankheitsverhalten einen großen Einfluss auf den Erfolg einer Behandlung. Wandten sie sich zum Beispiel erst dann an einen Arzt, wenn die Krankheit weit fortgeschritten war, konnten sie unter Umständen ihre Genesungschancen verringern. Der Arzt blieb dennoch verantwort­lich für den Ausgang der Behandlung. Zu den Postulaten der sowjetischen Historiographie, die zum Teil bis heute tradiert werden, gehört die Feststellung, das medizinische Personal habe in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts keinen Respekt genossen.280 In seiner Studie zum Medizinal­wesen in Voronež, die in ihren Urteilen höchst dogmatisch ist, stellt Ivan Taradin – leider ohne Belege – eine unterschied­liche Akzeptanz der Medizinal­ beamten in der Armee und in der Zivilbevölkerung fest. Während das Vertrauen in 278 Patientenbriefe bilden die wichtigste Grundlage für die Untersuchung der Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit von Stolberg, Homo patiens, S. 30 ff. 279 Dies gilt grundsätz­lich für Selbstzeugnisse aus dem 18. Jahrhundert. Siehe Ransel, Merchant’s Tale, S. xviii. 280 Taradin, Materialy, S. 523; Ševčenko, Dejatel’nost’, S. 55; Dmitrieva, Medicina, S. 24 f.

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die Hilfe der akademisch ausgebildeten Ärzte in der Armee vergleichsweise groß gewesen sei, habe die Landbevölkerung den Medizinal­beamten nur Misstrauen entgegengebracht.281 Begründet werden solche Schlüsse in der Regel mit der Art des Kontakts, den die Mehrheit der Bevölkerung zu den Ärzten hatte. Der Autor einer Arbeit aus den 1920er Jahren schildert die Begegnungen zwischen Ärzten und der Landbevölkerung in düsteren Farben: „Der Arzt erschien dem Volk als ein Beamter, der mal zur Obduktion toter Körper und zur Feststellung der Schuldigen, mal zur Unterbindung einer Krankheit mit administrativen Mitteln und Strafmaßnahmen kam. In der Tätigkeit der Ärzte fand man keine positiven Maßnahmen, die dem Volk Vertrauen zu den Dienern der Medizin hätten einflößen können.“ 282

Zunächst sei auf die ideolo­gische Konnotation dieser Interpretation hingewiesen. Zu den wesent­lichen Aspekten der bolschewistischen Kritik an der Verwaltung des Zarenreichs gehörte das Argument, die Bürokratie – und damit auch die Beamten – hätten sich zu weit vom Volk entfernt. In der lo­gischen Fortsetzung dieses Dogmas wird auch das Medizinal­wesen als bürokratisch und deshalb dem Volk unverständ­ lich dargestellt. Im Folgenden soll anhand von konkreten Fällen untersucht werden, wie sich die Begegnungen zwischen Ärzten und Kranken gestalteten. Der wohlbekannte Gutsbesitzer aus dem Gouvernement Tula, Andrej Bolotov, den die Nachwelt durch seine umfangreichen Memoiren kennengelernt hat, berichtet von häufigen Krankheitsfällen in seiner Familie, in denen auch Ärzte zu Rate gezogen wurden. Als Bolotovs Onkel 1765 erkrankte, rief man einen deutschen Arzt namens Hanisch, dessen Fähigkeiten die Familie schätzte und dessen Anweisungen man befolgte. Zum Abschluss des Krankenbesuchs ließ sich der Arzt im Hause seines Kunden bewirten. Als Bolotov vom Arzt erfuhr, dass es für seinen Onkel keine Hoffnung mehr gebe, war er über Hanischs Verhalten empört. Er empfand es als gewissenlos, für eine Krankenvisite, die keine Genesung brachte, Geld einzustreichen. Erbost war Bolotov auch darüber, dass der Arzt trotz des sicher nahenden Todes dem Kranken dennoch eine beträcht­liche Menge eines Medikaments verschrieben hatte, das sich als recht teuer erwies.283 281 Taradin, Materialy, S. 526. 282 Skorochodov, Očerk, zitiert nach Taradin, Materialy, S. 527. Ein Historiker aus Voronež schreibt, dass Bauern den Arzt als einen angsteinflößenden Beamten betrachteten. Ševčenko, Dejatel’nost’, S. 57. 283 Bolotow, Leben Bd. 2, S. 75 f. Das Narrativ von Medizinern, die ledig­lich an Geld interessiert waren und dieses auf unlautere Art und Weise ihren Patienten aus der Tasche lockten, taucht auch in der Erzählung eines Nachbarn Bolotovs auf. Siehe ebd., S. 95. Auch aus dem frühneuzeit­lichen Westen Europas sind Klagen über teure Ärzte bekannt. Siehe Porter, Patient’s View, S. 190.

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Diese Episode gibt trotz ihrer Kürze wertvolle Hinweise auf das Verhalten von Ärzten und Angehörigen eines Kranken aus dem Adel um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts. Erstens besaß der Arzt aufgrund seiner fach­lichen Kenntnisse Autorität und wurde in diesem Fall nicht nur zu Rate gezogen, sondern hatte bei der Behandlung des Kranken die Oberhand. Zweitens hielt Bolotov die Entlohnung der ärzt­lichen Dienste nur dann für angemessen, wenn diese erfolgreich waren, also die Wiederherstellung der Gesundheit brachten. Die anfäng­liche Anerkennung, die Bolotov und seine Familie dem Arzt entgegenbrachten, war nach der erfolglosen Behandlung deut­lich geschwunden. Auch an einer anderen Stelle seiner Erinnerungen berichtete Bolotov von einer Begegnung mit einem Arzt, „der uns zunächst überaus gutherzig und ehr­lich vorkam, […] sich später als ein regelrechter Scharlatan und gewissenloser Mensch“ erwies. Diesem Mediziner warf Bolotov ebenfalls vor, ledig­lich mög­lichst viel Geld bekommen zu wollen.284 Erfahrungen mit teuren Behandlungen, die ihren Zweck verfehlten, konnten schließ­lich sogar zu einem grundsätz­lichen Misstrauen gegenüber Ärzten führen.285 Ob und wie genau die Anweisungen eines Arztes, der seinen Kranken Hausbesuche abstattete, befolgt wurden, lag im Ermessen des jeweiligen Kranken und seiner Angehörigen. Senator Ivan Lopuchin berichtet in seinen Aufzeichnungen von einer Krankheit, die ihn im Jahre 1789 plagte. Damals war Lopuchin 33 Jahre alt. Er konsultierte mehrere Ärzte gleichzeitig und wurde von ihnen zu Hause besucht. Medikamente, die ihm ein Arzt verschrieben hatte, nahm Lopuchin nicht ein. Als er ein einziges Mal ein Heilmittel probierte, von dem der Arzt sagte, es sei das wirksamste, habe er Blut gespuckt. Ein anderer Arzt, mit dem Lopuchin befreundet war und der ihn täg­lich sah, riet ihm von den verschriebenen Medikamenten ab, denn sie können die zerstörerische Wirkung seiner Krankheit verschärfen. Lopuchin setzte daraufhin alle Medikamente ab, sagte dem behandelnden Arzt aber nichts davon. Als er genesen war, freute sich der erste Arzt über die schnelle Wirkung seiner Medikamente.286 Ähn­liches ist aus dem Jahr 1806 aus dem Gouvernement Jaroslavl’ bekannt. Ein Kreisarzt beklagte sich gegenüber der Medizinal­behörde über das Verhalten der Eltern von pockenkranken Kindern: Sie befolgten die ärzt­lichen Vorschriften nicht und begründeten dies damit, dass die Anweisungen des Arztes nicht den Wünschen

284 Bolotow, Leben Bd. 2, S. 155. Zitat ebd. 285 Wie im Falle von Bolotovs Frau – siehe ebd. – oder bei Ivan Tolčënov, Ransel, Merchant’s Tale, S. 208. 286 Zapiski senatora, S. 1, 40 f. Auch Bolotov berichtet von einer Krankheit, während der er sich zwar von einem Arzt behandeln ließ, diese Behandlung aber durch Selbstmedikation ergänzte. Bolotow, Leben Bd. 2, S. 233 f.

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der Kinder entsprächen. Selbst die Warnung des Arztes, dass die Eltern ihre Kinder verlieren würden, wenn sie seine Anweisungen ignorierten, zeigte keine Wirkung.287 Allerdings sind auch gegenteilige Erfahrungen überliefert: Graf Bobrinskij hielt in seinem Tagebuch fest, wie er während einer Krankheit von einem Arzt Medikamente verschrieben bekam und diese vorschriftsgemäß einnahm. Abschließend stellt er fest: Die Heilmittel erzielten die gewünschte Wirkung.288 Ärzte besaßen keine absolute Autorität in den Augen der Kranken.289 Die Autorität eines Arztes und damit die Wahrschein­lichkeit, dass sein Rat befolgt wurde, stieg mit dem Grad der Vertrautheit zwischen ihm und den Kranken und dem Erfolg seiner Behandlungen. Je länger und intimer die Beziehung zu einem Arzt war, desto größer war das Vertrauen des Kranken in dessen Fähigkeiten. Auch der Umstand, wieweit die vom Arzt angewandten Methoden den Vorstellungen des jeweiligen Kranken entsprachen, konnte eine wichtige Rolle spielen. Kranke, die einen Arzt nach Hause riefen und sich damit nicht vollkommen in seine Gewalt begaben, handelten wie Kunden, nicht wie in Bezug auf ihren Körper vorübergehend entmündigte Patienten in einer Heilanstalt.290 Hatte ein Arzt Erfolg, konnte sich sein guter Ruf überregional verbreiten. Auch hierfür bieten Bolotovs Memoiren eine wertvolle Quelle. Darin ist von einem Arzt namens Vasilij Erofeevič die Rede, der Ende der 1760er Jahre „einen geradezu sagenhaften Ruhm genoß“.291 Sein Ansehen reichte so weit, „daß man ihn schon für Gott weiß was hielt und meinte, in ihm einen leibhaftigen Äskulap zu erblicken“. Einer seiner Patienten soll laut Bolotov sogar vom „Wunderdoktor“ gesprochen haben. Trotz des ironischen Untertons, der in Bolotovs Memoiren beinahe jede Erwähnung eines Mediziners begleitet, kann man aus diesen Sätzen herauslesen, dass eine erfolgreiche Praxis den Ärzten Anerkennung brachte. Vasilij Erofeevič lebte und arbeitete in St. Petersburg. Erzählungen über seine Behandlungen reichten aber weit über die Hauptstadt hinaus, und mancher Kranke trat eine weite Reise an, in der Hoffnung, von ihm geheilt zu werden.292 287 Notiz des Operateurs der Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom September 1806. GAJaO f. 86, op. 1, d. 93, l. 5 – 6, hier l. 5ob. 288 Dnevnik grafa Bobrinskogo, S. 128. 289 Für den Westen Europas spricht Michael Stolberg davon, dass „[d]ie meisten gebildeteren Kranken […] dem ärzt­lichen Führungsanspruch klare Grenzen [setzten] und […] unmißverständ­lich eigene Wünsche“ äußerten. Stolberg, Homo patiens, S. 97. Die von Roy Porter zitierten Quellen bestätigen ebenfalls diesen Befund. Siehe Porter, Patient’s View, S. 189 f. 290 Siehe dazu auch Kapitel 4.2. 291 Die Rede ist vermut­lich von Vasilij Erofeevič Voronov, der in den 1760er Jahren den Grafen Grigorij Orlov von einer schweren Magenerkrankung befreit haben soll. Siehe Sindalovskij, Sankt-Peterburg, S. 73 f. 292 Bolotow, Leben Bd. 2, S. 92. Alle Zitate ebd. Von einem anderen berühmten Arzt aus Kleinrussland berichtet Bolotov in seinen Aufzeichnungen aus dem Jahr 1796. Bolotov, Pamjatnik, S. 147 f. Auch zu Friedrich Josef Haass, dem legendären Arzt aus Münstereifel, der von 1814 bis 1853 in

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Auch die Staatsgewalt zeigte Interesse an der Bewertung der Medizinal­beamten. Nach der Choleraepidemie von 1830 bekam der Innenminister geheime Kurzgutachten über Ärzte, die bei der Bekämpfung der Epidemie eingesetzt worden waren. In Bezug auf manche Mediziner im Gouvernement Jaroslavl’ hieß es, sie seien beliebt und genössen „Ansehen in der Öffent­lichkeit“.293 Beispiele von berühmten Ärzten, die Kranke aus allen Gebieten des Landes anzogen, dürfen nicht den Eindruck entstehen lassen, akademisch ausgebildete Mediziner wären die ersten Ansprechpartner im Krankheitsfall gewesen. Selbst auf Angehörige höherer gesellschaft­licher Schichten trifft dies nicht zu. In Bolotovs Erinnerungen finden viele Krankheitsfälle Erwähnung, die sich in seinem Familienkreis ereigneten. Ärzt­liche Hilfe wurde dabei nicht immer gesucht.294 Selbstmedikation war also nicht nur die Praxis jener Bevölkerungsgruppen, die aus finanziellen Gründen oder wegen der großen Entfernung keinen Zugang zur professionellen medizinischen Hilfe hatten, sondern ein allgemein verbreitetes Verhalten, das nur bedingt sozial gebunden war.295 Erst wenn Hausmittel nicht halfen, wurden Heilkundige zu Hilfe Moskau praktizierte, sollen Ratsuchende von fern gekommen sein. Siehe Koni, Haass, S. 37. Dieses Phänomen belegt für das 17. Jahrhundert Dumschat, Mediziner, S. 167. Damit dürfte die Behauptung, akademische Mediziner seien allseits unbeliebt gewesen, widerlegt sein. Vgl. Dmitrieva, Medicina, S. 24 f. Ein ähn­liches Phänomen ist aus Altona aus dem 18. Jahrhundert überliefert, wo sich ein junger Amtsarzt durch erfolgreiche Pockenimpfungen Vertrauen erwarb und schließ­lich zum Modearzt wurde. Siehe Kopitzsch, Durchsetzung, S. 231. Das Krankenverhalten in manchen anderen europäischen Staaten zeugt davon, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts „eine große Nachfrage nach einem qualifizierten Angebot von Heilkundigen [bestand]. Die Kranken scheuten keinen Zeit- oder Geldaufwand, um gegebenenfalls sehr spezialisierte medizinische Hilfe zu hohen Kosten und notfalls auch von weither zu erhalten. Lange Reise und hohe Gebühren nahmen viele, auch ärmere (dann gegebenenfalls auf Kredit) auf sich, wenn sie sich einen subjektiven Nutzen davon versprachen. Entscheidend war der eigene Leidensdruck und der Geldbeutel, also die Nachfrage, nicht das Marktangebot.“ Dinges, Medicinische Policey, S. 286 f. Siehe auch Ritzmann, Faktor, S. 175. Der Ruf der Heiler – sowohl der staat­lich zugelassenen als auch der sogenannten Scharlatane – war entscheidend für deren Auftragslage. Ein Kanzleiangestellter aus Kostroma ließ sich von der Frau eines Soldaten einen Barbier empfehlen, der ihn schließ­lich gegen eine Geschlechtskrankheit behandelte. Siehe den Auszug aus der Akte des Obersten Gerichts von Archangel’sk vom Mai 1784. GAJaO f. 72, op. 1, d. 1800, l. 2 – 5, hier l. 3. 293 Etwa der Operateur der lokalen Medizinal­behörde und der Kreisarzt von Jaroslavl’. Liste der Mediziner, die im Gouvernement Jaroslavl’ zur Behandlung der Cholerakranken eingesetzt wurden. Geheimes Schreiben des Zivilgouverneurs von Jaroslavl’, Konstantin Poltorackij, an stellvertretenden Innenminister, Arsenij Zakrevskij, vom 31. Dezember 1830. GAJaO f. 73, op. 4, d. 822, l. 4 – 5ob., hier l. 4. 294 Bolotow, Leben Bd. 2, S. 85. Bolotov selbst erkrankte für längere Zeit Ende des Jahres 1769, entschied sich aber für die Selbstmedikation, ebd., S. 113 – 116. 295 Diese Beobachtung macht auch D’jakonov, Šackie mediki, S. 24 f. Ähn­lich verhielt es sich zur selben Zeit auch in Westeuropa. Robert Jütte schreibt zum Krankenverhalten im frühneuzeit­lichen Köln: „Die Selbsthilfe im Krankheitsfall war damals nicht nur weit verbreitet, sie bildete […] die tragende Säule des medikalen Verhaltens der Stadt- und vor allem der Landbevölkerung.“ Jütte, Ärzte, S. 87. Siehe auch Spree, Anspruch, S. 144 ff. Von getrennten medikalen Kulturen der Ober- und

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gerufen, und zwar durchaus auch von Angehörigen hoher sozialer Schichten. Als zum Beispiel Bolotovs Zahnschmerzen unerträg­lich wurden und seine „sonst angewandten Mittel“ versagten, schickte er nach einer „Alten“, von der man ihm „seit langem versicherte, sie könne Zahnerkrankungen besonders gut heilen“.296 Wenn der als der „aufgeklärteste Adlige“ 297 seiner Zeit geltende Bolotov die Dienste einer nichtlizenzierten Heilerin in Anspruch zu nehmen bereit war, wird man vermuten dürfen, dass dieses Handlungsmuster bei seinen Zeitgenossen durchaus verbreitet war. Auch Fürst Ivan Dolgorukov berichtete, wie sich sein Vater 1776 von einem Knocheneinrenker, einem „einfachen mužik“, behandeln ließ.298 Bei der Landbevölkerung muss man davon ausgehen, dass sie die Dienste von nichtlizenzierten Heilkundigen häufig in Anspruch nahm, obwohl sich dafür in den Quellen nur wenige Belege finden lassen.299 Für diese Annahme spricht vor allem die äußerst geringe Ärztedichte auf dem Land. Die Mög­lichkeit, von einem staat­lich zugelassenen Mediziner behandelt zu werden, sank mit der Entfernung von einer Stadt.300 Auch die Erfahrung mit Heilkundigen aus dem eigenen sozialen Milieu, die sich im Gegensatz zu den Medizinal­beamten meist vor Ort aufhielten, dürfte sie vor allem für Bauern zur ersten Adresse im Krankheitsfall gemacht haben.301

der Unterschichten geht aus: Čistovič, Istorija, S. 540 f. Beschreibungen der Selbstmedikation bei der Landbevölkerung finden sich bei Lepechin, Dnevnye zapiski Bd. 1, S. 16 ff.; Bd. 2, S. 74 ff.; Bd. 3, S. 42, 274. 296 Eine Behandlung durch die Heilerin kam nicht zustande, weil Bolotovs Krankheit verschwand, bevor die „Alte“ bei ihm eintreffen konnte. Bolotow, Leben Bd. 2, S. 117. Dieser Einzelfall entspricht der allgemeinen Beobachtung von Michael Stolberg, dass auch Oberschichten durchaus bei nichtlizenzierten Heilern Hilfe suchten. Siehe Stolberg, Homo patiens, S. 89. Siehe auch Jütte, Ärzte, S. 99. Roy Porter erhebt dieses Verhalten zur Regel. Siehe Porter, Patient’s View, S. 194. In der rus­sischen Geschichtsschreibung wird die unbegründete Annahme tradiert, Ärzte hätten ledig­lich Reiche privat behandelt, während „das Volk“ sich an nichtlizenzierte Heilkundige gewandt habe. Siehe zum Beispiel Lozinskij, Medicina Teil 1, S. 130. 297 Brown, Landowner, S. 172. 298 Dolgorukij, Zapiski, S. 312. 299 Siehe etwa GAJaO f. 72, op. 1, d. 1800, l. 2 f.; das Schreiben des Strafgerichts der Statthalterschaft Jaroslavl’ an den Generalgouverneur von Novgorod, Tver’ und Jaroslavl’, Aleksej Mel’gunov, vom 4. November 1785. GAJaO f. 72, op. 2, d. 599, l. 1 und das Schreiben des Generalgouverneurs von Novgorod, Tver’ und Jaroslavl’, Georg von Oldenburg, an den Gouverneur von Jaroslavl’, Michail Golicyn, vom 4. Dezember 1809. GAJaO f. 73, op. 1, d. 716, l. 1. 300 So auch Čečulin, Obščestvo, S. 85. 301 Siehe Alber; Dornheim, Fackel, S. 169. Allerdings war der Unterschied in den Behandlungsmethoden der studierten Ärzte und der nichtlizenzierten Heilkundigen nicht so groß, wie die beiden Autoren annehmen. Siehe Loetz, Vom Kranken zum Patienten, S. 92, 115, 313. Auch finden sich keine Beweise für die Annahme, die medikale Kultur der unteren Gesellschaftsschichten habe sich von jener der höheren gesellschaft­lichen Kreise signifikant unterschieden. Siehe Stolberg, Homo patiens, S. 28.

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Es lässt sich im Einzelnen nicht nachvollziehen, welche Überlegungen die Kranken beziehungsweise ihre Angehörigen dazu bewogen, sich an den einen oder anderen Heilkundigen zu wenden. Eine Untersuchung zum Verhalten der Eltern in Krankheitsfällen bei ihren Kindern in der Schweiz in der zweiten Hälfte des achtzehnten und im frühen neunzehnten Jahrhundert hat das folgende Muster zu Tage gefördert: Bei Leiden, die als harmlos betrachtet wurden oder deren Verlauf unabhängig von der Letalität bekannt war, behandelte man die Kranken in der Familie. Eine andere Form der Erstbehandlung trat auf, wenn es sich um „wenig dramatische Krankheiten“ handelte oder wenn ein Unfall eine Notversorgung erforderte. In solchen Fällen wurden ört­liche Therapeuten herangezogen, die nur teilweise approbiert waren. Versagte die Behandlung durch Angehörige oder Bader, oder handelte es sich um eine schwere Erkrankung, wurde die Hilfe eines ausgebildeten Chirurgen oder Arztes gesucht. Eine Behandlung im Hospital kam nur dann in Frage, wenn es sich um schwerste Krankheiten oder Unfälle handelte oder wenn die ersten beiden Behandlungsstufen keine Verbesserung herbeigeführt hatten.302 Das rus­sische Beispiel zeigt deut­liche Parallelen zu dem von Ritzmann entworfenen Modell. Das Auftreten von Selbstmedikation, von Behandlungen durch Personen, die nicht vom Staat dazu autorisiert waren, und schließ­lich das Aufsuchen von namhaften Ärzten trotz des mitunter großen zeit­lichen und finanziellen Aufwands lassen die Annahme zu, dass das beschriebene Verhalten durchaus auch auf Russland übertragbar ist.303 Wie schwer es der Staatsgewalt fiel, die lokale Bevölkerung dazu zu bewegen, Dienstleistungen ausschließ­lich staat­lich anerkannter Mediziner in Anspruch zu nehmen, wird an der Tätigkeit der Hebammen in der Provinz besonders deut­lich, die vom Ende des Untersuchungszeitraums dieser Arbeit überliefert ist. 1830 meldete die Hebamme von Pošechon’e im Gouvernement Jaroslavl’, dass sie in den Monaten Januar bis Oktober fünf Geburten betreut hatte. Ihre Kollegin in Rybinsk war im ersten Jahresdrittel bei acht Entbindungen anwesend gewesen.304 Die beiden Hebammen bildeten keine Ausnahme. Ihre Kolleginnen in anderen Kreisen desselben Gouvernements meldeten in der Regel ebenfalls etwa eine Geburt pro Monat.305 302 Ritzmann, Faktor, S. 172 f. Robert Jütte dagegen erkennt weder ein System noch Verhaltensmuster darin, wie Kranke in der Frühen Neuzeit mit therapeutischen Alternativen umgingen. Jütte, Ärzte, S. 149. 303 Siehe etwa Lepechin, Dnevnye zapiski Bd. 1, S. 16 ff.; Bd. 2, S. 74 ff.; Bd. 3, S. 42, 274; Bolotow, Leben Bd. 2, S. 165 f., 443 ff. 304 Berichte über die Zahl der betreuten Entbindungen in Pošechon’e und Rybinsk aus dem Jahr 1830. GAJaO f. 86, op. 1, d. 419, l. 2, 3, 6, 7, 9, 11, 13, 15, 19, 34, 39, 40 und 42. 305 Siehe etwa den Bericht der Hebamme von Jaroslavl’, Efimija Odincova, an die Medizinal­behörde vom Januar 1830. GAJaO f. 86, op. 1, d. 419, l. 4. Ähn­lich auch der Bericht der Hebamme von Uglič, Avdot’ja Šeremet, an die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 19. März 1830. GAJaO f. 86, op. 1,

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Oft vergingen Monate, ohne dass ausgebildete Hebammen zu einer Gebärenden gerufen wurden – wenn man den Berichten Glauben schenken darf.306 Die überlieferten Angaben legen die Vermutung nahe, dass in der Provinz ein Netz von privaten Hebammen existierte, die keine staat­liche Zulassung hatten. Ihre Dienste schienen den Bedarf an Geburtshilfe weitgehend zu decken. Die vorhandenen Hebammen hatten sich durch ihre langjährige Tätigkeit und womög­lich sogar ihre Abstammung aus der jeweiligen Region das Vertrauen der lokalen Bevölkerung erworben.307 Zugereiste gelernte Hebammen, deren Qualifikation ledig­lich durch die staat­liche Zulassung bestätigt wurde und somit keinerlei Beziehung mit den Erfahrungen der lokalen Bevölkerung aufwies, hatten einen schweren Stand. Hebammen als staat­lich approbierte Anbieter medizinischer Dienstleistungen konkurrierten mit einem bereits bestehenden Netz lokaler Heilkundiger und konnten Letztere schon allein wegen ihrer geringen Zahl nicht ersetzen. In den Gouvernements Voronež und Tambov gab es noch im Jahr 1820 ledig­lich zwei beziehungsweise vier Hebammen.308 Die Staatsgewalt konnte unter diesen Voraussetzungen nicht das Ziel verfolgen, die ungelernten Hebammen durch staat­lich ausgebildete zu verdrängen. Vielmehr handelte es sich um eine Bemühung, die approbierten Geburtshelferinnen allmäh­lich in den lokalen Markt medizinischer Dienstleistungen zu integrieren.309

d. 419, l. 10ob. und der Bericht der Hebamme von Ljubim, Nastas’ja Petrova, an die Medizinal­ behörde von Jaroslavl’ vom 5. Mai 1830. GAJaO f. 86, op. 1, d. 419, l. 16ob. 306 Siehe etwa die Berichte der Hebamme von Ljubim, Nastas’ja Petrova, an die Medizinal­behörde vom 4. August und vom 1. September 1830. GAJaO f. 86, op. 1, d. 419, l. 30 – 31. Zur Verbreitung der Hebammen auf dem Land in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts siehe Ramer, Childbirth (1978). Man kann allerdings nicht mit Sicherheit ausschließen, dass lizenzierte Hebammen bei mehr Geburten assistierten, als sie angaben. Mög­licherweise hielten sie sich in solchen Fällen nicht an die festgelegten Tarife und bekamen für eine Entbindung mehr Geld, als sie durften. Dann hätten sie womög­lich ein Interesse gehabt, solche Einsätze gegenüber den Behörden zu verschweigen. 307 Siehe etwa das Schreiben des Generalgouverneurs von Novgorod, Tver’ und Jaroslavl’, Aleksej Mel’gunov an den Gouverneur von Vologda, Pëtr Mezencov, vom 10. November 1787. GAJaO f. 72, op. 2, d. 1383, l. 2. Einen Überblick über die Geschichte der Geburtshilfe in Russland bietet Stahnke, Hebammen-Ausbildung. Nach Samuel C. Ramer gebaren Bäuerinnen auch um die Mitte des 19. Jahrhunderts entweder allein oder mit Unterstützung von ungelernten Hebammen, sogenannten povituchi. Ramer, Childbirth (1992), S. 108. 308 RGIA f. 1299, op. 9, svjazka 18, d. 332b, l. 2 – 4; RGIA f. 1299, op. 9. d. 299, l. 8 – 9. 309 Die Hebammenordnung für Moskau und St. Petersburg aus dem Jahr 1816 offenbart die Kenntnis der Behörden von der Tätigkeit ungelernter Hebammen in den beiden Hauptstädten. Approbierte Hebammen sollten diese Geburtshelferinnen unterstützen, ihnen zu einer besseren Kenntnis ihres Metiers verhelfen und gegen ihre „Vorurteile und schäd­liche Bräuche“ kämpfen. Siehe das Hebammenstatut im kaiser­lich bestätigten Beschluss des Staatsrats vom 13. November 1816, in: PSZ I Bd. 33, Nr. 26.515, S. 1079 – 1082, Zitat S. 1087 [sic].

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Berichte der Hebammen an lokale Medizinal­behörden geben Aufschluss über den Personenkreis, aus dem sie im neunzehnten Jahrhundert ihre Aufträge bekamen. Unter den Müttern von 33 Neugeborenen, die Hebammen der Medizinal­behörde von Jaroslavl’ im Jahr 1830 meldeten, ergab sich folgende Verteilung auf soziale Gruppen: Kundinnen von Hebammen im Gouvernement Jaroslavl’ im Jahr 1830 310 Gutsbesitzerinnen

8

meščanki

8

Ehefrauen von Kaufleuten

4

Ehefrauen von Kommissionären

2

Ehefrauen von Kanzleiangestellten

2

Ehefrauen von Fähnrichen

2

Ehefrauen von Obristen

1

Ehefrauen von Pächtern

1

Ehefrauen von Ärzten

1

Hausbedienstete

1

Bäuerinnen (derevenskie ženščiny)

1

Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe unbekannt

2

Frauen insgesamt

33

Die Inanspruchnahme der Hebammendienste war nach dieser Tabelle umgekehrt proportional zur Aufteilung der Bevölkerung in soziale Schichten: Bauern, die den größten Teil der Bevölkerung ausmachten, riefen deut­lich seltener eine approbierte Hebamme zu einer Gebärenden als Vertreter länd­licher Oberschichten und der Stadtbevölkerung. Die Überlieferung lässt den Eindruck entstehen, dass nicht nur Hebammen nicht ausgelastet waren. Auch Kreisärzte hatten bisweilen keine Kranken. Der Kreisarzt von Uglič berichtete etwa der Medizinal­behörde von Jaroslavl’, dass er im August 1799 keinen einzigen Kranken behandelt habe, und dies obwohl in diesem Monat eine Kompanie in die Kreisstadt eingezogen sei.311 Solche Berichte blieben jedoch eher eine Ausnahme. Während der Stabsarzt in Uglič wenig zu tun hatte, waren seine Kollegen in anderen Kreisen überlastet.312 Warum das medizinische ­Personal

310 Siehe Berichte der Hebammen aus dem Gouvernement Jaroslavl’ an die dortige Medizinal­behörde für das Jahr 1830. GAJaO f. 86, op. 1, d. 419, l. 2 – 53ob. 311 Sitzungsprotokoll der Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 26. August 1799. GAJaO f. 86, op. 1, d. 10, l. 127ob. 312 Siehe etwa die Sitzungsprotokolle der Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 13. Januar 1799. GAJaO f. 86, op. 1, d. 10, l. 7ob.–8; vom 8. April 1799. GAJaO f. 86, op. 1, d. 10, l. 59 – 59ob. und

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eines Gouvernements so unterschied­lich ausgelastet war, darüber lässt sich nur spekulieren, denn die Quellen geben keinerlei Hinweise auf mög­liche Gründe. Die Unterschiede konnten etwa regional und saisonal bedingt sein. Auch die Person des Arztes spielte eine große Rolle bei der Entscheidung der lokalen Bevölkerung, seine Dienste anzunehmen oder nicht.313 Der Kaufmann Ivan Tolčënov zum Beispiel verließ sich bei einer schweren Krankheit lieber auf gött­liche anstatt auf medizi­nische Hilfe. Nachdem er jedoch einige Ärzte persön­lich kennengelernt hatte, begann er, sie zu konsultieren.314 Man darf also nicht voreilig auf eine Ablehnung der von Medizinal­beamten vertretenen Heilkunde schließen. Oft war es sch­lichtweg die fehlende Mög­lichkeit, staat­lich bestellte Ärzte näher kennenzulernen und ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Ein generelles Misstrauen gegenüber der Heilkunst konnte aber mit einem Vertrauen gegenüber einzelnen Medizinern einhergehen, zu denen ein persön­liches Verhältnis bestand und mit denen mög­licherweise bereits positive Erfahrungen verbunden waren. Mit dem Versuch der Staatsgewalt, durch die Schaffung eines staat­lichen Medizinal­wesens der akademischen Medizin zu einer Monopolstellung in der Behandlung von Krankheiten zu verhelfen, ging eine Diskrepanz in der Wahrnehmung medizinischer Dienste durch die Bevölkerung und durch den Gesetzgeber einher. In den Augen der Staatsgewalt war das approbierte medizinische Personal als Einziges berechtigt, Kranke zu behandeln. Für die Mehrheit der Bevölkerung existierte aber keine klare Trennung zwischen den Diensten akademisch ausgebildeter, staat­lich zugelassener Ärzte und den Angeboten nichtlizenzierter Heiler. Sie alle bildeten vielmehr einen Pool an Heilkundigen, die in den Augen ihrer Kunden unterschied­liche Fähigkeiten und damit unterschied­liche Vorteile besaßen. Je nach Art des Leidens wurde der passende Heiler ausgesucht.315 Auch darf man nicht

vom 28. August 1799. GAJaO f. 86, op. 1, d. 10, l. 128ob.–129. 313 Siehe Loetz, Vom Kranken zum Patienten, S. 245. Bočkarёv behauptet, dass vor allem die Kaufmannschaft den staat­lich zugelassenen Ärzten wenig Vertrauen entgegenbrachte. Bočkarev, Vračebnoe delo, S. 450 f. Begründet wird diese Aussage von Bočkarёv nicht und lässt sich anhand der gesichteten Quellen weder bestätigen noch widerlegen. 314 Beispiele bei Ransel, Merchant’s Tale, S. 60 ff., 126 f., 150 f., 200, 208 f. Auch nach Kovrigina, Sysoeva und Šanskij wirkte sich die Mög­lichkeit, die akademische Medizin kennenzulernen, positiv auf deren Akzeptanz aus. Siehe Kovrigina; Sysoeva; Šanskij, Medicina, S. 83. Nach dem heutigen Forschungsstand zur Medizingeschichte im west­lichen Europa stieg auch dort das Vertrauen zu akademisch ausgebildeten Ärzten mit deren Zahl und Verbreitung. Siehe etwa Lindemann, Medicine, S. 225. 315 Zu diesem Schluss kommt Francisca Loetz in ihrer Untersuchung zu Baden von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Loetz, Vom Kranken zum Patienten, S. 312 f. Das überlieferte Verhalten Kranker in Russland lässt das gleiche Muster erkennen. Siehe auch Dinges, Medicinische Policey, S. 286 f. Für das 18. Jahrhundert bestätigt diesen Sachverhalt auch Renner, Autokratie, S. 38, 91 ff.

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davon ausgehen, dass die Akzeptanz der akademischen Medizin zu einer radikalen Veränderung im Krankheitsverhalten führte. So konnten zum Beispiel religiöse Heilpraktiken parallel zu fach­licher medizinischer Behandlung ausgeübt werden.316 Dieses Verhalten deutet auf ein Selbstverständnis der Kranken hin, das sich signifikant von jener Rolle unterschied, die ihnen durch die Staatsgewalt und die akademische Medizin zugeschrieben wurde. Die Staatsgewalt bemühte sich seit der Verwaltungsreform von 1775 und verstärkt seit der Reform des Jahres 1797 darum, die medizinische Versorgung zu einem Staatsmonopol zu machen und dem medizinischen Personal, das in staat­lichen Anstalten ausgebildet und approbiert wurde, die alleinige Kompetenz in Fragen der Gesundheit und Krankheit zu übertragen. Medizinal­beamte und Krankenhäuser sollten idealerweise die ersten und einzigen Instanzen sein, an die sich Kranke zu wenden hatten. Die lokale Bevölkerung nahm die Medizinal­beamten dagegen nicht als einen Ersatz für das bereits bestehende Angebot an Heilkundigen wahr, sondern als eine Erweiterung dessen.317 Der Schluss, der bereits in Bezug auf das Verhalten zwischen Kranken und sie behandelnden Ärzten gezogen wurde, gilt auch für die Wahl des Heilers: Kranke beziehungsweise ihre Angehörigen verhielten sich außerhalb der Krankenhäuser nicht wie Patienten, die sich den akademisch ausgebildeten Ärzten bedingungslos anvertrauten und auf einen Teil der Verfügungsgewalt über den eigenen Körper verzichteten, sondern als mündige Kunden, die sich am Angebot an verschiedenen – lizenzierten wie nicht staat­lich zugelassenen – Heilkundigen entsprechend ihren Bedürfnissen bedienten. Diese Beobachtungen können jedoch nicht ohne Weiteres auf das Verhalten jener großen Gruppe von Menschen übertragen werden, die nur bedingt über den eigenen Körper verfügen konnten: Dazu zählten Leibeigene, Militärangehörige und Gefängnisinsassen. Ihre Kontakte mit Medizinal­beamten kamen durch die Vermittlung der jeweiligen Obrigkeit zustande: des Gutsherrn oder -verwalters, des Befehlshabers beziehungsweise des Gefängnisleiters. Ein Beispiel aus den 1830er Jahren – als Ärzte auch in länd­lichen Gegenden keine Seltenheit mehr waren – soll einen Eindruck davon vermitteln, wie eine Begegnung von Bauern mit einem Arzt aussehen konnte. Da die Überlieferung zu Kontakten zwischen unfreien Personen und Ärzten äußerst spär­lich ist, können die Befunde frei­lich nicht generalisiert werden. Ende des Jahres 1833 wurde der Stabsarzt von Romanov-Borisoglebsk im Gouvernement Voronež vom lokalen Landschaftsgericht in ein Dorf geschickt, in dem unter Staatsbauern eine ansteckende Krankheit ausgebrochen war. Als der Arzt

316 Siehe z. B. Ransel, Merchant’s Tale, S. 210 – 214. Für das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert konstatiert dieses Verhalten Ramer, Healers, S. 229 f. 317 Auch im Westen Europas stand den Kranken ein mehr oder weniger breites Angebot an verschiedenen Heilkundigen zur Verfügung. Siehe dazu Stolberg, Homo patiens, S. 88 – 91; Lindemann, Medicine, S. 224 f.

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am 5. Dezember 1833 im Dorf ankam, behaupteten die Bauern, es habe zwar eine Krankheit gegeben, doch sei diese bereits vorbei. Fünf Kranke waren genesen, drei an einem Erkältungsfieber gestorben. Zufällig stellte sich jedoch heraus, dass die Krankheit weiter existierte und vier Leute daran litten. Der Arzt bestellte in der Apotheke Medikamente und erklärte seinem Lehrling, wie die Kranken zu behandeln seien. Aus Zeitmangel konnte der Arzt die Therapie nicht selbst überwachen. Der Arztlehrling hatte jedoch Schwierigkeiten, die angeordnete Behandlung durchzuführen. Ein Mitglied des Landschaftsgerichts, das ihm zur Unterstützung an die Seite gestellt wurde, verließ das Dorf, und die Dorfältesten hinderten den Lehrling daran, Kranke zu behandeln. Eine Woche nach dem Besuch des Arztes im Dorf war die Zahl der Kranken beinahe um das Vierfache gestiegen. Auch in einem Nachbardorf grassierte eine Fiebererkrankung.318 Welche Strukturen lassen sich hinter dem geschilderten Fall erkennen? Erstens wurde die Entscheidung, einen Medizinal­beamten wegen der ausgebrochenen Krankheit zu Rate zu ziehen, weder von den Kranken selbst noch von ihren Angehörigen, sondern vom Gutsverwalter getroffen. Er musste sich an das Landschaftsgericht wenden, damit dieses den Kreisarzt beauftragte. Damit war die Begegnung mit dem Arzt kein privates Ereignis, an dem ledig­lich die betroffene Familie und der Arzt teilnahmen. Durch die Intervention des Gutsverwalters und die Einschaltung des Landschaftsgerichts wurde der Arztbesuch zu einem Verwaltungsakt, bei dem nicht nur ein Mediziner Kranke von ihrem Leiden befreien sollte, sondern ein Beamter Sorge für den Erhalt des Staatseigentums, der Gesundheit der Bauern, zu tragen hatte. Zweitens lässt sich das Verhalten der Dorfältesten als ein Beleg dafür deuten, dass der Arztbesuch von den Bauern in erster Linie als eine Begegnung mit Repräsentanten der Staatsgewalt – dem Kreisarzt und einem Mitglied des Landschaftsgerichts – gesehen wurde.319 Wäre es um ein bloßes Misstrauen seitens der Kranken gegenüber dem Arzt oder seinen Behandlungsmethoden gegangen, hätte es genügt, wenn die betroffenen Familien die ärzt­lichen Anweisungen stillschweigend ignoriert hätten. Die Einmischung der Dorfältesten aber schuf eine Konstellation, in der eine Bauerngemeinde einem Staatsbeamten gegenüberstand und sogar in Konfrontation mit ihm trat. Die Bauern lehnten sich in diesem Fall nicht gegen eine Behandlung, also nicht gegen eine bestimmte Art des medizinischen Wissens auf, sondern gegen die Person des Amtsarztes.

318 Bericht der Medizinverwaltung von Jaroslavl’ an den Gouverneur, Konstantin Poltorackij, vom 5. Januar 1834. GAJaO f. 73, op. 4, d. 1164, l. 1 – 1ob. 319 So auch Frieden, Physicians, S. 14; Ševčenko, Dejatel’nost’, S. 57. Insofern wies die Interpretation solcher Begegnungen in der sowjetischen Historiographie zwar in die richtige Richtung, stand jedoch unter dem ideolo­gischen Vorzeichen der Bürokratiekritik. Siehe Skorochodov, Očerk, zitiert nach Taradin, Materialy, S. 527.

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So wurde die Krankheit in diesem Fall auf dreierlei Weise aus ihrem privaten Kontext herausgelöst: Erstens verfügte der Verwalter über die Gesundheit ihm anvertrauter Bauern. Zweitens ging die Bedeutung der Krankheit durch die Ansteckungsgefahr über die Mauern der betroffenen Häuser hinaus. Drittens wurde sie zum Gegenstand einer Auseinandersetzung zwischen Bauern und der Staatsgewalt. Eine entscheidende Rolle für das Verhältnis zwischen Kranken und Ärzten spielten die Vorstellungen, die Patienten von ihrem Leiden und von einer angemessenen Behandlung hatten. Ein Erlass der Medizinal­behörde von Jaroslavl’ aus dem Jahr 1806 gibt einen seltenen Einblick in diese Vorstellungswelt. Ein Zuchthausinsasse beschwerte sich über den Kreisarzt von Rybinsk, der ihn im Krankenhaus behandelt hatte. Laut dem Bericht wurde der Sträfling aus dem Hospital entlassen, obwohl keine Besserung eingetreten sei. Später habe sich sein Zustand derartig verschlechtert, dass er völlig entkräftet im Zuchthaus angekommen sei. Der Sträfling behauptete, er habe den Arzt mehrmals gebeten, ihn zur Ader zu lassen, doch dieser habe seiner Bitte nicht entsprochen.320 Der Arzt sagte dagegen, er habe die Behandlung zu Ende geführt, und der Zustand des Sträflings habe sich wegen der schweren Bedingungen bei seiner Überführung ins Zuchthaus verschlechtert. Vom Aderlass habe er abgesehen, um den Kranken nicht zusätz­lich zu schwächen. Auch auf den Vorwurf, außer dem Sträfling vier angeb­lich noch kranke Treidler aus dem Krankenhaus entlassen zu haben, entgegnete der Arzt, diese seien gesund, wenn auch geschwächt gewesen.321 Dieser Fall offenbart, wie unterschied­lich eine ärzt­liche Behandlung von den Beteiligten wahrgenommen werden konnte. Für die genannten Kranken spielte das subjektive Wohlbefinden die ausschlaggebende Rolle. Ihre Umgebung – die Aufseher im Zuchthaus im Falle des Sträflings und die Schiffsbesitzer im Falle der Treidler – setzte die Genesung mit der Wiederherstellung des Status quo ante und der vollen Einsatzfähigkeit der ehemaligen Kranken gleich. Der Arzt dagegen unterschied zwischen dem Heilungsprozess und der vollständigen Wiederherstellung der Kräfte seiner Patienten. Ebenfalls unterschied­liche Ansichten hatten der Arzt und der kranke Sträfling über die Therapie. Der Kranke hielt den Aderlass für eine effektive Behandlungsmethode und hatte kein Verständnis dafür, dass der Arzt nicht zu diesem Mittel griff. Der Arzt dagegen dachte laut dem angeführten Bericht an die mög­liche negative

320 Erlass der Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 24. Mai 1806. GAJaO f. 86, op. 1, d. 60, l. 1 – 1ob, hier l. 1. Ein ähn­licher Fall wurde im Protokoll derselben Medizinal­behörde vom 12. März 1799 festgehalten. Siehe Sitzungsprotokolle der Medizinal­behörde von Jaroslavl’ für die Jahre 1799 – 1800. GAJaO f. 86, op. 1, d. 10, l. 42ob.–43, hier l. 42ob. 321 Bericht des Kreisarztes von Rybinsk, Grigorij Levickij, an die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 29. Mai 1806. GAJaO f. 86, op. 1, d. 60, l. 2 – 2ob.

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Wirkung dieser Maßnahme auf den geschwächten Mann, als er sich gegen den Aderlass entschied. Aus der geschilderten Begebenheit lassen sich außerdem zwei Schlüsse über die Kommunikation zwischen Ärzten und ihren Patienten ziehen. Erstens konnte die Behandlungsmethode Gegenstand einer Auseinandersetzung zwischen einem Arzt und einem Kranken werden. Zweitens – und hier liegt der Unterschied zum Verhältnis zwischen Kunden und Ärzten – spielte bei der Wahl der Therapie die Überzeugung des Patienten von deren Richtigkeit eine untergeordnete Rolle, weil der behandelnde Arzt in dieser Beziehung die absolute Autorität besaß und diese in Situationen, in denen die Machtverhältnisse es erlaubten, auch ausübte. Die Unzufriedenheit mit den angewandten Behandlungsmethoden und die Skepsis gegenüber einzelnen Ärzten oder der akademischen Medizin insgesamt waren dabei keineswegs auf die Landbevölkerung oder untere soziale Gruppen beschränkt. ­Katharina II., deren Politik auf eine stärkere Verbreitung des Medizinal­wesens in Russland abzielte, gab vor, weder Ärzte noch ihre Kunst zu schätzen.322 In einem Gespräch mit dem Arzt Melchior Weikard, der 1784 seinen Dienst in St. Petersburg antrat, machte die Kaiserin ebenfalls skeptische Bemerkungen in Bezug auf die Medizin.323 Auch andere Quellen zeugen davon, dass sie sich selbst bei wiederholtem Unwohlsein und starken Schmerzen „auf die Natur verließ“,324 obwohl ihr professionelle medizinische Hilfe stets zur Verfügung stand. In den bisher dargestellten Beispielen traten nur einheimische Ärzte auf. Wie gestaltete sich aber der Alltag ausländischer Ärzte in der Provinz des Rus­sischen Reiches? Inwieweit lassen sich Unterschiede zu Begegnungen einheimischer Mediziner mit lokalen Behörden und mit Kranken feststellen? Als eine der Maßnahmen gegen den Ärztemangel in länd­lichen Gegenden sollten frei praktizierende Ärzte bei Bedarf im Dienste der lokalen Verwaltung eingesetzt werden. Im September 1811 berichtete der Gouverneur von Mogilёv, dass ein Arzt mit der Aufsicht über jüdische Schächter beauftragt worden sei, damit diese keine kranken Tiere schlachteten. Der Arzt lehnte diese Aufgabe ab mit der Begründung, er habe viele Patienten und deswegen keine Zeit, den Auftrag der lokalen Verwaltung

322 Brief ­Katharinas II. an Friedrich Melchior von Grimm vom 19. April 1774, in: SIRIO Bd. 13, S. 407 – 410, hier S. 408. 323 Brikner, Ekaterina, S. 535, 539 f. 324 Chrapovickij, Dnevnik, S. 359. Dem Arzt Johann Georg Zimmermann gegenüber behauptete ­Katharina, nicht viel auf Medikamente zu geben. Siehe ihren Brief an Johann Georg Zimmermann vom 22. Februar 1785. In: Bodemann (Hg.), Briefwechsel, S. 4 – 5. Zum Verhältnis zwischen persön­licher Einstellung gegenüber Ärzten und K ­ atharinas II. Politik siehe Alexander, ­Catherine the Great, S. 186. Inwieweit es in höheren gesellschaft­lichen Kreisen zum guten Ton gehörte, eine skeptische Einstellung gegenüber Ärzten zu äußern, scheint eine lohnende Forschungsfrage zu sein, die anhand des gesichteten Materials jedoch nicht eingehend untersucht werden kann.

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auszuführen. Bemerkenswert an diesem – an sich nicht ungewöhn­lichen – Vorfall ist die Argumentation des Gouverneurs von Mogilёv: In Russland lebende ausländische Ärzte hätten ihr Wohlergehen einzig der Zulassung zur medizinischen Praxis zu verdanken, die ihnen die Regierung des Reiches gewähre. Also müssten sie sich aus Menschenliebe und aus Dankbarkeit gegenüber dem Land, das ihnen diese Vorteile biete, „dem allgemeinen Staatsnutzen“ in den Dienst stellen.325 Den Beamten – und Alexander I., der den Bericht bestätigte – erschien die Zulassung ausländischer Mediziner als Zeichen einer besonderen Gnade. Als Gegenleistung für diese Gnade wurde eine noch größere Dienstbeflissenheit erwartet als bei einheimischen Ärzten. In manchen historischen Studien zur Tätigkeit ausländischer Ärzte in Russland wird das Verhältnis zwischen den Medizinern und ihren Kranken negativ beurteilt.326 In der Tat stellten Kommunikationsprobleme zwischen ausländischen Ärzten und zumindest einem Teil ihrer Patienten – je nachdem, welcher Bevölkerungsgruppe die Kranken des jeweiligen Arztes angehörten – keine Seltenheit dar und wurden in der Verwaltung als solche wahrgenommen.327 Doch kann man aus diesen Schwierigkeiten auf eine grundsätz­lich ablehnende Haltung gegenüber ausländischen Ärzten schließen? Aus den drei untersuchten Gouvernements Tambov, Voronež und Jaroslavl’ ist ledig­lich ein Konflikt zwischen einem fremdstämmigen Arzt und der lokalen Obrigkeit im betreffenden Zeitraum überliefert. Das Stadthaupt von Rybinsk zitierte im Herbst 1802 den dortigen Stabsarzt zu sich und forderte ihn auf, seine Kranken „mit rus­sischen Heilmitteln anstatt mit deutschen“ zu behandeln und sich mehr für deren Genesung einzusetzen.328 Er warf dem Arzt vor, sich nicht in gebührendem Maße um seine Patienten zu kümmern. Als Grund für den schlechten Zustand der Kranken bezeichnete der Kaufmann die „deutschen“ Medikamente, denen er nicht traute. Die Herkunft und die Zusammensetzung der Heilmittel kannte das Stadthaupt vermut­ lich nicht. Er kannte aber die Herkunft des Arztes: Avgust Šreter war in Sachsen 325 Kaiser­lich bestätigter Bericht des Polizeiministers vom 9. September 1811, in: PSZ I Bd. 31, Nr. 24.761, S. 834 – 835, hier S. 835. 326 Siehe etwa Klein, Pocken-Inokulation, S. 43; Bočkarev, Vračebnoe delo, S. 445. Für ­Gasparjan zählte die ausländische Herkunft der Ärzte zu jenen Faktoren, die eine Annäherung zwischen Medizinal­beamten und der lokalen – vor allem bäuer­lichen – Bevölkerung verhindert hätten. Siehe Gasparjan, K istorii Bd. 4, S. 997 f. 327 Davon zeugt zum Beispiel der Bericht über die Inspektion des Kalinkin-Krankenhauses und der Chirur­gischen Schule von Pёtr Zavadovskij vom 7. September 1784. RGIA f. 16, op. 1, d. 518, l. 1 – 5ob., hier l. 4ob. Es gab aber durchaus auch Gegenbeispiele. Friedrich Josef Haass, der 1814 nach einem ersten kurzen Aufenthalt in Russland zum zweiten Mal in den rus­sischen Dienst eintrat, soll ein tadelloses Rus­sisch gesprochen haben. Siehe Koni, Haass, S. 36 f. 328 Bericht des Kreisarztes von Rybinsk, Avgust Šreter, an die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 20. September 1802. GAJaO f. 86, op. 1, d. 44, l. 1 – 2ob., hier l. 1.

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geboren worden und erst ein Jahr vor dem Vorfall nach Rybinsk gekommen, um den dortigen Kreisarztposten zu übernehmen.329 Inwieweit der Kaufmann eine gewisse Skepsis gegenüber Behandlungsmethoden der akademischen Medizin insgesamt hegte, lässt sich nicht rekonstruieren. Der Verweis auf „deutsche“ Medikamente ist in diesem Zusammenhang vielmehr als Detail eines verbreiteten Vorurteils gegenüber ausländischen Ärzten zu deuten, die angeb­lich das rus­sische Leben nicht kannten. Aus dieser unterstellten Unkenntnis leitete man die Unfähigkeit der ausländischen Ärzte ab, die richtige Behandlung für Russen zu finden.330 Wichtiger an dem geschilderten Beispiel erscheint aber die Vorgeschichte des Streits. Das Gespräch zwischen Šreter und dem Stadthaupt war Teil einer lang andauernden Auseinandersetzung um den Zustand des lokalen Krankenhauses. Nach Ansicht des Arztes lagen die schlechten Genesungschancen der Kranken in der unzuläng­lichen Krankenhausversorgung begründet. Außerdem würden vor allem Treidler meist in einem weit fortgeschrittenen Stadium ihrer Krankheit ins Hospital eingeliefert, so dass keine Aussichten auf Wiederherstellung ihrer Gesundheit bestünden. Obwohl der Arzt angab, sich mehrmals an die Stadtduma von Rybinsk mit der Bitte gewandt zu haben, Mängel am Krankenhaus zu beheben, habe sich in der Sache nichts getan.331 Die Stadtverwaltung zeichnete sich offenbar in erster Linie nicht durch die Ablehnung ausländischer Mediziner aus, sondern durch ein allgemeines Desinteresse an der medizinischen Versorgung. Die Herkunft des Arztes gab dem Stadthaupt ein zusätz­liches Argument, um dessen angeb­liches Versagen zu begründen. Für die Annahme, dass ausländische Ärzte öfter in Konflikte verwickelt waren, gibt die Überlieferung keine Anhaltspunkte. Spannungen zwischen Ärzten und Vertretern der lokalen Zivilverwaltung oder Befehlshabern im Militär waren insgesamt keine Seltenheit. Opfer von Schikane wurden Ärzte unabhängig von ihrer Herkunft.332

329 Siehe die Abschrift aus der Personalakte von Avgust Šreter vom 22. April 1802. GAJaO f. 86, op. 1, d. 45, l. 3 – 6. Auch von Friedrich Josef Haass sind Konflikte während seiner Tätigkeit als Physikus in Moskau überliefert, in denen ihm seine Herkunft zum Nachteil wurde. Siehe Koni, Haass, S. 37 – 42. 330 Siehe Bogdanov, Vrači, S. 29. 331 GAJaO f. 86, op. 1, d. 44, l. ob.–2. Auch der Kreisarzt von Uglič beklagte sich über die schlechte Zusammenarbeit mit der Stadtduma bei der Einrichtung eines Stadtkrankenhauses. Siehe das Schreiben des Kreisarztes von Uglič, Ivan Nozdrovskij, an die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 13. November 1802. GAJaO f. 86, op. 1, d. 28, l. 5. Laut Bogdanov trug nicht unbedingt die tatsäch­liche Vorherrschaft der Ausländer unter den Ärzten in Russland zur feind­lichen Einstellung gegenüber Medizinern bei, sondern der Topos des ausländischen Arztes, der im öffent­lichen Bewusstsein tradiert wurde. Siehe Bogdanov, Vrači, S. 27. 332 Berichte über einen ungerechtfertigt grausamen Umgang einiger Befehlshaber mit den Ärzten in ihrer Einheit bei Alelekov, Istorija, S. 563 ff. Siehe auch das Sitzungsprotokoll der Medizinal­ behörde von Jaroslavl’ vom 2. März 1799. GAJaO f. 86, op. 1, d. 10, l. 33ob.–34ob., hier l. 33ob.

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Mit ihrem Können konnten auch ausländische Ärzte Vertrauen erwerben, das in erster Linie vom Erfolg ihrer Behandlungen abhing. Manche Mediziner wurden besonders geschätzt. Ein frei praktizierender Arzt aus Jaroslavl’ namens Abram Froberg hatte sich durch seine Arbeit so viel Anerkennung beim lokalen Adel erworben, dass sich dieser für die Nobilitierung des Arztes einsetzte.333 Kehrt man zur anfäng­lichen Fragestellung nach der Akzeptanz der approbierten Ärzte zurück, muss man feststellen, dass man nur selten auf eine kategorische Ablehnung medizinischer Hilfe trifft. Dienste staat­lich zugelassener Mediziner wurden von allen Kreisen der Bevölkerung in Anspruch genommen. Die einen entschieden sich freiwillig dazu, die anderen wurden von der Obrigkeit dazu gezwungen. Zwar konnten sich einzelne Ärzte durch eine erfolgreiche Praxis Anerkennung und sogar Ruhm erwerben. Auch bestanden zwischen Ärzten und ihren Kunden bisweilen freundschaft­liche Beziehungen: etwa zwischen dem Gutsbesitzer ­Bolotov und einem in der Nachbarschaft wohnenden Arzt oder zwischen ­Katharina II. und Johann Georg Zimmermann. Dennoch war eine allgemeine Skepsis gegenüber ­Ärzten weit verbreitet, die von unterschied­lichen Bevölkerungsgruppen unterschied­lich akzentuiert wurde. Bezeichnenderweise ist eine negative Erfahrung in den Fällen überliefert, in denen Kranke von den Vertretern der Staatsgewalt zu einer medizinischen Behandlung gezwungen wurden. Diejenigen, die sich privat – und damit meist freiwillig – von Ärzten behandeln ließen, unterstellten diesen häufig Geldgier, was das Vertrauen erheb­lich schwächen konnte. Hinzu kamen womög­lich persön­ liche Überzeugungen oder Antipathien, die dazu führen konnten, ärzt­liche Hilfe mög­lichst selten in Anspruch zu nehmen. Damit bildet das rus­sische Beispiel in der europäischen Gesamtschau dieses Phänomens keine Ausnahme. Die mangelnde Akzeptanz akademisch ausgebildeter Mediziner vor allem bei der Landbevölkerung beruhte nicht auf einer angeb­lichen Unvereinbarkeit des importierten Wissens und einheimischer Körper- und Krankheitsvorstellungen.334 Der Konflikt zeigt in den Ursprungsländern des akademischen medizinischen Wissens die gleichen Konturen wie in Russland.335 Es handelt sich

333 Abschrift aus der Personalakte von Abram Froberg von 1803. GAJaO f. 73, op. 1, d. 463, S. 3 – 4. In manchen Akten wird der Name auch „Froberch“ geschrieben. Trude Maurer stellt fest, dass das Ansehen „sogar im Ausland studierter rus­sischer Ärzte“ im 18. Jahrhundert gering war und der Aufstieg in höhere gesellschaft­liche Stellungen für einheimische Ärzte schwieriger war als für Ausländer. Maurer, Hochschullehrer, S. 92. 334 Der Ursprung dieser Sichtweise ist in der sowjetpatriotischen Geschichtsschreibung zu sehen, die in slawophiler Tradition die Eigentüm­lichkeit des rus­sischen Volkes betonte, gleichzeitig aber einen fortschrittsfeind­lichen Aberglauben verurteilte. In abgeschwächter Form findet sich dieser Topos bei Kovrigina; Sysoeva; Šanskij, Medicina, S. 81 f. 335 Siehe Stolberg, Homo patiens, S. 91. Zu Frankreich siehe Goubert, Epidémies, S. 399 f., für den deutschsprachigen Raum Böning, Volksaufklärung, S. 14.

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also um Konflikte zwischen dem Vertrauten und dem Unbekannten, der lokalen Kompetenz und dem Eindringen des Staates in eine neue, ihm bisher verschlossene Sphäre, zwischen der individuellen Verfügungsgewalt über den eigenen Körper und staat­lichen Medikalisierungsbestrebungen.

Rollen der Nichtmediziner Ausgebildete Mediziner waren bei weitem nicht die Einzigen, die sich im Zarenreich um die Gesundheit der Bevölkerung kümmerten. Dabei lassen sich zwei Grenzen ziehen, um die verschiedenen Gruppen der Menschen auszumachen, die sich an der medizinischen Versorgung der Provinz beteiligten. Die eine Grenze verlief zwischen jenen Personen, die eine staat­liche Lizenz für ihre Aktivitäten im Medizinal­wesen besaßen, und nicht zugelassenen Heilern, die sich der staat­lichen Kontrolle entzogen. Die andere Grenze verlief innerhalb der Gruppe von Personen, die einen staat­lichen Auftrag hatten. Sie trennte Ärzte, Lehrlinge, Apotheker und Hebammen von Nichtmedizinern. Den Letzteren begegnet man im medizinischen Alltag Russlands vergleichsweise häufig. Als Krankenpfleger in Hospitälern wurden zum Beispiel oft pensionierte Offiziere und Soldaten eingestellt.336 Eine besondere Rolle innerhalb der Gruppe der Nichtmediziner spielte jedoch der Klerus. Schüler an Priesterseminaren und -akademien sollten während ihrer Ausbildungszeit für einen Dienst in länd­lichen Gegenden vorbereitet werden, indem man sie auch an die praktischen Seiten dieser Tätigkeit heranführte. Der Synodalerlass vom Oktober 1798 schrieb vor, dass Priesterseminaristen Kenntnisse in der Behandlung von Krankheiten erwerben sollten. Um sich auf dem Gebiet der Heilkunde zu bilden, sollten Seminarzöglinge und Schüler geist­licher Akademien abwechselnd in kleinen Gruppen einem Arztlehrling an die Seite gestellt werden. So würden sie die Krankenbehandlung beobachten und sich die Anwendung verschiedener Arzneimittel merken. Vor allem sollten Schüler auf solche Heilmittel achten, die für das einfache Volk auf dem Land zugäng­lich seien, weil sie aus den dort vorkommenden Pflanzen et cetera hergestellt werden könnten.337

336 Siehe den allerhöchsten Beschluss vom 11. Juni 1763, in: PSZ I Bd. 16, Nr. 11.680, S. 294 – 297, hier S. 294; Veselovskij, Očerk, S. 142. 337 Synodalerlass vom 31. Oktober 1798, in: PSZ I Bd. 25, Nr. 18.726, S. 426 – 431, hier S. 430. Ähn­ liche Verhältnisse finden sich im 18. Jahrhundert auch in den deutschen Ländern. Siehe Alber; Dornheim, Fackel, S. 164. Der Theologe Franz Giftschütz sprach 1785 „von der Wichtigkeit allgemeiner medizinischer Kenntnisse der Priester und [empfahl] den Pfarrern in diesem Zusammenhang auch einschlägige Werke für ihre Fortbildung zu Fragen der Medizin“. Weissensteiner, Pfarrer, S. 41. Diese Überzeugung wurde auch von manchen Vertretern der gebildeten Kreise im Westen

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Diese Vorschrift für Priesterseminare und geist­liche Akademien zeigt, dass sich die aktive Rolle des niederen Klerus in der medizinischen Versorgung der Bevölkerung im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert nicht auf Ad-hoc-Maßnahmen beschränkte, sondern gezielt vorbereitet wurde. Bemerkenswert ist die Heranführung der angehenden Dorfgeist­lichen an die staat­lich organisierte medizinische Alltagspraxis. Als Vertrauensperson oder zumindest als eine Autorität, der die Landbevölkerung – so die Hoffnung der Staatsgewalt – mehr Vertrauen entgegenbrachte als Medizinal­beamten, konnte ein Geist­licher auf dem Land einige Behandlungsmethoden der akademischen Medizin anwenden, ohne gegen die Skepsis gegenüber Vertretern der Staatsgewalt ankämpfen zu müssen. Die Position eines Geist­lichen eignete sich mög­licherweise besser als die Position eines Medizinal­beamten, um für die Akzeptanz der staat­lich geförderten Medizin im Volk zu sorgen. Man setzte aber auch deshalb auf Geist­liche, weil sie in der Provinz zahlreicher vertreten waren als Ärzte. Alexander I. erweiterte die Beteiligung des Klerus an der medizinischen Versorgung der Provinz. Entsprechend dem 1801 beschlossenen Personalbestand für die Gouvernements sollten Medizinlehrer an den Priesterseminaren – ehemalige Seminaristen, die an der Medizinisch-Chirur­gischen Akademie studiert hatten und an ihr Priesterseminar zurückkehrten – von dem jeweiligen Seminar ein Jahresgehalt in Höhe von dreihundert Rubel, eine Wohnung und eine Grundausstattung mit medizinischen Instrumenten bekommen.338 Gleichzeitig unterrichteten Provinzärzte an Priesterseminaren Grundlagen der medizinischen Wissenschaft. Die Medizinal­ behörde von Jaroslavl’ hatte ihren Inspektor mit dieser Aufgabe betraut. Seine Entsendung ging auf eine Anfrage aus der lokalen Eparchialverwaltung zurück.339 Daraus lässt sich schließen, dass die Anordnung, an Priesterseminaren Medizin zu unterrichten, den Vorstellungen der Geist­lichkeit nicht grundsätz­lich widersprach. In Tambov unterrichteten der Inspektor und der Operateur der Medizinal­behörde am dortigen Priesterseminar Grundlagen der Medizin.340 Seit 1825 sollten Geist­ liche und Priesterschüler zudem das Impfhandwerk erlernen.341 Ein Erlass aus dem Jahr 1802 sollte den Klerus fester in die medizinische Versorgung des flachen Landes einbinden. Argumentiert wurde mit der Notwendigkeit, Europas bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert übernommen. Sie findet sich beispielsweise in dem in Kapitel 2.2 angesprochenen Dorfspiegel: Derevenskoe zerkalo. 338 Synodalerlass vom 27. Februar 1808, in: PSZ I Bd. 30, Nr. 22.839, S. 90 – 92, hier S. 91 f. 339 Sitzungsprotokoll der Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 8. Januar 1803. GAJaO f. 86, op. 2, d. 1, l. 3. 340 Schreiben der Medizinal­behörde von Tambov an die Leitung des Priesterseminars vom 28. April 1803. GATO f. 186, op. 9, d. 2g, l. 2 – 2ob. 341 Schreiben der Eparchialverwaltung von Tambov an die Leitung des Priesterseminars vom 1. Mai 1831. GATO f. 183, op. 37, d. 39, l. 1 – 1ob. Siehe dazu Kapitel 5.4.

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den letalen Ausgang einfacher Krankheiten zu vermeiden: „Es ist bekannt, dass in Siedlungen, in denen es keine Ärzte gibt, wegen Unwissenheit, hartnäckiger Gewohnheit und Behandlungsmethoden, die der Natur und dem gesunden Verstand widersprechen, häufig die leichtesten Anfälle todbringend werden.“ 342 Die Wurzeln des Übels sah man in der so häufig beklagten Unwissenheit der Bauern. Der Weg zur Verbesserung der Situation lag demnach in der Aufklärung: Der Landbevölkerung sollte eine einfache Hilfe bei Krankheiten „eröffnet“ werden, und zwar von der Geist­lichkeit. Zusätz­lich zu den fünfzig Studenten der geist­lichen Bildungseinrichtungen, die auf medizinische Hochschulen geschickt wurden, sollte der Synod weiteres Personal für die Verbesserung der medizinischen Versorgung zur Verfügung stellen. Die Vermittlung medizinischer Kenntnisse stand in geist­lichen Bildungseinrichtungen weiterhin auf dem Plan. Auch versprach das Medizinal­ kollegium, einen kurzen Leitfaden über „gewöhn­liche Krankheiten des einfachen Volkes“ und ihre Behandlung zu verfassen, der vom Synod an Priesterseminare und Pfarrkirchen verteilt werden würde.343 Bemerkenswert ist dabei die bereits erwähnte Vorstellung, dass „einfache“ Leute an anderen Krankheiten litten als Vertreter höherer sozialer Schichten. Aus Mangel an medizinischem Personal übertrug die Staatsgewalt auch Nichtmedizinern die Verantwortung für die Gesundheit der Bevölkerung. Vor allem der niedere Klerus sollte zahlreiche Aufgaben in der medizinischen Versorgung übernehmen und dadurch als Vermittler des akademischen medizinischen Wissens fungieren. Zu den Aufgaben der Geist­lichkeit im Bereich des Medizinal­wesens zählte auch die Umsetzung von Hygienemaßnahmen. Zusammen mit der Landpolizei wurden Geist­liche für die ordnungsgemäße Bestattung Verstorbener verantwort­ lich gemacht.344 Von anderen gebildeten Bevölkerungsgruppen erhoffte man sich ein Interesse an der medizinischen Aufklärung, das sie zu deren Multiplikatoren machen würde. Bei der Verteilung medizinischer Aufgaben an Nichtmediziner musste die Staatsgewalt allerdings darauf achten, dass das Monopol der akademischen Medizin in diesem Bereich nicht angetastet wurde. Im Rahmen der Gesetzbuchkommission wurde eine Bestimmung aus dem Jahr 1721 bekräftigt, nach der kein Mediziner – mit oder ohne Promotion – praktizieren durfte, ohne vorher vom Medizinal­kollegium geprüft worden zu sein. Dies umso mehr, da „in fast allen Städten und auf vielen Landgütern vom Medizinal­kollegium nicht geprüfte und unkundige Menschen sich ungestraft erdreisteten, Kranke zu behandeln, was der Gesundheit der Menschen

342 Kaiser­licher Erlass an den Synod vom 17. Juli 1802, in: PSZ I Bd. 27, Nr. 20.334, S. 194. 343 Ebd. 344 Synodalerlass vom 20. Juli 1808, in: PSZ I Bd. 30, Nr. 23.172, S. 450 – 451.

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schadete“.345 Was unternahm die Staatsgewalt, um das Monopol einer von ihr kontrollierten Medizin durchzusetzen? Die staat­liche Kontrolle der medizinischen Praxis bedeutete nicht, dass nur studierte Mediziner Kranke behandeln durften. Vor allem im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert, als die Zahl der ausgebildeten Mediziner in Russland äußerst gering war, hatten Heilpraktiker ohne staat­liche Ausbildung die Mög­lichkeit, nach einer Prüfung durch das Medizinal­kollegium eine Praxiszulassung zu bekommen.346 Doch Jahrzehnte später gab es noch immer staat­lich nicht anerkannte Heiler, über deren Zahl und Tätigkeit sich nur wenige Aussagen machen lassen.347 Im Folgenden sollen Beispiele aus dem medizinischen Alltag der Provinz verdeut­lichen, mit welchen Erscheinungsformen dieses illegalen Heilungsmarktes die Staatsgewalt in Berührung kam. Im Jahre 1784 erhielt die Polizeiverwaltung von Kostroma eine Nachricht vom dortigen Stadtarzt, er habe einen Gerichtskanzlisten tot vorgefunden. Dieser hatte an einer Geschlechtskrankheit gelitten und war von einem Barbier behandelt worden. Der Barbier war der Frau des Kranken von einem Soldaten empfohlen worden.348 Dieser unglück­lich verlaufene Behandlungsversuch war kein Einzelfall. In ­Jaroslavl’ hatte ein Verwalter einen Bauern zur Ader gelassen, der kurz darauf verstarb.349 Ende des Jahres 1809 meldete die Strafgerichtskammer von Tver’ den Tod einer Bäuerin infolge einer Behandlung durch einen Kirchendiener.350 Im Falle des verstorbenen Gerichtskanzlisten sollte der Barbier öffent­lich ausgepeitscht werden und musste der Familie des Verstorbenen das Geld, das er für die erfolglose Behandlung bekommen hatte, zurückzahlen. Ferner musste er sich schrift­lich verpf­lichten, niemanden mehr zu behandeln. Außer dem Barbier wurden all diejenigen, die ihn empfohlen hatten, zu einer an das Amt für gesellschaft­liche Fürsorge zu entrichtenden Geldstrafe verurteilt.351 Eine wichtige Maßnahme gegen die sogenannte Scharlatanerie bildete die Informationspolitik. Zum einen wurden tra­gische Vorfälle zum Anlass genommen, die zuständigen Ämter zu mehr Achtsamkeit aufzurufen. Zum anderen sollte eine

345 Instruktion für Baron Georgij Aš, in: SIRIO Bd. 43, S. 215 – 217, hier S. 216 f. 346 Siehe den Senatserlass vom 18. April 1790, in: PSZ I Bd. 23, Nr. 16.857, S. 126 – 128, hier S. 127. 347 Zur Iatromagie im Gouvernement Voronež siehe Dynin, Paporotnik. 348 Auszug aus der Akte des Obersten Gerichts von Archangel’sk vom Mai 1784. GAJaO f. 72, op. 1, d. 1800, l. 2 – 5, hier l. 2 f. 349 GAJaO f. 72, op. 2, d. 599, l. 1. 350 Schreiben des Generalgouverneurs von Novgorod, Tver’ und Jaroslavl’, Georg von Oldenburg, an den Gouverneur von Jaroslavl’, Michail Golicyn, vom 4. Dezember 1809. GAJaO f. 73, op. 1, d. 716, l. 1. 351 GAJaO f. 72, op. 1, d. 1800, l. 4ob.–5.

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überregionale Kommunikation dafür sorgen, dass ein Bewusstsein für Gefahren entstand, die von ungeprüften Heilern ausgingen. Die zentrale Medizinal­verwaltung war außerdem stets bemüht, Informationen über die Tätigkeit nichtlizenzierter Heilkundiger zu bekommen. Der Innenminister schrieb im Jahr 1808 an die lokalen Medizinal­behörden des Reiches, dass eine beträcht­liche Zahl von Menschen ohne jeg­liche medizinische Ausbildung und ohne Praxiszulassung die Behandlung von Kranken übernähmen und problemlos Medikamente in Apotheken ausgehändigt bekämen. Jede Medizinal­behörde hatte eine Namensliste aller Medizinal­beamten zu erstellen und jähr­lich in einer aktualisierten Auflage zu veröffent­lichen. Diese Liste sollte in allen Apotheken vorhanden sein. Gegen Apotheken, die Medikamente an Personen ausgäben, deren Namen nicht in der Liste enthalten waren, würden Sanktionen verhängt. Namen neuer Medizinal­beamter waren in lokalen Zeitungen bekanntzumachen.352 Mit dieser Maßnahme versuchte die Staatsgewalt, nichtapprobierte Heilkundige von der Versorgung mit Medikamenten auszuschließen. Bei eventuellen Normver­stößen drohte sie mit Strafen. Doch wenn die Staatsmacht ihr Augenmerk auf diejenigen richtete, die unerlaubterweise ihre Heilkunst als Dienstleistung anboten, existierte darüber hinaus eine noch schwerer zu erfassende Gruppe von Menschen, die – ohne regelmäßig als Heiler zu praktizieren – sich selbst und andere gegen verschiedene Krankheiten behandelte. Der vielzitierte Gutsbesitzer Bolotov etwa berichtet in seinen Erinnerungen von einem eigenen Heilversuch. Aus Forscherinteresse probierte er an einem Kranken ein Mittel aus, von dem ein Naturlexikon schrieb, dass es das Steinleiden bekämpfe.353 Auch die Mutter von Anna Labzina, eine verwitwete Gutsbesitzerin, soll ihre kranken Leibeigenen in den 1760er Jahren selbst behandelt und zusammen mit ihrer siebenjährigen Tochter gepflegt haben, „ohne medizinische Hilfe zu holen“. Mit der Zeit habe sie ihren Dienst auch auf Kranke aus der Nachbarschaft ausgeweitet.354 Wie oben bereits erwähnt wurde, ersetzten solche Behandlungen 352 Schreiben des Innenministers, Aleksej Kurakin, an die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 9. Juli 1808. GAJaO f. 86, op. 1, d. 145, l. 45 – 45ob., hier l. 45. Die Staatsgewalt hatte bereits 1807 einen Versuch unternommen, einen systematischen Überblick über das medizinische Personal zu bekommen. Siehe den kaiser­lich bestätigten Bericht des Innenministers, Viktor Kočubej, vom 20. Juni 1807, in: PSZ I Bd. 29, Nr. 22.539, S. 1198 – 1201, hier S. 1200. 353 Bolotow, Leben Bd. 2, S. 165 f. Über Behandlungen mit einem von Bolotov selbst konstruierten elektrischen Gerät siehe ebd. S. 443 ff. Bolotovs Memoiren belegen, dass die Beschäftigung mit der medizinischen Wissenschaft zum Horizont eines Angehörigen der sich als aufgeklärt verstehenden Elite gehörte. 354 Labzina, Vospominanija, S. 5. Allerdings gibt die Quelle keine Auskunft darüber, ob die Mög­ lichkeit bestand, professionelle medizinische Hilfe oder den Rat von sonstigen Heilkundigen zu holen. Auch Michail Lomonosov, der zwar Medizin studiert, aber nicht als Arzt praktiziert hat, soll nach Angaben von Sergej Grombach gelegent­lich Kranke behandelt haben. Siehe Grombach,

Mediziner und Nichtmediziner

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nicht zwangsläufig die professionelle medizinische Hilfe. Sowohl von Bolotov als auch von Labzina ist überliefert, dass sie sich in manchen Fällen auch an Ärzte wandten.355 Doch indem sie auf ihren Gütern oder in ihrem Bekanntenkreis selbst Behandlungen vornahmen, entzogen sie sich und die Empfänger ihrer Dienste den staat­lichen Medikalisierungsbemühungen. Bis zu einem gewissen Grad förderte die Staatsgewalt aber auch solches Verhalten durch die vielfachen an Nichtmediziner gerichteten Aufforderungen, sich medizinisches Wissen anzueigenen und Hilfe zu leisten, wenn kein Arzt zugegen war. Die Staatsgewalt rückte von ihrem Ziel, ein staat­liches Monopol in der Krankenbehandlung zu etablieren, keineswegs ab. Doch in der Praxis tolerierte sie gezwungenermaßen die Existenz eines breiten Marktes nichtlizenzierter Heilkundiger.356 Allerdings markieren Verbot und notgedrungene Toleranz ledig­lich die beiden Pole, zwischen denen vielfältige Modi im Umgang der Staatsgewalt mit nichtapprobierten Heilern lagen. Die Stadtduma von Jaroslavl’ berichtete dem Gouverneur Ende des Jahres 1802 von einem Beisassen namens Sinicyn, der „Einwohner dieser Stadt, vor allem arme Handwerker“ behandelte, „die Verletzungen an Händen und Füßen, ausgekugelte Gelenke […] und manchmal sogar zersplitterte Hand- und Fußknochen haben“.357 Obwohl diese Tätigkeit illegal war, wollte Sinicyn sie weiterhin ausüben. Die Duma bat darum, ihm die Erlaubnis zu erteilen, als Knocheneinrenker zu praktizieren und auch Mittellose in den Einrichtungen des Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge zu behandeln. Zugleich war sie bereit, dem Amt jähr­lich sechzig Rubel aus den Stadteinkünften als Unterhalt für Sinicyn zu zahlen. Sie berief sich dabei auf die Stadtordnung und argumentierte, in diesem Fall setze sie sich für das Allgemeinwohl und für das Wohl jedes einzelnen Stadtbewohners ein. Der Gouverneur

Voprosy mediciny, S. 8. Ähn­lich verhielt es sich mit einem Kaufmann aus Kasimov im Gouvernement Rjazan’, der ebenfalls Medizin studiert, aber keine Praxiserlaubnis bekommen hat. Dennoch soll er in den 1820er Jahren mit medizinischer Tätigkeit seinen Lebensunterhalt verdient haben. Danach wurde er gezwungen, diese Praxis aufzugeben. Siehe Martin (Hg.), Russia, S. 178. Weitere Beispiele führt an: Brown, Landowner, S. 119. 355 Als die Mutter von Anna Labzina Anfang der 1770er Jahre schwer erkrankte, wurde ein Arzt zu ihr gerufen. Auch zu ihrer Tochter und zu den Hausangestellten wurden später Ärzte gerufen. Labzina, Vospominanija, S. 28, 38 f., 85, 103. 356 Zu einem ähn­lichen Ergebnis für Baden, das auf Preußen, Lippe, das Rheinland, die Saar, Württemberg, Bayern, Österreich, Frankreich, Großbritannien und die USA übertragbar sein soll, kommt Loetz, Vom Kranken zum Patienten, S. 287 f. Auch Robert Jütte betont in seiner Lokalstudie zu Köln, dass die Obrigkeit ein Interesse daran hatte, der Bevölkerung im Krankheitsfall wenigstens irgendeine Form der medizinischen Versorgung zukommen lassen zu können, und deswegen Laienheilkundige nicht besonders streng verfolgte. Siehe Jütte, Ärzte, S. 26. 357 Bericht der Stadtduma von Jaroslavl’ an den Gouverneur, Michail Golicyn, vom 9. Dezember 1802. GAJaO f. 73, op. 1, d. 392, l. 1 – 1ob., hier l. 1.

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befand den Vorschlag der Duma für sinnvoll und bat die lokale Medizinal­behörde, Sinicyn in der Kunst des Knocheneinrenkens zu prüfen.358 Diese Begebenheit erlaubt einen seltenen Einblick in die alltäg­liche Praxis der medizinischen Versorgung in der Provinz des Rus­sischen Reiches. Sie belegt die relative Durchlässigkeit des Systems der medizinischen Versorgung. Durch seine erfolgreiche, wenn auch gesetzeswidrige Praxis konnte Sinicyn die lokale Verwaltung vom Nutzen seiner Dienste überzeugen. Da allen Stellen der Verwaltung bekannt war, wie gering die Kapazitäten der Medizinal­beamten waren, wussten sowohl die Duma als auch die lokale Medizinal­behörde und der Gouverneur die Arbeit Sinicyns zu schätzen. Die Duma setzte sich nicht nur für die Legalisierung seiner Praxis ein, sondern war sogar bereit, für ihre Aufrechterhaltung finanziell aufzukommen. Der Fall von Sinicyn – genauso wie die Prüfung und Zulassung nichtstudierter Heiler durch das Medizinal­kollegium in den 1780er Jahren und die Zulassung nichtlizenzierter Hebammen im Gouvernement Voronež zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts 359 – war allerdings nur deshalb mög­lich, weil sich die Behandlungsmethoden der akademischen Medizin und der Laienheilkunde ähnelten.360 Die medizinischen Konzepte, die an den staat­lichen Ausbildungsanstalten gelehrt wurden, mochten sich zwar von jenen der sogenannten Scharlatane unterscheiden. Die grundlegenden Vorstellungen und vor allem die technischen Mög­lichkeiten lagen bis zur Entdeckung der Antisepsis und später der Asepsis sowie der Geburt der Bakteriologie jedoch dicht beieinander.361 Obwohl in der Forschung bisweilen ein konfliktreiches Gegeneinander der einheimischen medikalen Kultur im Rus­sischen Reich und der „europäischen Medizin“ postuliert wird, werden Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit sowie die jeweiligen Behandlungsmethoden unzureichend konkretisiert.362 Gerade die Beobachtung, dass auch akademisch ausgebildete Mediziner bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein Behandlungsmethoden anwandten, die in wissenschaft­lich bereits

358 Ebd., hier l. 1ob.; Schreiben des Gouverneurs von Jaroslavl’, Michail Golicyn, an die Medizinal­ behörde des Gouvernements vom 17. Dezember 1802. GAJaO f. 73, op. 1, d. 392, l. 2 – 2ob. 359 Siehe dazu Mezencev, Istorija, S. 15, 297. Um eine Zulassung zu bekommen, mussten Hebammen Vorlesungen des Accoucheurs der lokalen Medizinal­behörde besuchen. 360 Renner, Aufklärung, S. 55 f.; Loetz, Vom Kranken zum Patienten, S. 92. In der sowjetischen Forschung wurde aus diesem Umstand eine besondere Volksverbundenheit der rus­sischen Ärzte abgeleitet. Siehe etwa Lušnikov, Klinika, S. 169 f. 361 Loetz, Vom Kranken zum Patienten, S. 115, 313. In der Geschichtsschreibung zu dieser Zeit sind Fälle bekannt, in denen staat­lich zugelassene Mediziner mit lokalen Heilkundigen kooperierten. Siehe Loetz, Einschreiten, S. 254 mit weiterführenden Verweisen. Zu diesem Sachverhalt im Zarenreich des 18. Jahrhunderts siehe Renner, Autokratie, S. 91 f. 362 Zuletzt Renner, Concept, S. 367.

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überkommenen humoralpatholo­gischen Konzepten wurzelten,363 zeugt von einem deut­lich geringeren Unterschied zwischen der medikalen Kultur einzelner Bevölkerungsgruppen und der von Akademikern praktizierten Medizin. Der Fokus auf Konflikte „zwischen akademischer und traditioneller Medizin“ 364 kann den Blick dafür verstellen, wie sich eine staat­lich initiierte medizinische Versorgung weiterer Bevölkerungskreise vor Ort in der Provinz etablierte.365 Der Umgang der Staatsgewalt mit nichtlizenzierten Heilern trug einen ambivalenten Charakter. Auf der einen Seite bildete die Einschränkung ihrer Tätigkeit durch Verbote und Strafmaßnahmen einen Teil jener staat­lichen Medikalisierung, als deren Instrument die vom Staat ausgebildeten und geprüften Mediziner fungieren sollten. Auf der anderen Seite entschied sich die zentrale Medizinal­verwaltung, einige der sogenannten Pfuscher in die staat­lich organisierte medizinische Versorgung zu integrieren. Solche Entscheidungen beruhten auf der Erfahrung, dass die vorhandenen personellen Kapazitäten nicht den Bedürfnissen des Militärs oder der Zivilbevölkerung gerecht wurden. Ausschlaggebend blieb allerdings der Erfolg der Behandlungen. Vor einem Schaden durch sogenannte Scharlatane sollte die lokale Bevölkerung in jedem Fall bewahrt werden.

3.4   Zu s a m me n f a s s u ng Die ersten Generationen des medizinischen Personals im Rus­sischen Reich bestanden vorwiegend aus Ärzten, die auf eine persön­liche Einladung des Monarchen oder seiner Vertrauten hin nach Russland kamen und – wie alle Fachleute, die auf diese Art und Weise engagiert wurden – neben einem ansehn­lichen Gehalt zahlreiche Privilegien genossen. Seit dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert kam eine immer größer werdende Gruppe einheimischer Mediziner hinzu, die zunehmend die medizinische Versorgung der Provinz übernahmen. Es waren vor allem Männer aus weniger privilegierten sozialen Gruppen, die sich von der Laufbahn eines Medizinal­beamten einen sozialen Aufstieg erhofften. Viele von ihnen entstammten der Geist­lichkeit und traten mit etwa dreißig Jahren den Dienst als Provinzarzt an. Neben der Disziplinierung der Medizinal­beamten bildete die Verwaltung des Ärzte­mangels die zentrale Aufgabe der staat­lichen Medizinal­politik über den

363 Ebd., S. 364. 364 Ebd., S. 368. 365 Vielversprechender scheint dagegen der Ansatz von Francisca Loetz. Sie fragt nicht danach, warum die Bevölkerung in ihren tradierten Handlungsmustern verhaftet blieb, sondern warum sie – wie langsam und selektiv auch immer – von bestimmten neuen medizinischen Angeboten allmäh­lich Gebrauch machte. Loetz, Vom Kranken zum Patienten, S. 325.

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gesamten Untersuchungszeitraum hinweg. Mit dem Entschluss zur Medikalisierung war eine Dynamik in Gang gesetzt worden, die den Bedarf an Ärzten ständig steigen ließ, so dass die Anfrage trotz wachsender Ärztezahlen in allen Ressorts das Angebot stets überstieg. Dass es der Staatsgewalt gelungen war, in den knapp siebzig Jahren nach der Gouvernementsreform von 1775 ein Netz von Medizinal­beamten über das Riesenreich zu spannen, ist unbestreitbar. Trotz des akuten Ärztemangels, der den Alltag im Medizinal­wesen sowohl im ausgehenden achtzehnten als auch im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts beherrschte, darf nicht übersehen werden, wie stark die Zahl der Ärzte zugenommen hatte. Alexander Brückner hat für das achtzehnte Jahrhundert ausgerechnet, dass sich die Bevölkerung des Rus­sischen Reiches verdreifacht hatte, während die Zahl der Ärzte im selben Zeitraum „in einem unverhältnismässig stärkeren Grade“ gestiegen war.366 Im Jahr 1840 sollen im Rus­sischen Reich bereits 6879 Ärzte praktiziert haben.367 Obwohl zahlenmäßige Angaben für das achtzehnte Jahrhundert nur schwer, wenn überhaupt verifiziert werden können, lässt sich ein Anstieg des medizinischen Personals während des untersuchten Zeitraums nicht leugnen. Diesen Befund für das gesamte Rus­sische Reich bestätigen die Ergebnisse der drei Lokalstudien. Sowohl in Jaroslavl’ als auch in Tambov und Voronež praktizierten im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts deut­lich mehr Mediziner als in den 1760er Jahren. Trotz dieses Anstiegs blieb die Ärztedichte im frühen neunzehnten Jahrhundert recht gering. Doch es lag in der Macht lokaler Gesellschaften und einzelner Personen, die medizinische Versorgung vor Ort bis zu einem gewissen Grad zu verbessern. Eine Mög­lichkeit bestand darin, zusätz­lich zu dem staat­lich angestellten medizinischen Personal auf eigene Kosten weitere Ärzte zu beschäftigen.368 Wem daran gelegen war, permanent Zugang zu medizinischer Hilfe zu haben und diese seinen Angehörigen und Untergebenen zugäng­lich zu machen, der musste selbst entsprechende Vorkehrungen treffen. Wer es sich leisten konnte, stellte privat einen Arzt ein. Das galt vor allem für wohlhabende Gutsbesitzer wie etwa den Fürsten ­Aleksej Golicyn, der 1835 auf seinem Gut im Gouvernement Nižnij Novgorod einen Privatarzt

366 Brückner, Ärzte, S. 14 f. Eine Steigung der Ärztezahl um das „Zwanzig- bis Dreissigfache“ lässt sich allerdings nicht nachvollziehen. Sie lässt sich auch nicht der Tabelle auf S. 13 entnehmen, in der Brückner die Zahl der in Russland praktizierenden Ärzte für den Zeitraum von 1600 bis 1800 anführt. 367 Graham, Science, S. 245. 368 Eine solche Initiative starteten etwa die Adelsmarschälle im Gouvernement Voronež im Jahre 1815. Sie riefen den lokalen Adel auf, zusätz­liches medizinisches Personal zu finanzieren. Allerdings erklärte sich nur der Adel des Kreises Starobel’sk dazu bereit. Dieser Fall wird geschildert bei Taradin, Materialy, S. 537.

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einstellte.369 Dieser Umstand soll jedoch nicht dazu verleiten, die Entwicklung des Medizinal­wesens in der Provinz als einen Misserfolg zu deuten. Schließ­lich waren Gutsbesitzer verpf­lichtet, für das Wohl und damit auch die Gesundheit ihrer Leibeigenen zu sorgen. Weder sie noch ihre Bauern waren die primäre Zielgruppe der staat­lichen Medizinal­politik. Diese war aus der Armenfürsorge erwachsen und richtete ihr Angebot in erster Linie an diejenigen, die sich selbst keinen Zugang zur medizinischen Hilfe verschaffen konnten. Der Blick auf die Medizinal­beamten verändert das in der Literatur nach wie vor existente Bild von Beamten im Zarenreich, die als inkompetent erschienen und in ihrer Rolle als „Mittler zwischen den Interessen des Staates und der Gesellschaft“ versagten.370 Im Gegensatz zu Kanzleibeamten der allgemeinen Zivilverwaltung hatten diejenigen Medizinal­beamten, die ausfindig gemacht werden konnten, ausnahmslos eine Fachausbildung genossen, die eine Einstellungsvoraussetzung für den Dienst auf allen Ebenen dieses Bereichs war. Die Mittlerfunktion des Beamten ergab sich aus der Beschaffenheit des ärzt­lichen Berufs auf der lokalen Ebene gleichsam automatisch. Die Krankenpflege und die medizinische Verwaltung waren in der Provinz derart eng miteinander verbunden, dass ihre Trennung schier unmög­ lich war. Die nur rudimentär vorhandene Arbeitsteilung unter dem medizinischen Personal der Gouvernements erscheint zwar bisweilen als ein wesent­liches Hindernis für eine höhere Effizienz der Verwaltung auf der einen und eine intensivere Krankenbetreuung auf der anderen Seite. Doch gerade die Verbindung der beiden Tätigkeiten machte den Provinzarzt zum Informationsträger und Bindeglied zwischen der lokalen und der zentralen Ebene. In Russland bestand eine Konkurrenz um das medizinische Personal: zum einen zwischen dem Zentrum des Reiches beziehungsweise den regionalen Zentren und der Peripherie, zum anderen zwischen dem Militär- und dem Zivilressort. Zu den Konstanten der medizinischen Versorgung gehörte auch ein starkes Gefälle in der Ärztedichte zwischen Zentralrussland und seiner nörd­lichen, öst­lichen und süd­ lichen Peripherie. Den Bedürfnissen des Militärs räumte die Staatsgewalt eine hohe Priorität ein, die jedoch keine Vernachlässigung der medizinischen Versorgung der

369 Siehe die Abschrift der Personalakte des Kreisstabsarztes von Zadonsk, Aleksandr Bardovskij, vom 12. Mai 1840. GAVO f. i–2, op. 5, d. 1, l. 1 – 1ob. Einen Arzt im Hause der Fürsten Golicyn zu Beginn des 19. Jahrhunderts erwähnt in seinen Memoiren Vigel’, Zapiski Bd. 1, S. 83. Auch die Gutsbesitzer des Kreises Jamburg baten Anfang der 1830er Jahre um Erlaubnis, aus eigenen Mitteln einen Arzt zu unterhalten, der ihre Bauern behandeln würde. Siehe dazu Chanykov, Očerk, S. 84 und Ramer, Zemstvo, S. 284. Ein Beispiel für die schwierige Suche nach einem Arzt für eine Privatanstellung findet sich im Brief von P. V. Zavadskij an A. R. Voroncov vom 26. Februar 1800, in: Archiv knjazja Voroncova Bd. 12, S. 244 – 246, hier S. 245. 370 Die Problematik der Übertragung des von Max Weber erstellten Idealtypus des Beamten auf Russland steht im Mittelpunkt der Studie von Schattenberg, Provinz, S. 13 – 18.

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Zivilbevölkerung mit sich brachte. Dieselben Phänomene, die man in der Versorgung des Rus­sischen Reiches mit Ärzten findet, waren auch für die anderen medizinischen Berufe während des gesamten Untersuchungszeitraums charakteristisch. Gerade die Konkurrenz um das medizinische Personal zeugt davon, dass akademische Mediziner allmäh­lich in die medikale Kultur der Provinz integriert wurden. Manche medizinischen Berufe, vor allem die Hebammen, hatten Schwierigkeiten, von der lokalen Bevölkerung angenommen zu werden. Größere Konflikte zwischen akademischen Medizinern und der Bevölkerung entwickelten sich vor allem dann, wenn Ärzte als Beamte und damit als Vertreter der Staatsgewalt in Sphären eindrangen, um deren Schutz manche Kranken bemüht waren. Eine eventuelle grundsätz­ liche Skepsis gegenüber Eingriffen in den eigenen Körper konnte in Einzelfällen behoben werden, wenn zwischen dem Kranken und dem Arzt ein persön­liches und vertrauensvolles Verhältnis aufgebaut werden konnte. Mit langjähriger erfolgreicher Praxis konnten Mediziner Vertrauen, Ansehen und sogar überregionalen Ruhm erwerben. Das Verhältnis zwischen Ärzten und Kranken, das sich in den Quellen niederschlägt, lässt keine wesent­lichen Unterschiede zu vergleichbaren Verhaltensmustern in nordwest- und mitteleuropäischen Staaten erkennen. Damit lässt sich der Konflikt zwischen zwei medikalen Kulturen nicht mit den Begriffen „west­lich“ und „rus­sisch“ erfassen. Die Grenze verlief vielmehr zwischen Staat und Individuum. Neben dem Netz von Medizinal­beamten, das zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts entstanden war, existierte eine nicht greifbare Zahl verschiedener nichtlizenzierter Heiler. Diese waren in der Regel für die lokale Bevölkerung die ersten Ansprechpartner im Krankheitsfall. Amtsärzte betrachtete man als eine Erweiterung des medizinischen Angebots. Obwohl die Staatsgewalt bestrebt war, ein Monopol in der medizinischen Versorgung zu errichten, akzeptierte sie notgedrungen den unkontrollierbaren Heilermarkt zum Teil und versuchte, manche Heilkundigen in das staat­liche Medizinal­wesen zu integrieren. Es lag zwar in der Macht der Regierung, strukturelle Voraussetzungen für die Verbreitung der medizinischen Versorgung zu schaffen, indem sie etwa Ärzte ausbildete und sie in die Provinz entsandte. Inwieweit die lokale Bevölkerung dieses Angebot annahm, darauf hatte die Staatsgewalt allerdings nur einen begrenzten Einfluss. Welchen Stellenwert das zweite zentrale Element der staat­lichen Medizinal­politik, das Krankenhaus, im Leben der Provinz einnahm, untersucht das nächste Kapitel.

4.  H O S P I TÄ L E R , L A Z A R E T T E , K R A N K E N H ÄU S E R : O R T E D E R S TA AT L I C H E N M E D I Z I N

„[Einrichtungen], die als Krankenhäuser bezeichnet werden, sind gar keine Krankenhäuser, denn sie sind nicht einmal mit dem Nötigsten – geeignetem Essen und Medikamenten – ausgestattet, demzufolge findet dort auch keine Behandlung statt …“ 1

So beschrieb ein Kreisarzt Ende des achtzehnten Jahrhunderts die ihm anvertraute Einrichtung im Gouvernement Voronež. Mit denselben Worten lässt sich auch die von der Geschichtsschreibung überlieferte und weitverbreitete grundsätz­liche Vorstellung von Heilanstalten in der Provinz des Rus­sischen Reiches auf den Punkt bringen. Dabei wurde das Krankenhaus als das zweite medizinalpolitische Instrument im Rus­sischen Reich neben dem medizinischen Personal von der historischen Forschung bisher nur am Rande berücksichtigt. Nur medizinische Einrichtungen in den beiden Hauptstädten sind vergleichsweise häufig Gegenstand historischer Untersuchungen geworden, was zum Teil deren großer Zahl und Bedeutung für die Entwicklung der akademischen Medizin in Russland geschuldet ist.2 Das Provinzkrankenhaus erlangte hingegen bisher ausschließ­lich in Arbeiten rus­sischer Regionalhistoriker Aufmerksamkeit.3 Auch in diesem Bereich der europäischen Medizingeschichte lässt sich also ein doppeltes geographisches Ungleichgewicht feststellen: Nicht nur werden St. Petersburg und Moskau stärker berücksichtigt als die Provinz. Auch ist die Forschung zu Krankenhäusern in westeuropäischen

1 Schreiben des Stabsarztes Pachomov an die Medizinal­behörde von Voronež vom 24. Mai 1798, zitiert nach Taradin, Materialy, S. 542. 2 Hier sei nur ein Ausschnitt angeführt, wobei die Publikationen zu Moskauer Krankenhäusern zahlenmäßig diejenigen zu St. Petersburg übersteigen. Alelekov, Istorija; Bol’nica im. Babuchina; Dronin, Gospital’; Černyšev (Hg.), Bol’nica; Krupčickij, Pervenec; Maloletkov, Dobroe delo; Over, Materialy; Stoletnij jubilej; Popov, Mariinskaja bol’nica; Rajch, K istorii; Uranosov, Bol’nica. 3 Zu einzelnen Krankenhäusern im Gouvernement Jaroslavl’: Bagin, Na službe; Kuročkin, Iz istorii; Lozinskij, Bol’nica; Stepanov, Rostovskaja bol’nica. Zu Krankenhäusern im Gouvernement Voronež: Gončarov, Materialy; Furmenko, Očerki Bd. 1; Ivanov; Artamonova; Babkina, Istorija; Mezencev (Hg.), Istorija, S. 12 ff.; Taradin, Materialy, S. 536 – 544. Den Krankenhäusern des Gouvernements Tambov ist bisher keine eigene Studie gewidmet worden. Sie haben nur in enzyklopädische Werke zur Geschichte des Gouvernements Eingang gefunden und sind zudem in einer Monographie mitbehandelt worden: Gasparjan, K istorii.

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Staaten im Vergleich zum Rus­sischen Reich thematisch und methodisch deut­ lich breiter.4 Studien rus­sischer Historiker bleiben darüber hinaus in Bezug auf die Geschichte der Krankenhäuser in der Regel stark faktographisch und besitzen vor allem einen enzyklopädischen Wert. Dabei lassen sich zwischen den Untersuchungen aus sowjetischer Zeit und den jüngeren Arbeiten zumeist kaum Gegensätze feststellen. Nur in einem Punkt findet sich ein signifikanter Unterschied: Während sowjetische Histo­ riker bestrebt waren, die Mängel des zarischen Medizinal­wesens in den Vordergrund zu rücken,5 integrieren heutige Lokalhistoriker medizinische Einrichtungen des ausgehenden achtzehnten und des neunzehnten Jahrhunderts gern in eine fortschrittspositivistische Erfolgsgeschichte des Gesundheitswesens in der eigenen Region.6 Studien zum Westen Europas beleuchten dagegen die Institution Krankenhaus aus vielen unterschied­lichen Perspektiven: als Ort, an dem die akademische Medizin mit Unterstützung der Staatsgewalt ihr Monopol ausbaute und die Medikalisierung vor allem der unteren sozialen Gruppen vorantrieb,7 oder – aus anthropolo­gischer Sicht – als Ort, an dem sich unterschied­liche Krankheits- und Körpervorstellungen begegneten.8 Auch die Akteure im Krankenhausalltag, vor allem Patienten, wurden wiederholt untersucht: zunächst als Objekt der Medikalisierung,9 seit den 1990er Jahren verstärkt auch als Subjekt in der medikalen Welt.10 Zu den größten Wendepunkten in der europäischen Medizingeschichte gehört der Übergang vom Hospital zum modernen Krankenhaus.11 Im Zentrum steht dabei der Wandel der H ­ eilanstalten,

4 Einen knappen Überblick über die Entwicklung der Forschung zu Krankenhäusern im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit mit weiterführenden Literaturhinweisen bietet Vanja, Offene Fragen. 5 Für das Gouvernement Voronež paradigmatisch: Furmenko, Očerki. 6 Besonders deut­lich wird diese Intention in diversen Jubiläumsausgaben, etwa Osincev u. a. (Hg.), 225 let. Siehe auch Bagin, Na službe, S. 164 f.; Stepanov, Otkrytie bol’nicy. 7 Foucault, Klinik. In Anlehnung an Foucault: Barthel, Medizinische Polizey; mit dieser Forschungsrichtung setzt sich der folgende Sammelband kritisch auseinander: Finzsch; Jütte (Hg.), Institutions. Die These von der Geburt der Klinik ist seit einiger Zeit umstritten und wurde inzwischen – nicht zuletzt in der genannten Publikation von Finzsch und Jütte – widerlegt. Siehe auch Vanja, Offene Fragen, S. 23. 8 Ein frühes Plädoyer für die „Patientengeschichte“ bei Porter, Patient’s View. Eine umfangreiche Geschichte des Krankenhauses von der Antike bis zum Ende des 20. Jahrhunderts unter konsequenter Berücksichtigung der Patientenperspektive hat geschrieben: Risse, Mending Bodies. Ein nach wie vor gewinnbringender Forschungsüberblick bei Wolff, Perspektiven. 9 Foucault, Klinik; Jütte, Ärzte. Deut­lich stärker differenzierend: Loetz, Vom Kranken zum ­Patienten. 10 Labisch; Spree (Hg.), Einem jeden Kranken. 11 Zu den einflussreichsten – wenn auch inzwischen widerlegten – Interpretationen gehört Foucault, Klinik. Einen knappen Forschungsüberblick bietet Jones, Construction. Siehe auch Jütte, Vom Hospital zum Krankenhaus. Jones rückt die Kluft zwischen Anspruch und Wirk­lichkeit der „Klinik“ in den Vordergrund. Auch erinnert er daran, dass die Medikalisierung des Hospitals nicht auf

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die zunächst der Verwahrung der Kranken dienten und seit dem späten achtzehnten Jahrhundert allmäh­lich zu Orten wurden – oder werden sollten –, in denen eine wissenschaft­lich fundierte Behandlung von Krankheiten an Patienten stattfand. Von Krankenhäusern im Rus­sischen Reich ist hingegen nur wenig bekannt. Wo gab es sie außerhalb der Hauptstädte? Wie sahen sie aus? Wer gründete und finanzierte sie? Wer ließ sich dort behandeln? Was zeichnete den Krankenhausalltag aus? Auf diese Fragen lassen sich nur sporadische Antworten finden, meist in Form von Gründungsjahreszahlen oder der Anzahl der Betten. Dass Untersuchungen zum Krankenhauswesen in der Provinz des Rus­sischen Reiches äußerst rar gesät sind, hängt auch mit der dürftigen Überlieferung in diesem Bereich zusammen. Schon der Verfasser der umfangreichsten Studie zu Krankenhäusern im Gouvernement Voronež, Grigorij Gončarov, vermerkte Ende der 1890er Jahre, dass die Aktengrundlage ausgesprochen dünn sei.12 In den 1920er Jahren gelang es einem weiteren Lokalhistoriker, Ivan Taradin, noch, das Archiv der Medizinal­ behörde von Voronež auszuwerten, bevor dessen Bestände im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden. Dieser Umstand verleiht Taradins Studie einen besonderen Wert.13 Eine ähn­liche Situation besteht bei den Quellen für das Gouvernement Tambov.14 Selbst für das Gouvernement Jaroslavl’, dessen Archivbestände vergleichsweise umfangreich sind, ist die Überlieferung bei weitem nicht lückenlos. Dabei bildet das Provinzkrankenhaus als Schnittstelle zentraler und lokaler Interessen gerade für die Frage nach dem Zusammenwirken zwischen Machtzentrum und Provinz einen Untersuchungsgegenstand von besonderem Interesse. Sie wird in vorliegender Studie in zwei Teilen behandelt: Bevor im nächsten Kapitel die aktive Rolle der lokalen Bevölkerung in den Vordergrund tritt, soll hier zunächst – ähn­lich wie am Beispiel der Ärzte – erläutert werden, wie die von der Staatsgewalt ins Leben gerufene Institution Fuß fasste und welchen Stellenwert sie im Leben der Provinz einnahm. Ziel ist es dabei, ein mög­lichst facettenreiches Bild von dieser Einrichtung zu zeichnen: von der normativen Ausgestaltung über die Einbettung in bestehende Verwaltungszusammenhänge bis hin zum medizinischen Alltag.

die Koalition von Macht und Wissen beschränkt werden darf, sondern dass sie nicht zuletzt – ohne jeg­lichen Positivismus – professionelle medizinische Hilfe breiteren Bevölkerungsgruppen zugäng­ lich gemacht hat: Jones, Construction, S. 74. Siehe auch Brinkschulte, Krankenhaus; Scheutz (Hg.), Spitalwesen. Zur Vorreiterrolle einzelner Krankenhäuser in den westeuropäischen Hauptstädten siehe Risse, Clinic. Zu den Auswirkungen der neuesten Erkenntnisse im Bereich der Medizin und der Hygiene auf die bau­liche Struktur der Krankenhäuser im Deutschland des 19. Jahrhunderts siehe Jetter, Krankenhaus. Einen kritischen Abriss der älteren Narrative und Periodisierungen bieten Henderson; Horden; Pastore (Hg.), Impact, S. 31 – 35. 12 Gončarov, Materialy, S. 597. 13 Taradin, Materialy. 14 Siehe Gasparjan, K istorii Bd. 1, S. 112.

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Ausgeklammert bleiben im Folgenden Einrichtungen für Geisteskranke. Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert galten Wahnsinnige nicht als heilbar und kamen somit nicht als Zielgruppe für Krankenhäuser in Betracht, die zu dieser Zeit gegründet wurden. Zwar geriet diese Gruppe seit der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts immer häufiger ins Blickfeld des Gesetzgebers. Doch die Fürsorge, die ihnen zuteil werden sollte, beschränkte sich auf eine Verwahrung in geschlossenen Anstalten.15 Vorab ist aber eine Begriffsklärung notwendig, da die rus­sischen Bezeichnungen für verschiedene Heilanstalten alles andere als eindeutig sind. Das in zeitgenös­ sischen Schriftstücken verwendete Wort gospital’, manchmal auch gošpital’, das Hospital, bezeichnet im strengen Sinne nur militärische Heilanstalten, wird aber in der Regel auch für zivile Einrichtungen benutzt.16 Es ist zugleich die häufigste Bezeichnung für Heilanstalten im Allgemeinen und meint – wie in diesem Kapitel zu zeigen sein wird – nicht ausschließ­lich solche Institutionen, die der bloßen Verwahrung von Kranken dienten.17 Eine Spezifizierung erfolgt in der Regel durch einen Zusatz, etwa voennyj gospital’, Militärhospital. Der Begriff lazaret bezeichnet eine Militärheilanstalt, die sich vom Hospital durch eine vereinfachte Struktur unterscheidet und auch an eine bestimmte Einheit gebunden sein kann.18 Ähn­lich wie gospital’ kann auch lazaret ergänzt werden: etwa polkovoj lazaret, Regimentslazarett, oder gorodovoj lazaret, Stadtlazarett. Manchmal wurden lazaret und gospital’ synonym und in Bezug auf Einrichtungen für die Zivilbevölkerung verwendet.19 Ferner findet sich in den Quellen der Begriff bol’nica, Krankenhaus, das in der Regel in Verbindung mit dem Adjektiv gorodskaja das Stadtkrankenhaus bezeichnet. Im neunzehnten Jahrhundert erfährt dieser Begriff eine immer weitere Verbreitung.20

15 Siehe Vlasov, Obitel’, S. 92. Die Literatur zu diesem Bereich der rus­sischen Medizingeschichte ist verhältnismäßig zahlreich. Ein Verzeichnis älterer Schriften findet sich bei Nevskij; Fedotov (Hg.), Nevropatologija; Lachtin, Materialy. Einen knappen Überblick über die Entwicklung der Psychiatrie in Russland bietet Decker, Einführung. 16 Art. „Gospital’“, in: Brokgauz; Efron (Hg.), Ėnciklopedičeskij slovar’ Bd. 9, S. 386 – 387. 17 In Bezug auf den Westen Europas lassen sich die drei Typen von Anstalten auch anhand ihrer Bezeichnungen klarer voneinander trennen, als dies zur selben Zeit im Rus­sischen Reich der Fall war. Laut Imhof war in westeuropäischen Hospitälern keine „spezielle ärzt­lich-medikamentöse Behandlung“ vorgesehen. Vgl. Imhof, Funktion, S. 221 ff. 18 Siehe Art. „Gospitali i lazarety“, in: Molčanova; Olonceva; Ščukin (Hg.), Tambov, S. 57 f.; Art. „Lazarety voennye“, in: Brokgauz; Efron (Hg.), Ėnciklopedičeskij slovar’ Bd. 17, S. 249. 19 Etwa in Bezug auf die Einrichtungen des Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge in Jaroslavl’. Siehe etwa Lozinskij, Bol’nica, S. 8. Lozinskij zitiert eine Beschreibung des Gouvernements Jaroslavl’ aus den 1820er Jahren, in der das Krankenhaus des Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge als lazaret ili bol’nica, also „Lazarett oder Krankenhaus“ bezeichnet wird. 20 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hat sich bol’nica zum Überbegriff für Heilanstalten entwickelt. Siehe Art. „Bol’nica“, in: Brokgauz; Efron (Hg.), Ėnciklopedičeskij slovar’ Bd. 4, S. 325 – 328.

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Seit den 1830er Jahren wird auch die Bezeichnung lečebnica, Heilanstalt, verwendet, allerdings ausschließ­lich in Bezug auf größere Krankenhäuser. Diese begriff­liche Vielfalt geht mit einer mangelnden Präzision einher und macht es bisweilen schwer, genau festzustellen, von welcher Einrichtung die jeweilige Quelle handelt. Gerade für die Zeit nach 1800, als es in den meisten Gouvernementsstädten mehrere Heilanstalten gab und manche Kreisstädte nicht nur ein Krankenhaus für die Zivilbevölkerung betrieben, sondern auch über Heilanstalten für das Militär verfügten, ist eine Unterscheidung nicht immer mög­lich. Die vorliegende Arbeit widmet nur dem staat­lichen Medizinal­wesen Aufmerksamkeit. Diese Einschränkung bedeutet aber keineswegs, dass außerhalb der staat­ lichen medizinischen Anstalten für das Militär und die Zivilbevölkerung keine stationäre medizinische Versorgung stattfand. Das gilt sowohl für medizinisches Personal als auch für Krankenhäuser. Außerhalb der Medizinal­beamtenkarriere und der freien Praxis gab es für Ärzte durchaus Arbeitsmög­lichkeiten. Dazu zählte etwa die Einstellung auf Landgütern von Adligen.21 Ein weiteres Betätigungsfeld bildete die medizinische Versorgung von Fabrik- oder Bergbauarbeitern. Einzelne Fabriken und Manufakturen verfügten bereits im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert über eigene Krankenhäuser, etwa die Segeltuchfabrik an der Jauza in Moskau.22 Auch in der Großen Manufaktur von Jaroslavl’ existierten medizinische Einrichtungen: Für die Behandlung von Arbeitern wurden auf Kosten der Manufaktur ein Arzt und eine Apotheke unterhalten.23 Seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert waren Besitzer von Manufakturen und Bergwerken sogar verpf­lichtet, für die Gesundheit der Belegschaft Sorge zu tragen.24 So wichtig diese Einrichtungen für die Beteiligten waren, so wenig lassen sie sich in diesem Rahmen gleichberechtigt mit dem staat­lichen Medizinal­wesen behandeln.

21 Aleksandr Bardovskij, der Ende der 1830er Jahre Kreisarzt im Gouvernement Voronež war, wurde in den Jahren 1835 bis 1837 von Fürst Aleksej Golicyn auf dessen Gut im Gouvernement Nižnij Novgorod beschäftigt. Siehe die Abschrift aus der Personalakte des Kreisstabsarztes von Zadonsk, Aleksandr Bardovskij, vom 12. Mai 1840. GAVO f. i–2, op. 5, d. 1, l. 1 – 2, hier l. 1ob.–2. 22 Vlasov, Obitel’, S. 87. 23 Statistische Beschreibung der Großen Manufaktur von Jaroslavl’, o. D. GAJaO f. 674, op. 2, d. 314, l. 1 – 16, hier l. 7ob., 11ob. Außerhalb des Manufakturgeländes befanden sich Gebäude, die ebenfalls zur Manufaktur gehörten. Darunter waren vier Holzhäuser: Im ersten waren eine Apotheke und ein Hospital für kranke und alte ehemalige Fabrikmitarbeiter untergebracht. Das zweite Haus belegte der frei angestellte Arzt. Leider gibt die Chronik keine Auskunft darüber, wann und unter welchen Umständen diese Einrichtungen entstanden sind. 24 Siehe den kaiser­lich bestätigten Erlass des Innenministers vom 4. Januar 1808, in: PSZ I Bd. 30, Nr. 22.743, S. 5 – 12, hier S. 11.

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4.1  D a s St a d t k r a n ke n h a u s: Ei n Nov u m i n d e r r u s si s che n P r ov i n z Erste Versuche, der Provinzbevölkerung Hospitäler zur Verfügung zu stellen, gehen auf die Regierungszeit Peters I. zurück. Doch weit gediehen war dieses Projekt in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts noch nicht. Als die Reform der Gouvernementsverwaltung im Jahr 1775 den ins Leben gerufenen Ämtern für gesellschaft­liche Fürsorge die Aufgabe übertrug, in der Provinz des Rus­sischen Reiches Heilanstalten zu gründen, verfügten nur wenige Städte über solche Einrichtungen. Ein Großteil der – zunächst in den beiden Hauptstädten, bald aber auch in der Provinz – existierenden Krankenhäuser war einer klar definierten Aufgabe gewidmet: Es gab vor allem Anstalten für venerische Kranke sowie Pocken- und Gebärhäuser.25 Für die meisten Landstriche bedeutete die Bestimmung der Gouvernementsreform, dass eine bis dahin unbekannte Institution ins öffent­liche Leben Einzug halten sollte. Welche Aufgaben hatte die Gesetzgeberin dem Provinzkrankenhaus zugedacht und wie wurde dieses Vorhaben umgesetzt? Während die lokale Bevölkerung in der Frage nach der Versorgung der Provinz mit Ärzten wenigstens gelegent­lich die Ansichten der Staatsgewalt teilte und einen Bedarf an medizinischem Personal auf lokaler Ebene erkennen ließ, zeigte sie nur wenig Interesse an Krankenhäusern. Medizinische Versorgung bedeutete für sie in erster Linie die Verfügbarkeit von Ärzten und Apotheken. Hospitäler gehörten dagegen nicht zu ihrem Erfahrungshorizont. Bei der Einrichtung von stationärer medizinischer Hilfe ging die Initiative einzig von der Staatsgewalt aus. Einen dringenden Handlungsbedarf in diesem Bereich empfanden die Regierungskreise schon in den frühen 1760er Jahren. Als zentrales Argument für die Einrichtung von Krankenhäusern tauchte in einer Senatssitzung vom Dezember 1762 – nur wenige Monate nach der Machtübernahme ­Katharinas II . – die von Kranken ausgehende Ansteckungsgefahr auf: Ohne ärzt­liche Hilfe und gegebenenfalls ohne Isolierung der Kranken von den Gesunden würden sich Krankheiten auf ganze Familien ausbreiten und bis ins unheilbare Stadium unerkannt bleiben.26 Auch wenn bestimmte Leiden nicht beim Namen genannt wurden, lässt sich in diesem Fall leicht erkennen, dass im Vordergrund die von der Syphilis und anderen Geschlechtskrankheiten ausgehende Gefahr stand. Die hohe Infektiosität, die Scham der Kranken und die gravierenden Folgen für die Angehörigen waren das wichtigste Argument für die Errichtung von Krankenhäusern. Etwa ein halbes Jahr nach der Debatte im Senat wurde beschlossen, Hospitäler für Menschen mit ansteckenden

25 Clendenning, Dimsdale, S. 114. 26 Siehe den Senatserlass vom 19. Dezember 1762, in: PSZ I Bd. 16, Nr. 11.728, S. 133.

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Krankheiten einzurichten: zunächst in den Gouvernements Moskau, St. Petersburg und Nižnij Novgorod, später auch in anderen Gegenden.27 Auch in ihrer Großen Instruktion wies die Kaiserin auf eine „vor Alters unbekannte Krankheit“ hin, die „aus Amerika nach Norden gekommen, die dem mensch­lichen Geschlechte den Untergang drohet“: die Syphilis.28 Auffällig an den Überlegungen aus den 1760er Jahren ist die enge Verbindung zwischen Krankheit und Armut. So sollten mittellose Menschen bevorzugt in Krankenhäuser aufgenommen und kostenlos behandelt werden.29 Es seien die bedürftigen Kranken, die sich keine ärzt­liche Behandlung leisten könnten und deswegen unfreiwillig zu Überträgern gefähr­licher Infektionen würden – so die Vorstellung des Gesetzgebers. Die Aufgabe der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge, die vor allem Einrichtungen für den ärmeren Teil der lokalen Bevölkerung ins Leben rufen sollten, bestand also darin, eine medizinische Versorgung der unteren sozialen Gruppen zu ermög­lichen. Neben Stadtkrankenhäusern, die Kranken aus allen Bevölkerungskreisen offen­ standen, und Militärlazaretten existierten interne Heilanstalten, in denen Angehörige einer bestimmten Einrichtung behandelt wurden. Zahlreiche Institutionen besaßen ihre eigenen Krankenhäuser. Eines der prominentesten und frühesten Beispiele war das Krankenhaus für mittellose Gebärende, das Ivan Beckoj in sein Waisenhausprojekt integriert hatte.30 Das 1798 gegründete Militärwaisenhaus sollte ebenfalls über ein Lazarett verfügen.31 1805 befahl Alexander I. dem Posthauptdirektor, ein Krankenhaus für dieses Departement einzurichten und aus den Einnahmen der Post zu finanzieren.32 Auch Statuten für geist­liche Akademien und Priesterseminare aus

27 Senatserlass vom 20. Mai 1763, in: PSZ I Bd. 16, Nr. 11.821, S. 252 – 254. Zur Bedeutung der Syphilis für die Entstehung des modernen Krankenhauses in Europa siehe Kinzelbach, Böse Blattern, S. 56 – 65. 28 Instruktion, gegeben der Kommission für die Verfassung eines neuen Gesetzbuchprojekts vom 20. Juli 1767, in: PSZ I Bd. 18, Nr. 12.949, S. 192 – 279, hier S. 240. Dt.: Katharinä der Zweiten Instruction, S. 77. Siehe dazu auch Bočkarev, Vračebnoe delo, S. 458; Alexander, Bubonic Plague, S. 54 f. 29 PSZ I Bd. 16, Nr. 11.821, S. 252 ff. Diese Regelung wurde auch in der Gouvernementsordnung von 1775 beibehalten. Arme und Mittellose sollten bei der Aufnahme in ein Hospital die Priorität haben. Andere Kranke durften nur dann aufgenommen werden, wenn freie Plätze vorhanden waren. Siehe Anordnungen zur Verwaltung der Gouvernements des Allrus­sischen Reiches vom 7. November 1775. Erster Teil, in: PSZ I Bd. 20, Nr. 14.392, S. 229 – 304, hier S. 276. 30 Manifest mit dem kaiser­lich bestätigten Projekt des Generalleutnants Beckoj vom 1. September 1763, in: PSZ I Bd. 16, Nr. 11.908, S. 343 – 363, hier S. 344. 31 Kaiser­lich bestätigter Bericht über die Gründung des Kaiser­lichen Militärwaisenhauses vom 23. Dezember 1798, in: PSZ I Bd. 25, Nr. 18.793, S. 488 – 496, hier S. 494. 32 Kaiser­licher Erlass an den Posthauptdirektor vom 25. Februar 1805, in: PSZ I Bd. 28, Nr. 21.639, S. 858.

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dem Jahr 1814 enthielten unter anderem Regelungen für interne Krankenhäuser.33 Somit existierte eine genaue Zuweisung einzelner Personen zu Heilanstalten, die sich nach ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe beziehungsweise nach ihrer Tätigkeit richtete.34 Die medizinische Versorgung der Staatsdiener war ebenfalls nach Ressorts organisiert – sowohl im Alltag als auch während der Epidemien.35

Einzug der Krankenhäuser in die Provinz Obwohl seit 1775 Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge den Auftrag hatten, nicht nur im Hauptort, sondern auch in den Kreisstädten des jeweiligen Gouvernements Krankenhäuser einzurichten, mussten viele Städte noch um die Jahrhundertwende ohne ein Hospital auskommen. Mit der Gnadenurkunde für die Städte wurden die Gründung und der Unterhalt medizinischer Einrichtungen in den Kreisstädten den Stadtdumas übertragen, wobei alle zivilen Krankenhäuser nach wie vor dem in der Gouvernementsstadt ansässigen Amt für gesellschaft­liche Fürsorge beziehungsweise seit der Reform des Jahres 1797 den lokalen Medizinal­behörden unterstanden.36 Die Umsetzung des Vorhabens, ein Netz von Krankenhäusern über das Land zu spannen, nahm mehrere Jahrzehnte in Anspruch. Das erste Stadtkrankenhaus im Gouvernement Jaroslavl’ entstand Ende der 1770er/Anfang der 1780er Jahre in der Gouvernementsstadt, um die Jahrhundertwende folgten Krankenhäuser in den Kreisstädten.37 Die Existenz der ersten zwei Krankenhäuser im Gouvernement Voronež ist für die

33 Kaiser­lich bestätigtes Projekt des Statuts für Geist­liche Akademien vom 30. August 1814, in: PSZ I Bd. 32, Nr. 25.673, S. 910 – 954, hier S. 932 f.; kaiser­lich bestätigtes Projekt des Statuts für Priesterseminare vom 30. August 1814, in: PSZ I Bd. 32, Nr. 25.674, S. 955 – 980, hier S. 972 f. Geist­liche wurden schon zuvor in eigenen partikularen Krankenhäusern behandelt, so dass sie 1765 von der einprozentigen Abgabe zum Erhalt von Krankenhäusern befreit wurden. Siehe den Senatserlass vom 21. März 1765, in: PSZ I Bd. 17, Nr. 12.358, S. 88 – 89, hier S. 89. 34 Mitglieder des Pagenkorps sollten beispielsweise im Hoflazarett behandelt werden. Für die Behandlung plötz­licher Krankheitsanfälle musste sich ein Wundarzt ständig beim Pagenkorps aufhalten. Siehe die kaiser­lich bestätigte neue Einrichtung des Pagenkorps vom 10. Oktober 1802, in: PSZ I Bd. 27, Nr. 20.452, S. 292 – 301, hier S. 299. Für die medizinische Versorgung der Arbeiter im Salzabbau in Perm’ wurde 1802 gesorgt, indem eine Wundarztstelle eingerichtet und mit dem Bau eines Krankenhauses begonnen wurde. Siehe den kaiser­lich bestätigten Bericht des Innenministers vom 24. Juni 1804, in: PSZ I Bd. 28, Nr. 21.365, S. 403 – 404. 35 Aleksandr Nikitenko, Ende der 1820er/Anfang der 1830er Jahre Professor an der St. Petersburger Universität, schildert die Bemühungen, im Mai 1831, nach Ausbruch der Cholera in der nörd­lichen Hauptstadt, ein Lazarett für Beamte im Petersburger Lehrbezirk einzurichten. Siehe Nikitenko, Dnevnik Bd. 1, S. 107. 36 Gnadenurkunde für die Städte vom 21. April 1785, in: PSZ I Bd. 22, Nr. 16.187, S. 358 – 384, hier S. 381 ff. Siehe auch Mušinskij, Ustrojstvo, S. 20. 37 Osincev (Hg.), 225 let, S. 7; Bagin, Na službe, S. 163.

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1780er/1790er Jahre überliefert.38 Auch Tambov verfügte 1780 über eine öffent­liche Heilanstalt für die Zivilbevölkerung.39 Das Gouvernement Voronež soll im Jahr 1820 fünf Krankenhäuser für insgesamt 73 Patienten gehabt haben. Im Jahr 1830 waren es bereits zwölf Krankenhäuser mit 155 Betten.40 Zu Beginn der 1830er Jahre verfügte ein Großteil der Kreisstädte im europäischen Teil Russlands über ein Krankenhaus.41 Die Einrichtung von Heilanstalten war zwar seit 1775 gesetz­lich vorgeschrieben, es bedurfte aber häufig eines zusätz­lichen Impulses, um die Gründung eines Krankenhauses zu veranlassen. Wie kam es zur Entstehung von Hospitälern in der Provinz? Krankenhäuser für die Zivilbevölkerung waren nicht immer die erste Einrichtung, die Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge nach ihrer Gründung schufen. In Jaroslavl’ waren es zunächst ein Arbeitshaus und ein Asyl für Geisteskranke, die einige Jahre vor dem Krankenhaus eröffnet wurden.42 In den Kreisstädten des Gouvernements Jaroslavl’ etwa war im Jahr 1799, über zwanzig Jahre nach der Gouver­ nementsreform, mit wenigen Ausnahmen noch nicht einmal mit dem Bau von Krankenhäusern begonnen worden.43 Dort, wo es keine Krankenhäuser gab, behalf man sich – auch über einen längeren Zeitraum – mit provisorischen Lösungen. So wurden die Kranken in Myškin in einer Wohnung untergebracht, die allerdings nach Meinung des zuständigen Kreisarztes für diesen Zweck nicht geeignet war.44 Doch

38 Die ersten Krankenhäuser des Gouvernements befanden sich in Jaroslavl’ und in Bogučar. Das Kreiskrankenhaus wurde durch private Spenden finanziert. Siehe Ševčenko, Dejatel’nost’, S. 55 f. Nach anderen Angaben wurde das Krankenhaus in Bogučar erst 1790 gegründet. Siehe etwa Gončarov, Materialy, S. 637; Mezencev, Istorija, S. 13. 39 Gasparjan, K istorii Bd. 4, S. 991. 40 Furmenko, Očerki Bd. 1, S. 58. Furmenko gibt allerdings keine Quellen an, so dass die Richtigkeit seiner Angaben für das Jahr 1820 nicht überprüft werden kann. Dass es im Jahr 1830 zwölf Krankenhäuser gegeben hat, bestätigen meine eigenen Recherchen. Siehe weiter unten. 41 Diese Beobachtung bedeutet aber nicht, dass Krankenhäuser gleichmäßig und flächendeckend über das gesamte Reich verbreitet waren. Es gab durchaus Städte, in denen das Fehlen eines Krankenhauses im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts beklagt wurde. Siehe etwa das Schreiben des Militärgouverneurs von Kleinrussland an den stellvertretenden Innenminister, Vasilij Lanskoj, vom 17. Mai 1827. RGIA f. 1287, op. 12, d. 320, l. 1 – 1ob. Auf welcher Grundlage die Feststellung von Angela Rustemeyer, vor den Reformen Alexanders II. habe es keine städtischen Krankenhäuser gegeben, beruht, bleibt unklar. Rustemeyer, Autokraten, S. 83. 42 Malinin, K dokladu, S. 172. Der Autor zitiert in diesem Zusammenhang eine Quelle, die heute nicht mehr überliefert ist: Istoričeskoe i topografičeskoe opisanie blagotvoritel’nym zavedenijam. Obščie zavedenija Prikaza Obščestvennogo Prizrenija (Historische und topographische Beschreibung wohltätiger Einrichtungen. Allgemeine Einrichtungen des Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge). 43 Sitzungsprotokoll der Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 11. September 1799. GAJaO f. 86, op. 1, d. 10, l. 133ob.–135, hier l. 134ob. 44 Laut einem Inspektionsbericht aus dem Jahr 1799 wurden in allen Städten des Gouvernements – mit Ausnahme von Rybinsk, das bereits ein Krankenhaus hatte – geräumige Häuser für die Unterbringung von Kranken zur Verfügung gestellt. Siehe GAJaO f. 86, op. 1, d. 10, l. 134ob.

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obwohl die Gouvernementsverwaltung die Einrichtung eines Krankenhauses in Myškin immer wieder angeordnet hatte, widersetzte sich die zuständige Stadtduma dieser Vorschrift.45 Auch die Stadtduma von Romanov im Gouvernement Voronež ignorierte wiederholt die Bitten des Kreisarztes, Mängel an der Ausstattung des lokalen Krankenhauses zu beheben.46 Warum sich die beiden Dumas weigerten, den Forderungen der Ärzte nachzukommen, und wie sie ihre Haltung begründeten, ist nicht bekannt. Doch müssen die zwei Vorfälle als ein Hinweis darauf gedeutet werden, dass die Gründung medizinischer Einrichtungen auf lokaler Ebene nicht immer auf Zustimmung stieß. Diese war offenbar vor allem dann besonders gering, wenn Städte die Kosten der Einrichtung selbst tragen mussten. Obwohl die Zahl der Krankenhausgründungen um die Jahrhundertwende stark zugenommen hatte, mussten sich Ärzte und Kranke in vielen Städten auch im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts mit provisorischen Lösungen arrangieren. In Bogučar im Gouvernement Voronež wurden Kranke noch im Jahr 1827 in einem privaten Wohnhaus untergebracht. Die Behandlungsräume nahmen die Hälfte des Gebäudes ein, in der anderen Hälfte wohnten dessen Besitzer. Mit Nahrungsmitteln wurden Kranke von den Nachbarn versorgt.47 Nachdem der Gouverneur von Kaluga 1816 das Gouvernement bereist hatte, hielt er in seinem Inspektionsbericht fest, dass er in Kreisstädten fast keine Krankenhäuser vorgefunden habe.48 Der Mangel an Krankenhäusern gehörte in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts zu den wesent­lichen Charakteristika des medizinischen Alltags im europäischen Teil Russlands. Vor allem in Gegenden, in denen größere Truppenkontingente – dauerhaft oder vorübergehend – stationiert waren, brachte dieser Umstand erheb­liche Einschränkungen für die Stadtbewohner mit sich. Gab es in dem jeweiligen Regiment mehr Kranke, als im Militärlazarett und im Stadtkrankenhaus untergebracht werden konnten,49 mussten Einwohner kranke Militärangehörige beherbergen. Diese Bürde wurde bisweilen als zu schwer empfunden.50 45 Sitzungsprotokoll der Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 13. Januar 1799. GAJaO f. 86, op. 1, d. 10, l. 7ob.–8, hier l. 7ob. Der Schriftwechsel wird auch in der Studie von Lozinskij erwähnt, allerdings ohne die Reaktion der Stadtduma. Lozinskij, Medicina Bd. 2, S. 114. 46 Schreiben des Kreisstabsarztes von Romanov, Avgust Šreter, an die Medizinal­behörde von ­Jaro­slavl’ vom 8. November 1802. GAJaO f. 86, op. 1, d. 28, l. 3 – 4, hier l. 3ob. 47 Taradin, Materialy, S. 538. 48 Schreiben des Gouverneurs von Kaluga, Nikita Omel’janenko, an den Polizeiminister, Aleksandr Balašov, vom 10. November 1816. RGIA f. 1287, op. 11, d. 1396, l. 1 – 2, hier l. 1. 49 Für Militärangehörige unterer Ränge der etatmäßigen Einheiten war eine Behandlung in den Krankenhäusern des jeweiligen Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge vorgesehen. Siehe den Bericht des Gouverneurs von Nižnij Novgorod, Andrej Runovskij, an den Polizeiminister, Aleksandr Balašov, vom 31. Oktober 1811. RGIA f. 1287, op. 11, d. 859, l. 1 – 4, hier l. 2. 50 Siehe etwa den Bericht der Quartierkommission von Jaroslavl’ an den stellvertretenden Gouverneur, Nikolaj Juškov, vom 28. März 1818. GAJaO f. 73, op. 3, d. 135, l. 18 – 19ob., hier l. 18ob.–19.

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Vor allem diese provisorischen Krankenhäuser für das Militär konnten zu Konflikten mit der Zivilbevölkerung führen. Nach einem Beschluss der Quartierkommission von Jaroslavl’ aus dem Jahr 1818 sollte einer der wohlhabendsten Kaufleute des Gouvernements, Olovjanišnikov,51 das Lazarett einer Infanteriedivision so lange in den Seitenflügeln seines Hauses beherbergen, bis die Renovierung des eigent­ lichen Lazarettgebäudes abgeschlossen war. Der Kaufmann wehrte sich gegen die Entscheidung unter anderem mit dem Verweis auf drohende Mieteinbußen. Um den finanziellen Schaden für Olovjanišnikov zu mildern, erklärte sich die Quartierkommission bereit, für die Heizkosten aufzukommen. Zusätz­lich wurden zwei weitere Stadtbürger verpf­lichtet, jähr­lich vierhundert Rubel an den Kaufmann zu zahlen, um die materielle Bürde auf diese Art und Weise auf mehrere Schultern zu verteilen. Da die Zahl der kranken Militärangehörigen unterer Ränge aber stetig zunahm, musste ein weiterer Kaufmann sein Haus für einen Teil des Lazaretts zur Verfügung stellen.52 War es in diesem Fall ein einzelner Kaufmann, der sich gegen die Einquartierung kranker Militärangehöriger in seinem Haus wehrte, protestierte 1821 in Borisoglebsk die ganze Stadtduma gegen die Ausstattung des Militärlazaretts aus öffent­lichen Mitteln. Das Sitzungsprotokoll hielt fest, dass der Duma keine gesetz­ liche Grundlage für die Ansprüche des Militärs bekannt sei.53 Trotz dieses Auflehnens trug die Stadt Borisoglebsk auch in den Folgejahren die Kosten für Holz und Kerzen, die das Lazarett der berittenen Artillerie verbrauchte, und kam sogar für anfallende Reparaturkosten auf.54 Im Gouvernement Voronež stand die medizinische Infrastruktur 1823 am Rande eines Zusammenbruchs, da man alle Divisions- und Korpslazarette aufgelöst und sämt­liche kranken Militärangehörigen in die Obhut des zivilen Medizinal­wesens übergeben hatte. Bis zum Ende der 1820er Jahre wurden 51 Die Olovjanišnikovy waren eine der bekanntesten Kaufmannsfamilien in Jaroslavl’. Im 18. und 19. Jahrhundert besaßen sie diverse Manufakturen und Fabriken, im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts bekleidete ein Spross dieser Familie das Amt des Stadthaupts. Siehe Rutman (Hg.), Istorija, S. 92, 143 – 146, 157, 242, 388. 52 Siehe GAJaO f. 73, op. 3, d. 135. Die Reparaturen am Lazarettgebäude wurden Ende des Jahres 1820 beendet. Bericht der Quartierkommission von Jaroslavl’ an den Gouverneur, Aleksandr Bezobrazov, vom 31. Oktober 1820. GAJaO f. 73, op. 3, d. 135, l. 81 – 81ob.; Bericht der Quartierkommission von Jaroslavl’ an den stellvertretenden Gouverneur, Nikolaj Juškov, vom 28. März 1818. GAJaO f. 73, op. 3, d. 135, l. 18 – 19ob., hier l. 18 – 19; Anordnung des Gouverneurs von Jaroslavl’, Gavriil Politkovskij, an die Quartierkommission von Jaroslavl’ vom 13. Mai 1818. GAJaO f. 73, op. 3, d. 135, l. 27. 53 Sitzungsprotokoll der Stadtduma von Borisoglebsk vom 31. August 1821. GAVO f. i–135, op. 1, d. 23, l. 65 – 65ob. 54 Siehe den Beschluss der Stadtduma von Borisoglebsk über Einnahmen und Ausgaben im Jahr 1821 und das Exzerpt aus dem Bericht über Einnahmen und Ausgaben der Stadt Borisoglebsk für das Jahr 1820. Beide in: GAVO f. i–135, op. 1, d. 31, l. 23 – 23ob. bzw. l. 52. Siehe auch die Berichte der Stadtduma von Borisoglebsk über Einnahmen und Ausgaben für das Jahr 1823. GAVO f. i–135, op. 1, d. 33.

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im Krankenhaus des Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge gleichzeitig zwischen zwei- und dreihundert Personen behandelt.55 Konflikte, die durch die Einquartierung kranker Militärangehöriger in Wohnhäusern entstanden, waren den Behörden bereits im achtzehnten Jahrhundert bekannt. Um diesem Problem Abhilfe zu schaffen, ordnete der Senat 1764 an, in allen Städten, in denen Einheiten stationiert waren, auf Kosten des Militärs Krankenhäuser zu errichten.56 Die vorhandenen Militärlazarette reichten allerdings selten aus, so dass das Militär im neunzehnten Jahrhundert nach wie vor auf Wohnhäuser der Zivilbevölkerung ausweichen musste.57 So wurde die Provinzbevölkerung auf zweierlei Weise mit Krankenhäusern konfrontiert: Zum einen erwartete man von ihr eine tatkräftige Unterstützung bei der Einrichtung von Stadtkrankenhäusern, die ihr dann auch offenstanden. Zum anderen waren Städte – und damit ihre Gesellschaften – dafür zuständig, Unterkünfte für kranke Militärangehörige zur Verfügung zu stellen: sei es in Form von Lazaretten, sei es durch die Unterbringung in Privathäusern. In der medizinischen Versorgung des Militärs übernahm die Provinzbevölkerung die Rolle des Dienstleistenden, der in keiner Weise von dieser Einrichtung profitierte, ja nicht einmal eine Entschädigung beanspruchen konnte. Die stationäre Behandlung der Kranken aus der Zivilbevölkerung war ähn­lich desolat organisiert wie die des Militärs. Der Stabsarzt des Kreises Tim im Gouvernement Kursk schilderte dem Kaiser 1804 die Lage der Kranken, für die es in seiner Stadt kein Hospital gab. Sein Haus werde täg­lich von kranken einfachen Leuten, meist Einhöfern, gleichsam belagert, schrieb der Arzt. Wegen ihrer Bedürftigkeit könnten sie sich keine Medikamente leisten. Solche Menschen verdienten Mitgefühl, vor allem seitens eines Arztes, der außerdem noch wisse, dass die Verweigerung von Hilfe seinerseits sowohl die Verbreitung von Krankheiten als auch den Tod von Menschen zur Folge haben könne. Soweit mög­lich, habe er die Kranken mit seinen privaten Medikamenten behandelt und einige von ihnen in seiner Küche untergebracht. Zum Schluss appellierte der Arzt an die Nächstenliebe des Kaisers und dessen Barmherzigkeit und beendete seinen Brief mit den Worten: „Soll ich meinem Bruder zusehen, wie er im Eiter vor meiner Tür liegt, und mein Herz ihm verschließen; hieße es nicht, ihn nicht zu lieben?“ 58 Als sich herausstellte, dass das Kursker Amt für gesellschaft­liche Fürsorge nicht in der Lage war, mit eigenen Mitteln

55 Gončarov, Materialy, S. 601. 56 Senatserlass vom 19. Januar 1764, in: PSZ I Bd. 16, Nr. 12.017, S. 500 – 501. 57 Siehe den erwähnten Fall von Olovjanišnikov und den kaiser­lichen Erlass vom 24. August 1808. GAVO f. i–135, op. 1, d. 3, l. 141 – 142. 58 Schreiben des Kreisstabsarztes von Tim, Jakov Gusinskij, an Alexander I. vom 2. Januar 1804. RGIA f. 1287, o. 11, d. 193, l. 4 – 8, hier l. 5 – 7ob., Zitat l. 7ob.

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die Errichtung eines Krankenhauses in Tim zu finanzieren, wurde auf Anordnung des Innenministers geprüft, inwieweit „andere Mittel“ zu diesem Zweck herangezogen werden könnten.59 Die Einrichtung von Krankenhäusern stellte demnach für Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge und Städte eine finanzielle Bürde dar, die sie nicht immer tragen konnten oder wollten. Auf der Suche nach weiteren Finanzierungsmög­lichkeiten fragte der Gouverneur den Gouvernementsadelsmarschall, ob der Adel vielleicht für dieses Unternehmen aufkommen könnte. Daraufhin erklärten sich zahlreiche Adlige bereit, Geld zu spenden. Einige versprachen, das Krankenhaus weiterhin finanziell zu unterstützen und es zusätz­lich mit Roggenmehl und Gries zu versorgen. Von diesem Impuls ausgehend sollten Krankenhäuser in drei weiteren Kreisstädten des Gouvernements Kursk eingerichtet werden. Das Amt für gesellschaft­liche Fürsorge zog sich in dieser Angelegenheit zudem nicht komplett zurück und sagte dem Krankenhaus seinerseits Zahlungen in Höhe von vierhundert Rubel im Jahr zu.60 Auf den ersten Blick mag die geschilderte Begebenheit aus Kursk als Beispiel für eine gelungene Kooperation zwischen staat­lichen Einrichtungen und dem lokalen Adel erscheinen. Frei­lich kann die Einbeziehung des Adels als Erfolg verbucht werden. Doch dieser Erfolg steht am Ende einer langen Kette von Ereignissen, die bei näherem Hinsehen manche Dysfunktionalitäten im System offenbaren. Die Initiative für die Krankenhausgründung ging in diesem Fall zwar von der Provinz aus, doch nicht von der lokalen Bevölkerung, sondern von einem im Gouvernement Kursk tätigen Arzt, der den Bedarf nach einer solchen Einrichtung erkannt hatte. Es ist nicht überliefert, ob er sich zunächst an andere Akteure auf lokaler Ebene – die Duma, die Medizinal- oder die Gouvernementsverwaltung – gewandt hatte, um die Mög­lichkeiten für einen Krankenhausbau vor Ort auszuloten. Aktiv wurden lokale Institutionen jedenfalls erst, nachdem die zentrale Verwaltung sie dazu aufgefordert hatte.61 Zwar zeugt die Bereitschaft mehrerer Adliger, sich am Bau und am Unterhalt des Krankenhauses zu beteiligen, von einer zumindest partiellen Zustimmung der lokalen Eliten zum Projekt. Die Passivität der lokalen Verwaltung deutet dagegen auf ein eher geringes, wenn nicht gar fehlendes Interesse ihrerseits

59 Schreiben des Innenministers, Viktor Kočubej, an den Gouverneur von Kursk, Pavel Protasov, vom 26. April 1804. RGIA f. 1287, o. 11, d. 193, l. 9 – 10. Mit seinem Unvermögen, die Gründung eines Krankenhauses zu finanzieren, stellte das Kursker Amt für gesellschaft­liche Fürsorge keinen Einzelfall dar. Auch das Amt von Nižnij Novgorod sah sich außerstande, mit eigenen Mitteln Krankenhäuser einzurichten. Siehe RGIA f. 1287, op. 11, d. 859, l. 3ob.–4. 60 Schreiben des Gouverneurs von Kursk, Pavel Protasov, an den Innenminister, Viktor Kočubej, vom 13. Dezember 1804. RGIA f. 1287, o. 11, d. 193, l. 12 – 16, hier l. 12ob.–14ob. 61 Dies musste nicht immer so sein. 1825 schlug der Gouverneur von Nižnij Novgorod vor, für die Zeit des Jahrmarkts ein Krankenhaus einzurichten. Siehe den kaiser­lich bestätigten Beschluss des Ministerkomitees vom 15. Juli 1826, in: PSZ II Bd. 1, Nr. 405, S. 572 – 573, hier S. 572.

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Orte der staatlichen Medizin

an der Einrichtung eines Hospitals. Das Amt für gesellschaft­liche Fürsorge hatte in diesem Fall ebenso wenig Eigeninitiative an den Tag gelegt, wie es die Eliten getan hatten. Damit hatte es seine gesetz­lich verankerte Pf­licht vernachlässigt. Es wirkte aber unterstützend mit, als die Pläne für Kreiskrankenhäuser Gestalt annahmen. Seine Rolle, die lokale Initiative zu wecken, hatte es in diesem Fall nicht erfüllt. Es leistete aber einen finanziellen Beitrag, auch wenn es – entgegen dem Ansinnen seiner Gründerin – bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts nicht die wirtschaft­liche Kraft entwickelt hatte, um als wichtigster Träger solcher Projekte zu fungieren. In dem ausführ­lich geschilderten Fall von Kursk, aber auch in den erwähnten Beispielen aus den Gouvernements Voronež und Jaroslavl’ lässt sich folgendes Grundmuster erkennen: Die lokalen Behörden übernahmen in der Regel entgegen den an sie gestellten Erwartungen nicht nur keine Initiative bei der Krankenhausgründung, sondern beteiligten sich oft erst auf Anweisung aus St. Petersburg an diesem Prozess. Doch trotz der Dysfunktionalitäten entstanden in der Provinz des Reiches Stadtkrankenhäuser. Wenn am Ende des achtzehnten Jahrhunderts im Gouvernement Jaroslavl’ die wenigsten Kreisstädte über ein Krankenhaus für die Zivilbevölkerung verfügten,62 so ergab die Inspektion im Jahr 1806 ein völlig verändertes Bild. Im Gouvernement Jaroslavl’ war es also gelungen, bis 1810 in allen Kreisstädten Krankenhäuser zu errichten. Selbst in denjenigen Städten, aus denen Schwierigkeiten in der Kommunikation mit der lokalen Verwaltung gemeldet wurden, existierten zu Beginn des Jahrhunderts Heilanstalten für die Zivilbevölkerung. In manchen Städten hatte man sogar Steinhäuser für Hospitäler errichtet – in der rus­ sischen Provinz um 1800 eine Seltenheit, die auf eine besondere Bedeutung der Einrichtung schließen lässt.63 Mit dieser Entwicklung des Krankenhausbaus gehört Jaroslavl’ zu jenen Gouvernements, die vergleichsweise früh ein Netz von zivilen Hospitälern aufbauten.

62 In Rybinsk existierte seit den späten 1770er bzw. 1780er Jahren ein Krankenhaus für Schiffsarbeiter. Die Angaben zum Gründungsjahr variieren. Siehe Lozinskij, Medicina Bd. 2, S. 131. 63 Veselovskij führt etwa das Krankenhaus des Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge in Voronež in seiner Liste der bemerkenswertesten Bauten der Stadt auf. Siehe Veselovskij, Očerk, S. 167 ff.

Das Stadtkrankenhaus: Ein Novum in der russischen Provinz

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Stadtkrankenhäuser im Gouvernement Jaroslavl’ im Jahre 1806 64 Stadt

Gebäudeart

Anzahl der Zim­ mer

Ausstattung für x Pati­ enten

Maximale Kapazität (Patienten)

Anzahl der Patienten bei der Inspektion

Jaroslavl’

k. A.

3

k. A.

k. A.

17

Danilov

Holzhaus

3

10a

12

2

Ljubim

Holzhaus

2

10

12

3

Mologa

Steinhaus

2

15

k. A.



Myškin

Holzhaus

5

10

40

1 –

Pošechon’e

Holzhaus

2

10

> 10

Romanov

Steinhaus

3

10

15

1

Rostov

Steinhaus

4

6

10



Rybinsk

Holzhaus

7

k. A.

70

2

Uglič

Holzhaus mit Steinfundament

5

10

50

2

a  Es fällt auf, dass es in den meisten Kreiskrankenhäusern zehn Betten gab. Dem Papier nach sollte es pro eintausend Einwohner ein Bett geben – Beschluss der Stadtduma von Uglič vom 28. April 1798, in: Kuročkin, Iz istorii, S. 56 – 58, hier S. 57 –; doch auch diese Rechnung gibt nicht den tatsäch­lichen Bedarf des jeweiligen Kreises wieder. Außerdem wurde dieses Verhältnis bei der Gründung der Krankenhäuser nicht eingehalten. Der Kreis Uglič zählte nach der fünften Revision 69.197 Einwohner, hinzu kamen 5815 Einwohner der Kreisstadt. (Angaben übernommen von Korenev, Opisanie, S. 51, 54.) Das Krankenhaus hätte demnach mindestens siebzig Betten haben müssen. Die Gouvernementsverwaltung hatte die Vorgabe allerdings nach unten korrigiert, so dass zunächst Heilanstalten für zehn Personen entstehen sollten. Siehe Kuročkin, Iz istorii, S. 56 f. Aller Wahrschein­lichkeit nach handelte es sich bei den zehn Betten um eine symbo­lische Zahl. So – für das 13. Jahrhundert in Westeuropa – Knefelkamp, Funktionswandel, S. 10.

Der Gouverneur von Voronež sah sich dagegen 1827 gezwungen, das Amt für gesellschaft­liche Fürsorge eindring­lich an seine Pf­licht zu erinnern, denn manche Kreisstädte mussten noch immer ohne Krankenhäuser auskommen. Das Amt drängte wiederum die säumigen Städte – Bogučar, Korotojak und Zemljansk –, nun end­ lich Hospitäler einzurichten.65 Im angrenzenden Gouvernement Tambov wurden die meisten Stadtkrankenhäuser zwischen 1803 und 1828 gegründet, und erst in der ersten Hälfte der 1830er Jahre waren alle Kreisstädte mit Hospitälern ausgestattet.66 In Voronež entstanden die meisten Kreiskrankenhäuser in den 1820er Jahren. Eine Tabelle soll die vergleichende Gesamtschau der drei Fallbeispiele erleichtern: 64 Die Angaben in der Tabelle beruhen auf den Protokollen der Inspektion von Stadtkrankenhäusern im Gouvernement Jaroslavl’ im Jahr 1806. GAJaO f. 86, op. 1, d. 65, l. 1 – 3. 65 Gončarov, Materialy, S. 637, 664. 66 Farber, Očerki istorii, S. 68.

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Orte der staatlichen Medizin

Krankenhausgründungen in den Gouvernements Jaroslavl’, Tambov und Voronež 67 Jaroslavl’

Tambov

Voronež

Stadt

Gründungsjahr Stadt

Gründungsjahr

Stadt

Jaroslavl’

ca. 1780

Tambov

ca. 1780

Voronež

1780

Danilov

vor 1806

Borisoglebsk

1803 – 1817c

Birjuč

1827

Ljubim

vor 1806

Elat’ma

frühe 1830er

Bobrov

1828

Mologa

1806

Kirsanov

1833

Bogučar

1790

Myškin

1799/1806d

Kozlov

1803 – 1817

Korotojak

1828

Pošechon’e

Beginn des 19. Jahrhunderts

Lebedjan’

1828

Nižnedevick

1827 – 1830

Romanov

Beginn des 19. Jahrhunderts

Lipeck

1803 – 1817

Novochopërsk 1827 – 1830

Rostov

1797

Moršansk

1803 – 1817

Ostrogožsk

Rybinsk

1788/1806

Šack

1803 – 1817

Pavlovsk

1824

Uglič

1798/1806g

Spassk

frühe 1830er

Valujki

1827

a

 f

b

Gründungsjahr

1807/1828e

Temnikov

1833

Zadonsk

vor 1830

Usman’

1829

Zemljansk

1828

a  In historischen Darstellungen finden sich bisweilen auch andere Angaben. Laut der topographischen Beschreibung des Gouvernements Jaroslavl’ aus dem Jahr 1800 wurde das Krankenhaus des Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge 1783 eröffnet (Korenev, Opisanie, S. 23); nach Osincev (Hg.), 225 let, S. 7 begann das Krankenhaus seine Tätigkeit bereits 1778. b  In Bezug auf das Gründungsjahr sind sich die Tambover Lokalhistoriker uneinig. In den einschlägigen Veröffent­lichungen findet sich entweder 1780 oder 1783 als das Gründungsjahr des Krankenhauses. c  Bei diesem und manchen anderen Krankenhäusern lässt sich das Gründungsjahr nicht genau ermitteln. d  Die von der Obrigkeit organisierte städtische Krankenpflege ist seit 1799 belegt. Ein eigens dafür erbautes Gebäude erhielt das Stadtkrankenhaus 1806. Lozinskij, Medicina Bd. 2, S. 114. Malinin, K dokladu, S. 176 gibt das Jahr 1807 als Zeitpunkt der Eröffnung des Krankenhauses an. e  Das Krankenhaus wurde 1807 gegründet, 1817 für die Zivilbevölkerung geschlossen und dem Militär übergeben, 1828 erneut für die Zivilbevölkerung geöffnet. Gončarov, Materialy, S. 640 f.

67 Die Angaben wurden den folgenden Veröffent­lichungen entnommen: Gasparjan, K istorii, Bde. 1, 3 und 4; Korenev, Opisanie; Gončarov, Materialy; Taradin, Materialy; Furmenko, Očerki; Ivanov; Artamonova; Babkina, Istorija; Mezencev (Hg.), Istorija; Bykova, Zdravoochranenie; Krylov, Istorija; Molčanova; Olonceva; Ščukin (Hg.), Tambov; Gorelov; Ščukin, Šli gody; Malinin, K dokladu; Lozinskij, Medicina Bd. 2; Kuročkin, Iz istorii; Beljaev, Zdravoochranenie; Bagin, Na službe; Stepanov, Otkrytie bol’nicy.

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f  Dieses Krankenhaus wurde mittels Spenden erbaut und war ausschließ­lich für Hafenarbeiter vorgesehen. Siehe Korenev, Opisanie, S. 68. g  Die Stadt Uglič hatte zwar schon im Jahr 1798 ein Krankenhaus eingerichtet, dieses war jedoch ausschließ­lich für Kaufleute und Händler vorgesehen. Ein Krankenhaus für Angehörige aller sozialen Gruppen wurde erst 1806 – nach vermut­lich ungenauen Angaben von Osincev (Hg.), 225 let, S. 7 – gegründet. Malinin, K dokladu, S. 175 verortet die Gründung im Jahr 1805. Siehe auch Kuročkin, Iz istorii, S. 57, 64; Bagin, Na službe, S. 161 ff.

Wie lässt sich der Unterschied zwischen den drei Gouvernements erklären? Zwei Sachverhalte scheinen für den Zeitpunkt der Krankenhausgründungen ausschlaggebend gewesen zu sein. Erstens haben die geschilderten Fälle aus Voronež, Tambov und Kursk gemeinsam, dass lokale Institutionen einen Bedarf an Krankenhäusern meldeten: Ärzte oder Vertreter der lokalen Verwaltung. Der Gouverneur von Voronež übte deswegen in den späten 1820er Jahren Druck auf das Amt für gesellschaft­liche Fürsorge aus, weil sich das in Voronež stationierte Militär über den Mangel an Krankenhäusern beklagt hatte. Nur in Bogučar ging die Krankenhausgründung im Jahre 1790 auf private Initiative zurück.68 Im Gouvernement Jaroslavl’ dagegen entstanden mindestens vier Krankenhäuser aus privater beziehungsweise lokalgesellschaft­licher Initiative:69 in Mologa, Myškin, Rybinsk und Uglič, allesamt im Jahre 1806. Im Gouvernement Tambov hatten städtische Gesellschaften Krankenhäuser in Kozlov und Moršansk gegründet.70 Es waren also nicht die Behörden, zu deren Aufgaben die Gründung von Krankenhäusern gehörte, sondern Privatpersonen aus der lokalen Kaufmannschaft, dem Adel oder ganze städtische Gesellschaften, die sich dieser Aufgabe widmeten. Dort, wo es freiwillige private Krankenhausstiftungen gab, entstand ein Netz an Krankenhäusern deut­lich früher als in Gegenden, in denen die Krankenhausgründung den Behörden überlassen blieb. Zweitens macht das Amt für gesellschaft­liche Fürsorge im Gouvernement ­Jaroslavl’ einen deut­lich aktiveren Eindruck als sein Pendant im Schwarzerdegebiet, vor allem in Voronež. Dies lässt sich an den Jahresbilanzen der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge ablesen. Im Jahr 1803 betrug das Eigenkapital des Amtes von Jaroslavl’ 235.802 Rubel, in Tambov waren es nur 83.954 Rubel, in Voronež ledig­lich 74.825 Rubel. Auch die Einnahmen der drei Ämter unterschieden sich. Während das Amt für gesellschaft­liche Fürsorge in Jaroslavl’ im Laufe des Jahres 1803 9371 Rubel eingenommen hatte, erreichten die Einnahmen des Amtes von Tambov 5333 Rubel, diejenigen des Amtes von Voronež gerade einmal 5008 Rubel.71 Damit war der finanzielle Spielraum des Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge von

68 Gončarov, Materialy, S. 668. 69 Siehe auch Kapitel 5.2. 70 Otčet za 1804 god, S. 121. 71 Tabeli k otčetu za 1803 god, Tabelle 21, o. S. Die Angaben wurden auf- bzw. abgerundet.

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Jaroslavl’ um ein Vielfaches größer als im Schwarzerdegebiet, was auch den Krankenhäusern für die Zivilbevölkerung im nörd­lichen Gouvernement zugutekam. Die Zentralmacht begrüßte die lokale Initiative im Bereich des Gesundheitswesens, erhob jedoch den Anspruch, Projekte zum Bau jedes einzelnen Krankenhauses selbst zu überprüfen, und behielt sich vor, diese endgültig zu bewilligen oder abzulehnen. So hatte zum Beispiel im Jahre 1821 die Entscheidung des Gouverneurs von Penza, in der Kreisstadt Saransk ein Krankenhaus errichten zu lassen, die Aufmerksamkeit des Innenministeriums auf sich gezogen. Zum Stein des ­Anstoßes wurden die Baukosten, die der Verwaltung in Petersburg ungerechtfertigt hoch erschienen. Der Gouverneur musste die Bauarbeiten unterbrechen lassen, bis sich das Innenministerium von seinem Kostenvoranschlag überzeugen ließ und nach einem monatelangen Briefwechsel den Bau schließ­lich genehmigte.72 Hospitäler gehörten zu den meistbeachteten Einrichtungen einer rus­sischen Provinzstadt. Im Mai 1805 fand in Rybinsk die feier­liche Fundamentlegung für ein Krankenhaus statt. Nach einem Gottesdienst versammelten sich die Einwohner der Kreisstadt, um diesem Ereignis beizuwohnen.73 Auch das neugegründete Krankenhaus des Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge von Jaroslavl’ eröffnete am Namenstag des Kaisers, dem 30. August 1821. Der Gesamtkomplex war schon allein wegen seiner Größe beeindruckend: Er könne einhundertfünfzig Kranke aufnehmen, schrieb der Gouverneur begeistert an das Innenministerium. Das Krankenhausgebäude wurde feier­lich und mit einem Gottesdienst eröffnet. Der Archimandrit weihte alle Zimmer.74 Diese offiziellen Schriftstücke erwecken den Eindruck, dass die Eröffnung eines Krankenhauses in der Provinz zu den wichtigen Ereignissen im öffent­lichen Leben einer Stadt gehörte.75 Die kaiserliche Politik zielte darauf ab, die Bedeutung solcher Einrichtungen hervorzuheben. Dafür standen ihr unterschied­liche Mittel zur Verfügung. Als

72 Schreiben des Gouverneurs von Penza, Fëdor Lubjanovskij, an den Leiter des Innenministeriums vom 7. Juni 1821. RGIA f. 1287, op. 12, d. 23, l. 2 – 2ob., hier l. 2; Schreiben des Innenministers, Viktor Kočubej, an den Gouverneur von Penza, Fëdor Lubjanovskij, vom 13. Oktober 1821. RGIA f. 1287, op. 12, d. 23, l. 36. 73 Bericht der Stadtpolizei von Rybinsk an den Gouverneur von Jaroslavl’, Michail Golicyn, vom 20. Mai 1805. GAJaO f. 73, op. 1, d. 531, l. 38. 74 Schreiben des Gouverneurs von Jaroslavl’, Aleksandr Bezobrazov, an den Innenminister, Viktor Kočubej, vom 4. September 1821. GAJaO f. 73, op. 1, d. 1205, l. 16 – 20, hier l. 18 f. Viel Aufsehen hatte laut dem Bericht des Militärgouverneurs auch die Eröffnung des Krankenhauses in Smolensk hervorgerufen. Siehe das Schreiben des Militärgouverneurs von Smolensk, Stepan Apraksin, an den Innenminister, Viktor Kočubej, vom 12. Oktober 1805. RGIA f. 1287, op. 11, d. 194, l. 1 – 2, hier l. 1ob. 75 Auch die Eröffnung von Schulen gehörte zu den herausragenden Ereignissen im öffent­lichen Leben eines Gouvernements. Siehe dazu Kusber, Eliten- und Volksbildung, S. 241 ff.; Kuprijanov, Kul’tura, S. 24 – 29.

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zum Beispiel 1783 der Generalgouverneur von Novgorod und Tver’ vorschlug, in ­Novgorod auf dem Gelände eines verlassenen Klosters ein Krankenhaus, ein Zuchtund ein Arbeitshaus zu errichten, spendete K ­ atharina II. dem Novgoroder Amt für gesellschaft­liche Fürsorge zu diesem Zweck dreitausend Rubel.76 Auch architektonisch sollten sich Krankenhäuser von den übrigen Bauten abheben und ähn­lich wie andere staat­liche Einrichtungen den Fortschritt repräsentierten. So war das Lazarett in Voronež Ende des achtzehnten Jahrhunderts in einem der wenigen Stein­häuser untergebracht, was dieser Institution eine besondere Bedeutung verlieh.77 In der Regierungszeit Alexanders I. ging die symbo­lische Politik in eine ähn­liche Richtung. Als der Kaiser im Frühjahr 1818 das Gouvernement Voronež besuchte, standen neben der Besichtigung der Gerichtsämter ein Besuch im Militärlazarett und im Stadthospital auf dem Programm. Dieses Ritual, dem eine große Zuschauer­menge beiwohnte, manifestierte die Bedeutung der Krankenhäuser immer wieder aufs Neue.78 Was bedeuten diese Befunde für die Frage nach der Verteilung von Verantwortung zwischen Hauptstadt und Provinz? Die unter K ­ atharina II . ins Leben gerufenen Verwaltungs- und Selbstverwaltungsorgane – Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge und Stadtdumas – hatten dem Papier nach weitgehende Vollmachten über die Gründung von Krankenhäusern in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich. Sie sollten vor allem Vorarbeit für die Einrichtung der Heilanstalten leisten, indem sie einen geeigneten Ort ermittelten, die Finanzierung des Projekts sicherstellten und seine Ausführung überwachten. Die endgültige Entscheidung über den Bau eines Krankenhauses wurde allerdings in St. Petersburg getroffen, wo Baupläne und Kostenvoranschläge geprüft wurden. Die überlieferten Kommunikationswege, die im Vorfeld der Errichtung mancher Hospitäler beschritten wurden, zeigen, dass Akteure auf lokaler Ebene – allen voran Verwaltungs- und Selbstverwaltungs­organe – nicht immer ihren Pf­lichten in diesem Bereich nachgingen und damit eine stärkere Zentralisierung der Abläufe verursachten. Die bestehenden Institutionen in der Provinz erfüllten ihren Zweck als Gründer von Krankenhäusern, wenn vor Ort ein gewisses Maß an Initiative vorhanden war. War dies nicht der Fall, wurde Initiative durch Anweisungen aus St. Petersburg und Zwang ersetzt.

76 Kaiser­licher Erlass vom 23. Februar 1783, in: PSZ I Bd. 21, Nr. 15.670, S. 871 – 872. 77 Siehe Bolchovitinov, Opisanie, S. 53. 78 Dnevnik kupca Kapkanščikova, S. 191. Siehe dazu auch Wortman, Scenarios Bd. 1, S. 238 – 243. In Perm’ besuchte Alexander I. das Militärhospital. Wortman, Scenarios Bd. 1, S. 241. Siehe auch Veselovskij, Očerk, S. 181.

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Der Alltag in den Heilanstalten Bei der Einrichtung von Krankenhäusern – genauso wie in anderen Bereichen des Medizinal­wesens – griff Russland auf Erfahrungen von Staaten zurück, in denen öffent­liche Heilanstalten eine längere Tradition aufwiesen. In den Jahren 1785 und 1786 waren zum Beispiel zwei Mediziner im Auftrag des Staates in England und Frankreich unterwegs, um medizinische Geräte einzukaufen und die Einrichtung von Krankenhäusern zu studieren.79 Zwar entsprach das Ergebnis dieser Reise nicht den Hoffnungen, die in die beiden Mediziner gesetzt wurden – das vorgelegte Bauprojekt übernahm das Äußere eines franzö­sischen Hospitals, passte das Gebäude aber nicht den klimatischen Bedingungen in Russland an 80 –, doch insgesamt kann es als ein Hinweis darauf gedeutet werden, dass die Ideengeber in der zarischen Medizinal­politik bestrebt waren, die neuesten Erkenntnisse des Krankenhausbaus aus dem Westen Europas zu übernehmen. Unterschiede zwischen der Intention des Gesetzgebers und deren Umsetzung lassen sich nicht nur bei der Gründung der Krankenhäuser beobachten. Eine – wohl wenig überraschende – Diskrepanz existierte auch zwischen vorgeschriebener Ordnung und den tatsäch­lichen Verhältnissen in den Hospitälern. Ein Blick in Krankenhausstatuten und in den Alltag der Provinzkrankenhäuser soll Antworten auf folgende Fragen ermög­lichen: Welche Vorstellungen von Heilanstalten existierten bei den Urhebern der Medizinal­gesetze und welchen Stellenwert hatte deren Implementation im medizinischen Alltag der Provinz? Bereits um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts gab es Regeln für die Einrichtung einer Heilanstalt, die in dem jeweiligen Gründungsstatut enthalten waren. Die Statuten bezogen sich nicht nur auf Krankenhäuser, die als solche errichtet und ihrem Zweck entsprechend konzipiert wurden. Auch für die provisorische Unterbringung von Kranken hatte die oberste Verwaltung Vorschriften erlassen. Wegen seines frühen Entstehungsdatums soll hier ein Statut für ein Regimentslazarett aus dem Jahre 1766 angeführt werden, dessen Bestimmungen Bereiche abdecken, die auch in späteren Regelwerken für zivile Krankenhäuser Erwähnung fanden.81 Das Haus hatte in einer ruhigen Gegend mit ausreichend frischer Luft – also am Stadtrand – zu stehen. Alle Zimmer und die Küche waren stets sauber zu halten und mussten regelmäßig gereinigt und ausgeräuchert werden. Feuchtigkeit, Unreinheit

79 Siehe den Brief von Semën Voroncov an Aleksandr Voroncov vom 7. Juli 1786, in: Archiv knjazja Voroncova Bd. 9, S. 64 – 67 und den Brief von Aleksandr Bezborodko an Semën Voroncov vom 14. November 1785, in: Archiv knjazja Voroncova Bd. 13, S. 103. 80 Siehe Archiv knjazja Voroncova Bd. 9, S. 65. 81 Siehe etwa die Vorschriften für die Einrichtung des Krankenhauses beim Amt für gesellschaft­liche Fürsorge in Voronež bei Veselovskij, Očerk, S. 138.

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und Gestank durften sich nirgends ausbreiten. Für die Kranken sollte es Matratzen mit Bettlaken geben, die man häufig wechseln musste. Decken sollten aus Flanell, Nachtmützen aus Wolle oder aus Steppleinen sein. Das Kochgeschirr hatte stets sauber zu sein. Es sollte gutes Essen geben, da es fast die gleiche positive Wirkung wie Medikamente habe. Patienten mit ansteckenden Krankheiten waren in einem separaten Zimmer unterzubringen. Jeden Morgen sollte diese Stube gereinigt und mit Wacholder ausgeräuchert werden.82 Indem es den gesamten Alltag den medizinischen Anforderungen unterwarf, verbriefte dieses Statut die medizinische Autorität in einem Krankenhaus. Diese Vorschrift für Regimentslazarette erscheint im Vergleich zu späteren Krankenhausstatuten recht allgemein gehalten. Bereits im neuen Verwaltungsstatut für die Gouvernements aus dem Jahr 1775 war der Krankenhausalltag viel genauer geregelt. Ein Blick in die Abschnitte über die Aufnahme und den Unterhalt der Kranken sowie über die Pf­lichten des Krankenhauspersonals erscheint lohnend, um die Vorstellungen und Ansprüche klar zu umreißen, an denen die Zeitgenossen den tatsäch­lichen Zustand der Heilanstalten maßen. Jeder Neuankömmling, für dessen Aufnahme ins Krankenhaus die Zustimmung des Hauptinspektors notwendig war, sollte zunächst seine eigene Kleidung für die Dauer des Aufenthalts gegen eine Hospitalkluft eintauschen. Diese bestand aus einem leinenen Schlafrock, einem Hemd, einer Nachtkappe, Strümpfen, Hosen und Schuhen. Die Anzahl der Kranken war für jedes Hospital begrenzt und durfte nicht überschritten werden. Für die vorgesehene Zahl der Patienten waren stets Bettzeug, Geschirr und drei Sätze Bettwäsche bereitzuhalten. Neben jedem Bett musste ein kleiner, mit Wachstuch bedeckter Tisch stehen, darauf ein Zinnbecher, eine Tasse und eine kleine Glocke, um einen Pfleger zu rufen. Die Essenszeiten waren genau festgelegt: Mittagessen sollte um zehn Uhr vormittags, Abendbrot um sechs Uhr abends serviert werden. Es war strengstens darauf zu achten, dass niemand Unbefugtes den Kranken etwas gab, zum Beispiel Essen.83

82 Siehe die Instruktion an den Oberst des Kavallerieregiments vom 14. Januar 1766, in: PSZ I Bd. 17, Nr. 12.543, S. 481 – 529, hier S. 493. Diese Regelungen wurden auch für die Einrichtung der Krankenhäuser durch Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge in die Gouvernementsordnung des Jahres 1775 aufgenommen. Siehe PSZ I Bd. 20, Nr. 14.392, S. 272 f. Als Beispiel für eines der frühesten detaillierten Krankenhausstatuten siehe das Statut des Paul-Krankenhauses in Moskau von 1764. RGIA f. 10, op. 2, d. 271. Der Kern dieser allgemeinen Regeln blieb auch im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts bestehen. Allerdings wurden in der Instruktion für Einrichtungen des Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge Krankenhäuser in der Stadt bevorzugt. Alternativ sollten sie sich in einer nicht zu großen Entfernung von der Stadt befinden. Auch widmeten die neuen Regeln dem Schutz der Krankenhäuser vor Lärm und Staub mehr Aufmerksamkeit. Siehe die Instruktion für die Errichtung gottgefälliger Einrichtungen der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge vom 25. Juni 1823, in: PSZ I Bd. 38, Nr. 29.516a, S. 1043 – 1058, hier S. 1044 f. 83 PSZ I Bd. 20, Nr. 14.392, S. 276. Der Stil der Krankenhausstatuten wurde für die Einrichtungen der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge auch im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts beibehalten.

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Die Regeln für die Einrichtung des Hospitals zeigen, dass es sich um eine Domäne handelte, die der Logik medizinischer Notwendigkeit unterworfen und vor Einflüssen aus der Welt jenseits der Krankenhausmauern geschützt werden sollte.84 In diesem Bereich besaß das medizinische Personal dem Gesetz nach die absolute Autorität. Seit dem späten achtzehnten Jahrhundert bemühte man sich, in Krankenhäusern solche Bedingungen zu schaffen, die nach den zeitgenös­sischen Vorstellungen ideal waren, um die ärzt­liche Behandlung zu unterstützen. Diese minutiöse Reglementierung des Alltags in den Heilanstalten war ein wesent­liches Merkmal der entstehenden Klinik.85 1818 erschien ein neues Statut für Krankenhäuser der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge. Darin wurden Konsequenzen aus den bisherigen Erfahrungen mit Krankenhäusern gezogen und zugleich der Versuch unternommen, diese Einrichtungen besser im städtischen Leben zu verankern. In medizinischen Fragen unterstanden solche Krankenhäuser dem zivilen Generalstabsdoktor, die allgemeine Verwaltungshoheit hatte der Polizeiminister inne.86 Das neue Statut sah unter anderem vor, die lokale Bevölkerung besser über die in ihrem Ort existierenden Heilanstalten zu informieren. In den beiden Hauptstädten sollte das offizielle Nachrichtenblatt Sanktpeterburgskie beziehungsweise Moskovskie vedomosti, in allen anderen Städten die Polizei die Einwohner davon in Kenntnis setzen, wer und auf welche Weise ins Krankenhaus aufgenommen werden konnte. Außerdem sollte man die Bevölkerung auffordern, Kranke frühzeitig ins Hospital zu schicken und nicht erst dann, wenn die Krankheit schon weit fortgeschritten und eine Heilung unwahrschein­lich war.87 Die oberste Verwaltung war sich offenbar bewusst, dass medizinische Einrichtungen auch im frühen neunzehnten Jahrhundert in Bezug auf ihre Funktionsweise noch keine allgemein bekannten und akzeptierten Institutionen darstellten. Das neue Statut enthielt eine Reihe von Bestimmungen, welche die innere Einrichtung der Krankenhäuser betrafen. Eine wichtige Neuerung gegenüber der bisherigen Praxis war die Reservierung einiger Betten für Notfälle.88 Wie schon



Siehe etwa den kaiser­lichen Erlass vom 8. April 1826, in: PSZ II Bd. 1, Nr. 244, S. 340 – 341, hier S. 340. Speisevorschriften enthält etwa auch der Ernährungsplan für Kranke in St. Petersburger Stadtkrankenhäusern, o. D. RGIA f. 1287, op. 11, d. 960, l. 25 – 28. 84 Ähn­lich auch in Frankreich. Zu Krankenhausordnungen vom späten 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert siehe Thalamy, Médicalisation, S. 44 – 49. 85 Dazu gehören auch strenge Hierarchien innerhalb einer Heilanstalt. Jütte, Vom Hospital zum Krankenhaus, S. 40 – 44. 86 Projekt des Statuts für Krankenhäuser der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge von 1818. RGIA f. 1287, op. 12, d. 75, l. 5 – 65, hier l. 7. 87 Ebd., l. 12.–12ob. Gegen dieses Verhalten versuchte die Obrigkeit bereits während der Pestepidemie der 1770er Jahre anzukämpfen. Siehe Alexander, Bubonic Plague, S. 220. 88 RGIA f. 1287, op. 12, d. 75, l. 14.

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bei der Einrichtung der ersten Hospitäler im Land sollten Krankenhäuser auch im neunzehnten Jahrhundert keine Menschen mit unheilbaren Krankheiten aufnehmen. Für diese seien spezielle Einrichtungen zuständig.89 Die Existenz genauer Vorschriften für den Alltag und die verschiedenen Dienstab­ läufe in den Krankenhäusern bedeuteten mitnichten, dass die Statuten die tatsäch­ liche Situation in den Hospitälern abbildeten. Sie stellten vielmehr allgemeine Regelwerke dar, die zeitgenös­sische Idealvorstellungen von der Funktionsweise einer solchen Einrichtung widerspiegelten. Zwischen der Schilderung einer idealen Heilanstalt und dem tatsäch­lichen Zustand der Krankenhäuser in der rus­sischen Provinz herrschte bisweilen ein gewaltiger Unterschied. Quellen über den Zustand der Krankenhäuser stammen meist von den Inspektoren der lokalen Medizinal­behörden, denen die regelmäßige Kontrolle über die Hospitäler im jeweiligen Gouvernement aufgetragen war.90 Wenn Paul I. im Frühjahr 1797 das Generalhospital in St. Petersburg besuchte und die dortigen unerfreu­lichen Zustände zum Anlass nahm, den Direktor des Medizinal­kollegiums persön­lich mit der Aufsicht über Krankenhäuser im ganzen Reich zu beauftragen,91 dann reagierte er nicht auf anfäng­liche Schwierigkeiten einer jungen Institution. Eine Inspektion aus dem Jahre 1832 förderte Ergebnisse zu Tage, die darauf hindeuten, dass es chronische Probleme waren. Über das Hospital in Ustjug im Gouvernement Novgorod hieß es im Bericht: Das Krankenhaus sei „eng und unbequem, die Wäsche abgenutzt, das Essen schlecht“.92 Im Tichviner Krankenhaus desselben Gouvernements würden Kranke „in Unsauberkeit gehalten“.93 In einem Kreiskrankenhaus im Gouvernement Tver’ hätten Patienten keine Winterkleidung. Im Hospital von Pokrovsk im Gouvernement Vladimir gebe es keine Küche. Im Gouvernement Kostroma sei ein Krankenhaus nicht ausreichend ausgestattet, das andere bedürfe dringender Reparaturen, so der Bericht. Im Gouvernement Nižnij Novgorod stellten die Inspektoren in acht Stadthospitälern einen

89 Ebd., l. 18 – 19. Dasselbe wurde auch bei der Gründung der Marienkrankenhäuser für Arme in St. Petersburg und Moskau zu Beginn des 19. Jahrhunderts festgelegt. Siehe kaiser­lich bestätigte Projekte vom 1. Februar 1803, in: PSZ I Bd. 27, Nr. 20.607, S. 449 – 454, hier S. 453. Dem Verbot, unheilbare Kranke in ein Krankenhaus aufzunehmen, begegnet man zur selben Zeit auch in anderen europäischen Ländern. Für den deutschsprachigen Raum siehe Brinkschulte, Krankenhaus, S. 147 – 151; Stollberg, Herausbildung, S. 227 f. Als Beispiel für die Britischen Inseln sei genannt: Risse, Mending Bodies, S. 235. 90 Kaiser­licher Erlass an das Medizinal­kollegium vom 2. April 1797, in: PSZ I Bd. 24, Nr. 17.902, S. 522 – 523, hier S. 523. 91 Ebd., S. 522. 92 Auszug aus dem Bericht über Unzuläng­lichkeiten in Stadtkrankenhäusern im Jahr 1832, o. D. RGIA d. 1287, op. 12, d. 1140, l. 2 – 4, hier l. 2. 93 Ebd.

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Mangel an Wäsche fest und befanden einen beträcht­lichen Teil der Ausstattung für zu alt. Insgesamt wurde der Zustand von Krankenhäusern in vierzig Kreisstädten kritisiert. Die inspizierten Gouvernements lagen allesamt im europäischen Teil des Reiches: Novgorod, Tver’, Vladimir, Kostroma, Nižnij Novgorod, Kazan’, ­Simbirsk, Vjatka, Perm’, Tambov, Voronež und Taurien.94 Bei Unzuläng­lichkeiten in der Einrichtung der Heilanstalten handelte es sich jedoch nicht immer um Alterserscheinungen, die nicht rechtzeitig behoben worden waren. Das Alexander-Krankenhaus in der Gouvernementsstadt Simbirsk, das vom lokalen Adel gestiftet worden war, hatte laut dem Bericht des Gouverneurs schon bei seiner Einrichtung nicht seiner Bestimmung entsprochen.95 Die Bauarbeiten am Hospitalgebäude in der Stadt Verchneudinsk im Gouvernement Irkutsk waren noch nicht abgeschlossen, als das Krankenhaus seinen Betrieb aufnahm. So hatten viele Fenster auch Jahre später keine Läden, und die Wände verfaulten, weil das Dach nicht fertiggebaut worden war.96 Obwohl die medizinische Versorgung des Militärs während des gesamten Untersuchungszeitraums eine hohe Priorität genoss, folgte daraus nicht zwangsläufig eine bessere Ausstattung der militärmedizinischen Einrichtungen. Welche Ausmaße die Mängel an Krankenhausgebäuden annehmen konnten, zeigt der Bericht über ein Rekrutendepot in Jaroslavl’. Ein Generalmajor, der die Anstalt inspizierte, stellte fest, dass bei schlechtem Wetter der Schnee durch die Ritzen komme und sich unter den Krankenbetten ansammle.97 Die unzähligen Beschwerden über Mängel an Krankenhäusern betrafen nicht nur den Zustand der Gebäude oder die Einrichtung. Ein Kreisarzt aus dem Gouvernement Voronež klagte in den 1820er Jahren über fehlende Medikamente und die schlechte Verpflegung der Kranken.98 Es handelte sich dabei nicht um einen Einzelfall. Dem Gouverneur von Jaroslavl’ wurde 1822 ein Bericht über folgenden Missstand vorgelegt: Patienten des Krankenhauses, das vom Amt für gesellschaft­liche 94 Ebd., l. 2 – 4. Taradin zitiert Berichte einzelner Kreisärzte über die jeweiligen Krankenhäuser aus den ersten Dezennien des 19. Jahrhunderts, die der Medizinal­behörde von Voronež über diverse Mängel berichteten. Entsprechend negativ fällt sein Urteil über Provinzkrankenhäuser aus: Taradin, Materialy, S. 536 – 539. 95 Schreiben des Gouverneurs von Simbirsk, Andrej Luk’janovič, an den Innenminister, Balthasar von Campenhausen, vom 10. März 1823. RGIA f. 1287, op. 12, d. 108, l. 1 – 2, hier l. 1. 96 Schreiben des Generalgouverneurs von Sibirien, Ivan Pestel’, an den Polizeiminister, Aleksandr Balašov, vom 4. Juli 1811. RGIA f. 1287, op. 11, d. 796, l. 1 – 3, hier l. 1. 97 Bericht des Kriegsministers, Michail Barclay de Tolly, an den Gehilfen des Innenministers, Osip Kozodavlev, vom 11. April 1810. GAJaO f. 73, op. 4, d. 34, l. 2 – 2ob., hier l. 2. Auch das Hospital der 6. Infanteriedivision entsprach nicht den Vorschriften. Siehe das Schreiben des Befehlshabers der 6. Infanteriedivision an den stellvertretenden Gouverneur von Jaroslavl’, Nikolaj Juškov, vom 25. März 1820. GAJaO f. 73, op. 3, d. 135, l. 58 – 59, hier l. 58ob. 98 Taradin, Materialy, S. 537.

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Fürsorge betrieben wurde, bekamen weder Brot noch Rindfleisch. Lebensmittel, die für Kranke bestimmt waren, benutzte der Inspektor der Einrichtungen des Amtes zur Verpflegung seiner eigenen Bediensteten. Auch gab er gelegent­lich mehr Patien­ten an, als sich tatsäch­lich im Krankenhaus aufhielten, um ihre Essensrationen einzustreichen.99 Über den Verbreitungsgrad solcher Missbräuche lassen sich keine begründeten Aussagen machen, doch handelte es sich hierbei vermut­lich nicht um eine seltene Ausnahmeerscheinung. Im Gouvernement Voronež bekamen Krankenhaus­ patienten ebenfalls nicht immer das Essen, das für sie im Statut vorgesehen war.100 Auch die Hygieneverhältnisse in Krankenhäusern ließen den zeitgenös­sischen Vorstellungen zufolge zu wünschen übrig. Nachdem beim Generalstabsdoktor Beschwerden über den Zustand des Petersburger Obuchov-Krankenhauses eingegangen waren, inspizierte er zusammen mit seinem Assistenten die Anstalt und fand vieles zu beanstanden. So trugen Kranke entgegen den Vorschriften ihre eigene Kleidung, da die im Krankenhaus vorhandene Wäsche alt, unbrauchbar und schmutzig war. Das Verbandmaterial war dem Bericht des Stabsdoktors zufolge „mit Eiter durchtränkt und für die Kranken ziem­lich schäd­lich“.101 Zu den am schlechtesten versorgten Kranken gehörten Sträflinge. Laut dem Bericht eines Kreisarztes aus Myškin aus dem Jahr 1798 bekämen kranke Arrestanten gar kein Essen und stürben „im Dreck und in der Enge“.102 Sein Kollege in Rostov sah sich gezwungen, Sträflinge mit seinen eigenen Medikamenten zu behandeln, weil für sie seinem Ermessen nach keine staat­lich finanzierten Heilmittel vorgesehen waren. Das Zimmer im Stadtkrankenhaus, in dem sie untergebracht waren, verfügte gerade einmal über zwei Matratzen.103 Für Sträflinge in Pošechon’e hatte

99 Bericht des Beraters der Gouvernementsverwaltung von Jaroslavl’, Krylov, an den Gouverneur, Aleksandr Bezobrazov, vom 26. September 1822. GAJaO f. 73, op. 1, d. 1448, S. 1 – 2ob., hier l. 1 – 1ob. 100 Siehe die Anordnung des Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge von Voronež an die Stadtduma von Borisoglebsk vom 29. November 1838. GAVO f. i–135, op. 1, d. 53, l. 255 – 255ob. 101 Schreiben des Stabsdoktors, Alexander Crichton, an den stellvertretenden Polizeiminister, Sergej Vjazmitinov, vom 21. August 1812. RGIA f. 1287, op. 11, d. 960, l. 5 – 12, hier l. 6 – 7. 1800 hatte der Inspektor der Medizinal­behörde von Jaroslavl’ ebenfalls die Qualität der Verbände bemängelt. Siehe den Bericht der Medizinal­behörde an den Gouverneur von Jaroslavl’, Nikolaj Aksakov, vom 13. März 1800. GAJaO f. 73, op. 1, d. 160, l. 1 – 1ob. 102 Bericht des Kreisarztes von Myškin, Andrej Černoglazov, an die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom Mai 1798. GAJaO f. 86, op. 1, d. 6, l. 52 – 52ob., hier l. 52. 103 Bericht des Kreisarztes von Rostov, Pёtr Rel’, an die Medizinal­behörde von Jaroslavl’, o. D. [1797 oder 1798]. GAJaO f. 86, op. 1, d. 6, l. 17 – 19, hier l. 17. Auch wenn kranke Arrestanten in ihrem jeweiligen Gefängnis behandelt wurden, waren die Bedingungen bisweilen katastrophal. Das Gefängnis von Pošechon’e verfügte nicht einmal über Waschräume für kranke Sträflinge. Siehe den Bericht des Kreisarztes von Pošechon’e, Vasilij Perevedencov, an die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 2. Februar 1827. GAJaO f. 86, op. 1, d. 342, l. 1a–1a ob., hier l. 1a.

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die dortige Duma nicht einmal Betten zur Verfügung gestellt.104 Bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein wurde ein bedeutender Teil der Versorgung von Gefängnisinsassen von Freiwilligen geleistet.105 In Bezug auf die medizinische Behandlung existierten für Angehörige unterschied­ licher sozialer Gruppen unterschied­liche Regelungen. So waren für Patienten entsprechend ihrem Status jeweils andere Arzneimittel vorgesehen. Es war gesetz­lich festgelegt, mit welchen Medikamenten etwa Sträflinge auf Staatskosten behandelt werden durften. Dabei handelte es sich um preisgünstige Heilmittel. Teurere Arzneien sollten Ärzte – dabei meinte man explizit „ausländische Ärzte“ –, wenn sie es für nötig hielten, ihren Privatpatienten verschreiben, die ihre Medizin selbst bezahlten.106 Dieser Regelung lag die Idee zugrunde, den unteren Schichten der Gesellschaft eine minimale medizinische Versorgung zu gewähren, die allerdings die Staatskasse nicht über Gebühr belasten sollte. Die Prioritäten bei der medizi­ nischen Versorgung entsprachen der Bedeutung, die diese oder jene gesellschaft­ liche Gruppe für die Staatsgewalt hatte. In einer Hierarchie, die nach den Kategorien Ansehen und Nutzen aufgebaut war, standen Gefängnisinsassen und zur Zwangsarbeit Verurteilte ganz unten. Die Auswirkungen der geschilderten Mängel konnten gravierend sein. Die hohe Sterb­lichkeitsrate im Alexander-Krankenhaus in Simbirsk wurde als eine Folge der fehlerhaften Einrichtung angesehen. Sie wurde 1817 zum Gegenstand eines Briefwechsels zwischen der lokalen und der zentralen Verwaltung. Die Anlage des Hospitals ermög­lichte den Berichten zufolge keinerlei Ventilation. Zwei Krankenzimmer seien im Winter wegen Kälte unbenutzbar. Auch die Unterbringung der Kranken entsprach nicht den Vorschriften. Sträflinge teilten sich die Zimmer mit Adligen. Folgenschwerer dürfte jedoch gewesen sein, dass Patienten mit ansteckenden Krankheiten nicht von den übrigen getrennt untergebracht wurden.107

104 GAJaO f. 86, op. 1, d. 342, l. 1a. Siehe auch den Bericht des Polizeimeisters von Rostov an den Gouverneur von Jaroslavl’, Aleksandr Bezobrazov, vom 2. Juni 1823. GAJaO f. 73, op. 4, d. 252, l. 3 – 3ob. 105 So soll Anna Labzina zusammen mit ihrer Mutter in den 1760er Jahren kranke Gefängnisinsassen gepflegt haben – für das Selbstverständnis der zutiefst christ­lichen Frau und das Bild ihrer Mutter als „Beispiel vollendeter christ­licher Tugend“ eine überaus wichtige Tat. Siehe Labzina, Vospominanija, S. 7 f. und Schmähling, Tugendpfad, S. 151. 1830 wurde ein Gefängnis-Schutzkomitee eingerichtet, in dem auch der ehemalige Moskauer Physikus Friedrich Josef Haass mitwirkte. Koni, Haass, S. 44 ff. 106 Sitzungsprotokoll der Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 10. März 1800. GAJaO f. 86, op. 1, d. 10, l. 220ob.–221, hier l. 220ob. 107 Schreiben des Generalstabsdoktors, Alexander Crichton, an das Wirtschaftsdepartement des Polizeiministeriums vom 3. September 1817. RGIA f. 1287, op. 11, d. 1600, l. 1 – 2, hier l. 1ob. Dies war laut Taradin bei einer Inspektion der Krankenhäuser in Voronež zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch der Fall. Taradin, Materialy, S. 541. Die mangelhaften räum­lichen Verhältnisse wurden in

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Bei der Errichtung eines Krankenhauses wurde – zumindest in der Theorie – seiner Lage große Bedeutung beigemessen. So sollte ein Krankenhaus nicht zu nah an Wohnhäusern gebaut werden. Zu beachten war ebenfalls, dass Heilanstalten gemäß der im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert verbreiteten Miasmen-­Theorie an offenen, gut belüfteten Plätzen flussabwärts zu errichten waren. Auch sollte die Lage so gewählt werden, dass der Wind die Ausdünstungen nicht zur Stadt hin tragen konnte.108 Diese Regeln ließen sich jedoch nicht immer einhalten. Besonders problematisch schien es bisweilen, eine angemessene Unterbringung für kranke Militärangehörige zu finden – die größte Patientengruppe im Rus­sischen Reich. So waren Kranke eines in Tambov stationierten Infanterieregiments im Jahre 1823 auf über ein Dutzend Wohnhäuser verteilt. Erst als die Zahl der Fieberkranken deut­ lich zugenommen hatte, machten sich die Befehlshaber des Regiments zusammen mit der lokalen Verwaltung daran, ein Gebäude für ein Lazarett auszusuchen. Es wurde jedoch kein Hospitalgebäude errichtet, dessen Lage den seit dem achtzehnten Jahrhundert existierenden Anforderungen entsprochen hätte. Gesucht wurden stattdessen Stadthäuser, deren Eigentümer bereit waren, sie zu vermieten.109 Die Umsetzung medizinisch notwendiger Regeln scheiterte mithin oft an den Gegebenheiten in der Provinz. In der Entwicklung der Krankenhäuser in den beiden Hauptstädten und in der Provinz zeichnete sich im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts ein wichtiger Unterschied zu vorangegangenen Dezennien ab: das Bestreben, verschiedene Krankengruppen räum­lich voneinander zu trennen, das in Richtung einer Spezialisierung der Heilanstalten ging. 1814 erhielt das Golicyn-Krankenhaus in Moskau eine Abteilung für das Knocheneinrenken. Zehn Jahre später kamen zwei neue Abteilungen hinzu: eine für dreißig unheilbare Kranke und eine für Patienten mit

vielen Fällen als ausschlaggebend für eine auffallend hohe Sterb­lichkeit der Kranken betrachtet. Siehe etwa den Erlass der Gouvernementsverwaltung von Tambov an die Stadtduma von Borisoglebsk vom 6. September 1823. GAVO f. i–135, op. 1, d. 31, l. 112 – 113, 123. 108 PSZ I Bd. 20, Nr. 14.392, S. 272. Es waren in erster Linie medizinische Überlegungen, die solche Regelungen veranlassten, und nicht etwa der Umstand, dass „das kaiser­liche Petersburg die kranken Stadtbewohner“ mög­lichst aus der eigenen Sichtweite verbannen wollte. So deutet die Lage der Krankenhäuser in der Hauptstadt Rustemeyer, Autokraten, S. 84. Das Prinzip, aus miasmatischen Überlegungen heraus Krankenhäuser an gut belüfteten Orten so zu konstruieren, dass der Wind die Ausdünstungen nach Mög­lichkeit nicht zu Wohnorten trägt, wurde beim Bau der meisten zeitgenös­sischen Krankenhäuser berücksichtigt, zum Beispiel in der Royal Infirmary von Edinburgh: Risse, Mending Bodies, S. 242. 109 GAVO f. i–135, op. 1, d. 31, l. 112 f. In jenem Herbst blieben die Bemühungen erfolglos. Von den Einwohnern der Kreisstadt Borisoglebsk hatte sich niemand dazu bereiterklärt, ein Haus für das Regimentslazarett zu vermieten. Erlass der Gouvernementsverwaltung von Tambov an die Stadtduma von Borisoglebsk vom 15. September 1823. GAVO f. i–135, op. 1, d. 31, l. 116 – 119.

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Augenleiden.110 Die Einrichtung der genannten Abteilungen kann zudem als ein Versuch gedeutet werden, das Hospitalprinzip auch in der Wirk­lichkeit nur noch in einem Teil der jeweiligen Einrichtung gelten zu lassen. Auf dem Papier existierte es zwar bereits im späten achtzehnten Jahrhundert nicht mehr, doch ein Großteil der Krankenhäuser diente nach wie vor der Verwahrung Kranker. In Moskau und St. Petersburg hielt allmäh­lich das Prinzip der Klinik Einzug in die Heilanstalten, die auch durch eine engere Anbindung an ärzt­liche Ausbildungsstätten von der zunehmenden Differenzierung in der medizinischen Wissenschaft geprägt wurden.111 In den Provinzkrankenhäusern lassen sich zu dieser Zeit keine vergleichbaren Ansätze einer Spezialisierung erkennen. Gleichwohl konnten Krankenhäuser eine gewisse Binnendifferenzierung aufweisen. Die Trennung der Patienten mit anstecken­den Krankheiten von den Nichtkontagiösen gehörte zu den grundlegenden, wenn auch nicht immer beachteten Vorschriften.112 In Kreisstädten waren Krankenhäuser oft so klein, dass darin eine getrennte Unterbringung ansteckender Kranker nicht mög­lich war. Das Krankenhaus des Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge in ­Tambov soll dagegen bereits im frühen neunzehnten Jahrhundert über eine Abteilung für Syphiliskranke verfügt haben, ebenso wie die in den Kreisstädten allmäh­ lich entstehenden Krankenhäuser.113 Das Stadtkrankenhaus von Uglič im Gouvernement Jaroslavl’ wurde bei seiner Einrichtung 1806 wie folgt aufgeteilt: Jeweils ein Zimmer war für Patienten mit ansteckenden Krankheiten, für Fieberkranke, für Patienten mit Geschlechtskrankheiten, für Frauen und für Rekonvaleszenten vorgesehen.114 Offen bleibt allerdings, ob etwa venerische Kranke beiderlei Geschlechts zusammen untergebracht wurden oder ob bei Frauen sch­lichtweg keine Unterteilung nach Krankheit stattfand. Auch manche der privat gestifteten Krankenhäuser 110 Vlasov, Obitel’, S. 44. 111 Zum Kalinkin-Krankenhaus gehörten bereits im späten 18. Jahrhundert Ausbildungsanstalten. Siehe dazu Müller-Dietz, Kalinkin-Institut, S. 311 f. 1817 wurde das Šeremetev-Krankenhaus in Moskau zur Klinik der Medizinisch-Chirur­gischen Akademie. Vlasov, Obitel’, S. 60. 1818 entstand an der Akademie ein Lehrstuhl für Augenheilkunde. Siehe den kaiser­lichen Erlass an den Minister für geist­liche Angelegenheiten und Volksaufklärung, Fürst Golicyn, vom 23. September 1818, in: PSZ I Bd. 35, Nr. 27.543, S. 573. 1829 wurde ebendort ein Lehrstuhl für die Chirur­gische Klinik eingerichtet. Siehe den kaiser­lich bestätigten Beschluss des Ministerkomitees vom 29. Januar 1829, in: PSZ II Bd. 4, Nr. 2636, S. 79 – 80. 112 Siehe etwa das Statut für das Krankenhaus und für das Irrenhaus in St. Petersburg, o. D. RGADA f. 16, op. 1, d. 546, l. 1 – 2, hier l. 1ob.; siehe auch RGIA f. 1287, op. 11, d. 796, l. 1 – 3, hier l. 1. Dieses Prinzip wurde in den neuen Regeln für Krankenhäuser der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge aus dem Jahr 1823 wiederholt. Dabei erfuhr es eine Differenzierung. Getrennte Zimmer sollte es für fünf Patientenkategorien geben: für diejenigen mit akuten Krankheiten, mit äußeren Erkrankungen, mit ansteckenden Krankheiten, mit Durchfall und schließ­lich für Genesende. Die Trennung zwischen Männern und Frauen sollte dabei aufrechterhalten bleiben. Siehe PSZ I Bd. 38, Nr. 29.516a, S. 1045. 113 Gasparjan, K istorii Bd. 3, S. 821. 114 Bagin, Na službe, S. 164.

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wiesen eine differenzierte Struktur aus. Das Krankenhaus für Bedürftige etwa, das ein Kaufmann in Vjaz’ma 1804 gegründet hatte, bestand aus drei Abteilungen. In der ersten sollten Kranke gepflegt werden, die zweite war für unehe­liche Kinder vorgesehen, in der dritten sollten Pockenimpfungen stattfinden.115 Damit vereinte das Krankenhaus drei Zielsetzungen, die mangels entsprechender Einrichtungen in der Provinz besonders gefördert werden sollten. Kehrt man zu den Vorschriften für den medizinischen Teil des Krankenhausalltags zurück, fällt auf, dass nicht nur in der Einrichtung der Heilanstalten bisweilen eine große Lücke zwischen dem angestrebten und dem tatsäch­lichen Zustand klaffte. So konnte etwa die Vorschrift, der Arzt habe mindestens einmal täg­lich die Kranken in seinem Hospital zu besuchen,116 bei weitem nicht immer erfüllt werden. Der Gouverneur von Poltava berichtete der zentralen Medizinal­verwaltung im Jahr 1833, dass sich Kreisärzte aufgrund ihrer vielfältigen Zuständigkeiten häufig außerhalb ihrer angestammten Kreise aufhielten und dadurch nicht die gewünschte Behandlung der Kranken gewährleisten konnten.117 Die Liste der Schwierigkeiten, mit denen Krankenhäuser zu kämpfen hatten, ist lang. Auch hauptstädtische Heilanstalten waren betroffen. Im Sommer 1812 berichtete der Generalstabsdoktor über die Zustände in zwei Petersburger Krankenhäusern, dem Obuchov- und dem Kalinkin-Krankenhaus. Im Letzteren gebe es Engpässe bei der Versorgung mit dem Pflegepersonal, so dass die Kranken sich gegenseitig pflegten.118 Die Pfleger im Obuchov-Krankenhaus seien häufig betrunken und behandelten die Kranken „grausam“. Der Suche nach besseren Ärzten und besserem Pflegepersonal waren nach Ansicht des Generalstabsdoktors allerdings enge Grenzen gesetzt, denn die Löhne seien sehr niedrig.119 Die geringe Attraktivität der Berufe im medizinischen Bereich hatte in den Augen der Zeitgenossen nicht nur einen akuten Mangel an medizinischem Personal zur Folge, sondern auch die niedrige Qualität der medizinischen Versorgung. Die dürftige finanzielle

115 Schreiben des Militärgouverneurs von Smolensk, Stepan Apraksin, an den Innenminister, Viktor Kočubej, vom 12. Oktober 1805. RGIA f. 1287, op. 11, d. 194, Beiblatt 1 – 2, hier Beiblatt 1 – 1ob. 116 Nach der Gouvernementsordnung des Jahres 1775 musste der Doktor, der die Rolle eines Oberarztes in einem Hospital innehatte, die Kranken alle zwei, mindestens aber alle drei Tage besuchen. Der Wundarzt war verpf­lichtet, mehrmals am Tage den Zustand der Kranken zu überprüfen. Siehe PSZ I Bd. 20, Nr. 14.392, S. 229 – 304, hier S. 277. 117 Anmerkungen zum Bericht über Stadtkrankenhäuser im Gouvernement Poltava vom 27. März 1833. RGIA f. 1287, op. 12, d. 1305, l. 20 – 21ob., hier l. 21ob. 118 Schreiben des Generalstabsdoktors, Alexander Crichton, an den stellvertretenden Polizeiminister, Sergej Vjazmitinov, vom 5. Juni 1812. RGIA f. 1287, op. 11, d. 960, l. 1 – 2, hier l. 1 – 1ob. 119 Schreiben des Generalstabsdoktors, Alexander Crichton, an den stellvertretenden Polizeiminister, Sergej Vjazmitinov, vom 12. August 1812. RGIA f. 1287, op. 11, d. 960, l. 5 – 12, hier l. 7 f., Zitat l. 7ob.

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Ausstattung der medizinischen Einrichtungen erschwerte zudem die Bemühungen um eine genaue Befolgung der Regeln. Mancherorts versuchte man, durch eine bessere Informationspolitik für die Einhaltung der Vorschriften zu sorgen, etwa im Gouvernement Voronež, wo alle Krankenhäuser 1830 die Regeln für die Krankenpflege an der Wand anbringen mussten.120 Fasst man die überlieferten Beschreibungen des Krankenhausalltags zusammen, ergibt sich ein teilweise trostloses Bild. Frei­lich existierten in der rus­sischen Provinz Hospitäler, die in vielem den Vorschriften entsprachen: Sie waren sauber, jeder Kranke hatte ein eigenes Bett, die Verpflegung und die Ausstattung mit Medikamenten stellte die Inspektoren ebenfalls zufrieden.121 Dennoch blieben Heilanstalten, deren Einrichtung und Krankenversorgung nicht den Anforderungen entsprachen, keine Ausnahme. Das Bild von Krankenhäusern als unterfinanzierte und schlecht geführte Anstalten, die in zerfallenden Häusern untergebracht waren, in denen katastrophale hygienische Zustände herrschten, Medikamente fehlten, Ärzte oft abwesend waren und das Pflegepersonal die Patienten vernachlässigte, müsste zu der Annahme führen, dass die Institution Krankenhaus nicht auf Akzeptanz durch die lokale Bevölkerung hoffen konnte.122 Ein Blick auf die Krankenhausinsassen soll im Folgenden ein differenzierteres Urteil ermög­lichen. Trotz der zahlreichen Mängel lässt sich als Zwischenergebnis festhalten, dass die staat­liche Zielsetzung, in jeder Kreisstadt ein Krankenhaus zu errichten, in den Gouvernements Jaroslavl’, Tambov und Voronež im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts erreicht wurde. Auf private Initiative hin entstanden Stadthospitäler deut­lich früher als auf Druck seitens der Behörden. Indem Ärzte die lokale Verwaltung auf die Einrichtung der Krankenhäuser drängten und Mängel beanstandeten, trugen sie dazu bei, dass Dysfunktionalitäten als solche wahrgenommen und Mittel zu deren Behebung gesucht wurden.

120 GAVO f. i–135, op. 1, d. 53, l. 255 – 255ob. 121 Das traf zum Beispiel im Jahr 1814 für Krankenhäuser folgender Kreisstädte im Gouvernement ­Jaroslavl’ zu: Rostov, Uglič, Rybinsk und Myškin. Siehe den Bericht des Polizeimeisters, der Stadtduma und des Kreisstabsarztes von Rostov an den Gouverneur von Jaroslavl’, Michail Golicyn, vom 26. Januar 1814. GAJaO f. 73, op. 1, d. 856, l. 6 – 8ob.; Bericht der Stadtduma von Uglič an den Gouverneur von Jaroslavl’, Michail Golicyn, vom 13. Januar 1814. GAJaO f. 73, op. 1, d. 856, l. 10 – 11; Bericht des stellvertretenden Polizeimeisters von Rybinsk an den Gouverneur von Jaroslavl’, Michail Golicyn, vom 15. Januar 1814. GAJaO f. 73, op. 1, d. 856, l. 12 – 12ob.; Bericht des Polizeimeisters, der Stadtduma und des Kreisstabsarztes von Myškin an den Gouverneur von Jaroslavl’, Michail Golicyn, vom 18. Januar 1814. GAJaO f. 73, op. 1, d. 856, l. 14; Bericht des Polizeimeisters und der Stadtduma von Mologa an den Gouverneur von Jaroslavl’, Michail Golicyn, vom 12. Januar 1814. GAJaO f. 73, op. 1, d. 856, l. 15 – 17. Zahlreiche positive Inspektionsberichte von 1819 – 1820 finden sich auch unter den Akten der Kanzlei des Gouverneurs von Jaroslavl’. GAJaO f. 73, op. 1, d. 1253. 122 So etwa die Deutung des sowjetischen Historikers Furmenko, Očerki Bd. 1, S. 72 f.

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Krankenhäuser in den 1830er Jahren Während eines der zentralen Ziele der staat­lichen Medizinal­politik im ausgehenden achtzehnten und zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts darin bestand, die Zahl der medizinischen Einrichtungen zu erhöhen, veränderten sich diese Prioritäten in den folgenden Jahrzehnten allmäh­lich. 1823 schrieb der Innenminister den Gouverneuren vor, „gottgefällige Einrichtungen“ nur noch bei Bedarf zu errichten. Bereits existierende Gebäude sollten nicht ungenutzt gelassen werden. Neue Häuser für solche Einrichtungen sollte man nur dann bauen, wenn es entweder gar keine gebe oder die bestehenden baufällig seien.123 Dieser Erlass deutet auf ein neues Effizienzbewusstsein hin. Seit Beginn des neunzehnten Jahrhunderts trafen in St. Petersburg zahlreiche Berichte über schlecht ausgestattete Provinzkrankenhäuser ein, deren Instandhaltung sich oft nur mit Mühe organisieren ließ. Statt neue Krankenhäuser einzurichten, sollte man die bereits bestehenden auf das erforder­liche Niveau bringen. Diese Regelung richtete sich in erster Linie an lokale Gesellschaften. Nach einer Blüte privater Wohltätigkeit im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts wollte die Staatsgewalt dieses Potenzial nun kanalisieren. Auch in Bezug auf die Ausstattung der Krankenhäuser lässt sich im neunzehnten Jahrhundert eine Veränderung bemerken. Der Bau von Krankenhäusern sollte sich nach den aktuellen Vorstellungen des Städtebaus richten. In den 1830er Jahren strebte man danach, neue Gebäude vorwiegend aus Stein zu errichten, vor allem um die Folgen der häufigen Brände zu minimieren. Nur wenn ein Steingebäude nicht finanzierbar war, sollte man auf Holzbauten ausweichen. Allerdings waren für ­solche Krankenhäuser ein Steinfundament und mit Eisen oder mit Ziegeln gedeckte Dächer vorgeschrieben.124 Diese Regelung deutet auf den festen Platz hin, den Krankenhäuser in der Provinz im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts eingenommen hatten. Sie waren von der allgemeinen Verbesserung der Infrastruktur betroffen und sollten nach Mög­lichkeit zum Ansehen der jeweiligen Stadt beitragen. Mit einem Krankenhaus, das den zeitgenös­sischen Vorstellungen vom Städtebau entsprach, konnte sich eine Stadt durchaus schmücken. Anfang der 1830er Jahre erfuhr das Krankenhauswesen auch strukturelle Veränderungen. Die Gouvernementsreform von 1775 hatte ein Prinzip festgelegt, nach dem sich die Krankenhäuser in der Provinz nach der administrativ-territorialen Gliederung des Landes richteten. Diese Struktur der medizinischen Versorgung blieb auch noch im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts erhalten. Häufige 123 Schreiben des Innenministers, Vasilij Lanskoj, an den Großfürsten Konstantin Pavlovič vom 8. Juli 1826. RGIA f. 1287, op. 12, d. 255, l. 32 – 35, hier l. 33ob.–34ob., Zitat l. 33ob. 124 Schreiben des Gouverneurs von Poltava, Pavel Mogilevskij, an den Innenminister, Dmitrij Bludov, vom 14.–18. Dezember 1834. RGIA f. 1287, op. 12, d. 1305, l. 2 – 11, hier l. 6.

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Berichte über den schlechten Zustand von Stadtkrankenhäusern führten in den höheren Verwaltungskreisen jedoch zu der Überzeugung, eine grundlegende Änderung herbeiführen zu müssen. Nachdem das Innenministerium von den Gouverneuren 1833 Berichte über die Krankenhäuser in ihrem Zuständigkeitsbereich erhalten hatte, wurde ein Projekt für die Reorganisation des Medizinal­wesens in der Provinz erarbeitet.125 Bei der Umgestaltung der medizinischen Versorgung sollte das Netz von Krankenhäusern, die dem Amt für gesellschaft­liche Fürsorge unterstanden, engmaschiger werden. Diese Veränderung betraf nicht nur das medizinische Personal, sondern auch Hospitäler. Jedes Gouvernement sollte Kreisstädte benennen, die nicht nur aufgrund ihrer Einwohnerzahl regionale Zentren bildeten, sondern auch im Hinblick auf Fragen der lokalen Infrastruktur eine besondere Bedeutung hatten. Die neuen Krankenhäuser sollten so gelegen sein, dass Kranke aus anderen Kreisstädten, aus dem Militär und von den Sträflingstransporten einen verhältnismäßig bequemen Zugang zu ihnen hatten.126 Damit sollten neue Krankenhäuser nicht mehr primär für die Bevölkerung jener Städte zuständig sein, in denen sie sich befanden, sondern als regionale medizinische Zentren fungieren. Mit der Einführung der Bezirkskrankenhäuser (okružnye lečebnicy) sollte eine Aufgabenteilung zwischen den alten und neuen Hospitälern eingeführt werden. Die bisher bestehenden Stadtkrankenhäuser sollten nach dem Projekt des Innenministeriums künftig nur noch als kleine, aber „gut ausgestattete“ Einrichtungen existieren und sich auf die Behandlung von dringenden Fällen und einfachen Krankheiten beschränken. Menschen, die an schweren oder chronischen Krankheiten litten, sollten zur Behandlung in die neuen Kreiskrankenhäuser geschickt werden. Die Finanzierung der neuen Krankenhäuser war von den Gouvernements selbst zu tragen.127 Das medizinische Personal der Kreiskrankenhäuser sollte zum Teil aus den bestehenden Kapazitäten des jeweiligen Gouvernements rekrutiert werden. Der Amtsarzt des Kreises würde das genannte Krankenhaus betreuen. Hinzu sollte ein weiterer Mediziner kommen, der ausschließ­lich im Krankenhaus arbeiten würde, sowie die „nötige Anzahl Feldscherer“.128 Mit der Absicht, den jeweiligen Kreisarzt zusätz­lich zu seinen bisherigen Aufgaben mit der Arbeit im neuen Krankenhaus zu betrauen, waren nicht alle einverstanden. Aus einem Amt für gesellschaft­liche

125 Rundschreiben des Innenministers, Dmitrij Bludov, an die Gouverneure vom 12. Oktober 1834. RGIA f. 1287, op. 12, d. 1329, l. 1 – 2, hier l. 1. 126 Ebd. 127 Ebd., Zitat l. 1. 128 Ebd., l. 1ob.

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Fürsorge kam die Kritik, dass Kreisärzte ohnehin mit ihrer Arbeit überlastet seien und sich häufig gar nicht in den Städten aufhielten.129 Diese Reform lässt sich als eine Reaktion auf die Entwicklung der Krankenhäuser in der Provinz in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts deuten. Krankenhäuser der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge, die sich in den Gouvernementsstädten befanden, waren zu den größten Krankenhäusern in der Provinz angewachsen und verfügten auch über die höchsten personellen und materiellen Kapazitäten. In Kreisstädten war dagegen der Bedarf an stationärer medizinischer Versorgung in der Regel deut­lich geringer, so dass Hospitäler, die meist zu Beginn des Jahrhunderts entstanden waren, nur wenige Betten umfassten. Dies mochte zwar den verhältnismäßig geringen Bedarf der lokalen Zivilbevölkerung an medizinischer Versorgung decken. Doch für die Anforderungen des Militärs reichten diese Einrichtungen nicht aus. Ziel der Reform war es also, ein Gegengewicht zu den medizinischen Einrichtungen in den Gouvernementsstädten zu schaffen, deren Kapazitäten über jene der kreisstädtischen Hospitäler hinausgehen würden.

4. 2   K r a n ke n h a u s p at ie nt e n Während sich die Medizingeschichte im west­lichen Europa seit den 1990er Jahren stärker auf Fragen nach Krankenhauspatienten konzentriert, ist dieser Schritt in der Historiographie zum Rus­sischen Reich bisher ausgeblieben. So enthalten Studien zu Heilanstalten des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts nur sporadische Hinweise auf Patienten in Provinzkrankenhäusern. Um zu erfahren, wie sich diese neue Institution ins Leben der rus­sischen Provinz einfügte, sollen im Folgenden die Kranken in den Mittelpunkt rücken. Wer ließ sich in einem Provinzkrankenhaus behandeln und gegen welche Krankheiten? Wer sich mit der Geschichte der Krankenhäuser beschäftigt, muss entscheiden, wie er Krankenhausinsassen bezeichnet. Handelt es sich um Kranke oder um Patienten? Diese Entscheidung berührt zwei Aspekte dieses Status: das Selbstverständnis des Individuums sowie seine Position im jeweiligen institutionellen und diskursiven Umfeld. Vertreter der Medikalisierungsthese – vor allem in ihrer radikalen Ausprägung – koppeln die Begriffe an den Charakter der Institution, in der die Behandlung stattfindet: Vereinfacht lässt sich sagen, dass in einem Hospital Kranke lagen, während in „modernen“ Krankenhäusern oder Kliniken Krankheiten

129 Schreiben des ständigen Mitglieds des Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge von Poltava, Pavel Steblin-Kaminskij, an das Wirtschaftsdepartement des Innenministeriums vom 18. Dezember 1834. RGIA f. 1287, op. 12, d. 1305, l. 12 – 13, hier l. 12 – 12ob.

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behandelt wurden und deren Träger vorübergehend entmündigte Patienten waren.130 Kulturwissenschaft­lich arbeitende Historiker fragen in erster Linie nach der Wahrnehmung des kranken Körpers durch verschiedene Akteure.131 Für die vorliegende Studie ist vor allem das Verhältnis zwischen dem Kranken und dem Heilkundigen relevant. Von Patienten wird grundsätz­lich nur dann ­gesprochen, wenn sich Kranke in der Gewalt eines Mediziners befinden. Da Krankenhäuser – zumindest in ihren Statuten – die absolute Autorität der Medizin postulierten und jeden Kranken, der das Krankenhaus betrat, theoretisch vollständig der Gewalt des Arztes unterwarfen, handelte es sich um Patienten. Wer dagegen freiwillig ärzt­lichen Rat suchte, aber zu Hause blieb und damit seinen Körper in der Regel zu einem großen Teil der Verfügungsgewalt des Behandelnden entzog, wird hier als Kranker bezeichnet, nicht als Patient.132

Finanzierung des Krankenhausaufenthalts Die staat­liche Politik des frühen neunzehnten Jahrhunderts zielte darauf ab, ein immer engmaschigeres Netz medizinischer Einrichtungen aufzubauen, um dadurch immer mehr Menschen eine medizinische Versorgung zu ermög­lichen. Die medizinische Versorgung wurde dabei in der Regel nach Bevölkerungs- beziehungsweise Berufsgruppen organisiert. Die Finanzierung des partikularen Medizinal­wesens war bereits zur Regierungszeit Peters I. geregelt worden und blieb bis ins neunzehnte Jahrhundert bestehen. Seit 1721 zahlten alle Staatsbeamten eine einprozentige Einkommenssteuer, die der Finanzierung der Hospitäler zugutekam.133 Dieses Modell basierte auf zwei Grundgedanken: Erstens sollten Hospitäler, von deren Existenz die große Gruppe der Beamten profitierte, durch eine innerhalb dieser Gruppe gleichmäßig verteilte 130 Richtungweisend Foucault, Klinik, S. 74 f. 131 Beide Aspekte, die Eigen- und die Fremdwahrnehmung, behandelt die Studie von Stolberg, Homo patiens. 132 Die Bezeichnung Patient erstreckt sich hier wohlgemerkt ledig­lich auf Insassen jener Einrichtungen, welche die Behandlung von Leiden zum Ziel hatten. Dazu zählen ausdrück­lich keine Armenhäuser oder Hospitäler für unheilbare Kranke, in denen es in der Regel auch Ärzte und Pfleger gab. Zur Unterscheidung beider Krankenkategorien siehe Lindemann, Medicine, S. 195 f., die diese Dualität allerdings nicht übernimmt. 133 PSZ I Bd. 17, Nr. 12.358, S. 89. Siehe auch Oswalt, Reformen, S. 331. 1742 wurde diese Steuer auch auf staat­liche Renten ausgedehnt. Siehe dazu den Senatserlass vom 7. September 1781, in: PSZ I Bd. 21, Nr. 15.221, S. 243. Als sich 1765 die Frage stellte, ob die Geist­lichkeit ebenfalls eine einprozentige Abgabe zum Erhalt von Krankenhäusern leisten sollte, stellte das Ökonomiekollegium fest, dass Geist­liche keinen Nutzen von den öffent­lichen Heilanstalten hätten, weil sie sich in eigenen Krankenhäusern behandeln ließen. Siehe PSZ I Bd. 17, Nr. 12.358, S. 89.

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Bürde finanziert werden. Zweitens trugen diejenigen, die eine Krankenhaussteuer zahlten, zum Unterhalt von Heilanstalten bei, die ausschließ­lich ihnen vorbehalten waren. Dieses Prinzip blieb auch in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts bestehen. So finanzierten sich etwa Fabrikkrankenhäuser bei den Bergwerken in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts aus den Lohnabzügen der Arbeiter.134 Auf die gleiche Art und Weise wurde die medizinische Versorgung der Militärangehörigen bezahlt.135 Das Novum in der Medizinal­politik, die ­Katharina II . initiiert hatte, war die Medikalisierung der unteren sozialen Gruppen. Als in den 1760er und 1770er Jahren die Notwendigkeit erörtert wurde, medizinische Versorgung auch in der Provinz zugäng­lich zu machen, stand die Zivilbevölkerung im Allgemeinen und ihr bedürftiger Teil im Besonderen im Mittelpunkt der Diskussion.136 Bei der Einrichtung der Krankenhäuser wurde die Zielgruppe etwas deut­licher umrissen: Im Dienst befind­ liche und außer Dienst stehende untere Militär- und Zivilbeamte sowie Staatsbauern sollten in den Stadtkrankenhäusern eine kostenlose Behandlung bekommen.137 Zivile Krankenhäuser waren also vom Beginn ihrer Existenz an verpf­lichtet, auch kranke Militärangehörige aufzunehmen.138 1808 schrieb ein Erlass des Kriegskollegiums den Ämtern für gesellschaft­liche Fürsorge vor, Militärangehörige, für die es keinen Platz in den Lazaretten ihrer Einheiten gab, in Krankenhäusern des Amtes oder in besonderen – staat­lichen oder privaten – Häusern unterzubringen.139 Somit dienten Einrichtungen des öffent­lichen Medizinal­wesens, die eine medizinische Versorgung der Zivilbevölkerung gewährleisten sollten, zu einem großen Teil den Bedürfnissen des Militärs, das lange Zeit – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – auch die größte Patientengruppe darstellte.140

134 Kovrigina; Sysoeva; Šanskij, Medicina, S. 62. Dieses Modell zur Finanzierung von Heilanstalten findet sich auch in anderen Gegenden Europas wieder. So mussten die Einwohner von Jena im 18. Jahrhundert Abgaben für die universitätseigene Entbindungsanstalt leisten. Siehe Loytved, Einmischung, S. 140. 135 PSZ I Bd. 17, Nr. 12.358, S. 89. 136 Siehe PSZ I Bd. 16, Nr. 11.728, S. 133; PSZ I Bd. 16, Nr. 11.821, S. 252 – 254. Auch in den Instruktionen für die Gesetzgebende Kommission und in den Kommissionssitzungen ging es um die Gesundheit der Zivilbevölkerung. Siehe etwa die Instruktion des Adels des Kreises Kozel’sk, in: SIRIO Bd. 4, S. 265 – 271, hier S. 269 f. und die Protokolle der 64. Sitzung der Großen Kommission vom 19. November 1767, in: SIRIO Bd. 8, S. 292 – 306, hier S. 302 – 306 sowie der 74. Sitzung vom 11. Dezember 1767, in: SIRIO Bd. 8, S. 348 – 382, hier S. 352 – 382. 137 Veselovskij, Očerk, S. 141. 138 Zivilisten durften dagegen nicht in Heilanstalten des Militärs aufgenommen werden. Senatserlass vom 3. Juni 1824, in: PSZ I Bd. 39, Nr. 29.939, S. 353 – 354, hier S. 353. 139 Erlass aus dem Kriegskollegium vom Mai 1808, in: PSZ I Bd. 30, Nr. 23.050, S. 282 – 284. 140 Zu diesem Schluss kommt auch Gončarov, Materialy, S. 668, allerdings ohne seine Aussage zu begründen.

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In städtischen Krankenhäusern hatten nur Bedürftige Anspruch auf eine kostenlose Behandlung. Alle anderen Patienten mussten ihren Krankenhausaufenthalt selbst bezahlen. Für Angehörige des Militärs hatte das jeweilige Kommissariat aufzukommen. Für Leibeigene mussten ihre Besitzer zahlen, für diverse Angestellte das jeweilige Ressort.141 Doch die Bezahlung, die für einen Patienten pro Tag festgelegt worden war, wurde bisweilen als unzureichend empfunden. Besonders häufig fehlte Stadtkrankenhäusern das Geld, das sie für die Behandlung der Militärangehörigen ausgegeben hatten. Der gesetz­lich vorgeschriebene Tagessatz entsprach nicht immer den tatsäch­lichen Kosten, die ortsabhängig variieren konnten. Dort, wo die Militäreinheiten zahlenmäßig groß waren, fehlten den Ämtern für gesellschaft­liche Fürsorge manchmal große Beträge. Erst seit den 1820er Jahren sollten den Ämtern anstelle der Pauschalsätze die tatsäch­lich entstandenen Kosten zurückerstattet werden.142 Trotz allgemeiner Regelungen war es im Einzelfall nicht immer klar, wer für die Behandlung der einen oder anderen Personengruppe aufzukommen hatte, und bisweilen erwies es sich für Hospitäler als schwierig, die Kosten rechtzeitig erstattet zu bekommen. Manche Ärzte sahen sich beispielsweise gezwungen, Medikamente für einzelne Patienten und Gebrauchsgegenstände für das jeweilige Krankenhaus aus eigenen Mitteln zu bezahlen.143 Einige von ihnen lehnten es in ihrer Philanthropie ab, das ausgegebene Geld zurückzufordern wie etwa der Kreisarzt von Ljubim, der 1827 sieben Bauern auf eigene Kosten behandelt hatte.144 Der Stabsarzt von Rybinsk hatte im Sommer 1798 vielen Treidlern Medikamente aus seiner eigenen Apotheke verabreicht und verlangte von der lokalen Medizinal­ behörde, ihm die Kosten zurückzuerstatten. Der Medizinal­behörde war aber keine 141 Für Krankenhäuser der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge: PSZ I Bd. 20, Nr. 14.392, S. 276. Siehe auch die kaiser­lichen Erlasse vom 6. März 1794, in: PSZ I Bd. 23, Nr. 17.184, S. 493 – 495, hier S. 494 und vom 17. Dezember 1824, in: PSZ I Bd. 39, Nr. 30.158, S. 655 – 656. In der Darstellung von Furmenko entsteht ein verzerrtes Bild von der Verteilung der Behandlungskosten, da der Autor diejenigen Patientengruppen nicht erwähnt, die nicht selbst für ihre Behandlung aufkommen mussten. Vgl. Furmenko, Očerki. Bd. 1, S. 72. 142 Schreiben des Gouverneurs von St. Petersburg, Michail Miloradovič, an den Leiter des Polizeiministeriums, Sergej Vjazmitinov, vom 9. September 1818. RGIA f. 1287, op. 11, d. 1708, l. 11 – 12ob., hier l. 12ob.; kaiser­lich bestätigter Beschluss des Ministerkomitees vom 5. November 1827, in: PSZ II Bd. 2, Nr. 1512, S. 947 – 948. 143 Siehe etwa GAJaO f. 86, op. 1, d. 342, l. 1a und den Bericht des Kreisarztes von Pošechon’e, Vasilij Perevedencov, an die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 30. September 1827. GAJaO f. 86, op. 1, d. 342, l. 24; Bericht des Kreisstabsarztes von Ljubim, Il’ja Nečaev, an die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 21. März 1827. GAJaO f. 86, op. 1, d. 360, l. 15. Der Stabsarzt von Rybinsk behandelte in den Jahren 1814 und 1815 Patienten mit seinen eigenen Medikamenten im Wert von insgesamt 234 Rubel 20 Kopeken. Siehe den Bericht der Stadtduma von Rybinsk an den Gouverneur von Jaroslavl’, Michail Golicyn, vom 14. Juli 1816. GAJaO f. 73, op. 1, d. 856, l. 63 – 64ob. 144 GAJaO f. 86, op. 1, d. 360, l. 15.

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gesetz­liche Grundlage bekannt, auf der sie die Zahlung hätte veranlassen können. Um künftigen Problemen vorzubeugen, riet sie der Stadtduma von Rybinsk, stets einen Betrag beiseitezulegen, aus dem Medikamente für Treidler finanziert werden könnten.145 Behörden auf der Gouvernementsebene waren also in der Lage, gewisse finanzielle Probleme ohne die Einbeziehung der zentralen Verwaltung zu lösen. Auf Grundlage dieser Entscheidung der Medizinal­behörde bekamen Apotheker ab sofort von der Stadtduma von Rybinsk die Kosten der Behandlung von Treidlern zurückerstattet.146 Dieser Fall aus dem Gouvernement Jaroslavl’ bildete in den ersten Jahrzehnten des Medizinal­wesens in der rus­sischen Provinz keine Ausnahme. Für zahlreiche Bereiche der Medizinal­verwaltung existierten im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert noch keine Regelungen. Sie entstanden erst durch Präzedenzfälle. Im Fall der Treidler in Rybinsk wurde eine lokal begrenzte Lösung gefunden. Aus dem Fall von Podolien dagegen, wo man das Fehlen von Richtlinien für die Behandlungskosten von kranken Sträflingen beklagte, entwickelte sich eine reichsweite Norm.147 Die Gouvernementsverwaltung, die mit einem Problem konfrontiert wurde, fand aufgrund von unterschied­lichen ihr bekannten Erlassen einen Modus, um einen bisher ungeregelten Bereich zu normieren. Mit diesem detaillierten Vorschlag trat sie an den Senat heran, der die auf Gouvernementsebene herausgearbeitete Regelung billigte und gesetz­lich verbriefte.148

145 Sitzungsprotokoll der Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 8. April 1799. GAJaO f. 86, op. 1, d. 10, l. 59 – 59ob. 146 Siehe etwa das Sitzungsprotokoll der Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 21. April 1803. GAJaO f. 86, op. 2, d. 1, l. 46. 147 Kaiser­lich bestätigter Senatsbericht vom 31. August 1804, in: PSZ I Bd. 28, Nr. 21.346, S. 498 – 499. 148 Dieses Vorgehen lässt sich als eine Variante des Musters verstehen, das André Holenstein für Baden-Durlach im 18. Jahrhundert zu Tage gefördert hat. In seiner Untersuchung machte er von unten nach oben verlaufende Kommunikationswege aus, die der lokalen Ebene – meist in Form von Bittschriften – ermög­lichten, diktierte Normen mit der Obrigkeit auszuhandeln. Holenstein, Umstände, S. 11. Das rus­sische Beispiel weicht von diesem Muster insofern ab, als es sich nicht um eine direkte Kommunikation der lokalen Bevölkerung mit der Zentralmacht handelte. Das unterste Glied in der Kette bildeten Provinzärzte, die Missstände an die nächsthöhere Instanz meldeten. Die lokale Bevölkerung war an dieser Kommunikation zwar nicht direkt beteiligt, und man könnte einwenden, Ärzte seien schließ­lich Beamte und damit Vertreter der Staatsgewalt gewesen. Doch in ihrer Funktion als unterste Stufe des staat­lichen Medizinal­wesens waren sie – metaphorisch gesprochen – Synapsen, die Informationen an die Verwaltung weitergaben und damit indirekt die Anpassung der Normen an die lokalen Gegebenheiten veranlassten.

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Patienten und ihre Leiden Bevor untersucht wird, um wen es sich bei den Krankenhauspatienten in der rus­ sischen Provinz handelte, muss zunächst die Frage gestellt werden, ob es in Stadtkrankenhäusern überhaupt Patienten gab. Wie in Bezug auf viele andere Bereiche des Medizinal­wesens ist die Überlieferungsdichte auch für die Geschichte der Krankenhäuser im Gouvernement Jaroslavl’ deut­lich besser als im Schwarzerdegebiet. Im Gegensatz zu Tambov und Voronež ist es in Jaroslavl’ mög­lich, Aussagen nicht nur über Patientenzahlen zu machen, sondern gelegent­lich auch über die Zugehörigkeit der Kranken zu einer sozialen Gruppe und über Diagnosen. Aus diesem Grund wird das nörd­liche Gouvernement im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen. Ergebnisse aus Jaroslavl’ sollen mit Informationen über andere Landesteile kontrastiert werden, deren Überlieferung deut­lich bruchstückhafter ist. An den Krankenregistern fällt eine große Diskrepanz zwischen Patientenzahlen in den einzelnen Krankenhäusern auf. Während es im Lazarett von Rybinsk im Januar 1798 zweiundzwanzig Kranke gab, führte das Krankenhaus von Uglič für denselben Zeitraum nur einen einzigen Patienten auf.149 Im April 1802 blieben die Hospitäler von Rostov und Romanov leer, während zur selben Zeit in der Gouvernementsstadt dreiundzwanzig Personen und in Rybinsk zehn Personen im Krankenhaus lagen.150 Zieht man Statistiken aus den 1830er Jahren heran, ergibt sich ein radikal anderes Bild. Im Dezember 1832 wurden allein in der Gouvernementsstadt 389 Kranke stationär behandelt.151 Im Gouvernement Jaroslavl’ ließen sich durchschnitt­lich 520 Kranke pro Monat in den Stadtkrankenhäusern behandeln.152 Im November 1834 waren die Patienten wie folgt über die Stadtkrankenhäuser des Gouvernements verteilt:

149 Krankenregister der Medizinal­behörde von Jaroslavl’ für das Jahr 1798. GAJaO f. 86, op. 1, d. 6, l. 1 – 2. 150 Krankenregister der Medizinal­behörde von Jaroslavl’ für das Jahr 1802. GAJaO f. 86, op. 1, d. 20, l. 46ob.–47 und für Januar 1806. GAJaO f. 86, op. 1, d. 67, l. 1ob.–2. Dass Krankenhäuser über Monate leer standen, war im Gouvernement Jaroslavl’ keine Seltenheit. Siehe etwa die Krankenregister des Stadtkrankenhauses von Danilov für April und August 1810. GAJaO f. 73, op. 1, d. 724, l. 26, 48; Bericht des Polizeimeisters von Myškin an den Gouverneur von Jaroslavl’, Aleksandr Bezobrazov, vom 2. März 1821. GAJaO f. 73, op. 1, d. 1253, l. 2. 151 Krankenregister für das Stadtkrankenhaus, Erziehungsheim und Waisenhaus von Jaroslavl’ für Dezember 1832. GAJaO f. 86, op. 1, d. 507, l. 119. 152 Aus dem Jahr 1832 sind die Angaben ledig­lich für sechs Monate überliefert. Auf dieser Grundlage wurde der Durchschnitt errechnet. Siehe die Krankenregister der Medizinal­behörde von Jaroslavl’ für Januar, Februar, Juni, August, September und November 1832. GAJaO f. 86, op. 1, d. 506, l. 31 – 32, 67 – 70, 99 – 100, 117ob.–118.

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Patienten in Stadtkrankenhäusern des Gouvernements Jaroslavl’ im November 1834 153 Stadt Jaroslavl’

Patientenanzahl 314

Rostov

25

Uglič

23

Rybinsk

29

Myškin

3

Pošechon’e

7

Ljubim

9

Danilov

10

Romanov-Borisoglebsk GESAMT

13 433

Die Patientenzahl in der Gouvernementsstadt betrug ein Vielfaches der Patientenzahlen in den Kreisstädten. Im Fall von Myškin übertraf sie diese sogar um mehr als das Hundertfache. Die Zahl der Patienten konnte in manchen Krankenhäusern innerhalb eines Jahres erheb­lich schwanken. So verzeichnete das Lazarett des Verkehrsministeriums in Rybinsk im Dezember 1825 gerade einmal zwei Patienten. In den Monaten Juni und Juli ließen sich dort jeweils vierundvierzig Personen behandeln. Im Mai wird ein steiler Anstieg der Krankenzahlen erkennbar, im November bricht der Wert stark ein.154 Diese Schwankungen erklären sich daraus, dass im Hospital in erster Linie Hafen- und Schiffsarbeiter behandelt wurden.155 Diese fanden sich vor allem zur Hochsaison der Schifffahrt in Rybinsk ein, also in den Monaten Juni bis September. Auch waren den praktizierenden Ärzten Unterschiede in der Häufigkeit verschiedener Krankheiten aufgefallen, die ebenfalls saisonal bedingt

153 Als Grundlage für die Tabelle dienen Berichte der Kreisärzte des Gouvernements Jaroslavl’ an die Medizinal­behörde vom Dezember 1834. GAJaO f. 86, op. 1, d. 543, l. 1 – 5, 7, 10, 12, 16, 18 – 18ob., 21 – 24, 28. 154 Siehe den Bericht über Kranke im Lazarett des Verkehrsministeriums der Stadt Rybinsk für das Jahr 1825, o. D. [1826]. GAJaO f. 86, op. 1, d. 310, l. 39 – 64. 155 Von Februar bis Dezember 1825 machten Arbeiter 61 Prozent der Patienten aus, in den Monaten Juni bis Dezember waren es 92 Prozent. Siehe GAJaO f. 86, op. 1, d. 310, l. 39 – 64. Eine ähn­liche Entwicklung der Patientenzahlen innerhalb eines Jahres in Rybinsk ist bereits für 1802 überliefert. Im Oktober ging die Zahl der Kranken zurück. Siehe den Erlass der Gouvernementsverwaltung an die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 27. November 1802. GAJaO f. 86, op. 1, d. 29, l. 4 – 5, hier l. 4.

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waren.156 Die hohe Sterb­lichkeitsrate deutet auf vernachlässigte Erkrankungen und auf einen schlechten allgemeinen Gesundheitszustand der Patienten hin, wie sie seitens der Ärzte vor allem bei Treidlern beklagt wurden.157 Demnach sahen sich medizinische Einrichtungen nicht nur während der Epidemien hohen Anforderungen ausgesetzt. Sie mussten auch außerhalb der Seuchenzeit bisweilen mit einer starken Zunahme der Krankenzahlen umgehen. Krankenregister aus der Provinz weisen erheb­liche Lücken auf und machen es damit unmög­lich, die Entwicklung kontinuier­lich über einen längeren Zeitraum hinweg nachzuzeichnen. Obwohl auch die absoluten Zahlen Fehler aufweisen können, lassen sich an den spär­lich überlieferten Angaben dennoch die Dimensionen erkennen. Diese erlauben den Schluss, dass Provinzkrankenhäuser im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts einen Zuwachs an Patienten erlebten. Diese Entwicklung bahnte sich bereits um die Jahrhundertwende an. So war die Anzahl der Betten im Stadtkrankenhaus von Voronež von zwölf im Jahre 1780 innerhalb von drei Jahren auf einundzwanzig und im Jahre 1799 noch einmal auf dreißig gestiegen.158 Ende der 1830er Jahre war das Krankenhaus bereits für sechzig Personen eingerichtet.159 Besonders stark stiegen die Zahlen in Jaroslavl’. Schon 1832 machten die dort behandelten Kranken durchschnitt­lich über fünfundsiebzig Prozent aller Krankenhauspatienten des Gouvernements aus.160 Aber auch in Rostov, Uglič und Rybinsk wurden in den 1830er Jahren mehr Menschen in einem Stadthospital als zu Beginn des Jahrhunderts behandelt. Wie lässt sich diese unterschied­liche Entwicklung in den einzelnen Städten, die bereits in den 1820er Jahren bemerkbar wurde,161 erklären?

156 Siehe etwa die Berichte einzelner Kreisärzte und frei praktizierender Mediziner an die Medizinal­ behörde von Voronež von 1821 bei Taradin, Materialy, S. 551 f. Saisonal bedingte Schwankungen in der Häufigkeit bestimmter Krankheiten gab es auch andernorts. Vom ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ist überliefert, dass die Patientenzahl im Krankenhaus des Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge in Voronež im Frühjahr stieg, wobei am meisten Fiebererkrankungen und Augenleiden diagnostiziert wurden. Siehe Gončarov, Materialy, S. 603. 157 Im Jahr 1824 erlagen 17 Prozent der Patienten ihrem Leiden im Krankenhaus. Siehe den Bericht der Medizinal­behörde von Jaroslavl’ über Kranke im Lazarett des Verkehrsministeriums der Stadt Rybinsk für das Jahr 1824, o. D. [1825]. GAJaO f. 86, op. 1, d. 291, l. 68 – 69. Der Stabsarzt von Rybinsk teilte der Medizinal­behörde von Jaroslavl’ im Jahr 1802 mit, dass viele Kranke wenige Stunden nach ihrem Eintreffen im Hospital stürben. Es handle sich vor allem um Treidler, die nicht früher ins Krankenhaus kommen könnten. Siehe den Bericht des Kreisstabsarztes von Rybinsk, Avgust Šreter, an die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 2. September 1802. GAJaO f. 86, op. 1, d. 29, l. 1 – 1ob. 158 Gončarov, Materialy, S. 597; Ševčenko, Dejatel’nost’, S. 56. 159 Taradin, Materialy, S. 542. 160 Als Grundlage für diese Berechnung wurden folgende Akten herangezogen: GAJaO f. 86, op. 1, d. 506, l. 31 – 32, 67 – 70, 99 – 100, 117ob.–118. 161 Im ersten Halbjahr 1825 ließen sich allein im Stadtkrankenhaus von Jaroslavl’ 135 Personen behandeln. Im zweiten Halbjahr waren es 165 Patienten. Siehe den Bericht des Operateurs der Medizinal­behörde

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Die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ meldete dem Gouverneur 1827, dass alle Stadtkrankenhäuser und Waisenhäuser des Gouvernements einschließ­lich der Einrichtungen des Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge in der Gouvernementsstadt größere oder kleinere Mängel an ihren Gebäuden aufwiesen, die etwa auf das Alter und die Baufälligkeit oder auf die Enge der Häuser zurückzuführen seien. „Zu jener Zeit, als in Kreisstädten Krankenhäuser für zehn Personen eingerichtet wurden“, führte die Medizinal­behörde des Gouvernements aus, „zählten die Polizeikorps ledig­lich wenige Personen. Nun ist die Belegschaft der Invaliden- und Feuerwehrkorps erheb­lich gestiegen. In der Gouvernementsstadt war früher eine Kompanie stationiert, jetzt ist es ein ganzes Garnisonsbataillon und hinzu kommen weitere Mannschaften. Alle Kranken werden in ein und demselben Stadtkrankenhaus untergebracht.“ 162

Damit machte die Medizinal­behörde deut­lich, dass der Bedarf an medizinischer Versorgung gestiegen sei und sich die Anforderungen an medizinische Einrichtungen im Gouvernement gegenüber früheren Zeiten – gemeint war der Beginn des neunzehnten Jahrhunderts – verändert hätten. Sie bat den Gouverneur, in Jaroslavl’ ein neues Krankenhaus errichten zu lassen.163 Auch in Nižnij Novgorod überstieg der Bedarf an medizinischer Versorgung die Kapazitäten des Krankenhauses, das 1811 die einzige Heilanstalt in der Gouvernementsstadt war und ledig­lich dreißig Betten zählte. Dabei wurden mehr Patienten versorgt, als es Betten gab.164 Das Krankenhaus des Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge in Simbirsk verfügte ebenfalls über dreißig Betten. Behandelt wurden darin in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts regelmäßig vierzig bis sechzig Personen gleichzeitig. Manchmal mussten sich zwei Patienten ein Bett teilen. Manchmal rückte man zwei Betten zusammen, um darauf drei Kranke unterzubringen.165

von Jaroslavl’, Ivan Nozdrovskij, vom 29. Juli 1825 und den Bericht des Accoucheurs der Medizinal­ behörde, Ivan Miller, vom 15. Januar 1826. GAJaO f. 86, op. 1, d. 310, l. 12 – 13, 34 – 35. 162 Schreiben der Medizinal­behörde von Jaroslavl’ an den Gouverneur, Michail Bravin, o. D. [1827]. GAJaO f. 86, op. 1, d. 342, l. 26 – 27ob., Zitat l. 26. 163 Ebd. 164 Kopie des Beschlusses des Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge von Nižnij Novgorod vom 23. Oktober 1811. RGIA f. 1287, op. 11, d. 859, l. 5 – 8, hier l. 5 – 5ob. Aus dem Gouvernement Voronež ist ein ähn­licher Fall überliefert: Während einer Typhusepidemie im Jahre 1824 wurden in einem Krankenhaus, das ledig­lich neun Betten hatte, 26 Personen behandelt. Siehe Taradin, Materialy, S. 543. 165 Vertreter der Strafkammer von Simbirsk an den Leiter des Polizeiministeriums, Sergej Vjazmitinov, vom 26. November 1818. RGIA f. 1287, op. 11, d. 1600, l. 25 – 26, hier l. 25. Die Autoren eines überblicksartigen Aufsatzes aus den 1980er Jahren gehen dagegen davon aus, dass die Regelung,

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Der Bedarf an stationärer medizinischer Versorgung in den Kreisstädten desselben Gouvernements erlebte in dieser Zeit keinen vergleichbaren Anstieg. Bei einer Inspektion im Stadtkrankenhaus von Romanov zu Beginn des Jahres 1810 fand der Polizeimeister ledig­lich einen Unteroffizier vor. Er war der einzige Patient des Krankenhauses, das für zehn Personen eingerichtet war.166 In Uglič wurden im Dezember 1809 und Januar 1810 zwei Kranke im Hospital behandelt.167 Sowohl im Stadtkrankenhaus von Myškin als auch in Danilov gab es im März 1810 jeweils zwei Kranke.168 Das Krankenhaus in Rostov verzeichnete im Mai 1834 nur fünf Patienten.169 Die Abwesenheit von Patienten war allerdings häufig nur eine vorübergehende Erscheinung, da der Bedarf an stationärer medizinischer Versorgung in manchen Kreisstädten trotz geringer Patientenzahlen leicht stieg. Das alte Krankenhaus von Uglič war für zehn Personen eingerichtet und hatte in der Regel nur wenige Patienten.170 Das neue Gebäude war bereits für fünfundzwanzig Personen vorgesehen, und der dortige Arzt berichtete im Jahr 1806 von hohen Patientenzahlen.171 In den 1820er Jahren befanden sich im Krankenhaus zehn bis dreißig, gelegent­lich sogar bis zu fünfzig Patienten.172 Wurde ein ziviles Krankenhaus nach Ansicht der lokalen Behörden zu wenig in Anspruch genommen, konnte es für andere Zwecke umfunktioniert werden. So wurde 1817 das Krankenhaus in Ostrogožsk im Gouvernement Voronež nach zehnjährigem Bestehen geschlossen und das Gebäude dem Militär übergeben, das darin ein Lazarett einrichtete. Erst 1828 eröffnete die Stadt ein neues Krankenhaus für die Zivilbevölkerung.173 Auch

wonach jedem Kranken ein Bett zur Verfügung stehen sollte, umgesetzt wurde, weshalb sich Russlands Krankenhäuser positiv von jenen im Westen Europas abgehoben hätten. Siehe Kovrigina; Sysoeva; Šanskij, Medicina, S. 61. 166 Bericht des Polizeimeisters von Romanov an den Gouverneur von Jaroslavl’, Michail Golicyn, vom 1. Februar 1810. GAJaO f. 73, op. 1, d. 724, l. 8. Es gab keine Vorschriften bezüg­lich der Größe der Krankenhäuser in Kreisstädten. Diese sollte sich nach den Mög­lichkeiten der jeweiligen Stadt richten. Siehe das Schreiben des Polizeiministers, Sergej Vjazmitinov, an den Gouverneur von St. Petersburg, Michail Miloradovič, vom 12. September 1818. RGIA f. 1287, op. 11, d. 1708, l. 13. 167 Bericht des stellvertretenden Polizeimeisters von Uglič an den Gouverneur von Jaroslavl’, Michail Golicyn, vom 4. Februar 1810. GAJaO f. 73, op. 1, d. 724, l. 9. 168 Bericht des Polizeimeisters von Myškin, Jazykov, an den Gouverneur von Jaroslavl’, Michail Golicyn, vom 1. April 1810. GAJaO f. 73, op. 1, d. 724, l. 23; Patientenregister für das Stadtkrankenhaus von Danilov für März 1810, erstellt vom Polizeimeister von Danilov, Evreinov (?), für den Gouverneur von Jaroslavl’, Michail Golicyn, vom 1. April 1810. GAJaO f. 73, op. 1, d. 724, l. 22. 169 Stepanov, Rostovskaja bol’nica, S. 10. 170 Schreiben der Stadtduma von Uglič an die Gouvernementsverwaltung von Jaroslavl’ vom 19. Januar 1804, in: Kuročkin, Iz istorii, S. 61. 171 Schreiben des Kreisarztes von Uglič an die Stadtduma vom 3. Mai 1806, in: Kuročkin, Iz istorii, S. 10. 172 Malinin, K dokladu, S. 175. 173 Gončarov, Materialy, S. 640 f. Allerdings geben die Quellen keine Auskunft über die Motive der Neugründung.

Krankenhauspatienten

263

im Gouvernement Jaroslavl’ erhöhten manche Städte in den 1820er Jahren die Kapazitäten ihrer Stadtkrankenhäuser.174 Im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts nahm in Jaroslavl’ eine Entwicklung ihren Anfang, die eine stärkere Differenzierung in der Struktur des Gouvernements mit sich brachte und deren Auswirkungen auf den Bedarf einzelner Städte an Ärzten bereits demonstriert wurden. Die Gouvernementsstadt wuchs in wirtschaft­licher und administrativer Hinsicht zu einem bedeutenden regionalen Zentrum heran. Die Kreisstädte fielen dabei deut­lich zurück. Eine Ausnahme bildeten Orte, die – wie Rybinsk als einer der wichtigsten Wolgahäfen – eine große wirtschaft­liche Bedeutung hatten.175 In Voronež lässt sich ein vergleichbar steigender Bedarf an medizinischer Versorgung schon im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert feststellen. Mit dem Wachstum der Städte ging also ein steigender Bedarf nach stationärer medizinischer Versorgung einher. Inwieweit besteht aber ein Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Patientenzahlen und der Akzeptanz der Heilanstalten in der Provinz? Die Einrichtung eines Krankenhauses in der Provinz bedeutete nicht immer, dass der lokalen Bevölkerung eine medizinische Versorgung zugäng­lich gemacht wurde, die den damaligen Standards entsprach. Auf einen guten Ruf und wachsendes Vertrauen in das entstehende Medizinal­wesen konnten solche Einrichtungen in der Regel nicht hoffen. Ein Aufenthalt in einem Krankenhaus konnte für Patienten sogar erheb­liche Gefahren bergen, vor allem durch den Kontakt zu Menschen mit ansteckenden Krankheiten. Krankenhäuser wurden von der lokalen Bevölkerung als letzte Option in Betracht gezogen. Während die Zielgruppe des partikularen Medizinal­wesens für jede Einrichtung klar umrissen war, lohnt ein Blick auf die Stadtkrankenhäuser in der Provinz des Reiches, um herauszufinden, ob und wer von dieser Institution Gebrauch machte, der die Staatsgewalt seit der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts eine so große Bedeutung beimaß. In der Forschungsliteratur begegnet man bisweilen der Ansicht, Krankenhäuser des späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts seien Orte des ­Schreckens gewesen, die nach Mög­lichkeit gemieden wurden.176 Dennoch verbreiteten

174 Für das Jahr 1806 stammen die Daten aus GAJaO f. 86, op. 1, d. 65, l. 1 – 3. Die Angaben für die frühen 1820er Jahre (vor 1823) wurden übernommen von Malinin, K dokladu, S. 175 f. 175 Rybinsk hatte den Ruf, die „Treidlerhauptstadt“ zu sein. Siehe Lozinskij, Medicina Bd. 1, S. 130. 176 Siehe etwa Furmenko, Očerki. Bd. 1, S. 71 ff.; Ševčenko, Dejatel’nost’, S. 55. Der Voronežer Historiker Ševčenko offenbart eine anachronistische Sichtweise, indem er schreibt, dass „Menschen sogar während der Seuchen es vorzogen, sich vor einer Einlieferung ins Krankenhaus zu verstecken“. Gerade zu Zeiten von allseits gefürchteten Epidemien wie der Pest oder der Cholera entwickelten sich Krankenhäuser – und erst recht die zu diesem Zweck eingerichteten Hospitäler – zu jenen Orten, an denen die Ansteckungsgefahr besonders hoch war. Da die wenigsten Kranken

264

Orte der staatlichen Medizin

sich die Einrichtungen mit der Zeit im ganzen Land und es wurden darin immer mehr Menschen behandelt. Diesen Widerspruch gilt es im Folgenden aufzulösen. Als Fallbeispiel soll eine in ihrer Ausführ­lichkeit seltene und daher äußerst bemerkenswerte Quelle dienen: ein Bericht der Medizinal­behörde von Jaroslavl’, der darüber Auskunft gibt, welche Krankheiten in allen Stadtkrankenhäusern des Gouvernements im ersten Halbjahr 1811 behandelt wurden.177 Vorab sei vor Versuchen einer retrospektiven Diagnostik gewarnt. Nach dem heutigen Verständnis fallen viele der aufgeführten Krankheitsbezeichnungen in die Kategorie der Symptome, etwa Durchfall oder Kopfschmerzen, und erlauben keine Rückschlüsse auf die tatsäch­liche Erkrankung oder gar deren Ursachen.178 Für die Fragestellung dieser Arbeit ist jedoch ledig­lich relevant, wogegen sich die verschiedenen Kranken in einem Hospital behandeln ließen. Patienten der Stadtkrankenhäuser des Gouvernements Jaroslavl’ im ersten Halbjahr 1811



2



Erkältungsfieber

76

6

9

Entzünd­liches Fieber

13





Fleckfieber

4



21

1

Geschlechtskrankheiten





davon Kinder



davon Kinder



Verstorben

davon Kinder



9

davon Kinder

♂ Faulfieber

Genesen

davon Kinder

Diagnose

davon Kinder

Gesamtzahl der Patienten



7







1

1



4

71

5

7

2

2



1

1



13



















1







2







7



19

1

2



1



1



diese Einrichtungen während einer Epidemie lebend verließen, wurde die Einlieferung in eine solche Anstalt nicht unbegründet als ein Todesurteil empfunden. 177 Die Tabelle ist auf der Grundlage der folgenden Akte erstellt worden: Bericht der Medizinal­behörde von Jaroslavl’ an die Gouvernementsverwaltung vom 1. Juli 1811. GAJaO f. 73, op. 1, d. 806, l. 56 – 57. 178 Zur Problematik der retrospektiven Diagnose siehe Lindemann, Krankheit, S. 194; Loetz, Vom Kranken zum Patienten, S. 65 f. Ob die als genesen geführten Patienten tatsäch­lich geheilt waren, kann im Nachhinein nicht überprüft werden. Man muss davon ausgehen, dass manche von ihnen nach der Entlassung aus dem Krankenhaus der Krankheit erlagen oder das Krankenhaus verlassen mussten, weil sich ihre Krankheit als unheilbar herausgestellt hatte. Manche haben ihrem Krankenhausaufenthalt durch Flucht ein Ende bereitet, wurden jedoch nur selten als Flüchtige in den Akten vermerkt. Krankenhausformulare sahen in der Regel nur zwei Mög­lichkeiten, das Krankenhaus zu verlassen, vor: Genesung oder Tod. Also wurden alle Patienten, die das jeweilige Krankenhaus lebend verließen, als genesen geführt.

Krankenhauspatienten

Skorbut





davon Kinder



davon Kinder



Verstorben

davon Kinder



davon Kinder

Diagnose

Genesen

davon Kinder

davon Kinder

Gesamtzahl der Patienten

265



7

1

1



6

1

1











Diverse Wunden

20

4

3

2

13

3

2

1

2







Schwindsucht

10



1



4







1







Schwäche

14

10

6



9

7

3

3

2

2

1

1

Glieder­ schmerzen

3







2















41

39

23

22

31

29

17

17

7

7

5

4

Erfrierungen an Händen und Füßen

7























Kopfschmerzen

4

4

2

2

4

4

2

2









Durchfall (auch blutig)

Geschwulst

1







1















Bauchschmerzen

5

5

3

3

3

3

1

1

1

1

1

1

Wahnsinn

11



8



4



2



3







1







1















Fieber

8



1



7



1











Wassersucht

4







2







1







Krätze

18

12

10

10

12

8

8

8









Erkältungshusten

17

15

10

10

15

13

8

8

1

1





Seitenstechen

Gicht

1























Prellungen

4







2















Verbrennungen

3







1















Augenerkrankungen

1























Inkontinenz

1























304

97

86

53

228

74

54

42

24

11

10

7

GESAMT

266

Orte der staatlichen Medizin

Der Bericht lässt folgende Beobachtungen zu: 1. Die Zahl der im ersten Halbjahr 1811 behandelten Männer überstieg deut­lich die der weib­lichen Patienten. Insgesamt machten Frauen etwas über ein Fünftel der Kranken aus. Unter den Erwachsenen betrug der Anteil der Frauen knapp vierzehn Prozent. Bei Kindern war die zahlenmäßige Diskrepanz zwischen den Geschlechtern etwas geringer: Anhand der vorliegenden Zahlen entsteht ein Verhältnis von circa fünfundsechzig Prozent Jungen zu circa fünfunddreißig Prozent Mädchen.179 Damit blieb der tatsäch­liche Anteil der Frauen in diesem Fall unter dem, den die Gouvernementsverwaltung bei der Gründung von Krankenhäusern 1797 vorgesehen hatte. Als diese anordnete, Krankenhäuser mit einem Bett pro eintausend Einwohner einzurichten, sollte ein Drittel der Betten für Frauen reserviert sein.180 2. Es wurden mehr erwachsene Kranke als Kinder in den Hospitälern des Gouvernements Jaroslavl’ behandelt. Kinder machten weniger als vierzig Prozent der Patienten aus. Bei männ­lichen Kranken lag der Kinderanteil leicht über dreißig Prozent. Auffällig hoch ist der Prozentsatz der Kinder bei Patientinnen: über sechzig Prozent.181 3. Die Diagnosen variierten je nach Geschlecht der Patienten: Während die meisten Männer wegen Erkältungsfieber behandelt wurden, figurierte bei erwachsenen Frauen an erster Stelle der Wahnsinn. Am zweithäufigsten wurden bei allen Erwachsenen Geschlechtskrankheiten diagnostiziert. An dritter Stelle standen bei Männern in der Statistik aus dem Jahr 1811 diverse Wunden, bei Frauen die Schwäche.182

179 Im zweiten Halbjahr 1809 fiel das Verhältnis in denselben Einrichtungen des Gouvernements Jaroslavl’ wie folgt aus. Insgesamt machten Patientinnen 11 Prozent der Kranken aus. Unter den Erwachsenen waren 98 Prozent Männer, bei Kindern war das Verhältnis ebenfalls ausgewogener: 36 Prozent Mädchen und 64 Prozent Jungen. Siehe das Krankenregister für Stadtkrankenhäuser und Einrichtungen des Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge im Gouvernement Jaroslavl’ für die Zeit vom 1. Juli 1809 bis zum 1. Januar 1810. GAJaO f. 73, op. 1, d. 724, l. 1ob.–3. An diesem Verhältnis änderte sich auch 1825 nichts. In diesem Jahr machten Frauen 10 Prozent der Kranken im Jaroslavl’er Stadtkrankenhaus aus, der Anteil der Männer lag bei 90 Prozent. Siehe GAJaO f. 86, op. 1, d. 310, l. 12 – 13 und 34 – 35. In den Kreiskrankenhäusern fiel dieses Verhältnis etwas anders aus. In Rostov betrug der Anteil der Frauen unter den Kranken im Jahr 1824 18 Prozent und im darauffolgenden Jahr 23 Prozent. Siehe die Berichte des Kreisstabsarztes von Rostov, Aleksandr Nikolaevskij, vom 20. Juli 1824, 31. Januar 1825, 11. Juni 1825 und vom 6. Januar 1826. GAJaO f. 86, op. 1, d. 291, l. 12 – 14, 33 – 34 und d. 310, l. 10 – 11, l. 28 – 29. Diese Angaben bilden jedoch keine ausreichende Basis für Deutungen. 180 Beschluss der Stadtduma von Uglič vom 28. April 1798, in: Kuročkin, Iz istorii, S. 56 – 58, hier S. 57. 181 Im zweiten Halbjahr 1809 machten Kinder 27,44 Prozent der in den Stadtkrankenhäusern des Gouvernements Jaroslavl’ behandelten Patienten aus. Unter den männ­lichen Kranken betrug der Anteil der Kinder 20 Prozent, unter den Patientinnen überstieg er mit 86 Prozent den Anteil der Erwachsenen um ein Vielfaches. Siehe GAJaO f. 73, op. 1, d. 724, l. 1ob.–3. 182 In diesen Punkten weist die angeführte Statistik Ähn­lichkeiten mit der Charité in Berlin auf. Dort ließen sich in den 1730er und 1740er Jahren die meisten gegen Wunden und Geschlechtskrankheiten

Krankenhauspatienten

267

4. Die Sterb­lichkeit betrug im Durchschnitt etwa neun Prozent,183 wobei sie bei Frauen höher lag als bei männ­lichen Patienten. Von den behandelten Männern waren etwa sechs Prozent gestorben, bei Frauen waren neun Prozent ihrem Leiden im Krankenhaus erlegen. Am höchsten war die Sterb­lichkeitsrate unter Kindern: Sie lag bei fast zwanzig Prozent. 5. Als häufigste Todesursache bei Kindern wurde Schwäche angegeben, der dreißig Prozent zum Opfer fielen. Ein Viertel der unter Bauchschmerzen leidenden Kinder erlag ebenfalls der Krankheit im Hospital. Verschiedene Arten von Durchfall endeten für über achtzehn Prozent der Kinder töd­lich. Bei Erwachsenen bildete in dem geschilderten Fall das Fleckfieber die häufigste Todesursache, dem zwei von vier Erkrankten erlegen waren. Die zweithöchste Letalitätsrate wies die Wassersucht mit fünfundzwanzig Prozent auf. An dritter Stelle kam das Faulfieber. 6. Die meisten Patienten konnten das Krankenhaus wieder verlassen und wurden als genesen in die Statistik eingetragen. Damit bemühte sich das Stadtkrankenhaus von Jaroslavl’, nicht als ein Hospiz für unheilbare Kranke zu fungieren, sondern bewahrte – zumindest auf dem Papier – den Anspruch, eine Heilanstalt zu sein. Ob jedoch die Entlassenen tatsäch­lich genesen waren oder ob sie das Krankenhaus verließen, weil sich ihr Leiden als unheilbar herausstellte, lässt sich nicht überprüfen. Man wird jedoch annehmen dürfen, dass manche der Patienten, die weder starben noch das Krankenhaus verließen, der Einrichtung zum Teil den alten Hospitalcharakter verliehen: etwa die fünf venerischen Kranken, die zehn Patienten, die sich gegen den „Wahnsinn“ behandeln ließen, oder der an Gicht leidende Mann.184 Für das Jahr 1811 lässt sich also festhalten, dass in erster Linie Männer die Mög­ lichkeit einer Krankenhausbehandlung in Anspruch nahmen. Die häufigsten Dia­ gnosen – Fiebererkrankungen, Geschlechtskrankheiten und Durchfall – weisen auf schwere beziehungsweise akute Erkrankungen hin.

behandeln, wobei viele Patienten aus dem Militär stammten. Siehe Imhof, Hospital, S. 459. Für Heilanstalten in Deutschland kann Reinhard Spree belegen, dass im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert akute und chronische Infektionskrankheiten überwogen. Spree, Quantitative Aspekte, S. 74 f. 183 Bei den Berechnungen zur Sterb­lichkeitsrate liegt der Fehlerquotient besonders hoch. Krankenhausberichte begrenzten sich auf einen bestimmten Zeitraum, an dessen Ende Patienten nach wie vor in Behandlung blieben. Über den Verlauf ihres Genesungsprozesses ist nichts bekannt. Auch kann man nicht immer ausschließen, dass manche von den als genesen Entlassenen einen Rückfall erlitten und ihrem Leiden außerhalb der Krankenhausmauern erlagen. 184 Robert Jütte betont zu Recht, dass Heilanstalten lange Zeit Grundzüge sowohl des Hospitals als auch der Klinik in sich vereinten, und unterstreicht das „therapeutische Prinzip“ als wesent­liches Strukturmerkmal eines Krankenhauses. Jütte, Hospital, S. 32 – 35.

268

Orte der staatlichen Medizin

Um die Prävalenz der männ­lichen Patienten gegenüber den weib­lichen in den Stadtkrankenhäusern zu erklären, muss man einen Blick in Patientenregister werfen, die Aufschluss über die soziale Zusammensetzung der Kranken geben. Für das Jahr 1811 sind diese Informationen aus keinem der drei Beispielgouvernements überliefert, doch Krankenregister aus früheren und späteren Jahren vermögen ebenfalls einen Eindruck zu vermitteln. Im Mai 1806 verzeichneten im Gouvernement Jaroslavl’ ledig­lich die Stadtkrankenhäuser von sechs Kreisstädten Patienten: Patienten in Stadtkrankenhäusern in den Kreisstädten des Gouvernements Jaroslavl’ im Mai 1806 185 Stadt

Danilov

Ljubim

Myškin

Romanov

Rybinsk

Uglič

Patienten

2 Soldaten

3 Leibeigene

1 Soldat

1 Soldat

2 Soldaten a. D.

2 Soldaten

Während zweier Inspektionen im Stadtkrankenhaus von Rostov Ende des Jahres 1822 und im Mai 1823 wurden folgende Patienten gezählt: Patienten im Stadtkrankenhaus von Rostov 1822 / 1823 186 Patienten

Dezember 1822

Mai 1823

Polizeiangestellte

5

1

Feuerwehrleute



2

Leibeigene



1

GESAMT

5

4

Eine Zusammenstellung der Patienten soll veranschau­lichen, wer sich im Laufe des Jahres 1825 im Stadtkrankenhaus von Rostov behandeln ließ:

185 Die Anhaben stammen aus GAJaO f. 86, op. 1, d. 65, l. 1 – 3. 186 Die Tabelle fußt auf den Angaben aus Stepanov, Rostovskaja bol’nica, Nr. 51, S. 6.

Krankenhauspatienten

269

Patienten im Stadtkrankenhaus von Rostov im Jahr 1825 187 Patienten

Anzahl

Polizeiangestellte

16

meščane

3

Bauern

6

Angehörige der Invalidenkompanie

1

Soldaten

1

Soldatenfrauen

2

Leibeigene Hausangestellte

3

Preußen

1

GESAMT

33

Abschließend soll ein Blick ins Stadtkrankenhaus von Rybinsk das Bild vervollständigen: Patienten im Stadtkrankenhaus von Rybinsk vom 1. Dezember 1828 bis zum 1. Dezember 1829 188 Patienten

Anzahl Männer

Frauen

Angehörige der Invalidenkompanie

110



Polizeiangestellte

32



Angehörige der Militäreinheiten und Militärangehörige a. D.

41



Rekruten und Gefängnisinsassen

30

1

8



meščane Bauern

23

4



13

Soldatenfrauen GESAMT

244

187 Angaben übernommen aus ebd. 188 Die Angaben wurden übernommen von Lozinskij, Medicina Bd. 1, S. 132.

18 262

270

Orte der staatlichen Medizin

Aus den Inspektionsprotokollen geht nicht nur hervor, dass die Zahl der Patienten deut­lich unter den Kapazitäten der Krankenhäuser lag, sondern auch, dass die meisten Patienten männ­lich waren. Angehörige des Militärs und der sogenannten inneren Mannschaften (­vnutrennie komandy), zu denen die Polizei und die Feuerwehr gehörten, bildeten auch im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts das größte Kontingent an Patienten in Provinzkrankenhäusern.189 Vor allem in Voronež, das eine wichtige Zwischenstation für Truppen auf dem Weg zur Südgrenze des Rus­sischen Reiches war, mussten viele Militärangehörige medizinisch versorgt werden.190 Mehrere Berichte von Gouverneuren an die oberste Verwaltung zeugen in erster Linie von Schwierigkeiten, aufgrund von Platzmangel und schlechtem Zustand der Krankenhäuser kranke Militärangehörige und Rekruten zu behandeln.191 Neben dem deut­lichen Übergewicht der Militärangehörigen unter den Patienten der Stadtkrankenhäuser in der Provinz wies die soziale Zusammensetzung der Kranken regionale Unterschiede auf. Städte, die an großen Flüssen lagen, Handelshäfen hatten und damit in die Schifffahrt involviert waren, mussten saisonal bedingt eine große Anzahl von Schiffsarbeitern versorgen. Von Schwierigkeiten, Treidler in Stadtkrankenhäusern unterzubringen, berichteten etwa die Behörden in Kazan’.192 Krankenhausberichte aus Rybinsk, ebenfalls an der Wolga gelegen, verdeut­lichen, dass sich dort im Sommer vor allem Treidler und Schiffsarbeiter behandeln ließen.193 Der hohe Anteil der Militärangehörigen an den in Provinzkrankenhäusern behandelten Kranken ist nicht ausschließ­lich als ein Hinweis auf eine mangelnde Akzeptanz dieser Einrichtungen durch die lokale Zivilbevölkerung zu werten. Der Gouverneur von Poltava erklärte diesen Umstand 1803 wie folgt: Die Krankenhäuser, die auf Anordnung des Militärgouverneurs eingerichtet und aus dem Budget der jeweiligen Städte finanziert worden seien, bekämen die Behandlungskosten für die Militärangehörigen vom Kommissariat erstattet. Da diese Mittel die einzige Geldquelle der

189 Im Stadtkrankenhaus von Danilov befanden sich im ersten Halbjahr 1824 unter 23 Patienten 19 Militärangehörige, im zweiten Halbjahr können von 26 Kranken 25 dem Militär zugerechnet werden. Siehe die Berichte des Kreisstabsarztes von Danilov, Volynskij, an die Medizinal­behörde von ­Jaroslavl’ vom 30. Juni 1824 und vom 1. Januar 1825. GAJaO f. 86, op. 1, d. 291, l. 6 – 7 und 24 – 25. 190 Ende des Jahres 1827 wurden im zivilen Krankenhaus von Voronež zwischen drei- und fünfhundert Angehörige des Militärs behandelt. PSZ II Bd. 2, Nr. 1.512, S. 947 – 948. 191 Siehe etwa das Schreiben des Generalgouverneurs von Sibirien, Ivan Pestel’, an den Innenminister, Viktor Kočubej, vom 25. Mai 1809. RGIA f. 1287, op. 11, d. 532, l. 1 – 2, hier l. 1; siehe auch RGIA f. 1287, op. 11, d. 859, l. 1 – 4, hier l. 1. 192 Siehe beispielsweise das Schreiben des Gouverneurs von Kazan’, Boris Mansurov, an den Innenminister, Viktor Kočubej, vom 19. Dezember 1805. RGIA f. 1287, op. 11, d. 293, l. 1 – 2, hier l. 1. 193 GAJaO f. 86, op. 1, d. 310, l. 39 – 64.

Krankenhauspatienten

271

Hospitäler darstellten, nehme man nur Angehörige des Militärs auf.194 An diesem Bericht und an den bereits erwähnten Beispielen wird ein Geldmangel erkennbar, der den Alltag in Krankenhäusern zu einem großen Teil bestimmte,195 so dass sie auf zahlende Patienten angewiesen waren. Dennoch war der Bedarf an medizinischen Einrichtungen in der Provinz beim Militär deut­lich höher als in der Zivilbevölkerung. Monatelang leerstehende Krankenhäuser in Kreisstädten waren kein Phänomen, das auf die Anfangsjahre medizinischer Einrichtungen in der Provinz beschränkt blieb. Noch aus den 1820er Jahren gibt es Krankenhausberichte, in denen kein einziger Patient Erwähnung findet.196 Der überwiegende Teil der Zivilbevölkerung hatte demnach keinen Bedarf an stationärer medizinischer Versorgung, denn in den meisten Stadtkrankenhäusern bildeten diejenigen Kranken die Mehrheit, die keinen Zugang zu anderweitiger medizinischer Versorgung hatten beziehungsweise nicht selbst über ihre Einlieferung ins Krankenhaus entschieden hatten: Militärangehörige, Gefängnisinsassen, Treidler und Leibeigene. Das überlieferte Quellenmaterial vermittelt den Eindruck, dass die hohe Letalitätsrate nicht zu den meistdiskutierten Themen in der Medizinal­verwaltung der Provinz gehörte. Doch eine überdurchschnitt­lich hohe Sterb­lichkeit bei einzelnen Patientengruppen konnte für Krankenhäuser bisweilen zum Problem werden. So berichtete der Kreisarzt von Rybinsk der Jaroslavl’er Medizinal­behörde, dass es in seinem Krankenhaus viele Patienten gebe, die wenige Stunden nach ihrem Eintreffen im Hospital stürben. Es handle sich dabei vor allem um Treidler, die ein Krankenhaus nicht früher hätten aufsuchen können. Der Arzt bat die Medizinal­behörde darum, eine gesonderte Anstalt für solche Kranken einzurichten.197 Treidler benutzten Krankenhäuser offenbar nicht als Heilanstalten. Sie suchten ein Krankenhaus in der Regel erst so spät auf, dass nach den zeitgenös­sischen Vorstellungen keine Genesungschancen mehr bestanden. Sie kamen ins Krankenhaus, um zu sterben. Die Lazarette jener Zeit verstanden sich aber explizit nicht als Hospize für hoffnungslose Patienten – manche Statuten verboten es ausdrück­lich, unheilbare Kranke aufzunehmen 198 – und waren dementsprechend für eine überschaubare Anzahl von Menschen eingerichtet, die mehrere Tage stationär behandelt werden sollten, auch wenn die Praxis in diesem Punkt oft stark von der Theorie abwich.

194 RGIA f. 1287, op. 12, d. 1305, l. 20 – 21ob., hier l. 20ob.–21. 195 Siehe etwa das Schreiben des Generalstabsdoktors, Alexander Crichton, an den stellvertretenden Polizeiminister, Sergej Vjazmitinov, vom 12. August 1812. RGIA f. 1287, op. 11, d. 960, l. 5 – 12, hier l. 8. Siehe auch Kovrigina; Sysoeva; Šanskij, Medicina, S. 62. 196 Siehe etwa GAJaO f. 86, op. 1, d. 20, l. 46ob.–47; GAJaO f. 86, op. 1, d. 67, l. 1ob.–2; GAJaO f. 73, op. 1, d. 724, l. 26, 48 und GAJaO f. 73, op. 1, d. 1253, l. 2. 197 GAJaO f. 86, op. 1, d. 29, l. 1 – 1ob. 198 Ähn­lich verhielt es sich in Hospitälern im Westen Europas. Siehe Lindemann, Medicine, S. 139.

272

Orte der staatlichen Medizin

Damit hatten Krankenhäuser in Russland zumindest auf dem Papier einen wichtigen Schritt zur Abkehr vom alten Hospital, das nur der Verwahrung gedient hatte, getan.199 Schon in den 1790er Jahren verstanden Ärzte Krankenhäuser also als Heilanstalten, deren Ziel die erfolgreiche Behandlung von Kranken und nicht deren bloße Verwahrung war.200 Aus ebendiesem Grund lehnte es der Stabsarzt von Rybinsk ab, in seinem Krankenhaus Treidler aufzunehmen, die zum Sterben kamen.201 Das Verhalten der Treidler lässt sich als ein Hinweis darauf auslegen, dass die stationäre Behandlung erst dann gesucht wurde, wenn die Selbstmedikation und die Hilfe von medizinischen Laien nicht den gewünschten Erfolg zeigten, also in einem fortgeschrittenen Stadium einer Erkrankung. Das späte Aufsuchen eines Hospitals war eine Konstante, die das Verhalten der Einwohner Russlands durch den gesamten Untersuchungszeitraum hindurch charakterisiert. Nicht nur die Mediziner vor Ort, sondern auch die zentrale Verwaltung war sich dieses Problems bewusst. Das Krankenhausstatut des Jahres 1818 verpf­lichtete lokale Behörden im ganzen Reich, die Bevölkerung über Aufnahmebedingungen der Hospitäler zu informieren und sie aufzufordern, die Kranken mög­lichst frühzeitig in ein Krankenhaus zu bringen.202 Denn mit ihrem Verhalten untergrub die Bevölkerung den Anspruch der Heilanstalten und verstieß gegen das Selbstverständnis der akademischen Medizin. Der Staatsgewalt und den Medizinern standen nur wenige Mittel zur Verfügung, um das angesprochene Verhaltensmuster der Bevölkerung zu verändern. Die hohe Sterb­lichkeit in Krankenhäusern führte auch das Komitee, das zur Verbesserung des

199 Siehe etwa Brinkschulte, Krankenhaus, S. 149. Die „räum­liche Spezifizierung“ in den Hospitälern für Syphiliskranke und die „Betonung der Funktion als Heilanstalt“, die bereits in der frühen Neuzeit stattfand, betrachtet Annemarie Kinzelbach als einen „modernen“ Zug eines Krankenhauses. Siehe Kinzelbach, Böse Blattern, S. 56 – 61. Siehe auch das Schreiben des Stabsarztes Pachomov an die Medizinal­behörde von Voronež vom 24. Mai 1798, zitiert nach Taradin, Materialy, S. 542. 200 Die beiden Quellen widersprechen der Behauptung von Rustemeyer, die Heilung sei erst Mitte des 19. Jahrhunderts zur Hauptaufgabe der Krankenhäuser geworden, während es vorher die bloße Verwahrung gewesen war. Rustemeyers These steht ebenso im Widerspruch zum Selbstverständnis der Mediziner und zu ihrem Begriff von Krankenhäusern in jener Zeit. Rustemeyer, Autokraten, S. 86. Dieses Problem und seine Behandlung in der Forschung sprechen überblicksartig an: Vanja, Offene Fragen, S. 23 ff. Darin auch Hinweise auf weiterführende Literatur. In der Praxis konnten die Hospitäler ihrem Selbstanspruch frei­lich nicht immer gerecht werden. Zur Verbreitung des Prinzips der Klinik in Westeuropa am Beispiel Badens siehe Loetz, Vom Kranken zum Patienten, S. 95 f. 201 Siehe auch den Bericht des Stabsarztes von Rybinsk, Avgust Šreter, an die Medizinal­behörde von Jaroslavl’ vom 20. September 1802. GAJaO f. 86, op. 1, d. 44, l. 1 – 2ob., hier l. 1 – 2. Ein ähn­liches Verhalten wurde auch im Militär beobachtet. 1790 berichtete ein Stabsarzt, dass kranke Militärangehörige erst dann von ihren Einheiten ins Hospital geschickt würden, wenn keine Aussicht auf Heilung mehr bestünde. Siehe den kaiser­lichen Erlass vom April 1790, in: PSZ I Bd. 23, Nr. 16.859, S. 128 – 129, hier S. 128. Dieses Verhaltensmuster erwies sich als hartnäckig. Siehe etwa den kaiser­ lichen Erlass vom 12. Januar 1827, in: PSZ II Bd. 2, Nr. 820, S. 20 – 21. 202 RGIA f. 1287, op. 12, d. 75, l. 12.–12ob.

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Zustands der Petersburger Heilanstalten gegründet worden war, vor allem auf den Umstand zurück, dass Kranke in der Regel erst dann in ein Krankenhaus geschickt würden, wenn ihr Zustand eigent­lich schon hoffnungslos sei. Um diesen Missstand zu beheben, schlug das Komitee vor, auf den Seiten der offiziellen rus­sischen und deutschsprachigen Zeitungen dazu aufzufordern, Kranke nicht lange zu Hause zu pflegen, sondern sie gleich zu Beginn der Krankheit in ein Hospital zu bringen.203 In diesem Fall setzte man auf Information und Aufklärung, auch mithilfe des jungen Mediums Zeitung.204 Seiner Wirkung waren jedoch vor allem in der Provinz durch die hohe Analphabetenrate enge Grenzen gesetzt. Das verbreitete Muster, die Hilfe von Medizinal­beamten unter anderem in Krankenhäusern zu spät zu suchen, unterlief die Zielsetzung der Krankenhäuser und damit auch deren Akzeptanz. Es galt, einen Teufelskreis zu durchbrechen. Nur wenn Heilanstalten in den Ruf kämen, Menschen erfolgreich gegen Krankheiten zu behandeln, könnten sie – ähn­lich wie Medizinal­beamte in der Provinz – auf Vertrauen und Akzeptanz der lokalen Bevölkerung hoffen. Damit aber in Krankenhäusern Behandlungserfolge erzielt werden konnten – so die Vorstellung der Mediziner –, mussten sich Kranke den von Ärzten diktierten Gesetzen unterwerfen, zu denen auch das mög­lichst frühe Aufsuchen eines Krankenhauses gehörte. Wenn Francisca Loetz am Beispiel des Herzogtums Baden in der zweiten Hälfte des achtzehnten und der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts feststellt, dass Krankenhäuser oft Sozialasyle waren, in die „marginalisierte Personengruppen (Arme, Alte, Geschlechtskranke, Ansteckende, unehe­liche Schwangere)“ aufgenommen wurden,205 werden Ähn­lichkeiten mit Provinzkrankenhäusern im Rus­sischen Reich augenfällig. Bei der Einrichtung mancher Krankenhäuser wurde deren Zielgruppe genannt. Das Krankenhaus etwa, das den Namen seines Stifters Dmitrij Golicyn trug, stand zwar grundsätz­lich allen Kranken offen. Doch das Gründungsstatut hielt fest, dass „alle Armen und Mittellosen beiderlei Geschlechts sowie freie Ausländer, Mönche und Geist­liche“ kostenlos behandelt würden.206 Auch das Krankenhaus, das vom Simbirsker Adel 1801 eingerichtet wurde, war in erster Linie für Mittellose gedacht.207 Oft war die Grenze zwischen Armen- und Krankenfürsorge 203 Vorschläge des Komitees zur Verbesserung der Krankenhäuser in St. Petersburg vom 26. Februar 1804. RGIA f. 1287, op. 11, d. 960, l. 23 – 23ob., hier l. 23ob. 204 Aus der Provinz des Reiches sind keine vergleichbaren Beispiele für den Einsatz der Presse überliefert. 205 Loetz, Vom Kranken zum Patienten, S. 96, ähn­lich auch Imhof, Hospital, S. 451. 206 PSZ I Bd. 23, Nr. 17.184, S. 494. 207 Kaiser­licher Erlass vom 11. Juli 1801, in: PSZ I Bd. 26, Nr. 19.912, S. 695 – 696. Auch der 22-jährige Kaufmann Konstantin Gajdukov, der 1804 ein Krankenhaus in Vjaz’ma gestiftet hatte, richtete es für Arme ein. Siehe das Schreiben Konstantin Gajdukovs an den Militärgouverneur von Smolensk, Stepan Apraksin, vom 1. Januar 1804. RGIA f. 1287, op. 11, d. 194, l. 2 – 3, hier l. 2.

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fließend. Eng verbunden waren die beiden Bereiche etwa auch in dem berühmten Asyl (strannopriimnyj dom), das Graf Nikolaj Šeremetev 1803 in Moskau errichtet hatte.208 Obwohl die Krankenhäuser dem Anspruch ihrer Gründer und des medizinischen Personals nach auf Heilung ausgerichtete Anstalten waren, g­lichen sie in Wirk­lichkeit – aufgrund der Zielgruppe und deren Krankheitsverhalten – oft eher der letzten Zufluchtsstätte für unheilbar Kranke und Arme als einem Ort, an dem Krankheiten innerhalb von kurzer Zeit erfolgreich behandelt wurden.209 Städtische Krankenhäuser waren in der untersuchten Zeit Einrichtungen für diejenigen, für die eine private ärzt­liche Behandlung nicht in Frage kam und für die keine partikulare medizinische Versorgung existierte. Der Anspruch, durch städtische Krankenhäuser medizinische Hilfe vor allem denjenigen Bevölkerungsgruppen zugäng­lich zu machen, die sie sich nicht selbst verschaffen konnten, blieb auch im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts bestehen.210 Doch warum blieben Bedürftige den Krankenhäusern in der Regel fern? Einen mög­lichen Grund dafür, dass arme Menschen im Falle einer Erkrankung auf einen Krankenhausaufenthalt verzichteten, sah die Verwaltung in den 1830er Jahren in ihren familiären Pf­lichten. Einige könnten zum Beispiel ihre kleinen Kinder nicht ohne Aufsicht lassen, argumentierte der Gouverneur von Smolensk in einem Schreiben an den Innenminister.211 Um ihnen dennoch eine Behandlung zu ermög­lichen, wurde beschlossen, bedürftigen Kranken unentgelt­lich Medikamente zur Verfügung zu stellen. Die Kosten dafür sollten die Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge tragen.212 Weitere Gründe für das Fernbleiben vieler Kranker vom Krankenhaus wurden beispielsweise in Astrachan’ darin gesehen, dass leichtere chro­ nische Krankheiten im „einfachen Volk“ nicht als solche anerkannt würden. Fühlten sich Menschen krank, so wandten sie volksmedizinische Mittel an oder suchten in schweren Fällen den nächsten Arzt auf. Außerdem wohnten gerade die ärmeren Bevölkerungsgruppen auf dem Land oft weit von den Einrichtungen des jeweiligen

208 Kaiser­licher Erlass an den Senat vom 25. April 1803, in: PSZ I Bd. 27, Nr. 20.727, S. 553 – 565, hier S. 553. 209 Somit gilt auch für Russland, was die historische Forschung bereits für einzelne Länder West- und Mitteleuropas herausgefunden hat: „Diese Entwicklung vom Hospital zum Krankenhaus vollzog sich langsam, in Brüchen, Neues und Altes mischend, von Rückschlägen und Konlifkten begleitet.“ Labisch; Spree, Entwicklung, S. 14. In diesem Sinne auch Lindemann, Medicine, S. 162 ff. 210 Siehe etwa den kaiser­lichen Erlass an den Zivilgouverneur von St. Petersburg, Sergej Kušnikov, vom 26. Februar 1804, in: PSZ I Bd. 28, Nr. 21.184, S. 158 – 159, hier S. 158. 211 Rundschreiben des Innenministers, Dmitrij Bludov, an die Gouverneure vom 5. Januar 1836. RGIA f. 1287, op. 12, d. 1383, l. 2 – 4, hier l. 2 – 2ob. und Schreiben des Gouverneurs von Smolensk, Nikolaj Chmel’nickij, an den Innenminister, Dmitrij Bludov, vom 31. Januar 1836. RGIA f. 1287, op. 12, d. 1383, l. 15. 212 RGIA f. 1287, op. 12, d. 1383, l. 2ob.

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Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge entfernt. Im Frühjahr und im Herbst sei der weite Weg ins Krankenhaus ein unüberwindbares Hindernis.213 Wie schon im Verhältnis der lokalen Bevölkerung zu Medizinal­beamten muss auch in Bezug auf die Nutzung medizinischer Einrichtungen die Frage umgekehrt gestellt werden: Nicht das Fernbleiben der potenziellen Patienten von den Krankenhäusern bedarf einer Erklärung, sondern der Umstand, dass die neuen Einrichtungen allmäh­lich genutzt wurden.214 Sie stellten – genauso wie akademisch ausgebildete und von der zentralen Medizinal­verwaltung in die Provinz geschickte Ärzte – vielmehr ein zusätz­liches Angebot dar, das neu war und sich zunächst einmal bewähren musste. An nichtlizenzierte Heiler wandte sich die lokale Bevölkerung nicht etwa, weil das staat­liche Angebot an medizinischer Versorgung nicht ausgereicht hätte.215 Vielmehr blieben die lokalen Heilkundigen, wie bereits gezeigt, auch nach dem Einzug des staat­lichen Medizinal­wesens in die Provinz die ersten Ansprechpartner für den überwiegenden Teil der lokalen Bevölkerung. Stadtkrankenhäuser erweiterten ledig­lich das bestehende Angebot und kamen für die meisten nur dann in Frage, wenn die übrigen Mittel – Selbstmedikation und Behandlung durch sogenannte Scharlatane – dem Leiden keine Abhilfe schaffen konnten. Mit der Gründung der Krankenhäuser in der Provinz verfolgte die Staatsgewalt das Ziel, genau dieses Verhaltensmuster zu durchbrechen. Mit anderen Worten: Das Krankenhaus stellte in ihren Händen ein Medikalisierungsinstrument dar. Der Umgang der Provinzbevölkerung mit der neuen Institution des Krankenhauses entsprach aber in zwei Punkten nicht der Intention der Staatsgewalt: Die städtischen Gesellschaften waren bei weitem nicht immer bereit, für die Gründung und den Unterhalt der Heilanstalten aufzukommen, und diejenigen zivilen Bevölkerungsgruppen, die von diesen Einrichtungen Gebrauch machen sollten, blieben ihnen weitgehend fern. Mit diesem Verhalten konfrontiert, sah sich die Staatsmacht gezwungen, neue Medikalisierungsmaßnahmen zu ergreifen. Während das Medizinal­wesen in seinen Anfängen vor allem das Ziel verfolgte, die medizinische Versorgung zu institutionalisieren, rückte im neunzehnten Jahrhundert zunehmend die Frage in den Blick der Verwaltung, mit welchen Mitteln sich jene Kranken medikalisieren ließen, die von den bestehenden Einrichtungen nicht erfasst wurden.

213 Beschluss des Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge von Astrachan’ vom 24. März 1836. RGIA f. 1287, op. 12, d. 1383, l. 92 – 97, hier l. 95ob.–96. 214 So Loetz, Vom Kranken zum Patienten, S. 325. 215 So Taradin, Materialy, S. 556.

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4. 3  Zu s a m me n f a s s u ng Es liegt in der Natur der Sache, dass in erster Linie Dysfunktionalitäten Niederschlag in den Verwaltungsakten finden. So nimmt es nicht wunder, dass die wenigen überlieferten Dokumente der lokalen und zentralen Medizinal­behörden vor allem von Geldmangel, überfüllten Räumen, Diebstahl und anderen Missständen in Provinzkrankenhäusern handeln. Arbeiten, die auf dieser Materialgrundlage geschrieben worden sind, kommen allesamt zu einem vernichtenden Urteil über die medizinische Versorgung in der Provinz. Doch auch wenn man Dokumente zur Geschichte der Krankenhäuser nach allen Regeln der Quellenkritik in ihrer Aussage relativiert, soll es hier nicht darum gehen, ob nun die positiven oder die negativen Seiten des medizinischen Alltags in der Provinz überwogen. Zum Abschluss sollen die zentralen Entwicklungsstränge im Krankenhauswesen der Provinz in einer Gesamtschau zusammengetragen und in Verhältnis zu den Erwartungen gesetzt werden, die Zeitgenossen daran stellten. Der Blick in den Alltag in Russlands Krankenhäusern im ausgehenden achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert zeigt, wie groß die Diskrepanz zwischen dem Anspruch eines modernen Krankenhauses und der Wirk­lichkeit sein konnte. Seit den 1770er Jahren standen zwei Leitideen hinter der Gründung von Krankenhäusern: die Trennung der Kranken mit ansteckenden Krankheiten von den Gesunden und die Befreiung der Kranken von ihrem Leiden. Keineswegs sollten Hospitäler, die seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts in der Provinz gegründet wurden, der bloßen Verwahrung von Kranken dienen. Viele Krankenhäuser lehnten es bereits in ihren Statuten ab, unheilbar Kranke aufzunehmen, was als ein wesent­liches Kennzeichen des modernen Krankenhauses gilt. Die spär­lich überlieferten Hinweise auf das Verhalten der Patienten erlauben zwei Beobachtungen: Zum einen stand ein Krankenhausaufenthalt für diejenigen, die sich keine private ärzt­liche Behandlung leisten konnten, am Ende einer langen Kette von Medikationsstufen. Ein Krankenhaus wurde erst dann aufgesucht, wenn alle anderen Stationen versagt hatten. Zum anderen erwartete man von einem Krankenhausauf­ enthalt eine Heilung. Gemessen am Selbstverständnis der akademischen Medizin widersprachen sich die beiden Bestandteile dieses Verhaltensmusters. Wurde ein Krankenhaus erst aufgesucht, wenn eine Krankheit weit fortgeschritten war, sanken die Genesungschancen beträcht­lich. Somit kämpften Provinzkrankenhäuser um ihren Status als Heilanstalten, während sie von einem Teil ihrer Patienten zu Hospitälern im alten Sinne des Wortes gemacht wurden. Und wenn noch in den 1860er Jahren ein zemstvo-Arzt über die Krankenhäuser im Gouvernement Voronež schrieb, dass sie zumindest teilweise als permanente Unterkunft für Obdachlose und Alkoholiker

Zusammenfassung

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dienten,216 dann lässt sich die Hartnäckigkeit der Hindernisse ermessen, mit denen sich die Verfechter des modernen Krankenhauswesens auseinandersetzen mussten. Auch die materielle und personelle Ausstattung vieler Heilanstalten entfernte sie denkbar weit vom Ideal des frühen neunzehnten Jahrhunderts. Zwar hatte sich die medizinische Versorgung der Zivilbevölkerung mit der Verwaltungsreform des Jahres 1797 aus dem Wohltätigkeitsdiskurs herausgelöst. Tatsäch­lich blieb aber die stationäre medizinische Behandlung weiterhin eng mit der Armenfürsorge verbunden.217 Mehrere Einrichtungen verknüpften beide Bereiche miteinander: städtische Krankenhäuser etwa, die Bedürftigen eine unentgelt­liche Behandlung zusicherten, oder die kostenlose Versorgung der Armen mit Medikamenten und die medizinische Betreuung in Armenhäusern, die teilweise als Pflegeheime für unheilbar Kranke dienten. Die soziale Zusammensetzung der Patienten in den untersuchten Provinzkrankenhäusern entsprach insofern dem Medikalisierungsvorhaben des Gesetzgebers, als sich fast ausschließ­lich Vertreter unterer sozialer Gruppen in Krankenhäusern behandeln ließen. Des Weiteren diente das entstehende Netz ziviler Krankenhäuser zu einem großen Teil der medizinischen Versorgung des Militärs. Vor allem in den Anfangsjahren bildeten niederrangige Militärs und Rekruten das Hauptkontingent der Patienten. Je höher der soziale Rang, desto geringer war die Wahrschein­lichkeit, dass sich die jeweilige Person einer Behandlung in einem öffent­lichen Krankenhaus unterzog. Angehörige des meščanstvo stellten eine Minderheit unter den Krankenhauspatienten dar. Kaufleute kamen noch seltener in ein städtisches Hospital. Adlige fehlten fast vollständig in den Krankenhausberichten. Dieses Verhalten lässt sich zur selben Zeit auch in anderen Gegenden Europas beobachten:218 Das staat­liche Medikalisierungsprojekt nahm zuerst jene Bevölkerungsgruppen ins Visier, deren Krankheiten man als eine Gefahr für die Allgemeinheit betrachtete. Der Zustand der Krankenhäuser in der Provinz, vor allem der Hospitäler in den Kreisstädten, hing in hohem Maße vom Engagement der lokalen Behörden und dem jeweiligen finanziellen Rahmen ab. Die Position der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge, der Stadtdumas und der lokalen Medizinal­behörden in der Kommunikation über die Einrichtung und Erhaltung von Krankenhäusern war eine Folge der Einstellung, die ihre Mitglieder gegenüber medizinischen Einrichtungen eingenommen hatten.

216 Fedjaevskij, Zemstvo, S. 4. 217 Vergleiche zum Konnex zwischen Armut und Krankheit sowie zur Medikalisierung der Armut am Beispiel Badens im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert bei Loetz, Vom Kranken zum Patienten, S. 272 f. 218 Ebd., S. 104.

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Was bedeuten diese Befunde für die Frage nach dem Erfolg der Medikalisierung im Rus­sischen Reich? Kleine Errungenschaften konnte die Medikalisierungskampagne vor allem bei jenen Bevölkerungsgruppen erzielen, die ohnehin zu einem großen Teil dem Zugriff der Staatsgewalt ausgesetzt waren, vor allem beim Militär und bei Staatsbeamten. Ihrer medizinischen Versorgung kam auch der Ausbau des Medizinal­wesens in der Provinz zugute. Jene Bevölkerungsgruppen allerdings, die in den 1760er und 1770er Jahren im Medikalisierungsdiskurs als Objekte der staat­lichen Medizinal­politik fungierten – all diejenigen, die sich vor allem aus finanziellen Gründen keine private ärzt­liche Behandlung leisten konnten –, ließen sich nur bedingt von den neuen medizinischen Einrichtungen erfassen. Sie verharrten weitgehend in den gewohnten Verhaltensmustern und betrachteten städtische Krankenhäuser ledig­lich als eine Erweiterung des bestehenden lokalen Angebots an medizinischer Versorgung – als die letzte Station auf der Suche nach Heilung. Dennoch wuchs das Netz von städtischen Krankenhäusern im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, und auch die medizinischen Einrichtungen selbst erweiterten ihre Kapazitäten, vor allem in regionalen Zentren. Frei­lich handelte es sich bei ihren Patienten auch im neunzehnten Jahrhundert in erster Linie um Militärangehörige, Leibeigene, Staatsbauern und Sträflinge. Doch die Gruppen, die nach wie vor die Minderheit der Krankenhauspatienten bildeten – freie Personen, Frauen und Kinder –, waren um 1830 zahlenmäßig deut­lich größer als im späten achtzehnten Jahrhundert. Diese Tendenz lässt auf eine steigende Akzeptanz der neuen Einrichtungen in der Provinz schließen – im Falle der Bauern und der Militärangehörigen belegt sie allerdings vorrangig die Akzeptanz seitens der Verwalter und Befehlshaber. Doch wenn Kranke Provinzhospitäler aufsuchten, modifizierten sie durch ihr Verhalten deren Gestalt. Allein der Umstand, dass manche Krankengruppen erst kurz vor dem Tod ins Krankenhaus kamen, veränderte den Charakter dieser Einrichtungen radikal. Ihre Funktion als Heilanstalt trat somit nicht nur dadurch in den Hintergrund, dass die Autorität des medizinischen Personals oft nicht durchsetzbar war. Zusammen mit der meist desolaten finanziellen Lage verwandelte auch das Verhalten der Patienten viele Krankenhäuser zumindest zum Teil in Asyle für chronisch oder gar unheilbar kranke Bedürftige. Zu den Akteuren des lokalen Medizinal­wesens gehörten im Rus­sischen Reich nicht nur Medizinal­beamte und Kranke. Auch andere Bevölkerungsgruppen waren in den medizinischen Alltag eingebunden, in erster Linie lokale Gesellschaften, denen seit 1775 eine besondere Rolle in diesem Bereich zukam. Von dem Beitrag, den die lokale Bevölkerung für das öffent­liche Medizinal­wesen leisten konnte und leistete, handelt das nächste Kapitel.

5.  S P E N D E N , I M P F E N , D E N K M A L S E T Z E N: M E D I Z I N A LW E S E N A L S AU F G A B E N F E L D LOK A LER GESELLSCH A FTEN

In den bisherigen Ausführungen traten neben der Staatsgewalt Ärzte, Hebammen, die Geist­lichkeit und nichtlizenzierte Heiler auf der einen Seite sowie Kranke und Patienten auf der anderen als Hauptakteure im staat­lichen Medizinal­wesen auf. Doch damit blieben wichtige Rollen unerwähnt, die dem staat­lichen Medikalisierungsprojekt eine besondere Prägung verliehen. Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge, die ­Katharina II. ins Leben rief, sollten vor allem lokale Eliten zur Unterstützung dieses Bereichs animieren. Wie weit die Beteiligung der lokalen Bevölkerung am Medizinal­wesen tatsäch­lich reichte, soll im vorliegenden Kapitel untersucht werden. Neben den verschiedenen Formen des Engagements steht das vielfältige Rollenverständnis im Mittelpunkt des Interesses: Mit welchen Erwartungen trat die Staatsmacht an die einzelnen Bevölkerungsgruppen heran, und welche Aufgaben im Bereich der medizinischen Versorgung übernahmen die Letzteren? Zwischen den beiden Momenten – dem Rollenangebot und der Übernahme einer neuen Rolle – stehen komplexe Aneignungsprozesse, die Differenzen zwischen den Anforderungen und dem Selbstverständnis der Angesprochenen ausgleichen. Die Frage nach dem Wechselspiel zwischen der Staatsgewalt und der lokalen Bevölkerung des Rus­sischen Reiches ist in der Forschung des Öfteren gestellt worden, allerdings seltener in Bezug auf das ausgehende achtzehnte und frühe neunzehnte Jahrhundert. Während für die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts häufig von einer „lokalen Gesellschaft“ die Rede ist,1 bleibt weitgehend unklar, mit welchen Akteuren man es in der Zeit vor den Reformen der 1860er Jahre und vor allem im späten achtzehnten Jahrhundert auf der lokalen Ebene zu tun hat: mit Einzelpersonen oder mit Akteursgruppen? Und wenn Akteursgruppen auftraten: Wie lassen sie sich charakterisieren und inwieweit waren sie organisiert? Von der Antwort auf diese Fragen hängt das Urteil über die Auswirkungen der kathari­ näischen Gesellschaftspolitik ab: Inwieweit war es der Staatsgewalt gelungen, sich

1 Siehe etwa: Hausmann (Hg.), Gesellschaft; Häfner, Gesellschaft. Zu den Gefahren einer oft impliziten Dichotomie zwischen Autokratie und Gesellschaft in den Studien zum späten 19. und frühen 20. Jahrhundert siehe Sperling, Autokratie, S. 7 – 21. Zur Entwicklung dieses historiographischen Topos siehe Hildermeier, Bürgertum, S. 2 – 5.

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in Gestalt der Provinzeliten einen Kommunikations- und Kooperationspartner auf lokaler Ebene heranzuziehen? Hier richtet sich der Blick auf diejenigen sozialen Gruppen, die seit der Regierungszeit ­Katharinas II . in den Ausbau des öffent­lichen Medizinal­wesens in der Provinz einbezogen wurden: die Stadtbevölkerung, zu deren Elite vor allem die wohlhabende Kaufmannschaft gehörte, und den Adel. Inwieweit gibt ihr Verhalten Hinweise auf die etwaige Existenz und Funktionsweise lokaler Gesellschaften? Dabei gilt die Suche nicht einer ständeübergreifend organisierten und womög­lich auch überregional vernetzten Gesellschaft – diese Merkmale würden den Gebrauch des Singulars rechtfertigen –, sondern Ansätzen für ein zielorientiertes gemeinsames Handeln bei Projekten von regionaler Tragweite, also den Anfängen einer Vergesellschaftung. Nachdem die Forschung in den 1960er Jahren dem gesellschaft­lichen Leben in der Provinz des Zarenreichs ein amorphes Dasein bescheinigt hat, analysieren histo­ rische Studien seit den 1990er Jahren unterschied­liche Formen des gesellschaft­lichen Lebens und suchen nach Anzeichen für eine Selbstorganisation der lokalen Eliten.2 Dabei ist ein differenziertes Bild entstanden, in dem das Verhalten der Oberschichten das gesamte Spektrum von Eigeninitiative, einer positiven Aufnahme staat­lich eingerichteter Institutionen bis hin zu Ignoranz und renitenten Haltungen abdeckt. Das Beispiel medizinalpolitischer Projekte soll Verhaltensmuster in einem Bereich offenlegen, mit dem die Provinzeliten auf unterschied­liche Art und Weise in Berührung kamen: von öffent­lichen Krankenhäusern bis zur Pockenimpfung. Einen Schlüssel zur selbstdefinierten Rolle der Eliten in der Provinz liefert nicht nur die Art und Weise, wie staat­licherseits formulierte Pf­lichten erfüllt oder abgelehnt wurden. Zentral ist auch das freiwillige Engagement, die Erfindung eigener Aufgaben – dazu zählt nicht zuletzt die Wohltätigkeit. Gerade dieses Verhalten der städtischen und länd­lichen Bevölkerung in Russland ist von der Forschung bisher kaum untersucht worden.3 Wie in anderen Teilbereichen des Themas der vorliegenden Arbeit überwiegen auch hier Studien zur zweiten Hälfte des neunzehnten

2 Von dieser Forschungsrichtung werden sowohl verordnete Organisationsformen wie etwa Adelswahlen als auch freiwillige Geselligkeitsformen in den Blick genommen. Siehe etwa Hausmann (Hg.), Gesellschaft; für das ausgehende Zarenreich: Häfner, Gesellschaft. Aleksandr Kuprijanov widmet das erste Kapitel seiner Studie unterschied­lichen Geselligkeitsformen im städtischen Leben der Provinz und geht im weiteren Verlauf der Untersuchung auch auf lokale Selbstverwaltungsorgane ein. Kuprijanov, Kul’tura. Mit der adligen Selbstverwaltung im Gouvernement Voronež beschäftigt sich Litvinova, Organizacija. Siehe auch das 2005 publizierte avtoreferat mit demselben Titel. 3 In seiner umfangreichen Studie zum Bürgertum im Zusammenhang mit der Entwicklung der Städte im Rus­sischen Reich richtet Manfred Hildermeier seinen Blick in erster Linie auf die recht­liche Stellung und wirtschaft­liche Tätigkeit der Stadtbevölkerung. Hildermeier, Bürgertum.

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Jahrhunderts und zum ausgehenden Zarenreich.4 Wenn private Wohltätigkeit bisweilen das Interesse einzelner Historiker auf sich gelenkt hat, dann handelt es sich in erster Linie um Kunstmäzenatentum und Armenfürsorge.5 Wegen der starken Konzentration des Kapitals auf die beiden Hauptstädte richten solche Studien ihren Blick vor allem auf Moskau und St. Petersburg. Einen wichtigen Baustein für die Erforschung dieses Phänomens in der Provinz des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts konnte dagegen die Untersuchung der Bildungsförderung liefern.6 Dabei bot auch das Medizinal­wesen vielfältige Mög­lichkeiten für privates Engagement. Insbesondere wenn es um die medizinische Versorgung ärmerer Bevölkerungsgruppen ging, konnten verschiedene Akteure auch spontan die Rolle des Wohltäters übernehmen. In erster Linie ist hier medizinisches Personal zu nennen, dessen unmittelbare Nähe zu Hilfsbedürftigen besonders viele Gelegenheiten für wohltätiges Handeln eröffnete.7 Zweifellos entfalteten solche Formen des persön­ lichen Engagements in Einzelfällen eine große Wirkung, da sie medizi­nische Hilfe dort ermög­lichten, wo diese ohne den Einsatz der Spender nicht mög­lich gewesen wäre. Doch soll es hier um eine andere Art der Wohltätigkeit gehen. Hier steht die Frage im Mittelpunkt, welche Rollen die lokale Bevölkerung im Medizinal­wesen tatsäch­lich übernahm: innerhalb und eventuell auch außerhalb des staat­lich definierten Rahmens. Die Suche nach kollektiven Handlungsmustern soll dabei keine Homogenität einzelner sozialer Gruppen konstruieren. Sowohl der Adel als auch die Kaufmannschaft im Russland des neunzehnten Jahrhunderts zeigen eine derart breite Palette an Varianten etwa in Bezug auf wirtschaft­liche Verhältnisse, Bildung, gesellschaft­ liche Position und, unmittelbar damit zusammenhängend, Lebensstil, dass es bisweilen wenig sinnvoll erscheint, von „dem Adel“ oder „der Kaufmannschaft“ zu sprechen. Dennoch gibt es dafür in manchen Fällen gute Gründe. Trotz ihrer inneren

4 Siehe den Artikel, der die Wohltätigkeit im Zusammenhang mit der Idee der Öffent­lichkeit und der bürger­lichen Identität betrachtet: Ul’janova, Blagotvoritel’naja dejatel’nost’. Weiterführende Literaturhinweise ebd., S. 100 f. Siehe auch Lindner, Unternehmer, S. 391 – 403. Ein breites Panorama der kaufmännischen Welt von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg zeichnet der Sammelband von Gebhard; Pietrow-Ennker; Lindner (Hg.), Unternehmer. 5 Siehe etwa Bayer, Medici. Leider exotisiert die Autorin Russland im Sinne des Orientalismus und versperrt dadurch den Weg zu einem Verständnis der erforschten Handlungsmuster. Zur Armenfürsorge im späten 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts siehe Lindenmeyr, Poverty, S. 99 – 119. 6 Kusber, Eliten- und Volksbildung. 7 In den Quellen finden sich Hinweise auf Ärzte, die mit ihren eigenen Medikamenten Kranke behandelten und darauf verzichteten, Geld erstattet zu bekommen, etwa der Kreisarzt von Ljubim, der auf eigene Kosten sieben Bauern behandelt hatte. Siehe den Bericht des Kreisstabsarztes von Ljubim, Il’ja Nečaev, an die Medizinal­verwaltung von Jaroslavl’ vom 21. März 1827. GAJaO f. 86, op. 1, d. 360, l. 15.

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wie äußeren Heterogenität konstituierten sich beide Stände durch Rechte, Pf­lichten und Privilegien. Als Stand traten der Adel und die Kaufmannschaft denn auch der Staatsgewalt gegenüber, die wiederum unterschied­liche Erwartungen an sie stellte und auch standesbezogene Kommunikationsformen an den Tag legte. Nicht zuletzt kreierte die katharinäische Gesetzgebung mit Organen der lokalen Selbstverwaltung einen neuen Aktionsrahmen, der sich – zumindest im Falle des Adels – an den ständischen Grenzen orientierte und die Herausbildung eines neuen Selbstverständnisses fördern sollte. Diese Umstände trugen dazu bei, dass trotz der vielen Unterschiede in den individuellen Handlungsmustern Verhaltensformen entstanden, die einen standesspezifischen Charakter hatten, der es wiederum erlaubt, von „dem Adel“ und „der Kaufmannschaft“ zu sprechen. Der erste Teil des Kapitels skizziert die neuen Rollen, die ­Katharina II. in ihrer Gesetzgebung der lokalen Bevölkerung auferlegte, und fragt nach den Reaktio­ nen auf dieses Angebot – zunächst in einer kurzfristigen und anschließend in einer mittelfristigen Perspektive. Der zweite Teil richtet den Blick auf das Projekt der Pockenschutzimpfung, das eine Mitwirkung nicht nur der Eliten, sondern der gesamten Bevölkerung erforderte.

5.1   Ve r or d ne t e Ve r a nt wor t u ng u nd Ve r h a nd lu ng d e r Rol le n Mit der Gründung der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge übertrug die Staatsgewalt der lokalen Bevölkerung die Verantwortung für Einrichtungen, zu denen auch Stadtkrankenhäuser in Gouvernements- und Kreisstädten zählten. Die Idee, die medizinische Versorgung zur Aufgabe der ört­lichen Bevölkerung zu machen, war 1775, als die Verwaltungsreform verkündet wurde, nicht neu. Bereits Peter I. zog Oberschichten zum Aufbau des Medizinal­wesens und zur Verbreitung des medizinischen Wissens zumindest auf dem Papier heran: Petersburger sollten mit ihrer Teilnahme an öffent­lichen Leichensektionen zur Popularisierung und Akzeptanz der akademischen Medizin beitragen; Kaufleute waren verpf­lichtet, Stadtärzte, Apotheker und Hospitäler zu unterhalten.8 Demnach betrachtete die Staatsmacht schon im frühen achtzehnten Jahrhundert den Aufbau des Medizinal­wesens nicht ausschließ­lich als ihre Aufgabe, sondern bemühte sich, andere Akteure einzubinden. Welche konkreten Rollen trug sie in der katharinäischen Zeit an die lokale Bevölkerung heran und welchen Handlungsmustern begegnete sie in der Provinz?

8 Siehe dazu Jekutsch, Krankheitsbegriff, S. 174; Renner, Autokratie, S. 95; Dinges, Aufklärung bei Zimmermann, S. 221.

Verordnete Verantwortung und Verhandlung der Rollen

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In den Quellen finden sich Beispiele dafür, wie Vertreter der Staatsgewalt vor der Verwaltungsreform des Jahres 1775 versuchten, einzelne lokale Akteure dazu zu bewegen, die ört­liche medizinische Versorgung finanziell zu unterstützen – mit bescheidenem Erfolg. 1774, nach der Pestepidemie, hatte die Kanzlei von Voronež, dem kaiser­lichen Befehl folgend, der Bevölkerung der Provinz Šack vorgeschlagen, auf eigene Kosten Ärzte und eine Apotheke zu unterhalten. Die Antworten fielen überwiegend negativ aus.9 Andrej Bolotov, dem die Nachwelt viele wertvolle Hinweise unter anderem auf die medizinische Versorgung in der Provinz verdankt, kritisiert in seinen Aufzeichnungen das Verhalten seiner Standesgenossen im späten achtzehnten Jahrhundert, die sich nicht für die Verbreitung staat­lich zugelassener Hebammen einsetzten.10 Und als der Generalgouverneur von Novgorod, Tver’ und Jaroslavl’, Aleksej Mel’gunov, die „Gesellschaft“ von Vologda fragte, ob diese bereit sei, für eine Hebamme jähr­lich zweihundert Rubel aufzubringen, antwortete ihm deren Vertreter, man habe sich an eigene Hebammen gewöhnt und bedürfe keiner weiteren.11 Wie lässt sich dieses Verhalten interpretieren? Zeitgenös­sische Quellen und historische Literatur bieten drei Erklärungsmuster an. Erstens: Bei Bolotov steht eine Anklage gegen das mangelnde Verantwortungsbewusstsein des Adels im Vordergrund. Zweitens: Die Einwohner von Vologda begründeten ihr Desinteresse an staat­lich zugelassenen Hebammen damit, dass das Angebot nicht der Nachfrage entspreche. Drittens: Jüngere kulturgeschicht­lich ausgerichtete Studien weisen auf ein Desinteresse an einer Heilkunde hin, die auf der importierten akademischen Medizin gründete.12 Warum lokale Akteure es oft ablehnten, den Ausbau der staat­lichen medizi­ nischen Versorgung zu unterstützen, mag von Fall zu Fall unterschied­lich begründet sein. Doch gerade das Beispiel aus Vologda liefert ein wesent­liches Detail für das Gesamtbild. Es klang bereits in den Instruktionen für die Gesetzgebende Kommission an, dass der Bedarf nach einem staat­lichen Medizinal­wesen in den 1760er und 1770er Jahren vor allem von der Staatsgewalt und nur zu einem geringen Teil von der Provinzbevölkerung empfunden wurde. Zu der Zeit, als die Staatsgewalt anfing, ein von ihr initiiertes und kontrolliertes Medizinal­wesen in die Provinz 9 D’jakonov, Šackie mediki, S. 19 f. 10 Bolotow, Leben Bd. 2, S. 131. 11 Schreiben des Gouverneurs von Vologda, Pëtr Mezencov, an den Generalgouverneur von N ­ ovgorod, Tver’ und Jaroslavl’, Aleksej Mel’gunov, vom 10. November 1787. GAJaO f. 72, op. 2, d. 1383, l. 2. 12 Andreas Renner betont die staat­liche Initiative für den Import der akademischen Medizin und sieht die Verbreitung des medizinischen Wissens an die Reichweite des autokratischen Herrschaftsanspruchs gebunden. Siehe Renner, Autokratie, S. 14 f. Der wichtigste Tambover Historiker des 19. Jahrhunderts kommentiert dieses Desinteresse mit den Worten, die Einwohner von Šack hätten die große Bedeutung der medizinischen Versorgung nicht erkannt. D’jakonov, Šackie mediki, S. 19.

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des Rus­sischen Reiches zu tragen, wurde die Nachfrage nach medizinischer Versorgung auf lokaler Ebene aus anderen Quellen gedeckt. In der Provinz Šack beispielsweise, die 1775 zum Gouvernement Voronež zählte, unterhielt ein Gutsbesitzer auf seinem Gut einen Arzt namens Osip Ragocej, der – neben der Familie des Gutsbesitzers – vermut­lich auch dessen leibeigene Bauern behandelte.13 Dass dies keine ungewöhn­liche Erscheinung war, bestätigt die Erfahrung eines Bekannten des Fürsten Aleksandr Voroncov, der nach einem Arzt suchte und sich über die Schwierigkeit beklagte, in der Provinz einen zu finden, um ihn auf dem eigenen Landgut, also privat, zu beschäftigen.14 Vor allem der Adel, der neben wohlhabenden Kaufleuten aufgrund seiner Zahlungskraft in der Lage gewesen wäre, eine öffent­liche medizinische Versorgung finanziell zu unterstützen, zeigte wenig Interesse an deren Einrichtung. Dies lag aber nicht unbedingt an einer Geringschätzung der medizinischen Hilfe. Wie weit die Akzeptanz beziehungsweise Ablehnung der akademischen Medizin ging, lässt sich im Nachhinein nicht zuverlässig rekonstruieren.15 Ebenfalls nur ungenaue Aussagen kann man über die Verbreitung nichtlizenzierter Heilkundiger machen, die vermut­lich den größten Teil des Heilbedarfs deckten. Manche Adligen wünschten sich durchaus eine Verbesserung der medizinischen Infrastruktur, hatten allerdings wenig Interesse an einem öffent­lichen Medizinal­wesen. Diejenigen Gutsbesitzer, die es für nötig befanden und es sich leisten konnten, unterhielten eigene Ärzte, sofern solche für eine Privatanstellung vorhanden waren. Analog dazu muss man annehmen, dass ihnen auch Hebammen zur Verfügung standen – sei es auf dem eigenen Gut oder in der Nachbarschaft. Instruktionen der Kaufmannschaft machten deut­lich, dass auch Städter nicht für Ärzte zur Kasse gebeten werden wollten, deren Nutzen für sie unersicht­lich war. Während sich im Verlauf des achtzehnten Jahrhunderts auf der Ebene der Staatsgewalt die Überzeugung festigte, die medizinische Versorgung müsse mög­lichst großen Teilen der Bevölkerung zugäng­lich gemacht werden, fehlte diese Einsicht bei den Provinzeliten. Für sie waren Angelegenheiten der Krankheit und Gesundheit – ganz anders als für die von Merkantilismus und Aufklärung geprägte Staatsmedizin – Privatsache. Wollte die Staatsgewalt der lokalen Bevölkerung die Verantwortung für das öffent­liche Medizinal­wesen in der Provinz übertragen, so musste sie für die Entstehung eines neuen Verantwortungsbewusstseins sorgen.

13 D’jakonov, Šackie mediki, S. 22. 14 Siehe etwa den Brief von P. V. Zavadskij an Aleksandr Voroncov vom 26. Februar 1800, in: Archiv knjazja Voroncova Bd. 12, S. 244 – 246, hier S. 245. 15 Diesem Aspekt des Wissenstransfers ist die Studie von Andreas Renner gewidmet. Renner weist darauf hin, dass sich die Grenze zwischen der akademischen und der tradierten Heilkunde im medizinischen Alltag nicht genau bestimmen lässt. Renner, Autokratie, S. 329.

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In der Regierungszeit ­Katharinas II. wurde die Bevölkerung auf zweierlei Art und Weise zur Beteiligung am Aufbau der medizinischen Versorgung angehalten. Die – auch chronolo­gisch – erste Form war ein indirekter Aufruf. Die von den Ämtern für gesellschaft­liche Fürsorge betriebenen Einrichtungen sollten zu einem wesent­lichen Teil durch private Spenden finanziert werden. Diese Erwartung der Staatsmacht richtete sich an die gesamte Provinzbevölkerung. Doch in Wirk­lichkeit kamen nicht viele soziale Gruppen als finanzielle Stützen in Frage. Ohne offen an den Adel und die vermögende Kaufmannschaft zu appellieren, setzte die Kaiserin ihre Hoffnungen in erster Linie in diese beiden Stände. Da Ämter für gesellschaft­ liche Fürsorge außer der Gründungsfinanzierung in Höhe von fünfzehntausend Rubel keine weitere Unterstützung aus der Staatskasse erfuhren, waren sie auf die Förderung durch Spenden aus der lokalen Bevölkerung angewiesen. Die Staatsmacht initiierte also ein Projekt, für dessen Fortbestehen nicht sie selbst, sondern die lokale Ebene zuständig war. Dabei handelte es sich mitnichten um eine Übergangslösung.16 Dieses Finanzierungsmodell lässt sich vielmehr als ein Disziplinierungsinstrument für die Eliten betrachten: Die Staatsgewalt versuchte, sie zur Übernahme einer neuen, in St. Petersburg definierten Aufgabe zu erziehen. Die Gesetzgeberin hatte ein Projekt ins Leben gerufen und damit einen Rahmen gesetzt, in dem sich die Aktivität lokaler Akteure zu bewegen hatte. Wie reagierten aber die angesprochenen gesellschaft­lichen Gruppen auf diesen Appell? Von den Ämtern für gesellschaft­liche Fürsorge in Voronež, Tambov und Jaroslavl’ überlieferte Quellen sind äußerst spär­lich, erlauben jedoch zuweilen aufschlussreiche Einsichten. So zeichnete das Amt von Jaroslavl’ drei Jahre nach seiner Gründung alle Einnahmen auf. Von den Einnahmen, die zusammen mit dem Gründungsetat 23.635 Rubel betrugen, entfielen mindestens 1800 Rubel auf private Spenden.17 Diese verteilten sich auf drei Personen: Der größte Beitrag in Höhe von eintausend Rubel stammte aus der Tuchfabrikantenfamilie Zatrapeznov;18 der Besitzer der Seidenfabrik Grigorij Gur’ev spendete dem Amt fünfhundert Rubel für den Unterhalt einer Hebamme; ein anonymer Spender übergab dem Amt dreihundert Rubel. Die Bilanz enthielt zudem eine bemerkenswerte Notiz: Die Kaufmannschaft und die meščane von Jaroslavl’ hatten sich verpf­lichtet, jähr­lich dreihundert Rubel für den Unterhalt von Waisenkindern der meščane zu spenden.19

16 Duplij, Stanovlenie, S. 14 f. 17 Bericht über Einnahmen und Ausgaben des Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge von Jaroslavl’ in seinem dreijährigen Bestehen vom 17. Januar 1781. GAJaO f. 72, op. 2, d. 120, l. 2ob.–3. Kleinere Spenden wurden auf der Einnahmenseite zwar nicht einzeln aufgeführt, waren jedoch in der Endsumme mit inbegriffen. 18 Knapp zur Familie Zatrapeznov siehe Munro, Glimpses, S. 508 ff. 19 GAJaO f. 72, op. 2, d. 120, l. 2ob.–3.

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Auch wenn diese spär­lichen Zahlen keine generalisierenden Aussagen über das Spendenverhalten erlauben, zeigen sie dennoch, dass der Aufruf der Gesetzgeberin an die lokale Bevölkerung, der mit der Gouvernementsreform des Jahres 1775 implizit ergangen war, nicht nur auf taube Ohren stieß. Die aus Jaroslavl’ überlieferten Spenden waren außerdem zu hoch, um von Desinteresse an der neuen Einrichtung zu zeugen. Ebenfalls bemerkenswert ist der Zusammenschluss der Kaufleute und meščane, der zwar nicht der medizinischen Versorgung zugutekam, jedoch ein seltenes Beispiel eines wohltätigen Projekts ist, das nicht nur auf freiwilliges Engagement, sondern auf eine lokal begrenzte ständeübergreifende Kommunikation bereits im Jahre 1781 hinweist.20 Im Gouvernement Jaroslavl’ wurde das Amt für gesellschaft­liche Fürsorge also schon in den ersten Jahren seines Bestehens von der lokalen Bevölkerung als Wohlfahrtsbehörde angenommen. Bei dem Aufruf von 1775 handelte es sich nicht um eine gesetz­lich festgeschrie­ bene Verantwortung. Diese zweite Form des Appells kam erst mit der Gnadenurkunde vom 21. April 1785 auf, als den städtischen Gesellschaften (gradskie/gorodskie obščestva) die Pf­licht auferlegt wurde, den Ämtern für gesellschaft­liche Fürsorge unter anderem bei der Gründung von Krankenhäusern zu helfen.21 Die Idee, städtische Gesellschaften zur Sorge um sogenannte gottgefällige Einrichtungen heranzuziehen, stellte kein Spezifikum der katharinäischen Zeit dar. Doch war es ­Katharina II., die bereits bestehende Vorstellungen von der Aufgabenverteilung in diesem Bereich in institutionelle Formen goss und gesetz­lich festschrieb. Auch versäumte sie nicht, hier den Eliten des Landes mit eigenem Beispiel voranzugehen, etwa indem sie in den 1780er Jahren Geld für den Umbau des St. Petersburger Krankenhauses spendete.22 Die Gnadenurkunde des Jahres 1785 hatte den Städten jedoch nicht nur die Pf­licht auferlegt, Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge bei der Einrichtung von Krankenhäusern zu unterstützen. Dieser Rechtsakt erlaubte städtischen Gesellschaften zudem auch ausdrück­lich, den jeweiligen Gouverneur um Erlaubnis zur Gründung von Einrichtungen „zum Wohle der Allgemeinheit“ zu bitten.23 Es ging der Staatsgewalt nicht nur darum, in jeder Kreisstadt ein Krankenhaus einzurichten, um dem Militär sowie ärmeren Teilen der Zivilbevölkerung den Zugang zur medizinischen Versorgung zu ermög­lichen. Es lag ihr auch daran, die lokale Bevölkerung und insbesondere die Eliten in die Pf­licht zu nehmen und ihnen

20 Solche Zusammenschlüsse zwischen Kaufleuten und meščane gab es nach Kuprijanov oft, um dem Adel und den Beamten entgegenzutreten. Kuprijanov, Kul’tura, S. 475 f. 21 Gnadenurkunde für die Städte vom 21. April 1785, in: PSZ I Bd. 22, Nr. 16.187, S. 358 – 384, hier S. 381 ff. Zu den Facetten und Implikationen des zeitgenös­sischen Gesellschaftsbegriffs siehe Schierle, Begriffssprache, S. 306. 22 Siehe Rustemeyer, Autokraten, S. 83. 23 PSZ I Bd. 22, Nr. 16.187, S. 382.

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die Verantwortung für Institutionen des entstehenden Medizinal­wesens vor Ort zu übertragen. Die Bemühung um gesellschaft­liche Aktivität auf lokaler Ebene ging damit einher, dass den Gesellschaften konkrete Aufgaben im öffent­lichen Leben der Provinz anvertraut wurden. Sie sollten sich also in neuen Kommunikationsprozessen und durch Kooperation etablieren. Die Sorge um das lokale Medizinal­ wesen stand im Einklang mit der katharinäischen Definition der Gesellschaft als „Rahmen, in dem sich die Untertanen als ‚Gruppe von Menschen‘ konstituieren und hier gemeinsam für das Gemeinwohl wirken konnten“.24 Dass die Verpf­lichtung nicht nur – und wohl nicht einmal primär – dazu diente, ein hinreichendes Angebot an medizinischer Versorgung zu schaffen, lässt sich auch an fehlenden Vorschriften bezüg­lich der Größe der Krankenhäuser in Kreisstädten erkennen.25 Sie sollte sich näm­lich nach den finanziellen Kapazitäten der jeweiligen Stadt richten. Es ging also nicht darum, mit allen Kräften womög­lich überdimensionierte Projekte zu stemmen. Im Vordergrund standen die Nachhaltigkeit der Förderung und die kontinuier­liche Einbindung der Gesellschaften in die Unterstützung des Medizinal­wesens. Städtische Gesellschaften sollten nur solche Krankenhäuser gründen, für deren Fortbestand sie auch sorgen konnten. Es war also weniger die Reichweite der lokalen Projekte entscheidend als vielmehr ihre bloße Existenz. Eine der wichtigsten medizinalpolitischen Aufgaben der Staatsgewalt bestand demnach darin, das Medizinal­wesen zu einer lokalen Angelegenheit zu machen und vor Ort Kräfte zu aktivieren, die sich seiner annehmen würden. Die Reaktion der lokalen Bevölkerung auf die beiden Aufrufe fiel unterschied­ lich aus. Von den Provinzkrankenhäusern, die in den letzten Dezennien des achtzehnten Jahrhunderts in den drei Beispielgouvernements entstanden waren, ging keines auf die Initiative einer städtischen Gesellschaft zurück. Das neue Recht hatte demnach zunächst keine direkten Auswirkungen auf die Aktivität städtischer Gesellschaften. Dagegen verdankten manche Hospitäler ihre Existenz dem Engagement einzelner Individuen. Die beiden Formen des obrigkeit­lichen Appells – die Formulierung einer Erwartung und die Festschreibung einer Pf­licht – unterschieden sich nicht nur in der Verbind­lichkeit des Rollenangebots. Bei näherer Betrachtung wird deut­lich, dass auch die Adressaten der Appelle nicht identisch waren. Im Gouvernementsstatut von 1775 richtete sich die Gesetzgeberin an eine nicht näher definierte Gruppe von lokalen Akteuren. Grundsätz­lich stand also jedem frei zu spenden. Allerdings konnten nennenswerte Spenden nur von wohlhabenden Personen, die zumeist im

24 Schierle, Begriffssprache, S. 306. 25 Schreiben des Polizeiministers, Sergej Vjazmitinov, an den Gouverneur von St. Petersburg, Michail Miloradovič, vom 12. September 1818. RGIA f. 1287, op. 11, d. 1708, l. 13.

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Adel und in der Kaufmannschaft zu finden waren, erwartet werden. 1775 brachte die Staatsgewalt diesen Personengruppen gegenüber eine Erwartungshaltung zum Ausdruck, die nicht mit einer expliziten Verpf­lichtung einherging. Anders verhielt es sich mit der Gnadenurkunde für die Städte. Darin wurde die Pf­licht der Stadtdumas festgehalten, für den Aufbau medizinischer Einrichtungen – in erster Linie der Hospitäler – in den Kreisstädten zu sorgen. Zwar durften die städtischen Gesellschaften de jure den Bau eines Krankenhauses nicht beschließen. Doch oblag die Antragstellung formal den Vertretern der sechs Stände – Haus- und Grundbesitzer, Kaufleute, auswärtige Kaufleute, namhafte Bürger, meščane, Zunftangehörige –, in Wirk­lichkeit aber kleineren Kaufleuten und meščane, die die Mehrheit der Duma­ abgeordneten bildeten.26 Da die Ausgaben für solche Einrichtungen aus den Einnahmen der Stadt zu bestreiten waren, trugen die steuerpf­lichtigen Gruppen die finanzielle Last des neuen Medizinal­wesens. Die Pf­licht zur Beteiligung am Ausbau der medizinischen Versorgung bestand für Eliten also nur zum Teil. Der Adel sollte sich ledig­lich freiwillig am Aufbau des Medizinal­wesens beteiligen. Dieser Verzicht auf Zwang entsprach dem allgemeinen Bestreben K ­ atharinas II., den Adel „vom Nutzen eines solchen Engagements für die Allgemeinheit“ zu überzeugen und für neue Aufgaben zu gewinnen.27 Auch wenn für Adlige keine gesetz­lich festgeschriebene Pf­licht zur Beteiligung am staat­lichen Projekt bestand, versuchte die Staatsgewalt, durch die Formulierung dieser Erwartung die Unterstützung medizinalpolitischer Projekte in einen ungeschriebenen Ehrenkodex des Adels zu integrieren. Dazu entwickelte sie einen neuen Diskurs. So begann der Erlass, mit dem ­Katharina II. die Gründung des Golicyn-Krankenhauses in Moskau im Jahre 1794 gestattete, mit den folgenden Worten: „Der verstorbene Wirk­liche Geheimrat Fürst [Dmitrij Michajlovič, D. S.] Golicyn, der sich zu Lebzeiten durch einen langen und eifrigen Dienst für das Vaterland ausgezeichnet hat, hat schließ­lich auch eine besondere Liebe zu ihm offenbart, indem er in seinem Testament ein statt­liches Kapital für die Einrichtung eines Krankenhauses in Moskau bestimmt hat.“ 28

Dieser Akt der Wohltätigkeit wurde sowohl vom Spender selbst als auch von der Kaiserin als ein Zeichen der Vaterlandsliebe dargestellt. Damit reihte er sich in einen aufgeklärten Diskurs ein, den ­Katharina II. mit Beginn ihrer Regierungszeit

26 Zur Zusammensetzung der Stadtdumas siehe Hausmann, Stadt, S. 41. 27 Siehe dazu Hildermeier, Adel, S. 178 f., Zitat S. 179. 28 Kaiser­licher Erlass vom 6. März 1794, in: PSZ I Bd. 23, Nr. 17.184, S. 493 – 495, hier S. 493.

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zum offiziellen gemacht hatte. Hier erscheint das Engagement für das Gemeinwohl zugleich als Dienst am Vaterland. Die Begründung, die Fürst Golicyn für seine Spende wählte, zeigt, dass dieser Zusammenhang zumindest als Code Eingang in die Kommunikation mit der Staatsgewalt gefunden hatte. Auch in der Kaufmannschaft lässt sich dieser Wert in den darauffolgenden Jahrzehnten wiederfinden.29 Doch das beginnende Engagement für das Allgemeinwohl war nicht nur ein Produkt der neuen Elitenpolitik und des aufgeklärten Diskurses. Im achtzehnten Jahrhundert setzte im Selbstverständnis der Eliten ein Wandel ein. Eines der aufschlussreichsten Dokumente für diesen Wandel ist die Erklärung des Ivan Beckoj anläss­lich der Gründung des von ihm gestifteten Waisenhauses in Moskau aus dem Jahre 1763.30 Beckoj, der viel Zeit in Westeuropa verbracht hatte, stellte die Verhältnisse in anderen europäischen Staaten, vor allem in Holland, Frankreich und Italien, als Beispiel für Russland dar. Er sprach davon, dass dort hochrangige und reiche Persön­lichkeiten die Führung karitativer Einrichtungen (Waisen- und Krankenhäuser) übernähmen oder – manchmal durch Gründung von Stiftungen – Krankenhäuser finanzierten. Einige von ihnen hielten es für einen Akt der Gottgefälligkeit, Menschenliebe und Demut, selbst in Krankenhäusern als Pfleger auszuhelfen. Auch schilderte Beckoj sein Erstaunen über die Organisation eines Krankenhauses in Lyon. Dessen Kurator werde jähr­lich aus den angesehensten Einwohnern gewählt. Und jeder, der dieses Amt ausübe, versuche, seine Vorgänger in der Sorge um das Hospital zu übertreffen.31 Ob die euphorische Schilderung Beckojs der Wirk­lichkeit entsprach, mag dahingestellt bleiben. Wichtig für die Fragestellung dieser Arbeit ist seine Wahrnehmung des Phänomens Wohltätigkeit. Auch Prokofij Demidov, der zugunsten des Waisenhauses insgesamt 120.000 Rubel spendete, war zuvor im Ausland gewesen und hatte sich über entsprechende Einrichtungen kundig gemacht.32 Bei den Eliten entstand also ein neues Selbstverständnis, das mit einer Ausrichtung nach neuen Vorbildern einherging. Kontakte ins Ausland konnten dabei überhaupt

29 Siehe Semenova, Tradicii, S. 106. 30 Zu Beckojs Projekten – mit Schwerpunkt auf der Bildung und der Erziehung – siehe Ransel, ­Betskoi. Blum sieht in der Gründung des Waisenhauses dagegen ledig­lich ein Mittel für Beckoj, sich der Kaiserin anzudienen. Siehe Blum, Staatsmann Bd. 2, S. 271. Eine Begründung dieses Urteils bleibt Blum seinen Lesern allerdings schuldig. Auch wenn Beckoj nicht nur aus Selbstlosigkeit handelte, dient seine Entscheidung für ein aufsehenerregendes wohltätiges Projekt gerade als Beweis dafür, dass man mit solchem Engagement das eigene Ansehen deut­lich steigern konnte. Die Verbreitung der Idee, sich für das Gemeinwohl zu engagieren, weist Kozlova für die Kaufmannschaft im späten 18. Jahrhundert nach: Kozlova, Absoljutizm, S. 358 – 361. 31 Kaiser­liches Manifest zur Gründung des Waisenhauses in Moskau vom 1. September 1763, in: PSZ I Bd. 16, Nr. 11.908, S. 343 – 363, hier S. 350. Ransel, Betskoi, S. 328 f. 32 Sokolov, Blagotvoritel’nost’, S. 201.

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erst auf Wohltätigkeit aufmerksam machen oder aber, bei bereits bestehendem Interesse, eine eingehendere Beschäftigung damit ermög­lichen. Auch wenn der katharinäische Diskurs dem Großteil der Landeseliten fremd gewesen sein mag, wollte die Kaiserin keineswegs ein neues, bis dahin unbekanntes Verhaltensmuster durchsetzen. Die Idee von der Mög­lichkeit – und vielleicht sogar von der Pf­licht – der Eliten, sich für das Gemeinwohl zu engagieren und von der staat­lichen Unterstützung unabhängige Projekte zu initiieren, existierte im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert auch bei den Eliten selbst. Die großzügigen, wenn auch wenigen Spenden, die das Jaroslavl’er Amt für gesellschaft­liche Fürsorge in den ersten Jahren seiner Existenz bekam, zeugen davon, dass K ­ atharinas Vorhaben zumindest bei einem Teil der lokalen Eliten Anklang fand. So war zum Beispiel eines der ältesten Krankenhäuser des Gouvernements Voronež 1780 durch eine private Stiftung entstanden.33 Die Hoffnung der Kaiserin, die Bevölkerung würde Verantwortung für lokale Projekte im Bereich des Medizinal­wesens übernehmen, war also keineswegs unbegründet. Dass die Reformerin sich nicht geirrt hatte, sollte auch das frühe neunzehnte Jahrhundert zeigen.

5. 2   Selb s t ve r s t ä nd n i s i m Wa nd el Private Wohltätigkeit Blickt man zurück in die 1760er und die frühen 1770er Jahre, fällt vor allem die mangelnde Bereitschaft der lokalen Bevölkerung auf, medizinische Einrichtungen und Fachpersonal zu finanzieren. Weder adlige Gutsbesitzer noch Städter fühlten sich offenbar für das Medizinal­wesen zuständig. Dieselbe Passivität war zunächst auch für den Bereich der Wohltätigkeit kennzeichnend. Im Vergleich zum west­lichen Europa war die private Wohltätigkeit im Rus­sischen Reich in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts deut­lich weniger verbreitet und vor allem im kaufmännischen Milieu, das in anderen Ländern durch karitative Projekte auffiel, nicht selbstverständ­lich.34 Erst aus den letzten Dezennien des achtzehnten Jahrhunderts sind Beispiele für privates und teils organisiertes gesellschaft­liches Engagement in diesem Bereich überliefert. Dieser Beobachtung stehen zahlreiche mit privatem

33 Ševčenko, Dejatel’nost’, S. 56. 34 Zum Beispiel hat keiner der dreißig Kaufleute, deren Testamente aus der Zeit zwischen 1769 und 1799 von Kozlova analysiert wurden, auch nur einen Teil seines Vermögens einer medizinischen Einrichtung oder zumindest einem Amt für gesellschaft­liche Fürsorge vermacht. Siehe Kozlova, Sem’ja, S. 179 – 236. Zu privaten Krankenhausstiftungen im Westen Europas siehe Lindemann, Medicine, S. 136 – 139.

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Kapital finanzierte Krankenhausgründungen in der Provinz im frühen neunzehnten Jahrhundert entgegen.35 Wohltätigkeit und Mäzenatentum sind in der westeuropäischen Historiographie keine neuen Größen, doch in Russland lässt sich ein Interesse für dieses Phänomen erst seit den 1990er Jahren beobachten. Während in der deutsch- und eng­ lischsprachigen Forschung bei der Untersuchung von Wohltätigkeit oft ein Zusammenhang mit Macht hergestellt wird,36 ist diese Fragestellung in der rus­sischen Forschungsliteratur recht selten. Wie in so vielen Bereichen der Geschichtswissenschaft dominiert auch hier ein positivistischer Zugang, der meist in faktographischen Studien resultiert. Vor diesem Hintergrund hebt sich die Monographie von Aleksandr Sokolov positiv ab, die nicht nur auf einer breiten Quellengrundlage eine Gesamtdarstellung der Wohltätigkeit im Rus­sischen Reich bietet, sondern dieses Phänomen auch in den Zusammenhang des Verhältnisses von staat­lichen und gesellschaft­lichen Strukturen einordnet.37 Im Folgenden werden zwei Fragen untersucht: Was sagt der Anstieg der privaten Wohltätigkeit im Bereich des Medizinal­wesens über die Adaption jener neuen Rollen aus, die die Staatsgewalt an die lokale Bevölkerung herangetragen hat? Und inwieweit haben sich die Rahmenbedingungen für das private Engagement zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts gegenüber der Regierungszeit ­Katharinas II. verändert? 1804 erreichte ein Brief des Stadthaupts von Mologa, Osip Kazanin, den Gouverneur von Jaroslavl’. Die Quintessenz des Briefes lässt sich am besten in den Worten des Absenders wiedergeben: „Als Mensch und Christ habe ich Mitleid mit den Kranken und verspüre den dringenden Wunsch, das erwähnte Krankenhaus auf eigene Kosten als Steinhaus neu zu bauen […], und habe dafür eine Summe von fünftausend Rubel vorgesehen.“ 38 Zusätz­lich überließ Kazanin dem Jaroslavl’er Amt für gesellschaft­liche Fürsorge weitere fünftausend Rubel, die in sein Grundkapital übergehen sollten. Die Zinsen sollten dem Unterhalt des Krankenhauses zugutekommen. Außerdem spendete Kazanins Frau eintausend Rubel, die sie für die Inneneinrichtung des neuen Krankenhauses und die Anschaffung von medizinischen Geräten bestimmte.39 Diese private Spende gehörte zu den größten des Landes und fand Eingang in den Jahresbericht des Innenministers.40 Im selben Jahr unterbreitete ein Kaufmann



35 Siehe Kapitel 4.1. 36 Siehe etwa Ewald, Vorsorgestaat; auch Tönsmeyer, Hochadel, S. 366. 37 Sokolov, Blagotvoritel’nost’. 38 Schreiben des Bürgers Ersten Ranges, Stadthaupt von Mologa, Osip Kazanin, an den Gouverneur von Jaroslavl’, Michail Golicyn, o. D. [1804]. GAJaO f. 73, op. 1, d. 531, l. 2. 39 Ebd. 40 Otčet za 1804 god, S. 122.

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aus Rybinsk dem Gouverneur von Jaroslavl’ den Vorschlag, auf eigene Kosten in der Kreisstadt ein Hospital zu errichten und mit allem Nötigen auszustatten. Der Wert dieser Spende überstieg fünftausend Rubel, und auch sie wurde im Bericht des Innenministers erwähnt.41 Der Gouverneur bat den Innenminister, den Kaiser um Belohnung der beiden Wohltäter zu ersuchen. Alexander I. hieß beide Projekte gut und zeichnete die Spender mit Goldmedaillen aus.42 Ähn­liche Fälle gab es auch in anderen Gouvernements: 1804 errichtete ein Kaufmann aus Vjaz’ma auf eigene Kosten ein Krankenhaus. Staatsrat Nikolaj Mancev aus dem Gouvernement Orlov gründete ein Hospital, das sich von ähn­lichen Einrichtungen dadurch unterschied, dass es einhundert Personen beherbergen konnte. In Saratov übergab ein Kollegienrat dem dortigen Amt für gesellschaft­liche Fürsorge zehntausend Rubel und ein Haus, in dem ein Hospital eingerichtet werden sollte.43 Für das Jahr 1805 konstatierte der Innenminister einen weiteren Anstieg der Wohltätigkeit.44 Neben aktiven Spenden gab es andere Mög­lichkeiten, Wohltaten für die Allgemeinheit zu tätigen. Als zum Beispiel 1807 in Voronež ein neues Gebäude für das Krankenhaus gekauft werden sollte, verzichtete der Besitzer des Hauses auf einen Großteil der Summe und verlangte weniger als ein Drittel des realen Werts.45 Vereinzelt traten auch Frauen als Spender auf. Im Kreis Rostov gründete die Fürstin Menščikova im frühen neunzehnten Jahrhundert ein Pockenhaus.46 Auch Spenden einzelner Geist­licher sind überliefert.47 Doch Männer aus dem Adel und zunehmend aus der Kaufmannschaft dominierten den Bereich der privaten Wohltätigkeit. Mit solchen Beispielen ließen sich mehrere Seiten füllen.48 Wie erklärt sich dieser Anstieg der privaten Wohltätigkeit zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts? 41 Schreiben des Gouverneurs von Jaroslavl’, Michail Golicyn, an Alexander I. vom 4. August 1804. GAJaO f. 73, op. 1, d. 531, l. 5 – 5ob., hier l. 5; Otčet za 1804 god, S. 122. 42 Schreiben des Gouverneurs von Jaroslavl’, Michail Golicyn, an den Innenminister, Viktor Kočubej, vom 4. August 1804. GAJaO f. 73, op. 1, d. 531, l. 6 – 7; Schreiben des Innenministers, Viktor Kočubej, an den Gouverneur von Jaroslavl’, Michail Golicyn, vom 30. September 1804. GAJaO f. 73, op. 1, d. 531, l. 8 – 8ob., hier l. 8ob. 43 Schreiben des Militärgouverneurs von Smolensk, Stepan Apraksin, an den Innenminister, Viktor Kočubej, vom 12. Oktober 1805. RGIA f. 1287, op. 11, d. 194, Beiblatt 1 – 2, hier Beiblatt 1 – 1ob.; Schreiben Nikolaj Mancevs an den Innenminister, Viktor Kočubej, vom 15. Februar 1804. RGIA f. 1287, op. 11, d. 196, l. 1; Schreiben des Senators Osip Kozodavlev an Fürst Aleksej Kurakin vom 7. Juli 1808. RGIA f. 1287, op. 11, d. 436, l. 8. 44 Otčet za 1805 god, S. 148. 45 Taradin, Materialy, S. 541. 46 Berichte über die Pockenimpfung im Impfhaus der Fürstin Menščikova, o. D. GAJaO d. 86, op. 1, d. 292, l. 9 – 9ob. und 15 – 15ob. 47 Lopuchin erwähnt in seinen Aufzeichnungen einen Geist­lichen aus Orël namens Ioann, der ein Krankenhaus, ein Armenhaus, ein Waisenhaus und eine Schule gründete. Lopuchin, Zapiski, S. 65. 48 Siehe etwa den kaiser­lichen Erlass an den Minister des Apanagendepartements vom 16. Juni 1802, in: PSZ I Bd. 27, Nr. 20.331, S. 193. Weitere Beispiele in: Schreiben des Generalgouverneurs von

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Um die Jahrhundertwende veränderte sich der Wohltätigkeitsdiskurs. Beiträge von Einzelpersonen zu diesem Diskurs sind rar und beschränken sich auf Begründungen des jeweiligen Vorhabens. In Briefen, in denen Wohltäter um Genehmigung ihrer Projekte baten, führten sie gelegent­lich Motive für ihre Initiative an. Der erwähnte Kazanin aus Mologa etwa erklärte sein Handeln mit christ­lichem Mitleid mit den Kranken.49 Als der Gouverneur von Saratov den Innenminister bat, ihm die Einrichtung eines Krankenhauses zu gestatten, leitete er seinen Brief mit den folgenden Worten ein: „Den guten Absichten des allergnädigsten Herrn zur Fürsorge für die leidende Menschheit nacheifernd …“.50 Auffällig an diesen Quellen ist der Rückgriff auf das Leitmotiv des alexandrinischen Wohltätigkeitsdiskurses. In den ersten Jahren der Herrschaft Alexanders I. erfuhr die christ­liche Nächstenliebe, deren wesent­licher Bestandteil die Sorge um Arme, Kranke und sonstige Hilfsbedürftige ist, eine Aufwertung im öffent­lichen Leben des Rus­sischen Reiches. Wichtig für die rasche Zunahme der privaten Wohltätigkeit war auch das Verhalten des Kaisers selbst, der seiner tätigen Nächstenliebe ein öffent­liches Beispiel setzte. Die Mutter Alexanders I., Maria Fëdorovna, hatte sich ebenfalls auf dem Gebiet der Wohltätigkeit hervorgetan. Sie errichtete 1797 auf eigene Kosten ein Hebammeninstitut in St. Petersburg.51 Auf ihre Initiative entstanden zudem in den beiden Hauptstädten zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts große Krankenhäuser.52 Unter der Bezeichnung Amt für Anstalten der ­Kaiserin





Ostsibirien, Aleksandr Lavinskij, an den dirigierenden Innenminister, Vasilij Lanskoj, vom 7. September 1826. RGIA f. 1287, op. 12, d. 227, l. 9 – 10; Schreiben des Kaufmanns von Vjaz’ma, Konstantin Gajdukov, an den Militärgouverneur von Smolensk, Stepan Apraksin, vom 1. Januar 1804. RGIA f. 1287, op. 11, d. 194, l. 2 – 3; Bericht des Generalgouverneurs von Tobol’sk und Irkutsk, Ivan Selifontov, an Alexander I. vom 9. April 1804. RGIA f. 1287, op. 11, d. 205, l. 3; Schreiben des Gouverneurs von Penza, Grigorij Golicyn, an den Polizeiminister, Aleksandr Balašov, vom 19. März 1812. RGIA f. 1287, op. 11, d. 948, l. 2 – 3. Im Gegensatz etwa zu Vertretern des eng­lischen Hochadels, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre Förderung wohltätiger Einrichtungen bis auf Widerruf gestalteten und Mitspracherecht, zum Beispiel in den gestifteten Schulen, ausübten, überließen die Hospitalspender ihre Stiftungen vollkommen dem Amt für gesellschaft­liche Fürsorge bzw. der Stadtduma. Seit 1810 mussten wohltätige Einrichtungen komplett in die Zuständigkeit lokaler Behörden übergeben werden oder zumindest dem Amt für gesellschaft­liche Fürsorge Rechenschaft ablegen. Siehe dazu den kaiser­lichen Erlass vom 30. September 1810, in: PSZ I Bd. 31, Nr. 24.362, S. 366 – 367. Zum Wohltätigkeitsverhalten des Hochadels in England siehe Tönsmeyer, Hochadel, S. 361. 49 GAJaO f. 73, op. 1, d. 531, l. 2. 50 Schreiben des Gouverneurs von Saratov, Pëtr Beljakov, an den Innenminister, Viktor Kočubej, vom 29. Dezember 1803. RGIA f. 1287, op. 11, d. 189, l. 1 – 1ob. Ähn­lich auch das Schreiben des Gouverneurs von Kazan’, Boris Mansurov, an den Innenminister, Viktor Kočubej, vom 19. Dezember 1805. RGIA f. 1287, op. 11, d. 293, l. 1 – 2, hier l. 1. 51 Chanykov, Očerk, S. 90. 52 Kaiser­lich bestätigte Projekte vom 1. Februar 1803, in: PSZ I Bd. 27, Nr. 20.607, S. 449 – 454. Seit Maria Fëdorovna übernahmen zahlreiche Mitglieder der Zarenfamilie die Schirmherrschaft für wohltätige Einrichtungen, von denen manche medizinischer Natur waren, wie etwa das Hebammeninstitut,

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Maria (vedomstvo učreždenij imperatricy Marii) wurden seit 1797 zahlreiche wohltätige Einrichtungen verwaltet.53 Dadurch erfüllten der Kaiser und seine Familienmitglieder selbst eine Vorbildfunktion für die Eliten des Landes, in erster Linie für den Adel. Dieses Motiv war in der Kommunikation zwischen der lokalen und der zentralen Ebene präsent, etwa als der Gouverneur von Saratov das Krankenhausprojekt des Adels dem Innenminister vorstellte.54 Der Umstand, dass viele um die Jahrhundertwende gestiftete Krankenhäuser am Namenstag des Kaisers eröffnet wurden und seinen Namen trugen,55 zeugt von der großen Wirkung seines Vorbildes auf den edlen Stand des Reiches und lässt sich in zweiter Linie auch als ein Loyalitätsbeweis deuten. Die Tatsache, dass man die Eröffnung eines Krankenhauses mit dem Namen des Monarchen verband, dürfte dem Ereignis an sich eine große Bedeutung im öffent­lichen Leben der Provinz verliehen haben. Im Gegensatz zur katharinäischen Epoche rückten zu Zeiten Alexanders I. Mitleid und tätige Nächstenliebe ins Zentrum des Wohltätigkeitsdiskurses. Der Topos der Vaterlandsliebe und mit ihm auch die Sorge um das Gemeinwohl traten zwar etwas in den Hintergrund, existierten aber weiterhin im Diskurs und wurden bisweilen in einem Atemzug mit der Nächstenliebe genannt.56 Von den Beispielen, die vom Kaiser und seiner Familie statuiert wurden, ging nicht nur eine Vorbildwirkung aus.57 Indem Alexander seine eigene Wohltätigkeit mit christ­licher Nächstenliebe begründete, traf er den Nerv vieler Zeitgenossen und sprach nicht nur den Adel an. Die Religiosität der rus­sischen Kaufleute etwa gilt in der historischen Forschung als Axiom. Wie tief der christ­liche Glaube im Einzelfall ging und wie die persön­liche Religiosität mit dem Wunsch, sich für die Wohltätigkeit zu engagieren, verbunden war, lässt sich nicht nachprüfen und ist für die Frage nach dem Verhaltenswandel irrelevant.58 Entscheidend ist, dass sich die









das seit 1828 von der Großfürstin Elena Pavlovna gefördert wurde. Siehe den kaiser­lichen Erlass vom 6. Dezember 1828, in: PSZ II Bd. 3, Nr. 2491, S. 1089. 53 Überblick bei Amburger, Behördenorganisation, S. 162 – 167. 54 RGIA f. 1287, op. 11, d. 189, l. 1. 55 RGIA f. 1287, op. 11, d. 196, l. 1; RGIA f. 1287, op. 11, d. 194, Beiblatt 1 – 2, hier Beiblatt 1 und das Schreiben des Gouverneurs von Saratov, Pëtr Beljakov, an den Innenminister, Viktor Kočubej, vom 30. August 1806. RGIA f. 1287, op. 11, d. 189, l. 12 – 15, hier l. 12. 56 So etwa im Schreiben des Gouverneurs von Kazan’, Boris Mansurov, der auf „patriotische Gefühle“ des Adels hoffte, als er ihn um die Stiftung eines Krankenhauses bat: „Bemühung um das Allgemeinwohl und […] Mitleid mit der leidenden Menschheit“. RGIA f. 1287, op. 11, d. 293, l. 1 – 1ob. 57 Diese schätzt Vlasov sehr hoch ein. Er deutet die Zunahme der Wohltätigkeit bei den Eliten als Übernahme eines neuen Verhaltensmusters, von dessen Beherrschung das Ansehen des Einzelnen in den Augen des Kaisers und damit auch in der höfischen Hierarchie abhing. Siehe Vlasov, ­Obitel’, S. 36 – 39. 58 Bayer, Richesse, S. 214. Auch Natal’ja Kozlova betont die Religiosität als einen wichtigen Beweggrund für Kaufleute, als Spender aufzutreten. Siehe Kozlova, Absoljutizm, S. 358 ff. Ähn­lich auch

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Kaufmannschaft von dem neuen Leitbild angesprochen fühlte, und sei es auch nur, weil manchen Kaufleuten daran gelegen war, in den Augen der lokalen Öffent­lichkeit als Nächstenliebe übende Christen zu gelten. Der kaiser­liche Appell an christ­liches Mitgefühl bewirkte offenbar mehr als die Ermahnung, sich aus Vaterlandsliebe dem Gemeinwohl zu widmen. Doch während sich im Appell an den Adel der Akzent von der Pf­licht zur Sorge um das Allgemeinwohl wegbewegte, blieb ebendiese Erwartung durchaus bestehen. Der Kern der Ansprüche, die auch in den ersten Dezennien des neunzehnten Jahrhunderts staat­licherseits an den Adel gestellt wurden, enthält ein Schreiben des Innenministers an den Gouverneur von Jaroslavl’ aus dem Jahre 1830: „Aufmerksamkeit, Engagement und Sorge um das Gemeinwohl müssen stets die wichtigste Pf­licht des Adels bilden.“ 59 Neben den veränderten Diskurs, der durch die Betonung der christ­lich begründeten Nächstenliebe einen größeren Anklang bei den Eliten fand als ­Katharinas Anrufung der Pf­licht, trat ein weiterer Aspekt, der den Anstieg der privaten Wohltätigkeit zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts ermög­lichte. Bedingt durch die allgemeine Wirtschaftskonjunktur in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts erlebte die Kaufmannschaft im Rus­sischen Reich gegen Ende des Jahrhunderts einen bis dahin ungekannten ökonomischen Aufstieg.60 Mit der zunehmenden wirtschaft­ lichen Bedeutung und dem wachsenden Selbstbewusstsein war auch das Bedürfnis verbunden, sich nach unten hin – gegenüber meščane, ärmeren Kaufleuten und Bauern – abzugrenzen und die eigene Position im öffent­lichen Raum sichtbar zu machen.61 Bei dieser Selbstinszenierung ging es in einer nach Pierre Bourdieu geradezu idealtypischen Weise darum, ökonomisches in soziales Kapital umzuwandeln Bojko, Kupečestvo, S. 230 ff., 254; Semenova, Tradicii, S. 97 f. Semënova sieht in der Wohltätigkeit eine Art von Rechtfertigung gegenüber Gott für den Reichtum, denn der Handel habe in den Augen der Zeitgenossen einen „sündhaften“ Charakter gehabt. Begründet wird diese Deutung nicht. Eine positive Wirkung des orthodoxen Glaubens auf die kaufmännische Wohltätigkeit sieht auch Kuprijanov, Kul’tura, S. 417. 59 Schreiben des Innenministers, Arsenij Zakrevskij, an den Gouverneur von Jaroslavl’, Konstantin Poltorackij, vom 26. September 1830. GAJaO f. 79, op. 1, d. 804, l. 36 – 39, hier l. 36. 60 Ein differenziert urteilender Überblick findet sich bei Knabe, Bevölkerung, S. 637, 645 – 666. Unter anderem sollen altgläubige Kaufleute am Ende des 18. Jahrhunderts über beträcht­liches Kapital verfügt haben. So Semenova, Tradicii, S. 104. Einen Aufschwung im Gewerbe konstatiert für das 18. Jahrhundert auch Haumann, Geschichte, S. 202 f. Für den Handel: Riasanovsky, History, S. 281 f. Als Zeichen für zunehmenden Wohlstand bei Kaufleuten der Ersten Gilde können auch die häufigen Nobilitierungen um die Jahrhundertwende gelten. Zu diesem Phänomen siehe Hildermeier, Bürgertum, S. 102 – 123. 61 Siehe Kozlova, Absoljutizm, S. 367 f.; Semenova, Tradicii, S. 105 f. Insofern setzte der Wandel in der Rolle der Kaufleute in der lokalen Öffent­lichkeit bereits um die Jahrhundertwende und nicht erst – wie Manfred Hildermeier in seiner Habilitationsschrift von 1986 feststellt – im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ein. Vgl. Hildermeier, Bürgertum, S. 620. Dasselbe Phänomen beobachtet

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und damit das eigene Ansehen zu steigern.62 Da die gesellschaft­liche Stellung der Kaufmannschaft im Wesent­lichen von ihrer wirtschaft­lichen Kraft abhing, stand das Materielle im Mittelpunkt ihrer Selbstdarstellung. Mit eigenem Vermögen etwas Bleibendes zu schaffen war ein beliebtes Instrument der Kaufleute, die eigene ­soziale Stellung im öffent­lichen Raum zu manifestieren. Doch partiell eigennütziges Denken war nicht nur Spendern aus der Kaufmannschaft eigen. Auch Adlige dürften die positive öffent­liche Wirkung ihrer wohltätigen Projekte mitbedacht haben.63 Die Hinwendung der Kaufleute zur Wohltätigkeit lässt sich zum Teil auch mit der allgemeinen Orientierung der oberen Schichten der Kaufmannschaft, vor allem der Angehörigen der Ersten Gilde, am Adel erklären – trotz der gleichzeitig angestrebten Abgrenzung gegenüber dem edlen Stand.64 Da Wohltätigkeit und Mäzenatentum im Zarenreich des achtzehnten Jahrhunderts ungeachtet der Seltenheit karitativer Projekte eine weitgehend adlige Domäne blieben, war es nur konsequent, dass reiche Kaufleute bei ihrem gesellschaft­lichen Aufstieg auch dieses kostspielige Handlungsmuster übernahmen.65 Der Adel wiederum richtete sich nach dem Monarchen und dessen Umgebung sowie nach seinen Standesgenossen im europäischen Westen. Dieser Bezug auf Gepflogenheiten im west­lichen Europa darf bei der Beurteilung der privaten Wohltätigkeit nicht unterschätzt werden. Denn die zunehmende Orientierung zunächst









Jonas Flöter beim säch­sischen Bürgertum, siehe Flöter, Prestige, S. 258 f. Siehe auch Frey, Macht, S. 233. 62 Siehe Bourdieu, Kapital, zur Umwandlung der verschiedenen Kapitalarten S. 70 – 75. Zur Wohltätigkeit als symbo­lischem Kapital der Unternehmer in der Ukraine im 19. Jahrhundert siehe Lindner, Unternehmer, S. 391 f. Vlasov betont diesen Aspekt auch in Bezug auf den Adel. Siehe Vlasov, Obitel’, S. 36. 63 In Bezug auf die Wohltätigkeit im Bereich des Bildungswesens: Kusber, Eliten- und Volksbildung, S. 169 f. François Ewald zeigt am Beispiel der Beziehungen zwischen Arbeiter und patron, dass Wohltätigkeit die Machtposition des Gebenden und die Abhängigkeit des Empfängers manifestiert. Ewald, Vorsorgestaat, S. 150 – 170. 64 Bayer, Richesse, S. 213. Laut Kuprijanov galt die Orientierung an der adligen Kultur im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts dagegen nur für die Kaufmannschaft der beiden Hauptstädte. In Provinzstädten sei dieses Phänomen erst viel später aufgekommen. Kuprijanov, Kul’tura, S. 426 ff. 65 Janet Hartley macht den Adel als diejenige Gruppe aus, die im 18. Jahrhundert „mehr als jede andere Kategorie der Gesellschaft“ für die Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge spendete. Siehe Hartley, Reformen, S. 474. Dennoch darf man dabei nicht aus den Augen verlieren, dass sich auch manche Kaufleute zur selben Zeit durch großzügige Spenden hervorgetan haben. Neben den geschilderten Beispielen sei hier noch eine Spende erwähnt, die eine reichsweite Beachtung erlangte: Die größte Spende für das Waisenhaus, das in den 1780er Jahren in Jaroslavl’ eingerichtet wurde, stammte vom Inhaber einer Lederfabrik. Siehe Sokolov, Blagotvoritel’nost’, S. 200. Siehe auch Vlasov, Obitel’, S. 36. Der Habitus der Kaufleute stellte im frühen 19. Jahrhundert wohl ein Konglomerat von Elementen dar, die den adligen Lebensstil nachahmten, und solchen, die sich vom Letzteren bewusst abgrenzten. Von der Betonung des Unterschieds zum Adel spricht etwa Ransel, Russian Merchants, S. 420, 422 f., 427.

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des Hochadels und anschließend weiterer gesellschaft­licher Kreise nach Westen betraf den gesamten Lebensstil, der sich nicht nur in der Mode, der Sprache und den literarischen Vorlieben äußerte. Es erstaunt nicht, dass auch die karitative Tätigkeit als standesspezifisches Handlungsmuster ihren Weg nach Russland fand.66 Auch wenn bei den privaten Krankenhausstiftungen die Darstellung der eigenen Position in der lokalen Öffent­lichkeit für die Spender im Vordergrund stand, blieb es in vielen Fällen nicht bei einer bloßen Geste. Als Osip Kazanin das Krankenhaus in Mologa stiftete, sicherte er auch dessen Existenz, indem er dem Amt für gesellschaft­liche Fürsorge fünftausend Rubel übereignete.67 In Moskau gründete Graf Nikolaj Šeremetev 1803 ein Asyl für Arme, Alte und Behinderte, die auch medizinisch betreut werden sollten.68 Aus diesen Beispielen kann man zwar nicht schließen, das Ziel der Spenden sei es gewesen, ein leistungsfähiges Medizinal­wesen aufzubauen. Doch die Art der Spenden zeugt von einer veränderten Einstellung der Eliten gegenüber der medizinischen Versorgung. Um sich im öffent­lichen Raum der Kreis-, Gouvernementsoder Hauptstädte als fromme, von Nächstenliebe bewegte Christen darzustellen, hätte die private Stiftung von Kirchen, Armenhäusern oder ähn­lichen Einrichtungen genügt. Dass sich viele Spender jedoch für die Gründung von Krankenhäusern entschieden, spricht von einem gestiegenen Wert der medizinischen Versorgung in den Augen der Bevölkerung – sowohl im Zentrum des Reiches als auch in der Provinz. Auch der Wert der Spenden, die dem Bereich der medizinischen Versorgung zugutekamen, zeigt, dass medizinische Einrichtungen – zusammen mit der Institution des Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge – seit dem achtzehnten Jahrhundert an Ansehen gewannen. Nach Berechnungen von Aleksandr Sokolov hatten die Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge im ersten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts Spenden für sogenannte gottgefällige Einrichtungen reichsweit in Höhe von insgesamt 250.000 Rubel eingenommen. Der größte Anteil – über 160.000 Rubel – entfiel auf Armenhäuser; eine ebenfalls bedeutende Summe, 100.000 Rubel, floss an verschiedene Bildungseinrichtungen. Spenden für Krankenhäuser kamen auf immerhin 65.000 Rubel und machten somit sechsundzwanzig Prozent der Gesamtsumme aus.69 Betrachtet man den Wert aller privaten Spenden des Jahrzehnts, so machten

66 In Bezug auf die Armenfürsorge weist Hubertus Jahn darauf hin, dass diese „west­lich inspiriert“ gewesen sei. Siehe Jahn, Russland, S. 151. 67 GAJaO f. 73, op. 1, d. 531, l. 2. 68 Kaiser­licher Erlass an den Senat vom 25. April 1803, in: PSZ I Bd. 27, Nr. 20.727, S. 553 – 565, hier S. 553. 69 Die meisten Spenden kamen Armenhäusern und Bildungseinrichtungen zugute. Siehe Sokolov, Blagotvoritel’nost’, S. 234.

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milde Gaben zugunsten des Medizinal­wesens etwa zweiundzwanzig Prozent aus.70 Frei­lich könnte man einwenden, dass Spender den Bildungseinrichtungen und dem Armenwesen eine größere Bedeutung beimaßen. Dennoch ist es bemerkenswert, welche Anerkennung der verhältnismäßig junge Bereich der medizinischen Versorgung dreißig Jahre nach seiner Entstehung im Leben der Provinz fand und welche Förderung er erfuhr. In Einzelfällen ging es den Spendern sogar darum, das medizinische Angebot in ihrem Gouvernement gezielt zu verbessern. Eine solche Absicht des Gründers verrät etwa das Krankenhaus von Smolensk. Es wurde aus den privaten Mitteln eines Kaufmanns finanziert und 1805 fertiggestellt. Das Krankenhaus bestand aus drei Abteilungen, die verschiedenen Zwecken dienten: In der ersten sollten Kranke gepflegt werden, die zweite war für unehe­liche Kinder vorgesehen, in der dritten sollten Impfungen gegen die Pocken vorgenommen werden.71 Frei­lich war der Gedanke an Bedürftigenhilfe – in Form einer Abteilung für unehe­liche Kinder – auch bei dieser Krankenhausgründung vorhanden. Doch die Trennung der einzelnen Bereiche voneinander und vor allem die Abteilung für Pockenimpfungen ließ diese Einrichtung zu einer wesent­lichen Verbesserung der medizinischen Versorgung in Saratov beitragen. Auch das Beispiel eines Kollegienrats aus Saratov, der zehntausend Rubel und ein Haus zugunsten eines Hospitals für Treidler spendete,72 zeugt von dem Bestreben mancher Vertreter lokaler Eliten, die medizinische Versorgung gezielt in jenen Bereichen zu fördern, in denen die staat­liche Tätigkeit den Bedarf nicht zu decken vermochte. Ein weiterer Umstand trug ebenfalls dazu bei, dass die private Wohltätigkeit in den ersten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts ihre Blütezeit erlebte: Spender wurden oft vom Kaiser ausgezeichnet. 1804 hatten die Stadthäupter von Mologa und Rybinsk für ihre Krankenhausstiftungen Goldmedaillen bekommen.73 Im darauf­ folgenden Jahr ließ Alexander denjenigen Bürgern von Tula seine Anerkennung aussprechen, die sich an der Errichtung eines Krankenhauses für Bedürftige beteiligt hatten.74 Die Form der Auszeichnung unterschied sich je nach gesellschaft­licher Stellung und dem tatsäch­lichen Beitrag der jeweiligen Person. Das ehemalige Stadt­oberhaupt von Tula, das die Gründung des Krankenhauses initiiert hatte, sollte ins Buch der Ehrenbürger eingetragen werden. Der Erste Bürgermeister hatte sich eine Goldmedaille verdient, der Zweite Bürgermeister sollte von der Stadtduma ein

70 Ebd., S. 235. 71 RGIA f. 1287, op. 11, d. 194, Beiblatt 1 – 1ob. 72 RGIA f. 1287, op. 11, d. 436, l. 8. 73 GAJaO f. 73, op. 1, d. 531, l. 8 – 8ob. 74 Kaiser­licher Erlass an den Gouverneur von Tula vom 30. Juni 1805, in: PSZ I Bd. 28, Nr. 21.818, S. 1101.

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Ehrenzeugnis bekommen.75 Gelegent­lich beteiligte sich der Kaiser selbst an einem auf lokaler Ebene initiierten Projekt und verlieh ihm dadurch ein besonderes Gewicht.76 Ob Tabatieren, Medaillen oder Urkunden: Die Anerkennung privater Wohltätigkeit durch den Kaiser dürfte für die Spender nicht unbedeutend gewesen sein.77 In der Patronagegesellschaft des frühen neunzehnten Jahrhunderts war es ein großer Wert, wenn der eigene Name dem Monarchen in einem positiven Zusammenhang zu Ohren kam. Welche Bedeutung die Auszeichnung durch den Kaiser bisweilen haben konnte, zeigt das bereits erwähnte Beispiel aus Saratov, das frei­lich in seinem Ausmaß eher eine Ausnahme als die Regel beschreiben dürfte. Ein Kollegienrat übergab dem Saratover Amt für gesellschaft­liche Fürsorge ein Haus und die statt­liche Summe von zehntausend Rubel, die der Einrichtung eines Hospitals für Treidler zugutekommen sollten. Für diese Tat verlieh ihm Alexander I. den Vladimir-­ Orden vierten Ranges. Mit dieser Auszeichnung sah sich Zlobin „über alle Maße belohnt“ und zeigte sich durch diese Aufmerksamkeit so gerührt, dass er weitere 30.000 Rubel spendete: diesmal für die Einrichtung von Krankenhäusern für Treidler in Caricyn, Kamyšin und Chvalynsk.78 Die allerhöchste Anerkennung konnte dem Ansehen in der Provinzöffent­lichkeit förder­lich sein. Indem einzelne Spender vom Kaiser ausgezeichnet wurden, ent­ wickelte sich die private Wohltätigkeit zu einem nachahmenswerten Handlungsmuster.79 Dieser Wirkung waren sich alle Beteiligten bewusst. Als der Gouverneur von Smolensk dafür eintrat, dass ein Kaufmann aus Vjaz’ma für die Einrichtung eines Krankenhauses für Arme belohnt wurde, schrieb er, dass diese Auszeichnung „andere Handeltreibende zu ähn­lichen Taten anspornen“ würde.80 Die öffent­liche Förderung privater Projekte durch den Monarchen zeigte in vielen Fällen die gewünschte Wirkung: Sie animierte weitere Vertreter lokaler Oberschichten zur Nachahmung.81

75 Ebd. 76 Nachdem Alexander I. die Nachricht von der Spende des Saratover Adels zugunsten eines neuen Krankenhauses erhalten hatte, stiftete er selbst zehntausend Rubel für dieses Projekt. Siehe das Schreiben Alexanders I. an den Gouvernementsadelsmarschall von Saratov, Ivan Barataev, vom 30. Januar 1804. RGIA f. 1287, op. 11, d. 189, l. 2 – 2ob. 77 Dazu auch Kusber, Eliten- und Volksbildung, S. 369 f.; Lindner, Unternehmer, S. 391 f., 403. 78 RGIA f. 1287, op. 11, d. 436, l. 8. 79 Siehe auch Kusber, Eliten- und Volksbildung, S. 370. Laut Bojko existierten unter der rus­sischen Provinzkaufmannschaft ein Wetteifern um Auszeichnungen durch den Kaiser und ein Lokalpatriotismus, der Kaufleute dazu brachte, ihrer jeweiligen Stadt zu einem besonderen Glanz zu verhelfen. Bojko, Kupečestvo, S. 241. 80 Schreiben des Militärgouverneurs von Smolensk, Stepan Apraksin, an Alexander I. vom 6. Februar 1804. RGIA f. 1287, op. 11, d. 194, l. 1. 81 Bei der feier­lichen Eröffnung des Krankenhauses von Vjaz’ma spendeten Adlige und Kaufleute insgesamt zweitausend Rubel. Siehe RGIA f. 1287, op. 11, d. 194, Beiblatt 2.

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Die Darstellung der eigenen Person in der Öffent­lichkeit war keineswegs nur für die Kaufmannschaft relevant. Sie hatte ihren Platz auch im spezifischen Diskurs über den Adel, den die Staatsgewalt im neunzehnten Jahrhundert entwickelt hatte. Ein Dokument aus den 1820er Jahren zeugt von einem gezielten Appell an das Selbstverständnis dieses Standes, um Adlige zur Unterstützung des Medizinal­ wesens zu bewegen. Der Gouverneur von Simbirsk berichtete von einem Gesuch, das er an den Adel gerichtet hatte, um Geld für die Renovierung des Krankenhauses zu sammeln. Um seiner Bitte Nachdruck zu verleihen, beteuerte er: Der gute Zustand des Krankenhauses, das seinerzeit vom Adel gestiftet worden war, werde diesem Stand ein „würdiges Denkmal“ setzen und ihm „zu Ehre gereichen“.82 Er ging also davon aus, der Adel habe Interesse daran, durch wohltätige Projekte einen dauerhaft guten Ruf in der Öffent­lichkeit zu erlangen. Nicht nur konnten erfolgreiche Stiftungen im Bereich des Medizinal­wesens den Ruhm einzelner Adliger und des ganzen Standes mehren, umgekehrt sollten besonders herausragende Vertreter des Adels mit ihrem guten Namen die Bedeutung und das Ansehen gottgefälliger Einrichtungen steigern. Laut Statut sollte jedes Krankenhaus einen Kurator haben. In Ostrogožsk im Gouvernement Voronež wurde dieses Amt zumindest zeitweilig von einem Spross einer der wohlhabendsten und einflussreichsten Familien des Gouvernements, der Tevjašovs, ausgeübt.83 Ein ähn­ licher Fall ist auch aus Vjaz’ma überliefert.84 Diese Beispiele zeugen davon, dass der Staatsgewalt daran gelegen war, das entstehende Medizinal­wesen in der Provinz zu einem angesehenen Projekt zu machen. Die private Wohltätigkeit war im Zarenreich von einer Besonderheit gekennzeichnet: Sie trat nie in Konkurrenz zum Staat.85 Sie drängte sich nicht in einen ursprüng­lich vom Staat dominierten, jedoch vernachlässigten oder ungenügend unterstützten Bereich hinein. Auch wirkte sie nicht richtungweisend für die staat­ liche Tätigkeit. Vielmehr entfaltete sie sich in einer ihr vom Staat zugewiesenen 82 Schreiben des Gouverneurs von Simbirsk, Andrej Luk’janovič, an den Innenminister, Viktor ­Kočubej, vom 10. März 1823. RGIA f. 1287, op. 12, d. 108, l. 1 – 2, hier l. 1ob. Auch bei der Gründung des Moskauer Waisenhauses von Beckoj wurde die Wohltätigkeit explizit als eine äußerst ehrenhafte Tat präsentiert. Siehe PSZ I Bd. 16, Nr. 11.908, S. 344. 83 Siehe das Schreiben des Gouverneurs von Voronež, Matvej Šter, an den Gouvernementsadelsmarschall, Dmitrij Čertkov, vom 13. Oktober 1811. GAVO f. i–30, op. 1, d. 203, l. 1. Zur Familie ­Tevjašov siehe kurz Schedewie, Selbstverwaltung, S. 69, Anm. 66. 84 Siehe RGIA f. 1287, op. 11, d. 194, Beiblatt 1ob. 85 Dass dieser Umstand nicht selbstverständ­lich ist, zeigt der Blick auf vergleichbare Phänomene etwa in Deutschland. Siehe Frey, Macht, S. 12, 37. Somit handelt es sich bei dieser Art der Wohltätigkeit um eine andere Form der Stiftung als etwa das von Jürgen Kocka beschriebene Mäzenatentum, das „Ausdruck einer (bürger­lichen) Kultur“ ist, „die größtes Gewicht auf Selbständigkeit legt, im Sinn der Lösung drängender Aufgaben in eigener Regie, ohne obrigkeitsstaat­liche Gängelung und Fürsorge“. Siehe Kocka, Bürger, S. 34. Siehe auch Kocka; Frey (Hg.), Bürgerkultur; Frey, Macht.

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Sphäre. Die Schaffung medizinischer Einrichtungen auf der Gouvernements- und vor allem auf der Kreisebene war weitgehend frei von staat­lichen Eingriffen. Das Medizinal­wesen wurde, als es die Staatsgewalt im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert als ein neues Tätigkeits- und Regulierungsfeld entdeckte, so gestaltet, dass der meiste Raum der individuellen und kollektiven Aktivität vorbehalten blieb. In diesem staat­licherseits definierten Rahmen entwickelte sich im frühen neunzehnten Jahrhundert ein beacht­liches Engagement. Bisher wurden Verhaltensweisen daraufhin untersucht, inwieweit sie den Erwartungen der Staatsgewalt an die Eliten entsprachen. Doch Erwartungen bestanden mitnichten nur seitens der Staatsgewalt. Ein Beispiel aus Izjum zeigt, dass sich bei den Eliten neben der Wahrnehmung der eigenen Rolle im Medizinal­wesen auch die Vorstellung von den Aufgaben des Staates in diesem Bereich veränderte. Ein Gutsbesitzer namens Nikolaj Šidlovskij wandte sich im Frühjahr 1804 an die zen­ trale Medizinal­verwaltung und meldete, dass in seiner Stadt Rekruten massenweise an Faulfieber erkrankten. Da ein Krankenhaus fehle, verbreite sich die Krankheit nicht nur unter den Rekruten, sondern auch unter den Stadtbewohnern. Zwar habe man versucht, das Problem zu lösen, ohne die zentrale Verwaltung mit einzubeziehen, doch habe die Medizinal­verwaltung des Gouvernements kein Lazarett in Izjum einrichten lassen.86 An diesem Schriftwechsel lässt sich zunächst eine veränderte Wahrnehmung des Medizinal­wesens erkennen. Zwar profitierten Adlige und Kaufleute, die Krankenhäuser bauten oder mitfinanzierten, im Falle einer Erkrankung selbst nicht von den eigenen Einrichtungen. Denn diese waren für diejenigen bestimmt, die sich im Gegensatz zu den Spendern keine private ärzt­liche Behandlung leisten konnten. Frei­lich konnte es im Interesse eines Gutsbesitzers sein, ein Krankenhaus in der nächstgelegenen Stadt zu wissen, in dem er bei Bedarf seine Leibeigenen behandeln lassen konnte. Darüber, ob und wie oft dieses Motiv für ein persön­ liches Engagement zugunsten des Medizinal­wesens ausschlaggebend gewesen ist, kann man nur spekulieren. Wesent­lich an dem Beispiel aus Izjum ist die Angst vor kranken Rekruten, deren ansteckende Krankheiten leicht auf die lokale Bevölkerung übergreifen konnten. Die Gründung einer medizinischen Einrichtung, in der sie versorgt würden, diente in diesem Fall also dem Schutz der Einwohner. Leider bleibt dieser Quellenfund ein Unikat. Doch bei aller gebührenden Vorsicht wird man annehmen dürfen, dass die lokale Bevölkerung ein Interesse an einer Verbesserung der allgemeinen medizinischen Versorgung entwickeln konnte, auch wenn sie von den Einrichtungen selbst nicht direkt zu profitieren schien.

86 Schreiben Nikolaj Šidlovskijs an das Innenministerium vom 18. Februar 1804. RGIA f. 1287, op. 11, d. 202, l. 2 – 3ob., hier l. 2 – 2ob.

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Medizinal­wesen als Aufgabenfeld lokaler Gesellschaften

Das Schreiben offenbart zudem eine Haltung, die nicht unbedingt neu war, jedoch in diesem Fall mit besonderem Nachdruck geäußert wurde. Šidlovskij hielt es für eine Pf­licht der lokalen Verwaltung, und damit der Staatsmacht, für die Gesundheit der Bevölkerung zu sorgen. Zwar erklärte er sich bereit, den Bau eines Lazaretts finanziell zu unterstützen.87 Doch die Hauptverantwortung sah er eindeutig bei der lokalen Verwaltung und nicht bei einzelnen Privatpersonen. Was genau sagt der Brief Šidlovskijs über das Verhältnis zwischen der zentralen und der lokalen Verwaltungsebene sowie der Bevölkerung in der Provinz aus? Erstens existierte in der lokalen Provinzbevölkerung um die Jahrhundertwende eine Erwartungshaltung gegenüber der Staatsgewalt. Damit waren Strukturen, die im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert auf staat­liche Initiative hin geschaffen wurden, bereits um die Jahrhundertwende auf lokaler Ebene akzeptiert. Zweitens ging die Initiative zur Verbesserung der medizinischen Versorgung in der Provinz nicht immer von der lokalen Verwaltung oder gar von der zentralen Ebene aus. Wenn auf lokaler Ebene Handlungsbedarf empfunden wurde, versuchte man, Probleme mit eigenen, lokalen Kräften zu lösen. Die zentrale Verwaltung wurde als eine höhere Appellationsinstanz wahrgenommen und angerufen, wenn im gewohnten Ablauf Störungen auftraten und eine weitere Autorität notwendig war, um ein Vorhaben gegen Widerstände durchzusetzen. Auch wenn sich der Fall aus Izjum nicht ohne Weiteres als reichsweite Norm betrachten lässt, so kann er doch als Hinweis darauf dienen, dass die Saat, die von der Regierung ­Katharinas gesät und von ihrem Sohn gepflegt worden war, zumindest an manchen Stellen aufging: Die medizinische Versorgung war in der Provinz des Rus­sischen Reiches um 1800 wenn nicht ein Thema von allgemeinem Interesse, so doch in der lokalen Öffent­lichkeit präsent.

Kollektive Verhaltensmuster Die bisherigen Beispiele handelten allesamt von wohltätigen Projekten, die von Einzelpersonen ins Leben gerufen wurden. Doch inwieweit lassen sich im neunzehnten Jahrhundert Veränderungen erkennen, die gruppenspezifische Verhaltensmuster betreffen? Schließ­lich zielte die katharinäische Gesetzgebung auf die Entstehung lokaler Gesellschaften ab. Im Sommer 1801 ordnete Alexander I. an, dem Adel von Simbirsk seine Anerkennung auszusprechen, denn dieser hatte sich zusammengeschlossen, um in der Gouvernementsstadt ein Krankenhaus für Mittellose einzurichten.88 Als 1804 nach

87 Ebd., l. 3ob. 88 Kaiser­licher Erlass vom 11. Juli 1801, in: PSZ I Bd. 26, Nr. 19.912, S. 695 – 696.

Selbstverständnis im Wandel

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einer Finanzierungsquelle für die Krankenhausgründung in der Kreisstadt Tim im Gouvernement Kursk gesucht wurde, fragte der Gouvernementsadelsmarschall den lokalen Adel, ob dieser bereit sei, für das Unternehmen aufzukommen. Auf diese Anfrage hin erklärten sich zahlreiche Adlige bereit, eine beträcht­liche Geldsumme zu spenden.89 Hier trat der Adel nicht mehr als eine Vielzahl von Individuen auf, die nur geringes Interesse am lokalen Medizinal­wesen zeigten. Vielmehr erscheint er in den Quellen des frühen neunzehnten Jahrhunderts sowohl deut­lich aktiver als im achtzehnten Jahrhundert als auch eher bereit, gemeinsam als Stand zu agieren. Auch kam es vor, dass städtische Gesellschaften Krankenhäuser gründeten, und zwar nicht nur aus regulären Einnahmen, wie es die Städteordnung von 1785 vorsah, sondern durch Spenden finanziert. Im Gouvernement Tambov hatten die städtischen Gesellschaften von Kozlov und Moršansk jeweils ein Krankenhaus gegründet. Das Stadthaupt von Kozlov ließ dem Krankenhaus zusätz­lich zweitausend Rubel aus seinem eigenen Vermögen zukommen.90 In Einzelfällen schlossen sich also auch Stadtbürger für ein Projekt zugunsten des Gemeinwohls zusammen. Ein in der Ausführ­lichkeit seiner Überlieferung seltenes Beispiel soll einen Einblick in das kollektive Verhalten des Adels in einem wohltätigen Projekt gewähren: Im Dezember 1818 veranstaltete das Moskauer Golicyn-Krankenhaus eine Bilderlotterie, deren Erlös dem Krankenhaus zugutekommen sollte. Verlost wurden 141 Bilder, wobei es 4500 Lotteriescheine zum Preis von je zehn Rubel gab.91 Der Leiter des Krankenhauses, Fürst Sergej Golicyn, wollte nicht nur den Einwohnern der alten Hauptstadt, sondern auch der Provinzbevölkerung eine Beteiligung ermög­lichen. Die Kaiserinmutter Maria Fëdorovna riet dem Fürsten, sich zu diesem Zweck an Gouverneure zu wenden, was dieser denn auch tat. So waren Lotteriescheine auch beim Gouverneur von Voronež angekommen. Dieser leitete sie an den Gouvernementsadelsmarschall mit der Bitte weiter, den Adel zur Teilnahme an der Lotterie zu bewegen. Die Adelsmarschälle der Kreise Voronež, Zadonsk, Zemljansk, Birjuč, Starobel’sk und Ostrogožsk nahmen jeweils zehn Lotteriescheine, die Marschälle der übrigen Kreise jeweils fünf.92 Die Quellen erlauben es in diesem Fall nachzuvollziehen, wer sich an der Lotterie beteiligte: In Ostrogožsk kauften acht Personen die vorhandenen zehn Scheine

89 Zivilgouverneur von Kursk, Pavel Protasov, an den Innenminister, Viktor Kočubej, vom 13. Dezember 1804. RGIA f. 1287, o. 11, d. 193, l. 12 – 16, hier l. 12ob.–13. 90 Otčet za 1804 god, S. 121. 91 Lotterieankündigung des Fürsten Sergej Golicyn, o. D. [1818]. GAVO f. i–30, op. 1, d. 450, l. 12. 92 Schreiben des Gouverneurs von Voronež, Nikolaj Dubenskij, an den Gouvernementsadelsmarschall, Dmitrij Čertkov, vom Dezember 1818. GAVO f. i–30, op. 1, d. 450, l. 2, 5 – 5ob., 13, hier l. 2, 5ob., 13.

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auf. Davon gingen allein vier an die Familie des Adelsmarschalls Nikolaj Stankevič. Zwei Stück wurden von zwei Adligen namens Borodkin gekauft. Ein Generalmajor erwarb drei Lotteriescheine. In Birjuč wurden ebenfalls alle zehn Lotteriescheine verkauft, wobei auch hier die Familie des Adelsmarschalls die meisten erwarb. Im Kreis Korotojak zeigten die Adligen kein Interesse an der Lotterie, so dass der Adelsmarschall alle fünf Scheine selbst kaufte. Aus demselben Grund behielt auch der Adelsmarschall von Starobel’sk alle zehn Lotteriescheine.93 Welche Schlussfolgerungen über das Wohltätigkeitsverhalten des Adels lassen sich aus diesem Beispiel ziehen? Zunächst einmal muss man feststellen, dass sich in diesem Fall nur eine Minderheit des Adels spendenfreudig zeigte. Dabei wurden Lotteriescheine oft an mehrere Mitglieder ein und derselben Familie verkauft. Von den 59 Scheinen, deren Verkauf überliefert ist, gingen sieben an Frauen. Damit machten Frauen etwa zwölf Prozent der Spender aus, wobei die meisten von ihnen aus der Familie des jeweiligen Adelsmarschalls stammten.94 Am meisten Beachtung verdient allerdings die Rolle der Adelsmarschälle selbst. Sie erwarben in diesem Fall zweiundzwanzig Prozent aller Lotteriescheine. Zählt man jene Scheine zusammen, die von allen Familienmitgliedern der Adelsmarschälle gekauft wurden, dann beträgt ihr Anteil einunddreißig Prozent.95 An diesem Beispiel werden die herausragende Position und auch die besondere Rolle der Adelsmarschälle in der Provinzöffent­lichkeit deut­lich. Zum einen dienten sie als Ansprechpartner für die Staatsgewalt, die vermittels ihrer Repräsentanten in der lokalen Verwaltung Kontakt mit dem Provinzadel aufnehmen wollte. Doch waren Adelsmarschälle nicht nur Kontaktpersonen für die Staatsmacht. Ihre Aufgabe bestand auch darin, ihre Standesgenossen für Projekte zu gewinnen, die von

93 Schreiben des Kreisadelsmarschalls von Ostrogožsk, Nikolaj Stankevič, an den Gouvernements­ adelsmarschall, Dmitrij Čertkov, vom 21. Mai 1919. GAVO f. i–30, op. 1, d. 450, l. 18; Schreiben des Kreisadelsmarschalls von Birjuč, Pëtr Šidlovskij, an den Gouvernementsadelsmarschall, Dmitrij Čertkov, vom Januar 1819. GAVO f. i–30, op. 1, d. 450, l. 19; Schreiben des Kreisadelsmarschalls von Korotojak, Gavrila Kolesnikov, an den Gouvernementsadelsmarschall, Dmitrij Čertkov, vom 16. April 1819. GAVO f. i–30, op. 1, d. 450, l. 21; Schreiben des Kreisadelsmarschalls von ­Starobel’sk an den Gouvernementsadelsmarschall, Dmitrij Čertkov, vom 2. April 1819. GAVO f. i–30, op. 1, d. 450, l. 27. 94 Siehe GAVO f. i–30, op. 1, d. 450, l. 2; GAVO f. i–30, op. 1, d. 450, l. 18; Schreiben des Kreis­ adelsmarschalls von Nižnedevick, Aristarch Rešetov, an den Gouvernementsadelsmarschall, Dmitrij Čertkov, vom Januar 1819. GAVO f. i–30, op. 1, d. 450, l. 20. 95 Der Verkauf von 59 Lotteriescheinen ist überliefert. Hinzu kommen 15 Lotteriescheine, die von den Adelsmarschällen mangels anderer Interessenten in Korotojak und Starobel’sk gekauft worden sind. Damit kommt man auf 74 Lotteriescheine. Von den 74 Scheinen wurden 17 von den Adelsmarschällen gekauft. Zählt man die Familienangehörigen dazu, dann wurden von den Familien der Adelsmarschälle 23 Lotteriescheine erworben.

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außen – sei es von der Staatsgewalt oder, wie in dem angeführten Beispiel, von einer privaten Einrichtung – an sie herangetragen wurden. Das Verhalten der Adelsmarschälle in der Lotterie für das Golicyn-Krankenhaus offenbart eine wesent­liche Facette des adligen Selbstverständnisses: Indem sie Lotteriescheine kauften, erfüllten sie die von der Staatsgewalt an sie gestellte Erwartung, als Primi inter Pares ihren Standesgenossen mit gutem Beispiel voranzugehen. Gleichzeitig nutzten sie die Mög­lichkeit, durch eine Spende ihre gehobene Stellung in der Provinzgesellschaft zu demonstrieren. Verstärkt wurde diese Wirkung durch die Beteiligung weiterer Familienmitglieder an der Lotterie. Besonders aufschlussreich erscheint das Verhalten jener beiden Adelsmarschälle, die mangels anderer Interessenten alle zur Verfügung stehenden Lotteriescheine kauften. Offenbar kam es für sie nicht in Frage, die Lotteriescheine zurückzu­schicken. Wenn sie es nur für ihre persön­liche Pf­licht gehalten hätten, eine Spende zu tätigen, wäre es ja ausreichend gewesen, nur einen oder ein paar Scheine zu kaufen. Ihr Verhalten legt jedoch die Vermutung nahe, dass sie es vielmehr für die Pf­licht des Adels hielten, sich an solchen Wohltätigkeitsveranstaltungen zu beteiligen. Auch wenn sie es nicht explizit machten, darf man annehmen, dass die beiden Marschälle diese Erwartung an alle Standesgenossen stellten. Sie wollten vermeiden, dass der Gouvernementsmarschall mitbekam, wie die von ihm repräsentierten Adligen die an sie gestellten Erwartungen enttäuschten. Womög­lich galt es auch, gegenüber dem Veranstalter der Lotterie, einem der hochrangigsten Adligen des Reiches, das Gesicht zu wahren. Adelsmarschälle waren nicht die einzigen Mittler zwischen den Initiatoren wohltätiger Projekte und den potenziellen Unterstützern. Die Aktivität lokaler Gesellschaften im Bereich des Medizinal­wesens hing zu einem großen Teil auch von der Bedeutung ab, die der Wohltätigkeit im Allgemeinen und den Projekten im Bereich der medizinischen Versorgung im Besonderen seitens der lokalen Obrigkeiten beigemessen wurde. Der Gouverneur von Saratov rief zum Beispiel den Adel seines Gouvernements auf, sich der bedürftigen Behinderten und Alten anzunehmen. Ein besonderes Problem stellten in seinem Gouvernement Freigelassene dar. Sie kamen mit Transportschiffen, die auf der Wolga verkehrten, und wurden oft in Hafenstädten zurückgelassen. Der Gouverneur wandte sich an die Adligen, als sie sich im Hauptort zu den Wahlen versammelt hatten. Der Adel erklärte sich bereit, ein Krankenhaus, das nach dem Kaiser benannt werden sollte, und ein Armenhaus einzurichten. Zu diesem Zweck kam eine beträcht­liche Spende in Höhe von zunächst 20.000 Rubel zusammen.96 Dem Adel schlossen sich die Kaufmannschaft des Gouvernements und einige Salzfuhrleute (soljanye voščiki) an. Der Adel spendete erneut, Zinsen fielen

96 RGIA f. 1287, op. 11, d. 189, l. 1.

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Medizinal­wesen als Aufgabenfeld lokaler Gesellschaften

an, der Kaiser schenkte 10.000 Rubel, und so kamen dem Kranken- und Armenhaus bis zum Tag seiner Eröffnung insgesamt 42.358 Rubel zugute.97 Auch in Kazan’ ging die Initiative zum Bau eines Krankenhauses vom dortigen Gouverneur aus. Er empfand die Kapazität des bestehenden Krankenhauses des Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge als unzureichend, zumal sich die Stadt im Sommer regelmäßig mit Schiffsarbeitern füllte. Das Amt verfügte nicht über genügend Mittel, um das medizinische Angebot zu erweitern. Also wandte sich der Gouverneur an den Adelsmarschall, damit dieser dem Adel vorschlage, den Bau eines weiteren Krankenhauses zu unterstützen. Zu dem Zeitpunkt, als der Gouverneur dem Adel den Vorschlag unterbreitete, gab es bereits einen Entwurf und einen Kostenvoranschlag.98 Der Adel sollte also nicht generell nach seiner Bereitschaft gefragt, sondern zur Finanzierung eines bereits ausgearbeiteten Projekts bewegt werden. Insgesamt erklärten sich 287 Adlige bereit, sowohl den Bau des Krankenhauses zu finanzieren als auch seine laufenden Kosten – für Heizmaterial, Beleuchtung und eventuelle Reparaturen – zu tragen. Die Adligen einigten sich darauf, fünfzig Kopeken pro Seele zugunsten des Krankenhauses zu entrichten. Sollten auch diejenigen Gutsbesitzer, die sich nicht im Gouvernement aufhielten, diesem Vorhaben zustimmen, würde eine größere Summe zusammenkommen, als das Krankenhaus sie benötige, resümierte der Gouverneur.99 Die beiden geschilderten Fälle erlauben dreierlei Schlüsse über das Verhalten lokaler Gesellschaften zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts: Erstens war sowohl beim Adel als auch bei der Kaufmannschaft am Anfang des Jahrhunderts ein Verantwortungsbewusstsein für ihr Gouvernement vorhanden. Zweitens kam dem Adel eine besondere Rolle zu, da er der erste Ansprechpartner für die Staatsgewalt in der Provinz war. Drittens stellte der Bau eines großen Krankenhauses in der Gouvernementsstadt ein Prestigeprojekt dar. Sich daran zu beteiligen war dem Ansehen sowohl einzelner Personen als auch des ganzen Standes dien­lich. Diese Beispiele, die von veränderten Verhaltensmustern und aufkommendem Engagement im Medizinal­wesen zeugen, dürfen jedoch nicht den Eindruck erwecken, jedes lokale Projekt sei von Erfolg gekrönt gewesen. Im Gouvernement Voronež ergriffen zum Beispiel im Jahr 1815 die Adelsmarschälle die Initiative. Sie stellten fest, dass es an Ärzten mangle, und beschlossen, die Obrigkeit um die Entsendung von frei praktizierenden Ärzten zu bitten. Dazu riefen sie den Adel der einzelnen Kreise auf, zusätz­liche Ärzte aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Der größte Teil des Adels lehnte diesen Vorschlag allerdings ab. Manche sahen im Gegensatz zu 97 RGIA f. 1287, op. 11, d. 189, l. 12 f.; Statut für das Alexander-Krankenhaus in Saratov vom 30. August 1806. RGIA f. 1287, op. 11, d. 189, l. 16 – 21, hier l. 20. Siehe dazu auch Anm. 76 in diesem Kapitel. 98 RGIA f. 1287, op. 11, d. 293, l. 1 f. 99 Ebd., l. 1ob.

Selbstverständnis im Wandel

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den Adelsmarschällen keinen Bedarf an weiteren Ärzten.100 Eine Ausnahme bildete der Adel des Kreises Starobel’sk. Auf den Appell der Adelsmarschälle hin erklärte sich der Adel bereit, einem Arzt ein Jahresgehalt von eintausend Rubel zu zahlen, damit er sowohl Adlige als auch deren Bauern behandle.101 Dieser Fall ist insofern bemerkenswert, als es sich um eine lokale Initiative handelte, die nicht von Staatsbeamten ausging. Zwar stieß sie nicht nur auf Zustimmung, doch schon allein ihr Aufkommen offenbart einen Gegensatz zu den ersten Jahrzehnten der Herrschaft ­Katharinas II., als der Bedarf nach medizinischem Personal fast ausschließ­lich auf der Ebene der Staatsgewalt formuliert worden war. Welche – gleichwohl lokal begrenzten – Schlüsse über die Annahme neuer Rollen und die Entwicklung gesellschaft­licher Strukturen erlaubt die Begebenheit in Voronež? Adelsmarschälle waren in diesem Fall diejenigen, die die Initiative ergriffen und vom rest­lichen Adel tatkräftige, vor allem finanzielle Beteiligung erwarteten. Die Adligen dagegen blieben mehrheit­lich passiv. Interesse am Vorstoß der Marschälle bekundeten sie nur unter dem Vorbehalt, dass die Unterstützung des Vorhabens vor allem ihnen zugutekommen würde. Die Verantwortung des Adels für das Gemeinwohl, die staat­licherseits so oft beschworen wurde, spielte hier keine Rolle. Medizinische Versorgung war zwar nicht mehr nur eine private, allerdings in diesem Fall höchstens eine ständische Angelegenheit. Auch kam das Engagement nicht immer dem lokalen Medizinal­wesen zugute. Die Kreisstadt Gorbatov sollte 1811 ein neues Krankenhaus bekommen. Die Baukosten sollten die Stadtbewohner tragen. Diese meldeten jedoch dem Gouverneur, die Finanzierung des Krankenhausbaus würde eine zu große Belastung für sie darstellen, so dass sie nicht einmal mehr in der Lage sein würden, Steuern zu zahlen.102 Ein mehr oder weniger ausgeprägtes Desinteresse am Medizinal­wesen und die daraus resultierende fehlende Bereitschaft, sich für ein Projekt in diesem Bereich zu engagieren, darf jedoch nicht als Scheitern der staat­lichen Gesellschaftspolitik betrachtet werden. Die Stadteinwohner von Gorbatov lehnten nicht jeg­liche gemeinsamen Projekte ab. So beteiligten sie sich zum Beispiel am Bau einer K ­ irche.103 Dem Vorhaben im Bereich der medizinischen Versorgung konnten sie aber kein Interesse entgegenbringen. Stattdessen finanzierten sie gemeinsam ein in ihren Augen sinnvolles Projekt. Für ein Krankenhaus, von dem sie sich keinen Nutzen versprachen, reichte ihr Geld dagegen nicht aus.

100 So etwa der Adel des Kreises Bobrov: Taradin, Materialy, S. 537. 101 Zitiert nach ebd. 102 Kopie des Berichts des Gouverneurs von Nižnij Novgorod, Andrej Runovskij, an den Polizeiminister, Aleksandr Balašov, vom 6. April 1811. RGIA f. 1287, op. 11, d. 859, l. 9 – 13, hier l. 9 – 9ob. 103 Ebd., l. 10ob.

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Medizinal­wesen als Aufgabenfeld lokaler Gesellschaften

Lokale Gesellschaften ergriffen bei weitem nicht immer selbst die Initiative, und ihr Verhalten entsprach bisweilen nicht den Erwartungen der Staatsgewalt. Doch Beispiele von Krankenhausgründungen und Zusammenschlüssen der Provinzbewohner zum Zweck eines lokalen Projekts zeugen davon, dass die neuen Rollen bis zur Jahrhundertwende doch zum Teil akzeptiert wurden. Gelegent­lich mussten der Adel und städtische Gesellschaften von der Verwaltung allerdings an ihre neuen Aufgaben erinnert werden.104

5. 3   Au fg a b e n i m A l lt a g u nd i m K r ieg Medizinische Einrichtungen fanden nicht nur durch Krankenhausgründungen oder großzügige Spenden ihren Weg ins Leben der rus­sischen Provinz. Solche Ereignisse waren selten. Im Alltag dominierten Begebenheiten von viel kleinerem Ausmaß, an denen sich aber ein größerer Teil der Provinzbevölkerung beteiligte. In die Reihe solcher alltäg­lichen Ereignisse gehörte etwa die Versorgung der Krankenhäuser – sowohl für die Zivilbevölkerung als auch für das Militär – mit Holz, Kerzen und Lebensmitteln 105 oder Sammelaktionen wie in Tjumen’: Dort hatten sich fünfzig Stadteinwohner im Frühjahr 1800 verpf­lichtet, dem Lazarett Stoffreste zu liefern, die als Verbandmaterial benutzt wurden.106 Nicht nur der Adel als Stand oder die städtischen Gesellschaften, die sich konstituieren sollten, wurden von der Staatsgewalt in die Pf­licht genommen, für den Aufbau und das Funktionieren des Medizinal­wesens in der Provinz zu sorgen. Das Vordringen des staat­lichen Medizinal­wesens auf die lokale Ebene veränderte auch die Rollen einzelner Amtsträger. Zunächst einmal erweiterten neue Pf­lichten im Bereich der Medizinal­polizei und der Medizinal­politik das Tätigkeitsfeld der Gouverneure, der Adelsmarschälle und der Landeshauptmänner. Die Vergrößerung

104 Ein Beispiel aus Tjumen’: Schreiben des Generalgouverneurs von Sibirien, Ivan Pestel’, an den Innenminister, Aleksej Kurakin, vom 25. Mai 1809. RGIA f. 1287, op. 11, d. 532, l. 1 – 2, hier l. 1ob. 105 Die Akten der Stadtduma von Borisoglebsk im Gouvernement Voronež erwähnen fast täg­lich die Frage nach der Versorgung eines Regimentslazaretts mit Kerzen und Holz. Siehe etwa Erlasse und Anordnungen der Gouvernementsverwaltung von Tambov für die Stadtduma von Borisoglebsk, 13. Dezember 1823 – 21. Januar 1824. GAVO f. i–135, op. 1. d. 31, l. 23 – 25. Siehe auch das Sitzungsprotokoll der Stadtduma von Borisoglebsk vom 5. März 1829. GAVO f. i–135, op. 1, d. 51, l. 63 und die Korrespondenz des Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge mit dem Gouvernementsadelsmarschall von Voronež vom Ende des Jahres 1830 über die Versorgung der Einrichtungen des Amtes mit Holz im kommenden Jahr. GAVO f. i–30, op. 1, d. 1014. 106 Siehe die Korrespondenz zwischen dem Stadtvogt von Tjumen’, Lazar’ Talašëv, und dem Gouverneur von Jaroslavl’, Michail Aksakov, von 1800 und das Schreiben des Gouverneurs von Jaroslavl’, Michail Aksakov, an die lokale Medizinal­verwaltung vom 31. Juli 1800. GAJaO f. 73, op. 1, d. 160, l. 8 – 8ob., 12, 13ob.

Aufgaben im Alltag und im Krieg

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des Aufgabenspektrums veränderte aber auch die Qualität der Ämter, vor allem der Gouverneure und der Adelsmarschälle. Sie waren diejenigen, die lokale Gesellschaften an ihre Pf­lichten erinnern und ihnen neue Aufgaben zuteilen sollten. Damit trat ihre Mittlerfunktion zwischen Zentrum und Provinz sowie zwischen Vertretern der Staatsgewalt und den lokalen Eliten stärker in den Vordergrund. Mit der Zeit wurde die unmittelbare Beteiligung der Adelsmarschälle an medizi­ nalpolizei­lichen und gesundheitspolitischen Entscheidungen auf lokaler Ebene verstärkt. Nach der Gouvernementsordnung von 1775 konnten Gouvernementsadelsmarschälle zu den Sitzungen des Amtes für gesellschaft­liche Fürsorge eingeladen werden, auch wenn sie nicht als ständige Mitglieder in seine Arbeit eingebunden waren.107 Die 1811 gegründeten Komitees zur Verbreitung der Pockenschutzimpfung zählten Adelsmarschälle hingegen schon zu ihren ständigen Mitgliedern.108 Die Beteiligung der Vertreter des Adels an der Impfkampagne war nicht mehr wie die Teilnahme an der Arbeit der Wohlfahrtsämter freiwillig, sondern nunmehr Pf­licht. Welche Auswirkungen hatten die neuen Aufgabenfelder auf den Alltag der einzelnen Amtsträger und ganzer Bevölkerungsgruppen in der Provinz? Im November 1826 wandte sich der Kreisadelsmarschall von Ostrogožsk an den Gouvernementsadelsmarschall von Voronež mit folgendem Anliegen: Seiner Ansicht nach hatte die Aufgabenfülle der Adelsmarschälle in den vergangenen Jahrzehnten beträcht­lich zugenommen. Grund dafür sei die Einrichtung neuer Insti­ tutionen in der Provinz und die Beteiligung des Adels an deren Arbeit. Unter den genannten Einrichtungen befanden sich auch Impfkomitees. Mit den gewachsenen Pf­lichten habe auch die Korrespondenz spürbar zugenommen, so der Kreisadelsmarschall. Nach seiner Darstellung könne das vorhandene Personal die Aufgaben nicht mehr bewältigen und benötige Unterstützung.109 Die Bitte des Adelsvertreters aus Ostrogožsk wurde zwar vom Gouverneur mit dem Argument abgeschlagen, das bisherige Budget reiche bei „ordent­lichem Wirtschaften“ aus.110 Doch selbst wenn man annimmt, dass sich der Adelsmarschall von Ostrogožsk und seine Gehilfen nicht durch eine besonders gute Arbeitsorganisation auszeichneten, erscheint seine Bitte nicht abwegig. Die zunehmende Einbindung des Provinzadels in die lokalen Belange, darunter auch die medizinische Versorgung, erhöhte die Anforderungen an

107 Anordnungen zur Verwaltung der Gouvernements des Allrus­sischen Reiches vom 7. November 1775. Erster Teil, in: PSZ I Bd. 20, Nr. 14.392, S. 229 – 304, hier S. 271. 108 Siehe auch Litvinova, Učreždenija, S. 102; dies., Organizacija, S. 193. 109 Schreiben des Kreisadelsmarschalls von Ostrogožsk, Nikolaj Staniščev, an den Gouvernements­ adelsmarschall von Voronež, Semën Nikulin, vom 16. November 1826. GAVO f. i–30, op. 1, d. 847, l. 2 – 2ob., 8, hier l. 2 und 8. 110 Schreiben des Gouverneurs von Voronež, Boris Aderkas, an den Gouvernementsadelsmarschall, Semën Nikulin, vom 14. Mai 1827. GAVO f. i–30, op. 1, d. 847, l. 5.

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Medizinal­wesen als Aufgabenfeld lokaler Gesellschaften

das Amt des Adelsmarschalls. Diese allmäh­liche Ausweitung des Aufgabenbereichs führte dazu, dass der betroffene Adelsmarschall in dem geschilderten Fall verlangte, seine Arbeitsverhältnisse an die veränderten Aufgaben anzupassen. Auch wenn es sich hierbei um einen Einzelfall handeln mag, kann man daran erkennen, dass die Staatsgewalt zwar neue Aufgabenfelder schuf, offensicht­lich aber auf eine Prüfung vorhandener Kapazitäten verzichtete. Personal- und Geldmangel kamen erst dann zur Sprache, wenn bei der Erfüllung neuer Aufgaben Schwierigkeiten auftraten. Die meisten Berührungen mit dem Medizinal­wesen hatte die lokale Bevölkerung allerdings in Form der Unterbringung und Versorgung der Militärlazarette, die viele Beschwerden und Konflikte mit sich brachte.111 Nicht nur vor dem Hintergrund dieses oft unerfreu­lichen Alltags bildeten großzügige Spenden und private Krankenhausgründungen eine Ausnahmeerscheinung. Auch in der Gesamtentwicklung der Wohltätigkeit nehmen die ersten Jahre des neunzehnten Jahrhunderts eine Sonderstellung ein. Der Beginn des neunzehnten Jahrhunderts zeichnete sich durch zahlreiche private Krankenhausgründungen aus. Doch dieses Phänomen war recht kurzlebig. Die aufblühende private Wohltätigkeit veränderte sich stark während des Krieges gegen Napoleon. Sie fand nun im Rahmen einer speziellen Notlage statt, diente – obwohl sie sich oft auf die medizinische Versorgung des Militärs bezog – nicht dem Aufbau und der Aufrechterhaltung des lokalen Medizinal­wesens und wird hier deswegen ledig­lich gestreift. Im ersten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts richteten sich Spenden in erster Linie an Bevölkerungsgruppen, die sich selbst keinen Zugang zur medizi­ nischen Versorgung verschaffen konnten. Zwar kam es auch vor 1812 vor, dass Vertreter lokaler Eliten Spenden zugunsten des Militärs machten.112 Mit dem Einmarsch der napoleonischen Truppen in Russland hatte sich der Akzent in der Wohltätigkeit jedoch deut­lich verschoben.113 Im europäischen Teil des Reiches, der von den Kriegshandlungen betroffen war, herrschte ein Ausnahmezustand, der sich unter anderem in der Bereitschaft äußerte, das Militär nach Kräften zu unterstützen. So spendete ein Jaroslavl’er Apotheker während des gesamten Krieges eigene Medikamente für die Behandlung der Verwundeten und wurde in Anerkennung dieses Engagements in den Rang des Kollegienassessors befördert.114 Alexander I. ließ im Frühjahr 1812

111 Siehe dazu Kapitel 4.1. 112 Im März 1812 überließ ein Kaufmann aus Penza der Stadt ein Haus, in dem sie ein Lazarett für die vor Ort stationierte Kompanie einrichtete. RGIA f. 1287, op. 11, d. 948, l. 2. 113 In der zehnbändigen Dokumentensammlung zum Krieg gegen Napoleon, die Ende des 19. Jahrhunderts erschienen ist, findet sich eine Liste mit beeindruckenden Spenden der Moskauer Kaufleute für die Moskauer Volkswehr. Ščukin (Hg.), Bumagi Bd. 3, S. 122 – 128. Weitere Beispiele für Spenden – ohne Interpretation – bei Iskjul’, 1812 god, S. 85 ff. 114 Kaiser­licher Erlass vom 31. Dezember 1814. GAJaO f. 77, op. 1, d. 84, l. 1 – 1ob.

Aufgaben im Alltag und im Krieg

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eine lange Liste von Gegenständen veröffent­lichen, die zu Kriegszeiten besonders benötigt wurden: Stiefelmaterial, Knöpfe, Pferdegeschirr und Ähn­liches. Dadurch hatte die lokale Verwaltung die Mög­lichkeit, die Bevölkerung zu konkreten Spenden aufzurufen. Unter den Spendern zugunsten der sogenannten Volkswehr im Kreis Rostov des Gouvernements Jaroslavl’ fanden sich ein Kloster, einzelne Adlige und ganze städtische Gesellschaften.115 Die Akzentverschiebung wird sowohl bei individuellen Wohltätigkeitsformen als auch bei kollektiven Projekten sichtbar. Zu den herausragenden Beispielen aus der Kriegszeit gehört die Gründung des Alexander-Komitees im Jahre 1814 aus Mitteln, die der Herausgeber der Zeitschrift Russkij invalid (Der rus­sische Invalide) sammelte. Das Komitee bestritt seine Tätigkeit ausschließ­lich aus Spenden und existierte ohne jeg­liche Unterstützung seitens des Staates. Es widmete sich der Hilfe für Verwundete und ihre Familien: Es zahlte Renten, vergab Kredite, kümmerte sich um die Verbesserung der Wohnverhältnisse und eine kostenlose medizinische Versorgung, half den Hinterbliebenen der Gefallenen und organisierte die Erziehung der Waisen.116 Bemerkenswert an dieser Spendenaktion ist die Rolle der Zeitschrift. Der Heraus­ geber nutzte das Organ als Forum für die Kommunikation mit der Zielgruppe seiner Aktion. Das Zustandekommen des Komitees zeugt davon, dass die Presse zu dieser Zeit bereits als Medium dienen konnte, um gesellschaft­liche Kräfte für bestimmte Projekte zu mobilisieren. Die Wohltätigkeit im Zusammenhang mit dem Krieg gegen Napoleon bildet insofern eine Besonderheit, als die Kriegssituation grundsätz­lich andere Motive für ein freiwilliges Engagement lieferte. Die unmittelbare Gefahr, die feind­liche Truppen im eigenen Land darstellten, der direkte Kontakt mit Empfängern der Hilfeleistungen sowie die patriotische Stimmung schufen eine einzigartige Atmosphäre, in der die Wohltätigkeit einen Aufschwung erlebte. So erstaunt es wenig, dass sie in der Nachkriegszeit auf ein deut­lich niedrigeres Niveau herabsank: Die Rückkehr zur Normalität und mit dem Krieg verbundene wirtschaft­liche Schwierigkeiten dürften die wesent­lichen Gründe für das Abflauen der Wohltätigkeit gewesen sein. Schließ­ lich brachte der Krieg die Kaufmannschaft, die sich um die Jahrhundertwende durch großzügige Wohltätigkeitsprojekte ausgezeichnet hatte, um einen beträcht­lichen Teil ihres Vermögens.117 In der Forschung wird außerdem die These vertreten, die stärkere Reglementierung der Wohltätigkeit staat­licherseits habe ebenfalls zu deren Rückgang beigetragen.118 Wie war der Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Wohltätigkeit und deren politischer Regulierung? 115 Bulatov, Dvorjanstvo, S. 204, 209 f. 116 Vlasov, Obitel’, S. 294 f. 117 Hildermeier, Bürgertum, S. 165. 118 Zuletzt Sokolov, Blagotvoritel’nost’, S. 238 ff., 342.

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Medizinal­wesen als Aufgabenfeld lokaler Gesellschaften

Die Politik Alexanders I. zielte darauf ab, die Wohltätigkeit stärker zu institutionalisieren und damit zu einem Feld stetiger staat­licher und gesellschaft­licher Aktivität zu machen: „Ein gewöhn­liches Almosen für die Armen wird deren Zahl nur erhöhen und weder einen von den Jahren bedrückten Greis beruhigen noch einem in der Morgenröte seines Lebens eingehenden Jüngling die Gesundheit zurückgeben oder ein Kind, das zur Stütze des Vaterlands werden soll, vor dem Tod oder vor der Sünde retten. Nicht selten raubt ein ­frecher Müßiggänger aus der wohltätigen Hand das, was für einen Familienvater bestimmt war, der auf dem Sterbebett von Verzweifelung geplagt wird.“ 119

Anhand dieses Schriftstücks wird zunächst deut­lich, dass das populationistische Staatsdenken, das ­Katharina II . im offiziellen Diskurs verankert hatte, um die Jahrhundertwende einen selbstverständ­lichen Bestandteil staat­licher Bevölkerungspolitik bildete: Auch im neunzehnten Jahrhundert stand der Nutzen des Individuums für das Vaterland im Vordergrund. Zum anderen sollte die Organisation der Wohltätigkeit verschiedenen Zielgruppen angepasst werden. Zu diesem Zweck ließ ­Alexander I. 1802 die Wohltätige Gesellschaft (Blagodetel’noe obščestvo) gründen. Seit 1814 trat sie unter dem Namen der Kaiser­lichen Philanthropischen Gesellschaft auf. Mithilfe von Zweigstellen in der Provinz des Reiches kümmerte sie sich um einen wesent­lichen Bereich der Armenfürsorge: die medizinische Hilfe für Bedürftige. Zuständig war dafür das Medizinisch-Philanthropische Komitee, das den Kern der Philanthropischen Gesellschaft bildete.120 Zwei Jahre nach seiner Gründung unterbreitete das Komitee dem Kaiser Vorschläge, die dazu dienen sollten, „verschiedenen phy­sischen Nöten, die den Menschen von der Geburt bis ans Ende seiner Tage belasten […], vorzubeugen, sie zu lindern oder gar abzuwenden“.121 Dabei nahm sich das Komitee auch jener Krankengruppen an, die bis dahin vom Medizinal­wesen weitgehend unberücksichtigt geblieben waren: Menschen mit angeborenen oder im Laufe des Lebens erworbenen Behinderungen, darunter auch der Taubstummen, für die unter anderem spezielle Erziehungsinstitutionen geplant waren. Um die medizinische Versorgung der ärmeren Bevölkerungsgruppen schnell zu ermög­lichen, bewilligte Alexander I. für den Unterhalt solcher Einrichtungen

119 Schreiben Alexanders I. an Vitovtov vom 16. Mai 1802, in: Očerk dejatel’nosti Soveta Imperatorskogo Čelovekoljubivogo obščestva za 100 let 1816 – 1916 gg. Petrograd 1916, S. 3 f., zitiert nach Bobrovnikov, Vklad, S. 81. 120 Bobrovnikov, Vklad, S. 82 f.; Vlasov, Obitel’, S. 72 – 77; Lindenmeyr, Poverty, S. 103 – 109. 121 Kaiser­licher Erlass an die Mitglieder des Medizinisch-Philanthropischen Komitees vom 7. September 1804, in: PSZ I Bd. 28, Nr. 21.443, S. 505 – 507, hier S. 506.

Aufgaben im Alltag und im Krieg

313

bis zu 24.000 Rubel jähr­lich, die er in erster Linie für die häus­liche Krankenpflege und die Gründung von Dispensaires verwendet wissen wollte.122 Diese Anordnungen weisen in mehrfacher Hinsicht eine Kontinuität zur Politik ­Katharinas II. auf. Alexander I. setzte ebenso wie seine Großmutter den Akzent auf soziale Gruppen, deren Verantwortung für die Ausbreitung ansteckender Krankheiten als besonders hoch eingeschätzt wurde, deren Mög­lichkeiten zur Heilung aber äußerst gering waren: die gesellschaft­lichen Randgruppen. Doch die Wohltätigkeitspolitik unter Alexander I. unterschied sich in einem wesent­lichen Punkt von derjenigen seiner Großmutter: Während die Reformerin des achtzehnten Jahrhunderts die Aufgabe der Staatsgewalt im Bereich der Wohltätigkeit auf den ersten Impuls beschränkt gesehen hatte, strebte Alexander eine stärkere staat­liche Regulierung auf diesem Gebiet an. Im Jahre 1810 wurden wohltätige Einrichtungen grundsätz­lich neu definiert. Hintergrund dieser Entscheidung waren zahlreiche Anträge aus der Provinz, in denen Gouverneure baten, den einen oder anderen Spender für seine Tat auszuzeichnen. Dabei entstand in der zentralen Bürokratie der Eindruck, dass die lokale Verwaltung auch kleinste Spenden und bisweilen sogar nur die Spendenbereitschaft einer Auszeichnung für würdig erachtete. Daraufhin hielt ein kaiser­licher Erlass fest, dass nur solche tatsäch­lich gegebenen und beträcht­lichen Spenden eine Ehrung verdienten, die dem Nutzen der Allgemeinheit zugutekamen. Der Erlass unterteilte private Stiftungen in drei Kategorien: Zur ersten zählten Einrichtungen, die Gutsbesitzer auf ihren Landgütern gründeten und die ledig­lich ihren eigenen Bauern offenstanden. In die zweite Kategorie fielen ebensolche Einrichtungen, in die allerdings außer den Bauern des Stifters auch sonstige Bedürftige aufgenommen wurden. Solche Institutionen wurden als Teil der „Pf­licht und Menschenliebe der Gutsbesitzer“ betrachtet, die sich um die Gesundheit ihrer Bauern kümmerten, von der sie schließ­lich profitierten.123 Als wohltätige Einrichtungen galten von nun an nur solche, die ausnahmslos allen Bedürftigen offenstanden. Sie mussten vom Stifter ein Kapital erhalten, das ihre Existenz „für immer“ ermög­lichte, und in die Zuständigkeit der lokalen Behörden übergeben werden. Alternativ konnte der Stifter sie selbst leiten, allerdings mussten sie dem jeweiligen Amt für gesellschaft­liche Fürsorge über ihre Tätigkeit Rechenschaft ablegen.124 Seit 1817 mussten Gouverneure prüfen, ob die jeweilige Spende als Finanzierungsgrundlage für die zu gründende Einrichtung ausreichte. Wurde sie für zu klein befunden, sollte der Spender das Geld der Kaiser­lichen Philanthropischen Gesellschaft überlassen.125 122 Ebd. 123 Kaiser­licher Erlass vom 30. September 1810, in: PSZ I Bd. 31, Nr. 24.362, S. 366 – 367, hier S. 366 f. 124 Ebd., S. 366. 125 Sokolov, Blagotvoritel’nost’, S. 334.

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Medizinal­wesen als Aufgabenfeld lokaler Gesellschaften

Die Neuregelung der Wohltätigkeit brachte diese jedoch keineswegs zum Erliegen. Die folgende Zusammenstellung der Spenden zugunsten medizinischer Einrichtungen soll einen Einblick in die Art und Höhe der privaten Stiftungen nach dem Krieg gegen Napoleon ermög­lichen und auch demonstrieren, von wem solche Spenden kamen. Spenden an Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge zugunsten medizinischer Einrichtungen in den Jahren 1812 bis 1822 126 Jahr Spender

Art der Spende

Empfänger/Zweck der Spende

1812

Kollegienassessor Jankovskij

422 Rubel

Unterhalt des Krankenhauses in Verchne­ udinsk (Gouvernement Irkutsk)

Bauer Čubarov

150 Rubel

Unterhalt des Krankenhauses im Dorf Zaval’naja (Kreis Tobol’sk, Gouvernement Sibirien)

1813

Fabrikbesitzer Uglečaninov

Zweistöckiges Steinhaus und jähr­lich 1847 Rubel

Hospital für zwölf gemeine Soldaten und einen Offizier in Kostroma

1814

Apotheker Sess

400 Rubel

Amt für gesellschaft­liche Fürsorge von Poltava, für Medikamente

1815

Apotheker Grossman

Medikamente im Wert von 622,40 Rubel

Haus der Nächstenfürsorge in Jaroslavl’

1816

Kaufleute Protopopov, Bregin und Konoplëv

1200 Rubel

Amt für gesellschaft­liche Fürsorge von Kaluga, für Krankenhäuser

Kaufmann Lebedev

Kosten des Ausbaus eines Hausflügels, der Küche und der Bäder

Krankenhaus von Belëv (Gouvernement Tula)

1818

Kaufmann Čerepanov

9063 Rubel

Amt für gesellschaft­liche Fürsorge von Ufa, für den Kauf eines Krankenhauses

1819

Einwohner von Smolensk

2000 Rubel

Einrichtung eines Militärlazaretts

Kaufmann Romanov

Holzhaus

Einrichtung eines Krankenhauses für dreißig Personen in Vasil’evka (Gouvernement Taurien)

126 Die Angaben wurden übernommen von ebd., S. 345 – 349. Diese Zusammenstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, da Sokolov ledig­lich größere Spenden angibt. Für welchen Zweck die Spende der Kaufleute (kupečeskoe obščestvo) von Voronež in Höhe von 3829 Rubel, die dem lokalen Amt für gesellschaft­liche Fürsorge 1813 zugutegekommen ist, verwendet wurde, ist nicht bekannt. Siehe ebd., S. 346, 348.

Aufgaben im Alltag und im Krieg

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Jahr Spender

Art der Spende

Empfänger/Zweck der Spende

1820

Griechische Gesellschaft der Stadt Nežinsk

20.000 Rubel

Bau eines Krankenhauses für Invaliden

Kaufmann Novinskij

Haus in Toropec (Gouvernement Pskov)

Amt für gesellschaft­liche Fürsorge, für Kranke der inneren Wachen

Kaufmann Kaščeev

Haus in Korsun (Gouvernement Simbirsk)

Amt für gesellschaft­liche Fürsorge, für die Einrichtung eines Stadtkrankenhauses

Kaufmannschaft von Tobol’sk

Sach- und Geldspenden im Wert von 2360 Rubel

Amt für gesellschaft­liche Fürsorge, für die Einrichtung eines Krankenhauses

Apotheker Auerbach

Medikamente im Wert von 4099 Rubel

Moskauer Amt für gesellschaft­liche Fürsorge

1822

Die meisten überlieferten Spenden stammten zwar von Privatpersonen, doch Zusammenschlüsse sowohl einzelner Personen als auch ganzer Gesellschaften zum Zweck einer wohltätigen Stiftung waren keine Ausnahme.127 Die Höhe dieser Spenden lässt sich nicht als Hinweis auf eine Abkehr der Eliten von der Wohltätigkeit deuten. Mit der Neuregulierung der Wohltätigkeit manifestierte die Staatsgewalt ihren Anspruch auf die Deutungshoheit in diesem Bereich. Indem sie nur jene wohltätigen Einrichtungen auszuzeichnen bereit war, die der Zuständigkeit lokaler Behörden übergeben wurden und nicht ausschließ­lich den Interessen der Spender dienten, setzte sie die Idee fort, die K ­ atharina II. mit der Schaffung der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge begründet hatte. Ziel war es, das Allgemeinwohl zu einem gemeinsamen Anliegen der Staatsmacht und lokaler Eliten zu machen, wobei die staat­liche Verwaltung die Kontrolle darüber übernehmen sollte. Zum Beispiel verlangte der Kaiser vom Medizinisch-Philanthropischen Komitee, alle vier Monate die Öffent­lichkeit (publika) über den Zustand der Einrichtungen und über die Verwendung von Spendengeldern zu unterrichten.128 Diese Regelung sollte eine im Rus­sischen Reich bis dahin beispiellose Transparenz in der Tätigkeit einer Institution schaffen. Bemerkenswert ist die dahinterstehende Vorstellung, dass eine aus Spenden finanzierte Einrichtung ihren Geldgebern Rechenschaft schuldig sei. Es sei eine Frage der „Gerechtigkeit“,129 so der Wortlaut der kaiser­lichen Verordnung, dass Spender erführen, zu welchem Zweck ihr Geld verwendet werde. Die stärkere staat­liche Kontrolle der Wohltätigkeit lässt keine eindeutig negative Auswirkung auf das Spendenverhalten der Eliten erkennen. Man wird zwar annehmen dürfen, dass durch die engere Definition der Wohltätigkeit bei vielen, vor 127 Für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts konstatiert dieses Phänomen Lindner, Unternehmer, S. 391, in Bezug auf die medizinische Versorgung S. 392 – 403. 128 PSZ I Bd. 28, Nr. 21.443, S. 506. 129 Ebd.

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Medizinal­wesen als Aufgabenfeld lokaler Gesellschaften

allem kleineren Spenden, der positive Effekt der gesellschaft­lichen Anerkennung entfiel. Auch könnte die Prüfung der Obrigkeiten, inwieweit die Höhe der jeweiligen Spende ihrem Zweck entsprach, mit dem Selbstverständnis der Spender kollidiert haben. Allerdings muss hierbei bedacht werden, dass die Neudefinition der Wohltätigkeit vor allem insofern zu ihrem zahlenmäßigen Rückgang führte, als nur noch bestimmte Formen der privaten Stiftung als wohltätige Projekte Eingang in die Akten fanden. Über die Existenz weiterer Projekte, die nicht mehr als gemeinnützig galten, sagen Quellen staat­licher Provenienz nichts aus. Die Veränderungen im individuellen wie kollektiven Engagement zugunsten medizinischer Einrichtungen erlauben folgende Schlussfolgerung: Die Institutionen, die ­Katharina II. geschaffen hatte, um das Medizinal­wesen auf die Provinz des Rus­sischen Reiches auszuweiten, erwiesen sich als geeignet, mittelfristig sowohl medizinische Einrichtungen in der öffent­lichen Wahrnehmung zu verankern als auch eine entsprechende gesellschaft­liche Aktivität hervorzubringen. Der Charakter dieser Aktivität lässt sich in folgenden fünf Punkten zusammenfassen: Erstens wurde der Wohltätigkeitsdiskurs stets von der Staatsgewalt dominiert und änderte sich mit jedem Thronwechsel, auch wenn Paul I. und Nikolaus I. ihn deut­ lich weniger markant geprägt hatten als ­Katharina II. und ihr Enkel ­Alexander. Die Staatsgewalt definierte den Rahmen für gesellschaft­liche Aktivität. Das gesellschaft­ liche Engagement im Allgemeinen und die Wohltätigkeit im Bereich des Medizinal­ wesens im Besonderen blieben somit stets von der Staatsgewalt abhängig. Zweitens bewegte sich die individuelle wie die kollektive Wohltätigkeit innerhalb des staat­licherseits festgelegten Rahmens und war nie richtungweisend, da sie keine neuen Bereiche erschloss. Legt man ihrer Kategorisierung die eingangs festgelegte Definition von „Gesellschaft“ und „Zivilgesellschaft“ zugrunde, so ergeben sich aus der Untersuchung zwar Ansätze einer Vergesellschaftung. Sie lassen sich aber nicht als Vorform zivilgesellschaft­licher Strukturen einstufen – zu stark war die gesellschaft­liche Aktivität an den Staat gebunden, zu wenig ist eine beständige Organisation erkennbar.130 Drittens waren die Motive der Wohltätigkeit im Rus­sischen Reich – wie auch aus gesellschaft­lichen Zusammenhängen im Westen Europas bekannt – vielschichtig. Nach Manuel Frey sind sie aus „individuelle[m] Antrieb, soziale[n] Gruppeninteressen und gesellschaft­lich akzeptierte[n] Wertmustern“ zusammengesetzt.131 Auch in der Gesellschaft des Zarenreichs waren Spenden und Stiftungen nie Ausdruck

130 Dies gilt auch, wenn man „Zivilgesellschaft“ als eine „sich selbst organisierende Öffent­lichkeit“ begreift. Kocka, Zivilgesellschaft, S. 19. Dagegen erkennt Sokolov in der Wohltätigkeit während des Krieges gegen Napoleon Ansätze einer Zivilgesellschaft. Sokolov, Blagotvoritel’nost’, S. 253 – 325. Ely sieht schon in 18. Jahrhundert Wurzeln einer Zivilgesellschaft. Ely, Question, S. 231. 131 Frey, Macht, S. 19. Siehe auch Vlasov, Obitel’, S. 273.

Aufgaben im Alltag und im Krieg

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sch­lichter Selbstlosigkeit.132 Neben der Unterstützung Bedürftiger und der Förderung medizinischer Einrichtungen dienten sie immer auch der Manifestation der sozialen Position des Spenders im öffent­lichen Raum, die wiederum durch kaiser­ liche Anerkennung bekräftigt wurde. Viertens traten beide Formen – die individuelle wie die assoziierte Wohltätigkeit – zur selben Zeit auf, wobei Stiftungen einzelner Personen in den gesichteten Quellen das häufigere Phänomen darstellten.133 Die Wohltätigkeit des Adels blieb weitgehend konstant, während die Kaufmannschaft erst seit der Jahrhundertwende in diesem Bereich als Akteur auftrat und ihn in den ersten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts dominierte.134 Fünftens entwickelten sich private und gesellschaft­liche Initiative nicht überall gleich. Gerade anhand der Fallbeispiele Jaroslavl’, Tambov und Voronež lassen sich unterschied­liche Muster aufzeigen: Die Untersuchung zur Entstehung von Krankenhäusern hat gezeigt, dass im Gouvernement Voronež bis zum Ende des ersten Drittels des neunzehnten Jahrhunderts ledig­lich eine einzige private Krankenhausstiftung zu verzeichnen war, während in Jaroslavl’ mindestens vier Krankenhäuser auf private und gesellschaft­liche Initiative zurückgingen. In Tambov entstanden zwei Krankenhäuser auf gesellschaft­liche Initiative hin. Auch der deut­lich langsamere Kapitalzuwachs der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge im Schwarzerdegebiet im Vergleich zum Gouvernement Jaroslavl’ zeugt von einer geringeren Spendenbereitschaft in den beiden südöst­lichen Gouvernements. Wie lässt sich dieser Unterschied erklären? Blickt man auf die Krankenhäuser im Gouvernement Jaroslavl’, so fällt auf, dass zwei von ihnen von Kaufleuten gestiftet und die beiden anderen von der städtischen Gesellschaft der jeweiligen Stadt finanziert wurden. Wer der Gründer des einzigen privat gestifteten Krankenhauses im Gouvernement Voronež war, ist leider unbekannt. An dieser Gegenüberstellung wird deut­lich, dass in Jaroslavl’ die Kaufmannschaft eine herausragende Rolle spielte. Sie dominierte das Leben des Gouvernements seit dem sechzehnten Jahrhundert und entwickelte um 1800 eine beträcht­liche wirtschaft­liche Kraft. Im Schwarzerdegebiet, dessen starke agrarische Prägung das wirtschaft­liche Leben bestimmte, gab es keine vergleichbare Entwicklung. Somit fehlte in Voronež jene Gruppe von Kaufleuten, die mit ihrer Wohltätigkeit eine neue Dynamik in die Städte des Gouvernements Jaroslavl’ gebracht hatten. Zwar profitierten Kaufleute, die im

132 So etwa Frey, Macht, S. 8 – 24. 133 Damit fehlt dieser Art der Wohltätigkeit eine Entwicklung, wie sie etwa Anja Richter für Schulstiftungen im Sachsen des 19. Jahrhunderts beobachtet. In Sachsen dominierten bis zum Anfang des Jahrhunderts individuelle Stiftungsformen, im Laufe des Jahrhunderts wurden sie von assoziativen Bürgerstiftungen verdrängt. Richter, Engagement, S. 239. 134 Zu diesem Phänomen im Westen Europas siehe Flöter, Prestige, S. 253.

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Medizinal­wesen als Aufgabenfeld lokaler Gesellschaften

Getreidehandel und in der Tuchherstellung tätig waren,135 ebenfalls von der Konjunktur der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts. Doch waren sie im öffent­lichen Raum anscheinend weniger präsent. Eine geringere Beteiligung des lokalen Adels an wohltätigen Projekten im Schwarzerdegebiet könnte daran gelegen haben, dass er kaum vor Ort war und daher mög­licherweise eine gewisse Distanz gegenüber lokalen Belangen empfand. Die Abwesenheit hatte auch eine weitere praktische Konsequenz: die fehlende Einbindung in lokale Kommunikationszusammenhänge. Doch die aktive Beteiligung der lokalen Bevölkerung am Medizinal­wesen erschöpfte sich nicht nur in der finanziellen Unterstützung einzelner Vorhaben. Im Folgenden soll ihre Rolle im größten staat­lichen medizinischen Projekt des späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts untersucht werden: der Verbreitung der Pockenschutzimpfung.

5.4  D ie Po cke n s chut z i m pf u ng Wie so viele medizinhistorische Themen ist auch die Geschichte der Pockenschutz­ impfung für den west­lichen Teil Europas unvergleich­lich besser erforscht als für Russland.136 Die über hundert Jahre alte informative Studie von Vladislav Gubert ist nach wie vor die wichtigste Arbeit zu diesem zentralen medizinalpolitischen Projekt des aufgeklärten Absolutismus im Zarenreich.137 Die sowjetische Geschichtswissenschaft hat zur Erforschung der Pockenschutzimpfung im Wesent­lichen die These beigetragen, in Russland sei die Impfung schneller und problemloser angenommen worden als im Westen Europas.138 Erst in der Habilitationsschrift von Andreas Renner ist das staat­liche Impfprojekt wieder ins Blickfeld der Geschichtsforschung geraten, hier im Kontext der Aneignung medizinischen Wissens und dessen Verbreitung im Rahmen der staat­lichen Medizin.139 Die Frage nach der Umsetzung des Projekts im Alltag ist dabei weder aus sozial- noch aus kulturgeschicht­licher Sicht hinreichend beleuchtet

135 Zagorovskij, Istorija, S. 9. 136 Trotz ihres Alters bietet die Darstellung von Kübler nach wie vor einen äußerst nütz­lichen und zuverlässigen Überblick über die Entwicklung der Pockenschutzimpfung in Europa und Amerika. Kübler, Geschichte, S. 103 – 234. Mit zahlreichen medizinischen Details beschreibt die Entwicklung der Impfung in Preußen Gins, Krankheit. Im Sinne der Medikalisierungsthese untersucht die Entwicklung der Impfkampagne Wolff, Medikalkultur. Ein Überblick über die Geschichte der Pockenprävention in der europäischen Neuzeit mit Fokus auf das Württemberg des 18. Jahrhunderts findet sich bei Wolff, Maßnahmen, S. 102 – 113. Mit dem staat­lichen Vorgehen in der Pockenprävention auf den Britischen Inseln befasst sich Brunton, Politics. 137 Gubert, Ospa. Auf diese Studie stützt sich die Dissertation von Klein, Pocken-Inokulation. 138 Paradigmatisch: Grombach, Literatura, S. 86. 139 Renner, Autokratie, S. 129 – 145, 203 f., 212.

Die Pockenschutzimpfung

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worden. Nur selten wird betont, dass Russland in der Verbreitung des Pockenschutzes im späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert dem westeuropäischen Muster folgte und dass viele Prozesse weitgehend zeitgleich stattfanden.140 Die Akteure des Impfprojekts dürfen nicht auf eine Koalition des Wissens – ob positiv oder negativ gewertet –, bestehend aus Staatsgewalt und Medizinal­beamten, sowie die lokale Bevölkerung auf ihre Rolle als Objekt staat­licher Politik reduziert werden. Diese Konstellation erklärt weder die Erfolge noch die Misserfolge der Impfkampagne und wird den Dynamiken, die von der Staatsmacht ausgelöst wurden, nicht gerecht. Die Umsetzung eines so weit reichenden Projekts wie der Pockenschutzimpfung, das die gesamte Bevölkerung des Reiches in ihrer sozialen und geographischen Breite umfassen sollte, war auf die Kooperation aller Verwaltungsstufen und auf die Unterstützung seitens der Bevölkerung – die zugleich das Objekt des Projekts darstellte – angewiesen. Wie bei den meisten Vorhaben im Bereich des Medizinal­ wesens stand auch hier die staat­liche Initiative am Anfang. Die Pockenschutzimpfung eignet sich aus folgenden Gründen für die Untersuchung der staat­lichen Medikalisierungspolitik: Erstens lässt sich beim Projekt der Impfung ein zeit­licher Anfangspunkt vergleichsweise genau bestimmen, von dem ausgehend man die Entwicklung des Vorhabens betrachten kann, das den gesamten Untersuchungszeitraum dieser Arbeit durchzieht. Zweitens gehörte die Pockenschutz­ impfung zu den zentralen medizinalpolitischen Projekten des Zarenreichs. Seine Umsetzung wurde genauer geprüft als etwa die Nutzung von Krankenhäusern, auf die das Machtzentrum nur in einem vergleichsweise geringen Maße kurz- und mittelfristig Einfluss nehmen konnte. Der ständige Abgleich der erzielten Ergebnisse mit dem Soll-Zustand brachte eine deut­lich intensivere Dokumentation und damit eine bessere Überlieferung mit sich, als es bei anderen medizinalpolitischen Projekten der Fall war. Drittens war die Unterstützung der Pockenschutzimpfung durch die Bevölkerung viel weniger an finanzielle Voraussetzungen gebunden als etwa der Bau von Krankenhäusern, an dem sich nur vermögende Bevölkerungsgruppen und Personen beteiligen konnten. Viertens begegnet man schließ­lich anderen Verhaltensmustern, anhand derer die Annahme des staat­lichen Projekts untersucht werden kann. Denn anders als bei der Frage nach der Akzeptanz der Schulmedizin, die sich zwar auch durch aktives Handeln – wie das Aufsuchen eines Medizinal­beamten oder eines Krankenhauses – äußerte, zu einem großen Teil jedoch aus passivem Verhalten der Zielgruppe rekonstruiert werden muss, hat man es bei der Pockenschutzimpfung mit aktiver Akzeptanz, aber auch mit aktiver Ablehnung zu tun.141 140 So Bartlett, Russia, S. 194 f. 141 Wolff plädiert dafür, von der Dichotomie Akzeptanz – Ablehnung Abstand zu nehmen und stattdessen von einem Schema auszugehen, das mehrere gestufte Reaktionen zulässt. Siehe Wolff, Maßnahmen, S. 268 – 284.

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Medizinal­wesen als Aufgabenfeld lokaler Gesellschaften

Im Folgenden wird also zum einen untersucht, zu welchen Mitteln die Staatsgewalt griff, um ihr Vorhaben umzusetzen. Zum anderen soll die regionale Perspektive zeigen, wie die lokale Bevölkerung ihre eigene Rolle in diesem Projekt gestaltete.

Das staatliche Projekt Auf einer Sitzung der Gesetzgebenden Kommission im Jahre 1767 verkündete der Präsident des Medizinal­kollegiums, Baron Georgij Aš: „Die Hauptkrankheit, an der jede Menge Menschen jeden Alters sterben, sind die todbringenden Pocken“.142 Wie auch bei anderen Fragen der medizinischen Versorgung und des Medizinal­ wesens darf auch in Bezug auf die Pockenschutzimpfung nicht der Eindruck entstehen, ­Katharina II. hätte eine radikal neue, bis dahin unbekannte Idee nach Russland gebracht. Die Gefahr der Pockenerkrankung und die Inokulation, wie die Impfung im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert bezeichnet wurde, waren auch ihren Vorgängern auf dem rus­sischen Thron bekannt gewesen. Am meisten Förderung hatte die Verbreitung der Impfung in der Regierungszeit Elisabeths erfahren, die sie zu einem staat­lichen Anliegen gemacht hatte.143 Doch wie in anderen Bereichen der Medizinal­politik war es auch bei der Pockenschutzimpfung ­Katharina II., die – in Beratung mit ihren Vertrauten 144 – zum einen den Umfang des staat­lichen Projekts auf eine bis dahin unbekannte Weise ausweitete und zum anderen die Beteiligung weiterer gesellschaft­licher Kreise forderte. Um die Bedeutung ihres Vorhabens zu unterstreichen und sowohl den Eliten als auch den unteren Bevölkerungsgruppen mit eigenem Beispiel voranzugehen, ließ die Kaiserin im Herbst 1768 zunächst sich selbst und anschließend ihren Sohn, den einzigen Thronfolger, gegen die Pocken impfen. Zu diesem Zweck hatte sie einen bekannten Inokulator aus England, Thomas Dimsdale, nach St. Petersburg eingeladen. Das gesamte Vorhaben wurde bis zur Genesung ­Katharinas und Pauls geheim gehalten. Der Erfolg des Eingriffs wurde groß gefeiert und zeigte den erwünschten Effekt in der Öffent­lichkeit.145 Nicht unerheb­lich dürfte dabei auch die öffent­ 142 Stellungnahme des Deputierten des Medizinal­kollegiums Baron Georgij Aš. 74. Sitzung der Gesetzgebenden Kommission am 11. Dezember 1767, in: SIRIO Bd. 8, S. 352 – 360, hier S. 356. 143 Siehe dazu Chanykov, Očerk, S. 57; Clendenning, Dimsdale, S. 115. 144 Bei der Einführung der Pockenschutzimpfung soll etwa der Magnat Aleksandr Čerkasov eine wichtige Rolle gespielt haben. Siehe Brückner, Ärzte, S. 22. 145 Für die Beschreibung der dreitätigen Feier­lichkeiten aus diesem Anlass siehe Sanktpeterburgskie vedomosti Nr. 98 vom 5. Dezember 1768. Den 21. November, an dem die Genesung ­Katharinas und ihres Sohnes offiziell bekanntgegeben wurde, hatte man zum Feiertag erklärt. Siehe den Senatserlass vom 20. November 1768, in: PSZ I Bd. 18, Nr. 13.204, S. 772 – 774, hier S. 773. Andrej Bolotov berichtet von seiner Bewunderung für den Schritt K ­ atharinas und seine Freude über den glück­lichen

Die Pockenschutzimpfung

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liche Wirkung außerhalb Russlands gewesen sein, wurde doch die Variolation (die Impfung mit Menschenpocken) – ähn­lich wie später die Vakzination (die Impfung mit Kuhpocken) – von aufgeklärten Zeitgenossen als Kennzeichen von Fortschritt gewertet.146 Nachdem der erfolgreiche Verlauf der Impfung bei der Kaiserin und dem Thronfolger bekannt wurde, brannten laut Dimsdale viele Adlige darauf, sich demselben Eingriff zu unterziehen. Innerhalb weniger Wochen soll Dimsdale 140 Adlige geimpft haben. Darunter fanden sich Namen aus der höchsten Aristokratie wie Golicyn, Rumjancev, Naryškin und Šuvalov.147 Das Beispiel ­Katharinas hatte seinen Zweck insofern erfüllt, als sich die nächste Stufe der sozialen Hierarchie nun gezwungen sah, den Schritt der Kaiserin nachzuahmen. Frei­lich darf man annehmen, dass der medizinische Erfolg des Eingriffs viele in der Umgebung der Kaiserin von ihrem Nutzen überzeugte. Doch mindestens genauso groß dürfte der Erwartungsdruck gewesen sein, der nun auf dem Adel lastete, sollte doch die Aristo­kratie dem Beispiel des Monarchen folgen. Trotz eines gewissen Erfolgs überschätzte K ­ atharina die Wirkung ihres Impulses allerdings maßlos, etwa in einem Brief an Dimsdale zu Beginn der 1770er Jahre: „Hier ist die Pockenimpfung so weit verbreitet, dass es in den höheren Schichten kaum ein Haus gibt, in dem man nicht ungeduldig das Alter erwarten würde, in dem kleine Kinder geimpft werden können. Was die einfachen Leute angeht, so lassen sie sich nicht so gern darauf ein; dennoch müssen wir hoffen, dass das Beispiel des Adels den Widerwillen und das Vorurteil zerstören wird. Viele Gutsherren lassen die Kinder ihrer Bauern gegen die Pocken impfen, und ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich versichere, dass die Pockenimpfung sich in keinem Land so schnell verbreitet wie in Russland, wo sie eigent­lich erst mit Ihrer Ankunft begann.“ 148

Ausgang der Operation, wobei er in seinen Aufzeichnungen von sich auf seine Standesgenossen schließt. Siehe Bolotow, Leben Bd. 2, S. 96. Siehe dazu auch Gubert, Ospa, S. 256 – 279. Zur Vorbereitung der Operation siehe die Aufzeichnungen des Inokulators: Notiz des Baron Dimsdale über seinen Aufenthalt in Russland, in: SIRIO Bd. 2, S. 295 – 322. 146 Zur Vakzination siehe Bartlett, Russia, S. 193. In einem Brief an Voltaire stellte ­Katharina ihre Impfung als einen Akt der Dankbarkeit gegenüber den Philosophen dar. Siehe den eigenhändigen Entwurf ­Katharinas II. für einen Brief an Voltaire über die eigene Pockenimpfung u. a. vom 6. Dezember 1768, in: SIRIO Bd. 10, S. 306 – 310, hier S. 307 f. 147 SIRIO Bd. 2, S. 314; eigenhändiger Brief ­Katharinas II. an Frau Bielke mit Lob des Doktors Dimsdale, der sie gegen die Pocken geimpft habe, vom 1. November 1768, in: SIRIO Bd. 10, S. 302 – 303, hier S. 303. Siehe auch Clendenning, Dimsdale, S. 121; Alexander, Bubonic Plague, S. 56. 148 Eigenhändiger Brief ­Katharinas II. an Dimsdale vom Juni 1771, in: SIRIO Bd. 13, S. 125 – 127, hier S. 127. Bereits drei Jahre zuvor hatte ­Katharina in einem Brief an Voltaire die Pockenimpfkampagne in Russland als einen Erfolg dargestellt. Siehe den eigenhändigen Entwurf ­Katharinas II. für einen Brief an Voltaire, ebd., S. 309 f.

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Medizinal­wesen als Aufgabenfeld lokaler Gesellschaften

Der Optimismus und die Freude über den Anklang, den die Impfung in der Aristokratie fand, dürften eine genauso große Rolle für diese Fehleinschätzung der Situation gespielt haben wie der Wunsch, dem Inokulator Dimsdale, der an dem Projekt beteiligt war, das Gefühl zu vermitteln, an einem wichtigen Prozess mitgewirkt zu haben. Ausschlaggebend für diese Sichtweise war aber ­Katharinas Bemühen, Russland auf dem Weg des Fortschritts zu sehen und diesen Fortschritt für alle sichtbar darzustellen, sowie ihre Überzeugung, diese Entwicklung in Gang gesetzt zu haben. Auch schimmert in dem Bild, das K ­ atharina in ihren Briefen an Voltaire und Thomas Dimsdale zeichnete, eine gewisse Naivität durch, die vielen Aufklärern eigen war: der Glaube an die starke Wirkung einer aufgeklärten Führung, die den als unwissend vorgestellten Untertanen den Weg zur Glückseligkeit aufzeigt. Den Anlass zur Impfung ­Katharinas und Pauls schätzte wohl der Inokulator selbst am treffendsten ein. Zwar habe ihn die Kaiserin nach seiner eigenen Auskunft nicht über ihre Motive aufgeklärt, doch Dimsdale vermutete ein Zusammentreffen mehrerer Faktoren: die Sorge um die Volksgesundheit und Nachrichten über die Erfolge der Impfung anderswo. Außerdem war der Kaiserhof – und wohl auch ­Katharina selbst, die bis ins Erwachsenenalter von den Pocken verschont geblieben war – nach einem Todesfall in unmittelbarer Nähe der Kaiserin um ihre und des Thronfolgers Gesundheit besorgt.149 Zwar könnte der Pockentod der Verlobten des Grafen Panin das aktive Handeln unmittelbar ausgelöst haben.150 Doch die gründ­liche Vorbereitung der Kaiserin und die breit wirkende Inszenierung der Impfung weisen darauf hin, dass es ihr um mehr als die eigene Gesundheit und die des Thronfolgers ging.151 In ihren öffent­lichen Äußerungen rückte K ­ atharina II. ihre Verantwortung für die Untertanen in den Vordergrund. In ihrem Brief, in dem sie auf die Glückwünsche des Senats und der Gesetzgebenden Kommission antwortete, schrieb die Kaiserin: „Meine Aufgabe war es, viele meiner Untertanen vor dem Tod zu bewahren, die ohne Kenntnis vom Nutzen dieser Methode sie fürchteten und damit weiterhin in Gefahr blieben. Damit habe ich einen Teil meiner Amtspf­licht getan, denn nach dem Wort des Evangeliums gibt ein vortreff­licher Hirte seine Seele zugunsten der Schafe hin.“ 152

Dem Selbstverständnis aufgeklärt absolutistischer Herrscher entsprechend stellte ­Katharina das gesamte Projekt der Pockenschutzimpfung als ihre Pf­licht dar, für

149 SIRIO Bd. 2, S. 296. Zu den Motiven siehe auch Renner, Autokratie, S. 130 f. 150 So sieht es Klein, Pocken-Inokulation, S. 44. Siehe auch Clendenning, Dimsdale, S. 116 und Pratt, Free Economic Society, S. 562. 151 Über die profunden Kenntnisse der Kaiserin von der Pockenschutzimpfung schreibt Dimsdale in seiner Notiz, S. 301. Ähn­lich auch Alexander, Bubonic Plague, S. 55. 152 PSZ I Bd. 18, Nr. 13.204, S. 773.

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deren Erfüllung sie vor Gott verantwort­lich war. Zu dieser Pf­licht gehörte es, ihre Weisheit zum Wohle des Volkes einzusetzen, das diese Weisheit nicht besaß. Das Muster, bei dem eine herausragende Persön­lichkeit, die für das Wohlergehen anderer Menschen die Verantwortung trägt, diesen mit eigenem Beispiel vorangeht, findet sich nicht nur bei der Kaiserin wieder. Beispielsweise berichtete der Gouverneur von Irkutsk, Adam Bril’, dem Senat über den Zustand des Medizinal­wesens in seinem Gouvernement. Er habe es nicht ertragen können zu sehen, welchen Schaden die Pocken dem Menschengeschlecht zufügten, vor allem aber den armen Nomaden, die vor der Krankheit flüchteten und ihre Kranken ohne Aufsicht zurückließen. Der Gouverneur hatte einem Irkutsker Bataillonsarzt befohlen, Probeimpfungen durchzuführen. Obwohl die Einheimischen, vor allem die Andersgläubigen, sich aus Unwissenheit und aufgrund ihrer Vorurteile wehrten, seien sechzehn Kinder überaus erfolgreich geimpft worden. Um die Bevölkerung noch besser zu überzeugen, ließ der Gouverneur seine eigenen Kinder impfen. Nachdem auch diese Impfungen von Erfolg gekrönt waren, hätten die Einwohner von Irkutsk den Wunsch geäußert, ihre Kinder ebenfalls impfen zu lassen.153 Sowohl K ­ atharinas Beispiel als auch Bril’s Entscheidung legen nahe, dass es sich dabei um ein wirkungsvolles Instrument handelte, mit dem sich die jeweiligen Zielgruppen vom Nutzen der Impfung überzeugen, zumindest jedoch zur Nachahmung bewegen ließen. Die Impfung war im Allgemeinen kostenlos. Um Erwachsene dazu zu bringen, ihre Kinder impfen zu lassen, sollten Eltern für jedes geimpfte Kind teilweise sogar mit Geld belohnt werden.154 Obwohl ­Katharina II. den Beginn der Impfkampagne derart wirkungsvoll in Szene gesetzt hatte, sind aus ihrer Regierungszeit keine Versuche überliefert, das Vorhaben in die bestehenden medizinischen Verwaltungsstrukturen einzubinden. Zwar wurden Impfhospitäler gegründet, doch hatte das Projekt weder eine institutionelle noch eine finanzielle oder personelle Grundlage bekommen. Erst im frühen neunzehnten Jahrhundert wurde eine mittelfristige Planung zu einem festen Bestandteil der Kampagne, die sich nun auf statistisches Material stützte. Die Gouvernementsverwaltungen waren spätestens seit 1811 verpf­lichtet, dem Polizeiministerium halbjähr­lich mitzuteilen, wie viele Kinder – nach Kreisen aufgeschlüsselt – gegen die Pocken geimpft wurden. Als Grundlage dafür dienten Taufregister. Da jedoch der Ansprechpartner der lokalen Verwaltung die Eparchialverwaltungen waren, fanden nur orthodoxe Kinder Eingang in diese Statistik. Andere religiöse Gruppen blieben bei den staat­lichen Berechnungen zunächst außen vor. So war die Statistik, eine junge Staatswissenschaft, die erst in den 1770er Jahren

153 Kaiser­lich bestätigter Senatsbericht vom 1. Februar 1772, in: PSZ I Bd. 19, Nr. 13.755, S. 444 – 446, hier S. 444 f. 154 Gubert, Ospa, S. 237.

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Einzug in die rus­sische Verwaltung gehalten hatte, von Anfang an mit Hindernissen behaftet. Laut einer Mitteilung der Freien Ökonomischen Gesellschaft aus dem Jahr 1829 machten frei praktizierende Ärzte im Gouvernement Novgorod keine Angaben über die Pockenimpfung. Man ging davon aus, dass Novgorod dabei keine Ausnahme darstellte.155 Statistische Daten konnten nur dann sinnvoll verwendet werden, wenn sich an ihrer Erstellung alle Akteure beteiligten. Der schwache Zugriff der Staatsgewalt auf medizinisches Personal – der nicht immer als Ausdruck des Widerstands gegen die Obrigkeit gesehen werden darf, sondern oft auch geographische und klimatische Ursachen hatte – erschwerte die Umsetzung des Impfprojekts. Da zentrale Verwaltungsstellen auf diese Weise keine zuverlässigen Angaben über den Verlauf der Kampagne bekamen, gründete die gesamte Planung auf fiktiven Zahlen. Obwohl die absoluten Zahlen wenig über den tatsäch­lichen Fortschritt des Impfprojekts aussagten, erlaubten sie den Zeitgenossen, Tendenzen zu erkennen. Diese veranlassten den Innenminister Aleksej Kurakin im Jahr 1808, in einem Rundschreiben an die Gouverneure harsche Kritik zu äußern. Seiner Ansicht nach wurde das Projekt vielerorts sträf­lich vernachlässigt. Medizinal­verwaltungen begründeten diese Entwicklung in der Regel mit dem Fehlen eines etatmäßigen Kreisarztes beziehungsweise seiner Entsendung an einen anderen Ort oder mit der Weigerung der Einwohner, sich selbst und die eigenen Kinder impfen zu lassen. Nachdem der Innenminister die Medizinal­verwaltungen auf die mangelnde Stichhaltigkeit solcher Erklärungen hingewiesen hatte, warnte er nun die Gouverneure, er würde ähn­liche Ausreden in Zukunft nicht mehr akzeptieren. Seine Entscheidung begründete Kurakin folgendermaßen: Erstens müsse die Pockenimpfung nicht von Kreis­ärzten durchgeführt werden. Auch Arztlehrlinge könnten nach der entsprechenden Unterweisung durch die Medizinal­verwaltung Impfungen vornehmen. Zweitens dürfe man einen Kreis niemals ohne medizinische Hilfe lassen, auch wenn der etat­mäßige Arzt fehle. Dessen Stellvertreter sollte auch die Pockenimpfung durchführen. Um die Bevölkerung vom Nutzen der Impfung zu überzeugen, sollten Mediziner zusammen mit der lokalen Verwaltung Gespräche mit den Menschen vor Ort führen. Durch erfolgreiche Impfungen würde man das Volk von den Vorteilen des Eingriffs überzeugen. Damit allerdings die Impfung stets den gewünschten Erfolg bringe, müssten Ärzte immer frische und wirksame Pockenmaterie haben.156 Etwa vierzig Jahre nach dem Beginn der Impfkampagne zeichnete der Innenminister ein desaströses Bild: Der chronische Mangel an medizinischem Personal erschwerte die Verbreitung der Impfung deut­lich, wobei sich offenbar nicht alle 155 Rundschreiben des Innenministers, Arsenij Zakrevskij, an die Zivilgouverneure vom 16. Oktober 1829. GAJaO f. 73, op. 1, d. 803, l. 65. 156 Rundschreiben des Innenministers, Aleksej Kurakin, an die Gouverneure vom 2. August 1808. GAJaO f. 86, op. 1, d. 162, l. 2 – 3ob.

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dieser Aufgabe annahmen, die es aufgrund ihrer Qualifikation hätten tun können; die lokale Bevölkerung war vom Nutzen der Impfung nicht überzeugt; die Versorgung der Provinz mit wirksamem Impfstoff ließ zu wünschen übrig. Doch Kurakin schlug keine Lösung vor. Das einzige Mittel gegen die geschilderten Missstände – die nicht nur für das Impfprojekt, sondern für die gesamte medizinische Versorgung der Provinz charakteristisch waren – bestand darin, dass seitens der Obrigkeit Sanktionen angedroht wurden. Eine Kopie dieses Rundschreibens leitete der Gouverneur von Jaroslavl’ an seine Kreisärzte weiter. Der harsche Tonfall und der wenig schmeichelhafte Inhalt des Schreibens bewogen einzelne Ärzte dazu, ihr Verhalten zu rechtfertigen. Der Stabsarzt von Myškin, Černoglazov, stellte seinen Einsatz für die Verbreitung der Impfung in einem Brief an die Medizinal­verwaltung des Gouvernements folgendermaßen dar: Er sei bereit, die lebensrettende Pockenschutzimpfung durchzuführen und zu verbreiten. Sein Engagement gehe sogar so weit, dass er Landeshauptmänner darum bitte, zumindest in Siedlungen von Ökonomiebauern die Impfung zwangsweise durchzuführen. Doch die Zivilverwaltung denke nicht daran, ihn zu unterstützen, während er ohne ihre Hilfe wenig ausrichten könne.157 Auch im Gouvernement Voronež ergaben sich Konflikte zwischen den Akteuren. Die dortige Medizinal­verwaltung meldete 1804 dem Innenminister, dass sich Staatsbauern der Kreise Voronež und Nižnedevick trotz der Überzeugungsversuche seitens der Mediziner und der Landpolizei weigerten, ihre Kinder gegen die Pocken impfen zu lassen. Um den Schaden einer Pockeninfektion dennoch abzuwehren, wandte sich die Medizinal­verwaltung an die Eparchialverwaltung von Voronež und bat die Geist­lichkeit, Bauern vom Nutzen der Impfung zu überzeugen. Aus der Eparchialverwaltung kam die Antwort, man habe dazu keine Erlaubnis von höheren Instanzen.158 Auf lokaler Ebene bestand also schon im frühen neunzehnten Jahrhundert die Erwartung, die Geist­lichkeit müsse das staat­liche Projekt unterstützen. Dass auch die Staatsgewalt und der höhere Klerus diese Erwartung teilten, zeigten zwei Erlasse, vom Kaiser und vom Synod, die dem Bischof von Voronež und allen Eparchialverwaltungen vorschrieben, „Bauern und anderer Ränge Leute“ vom ­Nutzen der Impfung zu überzeugen.159 Folgt man diesen Schilderungen aus der Provinz, so wurde das Projekt der Pockenschutzimpfung durch die mangelnde Kooperationsbereitschaft der einzelnen Akteursgruppen gebremst. Auch wenn eine Diskussion über die zwangsweise 157 Bericht des Stabsarztes von Myškin, Andrej Černoglazov, an die Medizinal­verwaltung von ­Jaroslavl’ vom 16. September 1808. GAJaO f. 86, op. 1, d. 162, l. 6. 158 Synodalerlass vom 10. Oktober 1804, in: PSZ I Bd. 28, Nr. 21.475, S. 542 – 543. Hier und im Folgenden kann nur die orthodoxe Geist­lichkeit berücksichtigt werden. 159 PSZ I Bd. 28, Nr. 21.475, S. 542 – 543.

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Durchsetzung der Pockenimpfung in der höheren Bürokratie nicht überliefert ist, hatten Fachleute in der Machtzentrale erkannt, dass die langsame Entwicklung des Impfprojekts durch strukturelle Probleme verursacht war. Eine Lösung präsentierte die Regierung erst einige Jahre später. In seinem Beschluss vom Mai 1811 kam das Ministerkomitee zu demselben Ergebnis wie schon der Innenminister im Jahre 1808. Der Verbreitung der Kuhpockenimpfung standen seiner Ansicht nach im Wesent­lichen drei Hindernisse im Wege: Vorurteile, die vor allem im einfachen Volk anzutreffen seien, zu wenig Personal, das sich auf das Impfen verstehe, und „nicht ganz ausreichende Aufsicht und Unterstützung seitens der lokalen Behörden“.160 Da dieselben Probleme über Jahre hinweg bestehen blieben, entschloss sich die Regierung, das Impfprojekt neu zu organisieren. In allen Gouvernements- und Kreisstädten sollten besondere Komitees eingerichtet werden, die ausschließ­lich für die Pockenimpfung zuständig waren. In den Gouvernementsstädten bestanden sie aus dem Gouverneur, dem Vizegouverneur, dem Gouvernementsadelsmarschall, einem Vertreter des Klerus und dem Inspektor der Medizinal­verwaltung. Die Kreiskomitees setzten sich aus dem Stadtvogt, dem Kreisadelsmarschall, einem Geist­lichen, dem Landeshauptmann und dem Kreis­ arzt zusammen.161 Eine Beteiligung der Kaufmannschaft wurde erst nachträg­lich veranlasst.162 Bemerkenswert ist die Zusammensetzung der Komitees aus dem Grund, weil zum ersten Mal in der Geschichte des rus­sischen Medizinal­wesens die Zivil-, die Medizinal­verwaltung, die Geist­lichkeit, der Adel und städtische Gesellschaften für die Durchführung eines Projekts in einem Organ zusammengebracht wurden. Zwar waren sie alle in der einen oder anderen Form auch vor 1811 damit beauftragt gewesen, sich für die Verbreitung der Pockenschutzimpfung einzusetzen. Doch mit der Gründung der sogenannten Pockenkomitees (ospennye komitety) verpf­lichtete die Staatsgewalt sowohl die Verwaltung als auch den Klerus und Provinzgesellschaften zur aktiven Teilnahme an der Impfkampagne. Beachtenswert ist dabei auch die Verpf­lichtung des Adels, der damit immer stärker in den medizinischen Alltag der Provinz mit einbezogen wurde. Der Schaffung dieser Komitees lagen zwei Ideen zugrunde: Zum einen entstanden auf zwei Verwaltungsebenen der Provinz Organe, die auf eine einzige Aufgabe

160 Kaiser­lich bestätigter Beschluss des Ministerkomitees vom 3. Mai 1811, in: PSZ I Bd. 31, Nr. 24.622, S. 640 – 645, hier S. 642. 161 Ebd., S. 640. Die Zusammensetzung der Impfkomitees änderte sich später mehrmals. Siehe dazu Chanykov, Očerk, S. 104. 162 Rundschreiben des Polizeiministeriums an die Zivilgouverneure vom 7. Juli 1811. GAJaO f. 73, op. 1, d. 803, l. 12.

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spezialisiert waren und für den Fortgang der Kampagne zur Rechenschaft gezogen werden konnten. Zum anderen antwortete die Staatsgewalt mit der Gründung dieser Komitees auf die Klage über die mangelnde Kooperation etwa der Zivilverwaltung oder der Geist­lichkeit, die sie aus der Provinz vernahm. Die Aufgaben der Impfkomitees entsprachen genau den Punkten, die in den Berichten der Verwaltung als zentrale Probleme des Impfprojekts bezeichnet wurden. Zunächst sollten die Komitees die Zahl jener Kinder ermitteln, die noch keine Pocken gehabt hatten. Des Weiteren hatten sie dafür Sorge zu tragen, dass überall durch kundige Leute alle Kleinkinder geimpft wurden. Zudem sollten sie sogenannte Vakzinatoren mit frischem Serum und den nötigen Instrumenten versorgen. Schließ­lich mussten Impfkomitees allen Freiwilligen Impfschulungen durch medizinisches Personal ermög­lichen. Wie in anderen Einrichtungen üb­lich, sollten auch die Kreiskomitees halbjähr­lich die Gouvernementskomitees über ihre Tätigkeit unterrichten, damit diese wiederum Berichte über das gesamte Gouvernement erstellen und dem Polizeiministerium vorlegen konnten.163 Zur Verbreitung der Pockenimpfung sollten die Impfkomitees auf zweierlei Art und Weise beitragen: durch eine breit angelegte Aufklärungsarbeit und die gleichzeitige Ausbildung von Vakzinatoren. Einige Strategien hatte der Innenminister den Komitees selbst angeordnet, ohne auf Vorschläge aus der Provinz zu warten. Die Komitees sollten sich darum kümmern, dass in den Abschlussklassen der öffent­lichen Lehranstalten, vor allem der geist­lichen und der Volksschulen, die Pockenimpfung durchgeführt wurde. Auch wenn nicht alle Schüler später selbst impfen würden, so könnte man sie dadurch zumindest vom Nutzen der Vakzination überzeugen und zu potenziellen Multiplikatoren machen.164 Um seinen Worten zusätz­liches Gewicht zu verleihen, setzte der Polizeiminister dem Impfprojekt eine Frist. Innerhalb von drei Jahren solle es im ganzen Land kein einziges ungeimpftes Kind geben, das älter als vier Monate sei.165 Diese Forderung kann vor dem Hintergrund der beschriebenen Schwierigkeiten nicht wört­lich gemeint worden sein. Vielmehr darf man sie als ein starkes Symbol verstehen, mit dem die Staatsgewalt die große Bedeutung unterstrich, die sie dem Impfprojekt beimaß. Es ging nun nicht mehr darum, einfach nur für die Verbreitung der Impfung zu sorgen. Das selbstgesteckte Ziel bestand darin, die Pocken zu vernichten.166

163 PSZ I Bd. 31, Nr. 24.622, S. 643. 164 Ebd. 165 Ebd., S. 644. 1815 wurde beschlossen, die Frist um weitere zwei Jahre zu verlängern, da sie wegen des Krieges gegen Napoleon nicht eingehalten werden konnte. Rundschreiben des Polizeiministeriums an die Zivilgouverneure vom 27. November 1815. GAJaO f. 73, op. 1, d. 803, l. 17. 166 Dieses Ziel wird zwar nicht explizit formuliert, schwingt jedoch im Bericht des Polizeiministers mit, etwa wenn es um die Auszeichnung der Impfkomitees geht, in deren Zuständigkeitsbereich

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Der hohen Bürokratie war jedoch klar, dass die Schaffung zusätz­licher Pf­lichten noch keine Motivation zum tatsäch­lichen Vorantreiben des Projekts bedeutete. Also entwickelte sie zeitgleich mit der Gründung der Impfkomitees ein breitge­fächertes Belohnungssystem. Der Polizeiminister schlug Alexander I. vor, diejenigen, die sich für die Verbreitung der Pockenschutzimpfung engagierten, auszuzeichnen. Die Form der Prämierung sollte sich nach der Position des zu Ehrenden und seiner Leistung richten. Mitglieder jener Komitees, in deren Zuständigkeitsbereich „sich der Erfolg der Kuhpockenimpfung allerorts einstellt“ und die natür­lichen Pocken gar nicht mehr aufträten, bekämen entsprechende Auszeichnungen und ihre Namen würden öffent­lich bekanntgegeben. Geist­liche, die mit ihrer Überzeugungsarbeit in ihren Gemeinden sämt­liche Vorurteile gegen die Impfung bekämpften, so dass das Volk selbst nach Mög­lichkeiten suchen würde, sich vor den Pocken zu ­schützen, bekämen eine ihrem Stand entsprechende Würdigung. Wenn ein Medizinal­beamter innerhalb eines Jahres über zweitausend Personen gegen die Pocken impfe, bekomme er vom Kaiser ein Geschenk; impfe er über dreitausend Personen, komme zu dem Geschenk eine Verkürzung der Frist bis zur Verleihung des Vladimir-Ordens um ein Jahr hinzu. Die Namen der Ausgezeichneten würden in der Zeitung gedruckt. Da nicht jeder die Mög­lichkeit habe, so viele Menschen zu impfen – was vor allem für Nichtmediziner zutreffe –, sollte jeder Vakzinator halbjähr­lich dem jeweiligen Pockenkomitee einen Bericht über seine Impferfolge zukommen lassen. Die Namen solcher Menschen würden ebenfalls dem Kaiser bekanntgemacht und in der Zeitung veröffent­licht.167 Dieses komplizierte Belohnungssystem erlaubt zwei Aussagen über die Funktionsmechanismen der Verwaltung des Rus­sischen Reiches: Erstens hielt es die Staatsgewalt aus Erfahrung für unzureichend, bestimmte Ämter oder Personengruppen mit neuen Pf­lichten auszustatten. Damit neue Aufgaben erfüllt wurden, verknüpfte sie die Pf­lichten mit der Mög­lichkeit für die Beteiligten, sich in der lokalen oder gar überregionalen Öffent­lichkeit zu profilieren. Zweitens bediente sie sich im frühen neunzehnten Jahrhundert gezielt unterschied­licher Mittel, um den hohen Stellenwert eines Projekts, in diesem Fall der Pockenimpfung, öffent­lich zu vermitteln. Dazu gehörten Orden und Geldprämien, wobei die Vergabe nicht, wie etwa bei der Auszeichnung privater Wohltäter, dem Ermessen des Kaisers überlassen blieb. Vielmehr schuf das Belohnungssystem einen Anspruch darauf, indem es die Belohnung an bestimmte Leistungen knüpfte.168 Die Veröffent­lichung der die Pocken ausgerottet würden. Siehe PSZ I Bd. 31, Nr. 24.622, S. 644. 167 Ebd. 168 Für Orden existierte ein ähn­liches Anrechtssystem, das aber nicht an die Leistung eines Beamten, sondern – wie Beförderungen – an die Zahl der Dienstjahre gebunden war. Siehe dazu Schattenberg, Provinz, S. 104 f.

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Namen von Personen, die sich um eine Aufgabe verdient gemacht hatten, war ein neues Mittel in diesem Repertoire. Die Gründung der Impfkomitees zeigte nicht überall die gewünschte Wirkung. Mancherorts gelang es nicht einmal, die Komitees entsprechend den Vorschriften des Polizeiministers einzurichten, wie etwa im Kreis Valujki, dessen Komitee keinen Arzt hatte, weil es in diesem Kreis keinen etatmäßigen Arzt gab.169 Ähn­lich dürfte es auch in den Kreisen Pavlovsk, Korotojak, Zemljansk und Zadonsk gewesen sein, denn auch dort waren die Arztstellen im Jahr 1812 vakant.170 Zwar hatte der Gouverneur von Voronež den Ärztemangel dem Polizeiministerium gemeldet, doch bekam er als Antwort, dass für die Besetzung dieser Stellen zurzeit keine Mediziner zur Verfügung stünden.171 Auch wenn die Quellen keine Hinweise auf die Abberufung so vieler Mediziner aus den genannten Kreisen zum Armeedienst enthalten, darf man annehmen, dass der Krieg gegen Napoleon zu einem weiteren Hindernis in der Impfkampagne wurde. Welche Auswirkungen hatte die Gründung der Impfkomitees auf den Verlauf der Impfkampagne? Sechs Jahre nach der strukturellen Veränderung des Projekts schrieb der Gouverneur von Voronež: „Allein der Accoucheur Arakin und die geist­liche Leitung führen hier die Pockenschutz­ impfung, soviel sie können, privat durch. Das dafür eingerichtete Komitee und die Verwaltung führen die Impfung nicht einmal in den Einrichtungen des Amtes für gesellschaft­ liche Fürsorge ein. In der Stadt sterben Kinder an den natür­lichen Pocken.“ 172

Die Gründung der Pockenkomitees garantierte noch keinen Erfolg der Impfkam­ pagne. Vielmehr hing der Fortgang des Projekts vom Willen und von der Kooperation verschiedener Institutionen und vom Engagement ihrer Mitglieder ab. So schien die Medizinal­verwaltung von Jaroslavl’ der Pockenschutzimpfung besondere Bedeutung beizumessen. Sie war bestrebt, der Impfung einen festen Platz im Alltag der Gouvernementsstadt zu verschaffen und durch Institutionalisierung Routine in die Impfkampagne zu bringen. 1829 ordnete sie an, in Jaroslavl’ täg­lich zwischen zehn und elf Uhr morgens in verschiedenen Einrichtungen Kinder unentgelt­lich gegen

169 Schreiben des Kreisadelsmarschalls von Valujki, Aleksandr Šidlovskij, an den Gouvernementsadelsmarschall von Voronež, Dmitrij Čertkov, vom 1. Januar 1812. GAVO f. i–30, op. 1, d. 199, l. 6 – 6ob.; Schreiben des Gouverneurs von Voronež, Matvej Šter, an den Polizeiminister, Aleksandr Balašov, vom 13. April 1812. RGIA f. 1299, op. 1, d. 116, l. 1. 170 RGIA f. 1299, op. 1, d. 116, l. 1. 171 Schreiben des Medizinal­departements des Polizeiministeriums an den Gouverneur von Voronež, Matvej Šter, vom 15. Mai 1812. RGIA f. 1299, op. 1, d. 116, l. 3. 172 Zitiert nach Litvinova, Organizacija, S. 194.

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die Pocken zu impfen: im Erziehungsheim unter der Aufsicht des Inspektors der Medizinal­verwaltung, im Polizeirevier unter der Aufsicht des Accoucheurs und im Waisenhaus unter der Aufsicht des Operateurs.173 In Voronež schlug der Gouverneur vor, an Markt- und Sonntagen, wenn besonders viele Menschen in die Gouvernementsstadt kamen, in einem gesonderten Zimmer des Stadtkrankenhauses Kinder gegen die Pocken zu impfen.174 Das Impfkomitee des Kreises Pavlovsk hatte als einziges im Gouvernement Voronež genügend Geld gesammelt, um die Impfung flächendeckend durchzuführen: Laut Berichten blieb dort im Jahr 1824 kein einziges Kind ungeimpft.175 Obwohl die Staatsgewalt mit der Gründung der Impfkomitees im Jahr 1811 neue strukturelle Bedingungen für die Durchführung der Impfkampagne geschaffen hatte, schien die Finanzierung des Projekts für dessen Initiatoren sekundär zu sein. Mit der Entstehung der Impfkomitees ging kein Versuch einher, zusätz­liche personelle oder finanzielle Kapazitäten für das Projekt zur Verfügung zu stellen. Im Gegenteil: Mit der neuen Institution sollten ledig­lich vorhandene Kräfte gebündelt werden. Es war die Freie Ökonomische Gesellschaft, die es sich zur Aufgabe machte, materielle Voraussetzungen für die Verbreitung der Impfung in der Provinz zu schaffen. Zunächst schickte sie 1825 jedem Gouvernementskomitee fünfhundert Rubel, damit es nach dem Vorbild der Gesellschaft ein Grundkapital anlegen und dieses für die Impfung verwenden konnte.176 Doch auch damit schienen die Kosten der Impfung in der Provinz nicht gedeckt. Im Sommer 1826 – zwei Jahre nachdem in der Freien Ökonomischen Gesellschaft eine Abteilung für Gesundheitsfragen entstanden war 177 – wandte sich ihr Präsident, Nikolaj Mordvinov, an das Ministerkomitee mit einem Vorschlag, wie das Impfprojekt vorangetrieben werden könnte. Er bat darum, der Ökonomischen Gesellschaft jähr­lich 54.000 Rubel – eintausend Rubel pro Gouvernement – aus

173 Bericht der Medizinal­verwaltung von Jaroslavl’ an den stellvertretenden Gouverneur, Jakov ­Goranskij, vom 9. Juli 1829. GAJaO f. 628, op. 1, d. 4, l. 177 – 178, hier l. 177ob. 174 Sitzungsprotokoll des Gouvernementskomitees für die Pockenschutzimpfung von Voronež vom 19. Januar 1817. GAVO f. i–30, op. 1, d. 379, l. 3 – 4ob., hier l. 4 – 4ob. 175 Rundschreiben der Freien Ökonomischen Gesellschaft an die Gouvernementskomitees für die Verbreitung der Pockenschutzimpfung vom 13. März 1825. GAJaO f. 73, op. 1, d. 803, l. 25 – 25ob. Das Komitee des Kreises Pavlovsk wurde für seine erfolgreiche Tätigkeit ausgezeichnet. Siehe das Schreiben des Kreisadelsmarschalls von Pavlovsk, Stefan Golovinov, an den Gouvernementsadelsmarschall von Voronež, Semën Nikulin, vom 18. Januar 1826. GAVO f. i–30, op. 1, d. 837, l. 1 – 1ob., 3, hier l. 1ob. Für diese Angaben gelten selbstverständ­lich alle Einschränkungen, die eingangs in Bezug auf das statistische Material erwähnt wurden. 176 Rundschreiben der Freien Ökonomischen Gesellschaft an die Gouvernementskomitees für die Verbreitung der Pockenschutzimpfung vom 6. März 1825. GAJaO f. 73, op. 1, d. 803, l. 22 – 22ob., hier l. 22. 177 Chodnev, Istorija, S. 315.

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der Staatskasse zur Verfügung zu stellen, die ausschließ­lich für die Verbreitung der Pockenschutzimpfung verwendet würden. Mordvinov versuchte, die Minister für diese Maßnahme zu gewinnen, indem er mit dem Nutzen argumentierte, den die massenweise Impfung dem Staat bringen würde: dem Bevölkerungszuwachs. Das Ministerkomitee gab zwar zu, dass es die Pockenschutzimpfung für äußerst wichtig halte, dennoch befanden es die Minister „nicht für nötig, die Staatskasse mit solchen Ausgaben zu belasten, denn es ist bekannt, dass auf den Landgütern die Besitzer sich selbst darum kümmern, die Pockenschutzimpfung unter den eigenen Bauern einzuführen“. Um die Bauern in den Siedlungen einzelner Ressorts kümmerte sich nach Auskunft des Ministerkomitees die lokale Obrigkeit.178 Das Ministerkomitee wollte zwar um der Pockenschutzimpfung willen nicht die Staatskasse belasten. Doch fand es den Vorschlag der Freien Ökonomischen Gesellschaft sinnvoll, dem Projekt zusätz­liche Mittel zukommen zu lassen. Also schlug es vor, die erforder­liche Summe nicht zentral zu verteilen, sondern aus lokalen Steuern zu nehmen.179 Doch weil daraufhin Beschwerden über die ohnehin als zu hoch empfundene Abgabenlast der Bevölkerung eintrafen, wurde die Finanzierung auf andere Schultern umgelegt. Laut einem Erlass, der ein Jahr später auf die erste Regelung über die Zusatzfinanzierung der Pockenschutzimpfung folgte, sollten Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge der Freien Ökonomischen Gesellschaft zehn Jahre lang jeweils eintausend Rubel pro Jahr zur Verfügung stellen.180 Recht bald wurden allerdings siebzehn Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge von dieser Pf­licht befreit, da ihre Mittel dafür nicht ausreichten. Bemerkenswert ist, dass der Staat sich nun bereiterklärte, die fehlende Summe für diese Gouvernements aufzubringen. Allerdings mussten die betreffenden Gouverneure „den Adel, Beamte, die Kaufmannschaft, meščanstvo und andere“ regelmäßig dazu auffordern, der Freien Ökonomischen Gesellschaft Geld für die Verbreitung der Pockenimpfung zu spenden.181 Insgesamt entfaltete die Freie Ökonomische Gesellschaft im Bereich der Pocken­ impfung eine breite Tätigkeit.182 Ihr Grundkapital für die Verbreitung der Vakzination belief sich auf 50.000 Rubel, von denen ein Großteil aus den Spenden seiner Mitglieder stammte. Der Präsident der Ökonomischen Gesellschaft, Nikolaj 178 Auszug aus den Protokollen des Ministerkomitees vom 25. August und 21. September 1826. RGIA f. 91, op. 1, d. 286, l. 29 – 34, hier l. 29 – 33, Zitat l. 33ob. 179 Ebd., l. 33ob.–34; Senatserlass vom 25. November 1826. PSZ II Bd. 1, Nr. 700, S. 1249 – 1250. Dass eine Regierung die Staatskasse mit der Pockenschutzimpfung nicht zusätz­lich belasten wollte, kam nicht nur in Russland vor. Das württember­gische Beispiel erläutert Wolff, Maßnahmen, S. 180 – 185. 180 Senatserlass vom 29. Juli 1827, in: PSZ II Bd. 2, Nr. 1271, S. 638. 181 Kaiser­lich bestätigter Beschluss des Ministerkomitees vom 7. August 1828, in: PSZ II Bd. 3, Nr. 2209, S. 754 – 776; Senatserlass vom 26. Dezember 1828, in: PSZ II Bd. 3, Nr. 2547, S. 1217. 182 Der folgende Abschnitt fasst die Tätigkeit der Freien Ökonomischen Gesellschaft anhand von Chodnev, Obzor, S. 30 ff. zusammen.

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Mordvinov, beschloss, zu diesem Zweck jähr­lich zusätz­lich zweitausend Rubel aus den Einkünften der Gesellschaft bereitzustellen. 1825 bewilligte der Kaiser weitere 25.000 Rubel Assignaten, die für die Verbreitung der Pockenschutzimpfung verwendet werden sollten. Wie bereits erwähnt, schickte die Freie Ökonomische Gesellschaft in sechsundzwanzig Gouvernements jeweils fünfhundert Rubel, damit die Impfkomitees dieses Geld durch Spenden mehrten und es für die Verbreitung der Impfung einsetzten. Des Weiteren versandte die Ökonomische Gesellschaft Pockenmaterie, Impfinstrumente und Anleitungen zur Vakzination in die Provinz.183 Ihr Beitrag zur Verbreitung der Impfung war in seinem Ausmaß beeindruckend: Bis zum Jahr 1837 wurden unter Mitwirkung der Gesellschaft 10,5 Millionen Kinder gegen die Pocken geimpft und 10.521 Personen zu Vakzinatoren ausgebildet. Publikationen über die Pockenschutzimpfung – über 318.000 Exemplare – erschienen in verschiedenen Sprachen, darunter Rus­sisch, Polnisch, Estnisch, Lettisch, Finnisch, Kalmückisch, Armenisch, Geor­gisch und Tatarisch.184 Der Versuch, nichtrus­sische Bevölkerungsgruppen im Zuge der Impfkampagne zu erfassen, verdient besondere Aufmerksamkeit. Zwar baute die Staatsgewalt die Kampagne auf Informationen aus den Taufregistern der orthodoxen Kirche auf und erfasste damit nur einen bestimmten Teil der Bevölkerung – und auch dies wegen des unzuverlässigen Informationsaustauschs nur lückenhaft. Daraus darf man jedoch nicht schließen, dass nur orthodoxe Untertanen die Zielgruppe der Impfkampagne darstellten. Bereits in den frühen 1770er Jahren setzte sich der weiter oben erwähnte Gouverneur von Irkutsk für die Impfung der Nomaden ein.185 Im Jahre 1799 schlug das Medizinal­kollegium seinem Direktor vor, in der Wüste von Astrachan’ ein Pockenhospital für kalmückische Nomaden einzurichten.186 Nichtsesshafte Völker konnten durch ihre Migration die Ausbreitung der Pocken begünstigen und wurden wohl vor allem deshalb frühzeitig in die Impfkampagne mit einbezogen.187 Mit der Zeit wurden Versuche, mit der Impfkampagne neben den orthodoxen Christen auch andere Bevölkerungsgruppen zu erfassen, systematischer. Überliefert sind Pläne für die Impfung von Muslimen, bei denen Mullahs als Ansprechpartner

183 Siehe dazu auch den kaiser­lich bestätigten Beschluss des Ministerkomitees vom 27. Dezember 1827, in: PSZ II Bd. 2, Nr. 1655, S. 1112 – 1114, hier S. 1113. 184 Chodnev, Obzor, S. 32. 185 PSZ I Bd. 19, Nr. 13.755, S. 444 f. 186 Kaiser­licher Erlass an das Medizinal­kollegium vom 1. Mai 1798, in: PSZ I Bd. 25, Nr. 18.513, S. 233 – 236, hier S. 234. In seinem Vortrag zur Reorganisation der Medizinal­verwaltung von 1803 berichtete der Innenminister über einen Arzt, der als einer der Pioniere der Pockenschutzimpfung in Russland den Nomaden die Impfung beigebracht habe. Siehe den kaiser­lichen Erlass an den Senat vom 31. Dezember 1803, in: PSZ I Bd. 27, Nr. 21.105, S. 1102 – 1114, hier S. 1106 Anm. z. 187 Rundschreiben der Freien Ökonomischen Gesellschaft an die Impfkomitees vom 31. Januar 1834. GAJaO f. 628, op. 1, d. 5, l. 247 – 248, hier l. 247ob.

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und Mittler für die Staatsgewalt fungierten. Dass dieses Unterfangen durchaus erfolgreich sein konnte, sah die Freie Ökonomische Gesellschaft am Einsatz des Kreisarztes von Omsk, der viele Kirgisen geimpft hatte. Sein Erfolg zeige, so das Rundschreiben der Ökonomischen Gesellschaft an Impfkomitees des Reiches, „dass auch dieses Volk trotz seiner Wildheit fähig ist, nütz­liche Neuerungen anzunehmen“.188 Versuche aus dem neunzehnten Jahrhundert, nichtorthodoxe Bevölkerungsgruppen für die Pockenschutzimpfung zu gewinnen, lassen deut­liche Parallelen zum Vorgehen gegenüber der Mehrheitsbevölkerung erkennen. Auch bei nichtrus­ sischen Völkern wandte man sich zunächst an die Eliten. Seelsorger anderer religiöser Gemeinschaften sollten bei der Verbreitung der Pockenschutzimpfung eine ähn­liche Rolle wie orthodoxe Pfarrer spielen. Das Impfkomitee von Astrachan’ empfahl den Impfern, sich an die Geist­lichkeit zu wenden, um zum Beispiel den eventuellen Widerstand der Eltern gegen die Impfung zu überwinden. Die Geist­ lichen sollten die Eltern überzeugen.189 Hinter diesem Vorgehen stand der Glaube im Geist der Aufklärung, dass sich die Eliten einer jeden Bevölkerungsgruppe vom Nutzen der Pockenschutzimpfung überzeugen lassen würden, wenn sie nicht ohnehin schon überzeugt waren. Die Geist­ lichkeit sollte vor allem als Autoritätsinstanz die Mittlerrolle übernehmen. Wenn sich die Eliten allerdings nicht für die Impfkampagne gewinnen ließen, waren die Durchsetzungsmög­lichkeiten der lokalen Verwaltung äußerst gering. Am Beispiel der Pockenschutzimpfung lässt sich ein wesent­liches Grundmuster des staat­lichen Vorgehens in der Medizinal­politik erkennen. K ­ atharina II. ging davon aus, ihr gutes Beispiel werde von den Eliten nachgeahmt und dadurch werde ein Prozess in Gang gesetzt, der keiner weiteren staat­lichen Steuerung bedürfe. In den Augen ihres Enkels Alexanders I. entsprachen die Ergebnisse der Impfkampagne zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts jedoch nicht dem staat­lich definierten Ziel. Der Staat griff an dieser Stelle ein und schuf für das Projekt eine neue institutionelle Grundlage. Wie im Bereich des Krankenhausbaus verließ sich die Staatsgewalt auch hier weitgehend auf die lokale Ebene und verlagerte sogar die finanzielle und personelle Last zum großen Teil nach unten. Die Initiative der Freien Ökonomischen Gesellschaft, individuelle Spenden oder geregelte Unterstützung seitens lokaler Gesellschaften ermög­lichten weitgehend das Voranschreiten der Impfkampagne. Doch wie verlief sie im Alltag? Wer impfte wen?

188 Ebd., l. 247 – 247ob. 189 GAJaO f. 628, op. 1, d. 2, l. 24.

334

Medizinal­wesen als Aufgabenfeld lokaler Gesellschaften

Erfolge und Hindernisse Auch in Bezug auf die Impfkampagne geben Verwaltungsakten in erster Linie Dysfunktionalitäten wieder. Dies muss bei der Beurteilung des Projekts stets mitberücksichtigt werden. Dennoch enthalten gerade Beschwerden der lokalen Ebene und Mahnungen seitens der Behörden wertvolle Hinweise auf strukturelle Schwächen. Sie ermög­lichen es einerseits, die Wahrnehmung des Projekts durch die Bürokratie nachzuvollziehen und liefern andererseits den Hintergrund zu einzelnen Entscheidungen. Zu den zentralen Mängeln des Impfprojekts gehörte der Informationsaustausch. Dabei traten unterschied­liche Probleme auf: Zum einen waren die Kommunika­ tionswege nicht allen Beteiligten klar, zum anderen erschwerte die bereits erwähnte bisweilen mangelnde Kooperationsbereitschaft der lokalen Geist­lichkeit die Planung der Pockenimpfung in der Provinz, so dass manchen Impfkomitees Informationen über die Zahl der Neugeborenen fehlten. Eine dritte Art von Mängeln im Informationsaustausch existierte zwischen den Vakzinatoren und der untersten Ebene der Medizinal­verwaltung. So berichtete der Kreisarzt von Myškin im Jahre 1829 über seine Schwierigkeiten Folgendes: Er habe unter anderem zwei Gutsbesitzer mit Impfinstrumenten und Serum ausgestattet. Anfangs hätten die meisten Vakzinatoren den Arzt über ihre Erfolge unterrichtet. Doch zuletzt seien keine Nachrichten mehr von ihnen eingetroffen: entweder wegen der Wegelosigkeit oder weil sich die Vakzi­ natoren zu weit von Myškin entfernt aufhielten oder weil das Landgericht keine entsprechende Anordnung erlassen habe.190 Gerade bei der Pockenschutzimpfung stellte der geregelte Informationsfluss eine wichtige Grundlage für die erfolgreiche Entwicklung des Projekts dar. Der Zusammenbruch mancher Informationskanäle brachte zwar die Impftätigkeit nicht zwangsläufig zum Erliegen. Aber er machte sie weniger transparent und damit weniger plan- und kontrollierbar. Auch waren der Verbreitung der Pockenimpfung enge materielle Grenzen gesetzt. Trotz der Bemühungen der Freien Ökonomischen Gesellschaft mangelte es den Impfkomitees oft an Impfbesteck und schrift­lichen Anleitungen, so dass nicht alle Vakzinatoren ihr Handwerk ausüben konnten.191 Betrachtet man die Beschwerden über die Dysfunktionalitäten im Impfprojekt, so scheint es im Gouvernement Voronež gravierendere Probleme als etwa im Nachbargouvernement Tambov oder in Jaroslavl’ gegeben zu haben. Auf den ersten Blick versprachen die Voraussetzungen für das Impfprojekt in Jaroslavl’ bessere Erfolge 190 Bericht des Kreisarztes von Myškin, Ivan Gorčakov, an die Medizinal­verwaltung von Jaroslavl’ vom 5. April 1829. GAJaO f. 86, op. 1, d. 392, l. 63 – 64, hier l. 63 – 63ob. 191 Siehe das Schreiben des Gouvernementsadelsmarschalls von Jaroslavl’, Pavel Sokolov, an den Gouverneur, Michail Bravin, vom 22. April 1827. GAJaO f. 628, op. 1, d. 1, l. 53 – 54ob., hier l. 53.

Die Pockenschutzimpfung

335

als in Voronež, und sei es nur aufgrund der personellen Kapazitäten: Das Gouvernement Voronež war zwar mit Arztlehrlingen versorgt, doch gab es dort 1815 nur acht Medizinal­beamte, so dass in acht von dreizehn Kreisen der Posten des Kreisarztes eine Zeit lang unbesetzt war.192 In Tambov waren dagegen nur drei Kreisarztstellen vakant, wobei es in zwei dieser Kreise frei praktizierende Ärzte gab.193 Obwohl die Zahlen für eine bessere Versorgung Jaroslavl’s mit medizinischem Personal sprechen, überstieg die Forderung nach der Durchführung der Pockenschutzimpfung oft die Kapazitäten. Der Stabsarzt von Uglič meldete 1827 der Medizinal­verwaltung, dass er der Vorschrift, einen Arztlehrling zur Pockenimpfung der Domänenbauern zu entsenden, nicht nachkommen könne. Denn ihm stehe nur ein einziger Lehrling zur Verfügung, auf dessen Hilfe im Krankenhaus er nicht verzichten könne.194 Doch ist der Zusammenhang zwischen der Ärztedichte und den Impferfolgen tatsäch­lich so zwingend, wie er auf den ersten Blick erscheint? Mit den Kuhpocken geimpfte Kinder in den Gouvernements Jaroslavl’, Tambov und Voronež in den Jahren 1805 bis 1811 195 Gouvernement Jaroslavl’

Geimpfte Kinder 1805

1806

1807

1808

1809

1810

1811

52

819

244

2326

1631

2154

2230

Tambov

2018

4274

3290

3021

8228

11.480

17.587

Voronež

4435

9900

2800

5140

14.450

10.824

10.862

192 Vier Ärzte waren in der Gouvernementsstadt tätig, die übrigen vier arbeiteten in den Kreisen Zemljansk, Ostrogožsk, Bogučar und Pavlovsk. Tabellen über Medizinal- und Apothekerbeamte für das Jahr 1815 in Voronež und Tambov. RGIA f. 1299, op. 4, d. 373, l. 69 – 72. 193 Diese Angaben beziehen sich auf das Jahr 1815. Im Vergleich zu 1812 hatte sich die Lage in Voronež in dieser Hinsicht sogar verschlechtert, waren doch 1812 nur fünf Kreisarztstellen vakant und 1815 acht. Siehe die Tabellen über Medizinal- und Apothekerbeamte für das Jahr 1815 in Voronež und Tambov. RGIA f. 1299, op. 4, d. 373, l. 69 – 72 und 312 – 315 sowie die Personalakten für das Gouvernement Voronež für das Jahr 1812. RGIA f. 1299, op. 1, d. 333, l. 2 – 5. 194 Bericht des Stabsarztes von Uglič, Flegont Ložnikov, an die Medizinal­verwaltung von Jaroslavl’ vom 3. Juli 1827. GAJaO f. 86, op. 1, d. 345, l. 45 – 45ob., hier l. 45ob. 195 Die Angaben stammen aus dem Bericht über die Zahl der Kinder, die gegen die Pocken geimpft wurden, gegliedert nach Gouvernements für die Jahre 1804 – 1814. GAJaO f. 73, op. 1, d. 803, l. 18a.

336

Medizinal­wesen als Aufgabenfeld lokaler Gesellschaften

Für die Zeit zwischen 1824 und 1833 ergibt sich folgendes Bild: Mit den Kuhpocken geimpfte Kinder in den Gouvernements Jaroslavl’, Tambov und Voronež in den Jahren 1824 bis 1832 196 Gouvernement

Geimpfte Kinder

Jaroslavl’

87.064

Tambov

74.289

Voronež

311.482

Statistiken, die in der Verwaltung kursierten, setzten die Zahl der Impfungen zur Zahl der Neugeborenen in Beziehung. So errechnete der Polizeiminister 1811, dass von den 1.344.592 Kindern, die 1807 die orthodoxe Taufe erhalten hatten, 83.072 von den Medizinal­beamten geimpft worden waren. Im Jahr 1808 betrug das Verhältnis 117.948 Impfungen zu 1.334.130 Getauften.197 Allerdings ist dieses Verhältnis nur scheinbar aussagekräftig, denn geimpft wurden nicht nur Neugeborene, sondern Kinder aller Altersstufen und auch Erwachsene. Beim Herstellen von Bezügen zwischen der Zahl der geimpften Kinder und der Gesamtbevölkerungszahl ist ebenfalls Vorsicht geboten. Erstens zielte die staat­liche Kampagne in erster Linie auf die Impfung der Kinder ab. Erwachsene, die sich impfen ließen, fanden in der Regel keinen Eingang in die Akten. Zweitens war die tatsäch­liche Anzahl der ungeimpften Kinder den Behörden nicht bekannt, denn deren Erfassung über Taufregister schloss, wie bereits erwähnt, die nichtorthodoxe Bevölkerung aus; auch waren die Register selbst eine unzuverlässige Quelle. Drittens darf das Verhältnis zwischen der Zahl der Impfungen und der Bevölkerungszahl schon gar nicht dafür verwendet werden, um den etwaigen Erfolg der Impfkampagne im Hinblick auf die Bekämpfung der Pocken zu beurteilen. Die einzig sinnvolle Vergleichsgröße wäre die Zahl der Nichtimmunisierten, also Menschen jeden Alters, die nicht nur nicht geimpft wurden, sondern auch noch nie an den Pocken erkrankt gewesen waren. Da diese nicht bekannt ist, können die zeitgenös­sischen Statistiken nur das Bild wiedergeben, das die Bürokratie vom Fortschreiten des Projekts hatte. Insofern lautet die Frage, die an dieses Material gestellt werden kann: Inwieweit gelang es der Staatsgewalt, die Impfzahlen zu steigern?

196 Die Angaben wurden übernommen aus dem Bericht der Freien Ökonomischen Gesellschaft über die Zahl der Kinder, die gegen die Pocken geimpft wurden, und die Zahl der ausgebildeten Vakzi­ natoren von dem Zeitpunkt an, an dem die Freie Ökonomische Gesellschaft die Sorge für die Pockenschutzimpfung übernahm, bis zum 1. Januar 1833. RGIA f. 91, op. 1, d. 286, l. 64ob.–65. 197 PSZ I Bd. 31, Nr. 24.622, S. 641.

Die Pockenschutzimpfung

337

Obwohl die absoluten Zahlen keine zuverlässige Auskunft über die tatsäch­ lich geimpften Kinder geben, deuten sie dennoch eine Tendenz an. In den Jahren 1805 bis 1811 lagen Tambov und Voronež vor dem Gouvernement Jaroslavl’, dessen Anteil an Impfungen äußerst gering erschien. In der zweiten Hälfte der 1820er und zu Beginn der 1830er Jahre lag Voronež vor den Gouvernements Tambov und ­Jaroslavl’. Die bessere Ausstattung des Gouvernements Jaroslavl’ mit medizinischem Personal führte also nicht zu einer schnelleren Verbreitung der Pockenschutzimpfung. Der beträcht­liche Unterschied in der Verbreitung der Pockenschutzimpfung in Jaroslavl’ und im Schwarzerdegebiet lässt sich aus der Bevölkerungsstruktur dieser Gouvernements erklären. In Voronež machten Bauern einen deut­lich größeren Teil der Bevölkerung aus als in Jaroslavl’. Gleichzeitig zeichnete sich das Schwarz­erdegebiet durch einen großen Latifundienanteil aus, so dass verhältnismäßig wenige Gutsbesitzer über sehr viele Leibeigene verfügten.198 Ob Bauern gegen die Pocken geimpft wurden oder nicht, lag im Ermessen des jeweiligen Gutsbesitzers beziehungsweise -verwalters. Wenn sich ein Adliger dafür entschied, dann wurde die Pockenimpfung oft gleich in mehreren Dörfern durchgeführt. Je mehr Leibeigene er hatte, desto größer war die Auswirkung seiner Entscheidung. Dafür, dass die meisten Impflinge aus länd­lichen Gegenden kamen, spricht die relativ gesehen geringe Zahl der geimpften Kinder in den Kreisstädten im Vergleich zum Land desselben Kreises. So impfte im Jahr 1806 der Arzt von Uglič 361 Kinder gegen die Pocken; 267 von ihnen lebten auf dem Land und nur 94 in der Stadt. Ähn­lich verhielt es sich im selben Jahr im Kreis Danilov, wo der Arzt die Pockenschutzimpfung bei 45 Kindern in der Stadt und bei 395 Kindern auf dem Land vornahm.199 Innerhalb eines Gouvernements konnte die Anzahl der geimpften Kinder in den einzelnen Kreisen mitunter stark variieren. In manchen Kreisen wurde im Verlauf

198 In der Besitzkategorie „über 1.000 Seelen“ wurden im Gouvernement Voronež 41 Besitzer gezählt, die insgesamt 133.949 männ­liche Leibeigene besaßen. Zum Vergleich: Im Gouvernement Jaroslavl’ entfielen in derselben Kategorie 52.877 männ­liche Leibeigene auf 26 Besitzer, in Tambov verteilten sich 97.343 männ­liche Leibeigene auf 58 Besitzer. Troĭnitskiĭ, Serf Population, S. 55 f. Trojnickijs Daten beziehen sich auf das Jahr 1859. Da jedoch im Schwarzerdegebiet seit dem 17. Jahrhundert Latifundien an Adlige verschenkt wurden, gibt es zwischen dem ausgehenden 18. Jahrhundert und dem 19. Jahrhundert vor 1861 keine nennenswerten strukturellen Unterschiede. Für den Hinweis auf diese Publikation danke ich Franziska Schedewie. 199 Register der Medizinal­verwaltung von Jaroslavl’ über die Zahl der gegen die Pocken geimpften Kinder im Jahr 1806. GAJaO f. 86, op. 1, d. 80, l. 31ob.–32. Auch in Pošechon’e zeigt sich ein ähn­ liches Bild: Der Lehrling des Kreisarztes hat 272 Kinder geimpft, von denen zehn in der Stadt und die übrigen auf dem Land lebten. Siehe den Bericht des Kreisarztes von Pošechon’e, Aleksandr Machcevič, an die Medizinal­verwaltung von Jaroslavl’ vom 13. Juni 1824. GAJaO f. 86, op. 1, d. 292, l. 2 – 3, hier l. 3.

338

Medizinal­wesen als Aufgabenfeld lokaler Gesellschaften

eines halben Jahres kein einziges Kind gegen die Pocken geimpft,200 andernorts bewegten sich die Angaben im mittleren zweistelligen Bereich.201 In manchen Gegenden gelang es, deut­lich mehr Kinder gegen die Pocken zu impfen: In der zweiten Jahreshälfte 1808 bekamen im Mologa 138 Kinder das Serum, in Ljubim sogar 720.202 Auch die Impferfolge einzelner Mediziner gingen weit auseinander. Während der Stabsarzt von Rostov im Laufe des Jahres 1806 sechs Kinder gegen die Pocken impfte,203 verzeichnete sein Kollege in Uglič in derselben Zeit 361 Impflinge.204 Der Stabsarzt von Myškin, Černoglazov, impfte in demselben Jahr kein einziges Kind, weil seiner Aussage nach niemand Interesse an der Vakzination gezeigt habe.205 Sein Kollege in Pošechon’e gab vor, aus gesundheit­lichen Gründen 1806 keine Kinder impfen zu können.206 Es bestanden auch qualitative Unterschiede in der Impftätigkeit der Ärzte. Bei der Hälfte der in Rostov geimpften Kinder war der Eingriff erfolglos.207 In Uglič dagegen waren dem Bericht des Kreisarztes zufolge sowohl die 94 Impfungen in der Stadt als auch die 267 Impfungen im Kreis erfolgreich gewesen.208 Eine in ihrer Ausführ­lichkeit seltene Quelle aus dem Gouvernement Voronež erlaubt einen Einblick in die Impftätigkeit einzelner Vakzinatoren:

200 Siehe etwa den Bericht des Stabsarztes von Rostov, Pëtr Rel’, an die Medizinal­verwaltung von Jaroslavl’ vom 30. Juni 1808. GAJaO f. 86, op. 1, d. 161, l. 3. Ähn­lich auch der Bericht des Stabsarztes von Romanov, Samoil Švajger, an die Medizinal­verwaltung von Jaroslavl’ vom 2. Juli 1808. GAJaO f. 86, op. 1, d. 161, l. 13. 201 Der Operateur der Medizinal­verwaltung, Ivan Kirchner, impfte im zweiten Halbjahr 1808 31 Kinder, der Stabsarzt von Uglič, Ivan Nozdrovskij, hatte 36 Impfungen zu verzeichnen, der Kreisarzt von Pošechon’e, Fёdor Veber, 65. Siehe den Bericht der Medizinal­verwaltung von Jaroslavl’ an den Gouverneur, Michail Golicyn, vom Januar 1809. GAJaO f. 86, op. 1, d. 161, l. 48 – 49, hier l. 48ob.–49. 202 Ebd. 203 Siehe die Berichte des Stabsarztes von Rostov, Pëtr Rel’, an die Medizinal­verwaltung vom 15. Juni und vom 31. Dezember 1806. GAJaO f. 86, op. 1, d. 80, l. 3 – 5 und 6 – 7. 204 Bericht des Kreisarztes von Uglič, Ivan Nozdrovskij, an die Medizinal­verwaltung von Jaroslavl’ vom 13. Februar 1807. GAJaO f. 86, op. 1, d. 80, l. 8 – 9, hier l. 8ob. 205 Siehe die Berichte des Stabsarztes von Myškin, Andrej Černoglazov, an die Medizinal­verwaltung von Jaroslavl’ vom 23. Juni und vom 31. Dezember 1806. GAJaO f. 86, op. 1, d. 80, l. 18 – 19. 206 Bericht des Kreisarztes von Pošechon’e, Fëdor Veber, an die Medizinal­verwaltung vom 8. Februar 1807. GAJaO f. 86, op. 1, d. 80, l. 21. 207 GAJaO f. 86, op. 1, d. 80, l. 3 – 5 und 6 – 7. Als erfolglos wurde eine Impfung bezeichnet, wenn der Erreger vom Körper des Geimpften nicht aufgenommen wurde. Die Quellen geben in der Regel die mangelhafte Qualität der Impfmaterie als Grund für erfolglose Impfungen an. 208 GAJaO f. 86, op. 1, d. 80, l. 9.

Die Pockenschutzimpfung

339

Pockenimpfungen im Gouvernement Voronež im ersten Halbjahr 1812 209 Kreis

Ungeimpfte Kinder

Geimpfte Kinder

Davon erfolglos

Vakzinatoren (Anzahl der Impflinge)

Voronež

5919

668

– Inspektor der Medizinal­behörde (56), frei praktizierender Arzt (179), Kreisarzt (51), Arztlehrling (250), Gesinde (dvorovye ljudi) (132)

Zadonsk

2462

218

1 Kreisstabsarzt von Voronež (175), Gesinde (43)

Zemljansk

8056

127

Nižnedevick

1684

1284

– Stabsarzt (560), Oberlehrling (540), Unterlehrling (184)

Korotojak

3231

166

– Kreisstabsarzt von Ostrogožsk, zwei Arztlehrlinge

Ostrogožsk

8057

1071

– Kreisstabsarzt (324), Oberlehrling (184), Arztlehrling außer Dienst (558)

Birjuč

2346

247

– Kreisstabsarzt (85), Arztlehrling (112), Gesinde (50)

Valujki

k. A.

782

– Oberlehrling (543), Unterlehrling (113), Staatsbauer (33), Gesinde (102)

32 Stabsarzt von Nižnedevick (40), zwei Arztlehrlinge (60 + 17)

Pavlovsk

4533

36

Bogučar

7549

3422

Starobel’sk

6873

372

– drei Arztlehrlinge

Novochopërsk

2423

918

– Kreisstabsarzt und Arztlehrling

> 53.133

9311

GESAMT

8 Arztlehrling (25), Einhöfer (11) – Kreisstabsarzt, Arztlehrling, angelernte Bauern

41

Frei­lich lassen sich die überlieferten Daten weder auf der zeit­lichen noch auf der geographischen Ebene generalisieren. Doch sind sie wegen des dürftigen Kenntnisstandes über den Verlauf der Impfkampagne in der Provinz als Momentaufnahme äußerst wertvoll. Auffällig sind zum einen die großen Unterschiede, die in 209 Berichte der lokalen Medizinal­behörden und der Komitees zur Verbreitung der Pockenschutzimpfung über die Kuhpockenimpfung im Jahr 1812. Erster Teil. RGIA f. 1299, op. 1, d. 306, l. 243 – 248. Der Kreis Bobrov konnte wegen einer fehlerhaften Angabe in der Akte nicht in die Statistik aufgenommen werden. Verwendbar und für die Untersuchung relevant sind jedoch die Daten zu ­manchen Impfern des Kreises. Nach dem Bericht der lokalen Medizinal­behörde entfiel ein Teil der Impfungen auf folgende Vakzinatoren: Oberlehrling (144), Unterlehrling (296), zwei Geist­liche (62 bzw. 69), Gesinde der Gräfin Orlova (333), Knecht des Grafen Rostopčin (191), zwei Knechte des Grafen Buturlin (155 bzw. 181), Knecht des Gutsbesitzers Okorokov (25). Ebd.

340

Medizinal­wesen als Aufgabenfeld lokaler Gesellschaften

der Entwicklung der Impfkampagne zwischen den einzelnen Kreisen bestanden. Ebenfalls gewaltige Unterschiede gab es in der Aktivität der einzelnen Vakzinatoren: Der Einhöfer aus Pavlovsk impfte elf Kinder, während ein ehemaliger Arztlehrling aus Ostrogožsk 558 erfolgreiche Impfungen verzeichnete. Der besondere Wert dieser Quelle besteht aber in den Angaben zur Identität der Vakzinatoren: Diese rekrutierten sich bei weitem nicht nur aus dem medizinischen Personal des Gouvernements. Zur Übersicht sollen die Impferfolge der Mediziner jenen der Nichtmediziner gegenübergestellt werden: Impfungen im Gouvernement Voronež im ersten Halbjahr 1812 210 Kreis

Impfungen durch medizinisches Personal

Impfungen durch Nichtmediziner

Anteil der Impfungen durch Nichtmediziner (gerundet in Prozent)

Voronež

536

132

25

Zadonsk

175

43

25

Zemljansk

117





1284





Korotojak

166





Ostrogožsk

1066





Birjuč

197

50

25

Valujki

656

135

21

25

11

44

2913

1016

35

Starobel’sk

372





Novochopërsk

918





8425

1387

16

Nižnedevick

Pavlovsk Bobrov

GESAMT

Nicht aus allen Kreisen ist die Tätigkeit von Nichtmedizinern als Vakzinatoren überliefert, wobei man wegen des schlechten Informationsaustauschs zwischen den einzelnen Stellen der Medizinal­verwaltung ihre Existenz dennoch nicht mit Sicherheit ausschließen kann. Dort, wo ihre Aktivität auch in Form von Zahlen erfasst ist, führten sie durchschnitt­lich etwa ein Viertel aller Impfungen durch. Auf das gesamte Gouvernement übertragen entfiel auf sie immerhin etwa ein Sechstel der Pockenimpfungen.211 Somit leisteten Nichtmediziner einen gewichtigen Beitrag zur Verbreitung der Impfung. 210 RGIA f. 1299, op. 1, d. 306, l. 243 – 248. 211 Auch in anderen Gouvernements impften Nichtmediziner. In den 1820er Jahren unterhielt die Stadt Rostov einen eigenen Vakzinator, den meščanin Vasilij Jurov, dem sie einhundert Rubel Jahresgehalt zahlte. Stepanov, Rostovskaja bol’nica, Nr. 55 vom 25. Juli 2006, S. 10. Dieser Befund unterscheidet

Die Pockenschutzimpfung

341

Die meisten Impfungen wurden aber von medizinischem Personal durchgeführt. In drei der zwölf Kreise des Gouvernements Voronež impften gar keine Ärzte, sondern ausschließ­lich Arztlehrlinge; in Zadonsk, Zemljansk und Korotojak impften Ärzte aus den benachbarten Kreisen. Dies bestätigt erneut, dass vakante Arztposten nicht zwangsläufig negative Auswirkungen auf die Verbreitung der Impfung hatten. Fragt man nach der Verteilung der Impfungen zwischen den einzelnen medizinischen Berufen, ergibt sich in diesem Fall die folgende Aufstellung: Impfungen durch medizinisches Personal im Gouvernement Voronež im ersten Halbjahr 1812 212 Kreis

Impfungen durch Ärzte

Impfungen durch Arztlehrlinge

Voronež

286

Zadonsk Zemljansk

Gesamtzahl der Impfungen 250

668

175



218

40

77

127

Nižnedevick

560

724

1284

Ostrogožsk

324

742

1071

Birjuč

85

112

247

Valujki



543

782

Pavlovsk



25

36

Starobel’sk



372

372

GESAMT

1470

2845

4805

In drei der neun Kreise waren Arztlehrlinge die einzigen Vertreter medizinischer Berufe, die sich der Pockenimpfung widmeten. Dort, wo sie zusammen mit Ärzten impften, belief sich ihr Anteil durchschnitt­lich auf etwas über die Hälfte der Impfungen. Der Wert für das gesamte Gouvernement lag knapp darunter. Arztlehrlinge waren also für das Impfprojekt unverzichtbar. Ärzte mochten zwar der Impfung weniger intensiv nachgehen, als die Medizinal­verwaltung es sich wünschte. Doch die Überlieferung erlaubt nicht den Schluss, sie hätten diese Aufgabe vollkommen vernachlässigt. die Implementation der Pockenimpfung im Rus­sischen Reich etwa von Württemberg, wo Impfer aus Nichtmedizinerkreisen selten waren. Siehe dazu Wolff, Maßnahmen, S. 125 ff. Dieser Umstand ebenso wie das zunehmende Herausdrängen der Handwerkschirurgen aus dem Impfgeschäft erklärt Wolff mit einem Machtkampf der sich professionalisierenden Ärzteschaft, die dabei eine Unterstützung seitens der Staatsgewalt erfuhr. Ebd., S. 129 – 133. 212 RGIA f. 1299, op. 1, d. 306, l. 243 – 248. Im Kreis Korotojak wurden 166 Impfungen vom Stabsarzt aus dem benachbarten Kreis Ostrogožsk und von zwei Arztlehrlingen vorgenommen. Im Kreis Novochopërsk impften der Stabsarzt und sein Lehrling 918 Kinder. Die genaue Verteilung der Impfungen auf die Vakzinatoren ist in diesen Fällen nicht bekannt.

342

Medizinal­wesen als Aufgabenfeld lokaler Gesellschaften

Wenn Ärzte keine Impferfolge vorweisen konnten, nannten sie unterschied­liche Gründe. Einige solcher Briefe sind aus dem Gouvernement Jaroslavl’ überliefert. Der Stabsarzt von Myškin meldete der Medizinal­verwaltung, er sei in der zweiten Jahreshälfte 1808 nicht zum Impfen eingeladen worden.213 Auch sein Kollege in Romanov führte dieselbe Begründung an.214 Damit gaben die beiden Ärzte offen zu, sich nicht – wie es von der Staatsmacht verlangt wurde – aktiv für die Verbreitung der Pockenimpfung einzusetzen. Sofern man ihrer Darstellung Glauben schenken kann, waren sie vielmehr passiv und warteten auf eventuelle Interessenten. Der Kreisarzt von Pošechon’e begründete seinen Ausfall als Vakzinator mit seinem schlechten Gesundheitszustand.215 Manche Impfungen blieben wirkungslos. Den Grund dafür sahen die Ärzte in der mangelhaften Qualität der Impfmaterie.216 Doch trotz der vielen Hindernisse wurden im gesamten Rus­sischen Reich Kinder gegen die Pocken geimpft. Die Tendenz war während des Untersuchungszeitraums steigend. Auch wenn man davon ausgehen kann, dass absolute Impfzahlen, mit denen sowohl die lokale als auch die zentrale Verwaltung operierten, nicht der Anzahl der tatsäch­lich geimpften Kinder entsprachen, lohnt ein Blick auf zeitgenös­sische Statistiken, um zu sehen, auf welchem Material die impfpolitischen Entscheidungen der Verwaltung beruhten.

213 Bericht des Stabsarztes von Myškin, Andrej Černoglazov, an die Medizinal­verwaltung von ­Jaroslavl’ vom 31. Dezember 1808. GAJaO f. 86, op. 1, d. 161, l. 39. Ähn­lich auch GAJaO f. 86, op. 1, d. 161, l. 13. 214 Bericht des Kreisarztes von Romanov, Samoil Švajger, an die Medizinal­verwaltung von Jaroslavl’ vom Januar 1807. GAJaO f. 86, op. 1, d. 80, l. 27. 215 Bericht des Kreisarztes von Pošechon’e, Fëdor Veber, an die Medizinal­verwaltung von Jaroslavl’ vom 1. Juli 1808. GAJaO f. 86, op. 1, d. 161, l. 14. 216 Siehe etwa den Bericht des Accoucheurs von Mologa, Karl Klejgil’s, an die Medizinal­verwaltung von Jaroslavl’ vom 31. August 1808. GAJaO f. 86, op. 1, d. 161, l. 15.

Die Pockenschutzimpfung

343

Anzahl der geimpften Kinder in den Jahren 1804 bis 1813 217 sowie von 1824 bis 1832 218 Jahr

Gouvernement Voronež

Tambov

Rus­sisches Reich gesamt

Jaroslavl’

1804

4332

k. A.

k. A.

64.027

1805

4435

2018

52

93.207

1806

9900

4274

819

119.754

1807

2800

3290

244

83.072

1808

5140

3021

2326

117.948

1809

14.450

8228

1631

216.760

1810

10.824

11.480

2154

240.325

1811

10.862

17.587

2230

299.172

1812

13.188a

9642

3614

369.061

1813

k. A.

8559

6022

295.934

GESAMT

> 75.931

68.099

19.092

1.899.260

1824 – 1832

311.482

74.289

87.064

4.555.285

a  Die Angaben beziehen sich auf die erste Jahreshälfte 1812.

Die erste der beiden Statistiken umfasst zehn, die zweite neun Jahre. Ein Blick auf diese Daten ermög­licht folgende Feststellungen: Erstens wurden in den Jahren 1824 bis 1832 reichsweit mehr als doppelt so viele Kinder geimpft wie von 1804 bis 1813, in den Gouvernements Voronež und Jaroslavl’ war die Zahl circa um das Vierfache gestiegen. Zweitens löste die Gründung der Impfkomitees auf lokaler Ebene weder reichsweit noch in den einzelnen Gouvernements einen signifikanten Anstieg der Impfzahlen aus. Drittens lag das Gouvernement Jaroslavl’ weit hinter Voronež – und zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts auch hinter Tambov – zurück; Voronež gehörte sowohl in der Zeit zwischen 1804 und 1813 als auch im zweiten Vergleichsjahrzehnt zu den Spitzenreitern der Impfkampagne. Bisher sind Impflinge nur in Form von Zahlen zum Vorschein gekommen. Doch wer waren diese Kinder? Die Quellenlage ermög­licht es leider nicht, die Zahlen lückenlos aufzuschlüsseln. Sie erlaubt ledig­lich einzelne Einblicke. Von einem im Allgemeinen recht geringen Interesse der lokalen Bevölkerung an staat­lichen medizinalpolitischen Projekten ausgehend, wird bisweilen geschlossen, dass etwa

217 Die Angaben wurden übernommen aus GAJaO f. 73, op. 1, d. 803, l. 18a. 218 Die Angaben wurden übernommen aus RGIA f. 91, op. 1, d. 286, l. 64ob.–65.

344

Medizinal­wesen als Aufgabenfeld lokaler Gesellschaften

Gutsbesitzer – wenn überhaupt – nur ihre eigenen Kinder impfen ließen.219 Zwar kam dies durchaus vor.220 Doch Grundbesitzer hatten durchaus auch ein Interesse daran, ihren Besitz an Leibeigenen zu sichern und Bauern nicht schon im Kindesalter durch die Pocken zu verlieren.221 So hatte der Kreisarzt von Uglič im Jahr 1806 insgesamt 361 Kinder geimpft. Bauernkinder verschiedener Gutsbesitzer waren darunter zahlreich vertreten: Fürst Aleksej Šachovskoj ließ 45 Kinder impfen,222 bei Major Pavel Zmeev wurden bereits 1805 neben seinen eigenen sechs Töchtern auch vier Bauernkinder gegen die Pocken geimpft,223 in den Dörfern von Stepan Apraksin erhielten nach Angaben des Arztes 459 Bauernkinder das Serum.224 Damit entfiel auf die Bauernkinder von Apraksin über ein Zehntel aller Impfungen im Gouvernement Voronež in diesem Jahr.225 Die höheren Impfzahlen auf dem Land im Vergleich zu Städten legen die Vermutung nahe, dass der hohe Anteil der Bauern an der Gesamtzahl der Impfungen keine Ausnahme darstellte. Auch andere Gutsherren stellten dem Arzt Zeugnisse über die Impfung ihrer Bauernkinder aus, deren Zahlen häufig im zweistelligen Bereich lagen.226 Die Fürstin Menščikova ließ in den 1820er Jahren in der Kreisstadt Rostov ein Impfhaus errichten, in dem in der ersten Jahreshälfte 1824 vom Kreisarzt und seinem Lehrling 153 Kinder geimpft wurden: darunter einundzwanzig Bauernkinder der Gründerin, acht Bauernkinder von zwei Gutsbesitzern und zehn Leibeigenenkinder des Fürsten Golicyn.227 Man-

219 So Renner, Aufklärung, S. 53. Siehe auch ders., Autokratie, S. 204. 220 GAJaO f. 86, op. 1, d. 80, l. 6. 221 Barlett, Russia, S. 204. 222 Zeugnis für Ivan Nozdrovskij vom 13. November 1806. GAJaO f. 86, op. 1, d. 80, l. 10. 223 Zeugnis für Ivan Nozdrovskij vom 13. Mai 1806. GAJaO f. 86, op. 1, d. 80, l. 12. 224 Schreiben des Kreisstabsarztes von Myškin, Andrej Černoglazov, an die Medizinal­verwaltung von Jaroslavl’ vom 30. April 1805. GAJaO f. 86, op. 1, d. 31, l. 12 – 12ob., hier l. 12. Im Kreis Pošechon’e impfte der Lehrling des Kreisarztes 262 Bedienstete der Gutsbesitzer gegen die Pocken. Siehe GAJaO f. 86, op. 1, d. 292, l. 3. Auch Fürst Nikolaj Gagarin ließ in seinem Dorf Kinder impfen. Impfzertifikat, o. D. GAJaO f. 86, op. 1, d. 345, l. 17. 225 Der Anteil der Leibeigenen war auch unter den Impflingen des St. Petersburger Pockenhauses in den späten 1760er und 1770er Jahren recht hoch. Siehe Klein, Pocken-Inokulation, S. 62. 226 Siehe Zeugnisse für Ivan Nozdrovskij, z. T. o. D. [1806]. GAJaO f. 86, op. 1, d. 80, l. 14 – 17. Die Zahl der geimpften Bauernkinder verteilte sich auf die einzelnen Gutsbesitzer folgendermaßen: 29 (l. 14), 20 (l. 14a), 20 (l. 15), 35 (l. 16) und 22 (l. 17). Einige Adlige im Kreis Myškin beschlossen im Jahre 1803, ihre Bauernkinder gegen die Pocken impfen zu lassen, und betrauten mit dieser Aufgabe den Kreisarzt Černoglazov. Siehe das Schreiben des Kreisarztes von Myškin, Andrej Černoglazov, an die Medizinal­verwaltung von Jaroslavl’ vom 6. September 1803. GAJaO f. 86, op. 1, d. 31, l. 5. 227 Bericht über die Pockenimpfung im Impfhaus der Fürstin Menščikova, o. D. GAJaO d. 86, op. 1, d. 292, l. 9 – 9ob., hier l. 9ob.

Die Pockenschutzimpfung

345

che Gutsbesitzer unterhielten eigene Vakzinatoren aus den Reihen der Bauern, die auf ihren Landgütern die Impfung vornahmen.228 Einen recht seltenen Einblick in den Alltag der Impfkampagne gewährt der Bericht des Kreisarztes von Mologa aus dem Jahr 1808. Für den Zeitraum vom 15. Oktober bis zum 29. Dezember 1808 gab der Arzt täg­lich an, wen er impfte: Pockenimpfungen des Kreisarztes von Mologa vom 15. Oktober bis zum 29. Dezember 1808 229 Herkunft der geimpften Kinder Datum

Ort

Sol­ daten

meščane

Unehe­ Kauf­ Leib­ liche leute eigene

Gesinde

Kopis­ ten

GESAMT

15.10.

Stadt

1

4











6 [sic]a

22.10.

Stadt



1

2



1





4

29.10.

Stadt



4

1









5

5.11.

Stadt





6

1







7

12.11.

Stadt



4

1







1

6

20.11.

Kreis











17



17

25.11.

Stadt



1











1

12.12.

Kreis











34



34

13.12.

Kreis











17b



17

20.12.

Kreis











5



5

21.12.

Kreis





1





7



8

22.12.

Kreis











18c



18

28.12.

Kreis











2



2

29.12.

Kreis











10



10

a  Zu den fünf genannten Impflingen kam der siebenjährige Sohn des Arztes hinzu. Bericht des Kreis­arztes von Mologa, Karl Klejgil’s, über die Anzahl der Kinder, die 1808 mit Kuhpocken geimpft wurden. GAJaO f. 86, op. 1, d. 202, l. 1–4, hier l. 2. b  Bei zwölf Leibeigenen einer Gutsbesitzerin ist die Angabe nicht weiter aufgeschlüsselt, sie sind als „Hausbedienstete und Bauern“ vermerkt. Ebd., l. 3ob. c  Elf der vierzehn Impflinge sind als „Hausbedienstete und Bauern“ vermerkt. Ebd., l. 4.

Obwohl diese überlieferten Daten nur einen Ausschnitt der Impftätigkeit eines Arztes darstellen, bestätigt der Befund die bisherigen Beobachtungen: den hohen 228 Siehe das Schreiben des Kreisadelsmarschalls von Bobrov, Ivan Klykov, an den Gouvernements­ adelsmarschall, Dmitrij Čertkov, vom 11. Mai 1817. GAVO f. i–30, op. 1, d. 379, l. 6. 229 Die Angaben stammen aus dem Bericht des Kreisarztes von Mologa, Karl Klejgil’s, über die Anzahl der Kinder, die 1808 mit Kuhpocken geimpft wurden. GAJaO f. 86, op. 1, d. 202, l. 1 – 4.

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Medizinal­wesen als Aufgabenfeld lokaler Gesellschaften

Anteil der Leibeigenen unter den Impflingen. An zweiter Stelle kamen Kinder von meščane. An sechs Tagen, an denen der Arzt Kinder in der Stadt impfte, erhielt ein einziges Kaufmannskind das Serum. Auffällig ist ebenfalls das vollständige Fehlen von Kindern aus adligen Familien. Doch kann man in diesem Fall davon ausgehen, dass Gutsbesitzer, die den Kreisarzt zu sich riefen, um ihre Bauernkinder zu impfen, ihre eigenen Kinder bereits hatten impfen lassen. Denn es handelte sich um Gutsbesitzer, die offenbar vom Nutzen der Impfung überzeugt waren und den Arzt womög­lich nicht zum ersten Mal baten, in ihre Dörfer zu kommen. Für diese Annahme spricht auch der Umstand, dass in jedem Dorf nur wenige Kinder auf einmal das Serum bekamen. Der Arzt kam also mög­licherweise öfter zu ein und denselben Gutsbesitzern. Der Erfolg der Impfkampagne war weder durchschlagend, noch blieb er völlig aus. Die Ergebnisse hingen von mehreren Faktoren ab: Lokale Behörden konnten, mit der Unterstützung durch die Freie Ökonomische Gesellschaft, wichtige Voraussetzungen schaffen, indem sie vor allem die Ausbildung von Vakzinatoren förderten und diese mit Pockenserum und Instrumenten versorgten. Einen viel größeren Einfluss auf den Erfolg der Impfung hatten jedoch das Engagement der Vakzinatoren selbst und die Einstellung der lokalen Bevölkerung. Wenn ein Kreisarzt es nicht zu seiner Hauptaufgabe machte, Kinder gegen die Pocken zu impfen, konnte die strenge Kontrolle seitens der Behörden wenig dagegen ausrichten. Engagierte Ärzte – ob Medizinal­beamte oder frei praktizierende Mediziner –, Arztlehrlinge, Geist­liche und andere Menschen, die das Impfhandwerk erlernten, brachten dagegen das Projekt voran. Besonders große Auswirkung auf die in Zahlen gemessene Kampagne hatte die Entscheidung der Gutsbesitzer beziehungsweise der Gutsverwalter, die dem Einfluss der Staatsgewalt weitgehend entzogen war. Sah ein Gutsherr in der Impfung einen Nutzen, wurden häufig aufgrund seiner alleinigen Entscheidung mehrere Dutzend Bauern auf einmal geimpft und Leibeigene zu Vakzinatoren ausgebildet.230

Nichtmediziner und die Impfung In den bisherigen Ausführungen ist deut­lich geworden, dass die Impfung zwar meist von Medizinern vorgenommen wurde, Nichtmediziner aber eine überaus wichtige Rolle in diesem Projekt spielten. Wie wurde ihre Beteiligung an der Kampagne von deren Initiatoren definiert? Und wie war ihre Tätigkeit im Alltag organisiert?

230 Renner vertritt dagegen die Ansicht, „dass in der Praxis die Durchführung der Impfung von der Autorität der lokalen Obrigkeit abhing“. Renner, Aufklärung, S. 54.

Die Pockenschutzimpfung

347

Da für die Verbreitung der Pockenimpfung keine zusätz­lichen Medizinal­beamten abgestellt werden konnten, beschloss das Ministerkomitee, andere Gruppen für diese Aufgabe zu gewinnen. Schon einige Wochen nach der Gründung der Impfkomitees wurden Gouverneure, Adelsmarschälle, städtische Gesellschaften und die Landpolizei dazu aufgerufen, Angehörige aller Stände zu überzeugen, für die Durchführung des Eingriffs geeignete Menschen in Impfkomitees zu schicken, die diese zu Vakzinatoren ausbilden würden. Der Kurs sollte ein bis zwei Monate dauern. Als Richtgröße für die Anzahl der Impfer ging man von einem Impfer pro tausend Personen aus.231 Im Zusammenhang mit der Impfkampagne zeigt sich noch einmal die besondere Rolle der Adelsmarschälle, die nicht nur beim Sammeln von Spenden für lokale Krankenhäuser, sondern auch im medizinalpolitischen Alltag wichtige Ansprechpartner für die Staatsgewalt darstellten. Der Inspektor der Medizinal­behörde von Jaroslavl’ betonte in einem Schreiben an den Gouverneur, dass Kreisadelsmarschälle am meisten dazu beitragen könnten, die Zahl der Vakzinatoren zu erhöhen, wenn sie Gutsbesitzer dazu bewegten, Leibeigene zur Ausbildung im Impfhandwerk zu entsenden.232 Der Brief des Medizinal­inspektors offenbart, dass die Einbeziehung von Nichtmedizinern in das Impfprojekt von den Medizinern begrüßt wurde. Der Arzt betrachtete es sogar als notwendig, um die Vorgaben zur Verbreitung der Impfung erfüllen zu können. Damit gestanden Mediziner ein, dass ihre Kapazitäten nicht ausreichten, um die wachsende Last der Aufgaben zu bewältigen. Die Organisatoren des Impfprojekts versuchten auch den Klerus für die Kam­ pagne zu gewinnen, wobei ihm zweierlei Aufgaben zugedacht waren: Erstens sollten Geist­liche – wie auch Vertreter anderer Bevölkerungsgruppen – selbst das Impfhandwerk erlernen. Die besondere Rolle des Klerus sollte aber, zweitens, darin bestehen, Überzeugungsarbeit in länd­lichen Gegenden zu leisten, wo die Staatsgewalt noch weniger präsent war als in Provinzstädten. Seit 1804 war es die Pf­licht der Geist­ lichkeit, das Volk vom Nutzen der Pockenimpfung zu überzeugen. Dazu sollten Pfarrer die Unterschiede zwischen natür­lichen Pocken und der Kuhpockenimpfung darlegen. Sie sollten den Menschen klarmachen, dass sie den Zorn Gottes auf sich ziehen könnten, wenn sie die zur Verfügung stehenden Mittel nicht anwandten, um sich und ihre Nächsten zu schützen und zu retten. Denn sonst würden sie eine Sünde auf sich laden, die dem Töten gleichkomme.233 Mit anderen Worten: Wenn der Mensch die gottgegebene Vernunft nicht dazu verwende, um seine Gesundheit 231 Kaiser­lich bestätigter Bericht des Polizeiministers vom 19. Juni 1811, in: PSZ I Bd. 31, Nr. 24.681, S. 679 – 680. 232 Bericht des Inspektors der Medizinal­verwaltung von Jaroslavl’, Karl Klejgil’s, an den Gouverneur, Michail Bravin, vom 4. Juli 1827. GAJaO f. 628, op. 1, d. 1, l. 75 – 76, hier l. 75. 233 PSZ I Bd. 31, Nr. 24.622, S. 642.

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Medizinal­wesen als Aufgabenfeld lokaler Gesellschaften

zu bewahren, begehe er eine große Sünde. Diese Argumentation war der christ­liche Extrakt aus der von der Aufklärung propagierten Verpf­lichtung zur „gesundheit­lich verantwort­liche[n] Lebensführung“.234 Das Ministerkomitee bezeichnete die „Vorurteile“ im einfachen Volk als das größte Hindernis für den Erfolg des Impfprojekts. In seinem Rundschreiben an die Gouverneure erteilte der Polizeiminister Ratschläge für die Propaganda der Impfung: Es sei ratsam, Kinder, die eine erfolgreiche Vakzination hinter sich hätten, nach ihrer vollständigen Genesung an Sonn- oder Feiertagen und mög­lichst bei schönem Wetter in die Kirche zu bringen und sie während des Gottesdienstes an einen gesonderten und für alle gut sichtbaren Platz zu stellen. Nach dem Gottes­ dienst sollten die Pfarrer die Namen derer vorlesen, die sich hatten impfen lassen, und derer, die aufgrund eigener Versäumnisse ein Familienmitglied durch die Pocken verloren hatten.235 Der Synod verschickte fertige Predigten an Eparchialverwaltungen, mit denen Pfarrer in regelmäßigen Abständen bei der Gemeinde für die Pockenimpfung werben sollten.236 Auf diese Art und Weise versuchte die Staatsgewalt, für die Kuhpockenimpfung Aufmerksamkeit zu erzeugen und dadurch mög­lichst viele Menschen von den Vorteilen des Eingriffs zu überzeugen. Nicht nur die Erfolge sollten bei dieser Aufklärungskampagne eine wichtige Rolle spielen. Das Gespenst der Pockeninfektion wurde heraufbeschworen, um den Menschen durch den Schrecken den Ernst der Lage klarzumachen. Als Lösung fungierte die Vermittlung einer grundsätz­lich neuen Einstellung zur eigenen Gesundheit: die Eigenverantwortung des Menschen für sein leib­liches Wohl und das seiner Nächsten. Inwieweit der niedere Klerus seine neue Pf­licht tatsäch­lich erfüllte, lässt sich aufgrund der Aktenlage nicht nachvollziehen.237 Jedoch darf das pauschale Urteil, die rus­sische Geist­lichkeit sei nicht dafür geeignet gewesen, Vorurteile gegen die Pockenimpfung zu bekämpfen, nicht zum einzigen und wesent­lichen Charakteristikum der Rolle der lokalen Geist­lichen in diesem Projekt erhoben werden.238

234 Loetz, Einschreiten, S. 245. 235 PSZ I Bd. 31, Nr. 24.622, S. 642. Dieser Vorschlag wurde bereits 1804 gemacht. Siehe PSZ I Bd. 28, Nr. 21.475, S. 543. Dieselben Vorschläge wurden zur selben Zeit auch vom Leiter der Berliner Impf­ anstalt unterbreitet. Siehe Gins, Krankheit, S. 225. 236 Siehe etwa das Schreiben des Erzbischofs von Jaroslavl’ und Rostov, Avraam, an den Gouverneur von Jaroslavl’, Michail Bravin, vom 15. Mai 1829. GAJaO f. 628, op. 1, d. 4, l. 172 – 173ob. 237 Das optimistische Urteil Arnold Buchholz’, dass „sich in Rußland [im Gegensatz zu England, Frankreich und Deutschland, D. S.] kein Arzt und kein Geist­licher der neuen Impfmethode“ widersetzte, ist unbegründet. Buchholz, Rußlandsammlungen, S. 47. 238 Dies behauptete Jana Klein in ihrer Dissertation aus den 1970er Jahren, ohne allerdings zu erläutern, worauf sich diese Behauptung stützt. Klein, Pocken-Inokulation, S. 43. Seitdem hat sich die Forschung dieser Frage nicht mehr gewidmet.

Die Pockenschutzimpfung

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Gewiss kam es vor, dass sich die jeweiligen Verantwort­lichen nicht in dem Maße für die Verbreitung der Pockenimpfung einsetzten, wie es die Staatsgewalt von ihnen erwartete. Gleichzeitig zeugen die Akten von Beispielen, in denen der Aufruf der Staatsmacht, der sich an die Vertreter verschiedener gesellschaft­licher Gruppen richtete, durchaus auf Verständnis stieß und persön­liches Engagement bewirkte. Aus einem Bericht über den Fortgang der Impfkampagne im Kreis Mologa im Gouvernement Jaroslavl’ geht hervor, dass neben dem Arzt auch der Domgeist­liche zusammen mit seiner Frau im ersten Halbjahr 1825 dreißig Kinder gegen die Pocken impfte. Damit ging mehr als die Hälfte der gesamten Impfungen in Mologa auf das Konto dieses Ehepaares.239 Auch aus dem Kreis Bobrov im Gouvernement Voronež ist die Impftätigkeit zweier Geist­licher überliefert.240 Die Vermutung, dass Geist­ liche, die den Eingriff selbst vornahmen,241 womög­lich auch Überzeugungsarbeit für die Impfung leisteten, liegt nahe, belegen lässt sie sich aber nicht. Das Verhalten des Klerus im Impfprojekt ergibt kein einheit­liches Bild. Auf der einen Seite standen hilfsbereite Pfarrer aus Mologa, Bobrov und Vjatka, auf der anderen Seite gab es Beschwerden über die mangelnde Kooperationsbereitschaft der lokalen Geist­lichkeit. Mit der Gründung der Impfkomitees wurden die Pfarrer zwar verpf­lichtet, die Komitees mit Informationen über die Zahl der Neugeborenen zu versorgen. Doch sie gingen dieser Aufgabe offensicht­lich nicht in dem erforder­lichen Maße nach, denn 1815 wurde dieser Missstand erneut zum Thema in der obersten Verwaltung und mündete in einen weiteren Synodalerlass, der die Geist­lichkeit an ihre neue Pf­licht erinnerte.242 Die lokale Verwaltung hatte aber die Mög­lichkeit, selbst, ohne das Zentrum mit einzubeziehen, nach einer Lösung für solche Probleme zu suchen. So schrieb zum Beispiel der Gouverneur von Voronež der Landpolizei vor, vor der konstituierenden Sitzung der Impfkomitees zu Beginn des Jahres 1812 die Zahl der Kinder in jeder Siedlung zu ermitteln, die noch keine Pocken gehabt hatten.243 Damit reduzierte er die Abhängigkeit des Impfprojekts von der Kooperationsbereitschaft der lokalen Geist­lichkeit. Die Einbeziehung des Klerus in die Impfkampagne war kein Spezifikum des Rus­sischen Reiches, auch wenn hier die Maßnahme angesichts der geringen Präsenz der Staatsgewalt auf lokaler Ebene besonders dringend erscheint. Auch aus 239 Bericht des Kreisarztes von Mologa, Dobroslavskij, an die Medizinal­verwaltung von Jaroslavl’, o. D. GAJaO f. 86, op. 1, d. 311, l. 26. 240 RGIA f. 1299, op. 1, d. 306, l. 243 – 248. 241 Zusätz­lich zu den bereits erwähnten Impfern aus den Reihen des Klerus sei hier auch auf den Dorfgeist­lichen von Pališči im Gouvernement Rjazan’ verwiesen, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts Kinder öffent­lich impfte. Siehe Martin (Hg.), Russia, S. 15. 242 Synodalerlass vom 14. Oktober 1815, in: PSZ I Bd. 33, Nr. 25.963, S. 301 – 302. 243 Schreiben des Gouverneurs von Voronež, Matvej Šter, an den Gouvernementsadelsmarschall, Dmitrij Čertkov vom 8. August 1811. GAVO f. i–30, op. 1, d. 199, l. 2 – 3, hier l. 2ob.

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Medizinal­wesen als Aufgabenfeld lokaler Gesellschaften

dem Westen Europas sind Versuche überliefert, den Klerus zum Verbündeten der Staatsmacht bei der Verbreitung der Pockenschutzimpfung zu machen. Doch überall blieb es letzt­lich die Entscheidung der Geist­lichen selbst, ob und in welchem Maße sie sich an diesem Vorhaben beteiligen wollten.244 Neben den klaren Rollenzuschreibungen etwa an die Geist­lichkeit oder die lokalen Eliten versuchten die Initiatoren des Impfprojekts, Menschen aus verschiedenen sozialen Gruppen dafür zu gewinnen, sich zu Impfern ausbilden zu lassen und mit ihrer Tätigkeit als Vakzinatoren dem medizinischen Personal unter die Arme zu greifen. So wurde beispielsweise ein junger Mann namens Iosif Ionin, der im St. Petersburger Findelhaus eine Ausbildung zum Impfer erhalten hatte, von der Freien Ökonomischen Gesellschaft vor dem Beginn seiner Arbeit im Jahr 1824 wie folgt instruiert: Er solle sich „mit allen Mitteln“ darum bemühen, in jeder Siedlung, in die er als Vakzinator komme, Menschen das Impfhandwerk beizubringen. Nach Mög­lichkeit solle er sie aus den Reihen der Kirchendiener, Verwalter und verständigen Bauern aussuchen. Auffällig ist, dass in der Instruktion die Rede von „Bauern und Bäuerinnen“ ist. Damit wurde Frauen explizit eine öffent­liche Rolle angeboten.245 Die Einbeziehung der Bauern in die Impfkampagne lässt sich einerseits in Kontinuität zur staat­lichen Medizinal­politik seit den 1770er Jahren sehen, die für medizinische Belange lokale Kräfte zu mobilisieren suchte. Andererseits war es ein Novum, denn bisherige Appelle der Staatsgewalt an die Provinz, eine aktive Rolle im Bereich der medizinischen Versorgung zu übernehmen, richteten sich an städtische und länd­liche Gesellschaften. Bauern erschienen, wenn überhaupt, meist in der passiven Rezipientenrolle. In der Pockenschutzkampagne sollten sie nun eine doppelte Funktion erfüllen: dem Mangel an medizinischem Personal Abhilfe schaffen und zugleich als Mittler die Idee der Pockenimpfung in das soziale Milieu tragen, dem sie selbst angehörten.246 Diese Maßnahme folgte derselben Logik wie die Einbindung der Geist­lichkeit in die Impfkampagne: Die Überzeugungsarbeit

244 Siehe etwa Wolff, Maßnahmen, S. 167 – 170. In Preußen etwa durften Lehrer und Pfarrer impfen. Siehe Wolff, Triumph, S. 174; Huerkamp, History, S. 623. In der Habsburgermonarchie setzten Maria Theresia und verstärkt Joseph II. auf die Geist­lichkeit als Vermittler zwischen der Staatsmacht und den Untertanen. Allerdings schien die Geist­lichkeit in Österreich eher im Dienst des Staates zu stehen als anderswo. Siehe dazu Weissensteiner, Pfarrer, S. 39 – 51. Auch eine der prominentesten Gestalten unter Medizinern mit aufgeklärtem Anspruch, Johann Georg Zimmermann, plädierte für ein Bündnis zwischen Ärzten und Geist­lichen bei der Seuchenbekämpfung. Siehe Dinges, Aufklärung bei Zimmermann, S. 141 ff. 245 Instruktion des Zöglings des St. Petersburger Findelhauses, Iosif Ionin, durch die Freie Ökonomische Gesellschaft vom August 1824. GAJaO f. 73, op. 1, d. 803, l. 41 – 41ob., hier l. 41ob. In manchen Gegenden Frankreichs entwickelte sich die Pockenimpfung beinahe zu einer weib­lichen Domäne. Siehe Faure, Vaccination, S. 204. 246 Diese Politik wurde auch in den darauffolgenden Jahrzehnten weiterverfolgt. Siehe Chanykov, Očerk, S. 105.

Die Pockenschutzimpfung

351

sollte nicht nur studierten Ärzten überlassen werden, die als Staatsbeamte nicht überall auf Akzeptanz hoffen konnten. Vielmehr sollten Menschen, die unteren sozialen Gruppen vertraut waren, als Mediatoren fungieren.247 Die zahlreichen Versuche, Vakzinatoren aus den Reihen der Nichtmediziner zu gewinnen, waren nicht immer von Erfolg gekrönt. Der Kreisarzt von Jaroslavl’ meldete der Medizinal­verwaltung im Sommer 1827, dass sich in seinem Kreis niemand bereiterklärt habe, als Vakzinator tätig zu sein.248 Auch sein Kollege aus Uglič berichtete, in seinem Kreis sei niemand zur Impferausbildung geschickt worden.249 Doch auf der anderen Seite stehen das besprochene Beispiel aus dem Gouvernement Voronež und die 6549 Personen, die von der Freien Ökonomischen Gesellschaft von 1823 bis 1833 zu Vakzinatoren ausgebildet wurden. Zahlreiche Leibeigene waren in diesem Sinne tätig.250 Auch Gutsherren impften gegen die Pocken.251 In Städten übernahmen vereinzelt meščane die Pockenimpfung.252 Berichte aus verschiedenen Kreisen an das Impfkomitee des Gouvernements Jaroslavl’ zeugen von nennenswerten Erfolgen privater Vakzinatoren. Einige von ihnen meldeten mehrere hundert Impfungen, frei­lich manchmal auf mehrere Jahre verteilt.253 In Mologa waren im Jahr 1830 folgende Personen als Vakzinatoren tätig: Neben den Arztlehrlingen impfte die Frau des Domgeist­ lichen seit vielen Jahren Kinder gegen die Pocken. Im Auftrag des Impfkomitees wurden in der Kreisstadt außerdem zwei meščane zu Impfern ausgebildet. Auf dem Land 247 Die befürchtete Ablehnung studierter Ärzte war kein rus­sisches Spezifikum. Dieses Verhaltensmuster lässt sich auch im Westen Europas finden. Für Frankreich im Zusammenhang mit der Pocken­ impfung siehe Faure, Vaccination, S. 199 ff., 204. 248 GAJaO f. 628, op. 1, d. 1, l. 75. 249 Bericht des Inspektors der Medizinal­verwaltung von Jaroslavl’, Karl Klejgil’s, an den Gouverneur, Michail Bravin, vom 11. Juli 1827. GAJaO f. 628, op. 1, d. 1, l. 77. 250 Siehe etwa den Bericht des Kreisarztes von Jaroslavl’, Christian Dibek, an die Medizinal­verwaltung vom 1. Juli 1831. GAJaO f. 86, op. 1, d. 490, l. 6 – 7, hier l. 7, den Bericht des Stabsarztes von ­Danilov, Nikolaj Lapčinskij, an die Medizinal­verwaltung von Jaroslavl’ vom Juli 1831. GAJaO f. 86, op. 1, d. 511, l. 1 – 2, hier l. 2 und den Bericht des Kreisarztes von Pošechon’e, Andrej Kritskij, an die Medizinal­verwaltung von Jaroslavl’ vom 31. Mai 1829. GAJaO f. 86, op. 1, d. 392, l. 69. Zur Ausbildung der Vakzinatoren durch die Freie Ökonomische Gesellschaft siehe RGIA f. 91, op. 1, d. 286, l. 64ob.–65. 251 GAJaO f. 86, op. 1, d. 392, l. 63 – 64. Bericht über die Pockenschutzimpfung in Rybinsk, o. D. [1831]. GAJaO f. 86, op. 1, d. 511, l. 7 – 10. 252 Bericht über die Pockenschutzimpfung in Romanov-Borisoglebsk, o. D. [1831]. GAJaO f. 86, op. 1, d. 511, l. 14ob.–15. Auch der Bericht des Impfkomitees des Kreises Uglič an den Gouverneur von Jaroslavl’, Konstantin Poltorackij, vom 2. September 1830. GAJaO f. 628, op. 1, d. 5, l. 224 – 225 gibt eine Liste von Vakzinatoren an, die Menschen aus unterschied­lichen sozialen Kreisen aufführt. Siehe auch den Bericht des Impfkomitees des Kreises Jaroslavl’ an den Gouverneur, Konstantin Poltorackij, vom 13. Oktober 1830. GAJaO f. 628, op. 1, d. 5, l. 232 – 233 und den Bericht des Impfkomitees des Kreises Myškin an den Gouverneur von Jaroslavl’, Konstantin Poltorackij, vom 12. November 1830. GAJaO f. 628, op. 1, d. 5, l. 231 – 231ob. 253 Siehe Impfberichte über private Vakzinatoren, o. D. [1827]. GAJaO f. 628, op. 1, d. 1, l. 24 – 33.

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ließen sich dreizehn leibeigene Hausbedienstete, elf Gutsbauern, sechs Staatsbauern und ein Adliger das Impfhandwerk beibringen.254 In Pošechon’e ließ das Impfkomitee fünfunddreißig Personen zu Impfern ausbilden.255 Außer dem medizinischen Personal nahmen viele Nichtmediziner aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen aktiv an der Impfkampagne teil. In erster Linie waren es aber Leibeigene, die von ihren Gutsbesitzern beziehungsweise Verwaltern zu dieser Tätigkeit veranlasst wurden. So wichtig den Initiatoren des Impfprojekts die Beteiligung der Nichtmediziner war, so wenig hatten sie daran gedacht, solche Vakzinatoren zu entlohnen. In der Gouvernementsverwaltung von Jaroslavl’ trafen im Jahre 1830 Beschwerden von Bauern ein, denen die Impftätigkeit zur Last zu fallen begann. Manche von ihnen drohten sogar, auf die weitere Ausübung der Impftätigkeit zu verzichten, weil sie keinen Lohn dafür bekamen.256 Einige Staatsbauern aus dem Kreis Rostov schrieben in ihrem Bericht an den Kreisarzt, dass sie seit fünf Jahren Kinder gegen die Pocken impften, doch nie Geld für diese Arbeit bekommen und damit ihre Familien in eine prekäre Lage gebracht hätten.257 Erst 1839 wurde beschlossen, Vakzinatoren, die aus den Reihen der Staatsbauern stammten, für ihre Tätigkeit zu entlohnen, wobei das Geld für diesen Zweck in Form von zusätz­lichen Abgaben von den Bauern eingesammelt werden sollte.258 Es lag jedoch im Ermessen der lokalen Bevölkerung, diese Dienstleistung aus eigenen Kräften zu unterstützen. So hatte 1830 ein Beisasse die Stadtduma von Rybinsk gebeten, ihn als Vakzinator einzustellen und ihm ein Jahresgehalt von 120 Rubel zu zahlen. Die städtische Gesellschaft erklärte sich bereit, dem Mann den gewünschten Lohn zu zahlen.259 Ein halbes Jahr zuvor waren in Rybinsk Spenden zugunsten zweier Vakzinatoren in Höhe von 73 Rubel zusammengekommen.260 Im Sommer 1829 waren in derselben Stadt zwei Impfer tätig, die aus einer Spende des Adelsmarschalls finanziert wurden.261 Der ­Gesetzgeber 254 Schreiben des Impfkomitees des Kreises Mologa an den Gouverneur von Jaroslavl’, Konstantin Poltorackij, vom 29. August 1830. GAJaO f. 628, op. 1, d. 5, l. 222 – 222ob. 255 Bericht des Impfkomitees des Kreises Pošechon’e an den Gouverneur von Jaroslavl’, Konstantin Poltorackij, vom 11. September 1830. GAJaO f. 628, op. 1, d. 5, l. 227. 256 Siehe etwa den Bericht der Medizinal­verwaltung von Jaroslavl’ an den Vizegouverneur, Jakov Ipatovič-Garanskij, vom 6. Mai 1830. GAJaO f. 628, op. 1, d. 4, l. 207ob. und den Bericht von fünf Staatsbauern aus dem Kreis Rostov an den Stabsarzt Aleksandr Nikolaevskij vom 30. April 1830. GAJaO f. 628, op. 1, d. 4, l. 209. 257 GAJaO f. 628, op. 1, d. 4, l. 209. 258 Chanykov, Očerk, S. 105. 259 Bericht der Stadtduma von Rybinsk an den Gouverneur von Jaroslavl’, Konstantin Poltorackij, vom 6. September 1830. GAJaO f. 628, op. 1, d. 5, l. 215 – 215ob. 260 Schreiben des Impfkomitees des Kreises Rybinsk an das Impfkomitee des Gouvernements J­ aroslavl’ vom 18. Februar 1830. GAJaO f. 628, op. 1, d. 4, l. 203. 261 Schreiben des Impfkomitees des Kreises Rybinsk an den Gouverneur von Jaroslavl’, Konstantin Poltorackij, vom 2. September 1830. GAJaO f. 628, op. 1, d. 5, l. 223 – 223ob., hier l. 223ob.

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griff in diesen Bereich verhältnismäßig spät ein. Den lokalen Gesellschaften stand es jedoch frei, die Impfkampagne zu fördern. Taten sie es, lässt dies auf eine verhältnismäßig große Bedeutung schließen, die sie der Pockenimpfung beimaßen. Welche Beweggründe könnte es gegeben haben, sich aktiv an der Impfkampagne zu beteiligen? Da die Impfung unentgelt­lich war und Vakzinatoren in der Regel auch nicht von der Gouvernements- beziehungsweise Medizinal­verwaltung oder Impfkomitees entlohnt wurden, entfiel das Motiv, durch die Ausbildung zum Vakzinator die eigene finanzielle Situation aufzubessern. Zwar schlug die Freie Ökonomische Gesellschaft 1825 vor, Vakzinatoren mit diversen Vergünstigungen zu motivieren. Solche Schritte wurden aber erst seit den 1830er Jahren unternommen.262 Bei einzelnen Personen, die sich entsprechend ausbilden ließen, in erster Linie bei Leibeigenen, darf man davon ausgehen, dass die Entscheidung für die Ausbildung vom jeweiligen Gutsbesitzer oder Verwalter getroffen worden war. Unter den Vakzinatoren aus den Reihen der Nichtmediziner befanden sich jedoch auch Menschen, die frei über sich verfügen konnten: Geist­liche, Adlige, meščane. Bei ihnen muss man die Überzeugung, dass es sich bei der Impfung um einen sinnvollen und wichtigen Eingriff handle, als einen mög­lichen Beweggrund in Erwägung ziehen. Was sagen die Verhaltensmuster der lokalen Akteure im Projekt der Pockenschutzimpfung über das Verhältnis zwischen dem Machtzentrum und der Provinz des Reiches aus? Bei der Impfkampagne handelte es sich um ein staat­lich initiiertes Projekt. Der Impuls kam aus der Hauptstadt und wurde von Repräsentanten des Staates in die Provinz getragen. Doch die Staatsgewalt erhob nicht den Anspruch, allein für die Verbreitung der Pockenschutzimpfung zu sorgen. Diese beiden Befunde gelten sowohl für das Medizinal­wesen im Allgemeinen als auch für die Impfkampagne im Besonderen. Die Staatsgewalt übertrug der Provinzbevölkerung eine Vielzahl von Rollen, vor allem die Rolle des Vakzinators und des Vermittlers. Den lokal Ansässigen und der Geist­lichkeit kam also die Aufgabe zu, Überzeugungsarbeit zu leisten, selbst zu impfen und neue Vakzinatoren zu gewinnen. Zwar lassen sich implizite Unterschiede in den Erwartungen ausmachen, die an einzelne soziale Gruppen gestellt wurden: Vom Adel erhoffte man sich eine Vorbildwirkung; der Klerus sollte mit seiner Nähe zur Landbevölkerung und seiner Autorität zur Verbreitung der Impfung beitragen; die Masse der Untertanen erschien in erster Linie als Objekt der Kampagne, das Einsicht in den Nutzen des Eingriffs zeigen und damit eine neue Einstellung gegenüber der eigenen Gesundheit entwickeln sollte. Doch das Besondere am Impfprojekt war die gleichzeitige Einbeziehung aller sozialen Schichten in die aktive Verbreitung der Pockenschutzimpfung.

262 Rundschreiben der Freien Ökonomischen Gesellschaft an die Impfkomitees vom 10. November 1825. GAJaO f. 628, op. 1, d. 2, l. 15 – 16ob., hier l. 15; Chanykov, Očerk, S. 105.

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Wie in anderen medizinalpolitischen Projekten wurden diese Rollen in unter­ schied­lichen Formen angenommen oder abgelehnt. Zugleich entwickelten sich vor Ort verschiedene Initiativen, die auf die Herausforderungen des Impfprojekts antworteten. Hier entstand ein privat gestiftetes Impfhospital, dort bezahlte ein Adelsmarschall zwei Vakzinatoren; eine Stadt stellte gänz­lich ohne Forderungen staat­licherseits einen Impfer ein, den die städtische Gesellschaft finanzierte. Diese Tätigkeit kam als Reaktion auf einen äußeren, vom Zentrum ausgehenden Impuls zustande und entwickelte eine beacht­liche Dynamik, die in einem von der Staatsgewalt abgesteckten Rahmen stattfand.

„Vorurteil“ und „Aberglaube“: Reaktionen auf die Impfkampagne Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit gilt nicht der inneren Logik verschiedener Handlungsmuster, die sich bei der lokalen Bevölkerung als Reaktion auf die staat­ liche Impfkampagne finden lassen. Es geht also nicht darum, Reaktionen zu kategorisieren und die dahinterstehenden Körper- und Krankheitsvorstellungen freizulegen. Hier steht die Kommunikation zwischen den Subjekten und den Objekten der Impfkampagne im Vordergrund. Jedoch sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass den folgenden Überlegungen keine Sichtweise in Dichotomien „modern“ versus „vormodern“, „fortschritt­lich“ versus „rückständig“, „rational“ versus „irrational“ oder „traditionell“ versus „aufgeklärt“ zugrunde liegt. Die Ablehnung der Impfung konnte genauso wie ihre Befürwortung rational begründet und mit einer generellen Offenheit gegenüber medizinischen Innovationen verbunden sein. Der Hinweis auf die Gefahren durch die Variolation (die Lebendimpfung mit Menschenpocken) oder die später eingeführte Vakzination müsste genügen, relativiert er doch den aufgeklärten Topos von der Pockenimpfung als Gradmesser der Zivilisation.263 Den Aufklärern galt jedoch jeg­licher Widerstand seitens der unteren Bevölkerungsgruppen gegen die Impfung in der Regel als Ausdruck des Aberglaubens.264 Da die Bekämpfung der

263 Zu den Gefahren der Variolation siehe Wolff, Maßnahmen, S. 105 – 108. Ferner untersucht Wolff sehr detailliert die unterschied­lichen rationalen medizinischen Gründe für eine Ablehnung der Pockenimpfung: ebd., S. 296 – 361. 264 Zum Beispiel in Bezug auf die geringe Inanspruchnahme akademischer medizinischer Dienste durch die länd­liche Bevölkerung: Alber; Dornheim, Fackel, hier S. 169. Auch Rostislavov sieht die Gründe für die Ablehnung der Impfung in der Unwissenheit und im Aberglauben. Martin (Hg.), Russia, S. 14. Einen Überblick über die Forschung zur Medizinkritik in der europäischen Geschichte bietet Dinges, Einleitung. Zur Darstellung medizinkritischer Bewegungen als Ausdruck der Modernisierungsskepsis mit weiterführenden Literaturhinweisen siehe Wolff, Medizinkritik, S. 79 – 83. Verschiedene Deutungsmuster in Bezug auf die Annahme und Ablehnung der Pocken­ impfung bespricht kritisch Wolff, Maßnahmen, S. 58 – 92.

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Vorurteile und des Aberglaubens zu den wesent­lichen Zielsetzungen der Aufklärer gehörte und einen wichtigen Bestandteil ihres Selbstverständnisses bildete, finden sich in Quellen dieser Provenienz zahlreiche Hinweise auf Vorurteile, denen aufgeklärte Projekte begegneten.265 So enthalten etwa die Aufzeichnungen von Thomas Dimsdale einen wertvollen Hinweis auf einen Aberglauben, von dem ihm ein in Russland tätiger deutscher Arzt berichtete. Diesem Bericht zufolge glaubten manche, dass die Impfung zwar demjenigen helfe, der geimpft werde. Derjenige aber, dem die sogenannte Pockenmaterie entnommen werde, müsse sterben.266 Als Beispiel für die Vorurteile, die dem Impfprojekt im Wege standen, nannte das Ministerkomitee im Jahre 1811 auch die Überzeugung, dass die Aufnahme einer tierischen Materie in den mensch­lichen Körper schäd­lich sei.267 Manche Eltern versuchten, die Impfung ihrer Kinder zu verhindern, etwa indem sie die Impfer bestachen. Solches Verhalten rief staat­licherseits Sanktionen hervor: So drohte der Gouverneur von Kostroma jedem Vakzinator mit dem Gericht, sollte er von „abergläubischen Eltern“ Geld annehmen, um ihr Kind nicht zu impfen.268 Trotz der Erfolge des Impfprojekts blieb der Widerstand in einem nicht näher bestimmbaren Maße bestehen.269 Da den Aufklärern viele Vorurteile gegen die Impfung bekannt waren, unternahmen sie verschiedene Schritte, um gezielt dagegen vorzugehen. Von der breiten Wirkung ihrer Handlungen überzeugt, ließ ­Katharina II. sich selbst und ihrem Sohn die Pockenmaterie entnehmen, um auf diese Art und Weise unter anderem zu

265 Siehe etwa den Synodalerlass vom 10. Oktober 1804, in: PSZ I Bd. 28, Nr. 21.475, S. 542 und PSZ I Bd. 31, Nr. 24.622, S. 640 – 645, hier S. 642. Zum Vorurteil als Topos der Aufklärer im Zusammenhang mit der Impfung siehe Wolff, Maßnahmen, S. 426 – 432. Als Beispiel für die Konstruktion des aufgeklärten Arztes, dem ein von Vorurteilen geprägtes Landvolk gegenübersteht, könnte Johann Georg Zimmermann dienen. Siehe Dinges, Aufklärung bei Zimmermann. Zum Verhältnis der Aufklärer zum Volk im Preußen des ausgehenden 18. Jahrhunderts siehe Conrad, Elite, S. 1 – 15. Die überkommene Betrachtung des Verhältnisses zwischen „Volk“ und „Aufklärern“ in Dichotomien ersetzt durch Polyvalenzmodelle Loetz, Einschreiten. 266 SIRIO Bd. 2, S. 307 f. Siehe auch Klein, Pocken-Inokulation, S. 43, allerdings ohne Quellennachweis. 267 PSZ I Bd. 31, Nr. 24.622, S. 642. Dabei handelte es sich nicht sch­licht um einen im Volk verwurzelten Aberglauben. Die Befürchtung, dass eine Verbindung einer tierischen Substanz mit dem Menschenkörper unerwünschte Wirkungen haben könnte, wurde auch bei Gegnern der Kuh­pockenimpfung aus den Reihen der Mediziner laut. Wolff, Triumph, S. 167. 268 Regeln und Pf­lichten der Pockenimpfer, erstellt vom Impfkomitee des Gouvernements Kostroma, vom 11. Juni 1828. GAJaO f. 628, op. 1, d. 2, l. 47 – 48, hier l. 47. 269 Noch 1832 stellte die ablehnende Haltung der Bevölkerung in den Augen mancher Mediziner ein großes Hindernis für die Impfkampagne dar. Siehe den Bericht der Medizinal­verwaltung von ­Jaroslavl’ an den Gouverneur, Konstantin Poltorackij, vom 13. September 1832. GAJaO f. 628, op. 1, d. 5, l. 244 – 244ob., hier l. 244.

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zeigen, dass man daran nicht sterbe.270 Als die Staatsgewalt daranging, die Impfung mit Kuhpocken in großem Stil zu verbreiten, sollte vor allem der Landbevölkerung gegenüber verschwiegen werden, dass es sich dabei um Kuhpocken handelte. Stattdessen sollte man nur von der Schutzimpfung sprechen.271 In Russland betonten die Aufklärer – und die Bürokratie – genauso wie im Westen Europas die Unwissenheit der Landbevölkerung und deren Angst vor Neuem oft übermäßig.272 Auffällig ist der Glaube an den Erfolg der Aufklärungskampagne, der in den höheren Kreisen der Bürokratie herrschte. Wenn es um die Verbreitung der Pocken­ impfung ging, so schienen sich Mediziner und die Verwaltung darin einig zu sein, dass das Volk sich gegen die Impfung sträube, weil es dumm, misstrauisch und voreingenommen sei. Doch gleichzeitig schimmerte durch die Anweisungen der für die Aufklärer typische Glaube an die Vernunft des Menschen durch. So schrieb das Ministerkomitee im Mai 1811: „Der offensicht­liche Nutzen der Kuhpockenimpfung im Vergleich zu natür­lichen Pocken wird natür­lich mit der Zeit auch einen sehr misstrauischen [Menschen] überzeugen […].“ 273 Auf lokaler Ebene lassen sich bisweilen andere Überzeugungsstrategien finden. Das Impfkomitee des Gouvernements Kazan’ appellierte mit folgenden Worten an die Geist­lichkeit, sie möge sich aktiv an der Verbreitung der Pockenschutzimpfung beteiligen: Geist­liche seien dem Jakobusbrief, Kapitel 5, Vers 14, zufolge „Seelen­ärzte“ und würden auch bei körper­lichen Leiden gerufen, um dem Beispiel des guten Samariters oder gar dem Beispiel Jesu zu folgen, der einem Blinden das Augen­licht geschenkt und Aussätzige geheilt habe. Aus Nächstenliebe könnten Geist­liche auch zu „Körperärzten“ werden, zumal sie über eine gewisse Bildung verfügten. Sie könnten sich mithilfe von Ärzten, deren Lehrlingen und Vakzinatoren schnell und gründ­lich mit den Regeln der Pockenimpfung vertraut machen und dadurch Kindern in ihren Gemeinden das Leben retten.274 Später schrieb die

270 SIRIO Bd. 2, S. 314. Die Angst, ein Pockenkranker oder ein Impfling könnte sterben, wenn man ihm Pockenmaterie entnehme, war nicht nur in Russland verbreitet. Siehe etwa Faure, Vaccination, S. 202. 271 PSZ I Bd. 31, Nr. 24.622, S. 341. Siehe auch das Rundschreiben der Freien Ökonomischen Gesellschaft an die Gouvernementskomitees für die Verbreitung der Pockenschutzimpfung vom 22. Juni 1825. GAJaO f. 73, op. 1, d. 803, l. 24 – 24ob., hier l. 24ob. 272 Siehe Raeff, Police State, S. 113. 273 Kaiser­lich bestätigter Beschluss des Ministerkomitees vom 3. Mai 1811, in: PSZ I Bd. 31, Nr. 24.642, S. 640 – 645, hier S. 642. Ähn­lich auch in GAJaO f. 73, op. 1, d. 803, l. 41. 274 Rundschreiben der Freien Ökonomischen Gesellschaft an die Impfkomitees vom 19. August 1820. GAJaO f. 628, op. 1, d. 2, l. 60 – 64ob., hier l. 60 – 60ob. Einer ähn­lichen Argumentation begegnet man bei Franz Giftschütz: Leitfaden für die in den k. k. Erblanden vorgeschriebenen deutschen Vorlesungen über die Pastoraltheologie. 2. Teil. Wien 1785, S. 150 ff., zitiert nach Weissensteiner, Pfarrer, S. 41: „Weil indessen der Seelensorger ein allgemeiner Menschenfreund seyn muß, so soll er doch wohl auch Sorge tragen, daß in der Gesundheit nichts vernachläßiget werde; und man kann

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Freie Ökonomische Gesellschaft der lokalen Geist­lichkeit vor, bei jeder Taufe die Eltern von der Notwendigkeit der Pockenschutzimpfung zu überzeugen und ihre Vorurteile zunichte zu machen.275 Mit der Zeit wurde der Blick der Aufklärer auf die Bevölkerung differenzierter. Einen wesent­lichen Beitrag dazu leistete die Arbeit der lokalen Impfkomitees. In Kazan’ gingen die Mitglieder des Komitees davon aus, dass zwischen dem Bildungsgrad eines Menschen und der Bereitschaft, seine Kinder gegen die Pocken impfen zu lassen, ein unmittelbarer Zusammenhang bestehe.276 Empirisch beweisen lässt sich diese Vermutung anhand des gesichteten Materials nicht. Auch ist dieses Urteil nicht frei von der aufgeklärten Ansicht, dass der bloße Zugang einzelner Bevölkerungsgruppen zu Informationen über die Impfung sie von deren Nutzen überzeugen würde. Dennoch weist es auf einen wichtigen kleinen Schritt hin, den Vertreter der Verwaltung, der Geist­lichkeit und lokaler Gesellschaften hin zu einem besseren Verständnis der lokalen Zusammenhänge machten. Die Ablehnung der Pockenimpfung durch Teile der länd­lichen Bevölkerung erschien zumindest in einem Gouvernement nicht mehr nur als Aberglaube, sondern wurde auf eine konkrete Ursache zurückgeführt, näm­lich den niedrigen Bildungsgrad. Die Freie Ökonomische Gesellschaft teilte diese Beobachtung allen anderen Impfkomitees des Reiches mit. Auf diese Art und Weise sollte eine Erkenntnis, die in einem lokalen Zusammenhang entstanden war, aus ihrem regionalen Kontext herausgenommen und anderen Gouvernements zur Verfügung gestellt werden. Gegner der Pockenschutzimpfung fanden sich jedoch nicht nur in der ungebildeten länd­lichen Bevölkerung. Es kam vor, dass Geist­liche – ganz entgegen der Forderung des Staates – Eltern vor der Pockenimpfung warnten.277 In der historischen Literatur wird auch der Glaube erwähnt, den Pockentoten sei das Paradies sicher.278 Dies war aber keine für den rus­sisch-orthodoxen Glauben spezifische Sichtweise. Denselben Bedenken begegnet man etwa bei manchen Pietisten im norddeutschen es ihm ja nicht verargen, wenn er in Abgang eines einsichtigen Arztes sich auch um den leib­lichen Wohlstand kümmert. Der Heiland machte bey Manchen eher den Arzt, als er den Lehrer machte.“ Das Motiv von der großen Nähe zwischen Ärzten und Priestern findet sich im ausgehenden 18. Jahrhundert auch bei franzö­sischen Denkern. Siehe dazu Foucault, Klinik, S. 49. Auch im lutherischen Hamburg forderten manche Kreise die Beteiligung der Geist­lichen an der „Beförderung der irrdischen Wohlfarth ihrer Nebenmenschen“. Siehe Kopitzsch, Durchsetzung, S. 230 f. 275 GAJaO f. 628, op. 1, d. 5, l. 247. Auch in der Habsburgermonarchie wurde die Taufe dazu genutzt, die Eltern an die Pockenschutzimpfung zu erinnern. Siehe dazu Weissensteiner, Pfarrer, S. 43 f. 276 GAJaO f. 628, op. 1, d. 2, l. 62ob. Dieselbe Deutung findet sich für das Deutsche Reich bei Kübler, Geschichte, S. 236. Siehe auch Wolff, Maßnahmen, S. 287. 277 Pratt, Free Economic Society, S. 567. Nicht nur in Russland fanden sich unter den Geist­ lichen Menschen, die gegen die Pockenschutzimpfung Widerstand leisteten. Zu Österreich siehe Weissensteiner, Pfarrer, S. 44. 278 So Klein, Pocken-Inokulation, S. 43, leider ohne Quellennachweis; Rovinskij, Kartinki, S. 263.

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Raum in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts,279 womit auch an dieser Stelle der scheinbare Gegensatz zwischen „europäischen“ medizinischen Methoden und einer als rus­sisch bezeichneten medikalen Kultur widerlegt wäre.280 Die „fremde“ Medizin war die von der Staatsgewalt propagierte akademische Medizin. Ihr Widerpart lässt sich nur bedingt anhand von ethnischen oder geographischen Merkmalen charakterisieren. Sowohl das akademische Wissen als auch die Opposition gegen dessen staat­licherseits betriebene Verbreitung waren europaweit vorhanden. Auch wenn die Pockenschutzimpfung Widerstände hervorrief, Eltern ihre Kinder versteckten, Impfbescheinigungen fälschten oder einfach nur aus Angst vor dem Eingriff und dessen Folgen weinten, wäre die Annahme falsch, mit der Impfung hätte die Staatsgewalt eine Maßnahme aus der akademischen Medizin in die nichtakademische medikale Kultur getragen, die der Bevölkerung fremd sein musste. Auch darf die Ablehnung der Impfung durch Teile der Bevölkerung nicht den Blick darauf verstellen, dass in der Zeit von 1804 bis 1814 nach offiziellen Angaben immerhin knapp zwei Millionen und zwischen 1824 und 1832 weitere viereinhalb Millionen Kinder gegen die Pocken geimpft wurden.281 So viele Impfgegner zu zwingen, ihre Kinder impfen zu lassen, stand nicht in der Macht der zarischen Verwaltung. Wie in vielen anderen Ländern war auch in Russland die Impfung mit Menschenpocken lange Zeit vor der staat­lichen Impfkampagne bekannt gewesen.282 Damit war es nicht notwendigerweise die Prozedur an sich, die auf eine breite Ablehnung stieß, auch wenn die individuelle Angst vor einem Eingriff in den Körper nachvollziehbar erscheint. Versuche, die eigenen Kinder vor der Impfung zu bewahren, rührten vielmehr daher, dass vor allem die länd­liche Bevölkerung sich einem beispiellosen und ungebetenen Eingriff des Staates in Gestalt seiner Medizinal­beamten in eine diesem bisher weitgehend verschlossen gebliebene Sphäre ausgesetzt sah.283

279 Kopitzsch, Durchsetzung, S. 231. 280 Andreas Renner spricht von einer „Grenze zwischen europäischen und rus­sischen Elementen“. Renner, Autokratie, S. 29. Zwar fokussiert seine Untersuchung die Verwischung dieser Grenze, doch wird sie – wie auch der Buchtitel nahelegt – zwischen „europäisch“ und „rus­sisch“ gezogen. 281 GAJaO f. 73, op. 1, d. 803, l. 18a; RGIA f. 91, op. 1, d. 286, l. 64ob.–65. 282 Gmelin, Reise, Erster Theil, S. 94 f.; Kübler, Geschichte, S. 116 ff.; Klein, Pocken-Inokulation, S. 39 f.; Alexander, Bubonic Plague, S. 55; Gubert, Ospa, S. 224; Taradin, Materialy, S. 504. Die Frau des britischen Botschafters in Konstantinopel hatte zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf die Impfung mit Menschenpocken in der Volksmedizin hingewiesen. Siehe Wolff, Triumph, S. 163 ff. Auch die Immunität der mit den sogenannten Kuhpocken infizierten Personen gegen die Menschenpocken war der Landbevölkerung verschiedener Länder aufgefallen. Kübler, Geschichte, S. 144 f. 283 Beispiele für eine Ablehnung der Pockenimpfung aus politischen und konfessionellen Gründen sind etwa aus Baden überliefert. Damit bedeutete der Widerstand gegen diese staat­lich vorangetriebene Maßnahme nicht vorrangig einen Konflikt zweier medikaler Kulturen. Siehe dazu Loetz, Einschreiten, S. 253 f. Diesen Grund neben zahlreichen anderen nennt auch Wolff, Triumph, S. 159, 169.

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Die Grundlage für die ablehnende Haltung bildete jene Skepsis gegenüber Vertretern der Staatsgewalt, die in Bezug auf die Mediziner bereits zur Sprache kam. In der europäischen Geschichte sind auch außerhalb Russlands Beispiele für eine Ablehnung der Impfung in erster Linie aufgrund ihres Charakters einer staat­lichen Disziplinierungsmaßnahme überliefert. „Speziell dort, wo die Vakzination von einer neuen Herrschaft eingeführt wurde, konnte diese medizinische Maßnahme schnell als eine politische verstanden werden.“ 284 Diese Feststellung lässt sich auch auf den Fall des Zarenreichs übertragen, in dem die „neue Herrschaft“ die der autokra­ tischen Staatsgewalt in der Provinz war. Wie in anderen Fällen der Begegnung zwischen der Landbevölkerung und Medizinal­beamten waren das persön­liche Ansehen, das Vertrauen und der Ruf des jeweiligen Arztes und anderer Vakzinatoren wichtig für den Erfolg der Impfkampagne.285 Der Erfolg der einzelnen Vakzinatoren wurde in hohem Maße von deren Auftreten bestimmt, weswegen der persön­lichen Integrität der Impfer eine besondere Bedeutung beigemessen wurde. Nur diejenigen von ihnen, die bei den Eltern Vertrauen zu erwecken vermochten, konnten viele Kinder gegen die Pocken impfen. Auch wurden Vakzinatoren angehalten, Kindern mit mög­lichst viel Zärt­lichkeit und Freund­lichkeit zu begegnen.286 Vakzinatoren sollten nicht nur gute mensch­ liche Qualitäten aufweisen, sondern mussten auch ihr Handwerk gut beherrschen, denn erfolglose Impfungen könnten dazu führen, dass die Impfbereitschaft in einer Gruppe deut­lich zurückging, stellte die Verwaltung fest.287 Die Einbeziehung von Nichtmedizinern in dieses Projekt schuf somit nicht nur dem Personalmangel Abhilfe. Sie konnte auch dazu beitragen, dass die Grenze zwischen Staatsdienern und dem Objekt staat­licher Medikalisierungspläne fließender wurde.288 Bauern, Frauen von Geist­lichen, meščane und andere, die das Impfhandwerk erlernten und sich daran machten, ihresgleichen vom Nutzen der Pockenimpfung zu überzeugen, waren der Beweis dafür, dass die Träger dieses großen Projekts der Volksaufklärung bei weitem nicht nur auf die Bürokratie und geistige Eliten beschränkt blieben.

284 Wolff, Maßnahmen, S. 363. 285 Faure, Vaccination, S. 192, 199. 286 GAJaO f. 628, op. 1, d. 5, l. 247ob. 287 In einem Dorf im Kreis Starobel’sk im Gouvernement Voronež hätten Bauern wegen einer anfäng­ lich schlechten Impfung Angst vor dieser Operation gehabt, so das Sitzungsprotokoll der Eparchial­ verwaltung von Voronež vom 17. August 1820. GAVO f. i–84, op. 3, d. 33, l. 2 – 3, hier l. 2. Auch für Sachsen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde herausgefunden, dass Zweifel an der Wirksamkeit der Impfung eines der zentralen Argumente der Impfgegner waren. Siehe Wolff, Medizinkritik, S. 82. 288 Auch in Schleswig-Holstein war „die Zusammenarbeit von Ärzten und Laien […] ein wichtiger Faktor für die Durchsetzung der Impfungen“. Kopitzsch, Durchsetzung, S. 234 – 237, Zitat S. 236.

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Mittel der Propaganda: Bilder und Schriften Einer der wichtigsten Bestandteile des Projekts zur Pockenschutzimpfung war die Verbreitung der Kenntnis von deren Nutzen und vom Ablauf der Prozedur selbst. Die Auswahl der Medien, derer sich die Befürworter der Impfung bedienten, war vielfältig. Nachdem die Rolle der lokalen Bevölkerung und der Geist­lichkeit als Multiplikatoren geschildert worden ist, soll hier abschließend die Sprache auf die Nutzung anderer, zum Teil neuer Mittel kommen. Das Informationsangebot zur Pockenschutzimpfung für Lesekundige war viel­ fältig. Es umfasste medizinische Ratgeber für Laien und verschiedene Presseerzeugnisse.289 Der Dorfspiegel aus den 1790er Jahren enthielt ein Kapitel zur Pockenschutz­ impfung.290 Eine so breit rezipierte Zeitung wie die Sanktpeterburgskie vedomosti (St. Petersburger Nachrichten) berichtete aus anderen Ländern über die Pocken und über verschiedene Maßnahmen zu deren Bekämpfung.291 Aber auch andere Presseorgane widmeten sich dem Thema der Pockenimpfung. Eine Zeitschrift mit dem programmatischen Namen Drug prosveščenija (Der Freund der Aufklärung) publizierte zum Beispiel im Jahre 1804 die Übersetzung eines Artikels über die Verbreitung der Vakzination in Frankreich.292 In Bezug auf den Drug prosveščenija lässt sich gut nachvollziehen, wer die Leser dieses Organs waren.293 In Moskau, dem Erscheinungsort der Zeitschrift, hatten sie vierzig Personen abonniert. Darunter waren mindestens drei Kaufleute und neun Adlige,294 wobei zu den Letzteren Vertreter der hohen Aristokratie zählten: die Fürstin Daškova und der Fürst Daškov, die Gräfin Razumovskaja, die Fürstin ­Dolgorukova, der Fürst Gorčakov und der Graf Bezborodko. Unter den vierzig Abonnenten waren sieben Frauen, wobei ihr Anteil unter den adligen Lesern besonders hoch war.295 In St. Petersburg wurden dagegen nur vier Exemplare abonniert, davon zwei von staat­lichen Einrichtungen. Vierzehn Exemplare gingen in die europäische 289 Medizinische Fachzeitschriften bleiben hier ausgeklammert, da sie sich ausschließ­lich an ein medizinisch vorgebildetes und wissenschaft­lich interessiertes – und damit zahlenmäßig geringes – Publikum wandten und nicht das Ziel verfolgten, Nichtmediziner über bestimmte Themen aufzuklären. 290 Derevenskoe zerkalo Bd. 3, S. 160. Ausführ­licher zu dieser Quelle in Kapitel 2.2. Siehe ferner Wolff, Maßnahmen, S. 401. 291 Klein, Pocken-Inokulation, S. 42 f. 292 Korov’ja ospa, in: Drug prosveščenija Nr. 2 vom Februar 1804, S. 167 – 177. 293 Dieselbe Ausgabe, in der sich der Artikel zur Pockenimpfung befand, enthält auch eine Abonnentenliste. Drug prosveščenija Nr. 2 vom Februar 1804, o. S. 294 Eine genaue Zuordnung der Abonnenten ist nicht mög­lich, da 26 Personen in der Abonnentenliste ohne Stand oder sogar anonym erscheinen. 295 Von den neun adligen Abonnenten waren fünf Frauen. Von den übrigen zwei ist ebenfalls anzunehmen, dass sie den höheren gesellschaft­lichen Kreisen angehörten. Zum Lesepublikum im Zarenreich des 18. und frühen 19. Jahrhunderts siehe Samarin, Čitatel’; Bljum, Massovoe čtenie.

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Provinz des Reiches, wobei in der Regel nur eine, maximal drei Personen in einer Stadt die Zeitschrift lasen.296 In Jaroslavl’ abonnierten zwei adlige Frauen den Drug ­prosveščenija, darunter die Gattin des Gouverneurs Golicyn, in Novgorod hatte nur ein Bischof die Zeitschrift bestellt. Ein kursorischer Blick in die Presse des ausgehenden achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts zeigt, dass die Pockenschutzimpfung im Vergleich zu anderen medizinischen Themen nicht besonders häufig behandelt wurde. Sogar die Sanktpeterburgskie vračebnye vedomosti (St. Petersburger medizinische Nachrichten) sprachen in den ersten anderthalb Jahren ihres Erscheinens die Pocken in keinem einzigen Artikel an, obwohl der Herausgeber im ersten Heft verkündete: „Ich hoffe, dass diese Schrift, welche die Verbreitung allgemeinverständ­licher Wahrheiten der medizinischen Wissenschaft und die Vorstellung der Mittel zum Bewahren oder Wiederherstellen der Gesundheit zum Ziel hat, von allgemeinem Nutzen sein wird …“.297

Wenn der Herausgeber einer medizinischen Zeitschrift die Pockenschutzimpfung in den ersten vierzig Ausgaben nicht behandelte, kann man daraus schließen, dass dieses Thema am Ende des achtzehnten Jahrhunderts in der Öffent­lichkeit keine herausragende Bedeutung besaß. Dabei wäre gerade dieses Presseorgan dafür prädestiniert gewesen, größere Personengruppen für die Verbreitung der Impfung zu gewinnen. Zwar konzentrierten sich die Leser der Sanktpeterburgskie ­vračebnye vedomosti auf die beiden Hauptstädte. Doch fand das Blatt auch zahlreiche Abonnenten in der Provinz: Adlige aller Ränge, Kaufleute und Mediziner in knapp zwanzig Städten.298 Verhältnismäßig weiter verbreitet war das Thema Pockenimpfung in der Ratgeberliteratur: sowohl in Form von Artikeln in größeren medizinischen Handbüchern als auch in eigenständigen Veröffent­lichungen, die sich an unterschied­liche Leserkreise richteten.299 Es waren nicht nur Privatpersonen, die aus verschiedenen Beweggründen medizinische Handbücher und Ratgeber verfassten, die unter anderem die Pockenimpfung behandelten. Christian Pecken, wissenschaft­licher Sekretär des 296 Etwa in Penza, Novgorod, Vjaz’ma oder Vologda gab es jeweils einen Abonnenten, in Jaroslavl’ zwei, in Galič drei. 297 Widmung in: Sanktpeterburgskie vračebnye vedomosti Nr. 1 vom 2. November 1792, o. S. 298 Liste der Abonnenten ebd. 299 Zum Beispiel: Art. „Ospoprivivanie“, in: Čulkov, Sel’skij lečebnik Bd. 3, S. 1980 – 1986. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass das große Kompendium von Engalyčev zwar einen Artikel zur Pockenkrankheit und ihrer Behandlung enthält, die Existenz einer Impfung jedoch mit keinem Wort erwähnt. Engalyčev, O prodolženii. Auch die zahlreichen Artikel zu medizinischen Themen aus der Feder Andrej Bolotovs berühren das Thema der Pockenschutzimpfung nicht. Siehe Brown, Landowner, S. 118. Von den Monographien sei hier genannt: Bacheracht, Opisanie.

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Medizinal­wesen als Aufgabenfeld lokaler Gesellschaften

Medizinal­kollegiums und Gründungsmitglied der Freien Ökonomischen Gesellschaft, verfasste eine allgemeinverständ­liche Anleitung zur Behandlung der Pocken, die sich an die Landbevölkerung richtete.300 Auch die Regierung überlegte im frühen neunzehnten Jahrhundert, mithilfe von Büchern größere Bevölkerungsgruppen vom Nutzen der Impfung zu überzeugen. Das Medizinisch-Philanthropische Komitee erließ 1805 eine Aufklärungsschrift, mit der es für die Impfung warb.301 In seinem großen Bericht aus dem Jahr 1811 schlug der Ministerrat dem Medizinal­rat vor, ein Buch über die Vakzination für einfache Leute zu verfassen. Man könnte es in alle Provinzsprachen übersetzen und zunächst einmal auf Staatskosten im ganzen Reich versenden.302 Diese Initiative mündete in eine breite Kampagne, in deren Zuge mehrere Tausend Broschüren und Bilder in die Provinz geschickt wurden. Allein im Herbst 1813 verschickte das Polizeiministerium eine beeindruckende Menge von Exemplaren einer Impfanleitung in rus­sischer Sprache: im September 4400 Stück, im November 2820 und kurze Zeit später zwischen 50 und 250 Exemplaren in jedes Gouvernement.303 Von der Aufklärungskampagne sollte nicht nur die rus­ sischsprachige Bevölkerung erfasst werden. In den Akten aus den Jahren 1813 und 1814 werden Übersetzungen ins Polnische und ins Tatarische erwähnt, die ebenfalls in die entsprechenden Gegenden verschickt wurden.304 Dass diese Kampagne der Regierung nicht nur auf taube Ohren stieß, zeigt etwa das Beispiel des Bischofs von Kaluga, der die Impfanleitung aus Eigeninitiative in die komi-syrjanische Sprache übersetzte. Zielgruppe waren Ethnien, die im Gouvernement Vologda und in den angrenzenden Gouvernements lebten. Ende 1813 wurde seine Übersetzung vom Generalstabsdoktor genehmigt und vervielfältigt.305 Periodika und Ratgeber richteten sich an höhere gesellschaft­liche Kreise, so dass das Wissen um den Nutzen der Pockenimpfung von diesen in die unteren sozialen Schichten getragen werden konnte. Sie konnten – und sollten – als Mittler und Multiplikatoren fungieren: Gutsbesitzer würden ihre Bauern impfen lassen, lesekundige 300 Peken, Sposob. Siehe auch Chodnev, Obzor, S. 30. 301 Sposob izbavit’sja soveršenno ot ospennoj zarazy. 302 PSZ I Bd. 31, Nr. 24.622, S. 643 f.; Kopie des Rundschreibens des Polizeiministers, Aleksandr Balašov, über die Verbreitung der Kuhpockenimpfung vom 3. Mai 1811. GAVO f. i–30, op. 1, d. 199, l. 4 – 5, hier l. 5. 303 Siehe die Korrespondenz des Medizinal­departements des Polizeiministeriums und des Generalstabsdoktors des zivilen Ressorts, Alexander Crichton, vom 24. September, 14. November und 22. November 1813. RGIA f. 1299, op. 2, d. 206, l. 1 – 5. 304 Siehe das Schreiben des Polizeiministers, Sergej Vjazmitinov, an den Generalstabsdoktor des zivilen Ressorts, Alexander Crichton, vom Dezember 1813 und die Liste der Exemplare der Impfanleitung in tatarischer Sprache vom 28. Februar 1814. Beide Dokumente in RGIA f. 1299, op. 2, d. 206, l. 39 bzw. 67. 305 Schreiben des Generalstabsdoktors des zivilen Ressorts, Alexander Crichton, vom Dezember 1813 (Empfänger unbekannt). RGIA f. 1299, op. 2, d. 206, l. 31 – 31ob.

Die Pockenschutzimpfung

363

Städter könnten anderen Stadtbewohnern mit eigenem Beispiel vorangehen. Doch die Initiatoren der Impfkampagne versuchten, auch untere soziale Gruppen direkt zu erreichen. Eines der größten Probleme, die sich der Verbreitung der Impfung in den Weg stellten, war die hohe Analphabetenrate. Also musste man andere Informationsmittel finden, die die Botschaft ohne Schrift vermittelten. Im Auftrag des Polizeiministeriums wurden im zweiten Dezennium des neunzehnten Jahrhunderts zahlreiche Bildergeschichten an lokale Impfkomitees verschickt.306

Abb. 1: Volksbogen vom Nutzen der Pockenimpfung

306 In Farbe sind sie zu sehen in Gubert, Ospa, im Ausstellungskatalog von Goltz, Zarin, S. 137, 139 und in Rovinskij, Kartinki.

364

Medizinal­wesen als Aufgabenfeld lokaler Gesellschaften

Abb. 2: Volksbogen vom Nutzen der Pockenimpfung

Diese Aufklärungsbilder waren stets nach demselben Prinzip aufgebaut. Weil sie aus einem Text- und einem Bildteil bestanden, der die wesent­liche Botschaft unabhängig vom Text transportierte, waren sie auch für Analphabeten geeignet. Die Geschichten handelten in der Regel von einer Begegnung zwischen Menschen, die durch Pocken entstellt waren, mit solchen, die dank einer Kuhpockenimpfung gesund blieben: Einmal waren es Väter mit ihren Kindern (Abb. 1), einmal junge Männer (Abb. 2) oder junge Frauen, die sich über einen pockennarbigen jungen Mann lustig machten (Abb. 3). Diejenigen, die von den Pocken gezeichnet waren, wurden zum Gespött der Gesunden, die sie unabhängig von der Altersstufe mieden. Gesunde Kinder wollten nicht mit pockennarbigen spielen, hübsche junge Frauen machten einen großen Bogen um entstellte Jünglinge. In den Begleittexten beklagten die Pockennarbigen ihr Schicksal, wobei sowohl Kinder als auch Erwachsene ihren Eltern die Schuld an ihrem Unglück gaben.

Die Pockenschutzimpfung

365

Abb. 3: Volksbogen vom Nutzen der Pockenimpfung

Im Gegensatz zu aufgeklärten Diskursen über die christ­liche Pf­licht, die eigene Gesundheit und die seiner Nächsten zu schützen, und über die Verantwortung der Eltern für ihre Kinder appellieren diese Bildergeschichten an andere Gefühle: Sie rücken die Elternliebe in den Vordergrund. Als Schreckensszenario erscheint darin nicht die Bestrafung einer Sünde, sondern das Unglück der geliebten unschuldigen Kinder, die durch die Entscheidung der Eltern gegen die Pockenimpfung ein elendes Dasein fristen.

366

Medizinal­wesen als Aufgabenfeld lokaler Gesellschaften

5. 5   Zu s a m me n f a s s u ng So wie die rus­sische Staatsgewalt im Medizinal­wesen allgemein als Initiatorin auftrat, fungierte sie auch in jenem Bereich impulsgebend, der die Beteiligung der Bevölkerung an der medizinischen Versorgung betraf. Es war Teil des staat­lichen Projekts, das Medizinal­wesen auch zu einem gesellschaft­lichen Anliegen zu machen. Inwieweit war dieses Unternehmen gelungen? Die Reichweite der staat­lichen Initiative muss in beiden Bereichen gemessen werden, in denen sich die lokale Bevölkerung am Medizinal­wesen beteiligte: der Erfüllung neuer Pf­lichten und der Eigeninitiative im medizinischen Bereich. Die Betrachtung jener Aktivitäten, die sich auf lokaler Ebene entfalteten, legt auf den ersten Blick folgenden Schluss nahe: Die Staatsmacht erließ Vorgaben, und verschiedene Bevölkerungsgruppen auf lokaler Ebene reagierten darauf. Bei genauerem Hinsehen erscheint eine solche Vereinfachung jedoch unzulässig. Indem die Staatsgewalt dem Adel und den städtischen Gesellschaften neue Aufgaben zuwies, schrieb sie diesen Gruppen neue Rollen zu. Diese Rollen wurden von ganzen Gesellschaften und von einzelnen Individuen nicht nur darauf geprüft, inwiefern sie den individuellen oder gemeinschaft­lichen Interessen dienten, sondern auch darauf, inwieweit sie mit dem Selbstverständnis eines Individuums, eines Standes oder einer Gesellschaft kompatibel waren.307 Versprach eine neue Rolle keinen Nutzen im Erlebnishorizont etwa eines Provinzadligen oder ergab sich ein Widerspruch zwischen einer neuen Rolle und seinem Selbstverständnis, lehnte er sie ab. Die Unterschiede zwischen den Handlungsmustern verliefen meist entlang der ständischen Grenzen, vor allem zwischen Adel und Kaufmannschaft. Die beiden sozialen Gruppen entwickelten seit der Jahrhundertwende immer deut­lichere distinktive Merkmale, die auch mit Unterschieden im Selbstbewusstsein und Habitus einhergingen.308 Dieses Verhaltensmuster kam etwa zum Vorschein, wenn Adlige und Kaufleute dem Appell ­Katharinas II. nicht in dem gewünschten Maße folgten und die Tätigkeit der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge in den ersten Jahren ihrer Existenz sehr viel weniger unterstützten, als es die Staatsmacht von ihnen erwartete. Sich konstituierende lokale Gesellschaften waren nicht bereit, die medizinische Versorgung der Provinz zu tragen, vor allem weil die neuen Einrichtungen keinen oder nur wenig Nutzen für die Eliten versprachen. Dagegen entsprach es dem neuen

307 David Ransel betrachtet die kaufmännische Wohltätigkeit als Ausdruck eines Selbstverständnisses als Staatsbürger, wobei er sich in erster Linie auf die Unterstützung religiöser Einrichtungen bezieht. Siehe Ransel, Russian Merchants, S. 419 f. 308 Für die Kaufmannschaft siehe ebd., S. 428. Nach Marc Raeff fiel die Identitätsbildung sozialer Gruppen in die katharinäische Zeit. Siehe Raeff, Police State, S. 239.

Zusammenfassung

367

Selbstverständnis der Kaufleute, als Gründer von Krankenhäusern aufzutreten, was sich in der explosionsartig gestiegenen Wohltätigkeit um die Jahrhundertwende äußerte. Die Reaktion lokaler Eliten auf neue Rollen bedeutete keinen einseitigen Prozess, bei dem die von oben kommende Initiative bloß auf Ablehnung oder Akzeptanz stieß. Indem Akteure in der Provinz auf das Handeln der Staatsgewalt reagierten, gaben sie ihr eine Rückmeldung über die Erfolgsaussichten des jeweiligen Projekts. Das, was bisweilen wie passiver Widerstand anmutete, war ein wesent­licher Bestandteil in der Kommunikation zwischen Zentrum und Peripherie. Dabei darf man nicht nach expliziten Erklärungen der Akteure für ihr Handeln oder vielmehr für ihr Nichthandeln suchen. Viel häufiger war die stillschweigende Unterlassung erwarteter Handlungen. Abwesenheit auf Benefizveranstaltungen oder das Ausbleiben von Spenden waren aussagekräftig genug, um anderen Kommunikationsteilnehmern die eigene Haltung gegenüber dem jeweiligen Projekt mitzuteilen. Indem lokale Akteure mit verschiedenen Handlungsmustern auf staat­liche Rollenangebote reagierten, zwangen sie diese ebenfalls zu einer Reaktion. Die geringe Höhe der Spenden an Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge in den ersten Jahrzehnten ihrer Existenz veranlasste etwa die Regierung Pauls I., die Verantwortung für ein Minimum an medizinischer Versorgung in der Provinz dem Staat zu übertragen. Durch diese Aushandlungsprozesse formten Akteure auf lokaler Ebene ihre eigenen – individuellen wie kollektiven – Rollen mit. Die Räume für die Tätigkeit lokaler Akteure blieben aber stets von der Staatsgewalt definiert. Während der katharinäische Diskurs vor allem von kameralistischen Nutzenvorstellungen geprägt war, rückte Alexander I. zusätz­lich das Motiv der christ­lichen Nächstenliebe stärker in den Vordergrund. Doch die Rationalisierung der Armenfürsorge unter ­Katharinas Enkelsohn zeugt davon, dass Gesundheit und Krankheit im neunzehnten Jahrhundert feste Rechengrößen der Bevölkerungspolitik blieben. Auch die Einbindung der Bevölkerung – in erster Linie der gut betuchten Kreise, die als finanzielle Stützen in Frage kamen – setzte in gewissem Sinne das Vorhaben ­Katharinas II. fort. Frei­lich lassen sich unter Alexander neue Akzente im Diskurs erkennen. Nachdem sein Vater den lokalen Eliten einen Teil der Verantwortung für das lokale Medizinal­wesen genommen hatte, indem er das Medizinal­wesen aus dem Wohltätigkeitsdiskurs herauslöste, appellierte Alexander I. an christ­liche Werte und erntete damit starken Widerhall, vor allem bei der Kaufmannschaft. Die Wohltätigkeit blieb nicht lange auf dem hohen Niveau, das sie im frühen neunzehnten Jahrhundert erreicht hatte. Nach dem Abzug der napoleonischen Truppen aus Russland ließ sie deut­lich nach, das Potenzial war erschöpft. Drei Faktoren waren für das Abflauen der Spendenfreudigkeit verantwort­lich: Erstens machten die gravierenden wirtschaft­lichen Folgen des Krieges großzügige Spenden in den Jahren nach den Krieg unmög­lich, hatte doch die Kaufmannschaft einen beträcht­lichen

368

Medizinal­wesen als Aufgabenfeld lokaler Gesellschaften

Teil ihres Kapitals verloren. Zweitens war es ihr gelungen, im ersten Dezennium des Jahrhunderts ihre neue Position, die mit dem schnellen wirtschaft­lichen Aufstieg zusammenhing, in der lokalen Öffent­lichkeit zu manifestieren. Eine Affirmation in Form von großen Projekten war nach dem Ende des Krieges gegen Napoleon nicht nur unmög­lich, sondern auch nicht nötig. Drittens schließ­lich hatte der Krieg gegen Napoleon eine ambivalente Rolle in der Entwicklung der Wohltätigkeit gespielt. Die Bedrohung durch die Invasion hatte eine Situation geschaffen, in der sich der Charakter der Wohltätigkeit veränderte. Die Unterstützung des eigenen Militärs durch größere und kleinere Spenden war eine Maßnahme im Kampf gegen den Feind, zu der viele etwas beitragen konnten. Nachdem die Gefahr gebannt war, entfiel auch die Notwendigkeit solcher Spenden, die nach dem Krieg denn auch deut­lich zurückgingen. Die Rollen der lokalen Bevölkerung im Medizinal­wesen beschränkten sich nicht auf gelegent­liche finanzielle Unterstützung medizinischer Einrichtungen. Die Staatsgewalt hatte sich zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts darum bemüht, in ihr wichtigstes Medikalisierungsprojekt neben den Medizinal­beamten auch Nichtmediziner mit einzubeziehen: in die Verbreitung der Pockenschutzimpfung. Auch wenn die tatsäch­lichen Erfolge der Impfkampagne stets hinter den Zielen und Erwartungen der zentralen Bürokratie zurückblieben, lassen sich an diesem Projekt vielfältige kommunikative Verflechtungen zwischen den verschiedenen Akteuren auf vertikaler und vor allem auf horizontaler Ebene beobachten, die oft zum erwünschten Ziel führten. Das Impfprojekt ist ein in seiner Deut­lichkeit seltenes Beispiel dafür, wie lokale Gesellschaften und einzelne Individuen allmäh­lich in Rollen hineinwuchsen, die ihnen von der Staatsgewalt angeboten wurden. Viele Wesenszüge der Impfkampagne in Russland lassen sich auch in anderen Ländern Europas wiederfinden: die Pockenimpfung als Vorstoß der Staatsgewalt in einen neuen Bereich, Klagen der Ärzte und Aufklärer über die geringen Erfolge, eine unzureichende Finanzierungsbasis, die Argumente der Impfgegner wie der -befürworter.309 Auch war es ein für Europa typisches Phänomen, dass die Pockenschutzimpfung ihre ersten Anhänger in den Eliten des jeweiligen Landes fand.310 In zwei wesent­lichen Punkten unterschied sich der Verlauf der Impfkampagne im Rus­ sischen Reich jedoch vom Westen Europas: Erstens sahen sich die Impfaktivisten zwar oft mit einer punktuellen Ablehnung konfrontiert, eine organisierte Widerstandsbewegung trat ihnen aber nicht entgegen.311 Dieser Befund überrascht jedoch 309 Siehe zum Beispiel Lindemann, Medicine, S. 76; Faure, Vaccination, S. 192 – 204. Wolff zeigt eine breite Palette von medizinischen und nichtmedizinischen Begründungen der Impfablehnung und Deutungsmustern dieser Haltungen auf: Wolff, Maßnahmen, S. 296 – 412 bzw. S. 413 – 436. 310 Siehe Wolff, Maßnahmen, S. 104, 124. 311 Wolff, Triumph, S. 160; ders., Maßnahmen, S. 263 f.

Zusammenfassung

369

wenig, bedenkt man, dass auch die zahlreichen privaten Initiativen zur Verbreitung der Impfung in der Provinz nicht in die Form von organisierten Kampagnen gegossen wurden. Zweitens basierte die gesamte Impfkampagne bis in die 1820er Jahre hinein auf Freiwilligkeit. Nur gelegent­lich tauchten an verschiedenen Stellen der Medizinal­verwaltung unterschied­liche Ideen auf, die mit Zwang verbunden waren. Mal sollten Bauern ungeachtet ihrer eigenen Wünsche und ohne Einverständnis ihrer Familien von der jeweiligen Gemeinde für die Vakzinatorenausbildung gewählt werden, mal schlug die Freie Ökonomische Gesellschaft vor, Kinder trotz des Widerstands der Eltern zu impfen.312 Auf den Adel wurde im Rahmen der Impfkampagne indirekter Zwang ausgeübt, indem die Impfung zur Bedingung für die Aufnahme in manche Einrichtungen gemacht wurde.313 Erst Nikolaus I. ordnete an, Kinder aller Angestellten in staat­lichen Einrichtungen gegen die Pocken zu impfen.314 Zunächst wollte man jedoch überzeugen, nicht zwingen.

312 Schreiben des Kameralhofs von Jaroslavl’ an das Gouvernementskomitee zur Verbreitung der Pockenschutzimpfung vom 1. März 1832. GAJaO f. 628, op. 1, d. 5, l. 243 – 243ob.; Rundschreiben der Freien Ökonomischen Gesellschaft an die Impfkomitees vom 21. Februar 1825. GAJaO f. 628, op. 1, d. 2, l. 3. 313 Renner, Autokratie, S. 212. In Frankreich wurde 1805 die Impfung aller Soldaten befohlen, die noch keine Pocken gehabt hatten. Damit war Frankreich der Vorreiter des Impfzwanges. Bayern folgte 1807, Baden und Württemberg in den Jahren 1815 bzw. 1818. In Schweden wurde die Impfung 1816 verpf­lichtend gemacht, in Norwegen bereits 1811. Bis zum Ende des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts war die Impfung sonst nur noch in Hannover, Kurhessen, Nassau, Holstein und Dänemark verpf­lichtend. Kübler, Geschichte, S. 171, 173 f., 179, 235. In England und Wales bestand die Pf­licht zur Impfung erst ab dem Jahr 1853. Brunton, Politics, S. 2, 39 – 53. Siehe dazu auch Porter; Porter, Prevention. 314 Senatserlass vom 31. Mai 1828, in: PSZ II Bd. 3, Nr. 2.072, S. 600.

6.  S C H L U S S B E T R AC H T U N G : D I E C H O L E R A E P I D E M I E A L S P RÜ F S T E I N F Ü R S TA AT L I C H E U N D G E S E L L S C H A F T L I C H E S T RU K T U R E N

Etwa ein halbes Jahrhundert nachdem die große Pestepidemie in Russland gewütet hatte, breitete sich in den 1820er Jahren vom Süden des Reiches her eine neue hochansteckende töd­liche Krankheit aus, die nach längerer Unsicherheit als Cholera identifiziert wurde. Zum ersten Mal trat sie 1823 in der Nähe der rus­sisch-per­sischen Grenze auf; 1831, auf ihrem Höhepunkt, erfasste sie achtundvierzig Gouvernements und forderte mehrere Hunderttausend Opfer:1 Choleraopfer im Rus­sischen Reich von 1823 bis 1838 Jahr

Anzahl der Gouvernements, in denen die Cholera auftrat

Erkrankte

Tote

1823

1

392

205

1829

1

3590

865

1830

31

68.091

37.595

1831

48

466.457

197.069

1832

5

1177

653

1833

25

14.428

5330

1834

2 Keine genauen Angaben

Keine genauen Angaben

1835







1836







1837

5

7000

1400

1838

6

GESAMT

einzelne

einzelne

> 561.135

> 243.117

1 Zur Ausbreitung der Cholera siehe die knappe Zusammenfassung bei McGrew, Russia, S. 18 f. Ausführ­licher bei Archangel’skij, Ėpidemii, S. 93 – 105. Angaben übernommen von Archangel’skij, Ėpidemii, S. 2. Zur Problematik der offiziellen Kranken- und Totenzahlen siehe ebd., S. VI; Lipinskij, Ėpidemii, S. 17.

372

Schlussbetrachtung

Diese Seuche bildete zwar keinen Einschnitt, der das Ende einer medizinhisto­ rischen Ära markierte. Dennoch eignet sich dieses Ereignis aus zwei Gründen als Prüfstein, wenn man nach den Auswirkungen politischer Weichenstellungen auf das Medizinal­wesen und nach Vergesellschaftungsprozessen im Rus­sischen Reich fragt: Erstens war beim Ausbruch der Cholera die medizinische Versorgung der Zivilbevölkerung bereits seit über einem halben Jahrhundert ein wichtiges Thema in der Staatsverwaltung. Die Entstehung der rudimentären Medizinal­verwaltung auf Gouvernementsebene in Form von Ämtern für gesellschaft­liche Fürsorge lag knapp fünfzig Jahre zurück. Dieser Zeitraum ist groß genug, um an seinem Ende ablesen zu können, welche Wirkung die strukturellen Veränderungen, die in den 1760er und 1770er Jahren angestoßen worden waren, entfalteten. Zweitens war das junge Medizinal­wesen bis zu den 1820er und 1830er Jahren keiner Herausforderung von vergleichbarem Ausmaß begegnet. Zwar gehörten größere und kleinere Pockenepidemien zum medizinischen Alltag, und auch die Pest flammte gelegent­lich wieder auf, doch war die Cholera die erste Seuchenkatastrophe seit den 1770er Jahren, der sich die Staatsgewalt und die Bevölkerung des gesamten Reiches stellen mussten. Bei dieser abschließenden Betrachtung soll weniger ein vermeint­lich objektiver Entwicklungsstand der medizinischen Versorgung gemessen werden. Hierbei sei nochmals betont, dass die Frage nach therapeutischen Erfolgen der vorbakteriolo­ gischen Medizin wenig gewinnbringend ist. Vielmehr geht es darum, Unterschiede in der Funktionsweise des Medizinal­wesens und in den Rollen der lokalen Bevölkerung zwischen den 1770er und den 1820er Jahren herauszuarbeiten. Doch zunächst sollen Gemeinsamkeiten in der Bekämpfung der Pest und der Cholera zur Sprache kommen. Der Seuchenschutz im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts unterschied sich nicht wesent­lich von den Maßnahmen, die in den 1770er Jahren angeordnet worden waren, um die Ausbreitung der Pest zu verhindern.2 In beiden Fällen gingen die maßgeb­lichen Mediziner von einem Kontagium aus, das sich sowohl in Menschen als auch in Gegenständen befinden und mit ihnen von Ort zu Ort gelangen konnte. Das Instrumentarium der Seuchenbekämpfung bestand daher zum einen aus einer Isolation der Kranken, Einschränkung der Mobilität durch Sanitärkordons, Quarantäne für Menschen und Waren, die – ebenso wie Gebäude – mit verschiedenen Substanzen durchräuchert wurden, und zum anderen aus der Propagierung einer gemäßigten und als mora­lisch anerkannten Lebensweise.3

2 Zu den Maßnahmen gegen die Pest siehe Alexander, Bubonic Plague, S. 7, 18 – 22, 162 – 166; Renner, Wissenstransfer; Renner, Autokratie, S. 138 – 144. Auch im Westen Europas, der von der Cholera betroffen war, unterschieden sich die Seuchenschutzmaßnahmen nicht von jenen, die zur Abwehr der Pest ergriffen wurden. Kessel, Gefahr, S. 276. 3 Zur Pest: Alexander, Bubonic Plague, S. 213. Während der Cholera war die Überzeugung verbreitet, dass Betrunkene viel leichter der Seuche zum Opfer fielen als Nüchterne. Siehe Archangel’skij,

Schlussbetrachtung

373

Diese Maßnahmen trafen im achtzehnten wie im neunzehnten Jahrhundert stets jene Menschen am härtesten, deren Lebensunterhalt in einem starken Maße von der Mobilität abhing: vor allem Bauern und Händler. Obwohl die Staatsgewalt einen Spagat zwischen medizinischer und wirtschaft­licher Notwendigkeit versuchte, steigerten Versorgungsengpässe und teilweise Hungersnöte in beiden Fällen das Gewaltpotenzial der unteren sozialen Schichten.4 Unruhen in vielen Landesteilen gehören ebenso zum überlieferten Bild der Choleraepidemie (cholernye bunty) wie der Aufstand des Jahres 1771 (čumnoj bunt) in Moskau zur Geschichte der Pest.5 Was für das Medizinal­wesen des Rus­sischen Reiches im Allgemeinen charakteristisch ist, findet sich auch in der Seuchenbekämpfung wieder: In den 1770er wie in den 1830er Jahren bestand ein gewaltiger Unterschied zwischen der staat­lich diktierten Ordnung und der Umsetzung vorgeschriebener Maßnahmen. Die Ursachen für diese Diskrepanz sind sowohl im achtzehnten als auch im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts in der Qualität der Verwaltung zu sehen. Während der Pest waren staat­liche Verwaltungsstrukturen auf lokaler Ebene nur rudimentär ausgebaut, außerhalb der beiden Hauptstädte existierte keine Medizinal­verwaltung. Die Cholera dagegen traf das Reich fünfzig Jahre nach dem Beginn der intensiven inneren Staatsbildung. Die Präsenz des Staates in der Provinz war zwar deut­lich höher als in den 1770er Jahren, doch die Ausübung der Gewalt wurde ihm durch verschiedene Umstände erschwert. So führten der Mangel an medizinischem Personal und die unzureichende Finanzierung des Medizinal­wesens dazu, dass die Quarantäne­ bestimmungen oftmals nicht ausgeführt werden konnten: Die zur Bekämpfung der Seuche gegründeten Komitees konnten ohne geeignete Räume keine Reisenden in den Quarantänestationen unterbringen, so dass die Grenzen etwa des Gouvernements Jaroslavl’ weitgehend offen waren. Versuchte das Quarantänepersonal die Vorschriften umzusetzen, ließ es sich von Reisenden oft mit Geld davon abbringen.6 Im neunzehnten Jahrhundert sah sich der Gesetzgeber genötigt, Verstöße gegen Ėpidemii, S. 103. 4 So etwa während der Choleraepidemie in den Provinzen Tambov und Šack. Dubasov, Očerki, S. 227. Um Versorgungsengpässe in der Hauptstadt des Reiches zu vermeiden, hob man in Rybinsk, einem der wichtigsten Wolgahäfen, die Quarantäne für Schiffe auf. Siehe Lipinskij, Ėpidemii, S. 20. Auch die Pestepidemie der 1770er Jahre war von Hungersnöten begleitet. Hinzu kamen die Anstrengungen des Krieges gegen das Osmanische Reich. Siehe Alexander, Bubonic Plague, S. 16, 200. 5 Zu den Unruhen während der Pest in Moskau siehe Kuhl, Pestaufstand. Zu Ausschreitungen während der Cholera in der Hauptstadt siehe Mörters, Hurra. Zu Choleraunruhen in Tambov Dubasov, Cholernyj god. Für Ausschreitungen im gesamten Rus­sischen Reich während der Cholera siehe Gessen, Bunty. 6 So berichtet der Sekretär des Statistischen Komitees des Gouvernements Jaroslavl’, siehe Lipinskij, Ėpidemii, S. 13 f. Missstände bei der Seuchenbekämpfung im Gouvernement Voronež kommen im Briefwechsel des Gouvernementsadelsmarschalls von Voronež, Semën Nikulin, mit dem Gouverneur,

374

Schlussbetrachtung

Seuchenschutzmaßnahmen mit rigorosen Sanktionen zu belegen: Bei nachlässiger Umsetzung der Quarantänebestimmungen drohte die Todesstrafe.7 Auch war die Akzeptanz der von der akademischen Medizin verordneten Seuchen­schutzmaßnahmen bei den Betroffenen im neunzehnten Jahrhundert nicht unbedingt höher als in den 1770er Jahren. Die Wirksamkeit der Behandlungsmethoden und der Quarantänemaßnahmen – eine wichtige Voraussetzung für deren Annahme – zeigt ebenfalls keine wesent­lichen Unterschiede zwischen den beiden Epidemien: Weder bei der Pest noch bei der Cholera waren die eigent­liche Ursache der Krankheit oder die Art ihrer Übertragung bekannt, so dass sich die Gegenmaßnahmen nach den Symptomen richteten.8 Die Frage nach Gewaltausbrüchen während der beiden großen Epidemien führte des Öfteren zu der Feststellung, die Geschichte der Medizin im Rus­sischen Reich sei von einem Kulturkonflikt zwischen dem aus Westeuropa importierten medizinischen Wissen und einheimischen Körper- und Krankheitsvorstellungen geprägt gewesen. Am deut­lichsten formulierte die These von der Unvereinbarkeit der beiden medikalen Kulturen Martin Dinges Ende der 1990er Jahre: „Die bei der Moskauer Pest durch Lynchjustiz bedrohten und mißhandelten Ärzte können als extremes Beispiel für mög­liche Wirkungen von mißglückten Importen medizinischen Wissens und medizinalpolizei­licher Verfahrensweisen gelten, auf die ein Teil der aufnehmenden Gesellschaft schließ­lich mit Gewalt und Straßenkampf reagiert. Gleichzeitig zeigt es, wie anläß­lich solcher Importe Kulturen zusammenstoßen können.“ 9

Dmitrij Begičev, und den Kreisadelsmarschällen vom Oktober 1830 zur Sprache. GAVO f. i–30, op. 1, d. 984, v. a. l. 42, 44, 45. 7 Senatserlass vom 8. Juli 1807, in: PSZ I Bd. 29 Nr. 22.548, S. 1213 – 1214, hier S. 1213. Bei Zuwiderhandlungen während der Pestepidemie drohte die Staatsgewalt unter anderem mit der Strafe Gottes. Siehe Bekanntmachung des Generalfeldzeugmeisters Graf Orlov, wie man sich gegen die Krankheit schützen kann, vom 30. September 1771, in: PSZ I Bd. 19, Nr. 13.665, S. 319 – 321, hier S. 321. Die Androhung gewöhn­licher Strafen enthielt der Senatserlass vom 11. November 1771, in: PSZ I Bd. 19. Nr. 13.696, S. 371 – 376, hier S. 376. Während der Cholera: Kaiser­lich bestätigter Beschluss des Ministerkomitees vom 9. Dezember 1830, in: PSZ II Bd. 5/2, Nr. 4177, S. 468 – 479, hier S. 474. 8 Bei konsequenter Anwendung konnten Sanitärkordons jedoch die geographische Ausbreitung einer Seuche durchaus verhindern. Am Beispiel der Pestepidemie in Marseille in den Jahren 1720 bis 1722 zeigen es: Brockliss; Jones, Medical World, S. 351. 9 Dinges, Aufklärung bei Zimmermann, S. 211. Zu einem späteren Zeitpunkt ordnete Dinges die Widerstände gegen die Politik der Obrigkeit in Moskau allerdings treffender ein, s. u. Dem Kulturkonflikt, der im Kulturtransfer angelegt sei, gilt auch das Interesse von Renner, Wissenstransfer, S. 193. Auch Alexander spricht davon, dass die „europäische“ Medizin auf die Eliten beschränkt und den meisten Untertanen suspekt blieb. Alexander, Bubonic Plague, S. 45, 303. Mehr Beweggründe als nur die Ablehnung einer neuen, von der Obrigkeit aufgezwungenen Medikalkultur sieht für die Pestunruhen Kuhl, und zwar: „das Zusammenprallen von traditionellen mit medizinischen

Schlussbetrachtung

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Der Import medizinischen Fachwissens aus dem Westen Europas kann nicht für die Gewaltwellen ausschlaggebend gewesen sein, die das Rus­sische Reich während der Pestepidemie und nach dem Ausbruch der Cholera heimsuchten. Vergleichbare Konflikte, denen man in Russland begegnet, sind auch aus anderen europäischen Staaten überliefert.10 Auch die Behandlungsmethoden, die bei Cholerakranken angewandt wurden, können nicht der Auslöser für Proteste gewesen sein. Der Aderlass, der als das bewährteste Mittel gegen die Cholera galt, gehörte in Russland zu den weitverbreiteten und allgemein akzeptierten medizinischen Eingriffen.11 Bei den Choleraunruhen im Rus­sischen Reich verlief der Graben nicht zwischen dem aus dem Westen Europas importierten Wissen und einheimischen Krankheitsvorstellungen, obwohl die Diskrepanz zwischen beiden beträcht­lich sein konnte. Es wäre ebenfalls problematisch, eine klare Konfliktlinie entlang der sozialen Grenzen zu ziehen, denn die medikalen Kulturen der einzelnen Bevölkerungsgruppen lagen nicht so weit auseinander, wie lange Zeit angenommen wurde: Auch Vertreter der Eliten zeigten sich bisweilen skeptisch gegenüber akademischen Medizinern und zogen nichtlizenzierte Heilkundige zu Rate, während Analphabeten aus unteren sozialen Gruppen gelegent­lich weite Reisen und hohe Kosten auf sich nahmen, um in dringenden Fällen renommierte Ärzte zu konsultieren. Auf offenen Widerstand stieß die akademische Medizin in Russland und anderswo dann, wenn sie im Namen der Staatsgewalt auftrat und mit Zwangsmaßnahmen verbunden war. Worin bestanden aber dann die spezifischen Auslöser der gewaltsamen Konflikte, die während der Pestepidemie und der Cholera in Russland ausbrachen? Erstens waren die staat­lich angeordneten Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung in beiden Fällen mit polizei­licher Gewalt verbunden. Große Teile der Bevölkerung kamen nicht nur mit – womög­lich in der Tat als fremd empfundenen – Ärzten in Kontakt, sondern in erster Linie mit der Polizei, deren Vorgehen wenig Vertrauen einzuflößen vermochte. Erpressung und Gewalt seitens der Beamten sowie ihre

Krankheitsvorstellungen, der Versuch, die Pest im Rahmen des Volksglaubens lo­gisch zu erklären, Ärztefeind­lichkeit und Unverständnis für und Widerstand gegen die Anordnungen der städtischen Behörden“. Kuhl, Pestaufstand, S. 330. An dieser Stelle sei auch auf die äußerst lesenswerte Interpretation der einzelnen Ereignisse während des Aufstandes, vor allem die Tötung des Erzbischofs Amvrosij, hingewiesen. Ebd., S. 344 – 347. 10 Bei einem Aufstand während der Cholera im preußischen Königsberg im Jahr 1831 wurden ebenfalls Ärzte misshandelt. Siehe Dorrmann, Ungeheuer, S. 213. Für Frankreich und die Britischen Inseln mit weiterführenden Literaturhinweisen Mörters, Hurra, S. 402 f. Für die unterschied­lich motivierte und ebenfalls unterschied­lich ausgeprägte Ablehnung des staat­lichen Projekts der Pockenimpfung siehe Wolff, Maßnahmen, S. 268 – 446; Faure, Vaccination, S. 192 f. Im Zusammenhang mit der Pest gab es auch in Debrecen und in Marseille Unruhen, allerdings von weit geringerem Ausmaß als in Moskau. Alexander, Bubonic Plague, S. 302 f. 11 Rundschreiben des Innenministers, Arsenij Zakrevskij, an Zivilgouverneure vom 8. September 1830. GAJaO f. 73, op. 1, d. 2524, l. 2. Bauer, Aderlässe.

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Schlussbetrachtung

Bestech­lichkeit hatten eine dem Staatsinteresse entgegengesetzte Wirkung und zwangen die Bevölkerung geradezu, jeg­lichen Kontakt mit ihnen zu vermeiden.12 Die Alltagspraktiken des Seuchenschutzes – etwa die wahllose Zwangseinweisung in Cholerakrankenhäuser, Gewalt und eine schlechte Organisation – gerieten auch bei manchen Vertretern der Eliten in die Kritik.13 Die Konfliktlinie verlief während der Seuchen nicht zwischen der elitären, importierten medikalen Kultur und jener der unteren sozialen Gruppen, sondern zwischen denjenigen, die staat­lich angeordnete Maßnahmen ausführten, und den Objekten dieser Politik, die sich gegen den obrigkeit­lichen Eingriff in Fragen der Gesundheit und Krankheit zur Wehr setzten.14 Untere soziale Gruppen waren der im Namen der staat­lich verordneten Seuchenbekämpfung ausgeübten Gewalt stärker ausgeliefert als etwa wohlhabende Adlige oder Kaufleute, denn in der Regel fehlten ihnen die Mög­lichkeiten, die bedrohten Gebiete vor deren Absperrung zu verlassen, um das Ende der Gefahr in Sicherheit abzuwarten. Zweitens versprachen die vom Staat erlassenen Maßnahmen keinen Erfolg gegen die bestehende Gefahr. Im Falle der Pest und der Cholera war die Machtlosigkeit sowohl der Mediziner als auch der Polizeibeamten offensicht­lich, also gab es für die Betroffenen keinen Grund, sich ihnen zu unterwerfen. Ja, die Vernunft gebot es geradezu, sich von Cholerakrankenhäusern fernzuhalten. Schließ­lich verließ kaum jemand ein solches Krankenhaus lebend.15 Der ausbleibende Erfolg staat­lich verordneter Seuchenbekämpfungsmaßnahmen erschwerte das Vermittlungsproblem der

12 Siehe auch Dörbeck, Geschichte, S. 77. In Bezug auf die Pest siehe das kaiser­liche Manifest vom 9. September 1771, in: PSZ I Bd. 19, Nr. 13.653, S. 309 – 310, hier S. 310. Kuprijanov betont, dass sich die Gewalt gegen das Fremde an sich richtete. Als fremd sei jeder empfunden worden, der eine Uniform trug. Kuprijanov, Kul’tura, S. 398. Im Gegensatz zu der Forschungsmeinung, die den Konflikt ausschließ­lich auf den medizinischen Bereich beschränkt, findet der medizinische Aspekt bei Kuprijanov in Bezug auf die Choleraunruhen keinerlei Beachtung. 13 Etwa Nikitenko, Dnevnik Bd. 1, S. 107. 14 So auch Dinges, Pest, S. 309, der betont, dass sich dasselbe Konfliktmuster, das aus dem Moskau der frühen 1770er Jahre bekannt ist, auch in verschiedenen europäischen und außereuropäischen Kulturkreisen zu verschiedenen Zeiten wiederfindet. Kuhl bezeichnet es als eine Reaktion auf die Zerstörung der „guten alten Ordnung“. Diese Deutung trifft insofern zu, als Seuchenschutzmaßnahmen der akademischen Medizin Bestandteil der zeitgemäßen staat­lichen Strukturen waren. Dabei ist allerdings auch Vorsicht geboten, da die Interpretation der Verwaltungsreformen des 18. Jahrhunderts als Abkehr von den ursprüng­lichen Grundlagen des zarischen Staates und die damit einhergehende vermeint­liche Entfremdung zwischen Staat und Eliten auf der einen und dem Volk auf der anderen Seite einen wichtigen Bestandteil der slawophilen Weltanschauung bildet. Diesem slawophilen Denkmuster folgt Kuhl an einer anderen Stelle: Kuhl, Pestaufstand, S. 336 – 339. ­Mörters beschreibt die Unverträg­lichkeit der Seuchenschutzmaßnahmen mit den religiösen Riten der orthodoxen Kirche, deutet diese jedoch als einen rus­sisch-west­lichen Konflikt. Mörters, Hurra, S. 405 f., 412, 415 f., 424 f. 15 Nikitenko, Dnevnik Bd. 1, S. 107. Siehe auch Mörters, Hurra, S. 408 f.

Schlussbetrachtung

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Staatsgewalt, der es weder in den 1770er noch in den 1830er Jahren gelang, breite Kreise der Bevölkerung vom Sinn und der Funktionsweise der Quarantänen und provisorischen Krankenhäuser zu überzeugen.16 Mit der Erfolglosigkeit dieser Maßnahmen ging drittens ein Verbot von Handlungen einher, die für große Teile der Bevölkerung zum gewohnten Instrumentarium des individuellen Schutzes vor Krankheit gehörten, etwa die Anbetung wundertätiger Ikonen, die Teilnahme an Prozessionen et cetera.17 Hier prallten in der Tat zwei unterschied­liche medikale Kulturen aufeinander: Der landläufigen Deutung einer Seuche innerhalb des kommunikativen Zusammenhangs mit Gott stand die auf naturwissenschaft­licher Beobachtung basierende Lesart der Epidemie durch die akademische Medizin gegenüber. Der Konflikt brach aus, weil die akade­mische Medizin nicht nur – unterstützt durch die Staatsgewalt – die Deutungshoheit für sich beanspruchte, sondern im Fall der Pest und der Cholera auch die Schutzmaßnahmen, die aus der sogenannten traditionellen Interpretation der Ereignisse resultierten, ausschloss. Zu einem offenen Konflikt sowohl in den 1770er Jahren als auch während der ersten großen Choleraepidemie des neunzehnten Jahrhunderts führte also die unglück­liche Verbindung zwischen dem Verbot des Gewohnten und der gewaltsamen Unterwerfung unter Maßnahmen, die nicht nur keinen Schutz gegen die todbringende Krankheit boten, sondern auch extreme Versorgungsengpässe verursachten. Als Gegenbeispiel zur Seuchenbekämpfung während der Pest und der Cholera lässt sich die Pockenschutzimpfung anführen, die ebenfalls auf staat­liche Initiative und mithilfe von Medizinal­beamten, allerdings ohne Gewalt in größerem Maßstab durchgeführt wurde. Sie zeigte, dass sich eine – keineswegs auf untere soziale Schichten beschränkte – Skepsis gegenüber Vertretern der akademischen Medizin und deren Maßnahmen durch eine entsprechende Vermittlung in vielen Fällen durchaus beheben ließ. Die Ablehnung mancher Mediziner oder von ihnen angeordneter Behandlungs- oder Präventionsmethoden wurzelte oft in einem generellen Misstrauen gegenüber Staatsbeamten. Besonders gering waren die Erfolgsaussichten einer ärzt­lich angeordneten Therapie, wenn ihre Ausführung Gerichtsmitglieder oder andere Vertreter der Staatsgewalt überwachen mussten. Bestand zwischen einem Arzt und einem Kranken aber ein Vertrauensverhältnis – das nicht zwangsläufig auf einer persön­lichen Beziehung beruhen musste, sondern auch durch den guten Ruf des Arztes entstehen konnte –, war die trennende Skepsis überwunden. Stellten sich gar Bauern oder Geist­liche in den Dienst der staat­lichen

16 Dies kritisierte ebenfalls Nikitenko und nach seinen Angaben auch der Hauptstabsdoktor. Nikitenko, Dnevnik Bd. 1, S. 107 f. 17 Zur Pest siehe Renner, Wissenstransfer, S. 194. Auch nach Dinges kriminalisierten staat­lich vorgeschriebene Seuchenbekämpfungsmaßnahmen während der Pest das gewohnte Handeln: Dinges, Pest, S. 87.

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Schlussbetrachtung

Medizinal­politik und impften in ihren angestammten Gegenden Kinder gegen die Pocken, trug die Impfung nicht mehr den offiziellen staat­lichen Charakter, der sie vielen suspekt machte. Genau diese Vermittlung fehlte sowohl im Kampf gegen die Pest als auch während der Cholera in den 1820er und 1830er Jahren. Allerdings stand der Staatsgewalt in beiden Fällen – im Gegensatz zur Pockenschutzimpfung – ein wichtiges Überzeugungsargument nicht zur Verfügung: sichtbare Erfolge der angewandten Behandlungsmethoden. Doch gab es sowohl im Vorgehen der Staatsgewalt als auch in Handlungsmustern der lokalen Bevölkerung wesent­liche Unterschiede zwischen der Pestepidemie der 1770er Jahre und der Cholera in den späten 1820er und frühen 1830er Jahren. Diese Unterschiede lagen in Verwaltungszusammenhängen, in Kommunikationsstrukturen und in der Rolle der lokalen Bevölkerung. Anhand dieser drei Bereiche soll nun demonstriert werden, wie sich strukturelle und habituelle Veränderungen in Staat und Gesellschaft in einer Extremsituation auf das Medizinal­wesen auswirkten.

6.1   Ve r wa lt u ng Den Beginn der Herrschaft ­Katharinas II. markierten Überlegungen zur Vermehrung der Bevölkerung im Rus­sischen Reich, zu deren wesent­lichen Voraussetzungen die Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustandes gehörte. Neben der medizinischen Policey, die das körper­liche Leben der Menschen neu regeln sollte, strebte die Kaiserin den Ausbau der medizinischen Versorgung im gesamten Land an. Diese Politik sollte sowohl dem Militär als auch der Zivilbevölkerung zugutekommen. Der Mangel an Ärzten und Apotheken wurde zum Teil auch von der lokalen Bevölkerung als Problem formuliert, überliefert vor allem in den Instruktionen für die Gesetzgebende Kommission der späten 1760er Jahre. Dies geschah wohlgemerkt als Antwort auf einen Impuls, der von der Staatsgewalt ausgegangen war. Der Vorstoß der Staatsmacht in die Provinz im Bereich der medizinischen Versorgung ging mit dem allgemeinen inneren Staatsaufbau einher, für den die Reform der lokalen Verwaltung im Jahre 1775 die Weichen stellte. Die Umgestaltung der lokalen Verwaltungsstrukturen rief eine neue Institution ins Leben, die sich als erste Einrichtung auf Gouvernementsebene unter anderem um den Aufbau der medizinischen Versorgung in der Provinz kümmern musste: das Amt für gesellschaft­liche Fürsorge. Das Besondere an dieser Institution bestand darin, dass ihre Gründung zwar vom Staat angeordnet und finanziert wurde, ihr Fortbestehen und ihre Tätigkeit jedoch komplett der Sorge der lokalen Bevölkerung überlassen blieben. Obwohl sich Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge in den letzten Jahrzehnten des achtzehnten Jahrhunderts allmäh­lich etablierten und neben Schulen und Armenhäusern auch Krankenhäuser gründeten, erschienen sie nach

Verwaltung

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dem Tode ­Katharinas im Jahre 1796 nicht geeignet, den ständig wachsenden Anforderungen des zivilen und des militärischen Medizinal­wesens zu entsprechen. Mit der Schaffung lokaler Medizinal­behörden 1797 wurde die Medizinal­verwaltung auf der Gouvernementsebene professionalisiert. Die neuen Organe waren ausschließ­ lich für medizinische Einrichtungen des jeweiligen Gouvernements zuständig und wurden zum Anker für das medizinische Personal, dessen Zahl seit dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert stets zunahm. Als ­Katharina II . nach dem Ausbruch der Pest versuchte, auf die Seuchenbekämpfung in verschiedenen Landesteilen einzuwirken, standen ihr ledig­lich einzelne Vertrauensleute zur Verfügung, die sowohl für die Durchsetzung angeordneter Maßnahmen als auch für den Informationsaustausch persön­lich verantwort­lich waren. Nicht nur in entlegenen Gegenden konnte die Kaiserin keinen Einfluss auf die Umsetzung des Seuchenschutzes nehmen. Ihre tatsäch­liche Macht endete auch mit dem engen Kreis der ihr persön­lich ergebenen Vertrauten. Moskau wurde zu jener Zeit vom randalierenden Mob beherrscht, Amtsleute und Würdenträger ergriffen die Flucht, statt für die Durchsetzung der Ordnung und der staat­lich vorgeschriebenen Seuchenschutzmaßnahmen zu sorgen.18 Während zum Zeitpunkt der Pestepidemie der 1770er Jahre keine Einrichtungen der medizinischen Verwaltung außerhalb der beiden Hauptstädte existierten, gab es um 1830 ein Netz von lokalen Medizinal­behörden, medizinischem Personal, Krankenhäusern und Apotheken – auch wenn ihre Anzahl und Kapazitäten stets unter dem staat­licherseits und gelegent­lich auch von der lokalen Ebene formulierten Bedarf lagen. Dieses institutionelle Netz bot der Staatsgewalt im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts sowohl Ansprechpartner als auch Instrumente für die Durchführung der Seuchenbekämpfung, die in den 1770er Jahren gefehlt hatten. Aufgrund der langjährigen Erfahrung mit der Umsetzung medizinalpolitischer Projekte in diesem institutionellen Rahmen entwickelte die Staatsmacht Strategien, um die bestehenden Strukturen effizienter zu nutzen. Die Organisation der Pockenschutzimpfung liefert in den 1810er Jahren in diesem Zusammenhang einen Präzedenzfall für die Cholerabekämpfung. Um die Impfkampagne voranzubringen – die unter anderem wegen der mangelnden Kooperation der lokalen Kräfte stockte –, ordnete das Ministerkomitee an, auf Gouvernements- und Kreisebene Komitees zu gründen, die sich ausschließ­lich der Verbreitung der Pockenimpfung zu widmen hatten. Mit dieser Institution waren erstmals lokale Akteursgruppen zur Zusammenarbeit mit der Zivil- und der Medizinal­verwaltung verpf­lichtet.19 ­Diesem 18 Auch in anderen Landesteilen verließen diejenigen, die diese Mög­lichkeit hatten, die betroffenen Städte und Landstriche. Siehe Alexander, Bubonic Plague, S. 112. 19 Kaiser­lich bestätigter Beschluss des Ministerkomitees vom 3. Mai 1811, in: PSZ I Bd. 31, Nr. 24.622, S. 640 – 645, hier S. 640.

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Schlussbetrachtung

Muster folgte auch die Gründung der Komitees zur Bekämpfung der Cholera im Herbst 1830. Auch diese Einrichtung brachte Vertreter der Zivil-, Militär- und der Medizinal­verwaltung, den Adel, die Geist­lichkeit, Polizei, Stadtoberhäupter und Postbeamte zusammen, um die Ausführung der Seuchenschutzmaßnahmen zu gewährleisten und für den Informationsaustausch zu sorgen.20 Damit unterschied sie sich signifikant von der Kommission, die 1771 zur Bekämpfung der Pest einberufen wurde und ausschließ­lich in Moskau tätig war, während es in der Provinz keine vergleichbaren Institutionen gab.21 Die Existenz dieser Komitees, aber auch weitere Schritte, wie die Aufstockung des Personaletats der Landschaftsgerichte während der Choleraepidemie, lassen ein ambivalentes Urteil zu.22 Einerseits kann man sie als einen Beweis dafür betrachten, dass sich die bestehenden Verwaltungsstrukturen nicht für eine wirksame Organisation des Seuchenschutzes eigneten.23 Andererseits bildeten sie einen Rahmen, innerhalb dessen provisorische Maßnahmen stattfinden konnten: etwa die Gründung zusätz­licher Krankenhäuser oder auch die Versetzung von Ärzten in Gebiete, die von der Cholera betroffen waren. Eine vorübergehende strukturelle Veränderung, wie sie die Cholerakomitees darstellen, erscheint allerdings insgesamt wie ein Eingeständnis, dass die zentralisierten Entscheidungswege für eine Extremsituation untaug­lich waren. Diese Abweichung von der regulären Organisation soll daher an dieser Stelle genauer betrachtet werden. Grundsätz­lich oblag die Entscheidung darüber, ob in einem Gouvernement Maßnahmen zum Seuchenschutz angewandt oder eingestellt wurden, der Zentralmacht. In den Augen des Innenministers Arsenij Zakrevskij stand diese Struktur jedoch der Bekämpfung der Cholera im Wege: „Die große Entfernung der Hauptstadt, die als Quelle aller Entscheidungen und Hilfeleistungen fungiert, stellt bei allem Streben nach Allgemeinwohl ein Hindernis für die Bekämpfung des Übels […] dar.“ 24 Damit kritisierte der Innenminister eine strukturelle Schwäche des Zarenreichs, die angesichts der Herausforderung durch die Epidemie in aller Deut­lichkeit zu Tage trat. Allein die geographische Entfernung der meisten von der Cholera betroffenen Gegenden von St. Petersburg ließ befürchten, dass Entscheidungsprozesse nicht 20 Erlass des Innenministers, Arsenij Zakrevskij, vom 14. September 1830. GAVO f. i–135, op. 1, d. 56, l. 25 – 26, hier l. 26. 21 Zur Kommission, die aus Vertretern der Verwaltung und Medizinern bestand, siehe Alexander, Bubonic Plague, S. 212 – 216. 22 Die vorübergehende Aufstockung des Personaletats der Landschaftsgerichte wurde vom Innenminister im Herbst 1830 angeordnet. Schreiben des Innenministers, Arsenij Zakrevskij, an den Gouverneur von Voronež, Dmitrij Bergičev, vom 27. September 1830. GAVO f. i–30, op. 1, d. 984, l. 32. 23 Diesen Schluss zieht McGrew, Epidemic, hier S. 234. 24 Kopie des Schreibens des Innenministers, Arsenij Zakrevskij, an Nikolaus I. vom 28. August 1830. GAJaO f. 79, op. 1, d. 804, l. 4 – 6ob., Zitat l. 5.

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rechtzeitig stattfinden und Befehle nicht rechtzeitig ausgeführt werden könnten.25 Nachdem sich bereits Zehntausende mit der Cholera angesteckt hatten, sprach sich der Innenminister für eine Veränderung der Entscheidungsstrukturen aus: „Die Cholera ist in Russland eine außergewöhn­liche Erscheinung. Deswegen müssen auch die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung die bisherige Ordnung sprengen.“ 26 Mit anderen Worten: Man könne die Cholera nicht erfolgreich bekämpfen, wenn man an der gewohnten zeitaufwendigen Verwaltungspraxis festhalte. Zakrevskij forderte eine Verlagerung der Entscheidungskompetenz von der Hauptstadt weg. Er schlug vor, eine Zentralkommission unter dem Vorsitz eines Generals oder eines Senators zu gründen, die aus hochrangigen Medizinern sowie Entscheidungsträgern der Zivil- und Militärverwaltung bestehen sollte. Mediziner – vor allem Professoren und Universitätsadjunkten, Stabsärzte, aber auch Medizinal­beamte der zivilen und der Militärmedizinalverwaltung – würden sich nicht nur der Heilung widmen, sondern gleichzeitig die wenig bekannte Krankheit erforschen.27 Indem sie medizinische Forschung und politische Macht vereinigte, sollte die Kommission eine effizientere Organisation der Seuchenbekämpfung ermög­lichen. Dieser Vorschlag Zakrevskijs ist aus zwei Gründen bemerkenswert: Zum einen war die Kommission als ein ortsungebundenes Organ vorgesehen, das seinen Standort nach Bedarf wechseln konnte. So sollte seine erste Station Saratov sein.28 Damit wollte Zakrevskij also die bisherige Praxis, alle wichtigen Entscheidungen in der Seuchenbekämpfung in der Hauptstadt zu treffen, ändern, indem er lokale Probleme vor Ort lösen ließ. Doch zum anderen sprengte der Vorschlag des Innenministers trotz aller Kritik, die er an der bisherigen Organisation der Cholerabekämpfung übte, nicht wie angekündigt die bestehende Ordnung. Er blieb vielmehr systemimmanent. Der Zuschnitt der Zentralkommission demonstrierte in einer denkbar klaren Art und Weise, wie wenig die Staatsgewalt bereit war, Kompetenzen von der zentralen auf die lokale Ebene zu verlagern. Dieses Charakteristikum war der Medizinal­verwaltung sowohl im ausgehenden achtzehnten als auch im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts eigen. Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge und nach 1797 lokale Medizinal­behörden – die als professionalisierte Organe die Herauslösung der medizinischen Versorgung aus 25 Komplett von der Cholera befallen waren in den Jahren 1830 und 1831 die Gouvernements ­Astrachan’, Kaukasus, Orenburg und Saratov. Teilweise betroffen waren die Gouvernements Moskau, ­Simbirsk, Kazan’, Penza, Nižnij Novgorod, Kursk, Char’kov, Poltava, Kiew, Wolhynien, Podolien, E ­ katerinoslav, Cherson und Taurien sowie das Gebiet der Donkosaken. Siehe Kabuzan, Izmenenija, S. 8, Anm. 14. 26 Kaiser­lich bestätigter Beschluss des Ministerkomitees vom 29. August 1830, in: PSZ II Bd. 5/1, Nr. 3.881, S. 819 – 824, hier S. 822. 27 Ebd., S. 822 f. 28 Ebd., S. 823.

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Schlussbetrachtung

dem Wohltätigkeitsdiskurs besiegelten – blieben in ihren Entscheidungen stark an St. Petersburg gebunden. Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge mussten etwa aus lokalen Mitteln finanzierte Krankenhausbauprojekte von der Zentralgewalt genehmigen lassen. Lokalen Medizinal­verwaltungen unterstand ledig­lich die unterste Gruppe des medizinischen Personals, die Arztlehrlinge, während über Einstellung und Amtsenthebung der Medizinal­beamten stets im Zentrum entschieden wurde. Mit derart eng bemessenen Kompetenzen konnte die lokale Medizinal­verwaltung nur schwer flexibel auf entstehende Problemlagen reagieren. Auch hatte die zentralisierte Verteilung von medizinischen Geräten, Medikamenten und dem Impfstoff gegen die Pocken negative Auswirkungen auf die Qualität der medizinischen Versorgung in der Provinz des Rus­sischen Reiches. Wegen der Beschaffungsmethoden, die über St. Petersburg beziehungsweise Moskau führten, und der weiten geographischen Ausdehnung des Landes konnten Arzneien und Instrumente ihren Bestimmungsort oft nicht rechtzeitig erreichen. Zwar unternahm der Gesetzgeber seit der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts vereinzelt gezielte Maßnahmen, um diesen Missstand zu beheben, indem er etwa Heilkräuter in allen Gouvernements anbauen und sammeln ließ. Doch deckte man damit nur einen Bruchteil des lokalen Bedarfs an Heilmitteln. Die starke Zentralisierung der Kommunikationsstrukturen wirkte sich auch während der Choleraepidemie negativ aus. Als zum Beispiel die Seuche in Saratov ausbrach, erfuhr die Gouvernementsverwaltung des benachbarten Gouvernements Tambov nicht einmal, welche Maßnahmen in Saratov gegen die Cholera ergriffen und ob Quarantänen eingerichtet wurden.29 Doch obgleich die fehlende Kommunikation zwischen den Gouvernements bisweilen in die Kritik geriet, bewegte sich auch die Gründung der Zentralkommission innerhalb des bestehenden strukturellen Rahmens. Insofern ähnelte diese Maßnahme durchaus der Entsendung des Grafen Orlov im Jahre 1771 nach Moskau, um dort die Bekämpfung der Pestepidemie zu organisieren. Der Unterschied bestand allerdings vor allem darin, dass die 1770er Jahre von einem Fehlen der Verwaltungsstrukturen geprägt waren, während die Staatsmacht in den 1830er Jahren nicht gewillt war, Kompetenzen an ihre Repräsentanten in der Provinz und an lokale Kräfte zu übertragen. Obwohl die Entscheidungswege zentralisiert waren, darf jedoch nicht der Eindruck entstehen, die lokale Ebene sei ledig­lich zur gehorsamen Ausführung zen­ tral erlassener Befehle bestimmt gewesen. Sowohl bei der Konzeption der lokalen Verwaltungsstrukturen als auch im Alltag hatte die Provinz durchaus Einfluss auf die Medizinal­gesetzgebung. Wünsche, die in Instruktionen zur Gesetzgebenden

29 Erlass der Gouvernementsverwaltung von Tambov an den Polizeimeister von Borisoglebsk vom 18. August 1830. GAVO f. i–135, op. 1, d. 56, l. 2 – 11, hier l. 2ob., 10 – 10ob.

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Kommission geäußert wurden, von lokalen Behörden beklagte Finanzierungsprobleme der Krankenbehandlung oder die Tätigkeit lokaler Komitees zur Verbreitung der Pockenschutzimpfung legten dem Gesetzgeber eine (Neu-)Regelung größerer und kleinerer Bereiche nahe. Somit kann man weniger von einer Medikalisierung, die von der Staatsgewalt betrieben wurde und auf offenen oder latenten Widerstand stieß, sprechen. Vielmehr setzte der Impuls, der von der Staatsgewalt ausgegangen war, vielfältige Kommunikations- und Aneignungsprozesse in Gang, in deren Zuge die Gestaltung des Medizinal­wesens zwischen der zentralen und der lokalen Ebene ausgehandelt wurde. Auch wenn die Umsetzung der Maßnahmen gegen die Cholera in den Augen der Staatsgewalt unbefriedigend verlief, lassen sich Veränderungen im Medizinal­wesen feststellen, die durchaus den Zielen der staat­lichen Politik entsprachen. Die Anzahl des medizinischen Personals in den Gouvernements, die dieser Studie als Fallbeispiel dienten, hatte sich im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts gegenüber den 1770er Jahren um ein Vielfaches vergrößert. Während es im Gouvernement ­Tambov während der Pestepidemie ledig­lich zwei Ärzte gegeben hatte, waren dort im Jahre 1820 neben Lehrlingen und Hebammen zwölf Medizinal­beamte und acht frei prakti­ zierende Ärzte tätig.30 Aus dem Gouvernement Jaroslavl’ ist die Beteiligung von siebzehn Ärzten an der Bekämpfung der Choleraepidemie überliefert, wobei auch Militärärzte und Mediziner aus anderen Gouvernements eingesetzt wurden.31 Bei Ausbruch der Cholera verfügten fast alle Kreisstädte in den drei Gouvernements über ein Krankenhaus, das zwar in der Regel vorwiegend von Militärs und ihren Familienangehörigen genutzt wurde, wo sich jedoch auch Zivilpersonen behandeln ließen. Das wesent­liche Ergebnis der staat­lichen Politik fünfundfünfzig Jahre nach der Reform der lokalen Verwaltung von 1775 war also der Aufbau von Kommunikationskanälen, die nicht nur eine routinemäßige Weitergabe von Anordnungen aus der Hauptstadt in die Provinz ermög­lichten, sondern auch einen Informationsfluss von der lokalen an die zentrale Ebene gewährleisteten.

30 Art. „Ėpidemii“, in: Molčanova; Olonceva; Ščukin (Hg.), Tambov, S. 307 – 310, hier S. 308; Tabellen zu Medizinal- und Apothekenbeamten im Gouvernement Tambov im Jahr 1820. RGIA f. 1299, op. 9, svjazka 18, d. 332b, l. 2 – 4. 31 Liste der Mediziner, die im Gouvernement Jaroslavl’ zur Behandlung der Cholerakranken eingesetzt wurden, als geheimes Schreiben des Gouverneurs von Jaroslavl’, Konstantin Poltorackij, an den Innenminister, Fëdor Ėngel’, vom 31. Dezember 1830. GAJaO f. 73, op. 4, d. 822, l. 4 – 5ob.

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Schlussbetrachtung

6. 2   Kom mu n i k a t io n Der beschriebenen Entwicklung war es zu verdanken, dass das Zentrum die Provinz um 1830 deut­lich besser kannte als in den 1770er Jahren. Es lernte allmäh­lich, das lokale Potenzial auch für Aufgaben im Bereich der medizinischen Versorgung und des Seuchenschutzes einzusetzen. Frei­lich gaben etwa die nach St. Petersburg übermittelten Impfzahlen den tatsäch­lichen Fortgang der Impfkampagne nur ungefähr wieder. Aus manchen Gegenden fehlten die Informationen bisweilen fast komplett. Doch konnten zum Beispiel Klagen der Ärzte über starke saisonale Schwankungen der Patientenzahlen in Krankenhäusern – wie es etwa in der pulsierenden Hafenstadt Rybinsk im Gouvernement Jaroslavl’ der Fall war – dazu führen, dass medizinische Versorgungseinrichtungen den Anforderungen angepasst wurden. Vor allem aber erlaubten der Informationsfluss von unten nach oben und die verbesserte Kenntnis der regionalen Gegebenheiten durch lokale Behörden, bei Bedarf zusätz­liche Kapazitäten zu mobilisieren. Die Bekämpfung der Cholera machte nicht nur in der Verwaltung eine personelle Verstärkung notwendig. Man benötigte auch mehr Kräfte für medizinische Aufgaben. Nachdem der Vorsitzende der Zentralkommission zur Bekämpfung der Cholera, Graf Zakrevskij, in einem Rundschreiben an die Gouverneure des Reiches dargelegt hatte, dass „der Aderlass [erfahrungsgemäß] das zuverlässigste und sicherste Mittel gegen die Cholera“ sei, ordnete er an, Informationen über alle Personen zu sammeln, die diese Prozedur durchführen könnten.32 Neue Kommunikationsstrukturen bedeuteten allerdings viel mehr, als dass die Staatsgewalt ledig­lich einen Zugriff auf Ressourcen im Bereich des Medizinal­wesens bekam. Wenn man in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts auf zentraler Ebene einem Interesse begegnete, das Reich in seiner Vielfalt kennenzulernen, ent­wickelte sich mit der Professionalisierung der lokalen Medizinal­verwaltung im frühen neunzehnten Jahrhundert die Tendenz, verschiedene Bereiche des Medizinal­ wesens statistisch zu erfassen. Am Anfang standen Krankenhausberichte über die Anzahl der Patienten, ihre Diagnosen und die Verweildauer in der jeweiligen Heilanstalt. Einen Schub erfuhr die medizinische Statistik mit dem Voranschreiten der Pockenimpfkampagne. Während der Choleraepidemie diente die Statistik nicht nur verwaltungsinternen Zwecken, sondern wurde mit einer beispiellosen Systematik an die Öffent­lichkeit kommuniziert.33

32 GAJaO f. 73, op. 1, d. 2524, l. 2. Im Gouvernement Jaroslavl’ wurden daraufhin 82 Personen ausfindig gemacht, unter ihnen zahlreiche Barbiere, aber auch leibeigene Bedienstete und Soldaten: Register der Personen im Gouvernement Jaroslavl’, die im Falle einer Choleraepidemie eingesetzt werden können, um Kranke zur Ader zu lassen. Stand Herbst 1830–Januar 1831. GAJaO f. 73, op. 1, d. 2524, l. 3 – 4. 33 Auch im Westen Europas gehörte die Statistik zu den wesent­lichen Neuerungen im Umgang mit Seuchen. Siehe Kessel, Gefahr, S. 277.

Kommunikation

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Vom September 1830 bis zum Abklingen der Cholera in Moskau im Jahre 1831 erschien eine Beilage der Zeitung Moskovskie vedomosti (Moskauer Nachrichten), die fast täg­lich über den Fortgang der Seuche informierte. Diese Publikation mit dem Titel Vedomost’ o sostojanii goroda Moskvy (Bericht über den Zustand der Stadt Moskau) ging auf einen Befehl des Moskauer Generalgouverneurs Fürst Dmitrij Golicyn zurück, der „die Einwohner mit zuverlässigen Informationen über den Zustand der Stadt versorgen sowie falsche und haltlose Gerüchte, die vorzeitige Angst und Mutlosigkeit hervorrufen“, zerstreuen wollte. Im Blatt wurden veröffent­licht: „offizielle Nachrichten über plötz­liche Krankheits- und Todesfälle, die heutzutage im einfachen Volk der Cholera zugeschrieben werden, alle ohne Ausnahme; Nachrichten über Auswirkungen der Cholera in anderen Gegenden; verschiedene Anweisungen, welche Vorkehrungen die Einwohner in der Wohnung, Kleidung, Nahrung, Getränken und so weiter treffen können; Nachrichten über Maßnahmen, die die Regierung zur Abwehr der Cholera in cholerafreien Gegenden und zu deren Bekämpfung in befallenen Gegenden trifft“.34

Hier publizierte man die offiziellen Opferzahlen und Informationen darüber, welche Mediziner für welche Stadtteile zuständig waren. Die Statistik entwickelte sich also zu einem Instrument, mit dessen Hilfe die Staatsgewalt versuchte, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Allerdings blieb die Maßnahme in dieser Reichweite auf die beiden Hauptstädte beschränkt. Aus der Provinz des Rus­sischen Reiches sind keine vergleichbaren Informationsstrategien überliefert. Man kann nur vermuten, dass sich die Information wegen der fehlenden lokalen Presse auf amt­liche Bekanntmachungen in herkömm­licher Form beschränkte.35 Auch der zur Bekämpfung der Pest einberufene Medizinische Rat gab Empfehlungen zum Umgang mit der Seuche heraus.36 Doch bemühten sich Mediziner im Staatsdienst während der Cholera deut­lich intensiver als im achtzehnten Jahrhundert darum, die Bevölkerung über die Krankheit und entsprechende Vorsichtsmaßnahmen zu informieren. Aufgrund der fortschreitenden Entwicklung des Druckwesens waren Aufklärungsschriften für das „einfache Volk“ im frühen neunzehnten Jahrhundert auf dem Markt stärker präsent als um 1770.37 Die Zahl der Lesekundigen

34 Vedomost’ o sostojanii goroda Moskvy Nr. 1 vom 23. September 1830, Vorwort o. S. 35 In Voronež erschien das Amtsblatt Voronežskie gubernskie vedomosti (Voronežer Gouvernementsnachrichten) erst seit 1838. Gleichzeitig trat das entsprechende Presseorgan im benachbarten ­Tambov und in Jaroslavl’ in Erscheinung. Siehe Lisovskij, Bibliografija Bd. 2, S. 419, 779, 896. 36 Renner, Wissenstransfer, S. 196. Siehe auch Alexander, Bubonic Plague, S. 28 f. 37 Siehe etwa die auf Geheiß des Medizinal­rats herausgegebene Schrift Nastavlenie prostomu narodu. Die folgenden Publikationen dienten zwar weniger der Aufklärung nicht fachkundiger Einwohner,

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Schlussbetrachtung

im Rus­sischen Reich blieb allerdings auch in den 1830er Jahren gering. Doch selbst wenn sich die Staatsgewalt erst auf dem Höhepunkt der Choleraepidemie und erst als die Krankheit vor den Toren der alten Hauptstadt stand, dazu entschloss, die Öffent­lichkeit systematisch über den Verlauf der Seuche zu informieren, bestand ein signifikanter Unterschied zum Umgang mit der Pestepidemie der 1770er Jahre, als die Staatsgewalt lange gezögert hatte, die grassierende Seuche überhaupt als Pest anzuerkennen.38

6. 3  L ok a le G e s el l s ch a f t e n Die Beilage zu den Moskovskie vedomosti, die offizielle Informationen über die Cholera verbreitete, zeigt nicht nur den neuartigen Einsatz der Statistik. Auch in einem weiteren Punkt erscheint der Umgang der Staatsgewalt mit dem Medium Zeitung bemerkenswert. Es wurde benutzt, um lokale Eliten in einer Ausnahmesituation zu mobilisieren. In der dritten Ausgabe der Vedomost’ publizierte die Redaktion folgende Mitteilung: „Der Moskauer Kaufmann und Fabrikant Baumberg hat den Wunsch geäußert, alle armen Einwohner des Stadtteils Lafertovo unentgelt­lich mit Chlorkalk zu versorgen.“ 39 Am darauffolgenden Tag enthielt das Blatt die Nachricht von einem Kaufmann der Ersten Gilde, der – „von Mitgefühl bewegt“ – dem Provi­ sorischen Medizinal­rat dreitausend Eimer Chlorwasser geschenkt hatte.40 In den folgenden Ausgaben häuften sich Meldungen über Notabeln, die ihre Häuser zur Einrichtung von provisorischen Choleralazaretten zur Verfügung stellten sowie Geld oder Betten für Krankenhäuser spendeten.41 Einmal in der Zeitung bekanntgemacht, wurden die Spenden zu nachahmenswerten Beispielen. Der Appell an Mitleid und Verantwortung der Eliten verband sich mit dem Appell an die Eitelkeit der Kaufmannschaft, denn die Veröffent­lichung des Namens und meist auch des Ausmaßes der Wohltat diente der Manifestation der persön­lichen Güte, Pf­lichtschuldigkeit und des Reichtums im öffent­lichen Raum.





zeugten jedoch von der Präsenz des Themas Cholera und deren Bekämpfung in der Öffent­lichkeit: Sobranie aktov i nabljudenij; Traktat o poval’no-zarazitel’noj bolezni. 38 Diverse im Jahre 1771 gesammelte Mitteilungen, die Einführung von Vorsichtsmaßnahmen gegen die Krankheit und den Bau von Quarantänehäusern betreffend. RGADA f. 16, op. 1, d. 328; Manifest ­Katharinas II. vom 9. September 1771, in: PSZ I Bd. 19, Nr. 13.653, S. 309 – 310. Siehe auch Alexander, Bubonic Plague, S. 174. 39 Vedomost’ o sostojanii goroda Moskvy Nr. 3 vom 25. September 1830, o. S. Chlorhaltige Substanzen wurden verwendet, um Gegenstände und Räume vom Cholera-Kontagium zu befreien. 40 Vedomost’ o sostojanii goroda Moskvy Nr. 4 vom 26. September 1830, o. S. 41 Siehe zum Beispiel Vedomost’ o sostojanii goroda Moskvy Nr. 8 vom 30. September 1830, o. S.; Nr. 10 vom 2. Oktober 1830, o. S.; Nr. 11 vom 3. Oktober 1830; Nr. 12 vom 4. Oktober 1830, o. S.

Lokale Gesellschaften

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Moskau nahm in diesem Fall eine Sonderstellung ein, denn hier erschien eine der beiden bedeutendsten Zeitungen des Landes. Andernorts fand aber eine vergleichbare Kommunikation ohne Beteiligung der Presse statt. Dem Aufruf und dem Beispiel des Stadthaupts von Rybinsk im Gouvernement Jaroslavl’, der für die Bekämpfung der Choleraepidemie fünfhundert Rubel gespendet hatte, waren über fünfzig Kaufleute gefolgt. Die Spenden beliefen sich auf insgesamt 4394 Rubel.42 Es war kein Zufall, dass die meisten Spenden zugunsten der Choleraopfer aus der Kaufmannschaft stammten.43 Seit der Jahrhundertwende spielten Russlands Kaufleute eine immer markantere Rolle in der lokalen Öffent­lichkeit, die in der gestiegenen wirtschaft­lichen Kraft und dem damit verbundenen neuen Habitus begründet lag. Am Beispiel der Medizinal­verwaltung und der Wohltätigkeit im Bereich der medizinischen Versorgung lässt sich verfolgen, wie die Staatsgewalt Räume für die Tätigkeit einzelner gesellschaft­licher Gruppen schuf,44 sowie dafür, wie die Eliten diese Räume allmäh­lich erschlossen und neue Handlungsmuster erlernten. Es dauerte etwa eine Generation, bis Adel und Kaufleute begannen, sich die Rollen anzueignen, die ­Katharina II. mit den Reformen der lokalen Verwaltung an sie herangetragen hatte. Eine wichtige Veränderung bewirkte hier Alexander I., der den Diskurs über die Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit um die christ­liche Nächstenliebe ergänzte – eine Komponente, die bei den Eliten starken Widerhall fand. Mit der Gründung der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge im Rahmen der Verwaltungsreform des Jahres 1775 übertrug ­Katharina II . den Ausbau medizi­ nischer Einrichtungen in der Provinz – und in erster Linie die finanzielle Last dieses Projekts – der lokalen Bevölkerung, die dadurch zur Verantwortung für lokale Belange erzogen werden sollte. Die Reaktion lokaler Eliten auf dieses neue Rollenangebot entsprach nicht der Hoffnung der Kaiserin. Zwar verzeichneten Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge, die in der Regel um 1780 entstanden waren, sowohl größere als auch kleinere Spenden. Doch die Aktivität, die in den letzten Jahrzehnten des achtzehnten Jahrhunderts auf lokaler Ebene zu Tage trat, vermittelte der Staatsgewalt nicht den Eindruck, ört­liche Eliten hätten den systematischen Aufbau medizinischer Einrichtungen zu ihrer Aufgabe gemacht. Drei Faktoren trugen dazu bei, dass sich um die Jahrhundertwende deut­liche Veränderungen im Verhalten der Notabeln feststellen lassen: Erstens löste die 42 Bericht der Stadtduma von Rybinsk an den Gouverneur von Jaroslavl’, Konstantin Poltorackij, vom 27. Dezember 1830. GAJaO f. 73, op. 1, d. 2517, l. 94 – 96. Eine lange Liste der Moskauer Spender enthält die Publikation von Samojlov, Zapiski Bd. 2, S. 2 – 125. 43 Siehe Vedomost’ o sostojanii goroda Moskvy Nr. 27. vom 19. Oktober 1830, o. S. Die Ausgabe enthält eine lange Liste der Spender, von denen ein Großteil Kaufleute waren. 44 Somit bestätigt diese Arbeit für das ausgehende 18. und das frühe 19. Jahrhundert das Ergebnis der Studien von Marc Raeff, der „den Staat“ als Hauptakteur und Träger jeg­licher Initiativen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts sieht. Siehe Raeff, Police State, S. 250.

388

Schlussbetrachtung

Professionalisierung der lokalen Medizinal­verwaltung durch die Reform des Jahres 1797 das Medizinal­wesen aus dem Wohltätigkeitsdiskurs heraus und befreite damit die lokale Bevölkerung von der mora­lischen – nicht aber der finanziellen – Verantwortung für den Ausbau der medizinischen Versorgung. In den ersten Regierungsjahren Alexanders I. wurde schließ­lich das Gebot der Verantwortung der Eliten durch den Appell an das christ­liche Mitleid und die Nächstenliebe ersetzt. Dieser sprach um die Jahrhundertwende größere Teile der Reichselite an, als dies die Erinnerung an die Pf­licht gegenüber dem Vaterland in den vorangegangenen Jahrzehnten zu tun vermocht hatte. Die Pf­licht wich im offiziellen Diskurs der Freiwilligkeit. Zweitens war in Russland um 1800 eine Generation herangewachsen, deren Sozialisation sich von der ihrer Eltern unterschied. Vermehrte Kontakte zum Westen Europas machten Russlands Adel und Kaufmannschaft mit Verhaltensmustern ihrer Standesgenossen außerhalb des eigenen Landes bekannt. Das Engagement zugunsten des Gemeinwohls wurde von Europareisenden als ein nachahmenswertes Beispiel dargestellt. Kombiniert mit diesem neuen Erfahrungshorizont erwies sich womög­lich auch die Rolle der Väter, die sich als Adelsmarschälle oder Mitglieder der Stadtduma an der Arbeit der lokalen Verwaltungsorgane beteiligten, als prägend für das Selbstverständnis der neuen Generation der Adligen und Kaufleute. Drittens schuf der wirtschaft­liche Aufstieg der Kaufmannschaft im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert eine wesent­liche Grundlage für neue Handlungsmuster. In den ersten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts lassen sich in verschiedenen Landesteilen private Krankenhausgründungen verzeichnen, die zumeist auf die Initiative von Einzelpersonen zurückgingen. Obwohl das individuelle Engagement in diesem Bereich dominierte, traten im frühen neunzehnten Jahrhundert auch Zusammenschlüsse von Edelleuten und Stadtbewohnern auf, so dass man der Wohltätigkeit bis zu einem gewissen Grad eine Vergemeinschaftungsfunktion bescheinigen kann. Mit steigendem Wohlstand wuchs auch das Bedürfnis, die eigene gesellschaft­liche Position im öffent­lichen Raum zu manifestieren. Die Stiftung von Krankenhäusern deutet außerdem darauf hin, dass diese Institution im frühen neunzehnten Jahrhundert nicht mehr fremd war, sondern in den Augen der lokalen Bevölkerung zur Ausstattung einer Gouvernements- oder Kreisstadt mit öffent­lichen Einrichtungen dazugehörte. Der Krankenhausbau galt sowohl der Stadt als auch dem Stifter als ein Prestigeprojekt. An diesem Punkt tritt einer der wesent­lichen Unterschiede zwischen dem Gouvernement Jaroslavl’ und den beiden Gouvernements im Schwarzerdegebiet, ­Tambov und Voronež, zu Tage: die Auswirkungen der sozialen Zusammensetzung der Bevölkerung auf das Medizinal­wesen. Die Entstehung der Stadtkrankenhäuser führt deut­ lich vor Augen, dass die Entwicklung der medizinischen Versorgung zum großen Teil von der lokalen Initiative abhing, und diese ging im nörd­lichen Gouvernement von der wirtschaft­lich erstarkenden Kaufmannschaft aus. Im agrarisch geprägten

Lokale Gesellschaften

389

Schwarzerdegebiet fehlte dagegen eine vergleichbar aktive Bevölkerungsgruppe. Der grundbesitzende Adel, der sich zumeist gar nicht auf seinen Landgütern aufhielt,45 zeigte offenbar weniger Interesse an lokalen Belangen. Diese Bilanz soll nicht den Eindruck vermitteln, die Erfüllung staat­lich vorgeschriebener Aufgaben im Bereich des Medizinal­wesens sei stets freiwillig gewesen und habe keinen Widerstand seitens der Eliten gekannt. Wohl kaum jemand war erfreut, wenn er für unbestimmte Zeit zum Dienst an die Quarantänestation oder in ein provisorisches Lazarett abgeordnet wurde, wo die Wahrschein­lichkeit, sich mit der Cholera anzustecken, viel höher war als in den eigenen vier Wänden. Viele beschwerten sich über die als willkür­lich empfundene Verteilung von Aufgaben im Seuchenschutz, manche widersetzten sich den Anordnungen.46 Dies gilt sowohl für Eliten als auch für andere Bevölkerungsgruppen.47 Doch nicht nur waren im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts staat­liche Verwaltungsstrukturen so weit gewachsen, dass die tatsäch­liche Machtausübung zumindest ansatzweise mög­lich war. Auch hatten die lokalen Eliten im Allgemeinen die Verantwortung für Belange des Gemeinwohls anerkannt, die ihnen seit der Regierung ­Katharinas II. auferlegt worden war: Das Verhalten der Eliten sowohl im Bereich der Wohltätigkeit als auch im Dienst während der Choleraepidemie zeigt, dass sie diese Idee nun in ihren eigenen Verhaltenskodex aufgenommen hatten, denn sie achteten auf seine Einhaltung auch ohne Zutun der Staatsgewalt.48 Die Beobachtung, dass die Gesellschaft des Zarenreichs im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert eine „staat­liche Veranstaltung“ war,49 ist mit Blick auf das Medizinal­wesen vollkommen zutreffend. Doch sie war nicht amorph, und Versuche, sie zur Aktivität zu bewegen, waren keineswegs zum Scheitern verurteilt. Die Aufgaben der Korporationen gingen im Bereich des Medizinal­wesens darüber hinaus, „dem Staat für die niederen Ämter Staatsdiener zu stellen, für Ruhe und Ordnung in

45 Der Adel von Tambov hielt sich 1780 zu 57,9 Prozent nicht in seinem Gouvernement auf, in ­Voronež fehlte er sogar zu 70,3 Prozent. Hartley, Reformen, S. 466. 46 Siehe etwa Lipinskij, Ėpidemii, S. 14 f. Ein Beispiel aus dem Gouvernement Voronež: Schreiben des Kreisadelsmarschalls von Voronež, Nikolaj Kejkuatov, an den Gouvernementsadelsmarschall, Semën Vikulin, vom 19. Oktober 1830. GAVO f. i–30, op. 1, d. 984, l. 47 – 47ob. 47 So war 1831 in Rostov ein Streit über die Abordnung zweier Schwestern zum Dienst in ein Cholerakrankenhaus entbrannt, der erst 1832 beigelegt wurde. Siehe den Briefwechsel zur Petition der meščanka Aleksandra Rostrigina. GAJaO f. 73, op. 1, d. 2525. 48 Zum Vorgehen der Adelsmarschälle im Gouvernement Voronež gegen einen Standesgenossen, der vor seiner Ernennung zum Quartalsaufseher in Voronež geflüchtet war, siehe GAVO f. i–30, op. 1, d. 984, l. 47 – 47ob. Isabel de Madariaga konstatiert bei den Adligen bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert ein gewisses Maß an Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Allgemeinheit. Siehe Madariaga, Nobility, S. 270. 49 Geyer, Gesellschaft. Auch Jan Kusber findet diese Formulierung treffend und wendet sich gegen deren verbreitete negative Auslegung. Siehe Kusber, Eliten- und Volksbildung, S. 19, Anm. 61.

390

Schlussbetrachtung

den Provinzen haftbar zu sein und dem Fiskus Steuern und Rekruten zuzuleiten“.50 Vermittels neuer Institutionen und neuer Diskurse wurden Adel und Stadteinwohner, in erster Linie aber ihre Oberschicht, die Kaufmannschaft, zu neuen Rollen im Staat erzogen. Die Entwicklung im späteren neunzehnten Jahrhundert – die fortschreitende Vergesellschaftung und die Entstehung einer Gesellschaft – hatte ihre Wurzeln in den Gegebenheiten, die ­Katharina II. mit ihren Reformen geschaffen hatte.51 Allerdings erlauben die Ergebnisse dieser Arbeit nicht, für das frühe neunzehnte Jahrhundert von der Gesellschaft zu sprechen. In den Jahrzehnten nach der Reform der lokalen Verwaltung im Jahre 1775 wurden zwar verschiedene Akteure auf lokaler Ebene aktiv. Doch die Handlungsmuster blieben weitgehend nach Ständen differenziert. Eine Ausnahme bildeten gelegent­liche Zusammenschlüsse der Städter. Die Integration der Eliten, die von der rus­sischen Staatsgewalt seit der Regierung ­Katharinas angestrebt wurde, förderte vielmehr die Entstehung verschiedener gesellschaft­licher Strukturen auf lokaler Ebene. Die größte Veränderung betraf die Kaufmannschaft, die sich zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts durch ein bis dahin ungekanntes Ausmaß an Wohltätigkeit hervortat. Der Adel veränderte sich dagegen weniger auffällig, sondern legte ledig­lich zunehmende Verantwortung für lokale Belange und ein immer stärker ausgeprägtes Standesbewusstsein an den Tag, dessen integralen Bestandteil die Dienstbereitschaft gegenüber dem Monarchen bildete. Auch begegnete die Staatsgewalt den einzelnen sozialen Gruppen mit unterschied­lichen Erwartungen und trug unterschied­liche Rollen an sie heran. Dieses Verhalten förderte ebenfalls eine Ausdifferenzierung verschiedenartiger, standesbezogener Handlungsmuster.52 Zwar lassen sich im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts Spuren einer ständeübergreifenden Kommunikation und auch ebensolcher Aktivität erkennen: etwa beim Engagement städtischer Gesellschaften zugunsten medizinischer Einrichtungen. Doch handelte es sich dabei um Einzelfälle, die sich allenfalls als Ansätze zur Herausbildung sozial übergreifender Strukturen klassifizieren lassen. Darin entspricht das Phänomen der lokalen Gesellschaften der Intention ­Katharinas II., deren Reformen keinen „Personenverband jenseits ständischer Zugehörigkeiten“ schaffen,53 sondern Aktivität innerhalb der bestehenden sozialen Verfassung wecken sollten.

50 Geyer, Gesellschaft, S. 43. 51 Hildermeier konstatiert, dass es „ein solches Hineinwachsen in Formen der aktiven Partizipation an den lokalen Angelegenheiten durch eine städtische Elite gab“. Hildermeier, Hoffnungsträger, S. 149. 52 Somit war die ständische Ordnung keine „bloße Fassade für die steuer­lichen Ansprüche des Staates“ – so Hildermeier, Bürgertum, S. 605 –, sondern eine Form, die zumindest teilweise mit Leben erfüllt war. 53 Ebd., S. 30.

Lokale Gesellschaften

391

Hatte die zarische Staatsgewalt mit ihrem Projekt eines öffent­lichen Medizinal­wesens nun Erfolg? Betrachtet man das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Einwohnern, Krankenhäusern und Ärzten oder die Ausstattung medizinischer Einrichtungen, liegt es nahe, dem Projekt ein Scheitern zu attestieren. Doch ein solches Ergebnis wäre wenig überraschend, ja im europäischen Vergleich sogar in höchstem Maße vorhersehbar. Dennoch war es der Staatsgewalt gelungen, zum ersten Mal in der Geschichte des Landes ein System zu schaffen, das eine reguläre medizinische Versorgung in der Provinz verankerte.54 Trotz der Ähn­lichkeiten auf der intentionalen Ebene zwischen Russland, M ­ ittelund Westeuropa bleiben wesent­liche strukturelle Unterschiede zwischen dem Zarenreich und Vergleichsbeispielen im Westen und im Zentrum des Kontinents bestehen. Wenn der neuzeit­liche Staat in Frankreich oder in Preußen auf die lokale Ebene vordrang und seine regulierende Tätigkeit entfaltete, traf er auf Akteure, die für manche lokalen Belange – etwa die medizinische Versorgung der Armen – bereits vor dem inneren Staatsaufbau Lösungen gefunden und diese institutionalisiert hatten.55 Als dagegen die Staatsgewalt im Zarenreich die Provinz zu erschließen begann, fand sie keine vergleichbaren Aktivitäten und Institutionen vor, die auf lokale Initiative hin entstanden wären. Während die Staatsmacht in den Ländern des west­lichen Europas im ausgehenden achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert ihren Zugriff auf die Provinz entweder gegen lokale Interessengruppen oder in Kooperation mit ihnen zu festigen versuchte, waren Russlands Monarchen darum bemüht, überhaupt erst eine Kooperationsbasis in Form von Gesellschaften und Institutionen auf lokaler Ebene zu schaffen. Das wachsende Kapital der Ämter für gesellschaft­liche Fürsorge, die Gründung von Krankenhäusern, die in den 1830er Jahren in fast allen Kreisstädten existierten, die steigende Anzahl einheimischer und in Russland ausgebildeter Mediziner sowie die Beteiligung unterschied­licher Bevölkerungsgruppen an der Verbreitung der Pockenschutzimpfung lassen sich vor diesem Hintergrund durchaus als Erfolge verbuchen. Vor allem war es der Staatsgewalt gelungen, Akteure auf lokaler Ebene in das neugeschaffene System der medizinischen Versorgung einzubinden und zur aktiven Teilnahme an lokalen Belangen zu bewegen. Auf diese Weise erzog der Staat seine Gesellschaften.

54 Zu einem ähn­lichen Schluss kommt in Bezug auf Bildungseinrichtungen Kusber, Eliten- und Volksbildung, S. 274. 55 Für Deutschland siehe Frohman, Poor Relief, S. 8; für Frankreich Foucault, Politique, S. 11 f.

A N H A NG

Karten

394

Karte 1: Gouvernement ­Jaroslavl’ 1822, aus: Geografičeskij atlas Rossijskoj Imperii. Hg. von V. P. Pjadyšev. St. Petersburg 1823, Tafel Nr. 30.

395

Pošechon’e

Ljubim Mologa

Danilov Rybinsk RomanovBorisoglebsk

Myškin Jaroslavl’ Uglič

Rostov

396

Elat’ma Temnikov

Spassk

Šack

Moršansk

Lebedjan’ Kozlov Tambov

Kirsanov

Lipeck

Usman’

Borisoglebsk

397

Karte 2: Gouvernement Tambov 1822, aus: Geografičeskij atlas Rossijskoj Imperii. Hg. von V. P. Pjadyšev. St. Petersburg 1823, Tafel Nr. 34.

398

Zadonsk

Zemljansk Voronež Nižnedevick

Korotojak

Bobrov

Ostrogožsk Birjuč Pavlovsk

Valujki

Bogučar

399

Novochopërsk

Karte 3: Gouvernement Voronež 1822, aus: Geografičeskij atlas Rossijskoj Imperii. Hg. von V. P. Pjadyšev. St. Petersburg 1823, Tafel Nr. 35.

400

St. Petersburg

Moskau

Voronež

Tambov

Jaroslavl’

401

Karte 4: Europäischer Teil des Rus­sischen Reiches, aus: Geografičeskij atlas Rossijskoj Imperii. Hg. von V. P. Pjadyšev. St. Petersburg 1823, Tafel Nr. 60a.

402

Anhang

Abbi ld u ng s n a chwei s Die Abbildungen 1 – 3 (S. 363 – 365) sowie die Umschlagabbildung wurden mit freund­licher Unterstützung von der Stiftung der Saalesparkasse bereitgestellt. Umschlagbild: Volksbogen vom Nutzen der Pockenimpfung, in: Alles von Zarin und Teufel. Europäische Russlandbilder aus vier Jahrhunderten. Die gesamten Rovinskij-Materialien für eine Rus­sische Ikonographie. Hg. von Hermann Goltz. Köln 2006. Bd. 1, S. 137. Abb. 1: Volksbogen vom Nutzen der Pockenimpfung, in: Alles von Zarin und Teufel. Europäische Russlandbilder aus vier Jahrhunderten. Die gesamten Rovinskij-­ Materialien für eine Rus­sische Ikonographie. Hg. von Hermann Goltz. Köln 2006. Bd. 1, S. 137. Abb. 2: Volksbogen vom Nutzen der Pockenimpfung, in: Alles von Zarin und Teufel. Europäische Russlandbilder aus vier Jahrhunderten. Die gesamten Rovinskij-­ Materialien für eine Rus­sische Ikonographie. Hg. von Hermann Goltz. Köln 2006. Bd. 1, S. 139. Abb. 3: Volksbogen vom Nutzen der Pockenimpfung, in: Alles von Zarin und Teufel. Europäische Russlandbilder aus vier Jahrhunderten. Die gesamten Rovinskij-­ Materialien für eine Rus­sische Ikonographie. Hg. von Hermann Goltz. Köln 2006. Bd. 2, S. 359.

Abk ü r z u ng s ve r z eich n i s d. delo (Akte) f. fond (Bestand) GAJaO Gosudarstvennyj archiv Jaroslavskoj oblasti (Staatsarchiv des Gebiets Jaroslavl’) GATO Gosudarstvennyj archiv Tambovskoj oblasti (Staatsarchiv des Gebiets Tambov) GAVO Gosudarstvennyj archiv Voronežskoj oblasti (Staatsarchiv des Gebiets Voronež) MVD Ministerstvo vnutrennich del (Innenministerium) o. opis’ (Findbuch) PSZ Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii (Vollständige Gesetzessammlung des Rus­sischen Reiches) RGADA Rossijskij gosudarstvennyj archiv drevnich aktov (Rus­sisches Staatsarchiv der alten Akten) RGIA Rossijskij gosudarstvennyj istoričeskij archiv (Rus­sisches historisches Staatsarchiv)

402

Anhang

Abbi ld u ng s n a chwei s Die Abbildungen 1 – 3 (S. 363 – 365) sowie die Umschlagabbildung wurden mit freund­licher Unterstützung von der Stiftung der Saalesparkasse bereitgestellt. Umschlagbild: Volksbogen vom Nutzen der Pockenimpfung, in: Alles von Zarin und Teufel. Europäische Russlandbilder aus vier Jahrhunderten. Die gesamten Rovinskij-Materialien für eine Rus­sische Ikonographie. Hg. von Hermann Goltz. Köln 2006. Bd. 1, S. 137. Abb. 1: Volksbogen vom Nutzen der Pockenimpfung, in: Alles von Zarin und Teufel. Europäische Russlandbilder aus vier Jahrhunderten. Die gesamten Rovinskij-­ Materialien für eine Rus­sische Ikonographie. Hg. von Hermann Goltz. Köln 2006. Bd. 1, S. 137. Abb. 2: Volksbogen vom Nutzen der Pockenimpfung, in: Alles von Zarin und Teufel. Europäische Russlandbilder aus vier Jahrhunderten. Die gesamten Rovinskij-­ Materialien für eine Rus­sische Ikonographie. Hg. von Hermann Goltz. Köln 2006. Bd. 1, S. 139. Abb. 3: Volksbogen vom Nutzen der Pockenimpfung, in: Alles von Zarin und Teufel. Europäische Russlandbilder aus vier Jahrhunderten. Die gesamten Rovinskij-­ Materialien für eine Rus­sische Ikonographie. Hg. von Hermann Goltz. Köln 2006. Bd. 2, S. 359.

Abk ü r z u ng s ve r z eich n i s d. delo (Akte) f. fond (Bestand) GAJaO Gosudarstvennyj archiv Jaroslavskoj oblasti (Staatsarchiv des Gebiets Jaroslavl’) GATO Gosudarstvennyj archiv Tambovskoj oblasti (Staatsarchiv des Gebiets Tambov) GAVO Gosudarstvennyj archiv Voronežskoj oblasti (Staatsarchiv des Gebiets Voronež) MVD Ministerstvo vnutrennich del (Innenministerium) o. opis’ (Findbuch) PSZ Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii (Vollständige Gesetzessammlung des Rus­sischen Reiches) RGADA Rossijskij gosudarstvennyj archiv drevnich aktov (Rus­sisches Staatsarchiv der alten Akten) RGIA Rossijskij gosudarstvennyj istoričeskij archiv (Rus­sisches historisches Staatsarchiv)

Quellen- und Literaturverzeichnis

403

SIRIO Sbornik Imperatorskogo Russkogo istoričeskogo obščestva (Sammlung der Kaiser­lichen rus­sischen historischen Gesellschaft)

Q u el le n - u nd Lit e r at u r ve r z eich n i s

Unveröffent­lichte Quellen Gosudarstvennyj archiv Jaroslavskoj oblasti – Staatsarchiv des Gebiets Jaroslavl’, GAJaO f. 72 Jaroslavskij general-gubernator – Generalgouverneur von Jaroslavl’ f. 73 Kanceljarija Jaroslavskogo gubernatora – Kanzlei des Gouverneurs von Jaroslavl’ f. 77 Jaroslavskoe namestničeskoe pravlenie – Statthalterei von Jaroslavl’ f. 79 Jaroslavskoe gubernskoe pravlenie – Gouvernementsverwaltung von ­Jaroslavl’ f. 83 Jaroslavskij prikaz obščestvennogo prizrenija – Amt für gesellschaft­liche Fürsorge von Jaroslavl’ f. 86 Jaroslavskaja vračebnaja uprava – Medizinal­behörde von Jaroslavl’ f. 628 Jaroslavskij gubernskij ospennyj komitet – Pockenkomitee des Gouver­ nements von Jaroslavl’ f. 674 Torgovo-promyšlennoe tovariščestvo Jaroslavskoj Bol’šoj Manufaktury – Handels- und Industriegenossenschaft der Großen Manufaktur von J­ aroslavl’ Gosudarstvennyj archiv Tambovskoj oblasti – Staatsarchiv des Gebiets Tambov, GATO f. 2 Tambovskoe gubernskoe pravlenie. Tambovskoe namestničeskoe pravlenie – Gouvernementsverwaltung von Tambov. Statthalterei von Tambov f. 4 Tambovskij namestnik. Kanceljarija Tambovskogo gubernatora – Statthalter von Tambov. Kanzlei des Gouverneurs von Tambov f. 16 Tambovskaja gorodskaja duma – Stadtduma von Tambov f. 30 Vračebnoe otdelenie Tambovskogo gubernskogo pravlenija – Medizinal­ abteilung der Gouvernementsverwaltung von Tambov f. 157 Kozlovskaja gorodskaja duma – Stadtduma von Kozlov f. 161 Tambovskoe gubernskoe dvorjanskoe sobranie. Tambovskij gubernskij predvoditel’ dvorjanstva – Adelsversammlung des Gouvernements Tambov. Gouvernementsadelsmarschall von Tambov

Quellen- und Literaturverzeichnis

403

SIRIO Sbornik Imperatorskogo Russkogo istoričeskogo obščestva (Sammlung der Kaiser­lichen rus­sischen historischen Gesellschaft)

Q u el le n - u nd Lit e r at u r ve r z eich n i s

Unveröffent­lichte Quellen Gosudarstvennyj archiv Jaroslavskoj oblasti – Staatsarchiv des Gebiets Jaroslavl’, GAJaO f. 72 Jaroslavskij general-gubernator – Generalgouverneur von Jaroslavl’ f. 73 Kanceljarija Jaroslavskogo gubernatora – Kanzlei des Gouverneurs von Jaroslavl’ f. 77 Jaroslavskoe namestničeskoe pravlenie – Statthalterei von Jaroslavl’ f. 79 Jaroslavskoe gubernskoe pravlenie – Gouvernementsverwaltung von ­Jaroslavl’ f. 83 Jaroslavskij prikaz obščestvennogo prizrenija – Amt für gesellschaft­liche Fürsorge von Jaroslavl’ f. 86 Jaroslavskaja vračebnaja uprava – Medizinal­behörde von Jaroslavl’ f. 628 Jaroslavskij gubernskij ospennyj komitet – Pockenkomitee des Gouver­ nements von Jaroslavl’ f. 674 Torgovo-promyšlennoe tovariščestvo Jaroslavskoj Bol’šoj Manufaktury – Handels- und Industriegenossenschaft der Großen Manufaktur von J­ aroslavl’ Gosudarstvennyj archiv Tambovskoj oblasti – Staatsarchiv des Gebiets Tambov, GATO f. 2 Tambovskoe gubernskoe pravlenie. Tambovskoe namestničeskoe pravlenie – Gouvernementsverwaltung von Tambov. Statthalterei von Tambov f. 4 Tambovskij namestnik. Kanceljarija Tambovskogo gubernatora – Statthalter von Tambov. Kanzlei des Gouverneurs von Tambov f. 16 Tambovskaja gorodskaja duma – Stadtduma von Tambov f. 30 Vračebnoe otdelenie Tambovskogo gubernskogo pravlenija – Medizinal­ abteilung der Gouvernementsverwaltung von Tambov f. 157 Kozlovskaja gorodskaja duma – Stadtduma von Kozlov f. 161 Tambovskoe gubernskoe dvorjanskoe sobranie. Tambovskij gubernskij predvoditel’ dvorjanstva – Adelsversammlung des Gouvernements Tambov. Gouvernementsadelsmarschall von Tambov

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Anhang

f. 181 Tambovskaja duchovnaja konsistorija 1759 – 1918 gg. Tambovskij eparchial’nyj sovet 1918 – 1923 gg. – Eparchialverwaltung von Tambov 1759 – 1918. Eparchialrat von Tambov 1918 – 1923 f. 186 Pravlenie Tambovskoj duchovnoj seminarii – Leitung des Priesterseminars von Tambov Gosudarstvennyj archiv Voronežskoj oblasti – Staatsarchiv des Gebiets Voronež, GAVO f. i–2 Voronežskoe gubernskoe pravlenie – Gouvernementsverwaltung von ­Voronež f. i–14 Voronežskoe namestničeskoe pravlenie – Statthalterei von Voronež f. i–29 Voronežskoe dvorjanskoe deputatskoe sobranie – Adelsversammlung des Gouvernements Voronež f. i–30 Voronežskij gubernskij predvoditel’ dvorjanstva – Gouvernementsadelsmarschall von Voronež f. i–84 Voronežskaja duchovnaja konsistorija – Eparchialverwaltung von Voronež f. i–135 Borisoglebskaja gorodskaja duma – Stadtduma von Borisoglebsk f. i–294 Ostrogožskaja (voevodskaja) provincial’naja kanceljarija – Provinzial-­ (Woiwodschafts-)Kanzlei von Ostrogožsk Rossijskij gosudarstvennyj archiv drevnich aktov – Rus­sisches Staatsarchiv der alten Akten, RGADA f. 5 Perepiska vysočajšich osob s častnymi licami – Briefwechsel erlauchter Personen mit Privatpersonen f. 10 Kabinet Ekateriny II – Kabinett ­Katharinas II. f. 16 Vnutrennee upravlenie – Innere Verwaltung f. 248 III Departament Senata – Drittes Departement des Senats f. 276 Kommerc-Kollegija – Kommerzkollegium f. 342 Komissii u sočinenii Novogo Uloženija – Gesetzgebende Kommissionen f. 344 Medicinskaja Kollegija – Medizinal­kollegium Rossijskij gosudarstvennyj istoričeskij archiv – Rus­sisches historisches Staatsarchiv, RGIA f. 91 Vol’noe Ėkonomičeskoe obščestvo – Freie Ökonomische Gesellschaft f. 733 Ministerstvo narodnogo prosveščenija – Ministerium für Volksaufklärung f. 1287 Ėkonomičeskij departament ministerstva vnutrennich del – Wirtschaftsdepartement des Innenministeriums f. 1294 Medicinskij sovet – Medizinal­rat f. 1297 Medicinskij departament ministerstva vnutrennich del – Medizinal­ departement des Innenministeriums

Quellen- und Literaturverzeichnis

405

f. 1299 Kanceljarija general-štab-doktora graždanskoj časti MVD – Kanzlei des zivilen Generalstabsdoktors im Innenministerium f. 1375 Revizija senatorov D. P. Troščinskogo i kn. P. P. Ščerbatova Moskovskoj, Vladimirskoj, Rjazanskoj, Kalužskoj, Tul’skoj i Tambovskoj gubernij – Revision der Gouvernements Moskau, Vladimir, Rjazan’, Kaluga, Tula und Tambov durch die Senatoren D. P. Troščinskij und Fürst P. P. Ščerbatov

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434

Anhang

Pe r s o ne n r eg i s t e r A Aleksandrovič, Fëdor  173 Alexander I. (Kaiser des Russischen Reiches)  24, 106, 114f., 118, 125, 158f., 207, 211, 227, 239, 292ff., 298f., 302, 310, 312f., 316, 328, 333, 367, 387f. Alexander II. (Kaiser des Russischen Reiches)  13 Alexander, John T.  13, 61, 74 Amarantov, Ignatij  173, 182 Amburger, Erik  32, 80 Amvrosij (Erzbischof von Moskau)  76, 375 Anna (Kaiserin des Russischen Reiches)  67 Antonov, Ivan  187 Apraksin, Stepan  344 Arakin, Ignatij  173, 329 Archangel’skij, Grigorij  14 Artemovskij, Pavel  173 Aš, Georgij [Georg von Asch]  47, 65, 70 – 73, 320 Auerbach (Apotheker)  315 B Bagrjanskij, Michajla  177 Bardovskij, Aleksandr  173, 225 Baženov, Ivan  177 Baženov, Jakov  173 Bazilev, Nikolaj  173 Beccaria, Cesare  30, 34, 39 Becker, Rudolf Zacharias  54 Beckoj, Ivan  37, 46f., 51, 227, 289 Belikov, Fëdor  186 Berezin, Pavel  189 Bezborodko, Aleksandr  360

Bielfeld, Jakob von  34, 39 Blackstone, William  34 Blicner, Adam  156 Bobrinskij, Aleksej  196 Bočkarëv, V. N.  74 Bolchovskij, Nikandr  173, 182 Bolotov, Andrej  58, 77, 138, 194 – 198, 209, 214f., 283, 320 Bourdieu, Pierre  295 Bregin (Kaufmann)  314 Bril’, Adam  323 Brückner, Alexander [Brikner, Aleksandr]  14, 218 Burkart, Ivan  177 Buturlin (Graf) 339 C Čerepanov (Kaufmann)  314 Čerkasov, Aleksandr  320 Čerkasov, Ivan  104 Černoglazov, Andrej  166, 177, 325, 338, 344 Černov, Maksim  186 Chanykov, Jakov  14 Čistovič, Jakov  14 Čubarov (Bauer)   314 D Daev, Ivan  68 Daškov (Fürst)  360 Daškova (Fürstin)  360 Demidov, Prokofij  289 Dibek, Christian  177 Diderot, Denis   39 Dimsdale, Thomas  320ff., 355 Dinges, Martin  14, 374 Dolgorukov, Ivan  198

Personenregister

Dolgorukova (Fürstin)  360 E Efimov(ič), Fëdor  173 Elisabeth (Kaiserin des Russischen Reiches)  27, 128, 320 Ėllinskij, Ivan  173, 182 Engalyčev, Parfenij  58 F Fotiev, Nikolaj  174 Foucault, Michel  40 Frank, Johann Peter  35 Frey, Manuel  316 Froberg, Abram  209 G Gajdukov, Konstantin  273 Galen von Pergamon  51 Genneman, Genrich  177, 180 Golicyn, Aleksej  218f., 225 Golicyn, Dmitrij Michajlovič  273, 288f. Golicyn, Dmitrij Vladimirovič  385 Golicyn, Michail  136, 361 Golicyn, Sergej  303 Gončarov, Grigorij  223 Gorčakov (Fürst)  360 Gorčakov, Ivan  177 Griffiths, David  30 Grimm, Friedrich Melchior von  11 Grinevič, Ivan  174 Gromoslavskij, Fëdor  174 Grossman (Apotheker)  314 Gubert, Vladislav  318 Gur’ev, Grigorij  285

435

H Haass, Friedrich Josef  121, 196, 208, 246 Hanisch (Arzt)  194 I Ionin, Iosif  350 J Jankovskij (Kollegienassessor)  314 Joseph II. (Kaiser des Heiligen Römischen Reiches)  350 Jurov, Vasilij  340 Justi, Johann Heinrich Gottlob von  39 K Kaščeev (Kaufmann)  315 Katharina II. (Kaiserin des Russischen Reiches)  11, 16, 22ff., 27 – 30, 33ff., 37 – 40, 45f., 58 – 62, 69, 72, 74f., 78ff., 83, 87f., 94ff., 100, 104f., 115, 119, 122ff., 129, 139, 144f., 147, 154ff., 158, 160, 171, 206, 209, 226, 239, 255, 279, 280, 282, 285f., 288, 290f., 295, 302, 307, 312f., 315f., 320 – 323, 333, 355, 366f., 378f., 387, 389f. Kazanin, Osip  291, 293, 297 Kazotti, Ivan  177, 184 Kirchner, Iogan  177, 338 Klejgil’s, Karl  177, 184 Kočubej, Viktor  105f., 111f., 189 Konoplëv (Kaufmann)  314 Kopejčikov, Dem’jan  174, 180 Korabčevskij, Nikolaj  177 Kritskij, Andrej  177 Kurakin, Aleksej  324f.

436

L Labzina, Anna   48f., 214f., 246 Laevskij, Feliks  99, 159 Lapčinskij, Nikolaj  178 Lebedev (Kaufmann)  314 Locke, John  34 Loetz, Francisca  273 Logvin(ov)skij, Vasilij  174 Lomonosov, Michail  38, 39f., 214 Lopuchin, Ivan  195 Lovcov, Pavel  178, 180 Ložnikov, Flegont  178 M Malyšev, Ivan  174 Mancev, Nikolaj  292 Maria Fëdorovna (Ehefrau Pauls I.)  23, 293f., 303 Maria Theresia von Österreich  350 McGrew, Roderick  13, 94 Mejerštejn, Nikolaj  174 Melart, Gustav  174 Mel’gunov, Aleksej  154ff., 159, 283 Menščikova (Fürstin)  292, 344 Michajlovskij, Ivan  174 Miller, Ivan  178 Mironovskij, Aleksej  174 Mirskij, Mark  15, 33 Montesquieu, Charles de  34, 39 Mordvinov, Nikolaj  330ff. N Napoleon I. (Kaiser der Franzosen)  150, 310f., 314, 327, 329, 368 Naryškin, Lev  70 – 73 Naumov, Michajla  174 Nečaev, Il’ja  178 Nelidov, Nikita  189

Anhang

Nikolaevskij, Aleksandr  178 Nikolaus I. (Kaiser des Russischen Reiches)  28, 114f., 118, 150, 316, 369 Novinskij (Kaufmann)  315 Nozdrovskij, Ivan  178, 184, 191, 338 O Okorokov (Gutsbesitzer im Gouvernement Voronež)  339 Olovjanišnikov (Kaufmann)  231 Orlov, Grigorij  40, 76, 144, 196, 382 Orlova (Gräfin)  339 Ottel’, Natal’ja  156 P Pachalin, Andrej  174 Panin, Nikita  60, 322 Paul I. (Kaiser des Russischen Reiches)  24, 83, 88f., 92 – 97, 99f., 104, 106, 117f., 124, 146, 154, 162, 181, 243, 316, 320, 322, 367 Pecken, Christian  58, 361 Perevedencov, Vasilij  178, 183 Peter I. (Kaiser des Russischen Reiches)  27, 36, 40, 123, 226, 254, 282 Peter III. (Kaiser des Russischen Reiches)  58 Petrovskij, Michail  174 Platon (Philosoph)  35 Poletaev, Ivan  174 Ponomarëv, Ivan  174, 176 Popov, Fёdor  187 Popov, Ivan  178 Postnikov, Efim  174, 176 Protopopov (Kaufmann)  314

Personenregister

R Radiščev, Aleksandr  59 Raeff, Marc  31 Ragocej, Osip  284 Razumovskaja (Gräfin)  360 Rel’, Pёtr  178 Renner, Andreas  14, 120, 318 Richter, Wilhelm  14 Rostopčin (Graf)  339 Roznjatovskij, Nikanor  175 S Šachovskoj, Aleksej  344 Savickij, Elisej  175 Schalhorn, Bernhard  16 Schattenberg, Susanne  17 Schedewie, Franziska   337 Šeremetev, Nikolaj  274, 297 Sess (Apotheker)  314 Šidlovskij, Nikolaj  301f. Sievers, Jakob  60, 76, 104 Šillin, Ivan  178, 184 Sinicyn (Beisasse, Knocheneinrenker)  215f. Smirnovskij, Ivan  175 Sokolov, Aleksandr  291, 297 Šreter, Avgust  178, 184, 207f. Šuvalov, Andrej  144 Švajger, Samoil  178 Švanskij, Nikolaj  175 T Taradin, Ivan  193, 223 Tolčënov, Ivan  195, 202

437

U Uglečaninov (Fabrikbesitzer)  314 Usov, Nikita  175 V Vagner, Fëdor  175 Vasil’ev, Aleksej  88, 102f., 123, 125f., 141f., 162 Veber, Fёdor  178 Veber, Ivan  156 Vinskij, Grigorij  49 Višnevskij, Pёtr  179 Visvjatskij, Dmitrij  175 Vjazmitinov, Sergej  161 Vološinov, Vasilij  175 Volotov, Aleksej  187 Volotov, Egor  187 Voltaire (François-Marie Arouet)  322 Voroncov, Aleksandr  284 Voronov, Vasilij Erofeevič  196 W Weber, Max  219 Weikard, Melchior  144, 206 Z Zakrevskij, Arsenij  380f., 384 Zimmermann, Johann Georg  144f., 147, 206, 209, 350, 355 Žitnikov, Filipp  179, 184 Zmeev, Lev  14 Zmeev, Pavel  344 Zubov, Stepan  175f. Zvonnikov, Jakov  175f.

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Anhang

O r t s r eg i s t e r A Altona  197 Archangel’sk (Stadt) 157, 189 Archangel’sk (Gouvernement)  21, 68, 140, 157 Astrachan’ (Stadt)  69, 274 Astrachan’ (Gouvernement)  140, 148, 332f., 381 B Bad Münstereifel  196 Belëv 314 Berlin  60, 177f., 266, 348 Birjuč (Stadt)  236 Birjuč (Kreis)  165, 173ff., 180, 303f., 339ff. Bobrov (Stadt)  236 Bobrov (Kreis)  165, 174f., 339f., 349 Bogučar (Stadt)  229f., 235ff. Bogučar (Kreis)  165, 174f., 335, 339 Borisoglebsk (Stadt)  231, 236, 247 Borisoglebsk (Kreis)  164, 177, 186 C Caricyn  299 Čeboksary  68 Čeljabinsk  52 Černigov (Gouvernement)  140 Char’kov (Stadt)  173f., 180 Char’kov (Gouvernement)  381 Cherson (Gouvernement)  140, 381 Cholmogory  68 Chvalynsk  299 Civil’sk  68

D Danilov (Stadt)  156, 184, 235f., 259, 262, 268, 270 Danilov (Kreis)  165, 178f., 337 Debrecen  375 Dorpat  177 Dresden  60 E Edinburgh  35, 247 Ekaterinoslav (Gouvernement)  140, 381 Elat’ma (Stadt)  236 Elat’ma (Kreis)  164 Elec  69 Epifan’  65 Estland (Gouvernement)  140 F Fredrikshamn  107 Fulda  144 H Hamburg 60, 357 G Galič  68, 361 Gorbatov  307 Gorochovec  68 Grodno (Stadt)  108 Grodno (Gouvernement)  140 I Insara [auch Insar] 68 Irkutsk (Gouvernement)  140, 158, 244, 314, 323, 332  Izjum  113, 301f.

Ortsregister

J Jaroslavl’ (Stadt)  20, 41, 57, 67, 83, 133, 159, 167f., 171, 177ff., 184, 189, 209, 213, 215, 225, 229, 235f., 244, 259ff., 267, 285, 296, 310, 314, 329, 361 Jaroslavl’ (Kreis)  177, 351 Jaroslavl’ (Gouvernement)  20ff., 32, 51f., 57, 84f., 90, 99, 121, 133f., 136ff., 140, 154ff., 163 – 166, 168, 172, 177, 179 – 184, 186 – 189, 191, 195, 197, 199, 201, 205, 207, 211, 218, 223, 228f., 231, 234 – 238, 244, 248, 250, 257 – 261, 263f., 266, 268, 271, 283, 285f., 290ff., 295, 311, 317, 325, 329, 334 – 337, 342f., 347, 349, 351f., 373, 383ff., 387f. Jena  255 K Kaluga (Stadt)  362 Kaluga (Gouvernement)  140, 230, 314 Kamyšin  299 Kargopol’  65 Kasimov  67, 180, 215 Kaukasus (Gouvernement)  140, 158, 381  Kazan’ (Stadt)  270, 306 Kazan’ (Gouvernement)  68, 86, 140, 244, 356f., 381 Kerensk  69 Kiew (Gouvernement)  140, 381 Kirsanov (Stadt)  236 Kirsanov (Kreis)  164 Kola  157 Köln  197, 215 Konstantinopel  358 Korotojak (Stadt)  235f.

439

Korotojak (Kreis)  163, 165, 174, 180, 304, 329, 339ff.  Korsun  315 Kostroma (Stadt)  197, 213, 314 Kostroma (Gouvernement)  21, 140, 243f., 355 Kozel’sk (Kreis)  64 Kozlov (Stadt)  236f., 303 Kozlov (Kreis)  163f. Kurland (Gouvernement)  140 Kursk (Gouvernement)  140, 189, 232ff., 237, 303, 381 L Lebedjan’ (Stadt) 236 Lebedjan’ (Kreis)  164 Leiden  35, 177 Lipeck (Stadt)  236 Lipeck (Kreis)  163f. Livland (Gouvernement)  140 Ljubim (Stadt)  184, 235f., 259, 268 Ljubim (Kreis)  167, 178, 188f., 256, 281, 338  London  11 Lyon  289 M Marseille  374f. Meščovsk (Kreis)  64 Minsk (Stadt)  135 Minsk (Gouvernement)  85, 140 Mogilëv (Gouvernement)  140, 206f. Mologa (Stadt)  184, 235ff., 291, 293, 297f., 345 Mologa (Kreis)  134, 165f., 177, 338, 345, 349, 351 Moršansk (Stadt)  236f., 303 Moršansk (Kreis)  164

440

Anhang

Moskau (Stadt)  11, 20, 37, 40, 46f., 51, 53, 67, 70ff., 75f., 82, 90, 96, 103, 107, 120, 124, 128, 140, 156, 159, 173ff., 177 – 180, 182, 189, 197, 200, 208, 221, 225, 241, 243, 246ff., 274, 281, 288f., 297, 300, 303, 310, 315, 360, 373 – 376, 379f., 382, 385ff. Moskau (Gouvernement)  65, 68, 140, 227, 381 Myškin (Stadt)  229f., 235ff., 250, 259, 262, 268 Myškin (Kreis)  134f., 166, 177, 189, 245, 325, 334, 338, 342, 344

Orenburg (Gouvernement)  140, 158, 381 Ostrogožsk (Stadt)  138, 236, 262, 300 Ostrogožsk (Kreis)  42, 64, 165, 173f., 182, 187, 303, 309, 335, 339ff.

N Nežinsk  315 Nižnedevick (Stadt)  236 Nižnedevick (Kreis)  165, 173f., 325, 339f. Nižnij Novgorod (Stadt)  68, 159, 261 Nižnij Novgorod (Gouvernement)  86, 99, 140, 218, 225, 227, 233, 243f., 381 Novaja Ladoga  180 Novgorod (Stadt)  60, 76, 83, 239, 361 Novgorod (Gouvernement)  60, 76, 140, 154, 239, 243f., 283, 324 Novochopërsk (Stadt)  236 Novochopërsk (Kreis)  165, 174f., 339ff.

P Pališči  349 Paris  36, 177 Pavlovsk (Stadt)  66, 236 Pavlovsk (Kreis)  163, 165, 173f., 182, 186, 329f., 335, 339ff. Penza (Stadt)  67, 310, 361 Penza (Gouvernement)  140, 238, 381 Peremyšl’  70f. Pereslavl’ Rjazanskij  67 Perm’ (Stadt)  228, 239 Perm’ (Gouvernement)  140, 244 Podolien (Gouvernement)  140, 257, 381 Pokrovsk  243 Poltava (Gouvernement)  140, 249, 270, 314, 381 Pošechon’e (Stadt)  235f., 245, 259 Pošechon’e (Kreis)  177f., 181, 183, 186, 199, 337f., 342, 344, 352 Prag  11 Pskov (Stadt)  60 Pskov (Gouvernement)  76, 140, 315

O Odessa (Stadt)   50 Olonec (Stadt)  158 Olonec (Gouvernement)85, 140, 156 Omsk (Kreis)   333 Oranienburg   180 Orël (Gouvernement)  140, 292 Orenburg (Stadt)  108

R Reval  107 Riga  107 Rjazan’ (Stadt) 180 Rjazan’ (Gouvernement)  140, 180, 215, 349 Rjažsk (Stadt)  64 Rjažsk (Kreis)  64

Ortsregister

Romanov (Stadt)  230, 235f., 258, 262, 268 Romanov (Kreis)  133, 178, 342 Romanov-Borisoglebsk (Stadt)  259 Romanov-Borisoglebsk (Kreis)  156, 178, 203 Rostock  177 Rostov (Stadt)  235f., 245, 250, 258ff., 262, 266, 268f., 340, 344, 389 Rostov (Kreis)  165f., 168, 178, 187, 292, 311, 338, 352 Rybinsk (Stadt)  20, 166, 168, 180, 184, 199, 207f., 229, 234 – 238, 250, 256 – 260, 263, 268 – 272, 292, 298, 352, 373, 384, 387 Rybinsk (Kreis)  134, 177f., 205, 256, 271f. S Šack (Stadt)  236 Šack (Kreis)  164 Šack (Provinz)  66, 76, 283f., 373 Saransk  238 Saratov (Stadt)  292, 298f., 381 Saratov (Gouvernement)  140, 169, 293f., 298, 299, 305, 381f. Simbirsk (Stadt)  244, 246, 261 Simbirsk (Gouvernement)  140, 244, 273, 300, 302, 315, 381 Simferopol’  56 Sloboda-Ukraine  64, 113, 140 Smolensk (Stadt)  238, 298, 314 Smolensk (Gouvernement)  140, 274, 299 Spassk (Stadt)  236 Spassk (Kreis)  164 St. Petersburg (Stadt)  11, 20, 39, 53, 57, 72, 82, 90f., 96 – 100, 103f., 107,

441

113, 120, 124, 126, 129, 140, 147, 153, 156f., 160, 173ff., 177ff., 192, 196, 200, 206, 221, 228, 234, 238f., 242f., 245, 247ff., 251, 273, 281f., 285f., 293, 320, 350, 360f., 380, 382, 384 St. Petersburg (Gouvernement)  85, 140, 180, 190, 227 Starobel’sk (Kreis)  165, 174, 218, 303f., 307, 339ff., 359 Svijažsk  68 T Tambov (Stadt)  20, 57, 171, 211, 229, 236, 247 Tambov (Kreis)  164 Tambov (Gouvernement)  20ff., 32, 57f., 83ff., 90, 121, 137 – 140, 163ff., 168, 186, 200, 207, 218, 221, 223, 235ff., 244, 248, 250, 258, 283, 285, 303, 317, 334 – 337, 343, 382f., 385, 388f. Tambov (Statthalterschaft)  41, 148 Tambov (Provinz)  68, 373 Taurien (Gouvernement)  140, 244, 314, 381 Temnikov (Stadt)  66, 236 Temnikov (Kreis)  164 Tichvin  243 Tim (Stadt)  233, 303 Tim (Kreis)  232 Tjumen’  308 Tobol’sk (Stadt)  56, 315 Tobol’sk (Kreis)  314 Tobol’sk (Gouvernement)  140, 158 Tomsk (Stadt)  149 Tomsk (Gouvernement)  149f., 158 Toropec  315 Tula (Stadt)  298 Tula (Kreis)  64

442

Anhang

Tula (Gouvernement)  138, 140, 194, 314 Tver’ (Stadt)  213 Tver’ (Gouvernement)  76, 85, 140, 154, 239, 243f., 283 U Ufa (Stadt)  156 Ufa (Statthalterschaft)  51, 156, 314 Uglič (Stadt)  67, 168, 172, 180, 184, 235ff., 248, 250, 258ff., 262, 268 Uglič (Kreis)  166, 178, 189, 191, 201, 208, 235, 335, 337f., 344, 351 Usman’ (Stadt)  236 Usman’ (Kreis)  164  Ustjug  243 V Valujki (Stadt)  236 Valujki (Kreis)  43, 163, 165, 173f., 329, 339ff. Vasil’evka  314 Vasil’evo  68 Verchneudinsk  244, 314 Versailles  11 Vitebsk (Gouvernement)  140 Vjatka (Gouvernement)  140, 244, 349 Vjaz’ma  180, 249, 273, 292, 299f., 361 Vladimir (Gouvernement)  21, 140, 243f. Vologda (Stadt)  159, 283, 361 Vologda (Gouvernement)  140, 154ff., 362

Voronež (Stadt)  20, 22, 57, 66, 128, 141, 169, 171, 173ff., 236, 239, 260, 263, 270, 292, 314 Voronež (Kreis)  165, 174f., 303, 318, 325, 339ff. Voronež (Gouvernement)  20ff., 32, 42, 57, 64, 69, 83ff., 121, 137f., 140, 163ff., 168f., 172f., 176f., 179 – 183, 186 – 189, 193, 200, 203, 207, 216, 218, 221, 223, 225, 228 – 231, 234 – 237, 239, 244ff., 250, 258, 260ff., 276, 284f., 290, 300, 303, 306f., 309, 317, 325, 329f., 334 – 341, 343f., 349, 351, 359, 373, 385, 388f. Voronež (Statthalterschaft)  41, 42, 283 Vorotynsk  70 Vyborg  107 W Wien  11 Wilna (Stadt)  130, 181 Wilna (Gouvernement)  85, 140 Wolhynien (Gouvernement)  140, 381 Z Zadonsk (Stadt)  236 Zadonsk (Kreis)  165, 173f., 303, 329, 339ff. Zaval’naja  314 Zemljansk (Stadt)  138, 235f. Zemljansk (Kreis)  165, 175, 180, 303, 329, 335, 339ff.

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