Was ich schreibe, ist leider weder lustig noch ein Märchen: Erzählverfahren, Identitätskonzepte und Gesellschaftskritik bei Jakob Arjouni [1 ed.] 9783737014311, 9783847114314

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Was ich schreibe, ist leider weder lustig noch ein Märchen: Erzählverfahren, Identitätskonzepte und Gesellschaftskritik bei Jakob Arjouni [1 ed.]
 9783737014311, 9783847114314

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Gesellschaftskritische Literatur – Texte, Autoren und Debatten

Band 14

Herausgegeben von Monika Wolting und Paweł Piszczatowski

Robin-M. Aust (Hg.)

Was ich schreibe, ist leider weder lustig noch ein Märchen Erzählverfahren, Identitätskonzepte und Gesellschaftskritik bei Jakob Arjouni

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Brill | V&R unipress, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Robin-M. Aust Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2629-0510 ISBN 978-3-7370-1431-1

Inhalt

Robin-M. Aust (Düsseldorf) Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Kayankaya-Krimis ˇ ujic´ (Kiel) Sandra C Eine kritisch-chronologische Betrachtung des bisherigen Forschungsstandes zu Jakob Arjounis Kemal-Kayankaya-Reihe . . . . . .

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Manuel Bauer (Marburg) Schema oder Variation? Jakob Arjounis Kayankaya-Romane und der hardboiled-Architext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sarah Seidel (Konstanz) Beschleunigung, Verzögerung und Gleichzeitigkeit. Zur Bedeutung von Zeit in Jakob Arjounis Kayankaya-Romanen . . . . . . . . . . . . . . . .

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Richard Hronek (Greensboro) Consuming Germanness. Food and Drink in Jakob Arjouni’s portrayal of Kemal Kayankaya . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Carolin Wallraven (Düsseldorf) ‚Happy birthday, Bruder Kemal!‘ Jakob Arjounis Protagonist im Wandel der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Wolfgang Brylla (Zielona Góra) Kayankaya-Romane als screwball-Krimis? Zur filmischen Poetik Jakob Arjounis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

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Inhalt

Stefan Seeber (Freiburg) Der türkischste Deutsche, der deutscheste Türke. Kayankaya und die Stereotypie bei Arjouni und Dörrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

Romane und Erzählungen Carolin Kull (Bochum) „Call me Hopeman!“ Inszenierung und Konstruktion von Identität in Jakob Arjounis Roman „Magic Hoffmann“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Sandro M. Moraldo (Bologna) Rhetorik der Selbsttäuschung. Ein Versuch über Jakob Arjounis „Hausaufgaben“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Joshua C. Poschinski (Düsseldorf) Fehlgeschlagene Vergangenheitsbewältigung und unzuverlässiges Erzählen in Jakob Arjounis „Hausaufgaben“ . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Melissa Heinbach (Düsseldorf) Wie ein elementarer Teil einer Erzählung das Leseerlebnis beeinflusst. Die Rolle des Erzählers in Jakob Arjounis Kurzgeschichte „Ein Freund“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Denise Schroeren (Düsseldorf) Die Wasserfrau in „Schwarze Serie“

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

Robin-M. Aust (Düsseldorf) „Ein Schriftsteller, so dachte ich […], drückt sich gerne in Metaphern aus“. Arjounis Künstlerfiguren als Vehikel von Poetik, Kritik und Selbstbespiegelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Autor:innenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

Robin-M. Aust (Düsseldorf)

Vorwort

„Wie besteht der Künstler in einer Welt der Bildung, der Alphabeten? […] Vielleicht am besten, indem er Kriminalromane schreibt, Kunst da tut, wo sie niemand vermutet.“1

Mit diesem Aufruf beendet Friedrich Dürrenmatt im Jahre 1954 seine vielzitierte Rede „Theaterprobleme“. Etwas mehr als 30 Jahre später, im Jahre 1985, veröffentlicht Jakob Arjouni seinen Debutroman „Happy birthday, Türke!“ und setzt genau diese Forderung des Schweizers um: Arjounis ‚hardboiled detective‘-Krimi präsentiert den Leser:innen einen spannenden Fall im Frankfurter Bahnhofsmilieu zwischen Femmes fatales, Betrügern, Zuhältern und Prostituierten und bietet mit Kemal Kayankaya einen in seiner Gesetzestreue ambivalenten, moralisch aber integren Ermittler. Gleichzeitig handelt es sich bei Arjounis Erstlingswerk aber auch um ein kaum verhüllt politisches und deutschlandkritisches Werk, das eine detaillierte Schilderung der Lebensumstände von vor allem türkischstämmigen Migrant:innen im Deutschland der 1980er Jahre formuliert. Das Frankfurter Bahnhofsmilieu wird darüber hinaus zum Abbild und Modell der gesamtdeutschen Gesellschaft: Arjouni formuliert in diesem Biotop ein tristes Bild eines Deutschlands des kalten Krieges vor der Wende, das von sadistischen Bürokraten geleitet wird, das weder Heimat noch Perspektive für ‚Gastarbeiter‘ bereithält und das dem ‚Fremdem‘ mindestens herablassend-skeptisch, zumeist aber offen feindlich gegenübersteht. Nach „Happy birthday, Türke!“ erscheinen bei Diogenes in fast 30 Jahren noch vier weitere Kayankaya-Kriminalromane, die sich ebenso mit der Situation der ‚Ausländer‘ in Deutschland und Themen der Multi- und Interkulturalität auseinandersetzen. Gleichzeitig üben sie System- und Gesellschaftskritik und nehmen weitere, zum Entstehenszeitpunkt jeweils virulente soziokulturelle Themen in den Blick: „Mehr Bier“ (1987) verlagert den thematischen Fokus auf die Umweltkrisen der 1980er und den zeitgenössischen ‚Ecoterrorism‘; „Ein Mann, ein Mord“ (1991) und „Kismet“ (2001) nehmen jeweils unterschiedliche Flüchtlingssituationen in 1 Dürrenmatt, Friedrich: Theaterprobleme. In: ders.: Theater. Essays und Reden, Diogenes: Zürich 1980, S. 31–72, hier S. 71f.

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den Blick; „Bruder Kemal“ (2012) letztlich lässt Kayankaya im bürgerlichen Milieu seinen vermeintlichen Frieden finden, thematisiert aber u. a. auch die neue Wahrnehmung und das veränderte Bild des Islams in Deutschland. Arjouni veröffentlichte zudem mehrere Bühnenstücke, Romane sowie eine Vielzahl von Kurzgeschichten, die einzeln und zusammen betrachtet ein großes Interpretationspotenzial bieten, bisher aber nur vereinzelt von der Literaturwissenschaft berücksichtigt worden sind. All diese Texte setzen sich zentral mit der Brüchigkeit von Selbst- und Fremdbildern auseinander: Sie erzählen einerseits von Verlierern und Betrügern, die krampfhaft bis verzweifelt versuchen, ihren eigenen Idealen und Identitätsentwürfen, aber auch gesellschaftlichen Anforderungen Genüge zu leisten. Beim Versuch, diesen Bildern und Erwartungen zu entsprechen werden sie von inneren oder äußeren Zwängen zerrieben. Arjounis Texte erzählen andererseits von einer ebenso bemüht aufrecht erhaltenen ‚deutschen‘ Identität vor und nach 1989, die die Ablehnung und Abgrenzung vom ‚Fremden‘ zu einem zentralen Wesensmerkmal macht. Arjounis Werk ist dabei durchzogen von Klischees, die zunächst appliziert und oftmals sogleich karikiert und subvertiert werden. Seine Erzählungen sind bevölkert von doppelbödig klischeehaften Figuren, die die Heterostereotypen innerhalb der deutschen Gesellschaft – und teils auch der Leser:innen – zunächst affimieren. Oftmals halten sie so aber dem Publikum den Spiegel vor und legen das Denken in reduktionistischen Klischees schonungslos offen. Stereotypisierung und Subversion werden bei Arjouni so zu zentralen Erzählverfahren. Dies spiegelt nicht nur den verzerrten, oberflächlichen Blick auf das ‚Andere‘ und das ‚Eigene‘, sondern greift auch auf narrative und gattungsspezifische Stereotype aus: Arjouni spielt und experimentiert mit Genreklischees und etablierten Plotmustern, verändert einzelne ihrer Variablen und kreiiert über diese Imitation und Variation eigenständige und innovative Erzählungen mit hohem Unterhaltungsfaktor. Hinter aller Ironie, aller Situationskomik und allem Sprachwitz scheint jedoch Arjounis Absage an die Gerechtigkeit im Leben im Allgemeinen sowie im Deutschland der Nachkriegszeit im Speziellen durch. Seine Texte teilen sich letztlich eine Ästhetik des Scheiterns an individuellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen – oder, wie es der Protagonist von Arjounis „Das Innere“ (2003) stellvertretend für seinen Autor metareflexiv formuliert: „Was ich schreibe, ist leider weder lustig noch ein Märchen.“ (DI, 102) Im Januar 2023 jährt sich Jakob Arjounis früher Tod nun inzwischen zum zehnten Mal. Zu Lebzeiten, aber auch in dem Jahrzehnt seit seinem Ableben hat sich die Literaturwissenschaft immer wieder mit seinen Texten beschäftigt. Es existiert bis dato – mit Blick auf das Interpretationspotenzial und den Erfolg der Texte bei Feuilleton und Publikum – verhältnismäßig wenig Forschungsliteratur

Vorwort

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zu Arjounis Werk. Diesen Zeitpunkt und diese Forschungslücke nimmt dieser Band nun zum Anlass, ein Panorama der breitgefächerten Forschung zu Arjouni und ihrer Tendenzen zu präsentieren. Auf diese Weise soll ein zynischer, teils geradezu nihilistischer und hochpolitischer Gesellschaftskritiker, aber auch ein geistreicher, wortgewandter und unterhaltsamer Schriftsteller gewürdigt werden, dessen scharfer Blick und bissige Stimme bei gleichzeitigem Hang zu Komik und fesselnden Plots eine Ausnahmeerscheinung in der deutschsprachigen Literatur darstellten. Ein zentrales Anliegen dieses Bandes war es auch, den wissenschaftlichen Nachwuchs zu Wort kommen zu lassen. Daher freut es mich sehr, neben Beiträgen von bereits ‚etablierten‘ Wissenschaftler:innen auch mehrere Beiträge von Studierenden zu veröffentlichen, die auf Essays und Abschlussarbeiten aus dem Rahmen eines von mir an der Universität Düsseldorf gehaltenen Seminars zu Jakob Arjounis Werk basieren. Zunächst stehen Arjounis Kriminalromane um den Ermittler Kayankaya im Fokus der Beiträge: Eingeleitet wird der Band mit einem Forschungsbericht von Sandra Cˇujic´, in dem sie die Sekundärliteratur zu den fünf Kemal-KayankayaKriminalromanen chronologisch zusammenstellt und auswertet. Bereits dieser Überblick zeigt die facettenreiche Lesart der Texte und ihres Protagonisten auf, die sich vom passiven Opfer rassistischer Ressentiments zum bürgerlichen ‚Trickster‘ wandelt. Ferner fasst der Forschungsüberblick die Erkenntnisse zu bereits differenziert gedeuteten Aspekten (z. B. Race, Gender, Raum, Milieu und hardboiled-Einflüsse) kritisch zusammen und thematisiert auch neuere Forschungsansätze (z. B. das literaturdidaktische Potential der Texte) und Forschungsdesiderata. Der Beitrag von Manuel Bauer diskutiert Arjounis Detektivromane vor dem Hintergrund des Architextes des hardboiled-Genres. Jakob Arjouni gilt als der bedeutendste deutschsprachige Autor dieser Spielart des Detektivromans, die maßgeblich von Autoren wie Dashiell Hammett und Raymond Chandler geprägt und eine standardisierte, der Nachahmung zugängliche Form wurde. Seit „Happy birthday, Türke!“ bedient sich Arjouni dieses Schemas als Ensemble von Typen, Situationen und Erzählrastern. Im Zentrum steht die Frage, wie Arjouni mit traditionellen Genre-Mustern umgeht, ob und in welcher Weise er sich von ihnen abhebt, was er ihnen hinzufügt und wie er seine eigene Genrezugehörigkeit reflektiert, ob also das klassische Schema nur benutzt oder variiert wird. Für das Genre des Detektivromans spielt die Ordnung des Erzählens und insbesondere die Darstellung von Zeit eine wesentliche Rolle. Der Beitrag von Sarah Seidel untersucht das Zeitregime, das in den fünf Romanen der Kayankaya-Reihe implementiert wird, vor dem Hintergrund der Konstitution des Ermittlers als hardboiled detective. Alle Romane sind mit sehr genauen Zeitangaben versehen, die einerseits einen historischen Horizont aufspannen und an-

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dererseits diegetische Handlungsabläufe nachvollziehbar machen. Die Zeitangaben machen allerdings auch Verzögerungen und Beschleunigungen innerhalb der Ermittlungen sichtbar. Verzögerung, Beschleunigung und Gleichzeitigkeit sind dann genau jene Faktoren, die konstitutiv für die Erzeugung von erzählerischer Spannung sind. Bei Arjouni finden sich eine Vielzahl von narrativen und inhaltlichen Elmenten, die dem Ermittler, aber auch den Leser:innen ein permanentes, existenzielles Gefühl der Entfremdung vermitteln: Von Beschimpfungen bis hin zu körperlicher Gewalt finden die ‚weißen Deutschen‘ bei Arjouni einen Weg, Kayankaya wissen zu lassen, dass er nicht ‚dazugehört‘. Ironischerweise ist es aber gerade seine Vertrautheit mit der deutschen Kultur, die Kayankayas Entfremdung und Ausgrenzung so eindrücklich macht. Im Beitrag von Richard Hronek wird untersucht, wie Arjouni Essen und Alkohol einsetzt, um Kayankayas Deutschtum zu thematisieren. Er zeigt auch auf, wie die Symbolik von Essen und Trinken im Verlauf der Krimireihe Kayankayas sozialen Aufstieg von einem armen Detektiv am Rande der Gesellschaft zu einem etablierten Mitglied der deutschen Mittelschicht markiert. Auch Carolin Wallraven beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der werkübergreifenden Veränderung der Kayankaya-Figur und der Gesellschaft, in der sie lebt: Anhand eines Vergleichs des ersten und letzten Teils wird der Frage nachgegangen, was sich in der Zeit bis zum Erscheinen des letzten Kayankaya-Krimis „Bruder Kemal“ (2012) in der deutschen Gesellschaft und dem Schauplatz Frankfurt am Main, aber auch im Leben des Autors und seines Protagonisten verändert hat. Untersucht werden neben der Entwicklung der Hauptfigur die narrative Struktur vor der Folie des hardboiled detective-Schemas und die Nebenfiguren beider Romane. Zwei Beiträge widmen sich daraufhin auf ganz unterschiedliche Weise der ausgeprägten intermedialen Dimension von Arjounis Werk. Wolfang Brylla geht in seinem Beitrag filmischen Spuren in Arjounis Texten nach: Auch wenn in der Forschung mehrfach die Tatsache betont wurde, dass mit Kayanakya als ‚ethnic detective‘ ein ganz neuer Detektivtypus die Erzählbühne betrat, wurde auf den narrativen Inszenierungsmodus, der sich filmischer Darstellungsmittel bedient, bis dato kaum aufmerksam gemacht. Der Beitrag setzt sich damit auseinander, inwiefern Arjouni in seinem Schreibprozess auf das Konzept der screwball-Komödie, bekannt vor allem aus dem Hollywoodkino der Vorkriegsjahre, zurückgreift und dieses zur Grundlage seiner literarischen Texte macht. Gewissermaßen in die andere Richtung blickt der darauffolgende Aufsatz. Arjounis Werke wurden unter anderem als Hörspiele und Hörbücher adaptiert und teils auch verfilmt. Mit einer dieser filmischen Transformationen beschäftigt sich Stefan Seeber in seinem Beitrag: Er konstrastiert die Figurenzeichnung des Privatdetektivs in Arjounis Texten mit der in der Verfilmung von „Happy

Vorwort

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birthday, Türke!“ von Doris Dörrie (1992). Für Arjounis Figurenkonzeption wird eine Metaisierung der Stereotypien angenommen: Arjouni arbeitet bekanntermaßen mit Klischees, reflektiert sie kritisch und schafft auf diese Weise eine Heldenfigur, die Typisierungen zugunsten einer Individualisierung transzendiert und der auch Entwicklungsmöglichkeiten eingeschrieben sind. Dörries Film hingegen re-typisiert den Detektiv im Sinne ihrer Filmpoetik des ‚Fremdseins‘ auch im Vertrauten und macht aus diesem Grund aus der dynamischen Figur bei Arjouni einen statischen Helden in der Tradition der hardboiled-Ermittler. Neben den bei Publikum, Feuilleton und Literaturwissenschaft beliebten Kayankaya-Romanen werden in diesem Band auch Arjounis zumeist weniger beforschte Erzählungen und Romane in den Blick genommen. Auch hier sind neben der Deutschlandkritik vor allem Täuschung und Identität zentrale Themen. Anders als im Falle der Detektiverzählungen belügen und betrügen die Protagonisten hier nicht nur einen Ermittler oder Dritte, sondern oftmals auch sich selbst. Die Lebenslüge wird zum dominanten Topos. Die zunächst vor allem Andere kritisierende Stimme des Autors bekommt dabei zunehmend auch selbstkritische Töne. Auch in diesem Teil seines Werkes nutzt Arjouni eine Reihe erzählerischer Mittel und narrativer Strategien, um die Brüchigkeit von Fremdund Selbstbildern sowie Techniken der Täuschung offenzulegen. Im Roman „Magic Hoffmann“ (1996) wird beispielsweise das Spannungsfeld von Identität und Sinnsuche thematisiert: Die Figuren bewegen sich in einer für sie stetig verändernden Wirklichkeit, in der sie ihre jeweiligen Lebens- und Identitätskonzepte permanent anpassen müssen. Dabei entspricht die äußere Selbstinszenierung nicht immer dem eigentlichen Selbst. Im Beitrag von Carolin Kull werden narrative Elemente der Konstruktion von Identität herausgearbeitet. Im Fokus stehen der Protagonist Fred, wie seine Konfrontation mit der Realität auf sprachlicher und narrativer Ebene ausgestaltet wird und wie er seine Wirklichkeit konstruiert, dabei aber stets ein ‚Hopeman‘ bleibt, der an seinen Träumen festhält. Sandro M. Moraldo untersucht in seinem Beitrag dagegen die Strategien, mit denen Arjouni im Roman „Hausaufgaben“ (2004) die Poetologie einer Selbsttäuschung und Lebenslüge des Deutschlehrers Joachim Linde inszeniert. Er deckt die Diskrepanz im positiven Selbstbild Lindes und der Initiierung seiner Selbsttäuschung und Lebenslüge auf, beleuchtet die defensiven Strategien zur Herstellung seiner inneren Stimmigkeit und untersucht schließlich das funktionale Realitätsmodel, auf dem Lindes Erkenntnisverweigerung gründet. In „Hausaufgaben“ bedient sich Arjouni eines unzuverlässigen Erzählers mit zugehöriger personaler Erzählstimme, um das Auseinanderklaffen der eigenen, auf einer umfassenden Lebenslüge basierenden Wahrnehmung des Protagonisten und der realen Einschätzung seines Umfeldes zu demonstrieren. Joshua C.

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Poschinski erörtert in seinem Beitrag, wie Arjouni diese Erzählstrategie im Rahmen einer fiktionalen Erzählung über ein Individuum nutzt, um die realen Defizite der kollektiven deutschen Vergangenheitsbewältigung zu thematisieren und so die lediglich oberflächliche, missglückte Aufarbeitung der NS-Zeit aufzeigt. Melissa Heinbach untersucht wiederum, wie Arjouni in seiner Kurzgeschichte „Ein Freund“ (1998) die Erzählinstanz einsetzt, um den Leser:innen falsche Hoffnung auf ein ‚gutes Ende‘ der Geschichte zu machen. Der Erzähler wird dazu zunächst narrativ als glaubwürdig inszeniert – das Ende des Textes zeigt aber, dass es sich auch hierbei um einen unzuverlässigen Erzähler handelt. Arjouni gelingt über diese Erzählerinstanz und Erzählweise eine ähnliche Täuschung der Leser:innen, wie sie die Protagonisten dieser Erzählung, aber auch diverser anderer Arjouni-Geschichten vornehmen oder erleiden. Denise Schroeren befasst sich in ihrem Beitrag mit der Figur Jessica aus der Kurzerzählung „Schwarze Serie“ (1998): Jessica tritt als einzige weibliche Figur in der Handlung auf und wird auffälligerweise auf unterschiedliche Weise mehrfach motivisch mit Wasser verknüpft. Der Beitrag untersucht folglich auch die motivische Anlehnung der Figur Jessica an das Frauenbild der Wasserfrauen, in gewisser Hinsicht einer ‚Vorgängerfigur‘ der modernen Femme fatale, wie sie auch aus hardboiled-Krimis bekannt ist. Sie steht damit aber auch stellvertretend für viele andere ambivalent gezeichnete, zumeist verführerische, oftmals aber verdorbene und vor allem verderbliche Frauenfiguren in Arjounis Œuvre. Anders als die Bilder von Weiblichkeit sind die Männlichkeitsentwürfe bei Arjouni vielfältiger: Arjounis Männer sind Helden, Opfer, Heuchler, Verbrecher – gleichzeitig aber auch fast immer Verlierer. Eine weitere, in ihrer Häufigkeit auffällige, aber in der Forschung bisher wenig beachtete Gemeinsamkeit dieser männlichen Figuren ist ihr Künstlertum: in Arjounis Krimis, Romanen und Kurzgeschichten finden sich immer wieder Kunstschaffende unterschiedlichster Medien und Materialien als Protagonisten oder Randfiguren. Wie auch seine anderen Figuren träumen Arjounis Künstler von Erfolg, Anerkennung und Aufstieg, zerbrechen aber an ihren Ansprüchen oder äußeren Umständen, täuschen sich und Andere. In seinem Beitrag setzt sich Robin-M. Aust exemplarisch mit Künstlern in „Happy birthday, Türke!“ (1985), „Ein Mann, ein Mord“ (1991), „Das Innere“ (1998), „Besiegt“ (2003) und „Bruder Kemal“ (2012) auseinander. Er analysiert die Texte hinsichtlich der Funktionalisierung, werkübergreifenden Entwicklung sowie des poetologischen und metareflexiven Potenzials dieses Figurentyps. Den Autor:innen, die diese breitgefächerte Auswahl an Beiträgen für diesen vielfältigen und umfangreichen Band verfasst haben, gilt an dieser Stelle mein herzlicher Dank. Ebenso soll alldenjenigen gedankt werden, die die Veröffentlichung dieses Bandes ermöglicht haben: Zunächst möchte ich der Heinrich-

Vorwort

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Heine-Universität Düsseldorf herzlich danken, die durch die Verleihung des Lehrpreises an mich die Publikation dieses Bandes gefördert und ermöglicht hat. Mein Dank gilt auch dem Service-Center für gutes Lehren und Lernen für die Organisation rund um den Lehrpreis. Weiterhin danke ich Monika Wolting und Paweł Piszczatowski für die Möglichkeit, diesen Band in der Reihe „Gesellschaftskritische Literatur“ positionieren zu können. Ebenso gilt mein Dank den Teilnehmer:innen des Seminars zu Jakob Arjouni im Wintersemester 2019/2020, die durch ihr Interesse und ihre Diskussionsbeiträge die Inspiration und Motivation geliefert haben, einen solchen Sammelband zu konzipieren, sowie allen Anderen, die die Fertigstellung dieser Publikation mit Rat und Tat unterstützt haben. Nicht zuletzt gilt mein besonderer Dank auch Leah Vogt, die die Fertigstellung und Redaktion dieses Bandes als Hilfskraft tatkräftigt begleitet hat und ohne deren Mithilfe kein so sorgfältig lektorierter und redigierter Sammelband hätte entstehen können. Düsseldorf, 2022

Siglenverzeichnis

Die folgenden Siglen werden bandübergreifend verwendet. Eine erneute Nennung der verwendeten Primärtexte im Literaturverzeichnis der jeweiligen Beiträge erfolgt nicht. B BK DI EF EM H HbT K MB MH S

Arjouni, Jakob: Besiegt. In: ders.: Idioten. Fünf Märchen. Zürich: Diogenes 2004, S. 37–64. Arjouni, Jakob: Bruder Kemal. Ein Kayankaya-Roman. Zürich: Diogenes 2012. Arjouni, Jakob: Das Innere. In: ders.: Ein Freund. Geschichten. Zürich: Diogenes 1999, S. 80–110. Arjouni, Jakob: Ein Freund. In: ders.: Ein Freund. Geschichten. Zürich: Diogenes 1999, S. 7–54. Arjouni, Jakob: Ein Mann, ein Mord. Ein Kayankaya-Roman. Zürich: Diogenes 1991. Arjouni, Jakob: Hausaufgaben. Zürich: Diogenes 2004. Arjouni, Jakob: Happy birthday, Türke! Ein Kayankaya-Roman. Zürich: Diogenes 1987. Arjouni, Jakob: Kismet. Ein Kayankaya-Roman. Zürich: Diogenes 2001. Arjouni, Jakob: Mehr Bier. Ein Kayankaya-Roman. Zürich: Diogenes 1987. Arjouni, Jakob: Magic Hoffmann. Zürich: Diogenes 1996. Arjouni, Jakob: Schwarze Serie. In: ders.: Ein Freund. Geschichten. Zürich: Diogenes 1999, S. 55–79.

Die Kayankaya-Krimis

ˇ ujic´ (Kiel) Sandra C

Eine kritisch-chronologische Betrachtung des bisherigen Forschungsstandes zu Jakob Arjounis Kemal-Kayankaya-Reihe

Jakob Arjouni, bürgerlich Jakob Bothe (1964–2013), erschuf mit dem türkischstämmigen Privatdetektiv Kemal Kayankaya die erste interkulturelle Ermittlerfigur der deutschsprachigen Literatur.1 Deswegen urteilt Katharina Hall: „It is difficult to overestimate how groundbreaking this figure was in the 1980s.“2 In der fünfbändigen Kemal-Kayankaya-Kriminalromanreihe adaptiert Arjouni zudem die US-amerikanische hardboiled-Tradition. Somit stellt die Reihe in mindestens zweifacher Hinsicht ein innovatives Werk dar. Jakob Arjounis erster Kemal-Kayankaya-Kriminalroman „Happy birthday, Türke!“ erschien 1985 „praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit“3 im Buntbuch Verlag. Aufgrund der Unbekanntheit des Hamburger Kleinverlags, der insolvent ging,4 ignorierten sowohl die Leserschaft als auch die Rezensenten5 den Text zunächst weitgehend. Seit 1987 gibt der Diogenes Verlag die Kemal-Kayankaya-Reihe heraus. Die Feuilletons führender deutschsprachiger Zeitungen huldigten6 den dort gleichzeitig publizierten Titeln „Happy birthday, Türke!“ und „Mehr Bier“ in „enthusiastischen Rezensionen“7 und „ganz überwiegend hymnisch“8. Bei einer 1990 1 Vgl. Teraoka, Arlene A.: Detecting Ethnicity. Jakob Arjouni and the Case of the Missing German Detective Novel. In: The German Quarterly 72, 1999, H. 3, S. 265–289, hier S. 283. 2 Hall, Katharina: Crime fiction in German: Concepts, developments and trends. In: Crime fiction in German. Der Krimi. Hrsg. von Katharina Hall. Cardiff: University of Wales Press 2016, S. 1–32, hier S. 3. 3 Vgl. Papst, Manfred: Nachwort. In: Die Kayankaya-Romane. Jakob Arjouni. Mit einem Nachwort von Manfred Papst. Zürich: Diogenes 2014, S. 1066. 4 Vgl. ebd., S. 1066. 5 Diese Pluralform umfasst hier und im Folgenden stets alle Gender. 6 Vgl. Porsche, Michael: Hard-boiled à la Turk: Jakob Arjouni’s private eye Kemal Kayankaya. In: Popular culture in the United States. Proceedings of the German-American conference in Paderborn, 14.–17. September 1993. Hrsg. von Peter Freese/Michael Porsche. Essen: Die Blaue Eule 1994 (Arbeiten zur Amerikanistik; Bd. 12), S. 161–173, hier S. 161. 7 Papst, Die Kayankaya-Romane. 2014, S. 1067. 8 Vgl. Waibel, Ambros: Jakob Arjouni. Hamburg: Diplomarbeiten Agentur 2000, S. 1, S. 12, S. 24. Dieser Beitrag berücksichtigt weder Rezensionen noch Einträge über Jakob Arjouni in (Autoren-)Lexika, sondern beschränkt sich auf fachwissenschaftliche Arbeiten zu seinen fünf

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Sandra Cˇujic´

vom Bochumer Krimi-Archiv unter Literaturkritikern, Buchhändlern und Autoren durchgeführten Umfrage nach dem besten Kriminalroman erreichte „Happy birthday, Türke!“ immerhin den sechzehnten Platz.9 Für den dritten, 1991 erschienenen Text „Ein Mann, ein Mord“, erhielt Arjouni den Deutschen Krimipreis.10 Dieses große, anerkennende Medienecho führte dazu, dass das didaktische Potential der Kriminalromane für die Sekundarstufen I und II ansatzweise erforscht ist, sodass bspw. der 2002 veröffentlichte Text „Kismet“, als Schullektüre fungieren könnte.11 In der deutschsprachigen Literaturwissenschaft werden und wurden die Kemal-Kayankaya-Romane vernachlässigt. Wenngleich 2012 der letzte Titel der Reihe, „Bruder Kemal“, erschien, existiert bislang vergleichsweise wenig Forschungsliteratur.12 Da sich deutsche (Literatur-)Wissenschaftler verhältnismäßig spät und wenig mit den Kriminalromanen befassten und befassen, ist zudem das Verhältnis zwischen internationalen Publikationen zu Arjouni und Forschungsbeiträgen aus Deutschland unausgewogen. Ziel dieses Forschungsberichtes ist, die Forschungsschwerpunkte und Tendenzen aufzuzeigen, Deutungsumbrüche bzw. den interpretatorischen Wandel nachzuvollziehen, den aktuellen Konsens in der literaturwissenschaftlichen Forschung darzustellen sowie Forschungsdesiderate aufzuzeigen. Dazu bietet sich eine kritisch-chronologische Ordnung an. Die zeitlich aufsteigende Ordnung ermöglicht es, sowohl die Übersicht zu wahren als auch die einander bestärkenden oder widersprechenden Bezüge der Forscher untereinander zu verdeutlichen. Sämtliche Beiträge sind als relevant für eine vertiefte literaturwissenschaftliche Betrachtung der Kemal-Kayankaya-Reihe zu erachten, da sie die multiperspektivische Deutung der Texte fördern. Die kritische Zusammenstellung des aktuellen Forschungsstandes erfolgt, indem Sekundärquellen, die

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Kriminalromanen. Einen umfassenden Überblick der Rezensionen zu Arjounis Literatur bietet Je¸drzejewski, Maciej: Gesellschaft in Jakob Arjounis Werk. Berlin u. a.: Peter Lang 2019. Vgl. Moraldo, Sandro M.: Jörg Fauser. In: Contemporary German crime fiction. A companion. Hrsg. von Thomas W. Kniesche. Berlin/Boston: De Gruyter 2019, S. 265–268 (Companions to contemporary German culture; Vo. 7), hier S. 265. Vgl. Papst, Die Kayankaya-Romane. 2014, S. 1069. Vgl. Wilczek, Reinhard: Die hässliche Seite der Wohlstandsgesellschaft. Jakob Arjouni: „Ein Mann, ein Mord“. In: Das Fremde und das Andere. Interpretationen und didaktische Analysen zeitgenössischer Kinder- und Jugendbücher. Hrsg. von Petra Büker/Clemens Kammler. Weinheim: Juventa 2003, S. 267–278; Wilczek, Reinhard: Von Sherlock Holmes bis Kemal Kayankaya. Kriminalromane im Deutschunterricht. Seelze: Klett Kallmeyer 2007 und Kniesche, Thomas W.: Jakob Arjouni 1964–2013. Happy birthday, Türke! Kriminalroman 1985. In: Literatur für die Schule. Ein Werklexikon zum Deutschunterricht. Hrsg. von Marion Bönninghaus/Jochen Vogt unter Mitarbeit von Dirk Hallenberger. Paderborn: Wilhelm Fink 2014, S. 14–16. Je˛drzejewski sieht darin, sich auf Jakob Arjounis Gesamtwerk beziehend, eine „Marginalisierung und Tabuisierung seitens der Literaturwissenschaft“ (S. 57).

Eine kritisch-chronologische Betrachtung des bisherigen Forschungsstandes

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wichtige Aspekte konzise zusammenfassen oder interpretatorisch innovativ sind, akzentuiert dargestellt werden.

Die Figur Kemal Kayankaya: Vom passiven Opfer zum schillernden Trickster In seiner 1989 erschienenen Monografie „Gangster, Opfer, Detektive. Eine Typengeschichte des Kriminalromans“13 befasst sich der Journalist Jochen Schmidt im rund zehnseitigen Kapitel „Neue Farben, neue Töne“ unter anderem mit Jakob Arjounis Kriminalromanen. Er deutet Kemal Kayankaya als tendenziell geläuterten Idealisten.14 Schmidt arbeitet weniger interpretatorisch denn beschreibend. Indem er die gegensätzlich-vielfältigen Milieus zwischen „ÄppelwoiGemütlichkeit und eiskaltem Geschäft“15 skizziert, bringt er einen bis heute relevanten Aspekt in die Forschung ein. Ulrike Leonhardt geht in einem Kapitel ihrer ein Jahr später publizierten Monografie „Mord ist ihr Beruf“16 knapp auf die US-amerikanische ‚hardboiled school‘ als Vorbild für Arjounis Kriminalromane ein. Bezogen auf die Kemal-Kayankaya-Reihe schlussfolgert sie lakonisch, „daß Frankfurt, seine Polizisten und seine Verbrecher ein paar Nummern kleiner sind als Los Angeles, [und] auch der Detektiv ist eine Nummer kleiner geraten“17 als seine literarischen Vorbilder. In der ersten veröffentlichten Magisterarbeit zu der Kemal-Kayankaya-Reihe geht Martin Herbaty 1992 ausführlich auf den Einfluss anglo-amerikanischer Kriminalautoren auf deutsche Kriminalschriftsteller am Beispiel von Jörg Fauser, Gisbert Haefs, Jakob Arjouni und Ulf Miehe ein.18 Nazire Akbulut beleuchtet in ihrer 1993 erschienenen Dissertation „Happy birthday, Türke!“.19 Sie konstatiert, dass Arjouni die Detektivfigur „aus der bisherigen“ in der Literatur für türkischstämmige Figuren etablierten „Opferrolle löst“20. Kemal Kayankaya sei „ein Deutscher mit einem türkischen Na13 Schmidt, Jochen: Gangster, Opfer, Detektive. Eine Typengeschichte des Kriminalromans. Frankfurt/Main: Ullstein 1989. 14 Ebd., S. 656. 15 Ebd., S. 657. 16 Leonhardt, Ulrike: Mord ist ihr Beruf. Eine Geschichte des Kriminalromans. München: C.H. Beck 1990. 17 Ebd., S. 236. 18 Herbaty, Martin: Über den Einfluß anglo-amerikanischer Kriminalautoren auf deutsche Kriminalschriftsteller. Am Beispiel von Jörg Fauser, Gisbert Haefs, Jakob Arjouni und Ulf Miehe. 1992. Zugleich: Erlangen-Nürnberg, Universität, Magisterarbeit 1992. 19 Akbulut, Nazire: Das Türkenbild in der neueren deutschen Literatur 1970–1990. Berlin: Köster 1993. (Wissenschaftliche Schriftenreihe Germanistik; Bd. 1). Zugleich: Berlin, Freie Universität, Dissertation 1993. 20 Ebd., S. 176.

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men“21. Akbulut liest den Text hauptsächlich als Darstellung eines Generationenund Kulturkonflikts innerhalb der Familie Ergün.22 Problematisch und unbelegt bleibt die These, dass Arjouni autobiografische Elemente in seinem ersten Kriminalroman verarbeite.23 Michael Porsches 1994 erschienener, auf Englisch verfasster Aufsatz24 basiert auf einer 1993 abgehaltenen Konferenz mit deutschen und US-amerikanischen Wissenschaftlern. Porsche beschreibt die von Arjouni in seinen Kriminalromanen übernommenen Elemente der US-amerikanischen hardboiled school.25 Porsche deutet die drei ersten Kriminalromane als „social criticism“26 und „critique of contemporary German society“27. Das übergeordnete Thema sei der „ugly German and his crypto-facist xenophobia which comes in all shapes and sizes“28. Sowohl dank der Konferenz als auch Porsches Forschungsbeitrags auf Englisch, mag die Kemal-Kayankaya-Reihe unter Germanisten im anglo-amerikanischen Raum bekannt(er) geworden sein. Erst sieben Jahre später, kurz vor der Jahrtausendwende erscheinen 1999 weitere literaturwissenschaftliche Untersuchungen über die Kemal-KayankayaReihe. Erstmals bereichert mit dem bislang meistzitierten Aufsatz „Detecting ethnicity. Jakob Arjouni and the case of the missing German detective novel“29 der US-amerikanischen Germanistin Arlene A. Teraoka ein internationaler, englischsprachiger Beitrag die Debatte. Teraokas Untersuchung der drei bis dato vorliegenden Texte führt grundlegend neue Impulse und Erkenntnisse, insbesondere hinsichtlich des Identitätskonzeptes der Hauptfigur, in den Diskurs ein. Ihre literaturwissenschaftlichen Erkenntnisse erweisen sich als fruchtbar für die weitere Forschung, da sie Kemal Kayankaya dezidiert nicht (mehr) als passive Opfer-Figur einer rassistisch geprägten Umwelt interpretiert. Ihr Beitrag leitet eine international einflussreiche wissenschaftliche Wende ein. Teraoka benennt Kemal Kayankayas humorig-zynischen Umgang mit Stereotypen sowie seine vorurteilsgeprägte Weltsicht, bspw. chauvinistisch und homophob, als bedeu-

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Ebd., S. 177. Vgl. ebd., S. 187. Vgl. ebd., S. 180. Porsche, Hard-boiled à la Turk. 1994, S. 161–173. Siehe in demselben Sammelband zudem Peter Freese/Michael Porsche: Introduction. S. 13–30, zu Kemal Kayankaya insbesondere S. 19f. Vgl. ebd., S. 161–168. Ebd., S. 168. Ebd., S. 170. Ebd., S. 168. Teraoka, Arlene A.: Detecting ethnicity. 1999, S. 265–289. Eine gekürzte Version des Textes ist erschienen in: Investigating Identities. Questions of Identity in Contemporary International Crime Fiction. Hrsg. von Marieke Krajenbrink/Kate M. Quinn. Amsterdam: Rodopi 2009.

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tende Gestaltungsmerkmale der drei Texte.30 Außerdem geht sie auf die fluide und nicht-eindeutig festlegbare Identität des Protagonisten ein: „In Arjouni’s novels, the disturbing – but at the same time immensely ironic – truth is the constant slippage of racial and ethnic identity: Kayankaya as a detective in search of the truth to a crime, illustrates above all the absurdity of determining true origins.“31

Laut Teraoka prägen „impurity and transformation“32 Kemal Kayankayas Identität. „The identity of Jakob Arjouni’s Turkish private eye is itself a shifting construction […]. In some scenes he is a Turk; in others he must function as a German.“33 Damit weist die Autorin auf das chamäleonhafte Wechselspiel mit seinen Identitäten hin, das der Protagoist zu seinem eigenen Vorteil betreibt und das jüngere Forschungsbeiträge detaillierter untersuchen. Teraoka schlussfolgert: Der „detective himself can be seen as the embodiment of the contemporary problem of ethnicity“34. Damit setzt Teraoka erstmals der sowohl in früheren als auch teilweise in neueren Beiträgen vertretenen These, dass Kemal Kayankaya als türkisch charakterisierte Figur Akzeptanz in einer rassistischen Umwelt suche, ein übergeordnetes Konzept von Identität entgegen. Teraokas Arbeit leitet in zweifacher Hinsicht einen international turn ein: Erstens legt sie erstmals eine heute weithin akzeptierte Deutung Kemal Kayankayas als schillernd-chamäleonhafte Figur vor, zweitens rückt ihr Beitrag Arjounis Texte weiter in den Blick der anglo-amerikanischen Forschung, sodass ab dem Jahr 2000 regelmäßiger wissenschaftliche Publikationen erscheinen. Somit nennen internationale Studien Arjouni neben anderen Autoren, die interkulturelle Themen aufgreifen.35 Allerdings bleibt die Deutungskluft in der deutschsprachigen Forschung und der internationalen Forschung noch bestehen. Dies zeigt sich exemplarisch im Jahr 2000, rund ein Jahr nach Teraokas Beitrag. Ann McMillans Dissertation „The ends of detection: allegories of Germanness in recent German crime fiction“36 unterstützt die von Teraoka zuvor geebnete Lesart, dass die Figur Kemal Kayankaya ein deutscher Staatsbürger ist, die mit ethnisch begründeten Vorurteilen und den Versatzstücken seiner Identität produktiv umzugehen vermag:

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Vgl. ebd., S. 277f. Ebd., S. 278. Ebd., S. 278. Ebd., S. 279. Ebd., S. 281. Jordan, James: Of fables and multiculturalism: The Felidae novels of Akif Pirinçci. In: German-Language Literature Today: International and Popular? Hrsg. von Stuart Parkes/Julian Preece/Arthur Williams. Oxford: Peter Lang 2000, S. 255–268, hier S. 266f. 36 McMillan, Clare Ann: The ends of detection: Allegories of Germanness in recent German crime fiction. Cornell 2000. Zugleich: Ithaca, Universität, Dissertation, 2000.

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„Kemal Kayankaya is never seen for what he really is–a German citizen. These cases of mistaken identity […] lead to acts of misrecognition that Kayankaya is paradoxically able to appropriate and use to carry his investigations further. Rather than remaining a victim of the recurrent failure to recognize his Germanness, he appropriates these misinterpretations of himself for his own ends.“37

Tobias Witts im selben Jahr erschienene Magisterarbeit38 thematisiert die spielerische Komponente in Kemal Kayankayas Identitätskonstruktion nicht. Sie thematisiert die Raumdarstellungen39 und den allgegenwärtigen Rassismus in der erzählten Welt.40 Kemal Kayankayas „rüder Sprachwitz“41, der „respektlos, oft sogar unverschämt und gelegentlich witzig“42 ist, Kemal Kayankayas Verhältnis zu Frauen43 und der Einfluss der hardboiled school44 sind Facetten in den Texten, die jüngere Forschungsbeiträge intensiver behandeln. Eine weitere Magisterarbeit zu Kemal Kayankaya legt im Jahr 2000 Ambros Waibel vor.45 Sie befasst sich, neben weiteren Texten Arjounis, mit dessen drei ersten Kriminalromanen. Waibel geht vorrangig auf die hardboiled-Tradition ein, die die KemalKayankaya-Reihe beeinflusst und bietet eine eher sozialpolitische Lesart der Texte an.46 Anja Heinzes 2002 publizierte, überwiegend auf Rezensionen gestützte Magisterarbeit,47 behandelt lediglich knapp die wichtige Szene, in der Kemal Kayankaya erstmals auf die Islamforscherin Frau Beierle trifft. Zwar beschreibt Heinze Kemal Kayankayas spielerischen Umgang mit Frau Beierles Vorurteilen, sie geht jedoch nicht detailliert auf die Identitätsinszenierung des Privatermittlers ein.48 Alexandra Kriegs ebenfalls 2002 veröffentlichter Forschungsbeitrag

37 Ebd., S. 108f. 38 Witt, Tobias: Die Figur des Privatdetektivs in Romanen der Gegenwart. Untersuchung der Kriminalromane von Jakob Arjouni, Bernhard Schlink/Walter Popp und Jürgen Kehrer. Kiel: 1999. Zugleich: Kiel, Universität, Magisterarbeit 1999. 39 Vgl., ebd., S. 35 und S. 46. 40 Vgl., ebd., S. 26f. 41 Ebd., S. 29. 42 Ebd., S. 29. 43 Vgl., ebd., S. 32. 44 Vgl., ebd., S. 19. 45 Waibel, Ambros: Jakob Arjouni. Hamburg: Diplomarbeiten Agentur 2000. Zugleich: Marburg, Universität, Dissertation 2000. 46 Vgl. beispielsweise S. 17–19, S. 20, S. 26, S. 47. 47 Heinze, Anja: Die Migrationsproblematik im aktuellen Kriminalroman. Unter Berücksichtigung des psychologischen Aufklärungsverfahrens in der Erzähltechnik. Dargestellt an Romanen von Donna Leon, Henning Mankell und Jakob Arjouni. Stuttgart: Hochschule der Medien 2003. Zugleich: Stuttgart, Hochschule der Medien, Diplomarbeit. 48 Ebd., S. 61. Dieselbe Szene erachten sowohl Mahmut Karakus¸ 2006 in „Interkulturelle ˇ ujic´ 2015 in „Gewissheit und Zweifel“ als zentral, deuten Konstellationen“ als auch Sandra C sie jedoch gegensätzlich, sodass kontroverses Potential vorliegt.

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liest Kemal Kayankaya als (V-)Ermittler zwischen den Kulturen.49 Da die Figur vielschichtiger und mehrdimensionaler ist, erscheint Kriegs Perspektive bezüglich ihrer Identitätskonstruktion aus heutiger Sicht zu eng. Tendenziell beziehen sich die Forscher hauptsächlich auf einige wenige Texte, bspw. von Teraoka, Reinhard Wilczek, Wolfgang Brylla und Jeanne Ruffing.50 Spätestens seit Teraokas Beitrag ist dies nicht mehr dadurch zu begründen, dass überwiegend universitäre Abschlussarbeiten zu der Kemal-Kayankaya-Reihe vorlagen. Beziehen Literaturwissenschaftler die bereits vorhandene Sekundärliteratur stärker in ihre eigenen Arbeiten ein, lassen sich innovative Deutungsansätze breiter diskutieren und überkommene Thesen rascher widerlegen. Die Auseinandersetzung mit fremden Forschungsbeiträgen zu Arjouni ist in jüngeren Sekundärquellen häufig gründlicher als in älteren. Wenngleich seit dem Jahr 2003 weiterhin nur wenige Studien zu der KemalKayankaya-Reihe vorliegen, so erscheinen zumindest deutlich kontinuierlicher wissenschaftliche Beiträge und zugleich weniger akademische Abschlussarbeiten. In einem Sammelband-Beitrag fokussiert Konstanze Kutzbach51 sowohl die Verhaltens- als auch die Tiefenpsychologie Kemal Kayankayas und schlussfolgert, dass er versuche, die Ambivalenz seiner fragmentierten ethnisch-kulturellen Umwelt auszuhalten.52 Reinhard Wilczeks vielzitierte Arbeit zu „Ein Mann, ein Mord“53 erscheint im selben Jahr und betrachtet einen Kayankaya-Kriminalroman erstmals aus literaturdidaktischer Perspektive. Ohne eine Schulform anzugeben, empfiehlt der Autor das Buch für die Klassen 9 und 10. Raum- und Milieudarstellungen, (problematische) Frauen-Bilder und sprachliche Besonderheiten ließen sich an dem Text erarbeiten.54 Wilczeks Analyse blendet dabei aber das spielerische Moment der Figur aus.

49 Krieg, Alexandra: Auf Spurensuche: Der Kriminalroman und seine Entwicklung von den Anfängen bis zur Gegenwart. Marburg: Tectum 2002, S. 99–105. 50 Wilczek: Die hässliche Seite der Wohlstandsgesellschaft. 2003, S. 268; Brylla, Wolfgang: „Kayankaya am Tatort“. Raumdarstellung im modernen deutschen Kriminalroman „Happy birthday, Türke!“ von Jakob Arjouni. In: Studia Niemcoznawcze 43, 2009, S. 279–290; Ruffing, Jeanne: Identität ermitteln. Ethnische und postkoloniale Kriminalromane zwischen Popularität und Subversion. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011 (Saarbrücker Beiträge zur vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft; Bd. 51). 51 Kutzbach, Konstanze: The hard-boiled pattern as discursive practice of ethnic subalternity in Jakob Arjouni’s „Happy birthday, Türke!“ and Irene Dische’s „Ein Job.“ In: Sleuthing ethnicity. The detective in multiethnic crime fiction. Hrsg. von Dorothea Fischer-Hornung/ Monika Mueller. Madison: Fairleigh Dickinson University Press 2003, S. 240–259. 52 Ebd., S. 241. 53 Wilczek: Die hässliche Seite der Wohlstandsgesellschaft. 2003, S. 267–278. 54 Vgl. ebd., S. 246, 257, 268.

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In seinem 2005 veröffentlichten und viel beachteten Sammelband-Beitrag55 bezieht Thomas Kniesche seine literaturwissenschaftlichen Deutungen der diegetischen Verhältnisse auf die bundesrepublikanische Wirklichkeit. Die Kayankaya-Reihe konstruiere, beschreibe und kritisiere gesellschaftliche Gegebenheiten, die mit realen Zuständen übereinstimmten.56 Kniesche verweist zudem auf das „Oszillieren der Identität der Erzählerfigur“57. In seinem 2007 erschienenen, auf einem 2005 veranstalteten Kongress beruhenden Aufsatz „Jakob Arjounis „Ein Mann, ein Mord“. Ermittlungen in doppelter Angelegenheit“58 bezieht Mahmut Karakus¸ alle bis dato erschienenen Kriminalromane Arjounis ein. Karakus¸ konstatiert: Die „Hauptfigur des Romans ist so gezeichnet, dass sie mehr in den Bereich des deutschen als in den des türkischen Kulturraums gehört“59. Der Autor benennt klar den innovativen Gehalt der Texte, in denen eine interkulturell konnotierte Figur als Gesetzeshüter fungiert. Somit sei die Leserschaft, „hier nicht einfach mit einer traditionellen Kriminalgeschichte konfrontiert“60. Die dänische Germanistin Kirsten Molly Søholm beschäftigt sich in ihrem ebendort vorgestellten und veröffentlichten Aufsatz mit der Figur des türkischen Machos als kulturelle Metapher in „Ein Mann, ein Mord“61. Sie konkludiert, dass Kemal Kayankaya aufgrund seiner „parodistisch übertriebenen Machogebärden […] ein metareflexives und inhaltlich ambivalentes Zeichen“62 sei: „[D]er Machowunsch nach Reinheit wird“ durch diese Figur „ironisch dekonstruiert.“63 Nach Søholm ist auch der Beruf des Protagonisten nicht mehr als eine Metapher, denn ein Detektiv zieht Grenzen und definiert Ordnung.64 Søholm bezieht ihre 55 Kniesche, Thomas W.: Vom Modell Deutschland zum Bordell Deutschland. Jakob Arjounis Detektivromane als literarische Konstruktionen bundesrepublikanischer Wirklichkeit. In: Mord als kreativer Prozess. Zum Kriminalroman der Gegenwart in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Hrsg. von Sandro M. Moraldo. Heidelberg: Winter 2005, S. 21–39. 56 Vgl. ebd., S. 30. 57 Ebd., S. 32. 58 Karakus¸, Mahmut: Jakob Arjounis Roman „Ein Mann, ein Mord.“ Ermittlung in doppelter Angelegenheit. In: Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005 „Germanistik im Konflikt der Kulturen“. Hrsg. von Jean-Marie Valentin. Bern/Berlin/Brüssel/ Frankfurt/Main/New York/Oxford/Wien: Peter Lang 2007, S. 281–286. 59 Ebd., S. 285. 60 Ebd., S. 284. 61 Søholm, Kirsten Molly: Konstruktion kultureller Identität in einer postnationalen Welt. Der türkische Macho als kulturelle Metapher in Jakob Arjounis „Ein Mann, ein Mord“ und Feridun Zaimoglus „Liebesmale, scharlachrot“. In: Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005 „Germanistik im Konflikt der Kulturen“. Hrsg. von JeanMarie Valentin. Bern/Berlin/Brüssel/Frankfurt/Main/New York/Oxford/Wien: Peter Lang 2007, S. 287–294. 62 Ebd., S. 291. 63 Ebd., S. 292. 64 Ebd., S. 293.

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differenzierten Thesen nicht auf die hardboiled school, sodass unklar bleibt, inwiefern die Macho-Elemente der Figur dieser Tradition bereits entsprechen. Im Jahr 2006 erscheinen zwei der wenigen bisher publizierten Monografien, die die Kayankaya-Reihe thematisieren. Alfred L. Cobbs legt „Migrants’ literature in postwar Germany“65 vor. Er befasst sich ausführlich mit „Ein Mann, ein Mord“. Cobbs beschäftigt die in dem Text dargestellte und in Deutschland (damals) geltende Asyl- und Flüchtlingspolitik sowie die Identität der Hauptfigur. Laut Cobbs nutze diese „charm, ingenuity and intellect“,66 um ihre Ziele zu erreichen. Karakus¸ untersucht in seiner ebenfalls 2006 vorgelegten Monografie „Interkulturelle Konstellationen. Deutsch-türkische Begegnungen in deutschsprachigen Romanen der Gegenwart“67 u. a. die in der Forschung vergleichsweise vielgedeutete Szene in „Kismet“, in der Kemal Kayanakya und die Islamforscherin Frau Beierle interagieren. Laut Karakus¸ erlebt die Ermittlerfigur die Ignoranz seines Gegenüber als „Art Gewaltsamkeit […], weil ihr keine Anerkennung gezollt wird“68. Dass diese Szene sich, bspw. mit Edward W. Saids „Orientalismus“69 gelesen, auch anders deuten lässt, ist belegt.70 „Die Detektion des Fremden: Der postkoloniale Detektivroman“71 ist das Thema von Paola del Zoppos 2006 veröffentlichtem Sammelband-Aufsatz. Die 65 Cobbs, Alfred L.: Migrants’ literature in postwar Germany. Trying to find a place to fit in. Lewiston/Queenston/Lampeter: Edwin Mellen Press 2006. 66 Ebd., S. 155. 67 Karakus¸, Mahmut: Interkulturelle Konstellationen. Deutsch-türkische Begegnungen in deutschsprachigen Romanen der Gegenwart. Würzburg: Könighausen & Neumann 2006. 68 Ebd., S. 51. 69 Said, Edward W.: Orientalismus. Frankfurt/Main: Fischer Verlag 2009. 70 Die Szene untersuchen genauer Heinze, Anja: Die Migrationsproblematik im aktuellen Kriminalroman. Unter Berücksichtigung des psychologischen Aufklärungsverfahrens in der Erzähltechnik. Dargestellt an Romanen von Donna Leon, Henning Mankell und Jakob Arjouni. Stuttgart: Hochschule der Medien 2003. Zugleich: Stuttgart, Hochschule der Medien, Diplomarbeit; Karakus¸, Mahmut: Interkulturelle Konstellationen. Deutsch-türkische Begegnungen in deutschsprachigen Romanen der Gegenwart. Würzburg: Könighausen & Neumann 2006; Rabl, Claudia: Spielarten des Kriminalgenres. Ausgewählte Beispiele aus hard-boiled und experimentellen Detektivgeschichten des 20. Jahrhunderts. Zugleich: Wien, Universität, Diplomarbeit 2008; Gellner, Christoph: „Kismet“, „Letzte Sure“, „Im Zeichen des Zen“. Interkulturelle Krimikonstellationen – mehr als Mystifikation und exotische Kulisse? In: Unerlöste Fälle. Religion und zeitgenössische Kriminalliteratur. Hrsg. von Andreas Mauz/ Adrian Portmann. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, S. 121–142; gelesen mit Said ˇ ujic´, Sandra: Herkunftskonzepte und Identitätsinszenierung in Jakob Arjounis Kismet. von C In: Gewissheit und Zweifel. 2015, S. 60–77; Beck, Sandra: Blood, sweat and fears: Investigating the other in contemporary German crime fiction. In: Contemporary German Crime Fiction. A Companion. Hrsg. von Thomas W. Kniesche. Berlin/Boston: De Gruyter 2019 (Companions to contemporary German culture; Vo. 7), S. 183–205. 71 Zoppo, Paola del: Die Detektion des Fremden: Der postkoloniale Detektivroman. In: Momente des Fremdseins. Kulturwissenschaftliche Beiträge zu Entfremdung, Identitätsverlust und Auflösungserscheinungen in Literatur, Film und Gesellschaft. Hrsg. von Corinna Schlicht. Oberhausen: Karl Maria Laufen 2006, S. 169–180.

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Germanistin erkennt Slibulsky als strukturell wichtige, adaptierte Watson-Figur. Diese entlaste Kemal Kayankaya emotional, diene ihm als Dialogvermittler und sei sein alter ego.72 Damit bringt die Wissenschaftlerin einen erhellenden Befund in die akademische Diskussion über die Kemal-Kayankaya-Texte ein. Dem gegenüber steht Volker Weidermanns Deutung, die Kemal Kayankaya vereinfacht als „deutsch-türkischen Detektiv“ beschreibt.73 In ihrer 2007 online veröffentlichten Hausarbeit zur Kemal-Kayankaya-Reihe untersucht Desirée Kuthe offene und nicht-offene Formen von Rassismus, geht auf hardboiled-Elemente ein und fragt, inwiefern Arjounis Kriminalromane zur Migrantenliteratur zählen.74 Im selben Jahr legt Wilczek die zweite literaturdidaktische Veröffentlichung zu Arjounis Kriminalromanen vor. Wilczeks Monografie75 basiert auf seinem 2003 erschienenen Text zu „Ein Mann, ein Mord“. Im Deutschunterricht der Sekundarstufe I sei die Beschäftigung mit der Kriminalliteratur Arjounis hinsichtlich zentraler poetischer Strukturelemente wie Räume und Milieus, Gespräche, Fremdheitserfahrungen, Sozial- und Gesellschaftskritik76 fruchtbar. Allerdings vertritt Wilczek eine überholte Sichtweise der Identität Kemal Kayankayas. Die Figur repräsentiere das „Grenzgängertum eines Menschen, der zwischen zwei Kulturen aufgewachsen ist und weder ganz zu der einen noch zu der anderen gehört.“77 Bevor Lehrkräfte die Kriminalromane Arjounis im Deutschunterricht einsetzen, ist zunächst der aktuelle Forschungsstand zu sichten, um differenzierte literaturwissenschaftliche Identitätskonzepte der Figur zu vermitteln. Claudia Rabl zeigt in ihrer 2008 erschienenen Magisterarbeit78 ebenfalls anhand der Begegnung zwischen dem Privatdetektiv und der Islamforscherin Frau Beierle auf, dass sich der Ermittler etwaige „Vorurteile, die ihm entgegengebracht werden […], völlig illusionslos zunutze“79 macht. Rabl zeigt die von Teraoka bereits beschriebene, einseitig-vorurteilsbehaftete Sichtweise der Figur ebenfalls auf: „Allerdings verfällt Kayankaya bei seinen zynisch-übersteigerten Skizzen

72 Vgl. ebd., S. 175. 73 Weidermann, Volker: Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2006, S. 267. 74 Kuthe, Desirée: „Hey, Kanacke!“ – Jakob Arjounis „Kayankaya“-Reihe als Migrationsliteratur. München: GRIN Verlag 2007. Die Hausarbeit ist als kostenpflichtige digitale Onlineausgabe oder book on demand verfügbar. Eine kostenfreie Leseprobe ist einsehbar unter (Zugriff am 09. 12. 2020). 75 Wilczek, Reinhard: Von Sherlock Holmes bis Kemal Kayankaya. 2007. 76 Vgl. ebd., S. 238. 77 Ebd., S. 234. 78 Rabl, Claudia: Spielarten des Kriminalgenres. Ausgewählte Beispiele aus hard-boiled und experimentellen Detektivgeschichten des 20. Jahrhunderts. Zugleich: Wien, Universität, Diplomarbeit 2008. 79 Ebd., S. 176f.

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von Menschen oder Situationen oft in genau jenes schubladisierten Denkverhalten, das er bei anderen anprangert.“80 Jeanne E. Glesener untersucht, gestützt auf Teraoka, in ihrem SammelbandBeitrag81 „the ambiguous position of the hybrid detective“82. Sie deutet die Figur als „very apt epigone of Sam Spade and Philipp Marlowe“83. Laut Glesener zeige insbesondere „Ein Mann, ein Mord“ sämtliche typische hardboiled-Elemente auf.84 Kemal Kayankaya nehme in dem Text die Perspektive eines „double insider“85 ein, da er sich sowohl in dem international gezeichneten Verbrechermilieu als auch in der offiziellen behördlich-institutionellen Welt zurechtfinde.86 Die Autorin schlussfolgert: „It is exactly at this point where intercultural communication may take place and where the didactical element of the novel can be situated.“87 Dass Arjounis Kriminalromane einen beinahe gesellschaftlich-erzieherischen Wert besäßen, ist eine in der Forschung zwar relativ häufige, jedoch kritisch zu betrachtende Schlussfolgerung. Die These betrifft die Rezeptionsforschung, die bezüglich der Kemal-Kayankaya-Reihe über Rezensionen, BuchPreise und Verkaufszahlen nicht hinausgeht, sodass keine gesicherten Befunde zur gesellschaftlich-sozialen Aufnahme der Texte vorliegen. Johannes Schwitalla und Liisa Tiittula untersuchen in ihrer 2009 erschienenen Monografie „Mündlichkeit in literarische Erzählungen“88 erstmals detailliert die sprachlichen Besonderheiten der Kriminalromane Arjounis, außer „Bruder Kemal“, mit Fokus auf „Happy birthday, Türke!“. Vergleichend betrachten sie die jeweilige finnische Übersetzung. Wolfgang Bryllas im selben Jahr publizierter, vielbeachteter Aufsatz89 legt das Wechselspiel zwischen den diegetischen Räumen und Kemal Kayankayas Handeln und Wirken dar. Er konstatiert schlüssig, dass der Privatdetektiv die unterschiedlichen Räume und Örtlichkeiten mit seiner Präsenz und durch sein

80 Ebd., S. 181. 81 Glesener, Jeanne E.: The crime novel: Multiculturalism and its impact on the genre’s convention. In: Crime and nation. Political and cultural mappings of criminality in new and traditional media. Hrsg. von Immacolata Amodeo/Brendan Dooley. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2009 (Intercultural knowledge; vol. 1), S. 15–26. 82 Ebd., S. 20. 83 Ebd., S. 20. 84 Ebd., S. 21. 85 Ebd., S. 22. 86 Edd., S. 22. 87 Ebd., S. 22. 88 Schwitalla, Johannes/Liisa Tiittula: Mündlichkeit in literarischen Erzählungen. Sprach- und Dialoggestaltung in modernen deutschen und finnischen Romanen und deren Übersetzungen. Tübingen: Stauffenburg 2009. 89 Brylla, Kayankaya am Tatort. 2009, S. 279–290.

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Agieren zwar bricht und semantisiert, die Räume ihn jedoch ebenso beeinflussen.90 Jeanne Ruffing beschäftigt sich in ihrer 2011 erschienenen Dissertation „Identität ermitteln. Ethnische und postkoloniale Kriminalromane zwischen Popularität und Subversion“91 unter anderem mit Arjounis Kriminalromanen. Einerseits zieht die Autorin ertragreiche Schlussfolgerungen zu einem bestimmten Aspekt, andererseits übersieht sie zeitgenössische Lesarten eines anderen Themas und spekuliert teilweise. Ruffing erkennt die Figur als „Projektionsfläche für die Phantasie vom ‚Fremden‘, der die deutschen Verhältnisse mit besonders illusionslosem Blick durchschauen und kritisieren kann, ohne je wirklich ihr Opfer zu werden“92.

Zugleich behauptet sie: „Arjouni greift mangels eigener ethnischer Erfahrungen auf melodramatische Biographiemuster zurück.“93 Christoph Gellners 2012 erschienener Sammelband-Beitrag thematisiert religiöse Aspekte in „Kismet“.94 Gellner wirft eine für die Erforschung interkultureller Kriminalromane grundsätzlich bedeutsame Frage auf, ohne sie jedoch zu beantworten: „[I]nwiefern die Verbindung von interkulturellen-interreligiösen Erzählelementen mit der Krimihandlung und dessen Plot gelungen ist. Diese Verbindung von Form und Inhalt, von Ästhetik und Semantik ist für die literarische Qualität des Krimigenres von besonderer Bedeutung.“95 Zudem akzentuiert Gellner Kemal Kayankayas Verortung in Deutschland.96 Thorben Päthe vergleicht in seiner 2013 veröffentlichten Monografie97 den Kriminalroman „Happy birthday, Türke!“ mit anderen Texten, in denen türkischstämmige Protagonisten auftreten, hinsichtlich der in ihnen konstruierten Identitätskonzepte. Dabei lehnt sich der Autor an Akbuluts Erkenntnissen an und führt diese teilweise weiter aus. Er stellt differenziert fest, dass Kemal Kayankaya

90 Ebd., S. 283. 91 Ruffing, Jeanne: Identität ermitteln. Ethnische und postkoloniale Kriminalromane zwischen Popularität und Subversion. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011 (Saarbrücker Beiträge zur vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft; Bd. 51). 92 Ebd., S. 298. 93 Ebd., S. 415. 94 Gellner, Christoph: „Kismet“, „Letzte Sure“, „Im Zeichen des Zen“. Interkulturelle Krimikonstellationen – mehr als Mystifikation und exotische Kulisse? In: Unerlöste Fälle. Religion und zeitgenössische Kriminalliteratur. Hrsg. von Andreas Mauz/Adrian Portmann. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, S. 121–142. 95 Ebd., S. 140. 96 Vgl. ebd., S. 126. 97 Päthe, Thorben: Vom Gastarbeiter zum Kanaken. Zur Frage der Identität in der deutschen Gegenwartsliteratur. München: Iudicium 2013.

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„keine wehrlose Sündenbock- und Opferrollenfigur [darstellt], sondern […], sich bestehende [teilweise rassistische] Klischees zunutze macht und die schablonenhaften Stereotypisierungen so bereits dekonstruiert“98.

Päthe zieht das eher rezeptionstheoretisch relevante Fazit, dass die Kemal-Kayankaya-Figur sich als „eindringliches Plädoyer verstehen [lässt], die Scheuklappen endlich abzunehmen und den fortschreitenden Einwanderungsprozess anzuerkennen und anzunehmen“.99 Manfred Durzaks 2013 veröffentlichte Monografie befasst sich mit deutschsprachiger, interkultureller Literatur und untersucht verschiedene Textsorten.100 Durzak sieht Kemal Kayankaya relativ eindimensional als „türkischen“101 Ermittler und „deutschsprachige Variante“102 der US-amerikanischen hartgesottenen Privatermittler an. Laut Durzak gelinge es Arjouni in der Kayankaya-Reihe die „Auseinandersetzung mit Rassismus und Fremdheitserfahrung in Deutschland durchaus differenziert“103 darzustellen. Neben einer Werkausgabe der Kemal-Kayankaya-Reihe,104 die ein erhellendes Nachwort von Manfred Papst enthält, erscheint 2014 der Sammelband-Aufsatz von Stefan Seeber zu Formen der Komik in Arjounis Kriminalromanen.105 Durchgängig bezugnehmend auf die traditionelle hardboiled school formuliert Seeber die neuartige These, dass Arjouni „seine Heldenkonzeption prismenhaft gebrochen und […] ironisiert“106 habe, indem er Kemal Kayankaya „verbürgerlicht“107 konstruiere und sprachliche hardboiled-Konventionen unterlaufe.108 Damit werde das „Düstere und Negative, das den hard-boiled Kriminalroman auszeichnet, […] gebrochen“109. Des Weiteren erkennt Seeber: „die beiden späteren Texte [„Kismet“ und „Bruder Kemal“] brechen das Schematische der frühen Krimis zugunsten einer differenzierten (und ironischen) Sichtweise auf“110. Ergänzend lässt sich Kniesches kurzer Beitrag von 2014 anführen, der „Happy birthday, Türke!“ als frühen Vertreter des mittlerweile etablierten Re98 Ebd., S. 89. 99 Ebd., S. 91f. 100 Durzak, Manfred: Literatur im interkulturellen Kontext. Würzburg: Könighausen & Neumann 2013. 101 Ebd., S. 156. 102 Ebd., S. 156. 103 Ebd., S. 160. 104 Vgl. Papst, Die Kayankaya-Romane. 2014. 105 Seeber, Stefan: Allein unter Hessen. Formen der Komik in den Kayankaya-Romanen von Jakob Arjouni. In: Mord und Totlach. Hrsg. von Christian F. Hoffstadt/Melanie Möller/ Sabine Müller. Bochum/Freiburg: Projektverlag 2014, S. 81–92. 106 Ebd., S. 85. 107 Ebd., S. 85. 108 Ebd., S. 87. 109 Ebd., S. 86. 110 Ebd., S. 84.

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gionalkriminalromans ansieht111 und somit ebenfalls neue Deutungshorizonte eröffnet. Im 2015 veröffentlichten Tagungsband zum achten internationalen Türkischen Germanistenkongress vergleicht Sevil Onaran die Figur der Amateurdetektivin Kati Hirschel aus den Romanen Esmahan Aykols mit Kemal Kayankaya.112 Sie analysiert und interpretiert allerdings lediglich die weibliche Figur. Daher bilanziert sie bezüglich des Privatermittlers knapp: „Indem auch Jakob Arjouni seinen Detektiv zwischen zwei Kulturen ansiedelt, bringt er es fertig, Themen wie Migration, Integration und Ausländerfeindlichkeit nicht nur durch die Fälle, sondern auch durch seine Figur, durch sein Leben selbst darzulegen.“113

In dem ebenfalls 2015 erschienenen Sammelband „Gewissheit und Zweifel. Interkulturelle Studien zum kriminalliterarischen Erzählen“114 befassen sich vier der zwölf Beiträge mit den Kriminalromanen Arjounis. Regine Zeller untersucht das „performative Spiel mit Identitätskonstruktionen“115 in „Happy birthday, Türke!“. Sie belegt Kayankayas variantenreiches Spiel mit verschiedenen Identitäten, das darauf beruhe, dass der Privatermittler „sich ständig dessen bewusst ist, wie er von anderen wahrgenommen wird“116. Zeller verweist zudem auf den souveränen Varietäten-Wechsel Kemal Kayankayas zwischen „Hessisch, Standard-Deutsch, Bayrisch und Straßen-Slang“117 der seine „Maskierung“118 perfektioniere. Der Beitrag zu „Kismet“ beleuchtet insbesondere die in dem Text konstruierten Herkunftskonzepte und Identitätsinszenierungen.119 Mit Said gelesen exemplifiziere die Szene zwischen Kemal Kayankaya und der Islamforscherin Frau Beierle die paternalistische Sicht auf den „hilfs-, rettungs-, ja sogar erlösungsbedürftigen“120 Orientalen. Kemal Kayankaya nutze die naiv-latent xeno111 Kniesche: Jakob Arjouni 1964–2013. Happy birthday, Türke! 2014, S. 15. 112 Onaran, Sevil: Kati Hirschel als Gegenpol zu Kayankaya? Esmahan Aykols Detektivin als Projektionsfläche. In: Migration und kulturelle Diversität. Tagungsbeiträge des XII. Internationalen Türkischen Germanistik Kongresses. Hrsg. von Metin Toprak/Ali Osman Öztürk. Unter Mitwirkung von Ҫig˘dem Biber und Özgü Ayvaz. Frankfurt/Main: Peter Lang 2015 (Literatur- und Übersetzungswissenschaft; Bd. 1), S. 133–146. 113 Ebd., S. 146. 114 Beck, Sandra/Katrin Schneider-Özbek (Hrsg.): Gewissheit und Zweifel. Interkulturelle Studien zum kriminalliterarischen Erzählen. Bielefeld: Aisthesis 2015. 115 Zeller, Regine: ‚Türkischer‘ Detektiv mit doppeltem Bewusstsein. „Happy birthday, Türke!“ und die stereotypen Bilder des Fremden. In: Gewissheit und Zweifel. 2015, S. 41–57, hier S. 41. 116 Ebd., S. 49. 117 Ebd., S. 51. 118 Ebd., S. 51. ˇ ujic´, Sandra: Herkunftskonzepte und Identitätsinszenierung in Jakob Arjounis „Kismet“. 119 C In: Gewissheit und Zweifel. 2015, S. 60–77. 120 Said, Orientalismus. 2009, S. 236. Vgl. ebd., S. 66–68.

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phoben Vorurteile seiner Auftraggeberin zu seinem Vorteil aus, indem er die von ihm erwartete Rolle spielt. Als Kontrast zu dem spielerischen Umgang mit Fremdzuschreibungen ließe sich die Figur Romario deuten, die die Diskrepanz zwischen ethnischer Selbst- und Fremdwahrnehmung nicht zu überwinden vermag.121 Sandro Moraldos Aufsatz beschäftigt sich mit Arjounis Text „Bruder Kemal“122. Das Konstrukt der Fremdheit sei in dem Kriminalroman als Bedrohung, Faszinosum und Zuschreibung zugleich dargestellt.123 Der Text sei eine „Andeutung brüchiger gesellschaftspolitischer Konstellationen“124. Elke Sturm-Trigonakis legt in ihrem Beitrag125 dar, dass Kemal Kayankaya Diskriminierungen durch Humor und Schlagfertigkeit ad absurdum führe.126 Sie erachtet die Trickster-Figur als bedeutsam für die Entwicklung der Detektivfigur.127 Arjounis Ermittler-Figur agiere ihrer innovativen Deutung nach „als echter trickster fast gänzlich unabhängig […], so dass der literarische Diskurs mit Hilfe dieser oszillierenden Figur ethnische oder kulturelle Identitätsmerkmale als unsinnige Vorstellungen entlarvt“128.

In ihrem 2016 herausgegebenen Sammelband vergleicht Hall mehrere interkulturell konstruierte, zeitgenössische Ermittler-Figuren.129 Bezüglich „Happy birthday, Türke!“ schlussfolgert sie, dass der Kriminalroman ein Soziokrimi sei, da er bspw. Korruption und Rassismus anprangere.130 Dem aktuellen Forschungsstand folgend definiert die Germanistin Kemal Kayankaya als deutschen Staatsbürger.131 Im selben Jahr führt Seeber in einem Sammelband-Beitrag seine 2014 dargelegte Definition Kemal Kayankayas als partiell bürgerliche Figur fort, indem er dessen Verortung in den sozialen Räumen der fünf Texte beschreibt.132 Die ersten drei Kriminalromane zeichneten den Detektiv als dem hardboiled-Muster folˇ ujic´: Herkunftskonzepte und Identitätsinszenierung. 2015, S. 70–73. 121 C 122 Moraldo, Sandro M.: Fremdheit in der ‚Heymat‘ als Zuschreibung, Faszinosum und Bedrohung. Ein Versuch über Jakob Arjounis Bruder Kemal. In: Gewissheit und Zweifel. Interkulturelle Studien zum kriminalliterarischen Erzählen. Hrsg. von Sandra Beck/Katrin Schneider-Özbek. Bielefeld: Aisthesis 2015, S. 79–97. 123 Ebd., S. 89. 124 Ebd., S. 96. 125 Sturm-Trigonakis: Kayankaya, Cheng und Weber-Tejedor als narrative Konfigurationen des Dritten. 2015, S. 99–118. 126 Vgl. ebd., S. 103. 127 Vgl. ebd., S. 104. 128 Ebd., S. 111. 129 Hall, Katharina: Crime fiction in German. 2016, S. 1–32. 130 Vgl. ebd., S. 18. 131 Vgl. ebd., S. 18. 132 Seeber, Stefan: Ich und die Anderen. Kemal Kayankaya auf dem Weg in die Bürgerlichkeit. In: Germanica 58: Le roman policier dans l᾽espace germanophone. Der Kriminalroman im deutschsprachigen Raum. Hrsg. von Elisabeth Kargl/Aurélie Le Née, 2016, S. 189–198.

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genden Außenseiter, der für die Leser heldenhafte Züge annehme.133 In „Kismet“ werde der Wandlungsprozess in den bürgerlichen Raum vorbereitet und in „Bruder Kemal“ unvollständig vollzogen.134 Da „die Herkunft des Detektivs nicht auszulöschen ist“,135 bleibt Kayankaya in „den Überschneidungen von Bürgerlichkeit und Gosse“136 verhaftet. Die deutungswürdige Raum-Konstruktion in der Kemal-Kayankaya-Reihe hebt Jochen Vogt hervor, indem er Arjouni als Vorläufer für zeitgenössische Kriminalromane nennt, die diegetische Topografie und Bedeutung fruchtbar verknüpfen.137 Robin-M. Aust fokussiert in seinem Aufsatz für denselben Sammelband die poetologische und inhaltliche Grenzüberschreitung in der Kemal-Kayankaya-Reihe.138 Aust fasst Arjounis Poetologie als „artifizielles Konstrukt“139 zusammen, das auf Figuren- und Genre-Ebene zeige, wie mithilfe von Konventionen Textsorten beziehungsweise Nationalitäten konstruiert werden.140 Arjouni nutze dafür insbesondere „Klischees und Klischeedekonstruktion“141. In dem 2018 erschienenen Handbuch zur Kriminalliteratur definiert Annika Hanauska in ihrem Artikel Kemal Kayankaya 2018 als „die spielerische Variante des ethnic detective“142. Damit folgt sie Sturm-Trigonakis Deutung der Ermittlerfigur als Trickster nur partiell. In anderen Artikeln des Handbuchs, die sich nicht explizit mit interkulturellen Kriminalromanen befassen, ist der Privatermittler binär eine „deutsch-türkische Detektivfigur“143, ein „Deutsch-Türke“144 und eine deutsch-türkische, hybride Figur145.

133 134 135 136 137 138

139 140 141 142 143 144

Vgl. ebd., S. 192–194. Vgl. ebd., S. 194f. Ebd., S. 196, vgl. S. 194f. Ebd., S. 197. Vogt, Jochen: Regionalität und Modernisierung in der neuesten deutschsprachigen Kriminalliteratur (1990–2015). Nebst einigen Lektüreempfehlungen. In: Le roman policier dans l᾽espace germanophone. 2016, S. 13–39, hier S. 32. Aust, Robin-M.: Grenzüberschreitungen: Jakob Arjounis Kayankaya-Romane zwischen hardboiled detective und Migrationsthematik. In: Germanica 58: Le roman policier dans l᾽espace germanophone. Der Kriminalroman im deutschsprachigen Raum. Hrsg. von Elisabeth Kargl/Aurélie Le Née, 2016, S. 199–210. Ebd., S. 207. Vgl. ebd., S. 207. Zu „Jakob Arjounis Poetik des Kriminalromans“ siehe zudem Moraldo, Fremdheit in der ‚Heymat‘. 2015, S. 82–84. Vgl. ebd., S. 210. Hanauska, Annika: Detektiv. In: Handbuch Kriminalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien. Hrsg. von Andrea Bartl/Susanne Düwell/Cristof Hamann/Oliver Ruf. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 224–231, hier S. 228. Schuchmann, Kathrin: Raumkonzepte. In: Handbuch Kriminalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien. Hrsg. von Andrea Bartl/Susanne Düwell/Christof Hamann/Oliver Ruf. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 36–42, hier S. 39. Bartl, Andrea: Kriminalliteratur seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. In: Handbuch Kriminalliteratur. 2018, S. 326–349, hier S. 332.

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Im Jahr 2019 erschien Maciej Je˛drzejewskis Monografie zum Gesellschaftsbild in Jakob Arjounis Werk.146 Der Autor untersucht das Oeuvre hinsichtlich Raum und Zeit sowie sozialen, ökonomischen, politischen, demografischen, biografischen und kulturellen Aspekten. Seine Befunde zu den Kriminalromanen folgen einer sozialkritischen Lesart. Der 2019 von Kniesche herausgegebene Sammelband zur zeitgenössischen deutschen Kriminalliteratur beinhaltete einen Beitrag von Sandra Beck,147 der auf ihrer Einleitung zu „Gewissheit und Zweifel“ basiert. Sie fasst die Forschungsergebnisse zu der bereits von anderen Autoren gedeuteten Szene zwischen dem Ermittler und Frau Beierle in „Kismet“ zusammen. Weitere Forschungsarbeiten zu Arjounis Kriminalromanen erschienen 2020. In seinem Zeitschriftenaufsatz148 beleuchtet Moraldo umfassend die in den fünf Romanen gegebenen biografischen Hinweise zu Kemal Kayankaya. Er schlussfolgert, dass der Privatdetektiv „ein selbstbestimmtes Leben jenseits kultureller Zuschreibungen und nationaler Identifikationsmuster“149 führen möchte. Da sich „an keiner Stelle weder der Autor noch der Protagonist mit der Aushandlung einer kulturellen Zugehörigkeit auseinander[setze]“,150 beziehe sich Kemal Kayankayas „Türkischsein“ laut Moraldo „lediglich auf sein Geburtsland“.151 Ein Indiz dafür, dass Arjounis Kriminalromane international erforscht werden, liefern Jean Andersons und Eric Sandbergs Beiträge im „The Routledge Companion to Crime Fiction“. Anderson weist auf die distanzierte Beobachter- und Außenseiter-Perspektive klassischer hardboiled-Detektive hin und meint, „mixed-origin detectives such as Jakob Arjouni’s German-Turkish sleuth Kemal Kayankaya, can be used to achieve this distancing effect and to question the validity of cultural differences by framing them as „Other“, as both attractive and unacceptable at the same time.“152

145 Vgl. Genç, Metin. Aktuelle Forschungsperspektiven. In: Handbuch Kriminalliteratur. 2018, S. 49–57, hier S. 51. 146 Je˛drzejewski, Gesellschaft in Jakob Arjounis Werk. 2019. 147 Beck, Sandra: Blood, sweat and fears: Investigating the other in contemporary German crime fiction. In: Contemporary German Crime Fiction. A Companion. Hrsg. von Thomas W. Kniesche. Berlin/Boston: De Gruyter 2019 (Companions to contemporary German culture; Vo. 7), S. 183–205. 148 Moraldo, Sandro M.: „Türke von Geburt“ und „Staatsbürger der Bundesrepublik“. Überlegungen zum irregulären Lebenslauf von Jakob Arjounis Privatermittler Kemal Kayankaya. In: Annali di Ca’ Foscari. Serie occidentale 54, 2020, S. 69–86. 149 Ebd., S. 75. 150 Ebd., S. 80. 151 Ebd., S. 79. 152 Anderson, Jean: Alterity and the other. In: The Routledge Companion to Crime Fiction. Hrsg. von Allan, Janice; Gulddal, Jesper; King, Stewart; Pepper; Andrew. London/New York: Routledge 2020. S. 525–260; Sandberg, Eric. Crime fiction and the city. In: The Routledge

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Pauline Breitwieser legte 2020 eine weitere online verfügbare Hausarbeit zu Arjounis Kriminalromanen vor.153

Kemal Kayankaya: Forschungstendenzen zu einer multidimensionalen Figur Jakob Arjounis Kayankaya-Kriminalromane bieten umfassendes literaturwissenschaftliches Potential. Bisherige Forschungsbeiträge fokussieren insbesondere die Identitätskonstruktion Kemal Kayankayas und die Fremdzuschreibungen durch andere Charaktere, sein Agieren in unterschiedlichen sozialen Räumen, die Bezüge der Figur zur klassischen US-amerikanischen hardboiled school und die sprachlichen Besonderheiten in den fünf Kriminalromanen. Viele impulsgebend-innovative Ergebnisse, hauptsächlich bezüglich der Identität des Privatermittlers, stammen aus dem anglo-amerikanischen Forschungsraum. Vielen frühen Deutungen nach ist Kemal Kayankaya eine deutsch-türkische Figur, ein ‚ethnischer‘ Privatermittler oder eine hybride Figur mit einer geläuterten idealistisch-moralischen Weltsicht. Dadurch nehme Kemal Kayankaya eine soziale Missstände entlarvende Außenseiter-Perspektive ein. Mit dieser Lesart häufig einher geht die Darstellung Kemal Kayankayas als passives Opfer rassistischer Zuschreibungen anderer Charaktere. Insbesondere durch anglo-amerikanische Forschung vorangetrieben, wandelt sich die Perspektive auf die Figur Kemal Kayankaya. Da die Figur in Deutschland sozialisiert wurde und keinerlei sprachlich-verwandtschaftliche Verbindungen zum Herkunftsland ihrer Eltern unterhält, entzieht sie sich der Zuschreibung als hybrider Charakter. Wenngleich der Privatermittler anderen Figuren als Projektionsfläche für deren Fantasien des vermeintlich Anderen dient, nutzt er fluid-vielschichtige Identitäts-Maskeraden, bspw. um seine Ermittlungen voranzubringen. Zudem ist Kemal Kayankayas Perspektive ebenfalls vorurteilsbehaftet. Die teilweise diffamierende Beschreibung anderer Figuren lässt den Privatermittler ambivalent erscheinen. Jüngere Arbeiten greifen die spielerisch-mehrdimensionale Komponente in Kemal Kayankayas Identitätskonstruktion auf und differenzieren sie weiter aus. Um seine Ziele zu erreichen, mimt er die Identität, die andere ihm zuschreiben. Companion to Crime Fiction. von Allan, Janice; Gulddal, Jesper; King, Stewart; Pepper; Andrew. London/New York: Routledge 2020. S. 335–342. 153 Breitwieser, Pauline: Migrationshintergrund und transkulturelle Identität in Jakob Arjounis Krimireihe. Privatdetektiv Kemal Kayankaya auf den Spuren seiner Zugehörigkeit. München: GRIN Verlag 2020. Die Hausarbeit ist als kostenpflichtige digitale Onlineausgabe oder book on demand verfügbar. Eine kostenfreie Leseprobe ist einsehbar unter . (Zugriff am: 10. 12. 2020).

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Nicht nur entlarvt er dadurch die Vorurteile seines jeweiligen Gegenübers, sondern auch seine schillernde Identität. Anders als in älteren Forschungslinien wird der Privatermittler in jüngeren eher als aktive Trickster-Figur beschrieben, deren Spiel mit Identitäts-Zuschreibungen sie anderen Figuren überlegen werden lässt. Neuere Arbeiten weisen zudem die Bürgerlichkeit als eine Komponente der Identität des Privatermittlers nach und unterstreichen damit die Vielschichtigkeit der Figur. Die Tendenz in der literaturwissenschaftlichen Forschung geht von einer Lesart Kemal Kayankayas als unfreiwillig marginalisierter Figur hin zu einer aktiv agierenden, ambivalenten, die sich gleich eines Flaneurs durch die sozialen Milieus Frankfurts bewegt. Die Identitätsinszenierung des Privatermittlers bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Fremdzuschreibung und Selbstwahrnehmung. Für die Konstruktion seiner Persönlichkeit sind neben den sozialen, urbanen und vorstädtischen Räumen auch die Nebencharaktere bedeutsam, da sie die Identitäs-Maskeraden des Privatdetektivs evozieren.

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Cobbs, Alfred L.: Migrants’ literature in postwar Germany. Trying to find a place to fit in. Lewiston/Queenston/Lampeter: Edwin Mellen Press 2006. ˇ ujic´, Sandra: Herkunftskonzepte und Identitätsinszenierung in Jakob Arjounis „Kismet“. C In: Gewissheit und Zweifel. Interkulturelle Studien zum kriminalliterarischen Erzählen. Hrsg. von Sandra Beck/Katrin Schneider-Özbek. Bielefeld: Aisthesis 2015, S. 59–77. Gellner, Christoph: „Kismet“, „Letzte Sure“, „Im Zeichen des Zen“. Interkulturelle Krimikonstellationen – mehr als Mystifikation und exotische Kulisse? In: Unerlöste Fälle. Religion und zeitgenössische Kriminalliteratur. Hrsg. von Andreas Mauz/Adrian Portmann. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, S. 121–142. Genç, Metin. Aktuelle Forschungsperspektiven. In: Handbuch Kriminalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien. Hrsg. von Andrea Bartl/Susanne Düwell/Christof Hamann/ Oliver Ruf. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 49–57. Glesener, Jeanne E.: The crime novel: Multiculturalism and its impact on the genre’s convention. In: Crime and nation. Political and cultural mappings of criminality in new and traditional media. Hrsg. von Immacolata Amodeo/Brendan Dooley. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2009 (Intercultural knowledge; vol. 1), S. 15–26. Hall, Katharina: Crime fiction in German: Concepts, developments and trends. In: Crime fiction in German. Der Krimi. Hrsg. von Katharina Hall. Cardiff: University of Wales Press 2016, S. 1–32. Hanauska, Annika: Detektiv. In: Handbuch Kriminalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien. Hrsg. von Andrea Bartl/Susanne Düwell/Cristof Hamann/Oliver Ruf. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 224–231. Heinze, Anja: Die Migrationsproblematik im aktuellen Kriminalroman. Unter Berücksichtigung des psychologischen Aufklärungsverfahrens in der Erzähltechnik. Dargestellt an Romanen von Donna Leon, Henning Mankell und Jakob Arjouni. Stuttgart: Hochschule der Medien 2003. Zugleich: Stuttgart, Hochschule der Medien, Diplomarbeit. Herbaty, Martin: Über den Einfluß anglo-amerikanischer Kriminalautoren auf deutsche Kriminalschriftsteller. Am Beispiel von Jörg Fauser, Gisbert Haefs, Jakob Arjouni und Ulf Miehe. 1992. Zugleich: Erlangen-Nürnberg, Universität, Magisterarbeit 1992. Je¸drzejewski, Maciej: Gesellschaft in Jakob Arjounis Werk. Berlin u. a.: Peter Lang 2019. Jordan, James: Of Fables and Multiculturalism: The Felidae novels of Akif Pirinçci. In: German-Language literature Today: International and popular? Hrsg. von Stuart Parkes/Julian Preece/Arthur Williams. Oxford: Peter Lang 2000, S. 255–268. Karakus¸, Mahmut: Interkulturelle Konstellationen. Deutsch-türkische Begegnungen in deutschsprachigen Romanen der Gegenwart. Würzburg: Könighausen & Neumann 2006. Karakus¸, Mahmut: Jakob Arjounis Roman „Ein Mann, ein Mord“. Ermittlung in doppelter Angelegenheit. In: Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005 „Germanistik im Konflikt der Kulturen“. Hrsg. von Jean-Marie Valentin. Bern/Berlin/ Brüssel/Frankfurt/Main/New York/Oxford/Wien: Peter Lang 2007, S. 281–286. Kniesche, Thomas W.: Jakob Arjouni 1964–2013. Happy birthday, Türke! Kriminalroman 1985. In: Literatur für die Schule. Ein Werklexikon zum Deutschunterricht. Hrsg. von Marion Bönninghaus/Jochen Vogt unter Mitarbeit von Dirk Hallenberger. Paderborn: Wilhelm Fink 2014, S. 14–16.

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Eine kritisch-chronologische Betrachtung des bisherigen Forschungsstandes

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Witt, Tobias: Die Figur des Privatdetektivs in Romanen der Gegenwart. Untersuchung der Kriminalromane von Jakob Arjouni, Bernhard Schlink/Walter Popp und Jürgen Kehrer. Kiel: 1999. Zugleich: Kiel, Universität, Magisterarbeit 1999. Zeller, Regine: ‚Türkischer‘ Detektiv mit doppeltem Bewusstsein. „Happy birthday, Türke!“ und die stereotypen Bilder des Fremden. In: Gewissheit und Zweifel. Interkulturelle Studien zum kriminalliterarischen Erzählen. Hrsg. von Sandra Beck/Katrin SchneiderÖzbek. Bielefeld: Aisthesis 2015, S. 41–57. Zoppo, Paola del: Die Detektion des Fremden: Der postkoloniale Detektivroman. In: Momente des Fremdseins. Kulturwissenschaftliche Beiträge zu Entfremdung, Identitätsverlust und Auflösungserscheinungen in Literatur, Film und Gesellschaft. Hrsg. von Corinna Schlicht. Oberhausen: Karl Maria Laufen 2006, S. 169–180.

Manuel Bauer (Marburg)

Schema oder Variation? Jakob Arjounis Kayankaya-Romane und der hardboiled-Architext

Nachrichten und Bogart Beim vierten Bier, nach erfolgreicher Lösung eines Falles, beginnt der übel derangierte Privatdetektiv, sich die ärztlich dringend verordneten drei Tage Genesung auszumalen. „Ein frisch bezogenes Bett, ein Haufen Reise- und Ferienprospekte für den Vormittag, verschiedene Fernsehzeitschriften für den Nachmittag und abendlange Spielfilme und keine Rate- oder Wettshows von Deppen, mit Deppen, für Deppen! Nachrichten und anschließend Bogart!“ (HbT, 164)

Das ist mehr als die Zusammenstellung eines Fernsehprogramms. Es verweist einerseits auf den Anspruch eines bereits medialisierten welthaltigen Realismus (‚Nachrichten‘), anderseits aber auch auf längst zur Chiffre geronnene populärkulturelle Formate – Humphrey Bogart ist der ikonische Schauspieler der sogenannten ‚schwarzen Serie‘, der die beiden (nicht zuletzt aufgrund ihrer Verkörperung durch diesen Darsteller!) berühmtesten ‚harten‘ Detektive, Sam Spade und Philip Marlowe, auf die Leinwand brachte und nachgerade als Inkarnation des hardboiled-Genres zu verstehen ist. Wenn der Protagonist aus Jakob Arjounis erstem Roman „Happy birthday, Türke!“ (1985) zur Genesung den Wunsch nach Bogart-Filmen hegt, erweist der Autor einem populären Kriminal-Genre seine Ehrerbietung – und legt ein Bekenntnis zur eigenen Genrehaftigkeit ab, die um die mehrfach vermittelte Tradition weiß, in der sie steht. Mit seinen zu „Krimi-Klassiker[n]“1 avancierten Romanen um den türkischstämmigen Detektiv Kemal Kayankaya – dem Erstling folgten „Mehr Bier“ (1987), „Ein Mann, ein Mord“ (1991), „Kismet“ (2001) und „Bruder Kemal“ (2012) – gilt Arjouni längst als der bedeutendste deutschsprachige Autor des 1 Moraldo, Sandro M.: Fremdheit in der ‚Heymat‘ als Zuschreibung, Faszinosum und Bedrohung. Ein Versuch über Jakob Arjounis Bruder Kemal. In: Gewissheit und Zweifel. Interkulturelle Studien zum kriminalliterarischen Erzählen. Hrsg. von Sandra Beck/Katrin SchneiderÖzbek. Bielefeld: Aisthesis 2015, S. 79–97, hier S. 97.

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hardboiled-Genres.2 Der Detektiv Kayankaya wurde zum ‚Bruder‘ oder ‚Enkel‘ Philip Marlowes erklärt,3 er gilt als Figur, die „in die Annalen berühmter Detektive eingehen und das Zeitalter der hard-boiled-school wiederbeleben sollte“.4 Der Detektivroman, gleich welcher Ausprägung, ist ein Musterbeispiel für die Funktionsweise von Genre-Literatur und des stetigen, seit Bertolt Brecht immer wieder beschworenen Spiels von Schema und Variation,5 denn „[d]er einzelne Autor findet eine Leserschaft vor, die von einem neuen Werk einerseits die Einfügung in das vertraute System und andererseits nicht nur Wiederholung, sondern auch Neues und Originelles erwartet“.6

Arjounis Detektivromane bieten genau das: Sie greifen auf das etablierte GenreSchema, die Erzählmuster und das Figuren- sowie Motivarsenal der hardboiledGroßmeister Dashiell Hammett und Raymond Chandler zurück, variieren all diese Merkmale aber zugleich.7 Die folgenden Ausführungen diskutieren Facetten und Effekte dieses stetigen Rückgriffs.

2 Vgl. Teraoka, Arlene A.: Detecting Ethnicity. Jakob Arjouni and the Case of the Missing German Detective Novel. In: The German Quarterly 72, 1999, H. 3, S. 265–289, hier S. 265: „Finally, Germany had a hardboiled detective novelist of its own“; vgl. auch die prominente Platzierung der Kayankaya-Romane bei Leonhardt, Ulrike: Mord ist ihr Beruf. Eine Geschichte des Kriminalromans. München: C.H. Beck 1990, S. 235f.; Krieg, Alexandra: Auf Spurensuche. Der Kriminalroman und seine Entwicklung von den Anfängen bis zur Gegenwart. Marburg: Tectum 2002, S. 99f.; Reinhard Wilczeks Buchtitel „Von Sherlock Holmes bis Kemal Kayankaya“ insinuiert sogar, Arjounis Detektivromane seien der Schlusspunkt einer Entwicklung des gesamten Genres. – Derlei Konstruktionen und Singularitäts-Emphasen übersehen freilich, dass im gleichen Jahr wie Arjounis Debüt mit Jörg Fausers „Das Schlangenmaul“ ein anderer deutschsprachiger hardboiled-Roman von Rang erschienen ist, der ein ebenso eigenständiges wie bewusstes Verhältnis zur Genre-Tradition erkennen lässt und zugleich in weit größerem Ausmaß als die Kayankaya-Romane eine poetologische Metareflexion seiner selbst ist (ohne deswegen an Lesbarkeit einzubüßen). Arjouni erweist Fausers „Schlangenmaul“-Roman eine späte Würdigung, wenn er im letzten Kayankaya-Roman nicht nur überdeutlich die Auftragssituation anklingen lässt (hier wie dort soll der Detektiv eine verschwundene Tochter aus begütertem Hause finden), sondern darüber hinaus mehrfach auf die Schlangen-Tätowierung der Auftraggeberin hinweist (vgl. BK, 7). 3 Vgl. Leonhardt, Mord ist ihr Beruf. 1990, S. 235; Krieg, Auf Spurensuche. 2002, S. 95. 4 Moraldo, Fremdheit in der ‚Heymat‘. 2015, S. 83. 5 Vgl. Brecht, Bertolt: Über die Popularität des Kriminalromans. In: Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. Hrsg. von Jochen Vogt. München: Fink 1998, S. 33–37. 6 Suerbaum, Ulrich: Kriminalroman. In: Handbuch der literarischen Gattungen. Hrsg. von Dieter Lamping. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 2009, S. 438–446, hier S. 442. 7 In der dominant von Aspekten der Konstruktion, Hinterfragung und Inszenierung von kultureller/ethnischer Identität bestimmten Forschungsliteratur wird verschiedentlich auf „die ˇ ujic´, Sandra: Herkunftskonspielerische Umdeutung gültiger hard-boiled Erzählmuster“ (C zepte und Identitätsinszenierung in Jakob Arjounis „Kismet“. In: Gewissheit und Zweifel. Interkulturelle Studien zum kriminalliterarischen Erzählen. Hrsg. von Sandra Beck/Katrin Schneider-Özbek. Bielefeld: Aisthesis 2015, S. 59–77, hier S. 74) in den Kayankaya-Romanen verwiesen; allerdings mangelt es solchen Beschreibungen häufig an hinreichender Kenntnis

Schema oder Variation?

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Arbeit am Architext Die ‚härtere‘ Spielart der Detektiverzählung entwickelt sich im Laufe der 1920er Jahre aus amerikanischen ‚pulp magazines‘ als Gegenbewegung zu den Standards und vielfach formulierten Regeln der vornehmlich britisch geprägten Ausprägung des Detektivromans des ‚Goldenen Zeitalters‘.8 Dessen Autor*innen präsentieren wohlgefällig arrangierte und raffiniert ausgetüftelte Morde in von innen verschlossenen Bibliotheken oder Schlafzimmern englischer Landhäuser, auf Golfplätzen oder in Luxushotels. Die Morde vollziehen sich idealerweise geräuschlos oder doch zumindest ohne allzu störende physische Aspekte des gewaltsamen Todes. Die Ermittlungen übernimmt, da die Polizei angesichts der Rätselhaftigkeit des Verbrechens rasch an ihre Grenzen stößt, ein dandyhafter Gentleman-Detektiv, dessen analytische Fähigkeiten so überragend sind, dass er im Extremfall seinen Armsessel gar nicht verlassen muss, um das Mysterium aufzulösen. Die Detektiverzählungen der hardboiled-Schule traten an, diese Idylle zu verheeren. Die Ordnungsstörung, von der hier erzählt wird, kann nicht mehr durch einen schlichten Mord symbolisiert werden. Sie ist weit fundamentaler. Diese Richtung bietet einen anderen Sound, ein anderes Setting, eine andere Art, Morde zu inszenieren und sie zu verfolgen, ein zumindest partiell anderes Erzählmodell durch eine Verschiebung von Analysis- zu Action-Elementen.9 Die gesamte erzählte Welt hebt sich von der des Detektivromans klassischer Prägung ab. Die historische und systematische Bedeutung des hardboiled-Genres fasst Ulrich Suerbaum prägnant zusammen: „Innerhalb der Gesamtgattung Krimi bilden die Geschichten der hard-boiled school die wichtigste Alternative zur klassischen Detektivgeschichte. Der harte Krimi – inzwischen selbst ein ‚klassischer‘, immer wieder nachgeahmter und abgewandelter Typus – und der konventionelle Detektivroman stehen auf mehreren Ebenen in einem Verhältnis des Kontrasts zueinander.“10

der aufgerufenen Muster, wenn – wie im zitierten Beispiel – ausschließlich auf der Grundlage von Einführungsbüchern wie Peter Nussers „Der Kriminalroman“ geurteilt wird. 8 Wie dezidiert und bewusst das Selbstverständnis dieser kriminalliterarischen Spielart sich in Absetzung von den Rätselromanen entwickelt hat, dokumentieren die Überlegungen in Chandlers programmatischem Essay „The Simple Art of Murder“ (1944), in dem der polemisch gezeichneten klinischen, konstruierten Artifizialität des ‚Golden Age‘ durchaus schablonenhaft ein härteres und realistisches Modell gegenübergestellt wird, das Chandler bei Hammett verwirklich sieht, an dessen Festschreibung er aber vornehmlich selbst arbeitete. 9 Zu ‚Analysis‘ und ‚Action‘ als ‚Grundelemente der Gattungsstruktur‘ vgl. Schulz-Buschhaus, Ulrich: Formen und Ideologien des Kriminalromans. Ein gattungsgeschichtlicher Essay. Frankfurt/Main: Athenaion 1975, bes. S. 3. 10 Suerbaum, Ulrich: Krimi. Eine Analyse der Gattung. Stuttgart: Reclam 1984, S. 127.

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Da der einst innovative ‚harte‘ Krimi selbst zu einer standardisierten und der Nachahmung zugänglichen literarischen Form wurde, bedient sich Arjouni eines Erzählrasters, das geradezu beliebig aufgefüllt werden kann. Seine Detektivromane beziehen sich inhaltlich und poetologisch fortwährend auf den ‚Architext‘ des hardboiled-Romans. Der Begriff ist Gérard Genettes Theorie der Transtextualität entlehnt. Architextualität ist eine von fünf Spielarten, die Genette in „Palimpseste“ (1982), seiner ausladenden Untersuchung über Bezüge von Texten zu Texten, beschreibt. Mit dem Terminus ‚Transtextualität‘ benennt er all das, was einen Text „in eine manifeste oder geheime Beziehung zu anderen Texten bringt“.11 Im Fall der Architextualität ist die Beziehung zu anderen Texten eine unausgesprochene, „die bestenfalls in einem paratextuellen Hinweis auf die taxonomische Zugehörigkeit des Textes zum Ausdruck kommt“12 – dies geschieht meist durch einen gattungszuweisenden Untertitel wie den Terminus ‚Roman‘. Doch die architextuelle Folie der Geschichten um Kemal Kayankaya ist erheblich spezifischer. Ihr Architext ist nicht der Roman schlechthin, sondern der harte Detektivroman. Zwar behaupten einige der hier in Rede stehenden Romane („Mehr Bier“, „Kismet“, „Bruder Kemal“) durch paratextuelle Aussagen ihre eigene, nur auf sich selbst und ihr eigenes Erzähluniversum verweisende Architextualität, indem sie sich im Untertitel als „Kayankaya-Romane“ bezeichnen. Dennoch sind die fünf Romane mit dem Protagonisten Kemal Kayankaya allesamt mindestens, wie mit dem Untertitel von Genettes Studie zu sagen wäre, „Literatur auf zweiter Stufe“, da sie sich als aktualisierender Nachhall eines klassisch gewordenen Textkorpus positionieren.13 Es ist der aus sämtlichen Texten des Genres abstrahierte Architext, der das Vorbild und den Anknüpfungspunkt abgibt. Obwohl Arjouni wiederholt auf einzelne Motive und Zusammenhänge aus konkret zu benennenden Genre-Klassikern zurückgreift (wie der nächste Abschnitt zeigt), suchen die Kayankaya-Romane den Dialog mit den Prätexten weniger im Sinne einer Einzeltext- als einer Systemreferenz.14 Es ist 11 Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer/Dieter Hornig. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 1993, S. 9. Zur theoretischen Grundlegung und den von Genette benannten fünf Typen der Transtextualität ‚Intertextualität‘, ‚Paratextualität‘, ‚Metatextualität‘, ‚Hypertextualität‘, ‚Architextualität‘ vgl. ebd., S. 9–18. 12 Ebd., S. 13. 13 Da diese Texte als Gegenentwurf zum Detektivroman älterer Prägung verstanden werden müssen, architextuelle Text-Text-Beziehungen mithin bereits für die Begründer des Genres konstitutiv und die hardboiled-Narrationen der 1920er bis -50er Jahre selbst ‚Literatur auf zweiter Stufe‘ sind, ist bei Texten der nachfolgenden hardboiled-Generationen, in denen bei der Anlehnung an das eine Modell immer die Ablehnung des anderen mitschwingt, eigentlich bereits von einer Literatur auf dritter Stufe zu sprechen. 14 Zur Terminologie vgl. Pfister, Manfred: Konzepte der Intertextualität. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. von Ulrich Broich/Manfred Pfister. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1985, S. 1–30, hier S. 17f.

Schema oder Variation?

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zwar allen Lesenden unbenommen, diese Romane nicht vor dem Hintergrund der Genre-Klassiker zu lesen, doch bliebe eine solche Lektüre unterkomplex, da das ständige Spiel von (affirmativer) Bestätigung des Schemas und dessen (Kritik implizierender) Variation einen wesentlichen Teil der Textstrategie ausmacht. Die Romane arbeiten mit einem impliziten Leser, der sich der Bezüge gewärtig ist und die Funktion von Anlehnungen und Abweichungen in seine Deutung einbezieht oder diese sogar darauf gründet. Die Kayankaya-Romane sind eine Aktualisierung des hardboiled-Architextes, da sie das Modell, das bei Hammett und Chandler aus den urbanen amerikanischen Verhältnissen der 1920er bis -50er Jahre hervorging, nun auf die Verhältnisse in Frankfurt am Main seit den frühen 1980ern übertragen und modifizieren – dass die Wahl des Handlungsortes auf die Finanzmetropole fiel, ist vor dem Hintergrund des traditionell kapitalismuskritischen hardboiled-Genres schwerlich ein Zufall. Arjounis hardboiled-Romane machen zwar die Historizität ihres Architextes bewusst, dementieren aber zugleich dessen Beschränkung auf ein bloß historisches, zum Stillstand gekommenes Phänomen und leisten dadurch immer auch Arbeit am Architext.

Funktionen und Effekte der dialogischen Intertextualität Insbesondere die frühen Romane Arjounis exponieren ihre Zugehörigkeit zur von Hammett und Chandler kanonisierten Tradition auch durch manifeste intertextuelle Anleihen. Sie setzen Lesende voraus, die diese Bezüge wahrnehmen, so dass mit Eco von einem intertextuellen ‚Dialogismus‘15 zu sprechen ist. Einige exemplarische Anleihen werden im Folgenden diskutiert. „Happy birthday, Türke!“ beginnt damit, dass der Protagonist an einem Sommermorgen von einer „verdammte[n] Fliege“ belästigt wird, deren Summen „unerträglich“ (HbT, 5) ist und ihn aus dem Schlaf reißt. Dass die Fliege „[d]ick und schwarz […] auf der weißen Bettdecke“ sitzt, der Ich-Erzähler nach einigen vergeblichen Versuchen schließlich gut zielt und dann aufstehen muss, um sich „die Hand zu waschen“ (ebd.), dient zunächst der Etablierung eines schnoddrigen Erzähltons sowie einer etwas schäbigen Umgebung samt eines nicht eben zimperlichen Protagonisten, der von der Noblesse und Distinguiertheit eines Gentleman-Detektivs denkbar weit entfernt ist. Darin erschöpft sich die Bedeutung dieser kurzen Szene aber nicht. Sie markiert ein Traditionsbewusstsein, denn eine Auseinandersetzung des Detektivs mit einer „große[n] Schmeißflie15 Vgl. Eco, Umberto: Die Innovation im Seriellen. In. ders.: Über Spiegel und andere Phänomene. Aus dem Italienischen von Burkhard Kroeber. 7. Auflage. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2002, S. 155–180, hier S. 162f.

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ge“, die er, ebenfalls an einem Sommermorgen, „seit fünf Minuten verfolgt“,16 bevor er sie schließlich eliminieren kann, steht auch am Anfang von Raymond Chandlers Roman „Die kleine Schwester“ (1949). Arjounis Erstlingswerk stellt direkt zu Beginn aus, dass es sich als Nachfolger eines Klassikers des hartgesottenen Detektivromans sieht. Doch es bleibt nicht bei einer Huldigung von Vorbildern: Der siegreich bestrittene Kampf mit der Fliege ist hier wie dort ein Symbol für das Wirken des Typus des harten Detektivs, der gewissermaßen lästiges Geschmeiß zur Strecke bringt, damit aber an der allgemeinen Schäbigkeit der Welt nichts Wesentliches ändern kann. Dass Marlowe eine Fliegenklatsche benutzt, Kayankaya aber nicht davor zurückschreckt, sich buchstäblich die Hand schmutzig zu machen, lässt diesen modernen Detektiv noch abgebrühter erscheinen als seinen literarischen Vorfahren. Arjouni betreibt mit diesem für die Narration allenfalls ornamentalen Detail eine doppelte Positionierung: eine Anerkennung des Genre-Vorbilds, zugleich aber auch dessen Überbietung. Zuweilen bleiben die Texte auch bewusst hinter den Klassikern zurück, indem sie Erwartungen unterlaufen. Wenn es nach wenigen Seiten von „Happy, Birthday, Türke“ an Kayankayas Bürotür klingelt, die Tür sich dann langsam öffnet und sich „[e]twas Schwarzes“ hereinschleicht, „mit unruhigem Blick“ (HbT, 11) den Detektiv und sein Büro mustert, um dann sehr leise und schüchtern zu sprechen, dann ist eine der archetypischen Szenen des Genres aufgerufen: der Auftritt von Miss Wonderly im ersten Kapitel von Hammetts „Der Malteser Falke“ (1930). Diese Klientin kommt ebenfalls langsam in das Büro des Detektivs, sieht diesen „mit schüchternem und zugleich prüfendem Blick“17 an und spricht sehr leise. Sie wird zwischenzeitlich die Geliebte des Protagonisten, bis sie sich als Mörderin entpuppt – sie ist der Inbegriff der Femme Fatale und damit eine der klassischen (und sexistisch gezeichneten) Ausprägungen von Weiblichkeit im hardboiled-Genre. Das Verführungspotenzial dieser Frau wird vom zwar neutralen, aber deutlich männlich markierten Erzählerblick hervorgehoben: „Sie war groß und von schlanker, geschmeidiger Gestalt, die nirgendwo harte Kanten aufwies. Sie […] hatte hohe Brüste, lange Beine und schmale Hände und Füße. […] Die unter ihrem blauen Hut hervorquellenden Haarlocken waren von dunklem, die vollen Lippen von etwas hellerem Rot.“18

16 Chandler, Raymond: Die kleine Schwester. Roman. Neu übersetzt von Walter E. Richartz. Werkausgabe in 13 Bänden. Band 5. Zürich: Diogenes Verlag 1975, S. 5. Bereits dieser Verweis verdeutlicht, dass die Einschätzung, „[d]er vielzitierte Chandler [sei] für Arjouni kein Vorbild gewesen“ (Krieg, Auf Spurensuche. 2002, S. 96), schlichtweg unzutreffend ist (wenngleich der empirische Autor Arjouni in Hammett seinen größeren Lehrmeister gesehen haben mag). 17 Hammett, Dashiell: Der Malteser Falke. Roman. Aus dem Amerikanischen von Peter Naujack. Werkausgabe in zehn Bänden. Bd. 3. Zürich: Diogenes Verlag 1974, S. 9. 18 Ebd., S. 9f.

Schema oder Variation?

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Arjouni bietet die Grundzüge der Szenerie auf: der Detektiv in seinem Büro, eine zögerlich und schüchtern auftretende Frau, die sich seiner Hilfe versichern möchte. Die Genre-Konventionen lassen eine erotisch-verführerische, aber gefährliche Frau erwarten, deren Schüchternheit nur eine Rolle ist, um den Detektiv wirkungsvoller instrumentalisieren zu können. Doch Arjouni lässt diese Erwartungen ins Leere laufen. Der Blick des Erzählers wird weitgehend entsexualisiert: „Das Schwarze war eine kleine Türkin im Trauerflor mit dicken goldenen Ohrringen. Ihre Haare hatte sie zum strengen Zopf geflochten, und unter den Augen hingen Schatten.“ (HbT, 11) Zwar ist die Gesprächssituation sehr ähnlich, aber sowohl die Beschreibung als auch die sich daraus entspinnenden Folgen unterscheiden sich erheblich: Hammett schildert eine Männerfantasie, Arjouni eine trauernde und verunsicherte Frau. Bei Hammett ist diese Frau eine kühl berechnende Mörderin, die nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht ist, bei Arjouni handelt es sich schlicht um eine Klientin, die die Wahrheit über die Todesumstände ihres Mannes in Erfahrung bringen möchte.19 Die sexualisierten Leseerwartungen bleiben unerfüllt und werden dadurch als Wunschfantasien ins Bewusstsein gehoben. Und während es im weiteren Verlauf von Hammetts Roman um eine moderne Schatzsuche nach einer mysteriösen Statue geht, wird Kayankaya ungleich prosaischer die Umstände eines Todesfalls ermitteln, da die Witwe vermutet, dass der Polizei „ein toter Türke genauere Ermittlungen nicht wert sei“ (HbT, 14). Die Variation eines vertrauen Schemas mündet in einen Realitätseffekt, der sozialkritische Implikationen hat und politisch relevant ist: Über die Figur der Klientin – weit stärker als durch die deutsch sozialisierte Kayankaya-Figur selbst – wird das für die Bundesrepublik der 1980er Jahre (mit Folgen bis in die Gegenwart) wichtige Thema der ‚Gastarbeiter‘, deren familiäre Strukturen und soziale Integration in den Blick genommen. Eine andere Art der Abweichung, die sich auf der Grundlage einer vordergründigen Bestätigung durch intertextuelle Anlehnung vollzieht, zeigt eine Passage von „Mehr Bier“, die zunächst wie eine Hommage an der Grenze zum Plagiat erscheint. Zu Beginn des vierten Kapitels, in dem Kayankaya die Großstadt verlässt, um in einem Provinznest namens Doddelbach seine Ermittlungen fortzusetzen, bemerkt der Erzähler: „Zum ersten Mal hörte ich es von einem rothaarigen Typ im Grossen Schiff in Sachsenhausen. Bei dem hieß Doddelbach stur Trottelbach. Da er aber auch Äbbelwoi statt Äppelwein sagte, habe ich nicht weiter darüber nachgedacht. Später fiel mir bei anderen, die es nicht so eilig mit ihren Silben hatten, die gleiche Aussprache auf. Jene umwerfende Art Humor, die aus einem Professor einen Brotfresser macht, meinte ich. Erst heute, Jahre später in Doddelbach, ging mir ein Licht auf.“ (MB, 27, Hervorh. i. Orig.) 19 Anders als bei Doris Dörries Verfilmung, die nicht der Genre-Lockung widerstehen konnte, zwischen Detektiv und Klientin ein sexuelles Verhältnis zu etablieren.

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Erneut könnte man dies schlicht für eine einführende, ornamentale Beschreibung eines Schauplatzes halten. Aber diese Passage ist die direkteste Anleihe, die sich in der gesamten Serie findet. „Rote Ernte“ (1929), Hammetts stilbildender erster Roman, beginnt mit dem Absatz: „Der erste, von dem ich’s hörte, war ein rothaariger Strolch namens Hickey Dewey im ‚Großen Schiff‘ in Butte gewesen. Bei dem hieß Peaceville stur immer nur Pissville. Da er aber statt Fusel auch Fussel sagte, habe ich nicht weiter drüber nachgedacht, was er dem Namen der Stadt angetan hatte. Später fiel mir bei anderen, die es nicht so eilig mit ihren Silben hatten, die gleiche Aussprache auf. Ich sah immer noch nichts weiter drin als jene umwerfende Art Humor, die aus einem Professor einen Brotfresser macht. Erst ein paar Jahre später, als ich selbst nach Peaceville kam, ging mir ein Licht auf.“20

Die Anlehnung bis hin zum Zitat ist offenkundig. Arjounis Strategie wird in nuce greifbar. Indem die Hammett-Passage bei weitgehender wörtlicher Übernahme an Frankfurter Verhältnisse angepasst wird, wird sie zugleich in einen neuen Erzählkosmos eingegliedert. Schon dadurch geschieht notwendigerweise eine Kontextverschiebung, die Arjouni aber noch deutlich weiter führt. Die Beschreibung von „Pissville“ eröffnet einen Reigen der Verkommenheit, Brutalität und der ostentativen, von kapitalistischen Entwicklungen bedingten Hässlichkeit.21 Hammett beschreibt eine Stadt, die vom organisierten Verbrechen beherrscht und von rivalisierenden Gangs in Atem gehalten wird. „Trottelbach“ hingegen ist ein geradezu parodistischer deutsch-bürgerlicher Abglanz von Hammetts Moloch: „Makellose Straßen. Nicht der kleinste Hundehaufen verletzte deutsche Sauberkeit.“ (MB, 28) Arjouni benutzt die Hammett-Passage, um durch die Hommage eine Verschiebung zu markieren. Bieder-langweilige ‚deutsche Sauberkeit‘ tritt an die Stelle der Verheerungen, die das Amerika der Prohibitionszeit bei Hammett kennzeichnen. Blickt man genauer, dann zeigen sich bei einem in Doddelbach verübten Mord allerdings Verästelungen zu einer kriminellen Verflechtung aus politischen und ökonomischen Interessen, die letztlich die gesamte Chemieindustrie umfassen und die vom Frankfurter Oberbürgermeister protegiert werden. Dass der Mord an einem Chemiefabrikanten medial als ‚grüner Terror‘ inszeniert wird, soll innerhalb des Plots nicht allein ein schlechtes Licht auf die sich etablierende ökologische Protestbewegung werfen, es ist auch ein Ausweis kritischer Zeitgenossenschaft. Der kurzweilig erzählte Kriminalfall, in dem Kemal Kayankaya ermittelt, ist (typisch für alle Bände der Serie) Anlass und Vehikel für eine sozialkritische Vermessung der eigenen Gegenwart. Zwar sind die Erscheinungsformen der Verbrechen rund um Doddelbach und deren oberflächlich 20 Hammett, Dashiell: Rote Ernte. Roman. Aus dem Amerikanischen von Gunar Ortlepp. Zürich: Diogenes Verlag 1976, S. 9. 21 Vgl. ebd., S. 9f.

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sichtbare Brutalität schwerlich mit dem in Peaceville losgetretenen Bandenkrieg vergleichbar. Gerade dadurch aber steht die weitreichende untergründige Struktur der Kriminalität ebenso metonymisch für die BRD der 1980er wie Peaceville für die USA der 1920er. Nur in der Variation bestätigt sich das Schema – andernfalls wäre es eine bloß enthistorisierte und damit abgeschmackte Wiederholung. Gerade im Rückzug in die Biederkeit der hessischen Provinz löst Arjouni in „Mehr Bier“ das Authentizitäts-Credo der harten Schule ein. Dieses Credo ist kanonisch (und weitgehend unhinterfragt) in Raymond Chandlers programmatischem Essay „Die simple Kunst des Mordes“ (1944) festgeschrieben. „Der Realist der Mord-Geschichte“, so führt Chandler aus, „beschreibt eine Welt, in der Gangster ganze Nationen regieren können und Städte sogar manchmal regieren […]; eine Welt, in der ein Richter, der den ganzen Keller voll von geschmuggeltem Alkohol hat, einen Menschen ins Gefängnis schicken kann, weil er einen Flachmann in der Tasche hatte“.22

Arjouni erzählt nicht von einem Richter, aber von korrupten Kommissaren und Oberbürgermeistern, die Aktien von Chemieunternehmen halten, während Umweltaktivisten verhaftet werden. In der erzählten Welt des harten Detektivromans – bei Arjouni an seine jeweiligen zeitgeschichtlichen Verhältnisse angepasst, im Kern aber genauso wie bei Hammett und Chandler – funktionieren die idealtypischen Zuordnungen von Recht und Unrecht, von Gut und Böse, von Ordnung und Ordnungsstörung nicht mehr. Diejenigen, die für die Ordnung sorgen sollten (wie hochrangige Politiker und Polizeibeamte), sind selbst deren Störer, während kriminelle Usancen an die Stelle staatlicher Ordnung getreten sind (erkennbar etwa daran, dass Schutzgeldzahlungen an Mafiaorganisationen als „nichts anderes als Steuern“ (K, 39) begriffen werden). Dass Gangster ganze Städte regieren, wird bei Arjouni ausdrücklich verhandelt. In „Ein Mann, ein Mord“ erzählt er davon, dass die Brüder Schmitz die Frankfurter Unterwelt beherrschen – zwei scheinbar honorige Herren, aber auch „[z]wei große Fische mit entsprechenden Verbindungen ins Rathaus, die über Leichen gehen ließen“ (EM, 25). Und doch sind diese Gangsterfürsten und ihre Verflechtungen in die Politik ein vergleichsweise harmloses Übel. Wie im folgenden Band der Serie berichtet wird, war es in der kriminellen Szene nie wieder so ruhig und geordnet wie zu der Zeit „als es noch die Gebrüder Schmitz, die unumstrittenen Könige des Bahnhofsviertels, und eine korrupte CDU-Stadtregierung gegeben hatte, die die Gebrüder machen ließ“ (K, 61f.). Auf ihre Weise sorgten die Brüder für stabile Verhältnisse und einen „einigermaßen reibungslosen Geschäftsverlauf“ (K, 62) für alle anderen. In der Logik der durchweg 22 Chandler, Raymond: Die simple Kunst des Mordes. Ein Essay. In: ders.: Die simple Kunst des Mordes. Briefe, Essays, Notizen, eine Geschichte und ein Romanfragment. Hrsg. von Dorothy Gardiner und Katherine Sorley Walker. Zürich: Diogenes 1975, S. 318–342, hier S. 340.

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kriminellen Verhältnisse konnten die Brüder als „Garanten für Frieden und Einkommen“ (K, 63) gelten. Seit ihrem Rückzug ist die vormals stabile Unterwelt aus den Fugen geraten. „Kismet“ erzählt davon, wie die blutig erkämpfte neue Ordnung erneut korrodiert und zu einer „Verbrecherolympiade“ (K, 63f.) wird, wie allumfassend und systemisch die Kriminalität und deren Brutalität sind. Gerät eine kriminelle Hierarchie ins Wanken, ist ein Unterwelt-Krieg mit zahlreichen Opfern die Folge – selig die von Chandler beschriebenen Zeiten, in denen Gangster mit Verbindungen zur Politik eine Stadt regiert haben. Arjouni nimmt dadurch einen noch zynischeren Blick auf die kriminellen Machtverhältnisse ein und erzählt von einem neuen Ausmaß an Gewalt und Brutalität in den Kämpfen um die Vorherrschaft in der Unterwelt. Das führt zudem zu einer Radikalisierung des Detektivs selbst. In „Kismet“ greift er zu brutaleren Methoden und denkt sogar an Folter als legitimes Mittel der Informationsbeschaffung (vgl. K, 151). Kayankaya reflektiert diese Entwicklung und vermutet, er sei durch die jüngsten Geschehnisse „ganz einfach verroht“ worden, so dass ihm das Töten – zumindest das Töten derer, die er als seine Feinde ausgemacht hat – „unausweichlich, fast selbstverständlich“ (K, 252) vorkomme. Die von Kayankaya maßgeblich mitgelenkten „kriegsähnlichen Auseinandersetzunge[n]“ (K, 252) und seine Absicht, „eine Mafia aus der Stadt zu jagen“ (K, 220), erinnern nicht von ungefähr an Hammetts „Rote Ernte“. Dort versucht der Detektiv ebenfalls, die gesamte Unterwelt einer Stadt neu zu ordnen und sich dabei geradezu gegenseitig vernichten zu lassen. Bei Arjouni aber wird diese Versuchsanordnung viel deutlicher politisiert, da nicht nur ein abstraktes Geflecht aus Verbrechen, Politik, Gewerkschaften und Medien benannt wird, sondern nationalistische Konflikte im Zuge der Jugoslawienkriege der 1990er Jahre und die damit einhergehende Flüchtlingsproblematik im Hintergrund stehen. Arjouni greift die Schablone des klassischen Vorbilds auf, füllt sie aber mit zeitgenössischen Inhalten. Er steigert dadurch ihre Drastik und macht das scheinbar historische Muster als probates Gefäß für gegenwärtige Probleme nutzbar.

Abweichende Klischee-Erfüllung: Die Detektiv-Figur Dass das kriminalliterarische Genre, dem Arjounis Kayankaya-Romane zuzurechnen sind, ‚hardboiled‘ genannt wird, also ‚knallhart‘ oder ‚hartgekocht‘, hat mit der erzählten Welt im Allgemeinen und den dort vorherrschenden rauen Sitten zu tun. Es liegt aber nicht zuletzt im Detektiv selbst begründet, der körperlich hart im Nehmen ist, seinerseits bei Bedarf physischer Gewalt nicht abgeneigt und aufgrund der ihn umgebenden harten Welt zynisch und abgebrüht

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ist: „Ich habe eine Hornhaut über allem, was von meiner Seele noch übrig ist“,23 lässt Hammett den literarischen Vorfahren aller späteren ‚harten‘ Ermittler sagen. Er ist ein Mitarbeiter der „Continental Detective Agency“,24 die der realen Detektiv-Agentur Pinkerton nachempfunden ist, bleibt namenlos und wird meist schlicht ‚Continental Op‘ (Kurzform für ‚Operator‘) genannt.25 Dieser Detektiv ist keine Logik- oder Rechenmaschine, er ist ein handfest eingreifender Mensch, der hart arbeiten muss. Der Continental Op, der seit den frühen 1920er Jahren in zahlreichen Erzählungen und zwei Romanen Hammetts auftaucht, bildet die Blaupause für alle späteren hardboiled-Ermittler, auch wenn diese nicht immer bei einer Agentur beschäftigt sein sollten. Die beiden berühmtesten, Sam Spade aus Hammetts „Der Malteser Falke“ und besonders Chandlers Philip Marlowe, der „zum Prototyp des private eye wurde“,26 verdingen sich als Privatdetektive. Wie der Continental Op ist auch Marlowe der Erzähler seiner Fälle. Arjouni übernimmt nicht allein das Charakterprofil des Helden, sondern auch die autodiegetische Erzählhaltung und die lakonisch verknappte, von bitterem Humor und Zynismus geprägte Sprache. Die Form rekurriert auf den Architext und demonstriert eine Genrezugehörigkeit.27 Die klassischen ‚harten‘ Detektive sind zumeist bindungslos und ohne Familie, leben finanziell prekär, sind verbal außerordentlich schlagfertig28 und haben einen ausgeprägten Hang zum Alkohol. „Ich bin ein Einzelgänger, unverheiratet, mittleren Alters und nicht reich“, berichtet Marlowe in „Der lange Abschied“, „[i]ch schwärme für Alkohol, Frauen, Schach und noch ein paar andere Sachen. Die Bullen können mich nicht allzu gut leiden, aber ich kenne auch einige, mit denen ich

23 Hammett, Dashiell: Das große Umlegen. In: ders.: Das große Umlegen und andere Detektivstories. Aus dem Amerikanischen von Hellmuth Karasek/Walter E. Richartz/Wulf Teichmann. Werkausgabe in zehn Bänden. Bd. 8. Zürich: Diogenes Verlag 1981, S. 7–72, hier S. 23f. 24 Hammett, Rote Ernte. 1976, S. 21. 25 Die Forschungsliteratur führt die Kayankaya-Figur meist umstandslos auf Sam Spade und Philip Marlowe zurück und übersieht dabei die für das Genre im Allgemeinen und auch für Arjouni grundlegende Bedeutung des Continental Op. Vgl. exemplarisch Moraldo, Fremdheit in der ‚Heymat‘. 2015, S. 84. 26 Suerbaum, Kriminalroman. 2009, S. 443. 27 Der extradiegtisch-heterodiegetische Erzähler mit externer Fokalisierung, der einen großen Teil der Faszinationskraft von Hammetts Romanen „Der Malteser Falke“ und „Der gläserne Schlüssel“ ausmacht, konnte sich nicht als genretypisches Merkmal durchsetzen, wogegen die von Philip Marlowe und dem Continental Op autodiegetisch erzählten Texte die als typisch wahrgenommene hardboiled-Perspektive festschrieben. 28 Zur Sprache als ‚Waffe‘ des harten Detektivs und seiner Technik des ‚wise-cracking‘ vgl. Schulz-Buschhaus, Formen und Ideologien des Kriminalromans. 1975, S. 136ff.

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ganz gut auskomme. Ich stamme hier aus der Gegend […], beide Eltern tot, keine Geschwister“.29

Bereits in „Happy birthday, Türke!“ führt sich der Ich-Erzähler, obzwar mit 26 noch nicht ‚mittleren Alters‘, mit unverkennbarer Anlehnung an dieses Eigenschafts-Set ein. Die Handlung setzt an seinem Geburtstag ein, den er mit niemandem feiern kann, weswegen er sich mit einem Rentner, der ein Stockwerk über ihm wohnt und mit dem er gelegentlich Backgammon spielt, am Vorabend heftig betrunken hat. Er stellt seine abgestumpfte Verfassung und seinen Hang zum Alkohol zur Schau, wenn er bemerkt, er habe sich „ein Dutzend Tote im Fernsehen“ angesehen und sich dabei „das erste Glas Chivas in die Leber“ (HbT, 6) gegossen. Die finanziell prekäre Situation ist (mit Ausnahme von „Bruder Kemal“) in allen Bänden der Serie gegeben. Dass Kayankaya „Schulden und keine Aufträge“ (EM, 6) hat, bildet die übliche Ausgangssituation. Die Bindungslosigkeit wird geradezu überdeutlich betont. Kayankayas leibliche Eltern sind früh verstorben, und obwohl er von einer deutschen Familie adoptiert wurde (was in allen Bänden knapp erwähnt wird),30 tritt kein Mitglied dieser Familie je in Erscheinung. Der einzige Freund, der wiederholt erscheint, ist der Kleinganove Slibulsky. Am Ende der ersten beiden Bände geht Kayankaya entweder allein (bewehrt mit einer Flasche Whisky) „durch die Nacht nach Hause“ (HbT, 170) oder steht alleine in seiner Wohnung und „starrt[] in den Regen“ (MB, 169), in den Bänden drei und vier wirkt das Ende nur deswegen weniger desperat, weil der Detektiv Dates mit Zufallsbekanntschaften hat (die jeweils keinen weiteren Auftritt haben).31 Zu dieser weitreichenden sozialen Isolation kommt bei Kayankaya die Geschichte seiner Herkunft hinzu. Er ist zwar Deutscher und fühlt sich sogar als Frankfurter Lokalpatriot, es wird aber immer wieder (zumeist mittels der Fremdwahrnehmung durch andere Figuren) thematisiert, dass er von seiner Herkunft völlig abgeschnitten ist: Er spricht die Sprache nicht, interessiert sich nicht für die türkische Kultur und hat keinerlei Kontakt mit etwaigen türkischen Verwandten. In dieser sich auch auf das Gebiet

29 Chandler, Raymond: Der lange Abschied. Roman. Aus dem Amerikanischen von Hans Wollschläger. Zürich: Diogenes Verlag 1975, S. 96. 30 Zu einer Zusammenfügung der verstreuten Informationen zu Kayankayas Lebensgeschichte vgl. Moraldo, Fremdheit in der ‚Heymat‘. 2015, S. 84f. sowie ders.: „Türke von Geburt“ und „Staatsbürger der Bundesrepublik“. Überlegungen zum irregulären Lebenslauf von Jakob Arjounis Privatermittler Kemal Kayankaya. In: Annali di Ca’ Foscari. Serie occidentale 54, 2020, S. 69–86. Dass „Kayankayas Biographie hochgradig romanesk“, mithin künstlich und unwahrscheinlich wirkt, wird diskutiert bei Ruffing, Jeanne: Identität ermitteln. Ethnische und postkoloniale Kriminalromane zwischen Popularität und Subversion. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 286f., 297f. (Zitat S. 286). 31 An der desperaten Verfasstheit der Welt hat sich, dem aufgeklärten Fall zum Trotz, indes jeweils nichts geändert.

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des Ethnischen erstreckenden Entwurzelung ist Kayankaya Steigerung und Symbolfigur für den wurzel- und bindungslosen Detektiv im Allgemeinen. Gerade diese Steigerung aber schreibt dem Helden eine konstitutive Abweichung ein. Die Kayankaya-Figur sei, so wird die Forschung nicht müde zu betonen, als türkischer Deutscher und als Privatdetektiv eine doppelte Anomalie32 oder markiere gar einen „doppelten Tabubruch“, nämlich „als Türke mit deutschem Pass“ sowie „wie als Türke und Privatdetektiv“.33 Dagegen sind die klassischen amerikanischen Detektive zwar familienlose Desperados, ihre Zugehörigkeit zum weißen Amerika aber steht außer Frage. Der klassische amerikanische hardboiled-Roman vermittelt eine „auf das männliche, weiße Individuum zentrierte Weltsicht“.34 An Maskulinität mangelt es der Weltsicht in Arjouinis Detektivromanen sicherlich nicht, eine Entsprechung zum ‚weißen Individuum‘ bieten sie in Gestalt des Protagonisten aber ausdrücklich nicht. Der als „Markenzeichen“35 der Texte wahrgenommene türkischstämmige Detektiv ist innerhalb der erzählten Welt zweifellos als Unwahrscheinlichkeit konstruiert. In den 1980er Jahren sei, wie Arjouni in einem Interview pointiert formuliert, „ein Türke automatisch immer nur ein Straßenkehrer“36 gewesen. Durch seinen ethnischen Hintergrund wird Kayankaya auf der Grundlage des deutschen Alltagsrassismus eher als Krimineller denn als Ordnungshüter wahrgenommen.37 Der Detektiv ist als Typus klassischerweise ohnehin ein nirgendwo richtig zugehöriger Außenseiter, doch bei Kayankaya ist dafür bei weitem nicht sein Berufsstand samt den damit verbundenen Implikationen allein die Ursache. Ein zentrales Element dieser Romane ist „das über den abweichenden Ermittler [Hervorh. M.B.] inszenierte, reflexive Spiel mit gewaltförmigen Zuschreibungspraxen und dem so sarkastisch erzählten wie in der

32 Vgl. Teraoka, Detecting Ethnicity. 1999, S. 270. 33 Sturm-Trigonakis, Elke: Kayankaya, Cheng und Weber-Tejedor als narrative Konfigurationen des Dritten. In: Gewissheit und Zweifel. Interkulturelle Studien zum kriminalliterarischen Erzählen. Hrsg. von Sandra Beck/Katrin Schneider-Özbek. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2015, S. 99–118, hier S. 108f. 34 Ruffing, Identität ermitteln. 2011, S. 24. Vgl. auch ebd., S. 264: „Der überkommene Typus des hartgesottenen Detektivs […] wird hier zur Konstruktion eines Modells ethnischer Subjektivität benutzt“. 35 Kniesche, Thomas W.: Vom Modell Deutschland zum Bordell Deutschland. Jakob Arjounis Detektivromane als literarische Konstruktionen bundesrepublikanischer Wirklichkeit. In: Mord als kreativer Prozess. Zum Kriminalroman der Gegenwart in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Hrsg. von Sandro M. Moraldo. Heidelberg: Winter 2005, S. 21–39. 36 Kronsbein, Joachim: „Und Gott hetzt hinterher“. Der Schriftsteller Jakob Arjouni über seinen neuen Krimi „Kismet“ und das Handwerk des Schreibens. In: Der Spiegel 13/2001, S. 189f., hier S. 190. 37 Vgl. Teraoka, Detecting Ethnicity. 1999, S. 273.

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Sache unnachgiebigen Widerstand Kayankayas gegen die variantenreichen Strategien der Usurpation und des othering“.38

Durch die Abweichung wird es möglich, in Kayankaya eine Vielzahl stereotyper Eigenschaften zu bündeln und die Figur, die Bestätigung und Revision des architextuellen Musters zugleich ist, doch originell erscheinen zu lassen. Der historische Abstand von den Vorbildern manifestiert sich unter anderem dadurch, dass der Detektiv bei Arjouni sein Handwerk bereits aus klischeehaften medialen Adaptionen kennt. Zwar hat er sich ganz regulär „um eine Lizenz für Privatermittlungen“ (HbT, 10) beworben, hat aber die Signatur-Handlungen der Detektiv-Rolle – die Kayankaya innerfiktional ebenso schablonenhaft wie sein Autor von popkulturellen Vorläufern übernimmt – „im Fernsehen gelernt“ (HbT, 97). Daher kann er bei Bedarf auch „[g]anz auf Bullenschiene“ (MB, 32) agieren, da seine Handlungen keinen Wesenszügen, sondern durchgehend Rollen entsprechen, die erlern- und adaptierbar sind. Auch das expliziteste detektivische Credo Kayankayas folgt einem populären Vorbild. In „Mehr Bier“ fragt Kayankayas Helfer und späterer Freund Slibulsky, „für wen“ Kayankaya seinen Beruf eigentlich ausübe, den er damit zugleich im Allgemeinen hinterfragt, als „verlogen“ bezeichnet und als eine „Mischung aus Robin Hood und Bulle“ charakterisiert, was „nicht gutgehen“ (MB, 113) könne. Kayankayas Reaktion ist bemerkenswert: „Ich hatte geglaubt, Privatdetektiv wäre so eine Art Hausarzt. An den großen Schlachtereien und dem allgemeinen Dreck ändert er zwar nichts, aber für den einen oder anderen kann es vielleicht doch wichtig sein, daß er da ist.“ (MB, 114)

Das Vorbild dieser Selbstauffassung ist kein hardboiled-Detektiv, sondern Georges Simenons Kommissar Maigret,39 der nicht etwa um Schurken zur Strecke zu bringen oder aus einem Gerechtigkeitsethos heraus Polizist werden wollte. Sein Ideal hat von einem Polizisten auf den ersten Blick sehr wenig: „[E]r stellte sich einen klugen oder vielmehr sehr verständnisvollen Mann vor, Arzt und Priester in einem, einen Mann, der das Schicksal eines anderen auf den ersten Blick erfaßte.“40 Maigret schwebt eine Art spiritueller Heiler vor, dem es aufgrund seiner verständnisvollen Art möglich ist, die Lebenswege anderer Menschen zu ordnen und zu korrigieren.

38 Beck, Sandra: Narratologische Ermittlungen. Muster detektorischen Erzählens in der deutschsprachigen Literatur. Heidelberg: Winter 2017, S. 408. 39 Arjouni zählte Simenon zu den von ihm besonders geschätzten Autoren, von ihm habe er „alles gelesen“ (Kronsbein, „Und Gott hetzt hinterher“. 2001, S. 190). 40 Simenon, Georges: Maigrets erste Untersuchung. Roman. Aus dem Französischen von Roswitha Plancherel-Walter. Zürich: Diogenes Verlag 1998, S. 99f.

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„Man wäre zu diesem Mann gegangen und hätte ihn um Rat gefragt, so wie man einen Arzt aufsucht. Er wäre so etwas wie ein ‚Schicksalsflicker‘ gewesen […], weil er sich in das Leben aller Menschen, die Haut aller Menschen versetzen konnte.“41

Doch just in dem Moment, in dem Arjounis Detektiv Simenons Kommissar diese Hommage erweist, vollzieht er eine Abkehr von diesem emphatischen Programm. „Inzwischen weiß ich auch, es ist vollkommen egal, ob ich da bin oder nicht. Ich mache meine Arbeit so gut es geht, das ist alles.“ (MB, 115) Kayankaya wird als desillusionierte und entidealisierte Modernisierung eines der berühmtesten Ermittler der Geschichte der Kriminalliteratur positioniert. Ob es ihm noch gelingen kann, als ‚Schicksalsflicker‘ zu wirken, bleibt offen; der Glaube an die Relevanz des eigenen Tuns jedenfalls ist gründlich erschüttert. Arjounis poetologisches Programm unterzieht die Prätexte nicht selten einer Transformation im Sinne einer Abgleichung mit den Begebenheiten der eigenen Gegenwart. Kayankayas Selbstauffassung ist von berühmten Vorbildern geprägt, deren Ethos aber kaum mehr aufrechtzuerhalten ist, da es an den Verhältnissen zerschellt. Gleichwohl entspricht dieses Ethos noch immer maßgeblich demjenigen der klassischen harten Privatdetektive, wie es in Chandlers „Die simple Kunst des Mordes“ beschrieben wird. In der bei Hammett geschilderten, verkommenen Welt sieht Chandler einen Typus, der als geradezu messianischer Erlöser für das Gute streitet: „Aber durch diese schäbigen Straßen muß ein Mann gehen, der nicht selbst schäbig ist, der eine reine Weste hat und keine Angst. Der Detektiv in dieser Art Story muß so ein Mann sein. Er ist der Held; er ist schlechthin alles. Er muß ein ganzer Mann sein und ein gewöhnlicher Mann – und zugleich doch ein ungewöhnlicher auch. Er muß […] ein Mann von Ehre sein […]. Er muß der beste Mensch auf der Welt sein und ein Mensch, der gut genug ist für jede Welt.“42

Der Detektiv ist, wenngleich nicht frei von Ambivalenzen, eine grundsätzlich positive Figur, „verkörpert er doch die Tugend in einer Welt ohne Tugend“, obwohl er nicht der allgemeine Retter sein kann, da er „zwar einiges Unrecht geradebiegen“ kann, „aber nicht das allgemeine Unrecht dieser Welt“.43 Der Detektiv Kayankaya ist ein solcher ‚Mann von Ehre‘ und Beschützer der Entrechteten, sogar dann, wenn ihm eigentlich bereits der Fall entzogen wurde. In „Mehr Bier“ sagt er zu seinem Klienten – einem zwielichtigen Anwalt, der ihn engagiert hat, um die Unschuld der wegen Mordverdachtes inhaftierten Öko41 Simenon, Maigrets erste Untersuchung. 1998, S. 100. 42 Chandler, Simple Kunst. 1975, S. 341. 43 Manchette, Jean-Patrick: Chroniques. Essays zum Roman noir. Aus dem Französischen von Katarina Grän/Ronald Vouillié. Hrsg. von Doug Headline/François Guérif. Heilbronn: Distel Literatur Verlag 2005, S. 17.

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Aktivisten zu ermitteln – er werde weitermachen, auch wenn der Klient dies gar nicht mehr möchte: „Wenn Ihre Mandanten schon so einen miesen Anwalt erwischt haben, haben Sie wenigstens einen halbwegs anständigen Detektiv verdient.“ (MB, 102f.) Kayankaya ist ein Wahrheits- und Gerechtigkeitssucher und ganz im Sinne Chandlers eine hochmoralische Retterfigur in einer verkommenen Welt, wenn er in „Ein Mann, ein Mord“ alles daran setzt, inhaftierte Geflüchtete, die zuvor von einer Bande mit falschen Versprechungen um ihr Geld geprellt wurden, vor der akut drohenden Abschiebung zu retten. Kayankaya ermittelt längst nicht mehr vorrangig, um einen vergüteten Auftrag auszuführen, sondern angetrieben von seiner moralischen Integrität. Er lehnt sich gegen einen Filz aus Polizei und organisiertem Verbrechen auf, um Ausgebeuteten ihr Recht und Gehör zu verschaffen – in diesen Aspekten übertrifft Kayankaya den Moralismus Chandlers und wandelt ihn in eine politische Agenda um. Dass er in „Kismet“ ohne Bezahlung zunächst nur für sich selbst arbeitet, erklärt er damit, eine Schutzgelderpresserbande habe ihn „zu einer Schweinerei gezwungen, und dabei kann’s nicht bleiben“ (K, 108). Wer den Detektiv zu einer Handlung außerhalb seines Moralkodex zwingt, muss sich auf der Grundlage dieses Kodex wiederum der Vergeltung des nolens volens unmoralisch Handelnden gewärtigen. Kayankaya geht sogar ein Bündnis mit einem der neuen Unterweltherrscher ein, um für seinen persönlichen Rachefeldzug die neue Bande mittels einer Eskalation der Gewalt auszumerzen. Der Detektiv wird zur strafenden Instanz auf der Basis nicht etwa des Gesetzes, sondern seines eigenen moralischen Empfindens.44 Es ist dem Genre im Allgemeinen ebenso wie Kayanakayas Figurenanlage inhärent, dass Moralismus in Selbstgerechtigkeit und Selbstjustiz zu kippen droht. Den berüchtigten Höhepunkt dieser Entwicklung stellt, so der Konsens der hardboiled-Geschichtsschreibung, Mickey Spillanes Detektiv Mike Hammer45 dar, der in Romanen mit sprechenden Titeln wie „I, the Jury“ oder „Vengeance Is Mine“ einen von überbordender Gewalttätigkeit gekennzeichneten Feldzug gegen das Verbrechen abseits der Legalität unternimmt. Auch Kayankaya stellt wiederholt sein Moral- und Gerechtigkeitsempfinden über das Gesetz. In „Bruder Kemal“ nimmt er beispielsweise in Kauf, eine etwaige Mörderin zu decken und wird am Ende (nicht zum ersten Mal) den tatsächlichen Täter nicht der Polizei übergeben. Dass der Detektiv den Tathergang rekonstruiert, ist wichtiger als die Bestrafung eines seinerseits in von der Erzählstrategie moralisch legitimierter Selbstjustiz handelnden Mörders. Das bringt dem Detektiv den seitens eines religiösen Fanatikers erhobenen und dadurch be44 Vgl. prägnant, aber ohne Blick für die Ambivalenzen dieses Handelns Kniesche, Vom Modell Deutschland zum Bordell Deutschland. 2005, S. 33: „Kayankaya teilt Gerechtigkeit aus, die jenseits des Gesetzes liegt.“ 45 Zu Spillane vgl. weiterführend Suerbaum, Krimi. 1984, S. 154f.

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sonderen pikanten Vorwurf ein, seine eigenen Regeln über die der Allgemeinheit zu stellen und besser zu wissen, was Recht und Unrecht sei (vgl. BK, 184). Dass der klassische hardboiled-Ermittler, wie Chandler dekretiert, eine ‚reine Weste‘ habe, ein furchtloser ‚Held‘ mit Gerechtigkeitssinn und ‚ein ganzer Mann‘ sei, hindert ihn keineswegs daran, über rassistische Ansichten, eine stramme Homophobie und ein stabil-sexistisches Weltbild zu verfügen. Arjounis Umgang mit diesem (dadurch gleichermaßen als unverzichtbar festgeschriebenen wie als problematisch exponierten) Genre-Muster entbehrt nicht einer gewissen provozierenden Raffinesse: Obwohl Kayankaya selbst fortwährend mit xenophoben Stereotypen umgehen muss, ist er selbst mitnichten frei von Ressentiments.46 Wiederholt äußert er sich abfällig über Homosexuelle, Angehörige anderer Ethnien (und über klischeehaft-typische Deutsche) ebenso wie über politische und ökologische Aktivisten. Er lädt einen streng gläubigen Moslem zu ‚HaxenHerbert‘ ein und erfreut sich an diesem „Nazischerz“ (BK, 180), doch auch Rechtsradikale oder reaktionäre Lautsprecher, die eine Islamisierung Europas befürchten, werden von ihm aufs Korn genommen (vgl. u. a. BK, 165f.). Für Akademiker, Künstler und Intellektuelle hat er meist nur Spott übrig; Frauen nimmt er (das Unterlaufen der Femme-Fatale-Erwartung ist für sein Frauenbild nicht repräsentativ) meist als Sexualobjekte wahr. Wenn ihm eine Frau die Tür öffnet, genügt nicht die Erwähnung, dass es sich um „eine attraktive Blondine um die Vierzig“ handelt, der Erzähler muss auch auf ihren „aufregende[n] Körper“ (MB, 33) hinweisen; eine andere Frau beschreibt er als „Miss Krankenhaus“, da sich „[ü]ber alle möglichen Luxusmaße bis hin zum Busen […] ein kantig gebügelter Nylonkittel“ (EM, 50f.) spannt. Die klassische Ausprägung des harten Detektivromans sieht derlei männliche Wahrnehmungen von Weiblichkeit vor. In seiner maskulinistischen Selbstgerechtigkeit ist der Erzähler Kayankaya die getreue Adaption der Vorgaben an seine Gegenwartsverhältnisse, ohne allerdings die damit einhergehenden Subtexte und Implikationen der transportierten Klischees ausdrücklich einer kritischen Reflexion zu unterziehen.47 46 Das wurde in der Forschungsliteratur wiederholt (und teilweise mit Erstaunen) festgestellt. Vgl. u. a. Teraoka, Detecting Ethnicity. 1999, S. 278. Zeller hingegen hebt hervor, Arjouni reproduziere damit traditionelle hardboiled-Topoi, zeige „aber gleichzeitig auch die Ubiquität der Vorteilsstrukturen gegenüber dem Anderen“ (Zeller, Regine: ‚Türkischer‘ Detektiv mit doppeltem Bewusstsein. „Happy birthday, Türke!“ und die stereotypen Bilder des Fremden. In: Gewissheit und Zweifel. Interkulturelle Studien zum kriminalliterarischen Erzählen. Hrsg. von Sandra Beck/Katrin Schneider-Özbek. Bielefeld: Aisthesis 2015, S. 41–57, hier S. 53). 47 Wilczek betont, dass „Kayankayas Anleihen an der schablonenartigen Zeichnung populärer Schönheitsvorstellungen […] so überzogen [wirken], dass man in ihnen fast schon wieder ironische Untertöne vermuten darf“ (Wilczek, Reinhard: Die hässliche Seite der Wohlstandsgesellschaft. Jakob Arjouni: „Ein Mann, ein Mord“. In: Das Fremde und das Andere. Interpretationen und didaktische Analysen zeitgenössischer Kinder- und Jungendbücher.

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Indem Kayankaya sich als Außenseiter abfällig gegenüber anderen Gruppen äußert, wird offenbar, wie stark er vom Typus des harten Detektivs geprägt ist, weit mehr als von seiner vorgeblich hybriden kulturellen (Nicht-)Zugehörigkeit. Dass die Romane als Reflexionsmedien für gewichtige Fragen von kultureller Zugehörigkeit, Verwurzelung, Hybridität und dergleichen fungieren, soll nicht bestritten werden. Als literarische Figur aber zieht Kayankaya seine ‚Identität‘ weniger aus dem Umstand, ein türkischstämmiger Deutscher zu sein, oder aus Zuschreibungen wie ‚Türke‘, ‚Deutscher‘, ‚Deutschtürke‘ etc. als aus seiner literarischen Abstammung als hartgesottener, in der Großstadt lebender, zynischer Privatdetektiv in der Nachfolge des Continental Op und Philip Marlowes. Kayankayas ‚Identität‘ konstituiert sich zuallererst in dieser Zugehörigkeit zu einem Figurentypus.48 Erst relativ dazu sind seine Abstammung und seine nationale, kulturelle und ethnische Sozialisation von Relevanz.

Bruch als Bestätigung Die Kayankaya-Romane erschienen im Zeitraum von 1985 bis 2012. In dieser Spanne von nahezu drei Jahrzehnten hat sich die reale Bundesrepublik ebenso verändert wie die erzählte Welt, der Detektiv selbst und das Muster der von ihm übernommenen Fälle.49 In allen Bänden baut Arjouni historische Markierungen ein, anhand derer die reale zeitgeschichtliche Entwicklung in die Handlung hineinspielt. So werden allgemeine politische und gesellschaftliche Entwicklungen und Strömungen thematisiert (ökologische Protestbewegungen, Flüchtlingsproblematik, geopolitische Neuordnung in Osteuropa, deutsche Wiedervereinigung, religiöser Fundamentalismus, Folgen von Migration und Fragen der Integration). Ansatzweise erreicht sogar die Digitalisierung den noch ganz in einer analogen Welt sozialisierten Detektiv-Typus (vgl. BK, 36f.). Entsprechend muss – anders als bei den Meisterdetektiv-Figuren des ‚Golden Age‘, die zwar über Jahrzehnte hinweg in Romanen agieren, dabei aber keinerlei biologischer

Hrsg. von Petra Büker/Clemens Kammler. Weinheim: Juventa 2003, S. 267–278, hier S. 274). Diese mutmaßliche Ironie resultiert aus der bruchlosen Übertragung älterer Genre-Muster in eine Zeit, in der derlei Stereotype kaum mehr ungebrochen zur Anwendung kommen können. 48 Auch Zeller konstatiert, dass Kayankaya viel deutlicher der Tradition „des hard boiled-PI […] als der des ‚ethnic detectives‘ verpflichtet ist“ (Zeller, ‚Türkischer‘ Detektiv mit doppeltem Bewusstsein. 2015, S. 51, Hervorh. i. Orig.). Dass „der Begriff ‚Ethnokrimi‘ auf Arjounis Kayanakaya-Romane bezogen nicht nur problematisch, sondern unpassend und irreführend“ ist, betont Moraldo, „Türke von Geburt“. 2020, S. 79. 49 Ist „Mehr Bier“ noch eine sehr genaue strukturelle Wiederholung von „Happy birthday, Türke!“, werden die Erzählmuster ab „Ein Mann, ein Mord“ variabler.

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Alterung und sozialer Entwicklung ausgesetzt sind50 – auch Arjounis Ermittler selbst einen Entwicklungs- und Alterungsprozess aufweisen. Wird dieser zumeist nur beiläufig vermerkt, rückt er in „Bruder Kemal“ (durch Arjounis frühen Tod notwendigerweise der letzte Band der Reihe, aber ohnedies als Finale und Abschluss einer Serie begreifbar)51 ins Zentrum der Handlung. Am Beginn von „Happy birthday, Türke!“, also im August 1983, ist Kayankaya genau 26 Jahre alt. In „Kismet“ erfahren wir, dass er zur Zeit der im Mai 1998 spielenden Handlung „Mitte Dreißig“ (K, 24) sei (was freilich einen Riss in der Realitätskonstruktion der Serie darstellt – der Detektiv altert nicht im richtigen Verhältnis, gemäß den Daten aus „Happy birthday, Türke!“ (vgl. HbT, 9f.) müsste er in „Kismet“ 40 sein). In „Bruder Kemal“ schließlich wird noch deutlicher, dass die DetektivFigur Wandlungen unterworfen ist, und das nicht allein, weil Kayankaya älter geworden ist, sondern vor allem, weil sein Lebensstil in diesem Roman von der konventionellen Folie des harten Detektivs erheblich abweicht. Als eine verführerische, nunmehr als klassische Femme Fatale gezeichnete Klientin dem Detektiv einen Blick zuwirft, der ihm „Himmel und Hölle“ verspricht, reflektiert der Ich-Erzähler: „[W]er wollte in meinem Alter Hölle? Ich war Anfang fünfzig, ich erledigte meine Arbeit, zahlte meine Rechnungen, ich hatte es geschafft, mit dem Rauchen aufzuhören, trank fast nur noch gepflegt zwei, drei Bier am Abend oder ein paar Flaschen Wein mit Freunden, und ich plante mit Deborah unsere Zukunft.“ (BK, 34)

Vom längst zum Stereotyp geronnenen Lebensstil des harten Detektivs hat sich Kayankaya verabschiedet – dass er seit bereits vier Jahren nicht mehr raucht, stattdessen Fahrrad fährt und dabei sogar Obst verzehrt, ist eine Metamorphose des Typus, der im Zentrum der Roman-Serie steht. Der Detektiv ist „alt geworden […] und weich“, vielleicht auch „nur ein ganz bisschen alt und ein ganz bisschen weich“ (BK, 189) – was ihn nicht davon abhält, beim brutalen Showdown seinem Gegner „erst ins Gesicht und dann zur Sicherheit noch in die Brust“ (BK, 200) zu schießen. Dennoch hat sich die Tendenz zur Verweichlichung gleichsam im Inneren des Modells des harten Romans eingenistet. Zwar bieten der Fall und nicht zuletzt die Auftraggeberin ein solches Quantum an Abenteuer, Reiz und Verlockung, dass Kayankaya ein ums andere Mal mit seiner neuen Identität hadert (die folglich als fragil ausgestellt wird), am Ende des Romans aber steht die

50 Im hardboiled-Genre hingegen ist es üblich, dass im Verlauf einer Serie auch der Held altert. Philip Marlowe ist in „Der große Schlaf“ 33. In den 14 Jahren bis zur Publikation von „Der lange Abschied“ ist er immerhin um neun Jahre gealtert. Die erzählte Welt indes ändert bzw. entwickelt sich kaum nennenswert. 51 Schon 2001 vermutet Arjouni in einem „Spiegel“-Interview anlässlich der Publikation von „Kismet“, dass er „[v]ielleicht auch keinen Kayankaya-Roman mehr“ schreiben werde (Kronsbein, „Und Gott hetzt hinterher“. 2001, S. 190).

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positiv aufgenommene Schwangerschaft von Kayankayas Partnerin. Mag er auch selbst Scherze darüber machen,52 wird der vormals einzelgängerische, finanziell und gesundheitlich prekär lebende hardboiled-Detektiv zum Familienmenschen, nachdem er sich bereits während der gesamten Handlung immer wieder damit auseinandersetzt, dereinst Kinder zu haben. Allenfalls auf den ersten Blick wird dieses Bild der glücklichen bürgerlichen Familie davon geschmälert, dass es sich bei Kayankayas Lebenspartnerin um eine einstige Prostituierte handelt. Dass Deborah es geschafft hat, sich aus dem Rotlicht-Milieu herauszuarbeiten und sich ihren lange gehegten Traum zu erfüllen, sich in der Gastronomie selbstständig zu machen (von dem bereits in „Kismet“ erzählt wird), entspricht einem von bürgerlich-liberalem Aufstiegsoptimismus und von Zutrauen in die Durchlässigkeit der Gesellschaft geprägten Narrativ, das mit der kapitalismuskritischen Attitüde orthodoxer hardboiled-Romane schwerlich zu vereinbaren ist. Arjouni inszeniert in „Bruder Kemal“ einen vehementen Bruch mit dem ikonischen Typus des harten, fernab jeder Bürgerlichkeit einsam durch die düstere Welt streifenden Detektivs – erweist aber just mit dieser Verschiebung diesem Typus eine finale Reverenz. Hammett hat in seinem letzten Roman „Der dünne Mann“ (1934) zwar noch weitgehend die maßgeblich von ihm selbst etablierten hardboiled-Charakteristika bedient, mit Nick Charles aber einen Protagonisten aufgeboten, der mit der existenzialistischen, melancholischen Aura des Continental Op oder Sam Spades kaum mehr etwas gemein hat. Nick Charles ist ein ehemaliger Ermittler, der eine reiche Frau geheiratet und seinen „Job in der Agentur aufgegeben“53 hat, sich nunmehr um die Geschäfte der Familie kümmert und ein luxuriös-begütertes Leben führt. Zwar übernimmt er aus alter Verbundenheit noch einmal einen Fall, seine Verbürgerlichung aber wird davon nie in Frage gestellt. Der Typus des harten Ermittlers wird bereits bei Hammett in deutlich ruhigere, gesetztere Bahnen gelenkt. Eine ähnliche Tendenz weist das Ende des letzten Marlowe-Romans auf. Zu Beginn des Schluss-Kapitels von Chandlers „Playback“ (1958) beschwört der Detektiv sämtliche Versatzstücke seines einsamen Daseins herauf und ist davon überzeugt, dass sich an diesem Zustand niemals etwas ändern wird und dagegen nichts helfen könne „als ein gepanzertes Herz, das von niemandem etwas verlangte“54. Doch dann ruft ihn, gleichsam als dea ex machina, Linda Loring aus Paris an – eine Millionenerbin, mit der Marlowe bereits im Vorgänger-Roman nähere Bekanntschaft gemacht hat. Linda gesteht Marlowe ihre Liebe und bittet 52 Als Deborah ihm verkündet, sie sei schwanger, entgegnet er mit seiner üblichen Schlagfertigkeit „Von wem?“ (BK, 225). 53 Hammett, Dashiell. Der dünne Mann. Roman. Aus dem Amerikanischen von Tom Knoth. Zürich: Diogenes Verlag 1976, S. 11. 54 Chandler, Raymond: Playback. Roman. Aus dem Amerikanischen von Wulf Teichmann. Werkausgabe in 13 Bänden. Band 7. Zürich: Diogenes Verlag 1976, S. 182.

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ihn, sie zu heiraten, woraufhin Marlowe einwilligt, zu ihr nach Paris zu fliegen. Der letzte Satz des Romans (und damit der gesamten Serie um den prototypischen melancholischen, einzelgängerischen, harten Ermittler) lautet „Die Luft war voller Musik.“55 Arjouni folgt mithin gerade in der Abweichung vom Bild des einsamen Wolfes einer Tendenz, die schon bei den Klassikern mehr als nur angelegt ist – noch der Bruch ist eine Bestätigung des Genre-Musters, wenn man auch dessen historische Ränder betrachtet. Kayankaya (die konstitutive Abweichung seiner ‚fremden‘ Abstammung einmal akzeptiert) ist allem voran ein literarischer Typus, der noch in seiner Entwicklung in den Bahnen seiner Vorläufer verbleibt. Bei Hammett und Chandler aber wird jeweils ein geradezu hollywoodeskes Ende geboten, da hier wie dort eine Millionenerbin den Detektiv heiratet. Dagegen geht es bei Arjouni realistischer (und narrativ plausibler motiviert) zu. Abermals nimmt Arjouni eine Überbietung der Vorgänger vor, da zur neuen Zweisamkeit auch noch die Aussicht auf Familienglück hinzutritt. Durch das Wissen um die Vergangenheit Deborahs als Prostituierte allerdings transportiert die neue bürgerliche Existenz gleichsam einen Rest der hardboiled-Aura, die immer in der Nähe zur Unterwelt und zum Rotlichtmilieu angesiedelt war. Arjouni zelebriert ein Ende des hardboiled-Modells durch eine Verabschiedung der Lebensweise, die für den Helden und damit das gesamte Erzählmodell konstitutiv ist – wiederholt damit aber nur ein weiteres Mal das vermeintliche Ende eines Genres, zeigt also auf, dass sogar der Epitaph immer wieder aufs Neue aufgestellt und beschriftet werden kann. Der letzte Vorhang kann paradoxerweise beliebig oft fallen, da er kein wirkliches Ende signalisiert, sondern Teil eines Schemas ist, das beständiger Iterabilität und Variabilität offen steht. Die einmal errichtete Bühne kann und wird von neuen Detektiven betreten werden. Mit der Verbürgerlichung des Detektivs wird auch impliziert, dass es nicht um eine einzelne Figuren oder gar Fälle geht, sondern immer um die Bühne selbst: Held der Kayankaya-Romane ist der Architext, ist das Genre, das einmal ausgemessen und durchschritten wurde. Die Form des Detektivromans übersteht alle Wandlungen des Detektivs und alle diskursiven Aufpfropfungen – am Ende steht eine überraschende Auflösung, die alle losen Fäden verknüpft und alle offenen Fragen beantwortet. Arjouni vollzieht zwar eine Transformation des Detektiv-Typus, Umwertungen einzelner Elemente und eine Weiterentwicklung des selbst in den ersten beiden Bänden benutzen Schemas. Die grundsätzliche Bauform des Detektivromans aber wird nie in Frage gestellt. Ohne sie würde der Kayankaya-Serie ihre nicht nur formale Klammer fehlen, sondern auch die entscheidende Folie, auf der allein sie ihr Selbstverständnis erarbeiten konnte.

55 Ebd., S. 184.

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Kopie oder Spiel? Jean-Patrick Manchette, selbst Verfasser harter Detektivromane, schreibt 1982, dass der hardboiled-Roman bzw. der Roman noir „mittlerweile veraltet“ sei, da die Weltordnung, die ihn einst hervorbrachte, „in eine neue stürmische Bewegung geraten ist, die unaufhaltsam um sich greift“; dies habe zur Folge, dass das Genre „nur noch eine Stätte der Stilübungen ist, mal respektvoll, mal wunderlich und lärmend, aber fortan definitiv jeder Unentbehrlichkeit enthoben“56. Ob es Arjouni gelang, den hardboiled-Roman wieder zu einer ‚Unentbehrlichkeit‘ zu führen, stehe dahin – die Möglichkeit einer deutschen hardboiledSerie hat er nachdrücklich bewiesen, indem es bei der Indienstnahme der überkommenen Form nicht bei bloßen Stilübungen bleibt. Arjouni arbeitet daran, die vertrauten Schablonen mit je gegenwärtigen Inhalten zu füllen57 und dadurch die Fähigkeit des Genres zu demonstrieren, mit einem stabilen Set von Merkmalen historisch anpassungsfähig und wandelbar zu bleiben. Die Kayankaya-Romane sind immer zweierlei: Verbeugung vor dem Architext und dessen transformierende Adaption an moderne Begebenheiten. Die zahlreichen intertextuellen Anleihen dienen dieser Arbeit am Architext mittels einer traditionsbewussten Anpassung an neue Kontexte. Die Kayankaya-Romane sind, wie es für den Roman noir ohnedies immer in Anspruch genommen wurde, ‚Zeugen ihrer Zeit‘,58 und genau dadurch bezeugen sie, dass die ein halbes Jahrhundert zuvor etablierte Form noch eine Daseinsberechtigung diesseits eines musealen Status hat. Bei aller Variation im Detail zieht Arjouni die Grundlagen des Modells nie in Zweifel. Nicht um eine Überwindung oder Dekonstruktion von Genre-Mustern ist es ihm zu tun, sondern um eine grundsätzliche Anerkennung ihrer Leistungsfähigkeit. Die Auffassung aber, Arjouni „kopiert […] in vieler Hinsicht sehr detailgetreu das Werk seiner ‚hartgesottenen‘ Vorgänger Dashiell Hammett und Raymond Chandler […], ohne daß diese Kopie einen parodistischen Gestus implizierte“,59 übersieht bei allen offenkundigen Anlehnungen und der ausbleibenden Infragestellung des Modells im Allgemeinen die diversen Transformationen im Detail.60 Schon durch die Kontextverschiebung des übernommenen 56 Manchette, Jean-Patrick: Chroniques. 2005, S. 241. 57 Insofern ist Suerbaums (vor Erscheinen des ersten Kayankaya-Romans) geäußertes Diktum „Beim deutschen Krimi werden übernommene Muster […] mit deutschen Inhalten gefüllt“ (Suerbaum, Krimi. 1984, S. 200) auch für Arjounis Detektivromane zutreffend. 58 Vgl. Manchette, Jean-Patrick: Chroniques. 2005, S. 289. 59 Ruffing, Identität ermitteln. 2011, S. 271. 60 Zumindest wäre der „Kopie“-Begriff genauer zu erläutern. Mit Eco kann ‚Kopie‘ in einem weiteren Sinne verstanden werden als das „Neuformulieren einer Erfolgsgeschichte“ und sowohl Plagiate wie auch ‚Neufassungen‘ „mit erklärten Interpretationsabsichten“ umfassen (Eco, Die Innovation im Seriellen. 2002, S. 159). Wie leistungsfähig aber ein Begriff ist, der

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Modells wird (wenn auch nicht durch explizite Erzählerkommentare oder -reflexionen untermauert) die irreduzible Dialektik von Differenz und Wiederholung greifbar gemacht. Eine bloße Kopie würde ihre Differenz zum Original verschleiern wollen; die Kayankaya-Romane stellen indes bereits durch die zentrale Abweichung der ansonsten weitgehend als Analogie konstruierten Detektiv-Figur aus, dass sie die Vorbilder benutzen, um ein Problem zu verhandeln, das in diesen schwerlich zu einer vergleichbaren Entfaltung gelangt. Dass Arjouni sich allerdings wenig bemüht, „die überkommene Form, die er benutzt, kritischkonstruktiv weiterzuentwickeln“,61 soll hier nicht bestritten werden. Arjounis architextuelle Leistung liegt nicht in einer formal-ästhetischen Progression, sondern in seinem (auf der Basis inhaltlicher Verschiebungen erbrachten) integralen Beitrag zum Nachweis, dass harte Detektivromane in deutscher Sprache und vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund seit den 1980er Jahren überhaupt möglich sind. Es war diesem Nachweis zumindest nicht hinderlich, dass die Kayankaya-Romane weit weniger formal originelle Weiterführung sind als ein groß angelegtes ‚Stilzitat‘. Ein solches liegt vor, wenn ein Text „mehr oder weniger explizit […] eine Erzählweise, einen Tonfall“ zitiert.62 Es sollte deutlich geworden sein, dass die Zitate, auch die des Stils, „ausdrücklich und bewußt“63 zur Anwendung kamen, da ihnen häufig semantische Funktionen zukommen, für die der Bezug zur architextuellen Folie konstitutiv ist, weshalb treffender von einem „ironischen Spiel mit der Intertextualität“64 zu sprechen ist. Der Krimimalroman „hat ein Schema und zeigt seine Kraft in der Variation“65 – so hat Brecht einen grundlegenden Funktionsmechanismus des Genres pointiert festgehalten. Um diese bis zum Schematischen wiederholte Einsicht ihrerseits zu variieren: Arjouni zeigt durch Variationen, die der Transferierung in eine andere Zeit und einen anderen Kulturraum geschuldet sind, die Kraft eines Schemas, gerade dadurch, dass er es nicht signifikant verändert.

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solch unterschiedliche Spielarten transtextueller Anlehnungen unter einem Label versammelt, wäre eigens zu diskutieren. Ruffing, Identität ermitteln. 2011, S. 300. Eco, Die Innovation im Seriellen. 2002, S. 162. Ebd., S. 162. Ebd., S. 163. Brecht, Über die Popularität des Kriminalromans. 1998, S. 33.

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Sarah Seidel (Konstanz)

Beschleunigung, Verzögerung und Gleichzeitigkeit. Zur Bedeutung von Zeit in Jakob Arjounis Kayankaya-Romanen

Kriminalromane zeichnen sich durch ein besonderes Zeitregime aus: Sie sind rückbezogen „auf ein vergangenes Geschehen, eben ‚den Fall‘“, und weisen eine „fortlaufende ‚Ereignishaftigkeit‘“ auf.1 In der Detektivliteratur ist diese fortlaufende Ereignishaftigkeit als Ermittlung realisiert. Der in der Vergangenheit liegende Kriminalfall wird auf der Ebene des discours durch die Tätigkeit der ermittelnden Figur Schritt für Schritt aufgedeckt.2 Als „Abart“3 des Detektivromans vermengt die hardboiled-Variante Elemente des Kriminalromans – z. B. ‚geheimnislose Gewalt‘ – mit denen des Detektivromans, also der „Ermittlung eines rätselhaften Verbrechens oder, häufiger, einer Serie von Verbrechen“4. Richard Alewyn konstatiert: Mit der „Annäherung [des Detektivromans – S.S.] an den Kriminalroman verkümmert die Spannung von Frage und Antwort. An ihre Stelle tritt das tätliche Suchen und Finden“5. Bisherige Untersuchungen zu Jakob Arjounis Kayankaya-Romanen haben vor allem gesellschaftskritische Fragen in den Fokus gerückt: Das sind neben der literarischen Abbildung der bundesrepublikanischen Gesellschaft Ende des 20. Jahrhunderts auch die Kritik ebenjener Gesellschaft6 und die damit einher1 Vogt, Jochen: Schema und Variation. 13 Versuche zum Kriminalroman. Hannover: Wehrhahn 2020, S. 14. 2 Alewyn, Richard: Anatomie des Detektivromans. In: Der Kriminalroman II. Hrsg. von Jochen Vogt. München: Fink 1971, S. 372–404, hier S. 375. Problematisch an den Grundlagenstudien zur Detektivliteratur ist, dass sie oft einen Mord als Ausgangspunkt bzw. als Rätsel setzen, statt allgemein vom Verbrechen zu sprechen, so z. B. Suerbaum, Ulrich: Der gefesselte Detektivroman. Ein gattungstheoretischer Versuch. In: Der Kriminalroman II. Hrsg. von Jochen Vogt. München: Fink 1971, S. 437–456. 3 Alewyn, Anatomie. 1971, S. 399. Alewyn bestimmt außerdem eine Abweichung vom klassischen Detektivroman hinsichtlich Handlungsort und Personal zu Gunsten einer Annäherung an das „wirkliche[] Leben“, vgl. ebd., S. 398. 4 Ebd., S. 399. 5 Ebd., S. 399. 6 Vgl. Je¸drzejewski, Maciej: Gesellschaft in Jakob Arjounis Werk. Berlin u. a.: Peter Lang 2019: Hier wird Zeit zwar thematisiert, allerdings eher als Gegengewicht zum Raum und nicht als konstitutives Element der erzählten Welt; Kniesche, Thomas W.: Vom Modell Deutschland

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gehenden Fragen nach (deutscher) Identität.7 Von den Feuilletons8 und von der Forschung wurden Arjounis Romane als deutsche Fortschreibung der Chandler’schen hardboiled-Linie gesehen, die auf Raymond Chandlers Figur Philipp Marlowe gründet.9 Außerdem wurde die Anschlussfähigkeit der Texte an den ethnischen Krimi unter postkolonialen Vorzeichen untersucht.10 In dieser Studie wird es darum gehen, die literarische Gemachtheit von Arjounis KayankayaRomanen mit besonderer Berücksichtigung des Zeitregimes in den Blick zu nehmen und so die spezifisch literarischen Modellierungen der Romane und genrespezifische Anschlussstellen freizulegen. Ulrich Suerbaum hat für den hardboiled-Krimi Chandlers ein Schema herausgearbeitet, das aus „Beauftra-

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zum Bordell Deutschland. Jakob Arjounis Detektivromane als literarische Konstruktionen bundesrepublikanischer Wirklichkeit. In: Mord als kreativer Prozess. Zum Kriminalroman der Gegenwart in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Hrsg. von Sandro M. Moraldo. Heidelberg: Winter 2005, S. 21–39; Car, Milka: Die postjugoslawische Konstellation in Kriminalromanen. „Der Knochenmann“ von Wolf Haas und „Kismet“ von Jakob Arjouni. In: Netzwerke und Transferprozesse. Studien aus dem Bereich der Germanistik. Beiträge der 7. Internationalen Germanistentagung. Hrsg. von Andrea Krisztina Bánffi-Benedek u. a. Wien: Praesens 2018, S. 171–179; Wilczek, Reinhard: Die hässliche Seite der Wohlstandsgesellschaft. Jakob Arjouniss „Ein Mann, ein Mord“. In: Das Fremde und das Andere. Interpretationen und didaktische Analysen zeitgenössischer Kinder- und Jugendbücher. Hrsg. von Petra Büker. Weinheim u. a.: Juventa 2003, S. 267–278. Vgl. Päthe, Thorben: Vom Gastarbeiter zum Kanaken. Zur Frage der Identität in der deutschen Gegenwartsliteratur. München: Iudicium 2013; Seeber, Stefan: Ich und die Anderen. Kemal Kayankaya auf dem Weg in die Bürgerlichkeit. In: Germanica 58: Le roman policier dans l᾽espace germanophone. Der Kriminalroman im deutschsprachigen Raum. Hrsg. von Elisabeth Kargl/Aurélie Le Née, 2016, S. 189–198. Vgl. z. B. Teraoka, Arlene A.: Detecting Ethnicity. Jakob Arjouni and the Case of the Missing German Detective Novel. In: The German Quarterly 72, 1999, H. 3, S. 265–289. Ruffing, Jeanne: Identität ermitteln. Ethnische und postkoloniale Kriminalromane zwischen Popularität und Subversion. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 39, 252, 257–259, 271, die ein so getreues Abbild konstatiert, dass von einem Pastiche gesprochen werden müsse (S. 300). Vgl. außerdem Aust, Robin-M.: Grenzüberschreitungen: Jakob Arjounis KayankayaRomane zwischen hardboiled detective und Migrationsthematik. In: Germanica 58: Le roman policier dans l᾽espace germanophone. Der Kriminalroman im deutschsprachigen Raum. Hrsg. von Elisabeth Kargl/Aurélie Le Née, 2016, S. 199–210; Brylla, Wolfgang: ‚Chandlerisierung‘ des deutschen Kriminalromans. Zu Jakob Arjounis literarischem Krimikonzept. In: Estudios fiológicos alemanes 26, 2013, S. 551–556. Anders positioniert sich Kniesche, Vom Modell Deutschland. 2005, der argumentiert, es handle sich um Detektivromane (vgl. S. 24f.), was er u. a. damit begründet, dass „[d]as Gangstertum […] nicht etwa von außen in die bürgerliche Ordnung ein[bricht], es ist immer schon in ihr enthalten“ (S. 26). ˇ ujic´, Sandra: Herkunftskonzepte und IdentitätsinVgl. Ruffing, Identität ermitteln. 2011. C szenierung in Jakob Arjounis „Kismet“. In: Gewissheit und Zweifel. Interkulturelle Studien zum kriminalliterarischen Erzählen. Hrsg. von Sandra Beck/Katrin Schneider-Özbek. Bielefeld: Aisthesis 2015, S. 59–77; Teraoka, Detecting ethnicity. 1999, aber auch Annika Hanauska: Detektiv. In: Handbuch Kriminalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien. Hrsg. von Andrea Bartl/Susanne Düwell/Cristof Hamann/Oliver Ruf. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 224–231., hier S. 228.

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gung“, „Situationserkundung“, „(Wort)kampf“ und Lösung besteht.11 Auf der Inhaltsebene gehören handfeste Auseinandersetzungen bei Arjouni genauso zum Repertoire der toughness wie die schnelle, gewitzte und raue sprachliche Interaktion.12 Allerdings folgt Arjouni einem anderen Modell poetischer Gerechtigkeit.13 Bei Arjouni werden Mörder oder andere Einmaltäter oftmals nicht an die Justiz übergeben, und so bemerkt ein Gegenspieler in „Bruder Kemal“: „Sie stellen also Ihre eigenen Regeln über die der Allgemeinheit, wissen besser, was Recht und Unrecht ist?“ (HbT, 184) Der Ermittler kommt den kriminellen Machenschaften der politischen Elite zwar auf die Spur, kann diese aber nicht immer aufdecken bzw. zur Rechenschaft ziehen, was daran liegt, dass die hardboiled-Ermittler eine „grundsätzlich gestörte[] Gesellschaftsordnung“14 vorfinden und nicht einem grausamen Einzeltäter in einer idealen Gesellschaft hinterherjagen. Dass die Kayankaya-Romane sich nicht widerstandsfrei unter das Chandler’sche Modell subsumieren lassen, mag mitunter daran liegen, dass Arjouni die genretypischen Muster „variiert […], zu denen er sich neu positioniert, aber auch die Genregrenzen transzendiert“,15 wie Stefan Seeber bemerkt. Diese Transzendierung der Genregrenzen lässt sich auch am Umgang mit Zeit und Zeitlichkeit nachvollziehen, wie im Folgenden anhand von Beschleunigungs- und Verzögerungsprozessen gezeigt wird. Diese zeitlichen Prozesse hängen eng mit einem Strukturmerkmal der Kayankaya-Romane zusammen: der Verhinderung weiterer Verbrechen. Dieses wesentliche Element erzeugt einerseits Spannung und ist andererseits an ein inhärentes Zeitregime gebunden bzw. arbeitet sich an diesem ab. Alle Kayankaya-Fälle zeichnen sich dadurch aus, dass sie mit sehr genauen Zeitangaben ausgestattet sind, was mit der Tatsache zusammenhängen mag, dass sie zum Zeitpunkt ihres Erscheinens einen unmittelbaren zeitgeschichtlichen Horizont aufspannen.16 Die Angaben sind aber auch notwendig, um durch den Ablauf von Zeit Spannung aufzubauen. Diese Zeitlogik, so lautet die These, steht in Arjounis Kayankaya-Romanen in unmittelbarem Zusammenhang mit der Erzeugung von Spannung. Als kognitiver Effekt ist Spannung vorwärtsgerichtet und entsteht aus der Erwartungshaltung der Rezipientin her-

11 Suerbaum, Ulrich: Krimi. Eine Analyse der Gattung. Stuttgart: Reclam 1984, S. 146 und 151f. Eine kritische Zusammenfassung anderer, allgemeinerer, Schematisierungen findet sich bei Blödorn, Andreas: Narratologie. In: Handbuch Kriminalliteratur. Theorie – Geschichte – Medien. Hrsg. von Susanne Düwell u. a. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 14–23, hier S. 16–18. 12 Vgl. Suerbaum, Krimi. 1984, S. 151 und 153. 13 Vgl. ebd., S. 143. 14 Blödorn, Narratologie. 2018, S. 15. 15 Vgl. Seeber, Ich und die Anderen. 2016, S. 190, Zitat S. 193. 16 Car, Die postjugoslawische Konstellation. 2018, S. 172. Car spricht in Bezug auf den Roman „Kismet“ von einem „Gegenwartsbezug“ (S. 174), das scheint allerdings etwas zu unpräzise.

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aus.17 Sie wird also nicht allein durch bestimmte kriminelle Handlungselemente generiert, (sogenannte ‚Angstspannung‘), sondern durch die Konfiguration unterschiedlicher Zeitlogiken („Zukunft- und Geheimnisspannung“18), die einander bedingen und sich in konfligierenden Verzögerungs- und Beschleunigungsprozessen manifestieren.19 Es gilt nachzuweisen, dass diese Form der Zeitund Textlogik eng an die Konstitution der Ermittler-Figur geknüpft ist. Während ein rational-logisch agierender Detektiv den discours durch Verfahren der Kausalität vorantreibt, herrschen bei Kemal Kayankaya rohe Gewalt, Provokation und Intuition statt genialer Kombinatorik. Insofern gelten hier andere Textlogiken und Zeitmechanismen als im klassischen Detektivroman; sie sind als eine Kombination aus analeptischer Analyse und proleptischer Synthese zu fassen. Im Gegensatz zum klassischen Detektivroman mit stagnierender Handlung20 wird hier ermittelt und gehandelt und das manifestiert sich auch in den Spannungskonzepten.21 Wolfgang Brylla hat im Anschluss an Alexandra Krieg bereits eine „progressive Tempoverschärfung“22 ausgemacht, ohne aber auf die damit einhergehenden Verzögerungen einzugehen oder die erzählerischen Mechanismen zu bestimmen, die sie herbeiführen.23 Wie genau die Handlungen vorangetrieben bzw. beschleunigt werden, wo und auf welche Weise es zu Verzögerungen kommt, soll Gegenstand nachfolgender Kurzanalysen sein und Schlussfolgerungen für gattungspoetologische Ausdifferenzierungen ermöglichen.

17 Vgl. Kukkonen, Karin: Bayesian Narrative. Probability, Plot and the Shape of the Fictional World. In: Anglia 132, 2014, S. 720–739, hier S. 726, in Anlehnung an Überlegungen von Meir Sternberg. Spannung wird hier neben Neugier und Überraschung als kognitiver Effekt beschrieben, der einen „motor of plot development“ darstellt (S. 727). 18 Suerbaum, Krimi. 1984, S. 448. 19 Es wird nicht darum gehen, die vielfach postulierte Beschleunigung der Moderne in literarischen Texten nachzuweisen, vgl. z. B. Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005 und daran anschließend Vogt, Schema und Variation. 2020, S. 25. 20 Vgl. Suerbaum, Der gefesselte Detektivroman. 1971, S. 449. 21 Schemaorientierte Analysen versuchen Detektiverzählung und den Thriller als aktionsgeladene Verbrechenserzählung auch hinsichtlich der Erzählhaltung und Spannungserzeugung zu differenzieren. Dabei ordnen sie das analeptische Erzählen dem detektivischen Genre zu und das proleptische dem Thriller. Für den Thriller wird darüber hinaus eine „Angstspannung“ oder „Zukunftsspannung“ diagnostiziert, (Suerbaum: Der gefesselte Detektivroman. 1971, S. 446f.); der Detektivgeschichte eine „Rätselspannung“ zugeordnet (vgl. Blödorn, Narratologie. 2018, S. 17–19). Für Arjouni lassen sich diese Differenzierungen allerdings nicht aufrechterhalten. 22 Brylla, Chandlerisierung. 2013, S. 563. 23 Je˛drzejewski erwähnt, dass Kayankaya „einerseits zeitindifferent vorgeht, andererseits in seiner Agitation die Zeit als determinierende Komponente betrachtet.“ Dafür führt er zwei Beispiele aus „Happy birthday, Türke!“ und „Kismet“ an, geht aber weiter nicht auf deren Bedeutung ein; Je˛drzejewski, Gesellschaft. 2019, S. 127.

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„Sie sind schnell, junger Mann.“ – „Happy birthday, Türke!“ (1985) „Happy birthday, Türke!“ ist der erste Fall des Privatermittlers Kemal Kayankaya. Dem Auftrag für ihn liegt das (inter-)kulturelle Missverständnis seines Namens zugrunde, denn Ilter Hamul beauftragt Kayankaya nur deshalb, weil sie glaubt, sich mit dem Fall einem Landsmann anzuvertrauen, der ihre türkischen Werte teile (vgl. HbT, 12). Die Ermittlungen zum Tod von Ahmed Hamul bringen weitere Verbrechen, u. a. zwei als Unfälle inszenierte Morde, ans Licht, die durch ein korruptes und korrumpiertes Frankfurter Polizistentrio verübt wurden: den Mord an Ilter Hamuls Vater Vasif Ergün, der aufgrund mangelnder Kenntnis deutscher Verwaltungsgepflogenheiten von den Polizeibeamten zunächst als Drogenkurier missbraucht und dann, als er aus dem Geschäft aussteigen will, mit seinem Auto von der Fahrbahn gedrängt wird; die Zeugin des Verkehrsunfalls wird ebenfalls umgebracht. Die durch Zufälle begünstigte Ermittlung schreitet zügig voran und dauert deshalb nur drei Tage. Die erzählte Zeit reicht aber vier Jahre in die Vergangenheit zurück, bis zum 19. Februar 1979 (vgl. HbT, 108).24 An diesem Tag ereignet sich Vasif Ergüns erster Unfall, der ihn in die Machenschaften des Polizistentrios verstrickt. So wird das implementiert, was Ernst Bloch das „Vor-Geschichtehafte[]“ nennt, das die Detektivgeschichte so „unverwechselbar“ macht.25 Zurecht hat bereits Thomas Kniesche auf den Umstand hingewiesen, dass Kayankaya in diesem Fall zwei weitere Morde aufklärt, „für deren Aufdeckung er gar nicht bezahlt wurde, er hat ein Rätsel gelöst, für das er gar nicht zuständig war, weil es noch gar nicht als Rätsel etabliert war“26. Die sukzessive Aufdeckung der Verbrechen ist analytisch erzählt und damit zugleich ihre Konstruktion und Rekonstruktion, die die Rezipientin lesend mitverfolgen kann.27 Die Handlung im erstem Kayankaya-Fall beginnt am 11. August 1983, dem Geburtstag des Privatermittlers. Ilter Hamul betritt am Vormittag das Büro des Detektivs und erteilt ihm den Auftrag, den Mord an ihrem Mann aufzuklären. Die Lösung des Falls ist protokollarisch mit genauen Zeitangaben versehen: Mit der Ermittlung beginnt er um 15 Uhr bei der Familie der Witwe. Obwohl zwischen Ilter Hamuls Besuch bei Kayankaya und seinem Besuch bei der Familie einige Stunden verstreichen, ist der Ermittler ahnungslos und unvorbereitet: „Ich setzte mich, nahm ein Stück Zucker und überlegte mir, wie am besten beginnen.“ (HbT, 20) Um 24 Die Beziehung der drei Polizeibeamten geht allerdings noch weiter in die Vergangenheit zurück, in das Jahr 1975, als Paul Futt Ausbilder von Harry Eiler und Georg Hosch war (HbT, 115). 25 Bloch, Ernst: Philosophische Ansicht des Detektivromans. In: Der Kriminalroman II. Hrsg. von Jochen Vogt. München: Fink 1971, S. 322–343, hier S. 327. 26 Kniesche, Vom Modell Deutschland. 2005, S. 30. 27 Vgl. ebd., S. 25.

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18 Uhr betritt Kayankaya das Polizeirevier, wo er sich als Abgesandter der türkischen Botschaft ausgibt, um Informationen zu erhalten. Anschließend begibt er sich zum Bahnhof, wo er bis 20:10 Uhr Hinweise für die Gelegenheitsarbeit sucht, welcher der Ermordete in den vergangenen zwei bis drei Jahren nachgegangen sein muss: „Nach längerem Hin und Her und bösen Blicken zwischen Ilter und Yilmaz kam heraus, daß keiner so recht wußte, was Ahmed Hamul in den letzten zweieinhalb Jahren getrieben hatte.“ (HbT, 23f.) Nachdem Kayankaya am Bahnhof einen Fixer befragt und sich in Millys Sex-Bar umhört, „steuerte [er] die nächste Fast-Food-Tür an“ (HbT, 56), den Schnell-Imbiss verlässt er um 23:50 Uhr wieder. Auf dem Straßenstrich erhält er einen weiteren Hinweis, der ihn in ‚Heinis Hühnerpfanne‘ und von dort in die Wohnung von Ahmeds Freundin Hanna Hecht führt. Am Ende dieses Ermittlungstages – wie auch im weiteren Erzählverlauf – fällt zweimal der Satz „So viel Zeit haben wir nicht“ (HbT, 66 oder 131). Einmal wird er von Kayankaya selbst ausgesprochen und einmal von Hanna Hechts Zuhälter. So wird Zeitnot evoziert, die überhaupt nicht begründet ist, denn das Opfer ist bereits tot. Es liegen keine Indizien vor, die für einen Serientäter sprechen und auch sonst gibt es zu diesem Zeitpunkt (noch) kein Ereignis, das die Eile rechtfertigte.28 Die „endlose Suche“ (HbT, 43) nach einer drogenabhängigen Prostituierten am ersten Ermittlungstag ist durchsetzt von handfesten Auseinandersetzungen und zufälligen Entdeckungen, bei der Kayankaya „mit verbundenen Augen ins Schwarze getroffen“ hat (HbT, 61), und endet mit einem misslungenen Anschlag: Auf seinem Heimweg wird der Ermittler beinahe Opfer einer Autoattacke. Diese verweist zurück auf den Drohbrief, der am frühen Abend bei Kayankaya eingegangen ist (vgl. HbT, 34). Der beschleunigende Effekt des missglückten Anschlags hat zwei Ursachen: Erstens entsteht er durch den Kontrast zur vorhergehenden Behäbigkeit, in der der müde und betrunkene Detektiv auf die Straße „trottete“ (HbT, 68), schwerfällig im Denken und Handeln. Zweitens ist diese Wendung unerwartet. „Es war kurz nach zwölf. Mein Geburtstag war vorbei, und ich wollte ins Bett.“ (HbT, 68). Auf diesen Satz folgt nur noch ein etwa einseitiger Absatz, der keine drastische Wendung erwarten lässt, bevor das Kapitel des ersten Tages zu Ende geht; die Attacke selbst weist eine Reihe dynamisierender Verben auf, nimmt nur wenig Erzählzeit in Anspruch und deutet gleichsam prospektiv auf mögliche ermittlungshemmende Faktoren, die wiederum rasches Handeln erfordern.

28 Anders ist dies in der Verfilmung von Doris Dörrie (1992). Hier sind die handlungsleitenden und -treibenden Elemente in neu arrangierter Weise aufeinander bezogen. Eile ist hier insofern geboten, als Ahmed Hamul noch am Leben, aber verschwunden ist, und Ilter Hamul mit dem Auftrag an Kayankaya herantritt, ihn zu finden. Ahmed Hamul wird hier erst im Verlauf der Handlung umgebracht.

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Als Kayankaya am zweiten Tag Ilter Hamuls Mutter vernimmt, tritt die bis dahin durch Krankheit entschuldigte Schwester Ayse ungeplant in Erscheinung und erweist sich als drogenabhängig, und Kayankaya „verstand endlich“ (HbT, 79). Was durch den Ich-Erzähler perspektiviert als langer Prozess dargestellt wird, ist eigentlich die Beschreibung einer zufälligen Entdeckung von Zusammenhängen, die temporal codiert ist. Die Formulierung einer „endlich“ (HbT, z. B. 71, 79) eintretenden Erkenntnis markiert dabei auch die Ungeduld über den Ermittlungsfortschritt, welche den Ermittlungsgang wiederum vorantreibt. Für den langsamen Ermittlungsfortschritt kann auch die analytische Unfähigkeit Kayankayas verantwortlich gemacht werden, die selbstreflexiv gedeutet wird (vgl. HbT, 73). So ist er auf Zufälle, spontane Impulse und „zündende Ideen“ (HbT, 102) angewiesen, was ohne Umschweife eingestanden wird: „Im Augenblick hatte ich überhaupt keine Theorie, weder eine verwegene noch eine andere“ (HbT, 109), gesteht der Ermittler an einem Punkt, an dem die Rezipientin schon erste Verdachtsmomente in eine kausale Logik bringen kann. Das mag damit zusammenhängen, dass Kayankaya erst in dem Augenblick, in dem er mit möglichen Zeugen konfrontiert wird, überlegt, was er überhaupt fragen will (vgl. HbT, 98). Diesem unplanmäßigen Vorgehen, das mitunter wertvolle Zeit vergeudet und damit auf die scheinbare Unbedeutsamkeit von Zeit hindeutet, stehen die Aussagen zur „endlich“ eintretenden Erkenntnis und den Mahnungen zur Eile gegenüber. Der hardboiled-Detektiv ermittelt also nicht nur mit anderen Methoden als der klassische Detektiv, seine Methode ist auch deutlich langsamer. Aus zeitökonomischer Perspektive wird hier eine Inversion der klassischen Ermittlungsarbeit dargestellt. Die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung von Zeit und dem Ermittlungsfortschritt wird unterstrichen durch den rein hedonistischen Besuch bei einer Prostituierten am Nachmittag des zweiten Tages (vgl. HbT, 96), der dazu führt, dass Kayankaya andere, ermittlungsrelevante Aktivitäten vernachlässigt: Anstatt seinen Kontakt, den pensionierten Kommissar Löff, persönlich nach dessen Ermittlungsergebnissen zu befragen, ruft er ihn aus einer öffentlichen Telefonzelle an. Die Tatsache, dass Zeit hier buchstäblich in Geld umgemünzt wird, lässt ihr Verrinnen greifbar werden und führt zu einer Verdichtung, die sich in der sprachlichen Darstellung der Handlungszusammenhänge manifestiert. Zeitdruck wird außerdem von einem Passanten ausgeübt, der auf den Abschluss des Telefonats drängt, da er selbst die Zelle in Anspruch nehmen möchte, während der pensionierte Löff am anderen Ende der Leitung mit Bedacht und ohne Eile spricht. Kayankaya wiederum, selbst gehetzt, braucht die Informationen aber „dringend“ (HbT, 107); die Telefonzelle wird damit zum Chronotopos, in welchem gegensätzliche Zeitlogiken, nämlich Verknappung und Ausdehnung, aufeinanderprallen.

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Am dritten Ermittlungstag konkretisiert sich die Erkenntnis, dass die korrupten Polizeibeamten Paul Futt, Georg Hosch und Harry Eiler in den Fall verwickelt sind. Die Figuren sind als handelnde Beamte bislang kaum in Erscheinung getreten. Durch die erzählerische Fokussierung auf den Privatermittler kann die Rezipientin nur ahnen, dass die Beamten auf einer im Dunkeln liegenden bzw. unerzählten Handlungsebene im Begriff sind, Spuren zu verwischen, während Kayankaya mit dem pensionierten Kommissar Löff ihre Machenschaften sukzessive aufzudecken versucht. Dieses narrative Kernelement der Detektivarbeit erzeugt auf der Handlungsebene immer schon beschleunigende Wirkung, denn zur Aufklärung des Falles bedarf es eines schnelleren Vorgehens als das der – auf der verborgenen Ebene der histoire agierenden – Verbrecher, deren Aktionstempo unbekannt bleibt. Beispielhaft für eine solche Handlungsbeschleunigung ist der Auftritt Kayankayas im Drogendezernat: Dort erfährt der Privatermittler, dass Georg Hosch, von dem Kayankaya zu diesem Zeitpunkt annimmt, in die verbrecherischen Machenschaften verstrickt zu sein, für die Vernichtung von Beweismitteln aus der Asservatenkammer zuständig ist (vgl. HbT, 132f.). So wird offenkundig, dass sich dem Verdächtigen Handlungsoptionen bieten, die rasches Eingreifen erzwingen, unklar bleibt dagegen, welche nächsten Schritte Hosch plant oder bereits durchführt. Insbesondere die letzten Kapitel, die den Showdown in Kommissar Futts Wohnung vorbereiten, sind von einem rasanten Tempo gekennzeichnet. Die furiose Autofahrt ins Bahnhofsviertel ist auf einen Satz verdichtet: „Die erste rote Ampel nahm ich mit Hundert.“ (HbT, 142) Auch unter dem Gesichtspunkt der Erzählökonomie wird hier keine Zeit verschwendet und die Beschleunigung von der Inhaltsebene auf das Erzählen übertragen. Auf den elliptischen Szenenwechsel folgen Kapitel, die szenisch gestaltet sind, insofern sie große Anteile direkter Rede enthalten. Das Geständnis, das Kayankaya von Georg Heiler erpresst, spielt sich ebenfalls unter begrenzten zeitlichen Bedingungen ab, es ist gebunden an die Länge des Tonbandes, das er zur Aufzeichnung verwendet. Kayankayas Ansage gegenüber Heiler lautet dementsprechend: „Antworten Sie schnell, ich habe nicht so viel Band.“ (HbT, 144). Am Ende, als Kayankaya den Schwager des Opfers – und damit den wahren Mörder – mit seinen Ermittlungserkenntnissen konfrontiert, verlangsamt sich die Erzählgeschwindigkeit abermals und Augenblicke scheinen sich in „eine Ewigkeit“ (HbT, 169) zu dehnen. In „Happy birthday, Türke!“ stehen Verzögerung und Beschleunigung also in einem wechselseitigen Verhältnis: Beschleunigend wirken dabei gerade solche Maßnahmen, die als Gefahr im Verzug bekannt sind, denn diese erfordern sofortiges bzw. unverzügliches Handeln, ohne aufwendige Genehmigungsverfah-

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ren;29 dass Kayankaya keine beamtenrechtliche Befugnis hat, nimmt keinen Einfluss auf die Dynamisierung der Ereignisse, sondern allenfalls auf die Legitimation seines Handelns und die Brutalität seines Vorgehens.

„Trödelei verdirbt die Moral“ – „Mehr Bier“ (1987) Kayankayas zweiter Fall erstreckt sich ebenfalls über drei Tage. Die Erzählung ist gerahmt von fiktiven Zeitungsnotizen, die einen Zeitraum von acht Monaten umfassen, beginnend im April 1986. Weitere Zeitungsnotizen und ein Epilog, datiert auf Januar 1987, schließen die Erzählung ab. Zu Beginn des Textes deutet sich also schon an, dass die Ermittlung, deren Gegenstand nicht die Auflösung eines Mordes ist, sondern die Suche nach einer in die Tat involvierten Person, ebenfalls in die Vergangenheit zurückführen wird. Der Mord hat sich im Juni 1986 zugetragen (vgl. MB, 6, 18); die Erzählung setzt mit dem Beginn der Gerichtsverhandlung im Dezember 1986 ein, bei der Kayankaya vom Anwalt der Angeklagten beauftragt wird, eine weitere verdächtige Person binnen einer Woche aufzuspüren. Zeitdruck wird hier durch das Setzen der Wochenfrist erzeugt und gegen Ende der Erzählung nochmals erhöht, wenn Kayankaya selbst und sein Helfer Slibulsky öffentlich zur Fahndung ausgeschrieben werden (vgl. MB, 136). Den zweiten Roman zeichnet eine Erzählweise aus, in der sich ent- und beschleunigende Handlungselemente abwechseln. Der Fall selbst, die Sprengung des Abwasserrohrs einer Chemikalienfabrik, die in Verbindung mit dem Mord am Firmenchef vor Gericht verhandelt wird, enthält eine zeitliche Ungereimtheit, welche als Schlüsselstelle für die Aufklärung gesehen werden kann und die Kayankaya gleich zu Beginn selbst exponiert: „[I]ch fragte mich, warum fünf Leute, die gerade verbotenerweise ein Rohr gesprengt haben, stehenbleiben und auf den Firmenchef warten.“ (MB, 39) Die zeitliche Distanz, also das halbe Jahr zwischen Prozessbeginn und Tat, spielt bei der Vernehmung des Nachtwächters (vgl. MB, 30f.), aber auch beim Gespräch mit der Witwe eine Rolle. Die Unzuverlässigkeit der Erinnerung eröffnet Raum für Spekulationen und Lügen. Die offizielle Version des Tatablaufs lautet: erst Sprengung, dann Mord; Kayankaya stößt allerdings bei einer der ersten Befragungen auf Unstimmigkeiten, die auf einen umgekehrten Ablauf schließen lassen (vgl. MB, 47) sowie darauf, dass der Mord nicht politisch, sondern privat motiviert war.

29 Vgl. §98 StPO; ein Beispiel dafür ist die besetzte Telefonleitung bei Hanna Hecht, deren Bedeutung insofern alarmierend ist, als Kayankaya kurz davor den von ihr und ihrem Zuhälter verfassten Erpresserbrief an Kommissar Futt gefunden hat (HbT, 142f.).

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Für die Ermittlung nimmt Kayankaya am ersten Tag die bis zu 20 Jahre alten Firmenbücher der Chemikalienfabrik in Augenschein, „ohne eine Ahnung zu haben, was [er] suchte“ (MB, 42). Der Tag endet mit einer blutigen Schlägerei: Nachdem er den Mitbewohner der Tatverdächtigen, Schmidi, zuhause befragt und anschließend in eine Kneipe verfolgt hat, lockt dieser ihn in eine Falle. Unter dem Vorwand, Informationen für den Ermittler zu haben, unternehmen die beiden einen Spaziergang in der Dunkelheit: „Ich fand Schmidi eine Ecke weiter an eine Straßenlaterne gelehnt. Es schüttete, seine Haare waren klatschnaß. Er fuhr mit dem Handrücken übers Gesicht und fragte: ‚Gehen wir’n bißchen?‘ ‚Weils Wetter so schön ist?‘ ‚Weil so niemand zuhören kann.‘ Wir platschten stumm nebeneinander durch den Regen Richtung Westbahnhof. ‚Viel zu hören gibt’s aber nicht.‘ Ohne mich anzusehen, nuschelte er: ‚Warten Sie’s ab, Mann. Muß mir das erst im Kopf zurechtlegen.‘“ (MB, 63f.)

Die beiden gehen noch ein Stück, aber Kayankaya ahnt schon: „[I]rgendetwas mußte passieren.“ (MB, 64). Als der Ermittler merkt, dass er in eine Falle geraten war, verpasst er Schmidi eine Ohrfeige und rennt los. Während der gemeinsame Gang durch die Nacht einer Verzögerung gleicht – die versprochenen Informationen werden immer weiter hinausgeschoben –, weist die darauffolgende Verfolgung in wenigen Sätzen eine Bandbreite beschleunigender Verben auf: Kayankaya rennt, hechtet, springt, rutscht, rollt sich ab und jagt (vgl. MB, 64). Am Ende findet er sich in einer Sackgasse wieder, wo er bewusstlos geprügelt und seine „physische Schlag- und Durchsetzungskraft“30 in die Schranken gewiesen wird. Der zweite Ermittlungstag beginnt zugleich verspätet und verfrüht: So verlässt Kayankaya das Krankenhaus weit nach Mitternacht, wird aber um 5:20 Uhr von der Polizei zu Hause abgeholt und in Untersuchungshaft gebracht, wo er erst einmal warten muss. Den Nachmittag verbringt der Privatermittler bei der Frau des Nachtwächters der Firma Böllig, wo er nicht nur die Lebensgeschichte der ehemaligen Prostituierten erzählt bekommt, sondern auch einiges über die Verstrickungen des Ehepaars in die Familiengeschichte der Bölligs erfährt. Die wodkadurchtränkten Gespräche verzögern nur vordergründig die Aufklärung. Zwischen den weitschweifigen Erinnerungen befinden sich durchaus interessante und, wie sich später herausstellen wird, relevante Informationen für den weiteren Ermittlungsverlauf. Noch im Kapitel des zweiten Tages startet der dritte Tag, oder anders formuliert: Das dritte Kapitel beginnt verzögert, was sich auch in der weiteren 30 Brylla, Chandlerisierung. 2013, S. 555.

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Handlungsführung niederschlägt. Beim Versuch, den Sohn des toten Chemiefabrikanten in der Klinik Ruhenbrunn zu befragen, wird Kayankaya vom Klinikpersonal zuerst betäubt und dann gewaltsam außer Gefecht gesetzt: „Irgendwas legte sich wie Blei auf mein Hirn. Meine Bewegungen wurden langsamer. Wie in Zeitlupe zog ich die Kanone raus und legte auf das Türschloß an.“ (MB, 129) Ihm gelingt zwar die Befreiung, er stolpert aber fast umgehend in die nächste Situation, in der er nicht schnell genug ist: „Einen Augenblick lang betrachtete ich den dumpf vor sich hin arbeitenden letzten Sproß der Bölligs. Einen Augenblick zu lange. Dann explodierte irgendetwas über meinem Kopf.“ (MB, 131) Anschließend findet sich Kayankaya in einer Zwangsjacke wieder und wird Zeuge eines Gesprächs zwischen der Witwe, Frau Böllig, und dem leitenden Arzt der Klinik, das deren Skrupellosigkeit belegt. Die Sequenzen, in denen Kayankaya zu langsam ist, sind meist brutal, halten aber auch unerwartete Informationen bereit. Ihnen gegenüber stehen die beschleunigten Passagen, z. B. der Einbruch und die Flucht aus dem Polizeipräsidium, die mit Ellipsen enden und somit Leerstellen figurieren. Schließlich ist es der korrupte Kommissar Kessler, der Kayankaya unmittelbar, nachdem er Frau Bölligs Geliebten umgebracht hat, fragt: „Auf was warten wir?“ (MB, 143) Und tatsächlich, bis zu dem Augenblick, in dem Kayankaya gewahr wird, dass Barbara Böllig zur Frau des Nachtwächters, also der ehemaligen Geliebten ihres Mannes gefahren ist, weil sie „Lunte gerochen“ hat, schreitet die Erzählung in gemäßigtem Tempo voran, bevor der Ermittler dann wieder „hechtete“, „raste“ und „wie der Teufel […] die Auffahrt hinunter“ fuhr (MB, 147f.) – nur um abermals „zu spät“ (MB, 148) zu kommen. Die verschiedenen Geschwindigkeiten und Zeitlogiken werden in „Mehr Bier“ hart gegeneinander ausgespielt. Im Gegensatz zum ersten Fall macht sich Kayankaya einen Plan (vgl. MB, 84), der strukturierten und vorbereitenden Handelns bedarf, und dennoch kommt er immer wieder „zu spät“ (MB, 119, 123), was nicht nur tödliche Folgen für den VMann Herbert Kollek hat (vgl. MB, 142), der als Barbara Bölligs Geliebter Henry eine wichtige Rolle in den Verwicklungen rund um den Anschlag und den Mord spielt, sondern auch für Frau Böllig selbst im Tod endet (vgl. MB, 149). Die Tatsache, dass Kayankaya in zwei entscheidenden Momenten zu langsam ist, führt dazu, dass außer dem korrupten Kommissar, der seine eigene Haut retten will, niemand bleibt, der Kayankayas Version des Tathergangs vor dem Staatsanwalt bestätigen kann. Und so resümiert der Ich-Erzähler: „Vor drei Stunden hatte ich ein Bombenblatt gehabt, mit Kollek als Trumpf, der alles stach. Und jetzt saß ich mit einem Haufen Luschen da und mußte ausspielen.“ (vgl. MB, 155) Wenngleich er den Fall und die politischen Verstrickungen allesamt aufdeckt, wird Kayankaya diese Partie – um in der Metaphorik des Textes zu bleiben – am Ende nicht für sich entscheiden, weil er in den entscheidenden Momenten zu spät kommt. Diese Verzögerungen schlagen sich in der Struktur des Romans nieder,

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die durch ihre asynchrone Taktung selbst als aufschiebend bezeichnet werden kann.

„Dann mussten wir eine Weile warten“ – „Ein Mann, ein Mord“ (1991) Der dritte Roman ist anders als die vorherigen Fälle nicht durch die Strukturierung in Ermittlungstage gekennzeichnet, sondern in 16 Kapitel gegliedert. Die Ermittlung im Fall um eine verschwundene Ex-Prostituierte beginnt am 31. März 1989 und hebt sich von den vorigen Fällen auch dadurch ab, dass sie nicht weit in die Vergangenheit zurückreicht, sondern nur etwas mehr als drei Wochen umfasst. Genau wie die vorigen Fälle dauert auch dieser drei Tage. Der Einführung des Falles liegt eine narrative Dynamisierung zugrunde, die in der Kombination eines zähen Gesprächsverlaufs zwischen Ermittler und Auftraggeber (vgl. EM, 10–13) und einer stark raffenden Zusammenfassung der Geschehnisse (vgl. EM, 14) besteht. Genau wie in „Mehr Bier“ ist dem Fall eine zeitliche Verknappung eingeschrieben: Durch das abgelaufene Visum der Gesuchten steht die Abschiebung unmittelbar bevor. Das verschwundene Mädchen Sri Dao muss also von Kayankaya gefunden werden, bevor die Behörden sie finden. Gemeinsam mit ihrem Freund Weidenbusch will sie die Abschiebung durch die Beschaffung falscher Papiere verhindern. Bei der Suche nach Sri Dao deckt Kayankaya die Machenschaften einer Passfälscherbande auf, die mit staatlicher Unterstützung – wieder ist ein Kriminalkommissar involviert und wieder reichen die kriminellen Machenschaften bis in die oberste politische Führungsebene Frankfurts – Asylbewerber:innen gegen 3000 Mark Bargeld oder Schmuck den Aufenthalt in Deutschland in Aussicht stellt. Doch nach Abschottung der Geflüchteten in einer Villa werden diese trotz Bezahlung an die Behörden ausgeliefert und abgeschoben. Wie in den anderen Fällen widmet sich Kayankaya auch in „Ein Mann, ein Mord“ Verbrechen, für deren Auflösung er überhaupt nicht engagiert wurde (vgl. EM, 121, 129). So unternimmt er Anstrengungen, das Bandennetzwerk zu sprengen. Gleichzeitig gerät die Suche nach dem Mädchen auf der Ebene der Erzählung in den Hintergrund, was dazu führt, dass Weidenbusch im Stillen – auf der unerzählten Ebene – auf eigene Faust handelt, die Geflüchteten aufspürt, den Wachmann umbringt und Sri Dao befreit. In der Folge versucht er, Kayankaya den Fall mehrmals unter Vorgabe falscher Tatsachen zu entziehen. Doch der Privatermittler hat – wie schon in „Mehr Bier“ – ein intrinsisches Interesse an der Lösung des Falles entwickelt und lässt sich nicht dazu überreden, die Ermittlung

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ruhen zu lassen (vgl. z. B. EM, 102).31 Im Vergleich zu den vorangegangenen Fällen lässt sich allerdings ein deutlicher Zugewinn an Brutalität feststellen; wenngleich Kayankaya selbst ‚nur‘ zum Hundemörder wird, schreckt er nicht davor zurück, zwei menschliche Leichen verschwinden zu lassen. Der zeitliche Ablauf ist eng an eine Figur gebunden, nämlich an Ernst Slibulsky, der seit dem vorhergehenden Fall zu Kayankayas Freund und Helfer avanciert ist. Er dient als „Türöffner“ in die Prostitutions-Szene Frankfurts (EM, 27). Nachdem der Ermittler relativ rasch eine Spur aufgetan hat, verzögern sich die weiteren Ermittlungen aber. Slibulsky unterrichtet Kayankaya nur mit deutlicher Verspätung über Weidenbuschs „dringende“ Bitte um Rückruf (EM, 63, 93). Er ist außerdem dafür verantwortlich, dass der Privatdetektiv eine falsche Spur verfolgt, die dazu führt, dass er das Versteck der Passfälscherbande zu spät entdeckt. Und auch im weiteren Verlauf behindert und sabotiert Slibulsky die Ermittlung, weil er selbst Teil der Fälscherbande ist. Ein eingeschobener Anruf bei Slibulskys Freundin (vgl. EM, 78), dessen Stellenwert (privat oder für die Ermittlung) zunächst unklar bleibt, weist darauf hin, dass Kayankaya schon recht früh ahnt, dass sein Freund in Schwierigkeiten steckt bzw. in seinen Fall verwickelt sein könnte, was sich in der Funktionalität von Einzelheiten in der Detektivliteratur begründen lässt.32 Der Ich-Erzähler arrangiert die Ereignisse auch dieses Mal so, dass sie durch ermittlungshemmende Elemente und Wartezeiten getaktet sind, die sowohl unproduktiv sind, wie z. B. die Wartezeit im Ausländeramt (vgl. EM, 41) oder die Zeit im Bunker (vgl. EM, 108–118), jedoch auch ermittlungsrelevante Erkenntnisse zu Tage fördern, wie die Observation aus dem Auto (EM, 105f.). Die Wartezeit in der Zelle am Flughafen nutzt er für ein geschicktes Manöver, das die Abschiebung der Geflüchteten ihrerseits hinauszögert (vgl. EM, 120–130). Der zeitlich verknappte Gesamtrahmen der Handlung führt dazu, dass es mehrfach zu Fristsetzungen kommt, die ihrerseits den Zeitund Handlungsdruck verstärken. Schon zu Beginn ruft Kayankaya Slibulsky zu: „Du kannst Charly ausrichten, wenn ich bis heute abend nicht den Namen von Sri Dao Rakdees Zuhälter weiß, hetz ich ihm die Polizei auf ’n Hals.“ (EM, 34; vgl. auch EM, 142) Die Analepsen in „Ein Mann, ein Mord“ können als analytische Analepsen beschrieben werden, insofern sie nicht in die Vorvergangenheit des Falles zurückreichen, sondern sich auf die den Fall umfassende Vorzeit beziehen und relevante Informationen nachreichen, so z. B. die Rekonstruktion der Zu-

31 Am Ende, als Kayankaya seinen Auftraggeber aufsucht, erklärt er Weidenbusch die Gründe für seinen Auftritt: „Erstens sollte ich Frau Rakdee finden, dafür wurde ich bezahlt. Und ich habe sie gefunden. Zweitens bin ich zu lange mit der Geschichte umgegangen, um sie nicht wenigstens einmal loszuwerden. Und drittens, ich mag nicht, wenn man mich an der Nase herumführt.“ (EM, 175) 32 Suerbaum, Der gefesselte Detektivroman. 1971, S. 441.

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sammenhänge zur Visumsverlängerung von Sri Dao (vgl. EM, 46) oder zum Ermittlungsverlauf (EM, 148f.). Der dritte Fall weist nicht nur ein höheres analytisches Potenzial Kayankayas bzw. des Ich-Erzählers auf, sondern zeichnet sich auch durch eine Verdichtung an Provokationen aus, die zu Gesprächsabbrüchen führen (vgl. z. B. EM, 48, 56f., 126): Ermittlungstreibende und -hemmende Faktoren werden gegeneinander ausgespielt und führen so zu einem dynamischen Zeitregime, in dem Kayankaya immer wieder handlungsunfähig warten muss, obwohl die verbleibende Zeit sich zusehends verknappt. Schließlich wird Kayankayas Verdacht, dass Sri Dao den Wachmann Manne, der sich als ihr Ex-Mann entpuppt hatte, umgebracht hat, von einer zufälligen Entdeckung „plötzlich“ (EM, 176), also unerwartet, durchkreuzt. Kayankaya rekonstruiert den Ablauf der einzelnen Handlungselemente am Abend des Mordes anhand eines Tennisspiels, das er nicht zu Ende sehen konnte, dessen Ergebnis er nun aber zufällig in der Zeitung sieht, was eine zeitliche Inkonsistenz zu Tage fördert, die Sri Daos Freund Weidenbusch als den wahren Täter entlarvt (vgl. EM, 176f.).

„Donnerwetter, war ich schnell ans Ziel gekommen. So dachte ich jedenfalls.“ – „Kismet“ (2001) In „Kismet“ wird Kayankaya in einen Bandenkrieg verwickelt, der auf das Auftauchen einer neuen Mafia, der ‚Armee der Vernunft‘, zurückgeht und deren Identifikation und Zerschlagung eine Zeitspanne von zehn Tagen, von Donnerstag bis Samstag, im Mai 1998 in Anspruch nimmt und von einem Epilog im Juli 1998 abgeschlossen wird. „Mit selbst für Bahnhofsviertelverhältnisse ungewöhnlicher Brutalität und Kompromißlosigkeit drang die Armee der Vernunft seit ungefähr zwei Wochen ins Schutzgeldgeschäft. Sie kamen immer zu zweit, sagten kein Wort, waren gepudert oder geschminkt, verständigten sich mit hochtrabendem Geschreibsel und zogen bei geringstem Widerstand Pistolen oder Messer.“ (K, 60)

Der Roman unterscheidet sich von den vorherigen nicht nur durch die längere Ermittlungsdauer. Durch diese Extensivierung kommt es auch zu einer Intensivierung des Antagonismus von (analytischer) Reflexion und Gewalt bzw. Brutalität: „Es war nicht die erste Leiche, die vor mir lag, und ich hatte auch nicht zum ersten Mal bei einer Schießerei mit tödlichem Ausgang mitgemischt – aber dies war der erste Mensch, den ich eigenhändig umgebracht hatte.“ (K, 13)

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Und so gelangt Kayankaya vor dem großen Finale zwischen der albanischen und der deutsch-kroatischen Mafia zu der Einschätzung: „Spätestens seit dem Bild von unzähligen verbrannten Leichen vorm ‚New York‘ kam mir das Töten […] unausweichlich, fast selbstverständlich vor.“ (K, 252) Die Extensivierung verleiht den Figuren gleichzeitig Tiefenschärfe, indem Nebenhandlungen ausführlicher dargestellt werden und auf bereits bekannte Figuren zurückgegriffen wird: Der ausländerfeindliche Nachbar und Hausmeister greift genauso in die Handlung ein wie Kommissar Höttges aus der Ausländerbehörde („Mehr Bier“), durch den die Informationsbeschaffung nicht nur plausibilisiert, sondern auch beschleunigt wird (vgl. K, 54f.). Daneben wird Slibulsky zu einer festen Größe, die nicht nur bei Ermittlungen hilft und dabei „alles aufs Spiel setzte, was er sich in den letzten drei Jahren nicht nur finanziell aufgebaut hatte“ (K, 27), sondern der „über die Jahre zu []einer Art Familie geworden“ (K, 28) war bzw. dessen Gesellschaft zur Überbrückung überschüssiger Zeit dient (vgl. K, 235–242). Die Vergangenheit ist nicht im Sinne einer Vorgeschichte des Falles, sondern als Vorgeschichte des Ermittlers in den Roman integriert. Das erste Auftauchen der ‚Armee‘ liegt zum Zeitpunkt des Erzähleinsatzes etwa zwei Wochen zurück. Alle weiter in der Vergangenheit zurückliegenden Ereignisse sind Gegenstand allgemeiner analytischer Passagen, die wie die Mafiastruktur des Frankfurter Bahnhofsviertels eingeschoben werden: „Seit etwa einem Jahr waren Straßen und Geschäfte des Bahnhofsviertels zwischen einem deutschen, einem albanischen und einem türkischen Boss genau aufgeteilt, und jeder im Viertel, nicht zuletzt die Polizei, war über diese mühsam ausgehandelte Ordnung froh. Fast ging es wieder so ruhig zu wie vor neun Jahren, als es noch die Gebrüder Schmitz, die unumstrittenen Könige des Bahnhofsviertels, und eine korrupte CDUStadtregierung gegeben hatte, die die Gebrüder machen ließ.“ (K, 61)

Auf die weitergehende Analyse der Bahnhofsviertelstruktur und die Konstatierung eines einjährigen „relativen Friedens“ (K, 64) folgt die Feststellung der seit zwei Tagen anhaltenden Veränderung durch die ‚Armee‘, die „immer so schnell aufgetaucht und verschwunden“ (ebd.) war, dass ihr vonseiten der herrschenden Gruppierungen nicht beizukommen war. Die Schießerei im brasilianischen Imbiss ‚Saudade‘ ist das Initialereignis, das auf einen Freundschaftsdienst zurückgeht, welcher dann aufgrund des Mordes an einer der Erpresserinnen für Kayankaya zur Privatsache wird. Durch das Eintreten Leilas, der Tochter der von Kayankaya getöteten Schutzgelderpresserin, in die Handlung wird aus der Privatsache eine bezahlte Ermittlung. Sie beauftragt ihn: „Du suchst erst meine Mutter“ (K, 182). Und so erweist sich Kayankayas Überlegung, „[m]an konnte nicht sagen, daß Leila kein Talent dafür gehabt hätte, ihre Anwesenheit in die Länge zu ziehen“ (K, 159), als sein per-

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sönliches ‚Kismet‘, das letztlich nicht in der Verhinderung weiterer Verbrechen liegt, sondern in der Anstiftung zu bzw. der Beteiligung an einem Massaker. Provokationen und (darauffolgende) Brutalität beschleunigen auch in diesem Fall die Handlungsabläufe. Nachdem der Ermittler den deutschen Drahtzieher der kroatischen Mafia, Dr. Ahrens, in seiner Firma aufsucht und durch Beleidigungen aufhetzt (vgl. K, 90–95), versucht er schnellstmöglich die Flucht zu ergreifen: „Ich zog langsam die Tür hinter mir zu, dann beeilte ich mich. Ich flitzte an der Aufzugstür vorbei und, so leise es ging, die Treppe hinunter.“ (K, 95) Dem Schläger von Ahrens entkommt er mithilfe der Telefonistin schwerverletzt; für die Schläger im ‚Adria-Grill‘, einem weiteren Umschlagplatz der ‚Armee‘, ist er zu langsam (vgl. K, 121). In der Unterkunft für Asylsuchende aus Bosnien, die Kayankaya anschließend aufsucht, wo sich Leila bei der Heimleitung aufhält, kommt er zum genau richtigen Zeitpunkt an: „[M]ein Volltreffer war noch viel umfassender, als ich ahnte. Vielleicht war mein ganzes Auftauchen im Sekretariat zu diesem Zeitpunkt einer.“ (K, 143) Doch die Situation ändert sich binnen Minuten und eskaliert mit dem Hinzukommen des Schlägers Gregor zu einer Schießerei. Während Kayankaya zuerst annimmt, die Anwesenheit Leilas helfe ihm weiter, hält er sie kurze Zeit später für hinderlich (vgl. K, 151). Das Gespräch mit Leila soll dann nach Kayankayas Dafürhalten schnell gehen. Der durch die Schießerei verletzte Schläger sowie der angeordnete Anruf der Heim-Sekretärin bei Ahrens halten Beschleunigungspotenzial mit unwägbaren Folgen bereit. Mit dem Eintreffen der Schläger dynamisiert sich die Szene, trotzdem schafft es der Ermittler nicht, seine Handlungen voranzutreiben. Seine Ansage an das Mädchen lautet entsprechend: „Wir rennen nicht“ und während des Gesprächs mit ihr entsteht „[e]ine irgendwie blöde Pause“ (K, 160) und dann schließlich wartet er „genau fünf Minuten“ (K, 161) auf Leila. „Im nächsten Moment ging das los, was ich schon seit einer Weile befürchtet hatte“ (K, 162): eine äußerst gewaltsame Auseinandersetzung mit den aus dem ‚Adria-Grill‘ bekannten Schlägern. Für seine Flucht aus der Asylunterkunft berechnet Kayankaya genau, was wie lange dauern wird. Anschließend verwickelt er die beiden Schläger in ein Gespräch, das er als geschickte Choreografie aus Dialog, Ablenkung und Pause inszeniert (vgl. K, 164–169), in der sich „zwei, drei Sekunden“ wie Jahre anfühlen, Probleme innerhalb „winzige[r] Augenblicke“ (K, 167) aufscheinen und wieder verschwinden und die Jagd auf die Schläger „noch ewig so [hätte] weitergehen können“ (K, 168). Die Phasen zwischen den Prügeleien verbringt Kayankaya mit Warten: Nach der Prügelei bei Ahrens vergehen zwei tatenlose Tage, an denen er zur Erholung gezwungen ist, und von der Kenntnisnahme der kroatischen Delegation bis zum Showdown vergehen zwei weitere Tage, in denen er seinen eigentlichen Auftrag, die Suche nach dem entlaufenen Hund Susi, erfüllt, weil für die Zerschlagung der kroatischen Mafia ein Zeitprotokoll vorgesehen ist, auf das er selbst keinen

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Einfluss hat. Während in den vorherigen Fällen dieses Protokoll durch eine Zeitverknappung definiert ist, weil es weitere Verbrechen zu verhindern gilt, bestimmt in Kismet die Verzögerung den weiteren Fortgang. Dieser extrinsischen Verzögerung diametral entgegen steht die Schnelligkeit, mit der die brutalen Handlungssequenzen der ‚Armee‘ vollzogen werden. Von außergewöhnlichem Tempo ist auch die Brutalität, mit der das Massaker – die Auslöschung der kroatischen durch die albanische Mafia – beschrieben wird: „Die drei waren wirklich beeindruckend. Sie brauchten keine zwei Minuten, um den Hessen und den zwei anderen das Genick zu brechen, sie auf die Straße hinter das halb geschlossene Eingangstor zu zerren, Anzüge und Kappe den Leichen aus- und sich selbst überzuzuziehen und plaudernd, als wäre nichts geschehen, zurück in den Hof zu schlendern.“ (K, 252)

Die Zeit für das letzte Gespräch, das Kayankaya mit Ahrens führen will, wird zeitlich ebenfalls verknappt: „Sie haben eine Minute“ (K, 253), heißt es hier, und direkt im Anschluss: „Ich schaute einigermaßen verblüfft und wäre Zeit gewesen, hätte ich mich noch bedankt.“ (K, 253) Bemerkenswert an diesem brutalen Finale ist die Gleichzeitigkeit verschiedener Handlungsabläufe, die Kayankaya die Übersicht verlieren lässt, die er als involvierte Figur zwar ohnehin nie hat, die ihm durch die reflexive Ich-Perspektive hier aber dezidiert abhandenkommt. Mitten im Gespräch mit Ahrens „passierte eine Menge fast auf einmal“ (K, 254), sodass Kayankaya wieder nur „zu spät“ (K, 255) reagieren kann und die Antwort auf die Frage, wo sich Leilas Mutter befindet, nicht mehr beantwortet wird. Stattdessen bleibt Kayankaya mit der Erkenntnis zurück: „Mir blieb nicht genug Zeit.“ (K, 256) Wie in „Mehr Bier“ und „Ein Mann, ein Mord“ verbirgt sich die Lösung des Falles im Ablauf der Zeit. Hier steht am Ende ein sprachliches, auf Zeit beruhendes Missverständnis, das Kayankaya auf die richtige Spur und damit zu der Erkenntnis bringt, dass er oder Slibulsky Lailas Mutter beim Überfall auf das ‚Saudade‘ erschossen haben: Leila gibt an, ihre Mutter am letzten Sonntag gesehen zu haben, meint aber tatsächlich den letzten Sonnentag (vgl. K, 256f.). Dass der letzte Sonnentag ein Donnerstag war, und zwar der Donnerstag, in dem Kayankaya im ‚Saudade‘ zum Mörder wird, beginnt er erst in dem Moment zu begreifen, als er, den toten Ahrens neben sich liegend, den Glanz der „untergehende[n] Sonne“ (K, 255) durch das Fenster erblickt. In Kayankayas viertem Fall werden verschiedene Ermittlungen gleichzeitig geführt: Die Suche nach dem Hund Susi – sein eigentlicher Auftrag – sichert ihm zwar sein Einkommen, wird aber nur als Ablenkung und zur Überbrückung der Wartezeit verfolgt. In erster Linie geht es dem Detektiv darum, die Identität der beiden Schutzgelderpresser zu ermitteln, die er mit Slibulsky umgebracht hat.

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„[I]ch war so blöd gewesen, von Romario einen Auftrag anzunehmen, und ich hatte den Auftrag versaut, und ein Haufen Energie und Blut waren sinnlos verschwendet worden. Wenn zwei Leute sterben und danach ist alles wie zuvor, eher schlimmer, dann stimmt irgendetwas nicht. Ich mußte dem Ganzen erst einen Sinn geben[.]“ (K, 35)

Diese Suche nach der Identität der Schutzgelderpresser erweist sich erst am Ende als identisch mit der Suche nach Leilas Mutter. Beide Ermittlungen werden separat geführt und kulminieren in der Sprengung der ‚Armee‘ durch die albanische Mafia. Das Zeitregime bei der Suche nach Leilas Mutter ist bestimmt durch die Aporie, dass der Ermittler – ganz gleich, wie schnell er die Untersuchung auch vorantreibt – immer schon zu spät gekommen sein wird, weil er ihr Auffinden selbst unmöglich gemacht hat: Kismet.

„Tut mir leid, es musste schnell gehen“ – „Bruder Kemal“ (2012) Im letzten Roman fehlt – wie im dritten Fall – eine Strukturierung der Kapitel nach zeitlicher Maßgabe. Er spielt 13 Jahre nachdem „eine kroatische Mafia, die mich von Nachforschungen abhalten wollte, mein früheres Büro in die Luft gesprengt“ hat (BK, 36), im Oktober 2011, und Kayankaya hat sich zwischenzeitlich zu einem seriösen Detektiv entwickelt: „Ich war Anfang fünfzig, ich erledigte meine Arbeit, zahlte meine Rechnungen, ich hatte es geschafft, mit dem Rauchen aufzuhören, trank fast nur noch gepflegt zwei, drei Bier am Abend oder ein paar Flaschen Wein mit Freunden, und ich plante mit Deborah unsere Zukunft.“ (BK, 34)

War es in „Kismet“ noch Slibulsky, der alles, was er sich in der Vergangenheit aufgebaut hat, aufs Spiel setzte, so ist es in „Bruder Kemal“ der Ermittler selbst, der Begegnungen mit unangenehmen Schlägern aus dem Weg gehen möchte. „Ich hatte allerhand zu verlieren“ (BK, 87). Da ist es nur konsequent, dass in diesem Roman ein Milieu-Wechsel stattfindet. In seinem letzten Fall soll Kayankaya Marieke de Chavannes, die rebellische Tochter eines Künstlers und seiner Frau, die ihrerseits Bankierstochter ist, suchen und dem marokkanischen Autor Rashid auf der Buchmesse Personenschutz geben. Die Vergangenheit spielt anders als in den ersten Romanen keine ermittlungstaktische oder narratologische Rolle, sondern ist lediglich als die Gegenwart determinierende Vor-Geschichte zu betrachten. Über die Auftraggeberin seines ersten Falles heißt es: „Inzwischen über vierzig, verheiratet, Kind, Villa […] – da erinnerte man sich doch ganz gerne mal an die eigene Jugend, und sei sie noch so schräg verlaufen. Aber dann wurde aus der Erinnerung Gegenwart, der Zuhälter kommt ins Haus, lernt die sechzehnjährige Tochter kennen…“ (BK, 132)

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Die Analepsen dienen wie schon in „Kismet“ dazu, Figuren einzuführen und ihre Beziehung zu Kayankaya zu bestimmen. Hat Kayankaya mit Ausnahme von „Mehr Bier“ bisher im Frankfurter Bahnhofsviertel, im Drogen- und Prostitutionsumfeld33 ermittelt, so hat er nun zwei Aufträge, in denen Drogen und Prostitution zwar weiterhin eine Rolle spielen, aber eben in der gehobenen bürgerlichen Mittelschicht. Dieser Umstand wird auch explizit zum Thema gemacht.34 Obwohl die Aufträge bei planmäßiger Ausführung keine zeitliche Überschneidung aufweisen und auch aufgrund ihres geringen Schwierigkeitsgrades (vgl. BK, 50) miteinander vereinbar scheinen, gibt es eine entscheidende Koinzidenz: Das Gespräch mit der Pressesprecherin des Verlags, das den zweiten Auftrag vorbereitet, findet am gleichen Tag statt wie das mit Valerie de Chavannes und bedingt, dass Kayankaya wenige Augenblicke zu spät zur Wohnung des Zuhälters Abakay kommt, in der Marieke de Chavannes sich mutmaßlich aufhält. Dort findet er, anstelle einer Vergewaltigung, nun den – von Mariekes Vater – ermordeten Freier und das verstörte Mädchen vor. Seinen Vorsatz, das Mädchen „zum Mittagessen nach Hause zurückzubringen“ (BK, 47), kann er nicht einhalten, aber innerhalb von zwei Stunden durchsucht Kayankaya die Wohnung, inszeniert und manipuliert den Tatort, befreit und befragt das Mädchen, das er nach einer Dusche mit dem Taxi nach Hause begleitet, wo ein ausführliches Gespräch mit der Mutter stattfindet, und informiert dann seinen Bekannten bei der Polizei, Octavian Tatarescu. Im Gegensatz zu den Nebenermittlungen, die in den ersten Romanen einige Zeit in Anspruch nehmen, sind es im letzten Roman diese Koinzidenz und Kayankayas Vorgehen, die zu einer Ausdehnung des ersten Falles führen und den zweiten maßgeblich beeinflussen. Zwar ist der erste Auftrag abgeschlossen und das gesuchte Mädchen wieder zu Hause, aber der von Kayankaya inszenierte Tatort wirft Probleme auf, die den zweiten Auftrag aus vertraglicher Perspektive scheitern lassen. Die vermeintliche Harmlosigkeit der beiden Aufträge und die Tatsache, dass Kayankaya den Tatort 33 Kathrin Schuchmann konstatiert, beim Bordell handle es sich um einen „sinnbildlichen Ort einer korrumpierten Ordnung“ im hardboiled-Roman (vgl. Schuchmann, Kathrin: Raumkonzepte. In: Handbuch Kriminalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien. Hrsg. von Andrea Bartl/Susanne Düwell/Christof Hamann/Oliver Ruf. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 36– 42, hier S. 39). Eine nähere Untersuchung der Raumverhältnisse könnte dementsprechend nach dem Verhältnis der Heterotopie ‚Bordell‘ zum gesetzlosen Raum ‚Frankfurter Bahnhofsviertel‘ fragen. 34 So begegnen die Auftraggeberinnen dem Ermittler mit folgenden Worten: „Wenn Ihnen sein Verhalten oder seine Art nicht immer gleich nachvollziehbar erscheint, dann mag das daran liegen, dass Sie nur selten mit Künstlern und Intellektuellen zu tun haben.“ Und: „Vielleicht erlaubt Ihnen Ihr Beruf nicht allzu viele Erfahrungen mit Leuten, deren Haltung zum Leben nicht den üblichen Gesetzmäßigkeiten folgt.“ (BK, 147) Die rassistischen Vorurteile, mit denen die Hauptfigur in den vorigen Romanen konfrontiert war, werden durch intellektuelle überblendet, wobei erstere von Kayankaya selbst immer wieder eingebracht werden (vgl. z. B. BK, 148).

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manipuliert, um den Zuhälter Abakay zum Verdächtigen im Fall des toten Freiers Volker Rönnthaler zu machen, bringt den Privatermittler schließlich in Schwierigkeiten und gefährdet den Schutzauftrag am marokkanischen Autor Rashid. Schließlich wird am Ende nicht dieser bedroht, sondern Kayankaya. Das neunte Kapitel ist ab dem „Ende der Woche“ (BK, 124) zeitlich klar getaktet, mit täglichem Protokoll bis Donnerstag (vgl. BK, 127–135), und bereitet die scheiternde Bewachung Rashids und die Verstrickung der beiden Aufträge zu Beginn der neuen Woche vor: „Es hatte also nur einen Tag gedauert, bis Scheich Hakim von meiner Aussage bei der Polizei unterrichtet worden war.“ (BK, 126) Den ersten Tag auf der Buchmesse beschreibt Kayankaya, trotz einer konkreten telefonischen Drohung des Scheichs (vgl. BK, 161), als einen von „nervöse[r] Ereignislosigkeit“ geprägten, „die der Grundton der Buchmesse zu sein schien“ (BK, 165). Die Ereignislosigkeit führt der Erzähler auf die „Kreisel“ zurück, als die er die Intellektuellen beschreibt, die „immer nur kurz zusammenstießen, dadurch die Richtung änderten, gleich darauf mit dem nächsten zusammenstießen und immer so weiter“ (BK, 165). Mit der Zirkularität der Kreisel ruft der Erzähler ein kulturhistorisch lang erprobtes Modell der Zeitwahrnehmung auf den Plan, das sich hier in „eindrucksvoller Gleichmäßigkeit“ (BK, 167) vollzieht. Der Ausbruch aus dieser Gleichförmigkeit ist die am Abend stattfindende Verfolgungsjagd, die Kayankaya mit einem ordentlichen Trinkgeld für den Taxifahrer, der ihn befördert, beendet (vgl. BK, 168). Die Ereignislosigkeit der Buchmesse wird durch die von Abakay und seinem Onkel ausgehende Bedrohung einer zeitlichen Taktung unterworfen, und das, obwohl die beiden Fälle zunächst streng voneinander getrennt bleiben sollen. Weil der Ermittler weder Interesse daran hat, sich mit den Folgen des ersten Falls weiter auseinanderzusetzen, noch Zeit, versucht er auf Zeit zu spielen. Zu Valerie de Chavannes, die darüber besorgt ist, es könnte für sie und ihre Familie gefährlich werden, sagt der Ermittler entsprechend lapidar: „Falls Sie in einer Woche noch belästigt werden, kümmere ich mich darum.“ (BK, 129) Kayankaya unterschätzt das Netzwerk des Zuhälters Abakays, dessen Onkel als Imam tief in die Machenschaften verstrickt ist und der dem Ermittler eine Falle stellt. In dem Moment, in dem Kayankaya private und berufliche Sphäre vermengt und den marokkanischen Autor in die Weinstube seiner Lebenspartnerin bringt, um sich an einem anderen Ort mit dem Imam zu treffen, wird der Autor entführt und von Kayankaya die Rücknahme seiner Falsch-Aussage bei der Polizei erpresst. Die Brutalität des Aufeinandertreffens von Kayankaya und Abakay bei der Geiselübergabe sowie der Mord Kayankayas an Abakay stehen der durch den MilieuWechsel bedingten, veränderten Ermittlungs- und Erzählstrategie diametral gegenüber: So zeichnet sich seine Vorgehensweise in „Bruder Kemal“ durch weniger plumpe, sondern eher gewitzte Provokationen aus. Darüber hinaus arbeitet er mit erfundenen Geschichten, z. B. bei der Befragung des Kellners im Café

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Klaudia, um an Informationen zu gelangen, oder als er sich bei der Befreiung Mariekes als Polizist ausgibt (vgl. BK, 112f.), um Souveränität zu demonstrieren. Gesprächspausen werden von ihm, aber auch seinen Gesprächspartner:innen strategisch eingesetzt (vgl. BK, z. B. 130f. oder 218). Letztlich sind es auch dezidiert literarische Operationen, Erfindungsgeist und Fantasie des Detektivs, die als wirksamere Werkzeuge dem mittelmäßigen marokkanischen Schriftsteller – trotz verpatzter Buchmesse – zum Erfolg verhelfen. Kayankayas Erfindung der Entführung Rashids durch radikale Moslems, beschäftigte „erst den Nachrichtenteil, dann das Feuilleton, und fast überall erschienen Interviews mit Rashid“ (BK, 205). Und schließlich landet der Roman Rashids „‚Die Reise ans Ende der Tage‘ auf Platz vier. […] Für fünf Tage Eingesperrtsein mit Beten, fand ich, ein gerechter Lohn.“ (BK, 224) Rashids Erfolg wird durch Kayankaya also in Zeit umgerechnet. Die veränderte Ermittlungsstrategie ist zum einen als notwendige Anpassung an das intellektuelle Milieu zu verstehen. Sie kann aber zum anderen als Indiz einer Genreverschiebung vom hardboiled zum klassisch-detektivischen Ermitteln gelesen werden, welche selbst wiederum durch den Milieuwechsel indiziert wird. Diese Verschiebung schlägt sich auch in der Verdichtung des Mordverdachts von der „Ahnung“ (BK, 104) zum geglaubten Wissen (BK, 134f.) nieder. Denn der klassische Detektiv ist ein fragender, dessen Werkzeug die Sprache ist und nicht die Faust.35 Ein weiteres inhaltliches Element, das für die Genre-Verschiebung spricht, ist die Rolle der Religion in „Bruder Kemal“. Obgleich der Ermittler selbst zu seiner Religionsangehörigkeit neutral eingestellt ist, ist der Islam eine entscheidende Variable in beiden Fällen (z. B. BK, 119). Der ins Drogengeschäft verstrickte Imam Hakim fragt beim ersten Telefonat entsprechend: „Warum wehren Sie sich gegen die Tatsache, dass Sie als Moslem auf die Welt kamen?“ (BK, 160) Eine Frage, die auch den marokkanischen Autor umtreibt, den Kayankaya bewachen soll. In einer Analepse, in der Kayankaya sein Verhältnis zur Religion darlegt (BK, 105–109), offenbart er wiederum seinen Sprachwitz und unterstreicht die Aufweichung der Genregrenze ebenfalls. Der Stellenwert der Sprache wird von seinem Gegenspieler Hakim untergraben: „[L]assen wir das Gerede. Ich möchte, dass Sie die Aussage gegen meinen Neffen zurückziehen.“ (BK, 181) Und so werden die sprachlichen Aushandlungen zwischenzeitlich durch gewaltsame Auseinandersetzungen überblendet. Gleichzeitig wird die Ermittlungspause – in den vorigen Romanen waren diese Pausen immer auch Genesungspausen – im letzten Roman als einfache, bedeutungslose Ellipse realisiert (vgl. BK, 96). Während in den vorigen Fällen die Ermittlungsdauer drei Tage beträgt, wird diese Zeitspanne hier in eine Ermittlungspause invertiert. 35 Vgl. z. B. Alewyn, Anatomie. 1971, S. 379–383; sein Genius wird von Hakim mit den Worten: „Wie wir alle wissen, verfügen Sie über ausreichend Phantasie.“ (BK, 181) kommentiert.

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Am Ende ist es das Potenzial der beiden auf Fakten beruhenden Verdachtserzählungen Kayankayas und Edgar Hasselbainks und nicht Kayankayas Privatgerechtigkeit,36 das dafür sorgt, dass der wahre Mörder des Freiers (Edgar Haisselbrink) nicht zur Rechenschaft gezogen wird. So resümiert dieser: „Und nun, denke ich, haben wir beide einen Verdacht – völlig unbewiesen und sicher falsch, aber doch konkret genug, um uns gegenseitig, wenn wir damit zur Polizei gehen, eine Menge Ärger zu bereiten.“ (BK, 221)

Sprachliche Sukzession37 und Gleichzeitigkeit der Ereignisse stehen sich in „Bruder Kemal“ gegenüber und führen dazu, dass das Zeitregime in Arjounis letztem Roman eher poetischer bzw. poetologischer Art ist, insofern sich die narrative Unmöglichkeit der Gleichzeitigkeit im Scheitern der Leibwache manifestiert. Diese wiederum wird in einem erzählerischen Akt zurück in eine erfolgreiche Sukzession des Erzählens transformiert, die Rashid den versprochenen Erfolg bringt. Das Engagement des Detektivs hat sich also – wie vom Verlag intendiert – auf die Verkaufszahlen ausgewirkt. Und so kann Kayankayas Mutmaßung über Rashids Prämissen des Privatermittlertums programmatisch für den Text verstanden werden: „Vielleicht hatte er sich meine Aufgabe nicht so konkret, nicht so handgreiflich vorgestellt. Der Entschluss, einen Leibwächter zu engagieren, hatte vermutlich ganz praktische, sachliche Gründe: echte Sorge um die Sicherheit und das Streben nach einem möglichst wirkungsvollen Messeauftritt. Das Bild vom Leibwächter selber und von seiner Arbeit war dabei wohl eher poetisch geblieben.“ (BK, 141f.)

Zeit in Arjounis Kayankaya-Romanen Als hardboild-Detektiv deckt Kayankaya nicht nur Verbrechen, sondern auch gesellschaftliche Missstände auf, die „Kloaken der Korruption“38. Während die Themen der Romane bundesrepublikanisches Zeitgeschehen abbilden, kann er selbst als Figur beschrieben werden, die aus der Zeit gefallen wirkt: So muss ihn seine Klientin in „Bruder Kemal“ darauf hinweisen, dass 2011 „kein Mensch mehr CDs kauft, sondern alles auf MP3 lädt“ (BK, 116). Während zu Beginn des 21. Jahrhunderts alle anderen in den Romanen auftretenden Figuren mit einem 36 Schon Jeanne Ruffing weist auf den persönlichen Ehrenkodex Kayankays hin, vgl. Ruffing, Identität ermitteln. 2011, S. 256. 37 Zum Verhältnis von Zeit und Erzählkunst schon Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerey und Poesie. Studienausgabe. Hrsg. von Friedrich Vollhardt. Stuttgart: Reclam 2012; Anz, Thomas: Zeit. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe. Hrsg. von dems. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2013, S. 114– 117, hier S. 114. 38 Alewyn, Anatomie. 1971, S. 399.

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Mobiltelefon zugange sind, führt er seine Gespräche weiterhin am Münztelefon („Kismet“). Dies ist nicht nur seiner figurativen Eigenartigkeit geschuldet, sondern hat auch Einfluss auf die Konstitution von Zeitabläufen. In den räumlich engen Telefonzellen verdichtet sich das Verhältnis von Zeit und Information auf anschauliche Weise. Auf die Reihe als Ganze ließe sich die These von der Detektiv-Literatur als „Variationsgattung“39 anwenden, um den Aspekt der teleologischen Entwicklung erweitert; in temporal codierte Termini gefasst, kann in Bezug auf den Protagonisten von einer arrivierten „Dynamisierung“40 gesprochen werden: So entwickelt sich Kayankaya vom umtriebigen Junggesellen zum bürgerlichen werdenden Vater, der vom Ostend ins wohlsituierte Westend Frankfurts zieht und eine oberflächliche Beziehung zu seinem ausländerfeindlichen Mitmieter aufbaut, während sein Honorar zunächst bei einem Tagessatz von 200 Mark stagniert41 und erst im letzten Teil auf 250 Euro angepasst wird (vgl. BK, 27). Während in „Happy birthday, Türke!“ strafrechtliche Register unausgesprochen mitlaufen, erfährt die Leserin in „Bruder Kemal“, dass Kayankaya mit den rechtlichen Gepflogenheiten vertraut ist: Nicht nur sein Büro ist mit „ein[em] Regal mit Strafrecht-Nachschlagewerken“ (BK, 41) ausgestattet, sondern auch im Gespräch mit der Gesuchten, Marieke de Chavannes, gibt Kayankaya sich alle Mühe, sich als Staatsdiener auszugeben (vgl. BK, 63–69). Schließlich erinnert ihn seine Freundin an die Entwicklung, die er privat und als Ermittler durchlaufen hat: „Heute kommt dir das, was der Tochter deiner Klientin passiert ist, wie der schlimmste Alptraum vor, aber damals – weißt du nicht mehr, wie wir morgens um fünf in irgendwelchen Kneipen saßen – kaputt, pleite, betrunken[?]“ (BK, 189)

Präzise Zeitangaben sind in allen Romanen strukturgebend und dienen der Leserin nicht nur zur Orientierung,42 sondern gewinnen auch als spezifisch erzählerische Elemente an Bedeutung. Mit Formulierungen wie der „Ewigkeit von 10 Minuten“ (MB, 73) oder dem „Gefühl, von einer längeren Reise heimzukommen“ (K, 248) verwendet der Ich-Erzähler sprachliche Wendungen, die die Ausdehnung der Zeit in brenzligen Situationen fassbar machen soll. Die Kurzanalysen haben vorrangig die narrativen Mittel und Konstruktionen in den Blick genommen, die Effekte von Beschleunigung und Verzögerung hervorbringen, und gezeigt, dass das Vorgehen in den vier ersten Fällen durch 39 Suerbaum, Der gefesselte Detektivroman. 1971, S. 442. An anderer Stelle spricht Suerbaum vom „privaten Variationsrezept“ (S. 445). 40 Seeber, Ich und die Anderen. 2016, S. 190. 41 Vgl. Kniesche, Vom Modell Deutschland. 2005, S. 33. 42 Elias, Norbert: Über die Zeit. Hrsg. von Michael Schröter. Aus dem Englischen von Holger Fliessbach und Michael Schröter. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004, S. 52.

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Alkoholexzesse oder durch andere Betäubungsmittel (MB, 130f.) beeinträchtigt ist, wenngleich Kayankaya in seinem letzten Fall wie selbstverständlich angibt, die „schnellstmögliche Erledigung eines Auftrags“ gehöre „natürlich zum Service“ (BK, 48). Provokationen, vor allem gegenüber Staatsbeamten, statt taktischem und planvollem Vorgehen verzögern außerdem das Vorankommen der Ermittlung, führen aber auch zu gewalttägigen Auseinandersetzungen, die das Geschehen dann wieder beschleunigen. Die darauffolgenden Verletzungen, Bewusstlosigkeit oder Klinikaufenthalte verursachen wiederum Verzögerungen. Der Behäbigkeit seiner Ermittlung stehen die schnellen, oft auf Zufällen gründenden Ermittlungserfolge gegenüber. Sowohl die Provokationen als auch das analytische Potenzial nehmen im Verlauf der Roman-Reihe zu. Es ist zu konstatieren, dass die retrospektive Erzählweise in der ersten Person nicht „‚Präsenz‘ suggeriert“,43 sondern die Fiktionalität des Erzählten geradezu ausstellt, indem sie gleichermaßen rückblickend analytisch reflektiert und durch die Integration präsenz-evozierender Elemente, wie wörtlicher Rede, Gegenwärtigkeit konstruiert. Zeitdeckendes, also gleichzeitiges Erzählen durch direkte Rede wird in „Kismet“ durch die Gleichzeitigkeit der Ereignisse ergänzt und in „Bruder Kemal“ durch die Koinzidenz der Fälle potenziert. Beschleunigungen und Verzögerungen kontrastieren mit zeitdeckendem Erzählen in der direkten Rede, das ebenfalls Einfluss auf das Zeitregime nimmt und es dem Ich-Erzähler erlaubt, sich „hinter seinen Figuren [hier den Gesprächspartnern – S.S.] zurückzuziehen und dem Leser die Entscheidung zu überlassen, was er glauben soll und was nicht“44. Diese Entscheidungsfreiheit wird durch Formulierungen der externen Fokalisierung verstärkt, die eine eingeschränkte Wahrnehmung signalisieren, Gedanken, Motivationen und Umstände im Vagen halten. Mit Formulierungen wie „scheinbar“, „anscheinend“ oder „vielleicht“ werden die Motivation und Gedanken der anderen Figuren im Ungefähren gehalten und Ahnungen statt Feststellungen formuliert. Dies suggeriert eine Einheit des Zeitpunkts des Erzählens mit dem des Erlebens. Der weitere Handlungs(aus)gang verbleibt im Ungewissen, um die Spannung aufrechtzuerhalten. Die Ich-Perspektive ist auch insofern für die Darstellung wichtig, als sie die Rezipientin die Aufklärung sukzessive mitverfolgen lässt: „Auswahl und Anordnung der gegebenen Informationen“45 werden sorgfältig inszeniert. So hält der Erzähler in „Ein Mann, ein Mord“ bspw. absichtlich Informationen zurück, um Spannung aufrechtzuerhalten. Die Bedeutung der Vergangenheit verändert ihren Gehalt im Verlauf der Roman-Serie. So spielt in den ersten beiden Fällen, analog zum Detektivroman, 43 Vogt, Schema und Variation. 2020, S. 25. 44 Alewyn, Anatomie. 1971, S. 382. 45 Blödorn, Narratologie. 2018, S. 15.

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die Rekonstruktion der Vergangenheit als Vorgeschichte eine wesentliche Rolle, da sie konstitutiv für die in der Gegenwart begangenen Verbrechen ist. In den letzten drei Fällen haben Analepsen keinen direkten Erkenntniswert für die Ermittlung, sondern eher verknüpfenden Charakter. Mittels analytischer Analepsen werden Rückschlüsse auf bisherige Ermittlungsergebnisse zusammengefasst, Figuren aus vergangenen Fällen wieder eingeführt oder Querverbindungen hergestellt: Der Privatdetektiv gewinnt im Verlauf der Roman-Reihe nicht nur an analytischer Ermittlerkompetenz, sondern auch an Plastizität, die ihn als Figur schärfer konturiert, aber in verschiedenen Konstellationen an den Herausforderungen der Zeit scheitern lässt.

Literaturverzeichnis Alewyn, Richard: Anatomie des Detektivromans. In: Der Kriminalroman II. Hrsg. von Jochen Vogt. München: Fink 1971, S. 372–404. Anz, Thomas: Zeit. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände und Grundbegriffe. Hrsg. von dems. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2013. Bd. 1, S. 114–117. Aust, Robin-M.: Grenzüberschreitungen: Jakob Arjounis Kayankaya-Romane zwischen hardboiled detective und Migrationsthematik. In: Germanica 58: Le roman policier dans l᾽espace germanophone. Der Kriminalroman im deutschsprachigen Raum. Hrsg. von Elisabeth Kargl/Aurélie Le Née, 2016, S. 199–210. Bloch, Ernst: Philosophische Ansicht des Detektivromans. In: Der Kriminalroman II. Hrsg. von Jochen Vogt. München: Fink 1971, S. 322–343. Blödorn, Andreas: Narratologie. In: Handbuch Kriminalliteratur. Theorie – Geschichte – Medien. Hrsg. von Andrea Bartl/Susanne Düwell/Cristof Hamann/Oliver Ruf. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 14–23. Brylla, Wolfgang: ‚Chandlerisierung‘ des deutschen Kriminalromans. Zu Jakob Arjounis literarischem Krimikonzept. In: Estudios fiológicos alemanes 26, 2013, S. 551–556. Car, Milka: Die postjugoslawische Konstellation in Kriminalromanen. „Der Knochenmann“ von Wolf Hass und „Kismet“ von Jakob Arjouni. In: Netzwerke und Transferprozesse. Studien aus dem Bereich der Germanistik. Beiträge der 7. Internationalen Germanistentagung. Hrsg. von Andrea Krisztina Bánffi-Benedek u. a. Wien: Praesens 2018, S. 171–179. ˇ ujic´, Sandra: Herkunftskonzepte und Identitätsinszenierung in Jakob Arjounis „Kismet“. C In: Gewissheit und Zweifel. Interkulturelle Studien zum kriminalliterarischen Erzählen. Hrsg. von Sandra Beck/Katrin Schneider-Özbek. Bielefeld: Aisthesis 2015, S. 59–77. Elias, Norbert: Über die Zeit. Hrsg. von Michael Schröter. Aus dem Englischen von Holger Fliessbach und Michael Schröter. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004. Hanauska, Annika: Detektiv. In: Handbuch Kriminalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien. Hrsg. von Andrea Bartl/Susanne Düwell/Cristof Hamann/Oliver Ruf. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 224–231. Je¸drzejewski, Maciej: Gesellschaft in Jakob Arjounis Werk. Berlin u. a.: Peter Lang 2019.

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Richard Hronek (Greensboro)

Consuming Germanness. Food and Drink in Jakob Arjouni’s portrayal of Kemal Kayankaya

The New York Times book reviewer Marilyn Stasio makes a brazen claim on the cover of the English translation of Jakob Arjouni’s “Bruder Kemal”: “Kemal Kayankaya is the ultimate outsider among hard-boiled private eyes.”1 While Stasio’s observation is overstated, Kemal Kayankaya is clearly an outsider: he is an ethnic Turk raised by an adoptive white family in a West German milieu. Because of Kayankaya’s appearance, Arjouni’s white hegemony excludes him from its idea of what it means to be German. At the same time, due to his socialization, he is neither a ‘Gastarbeiter’ nor a Muslim – the two groups with whom white Germans associate him. Kayankaya, for his part, has sympathies for both the mainstream and recent immigrants. Despite these sympathies, Kayankaya never finds full membership in any community and his life is permanently marked by a simultaneous belonging and not belonging, (un-)belonging, for short. While Kayankaya never fully belongs, he is upwardly mobile. When the series begins, Kayankaya is nearly penniless, lives on the bad side of town, and drinks constantly. These conditions and this behavior link the series to the hard-boiled genre. Yet, on another level, they connect Kayankaya with recent immigrants who are forced to live in the dismal Bahnhofsviertel of Arjouni’s Frankfurt. In contrast to the sad living conditions of the city, Arjouni’s non-urban spaces are neat and noticeably absent of ‘brown people’. Along these lines, there is a connection between the squalor of downtown Frankfurt and the recent immigrants who live there, a connection I refer to as ‘ethnic decay’. Different characters perceive this ethnic decay differently. Arjouni’s white Germans associate brown people with garbage, the dilapidated conditions of Frankfurt’s downtown, and by extension with the erosion of Germany’s wellbeing. While Kayankaya does not repudiate this ethnic decay, he sees it as a decay that offers the possibility of renewal. Indeed, by the end of the series, he and his partner Deborah – erstwhile in1 Arjouni, Jakob: Brother Kemal. A Kayankaya Thriller. Brooklyn, London: Melville House 2013, front cover.

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habitants of Frankfurt’s Bahnhofsviertel – have joined the middle class, enjoy gourmet meals, and are relatively temperate drinkers. Arjouni portrays both Kayankaya’s upward mobility and (un-)belonging through Kayankaya’s relationship with food and his shifting eating and drinking habits in the series.

Kayankaya and (Un-)belonging Arjouni establishes Kayankaya’s (un-)belonging early in “Happy birthday, Türke!”. The interactions between Kayankaya Ilter Hamul, and the clerk help reveal the complicated nature of this (un-)belonging. Ilter Hamul stops by his office for a consultation. In response to her spoken Turkish, Kayankaya says that while he is a “Landsmann” (HbT, 12), he can neither speak nor comprehend Turkish. Upon learning this, she tries to leave and Kayankaya can only just convince her to stay. Then, he runs upstairs to a neighboring office to borrow a dish on which to serve Ilter a piece of cake. When he reaches the next floor, the clerk of the credit institution greets him with: “Na, Mustaffa, was gibt’s?” (HbT, 13) When Kayankaya asks for a fork and plate, the clerk throws another verbal barb: “Was gibt’s denn Feines? Kebab?” (HbT, 13) Kayankaya is relatively unmoved by these (micro[?]-)aggressions. Presumably, he has been dealing with them for a long time. Besides, revenge is best served in liquid form for Kayankaya. Instead of responding to the clerk’s comments, Kayankaya searches the clerk’s desk for the bottle of cherry liqueur that Kayankaya knows is there. After receiving the plate, Kayankaya returns to his office where he and Ilter eat in an awkward silence. At length, she explains in broken German that her husband has been murdered and that the police do not seem interested in finding the perpetrator. As Ilter looks at him questioningly, a thought occurs to Kayankaya: “Sie hatte im Branchen-Telefonbuch unter Detekteien nachgesehen und mit Freude unter den ganzen Müllers einen türkischen Namen entdeckt.” (HbT, 14) As Ilter’s attempts to speak Turkish with Kayankaya show, he disappoints her preconceived notions of him (i. e., that he is Turkish like her). Kayankaya may have enough cultural sensitivity to distinguish a mourning veil from a hijab, however, he can neither literally nor metaphorically speak Ilter’s language. There is a linguistic and cultural divide between them. Despite this gulf, the clerk would likely put Kayankaya and Ilter into the same box. The clerk shows his assumption that all brown people are the same when he happens upon Kayankaya drinking his cherry liqueur. “Kannste dich denn nicht daran gewöhnen, daß de nun in ’nem zivilisierten Land bist, wo man nich in anderer Leute Schubladen rumschnüffelt?” (HbT, 13) The clerk’s reaction here reveals the extent to which he draws a hard line between supposed Germans and supposed Others. His rhetorical question implies that Kayankaya and presumably all brown people belong

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somewhere uncivilized and not here. This elision of distinctions between people of out-groups is a motif throughout the series. As these interactions suggest, Kayankaya is not accepted by the German mainstream and while he shares ethnic roots with Ilter, he neither speaks the Turkish language nor identifies with her culturally. Arjouni, however, indicates with finesse how of Germany Kayankaya is – even though he might not be from Germany. While he sympathizes with Ilter, Kayankaya asks to borrow the clerk’s plate not for shish kebab (not that it would be un-German to eat shish kebab), but rather for a baked good typical of the German speaking world: Sachertorte. Arjouni again highlights Kayankaya’s (un-)belonging as the detective walks to Ilter Hamul’s apartment to interview her family. Kayankaya kicks an empty beer can that hits a white German’s leg. The owner of the leg is understandably upset but when he sees Kayankaya’s countenance, the man reveals his stance on ethnic decay by switching to a pidgin dialect: “Hier Deutschland! Nix Türkei! Hier kommen Bierdosen in Mülleimer, und … ähm, türkisch Mann zu Müllabfuhr.” (HbT, 17) This man cannot conceive of the possibility that Kayankaya speaks German and suggests that Kayankaya does not grasp the social mores of West Germany (i. e., that beer cans ought to be thrown away). As such, the man sees Kayankaya’s presence in Germany as a negative instance of ethnic decay. To the contrary, the references to food in this scene serve to establish Kayankaya as a German insider. Kayankaya does not see a human in the man that he kicks a can at but rather a “stolzierende[s] Flanellbein”, and a “Fettkopf”, and the Fettkopf ’s friends do not have faces but rather “Schweinsbacken” (HbT, 17). Notably, two of these three monikers recall food (Fettkopf and Schweinsbacken). Kayankaya’s use of these terms supports his Germanness – he uses typical German insults – but also hints at his complicated relationship with Germany’s culinary culture. Unable to come up with a rebuttal to the Fettkopf ’s insults, Kayankaya goes to a restaurant and orders a scotch and coffee. This beverage reveals much about his character. It ties Kayankaya to his American, hard-drinking, hard-boiled forefathers, who traditionally drank whiskey, as Rita Rippetoe points out in “Booze and the Private Eye”.2 Moreover, in having a drink at all, Kayankaya shows how not typically Turkish he is; drinking alcohol is less common for culturally Turkish people.3 Finally, scotch is a decidedly western and European libation, not one that recalls Kayankaya’s ethnic roots. As he drinks his second scotch – this time without the coffee – he notices that on the surrounding tables 2 Rippetoe, Rita Elizabeth: Booze and the Private Eye. Alcohol in the Hard-Boiled Novel. Jefferson/London: McFarland & Co. 2004. S. 19–23. 3 According to the World Health Organization’s 2018 “Recorded alcohol per capita consumption,” Germans drink over eight times as much alcohol per capita as Turks. (World Health Organization: Recorded alcohol per capita consumption, from 2010. [05.2018] [Zugriff am 05.20. 2020].)

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“stapelten sich Sauerkrautschüsseln, Bratwürste und Schnitzel. Münder zerrten an paniertem Fleisch, schmatzten und würgten, quetschten dazwischen Wörter in die heiße Luft, und Zungen leckten sich Fettreste von den Backen” (HbT, 18).

This disgusting behavior is ironic given that Kayankaya is the one associated with trash. The proximity of this portrayal of food to the interaction with the Fettkopf would suggest that Kayankaya hates German food: he uses it as an insult; he is repulsed by it. Yet, one must recall the Sachertorte he bought himself for his birthday. Indeed, this scene does recall it. The nausea he feels at the sight, sound, and smell of his compatriots eating causes him to belch up a small piece of the Sachertorte. The logic behind this scene expresses a general truth about Kayankaya’s (un-)belonging: he is so disappointed by his compatriots’ behavior that it taints other, more distinguished parts of his own culture that he would enjoy. In Arjouni’s depiction of two women who inhabit the Bahnhofsviertel – Melike Ergün (i. e., Ilter’s mother) and Madame Obelix – there is a delicate interrelationship between ethnicity, a cook’s infirmity, and the nourishing potential of their food. Before visiting the Ergüns’ apartment, a hungover Kayankaya buys a coffee from the corpulent Madame Obelix. Needing more sustenance, Kayankaya asks for a sandwich, which she does not have. With a wheezing cough, she offers to heat up some beef sausage. In Kayankaya’s words: “Mein Magen meldete, keine Rindswurst zum Frühstück.” (HbT, 70) Instead, he eats half a bar of chocolate and smokes a cigarette for fortification. A few moments later, Kayankaya enters the Ergüns’ crumbling apartment building that smells of children’s urine (vgl. HbT, 19). When Melike Ergün greets Kayankaya, she is not quite ready for the day. She is only wearing a bathrobe, “unter dem zwei schwammige, gelbe Füße hervorschauten. Die Zehennägel hatten eine eitrige Farbe” (HbT, 71). Melike offers him a coffee, which he gladly accepts but what Kayankaya truly craves is “eins der dampfenden Brötchen” (HbT, 72) that she has freshly baked. Kayankaya cannot find the words to ask for one of these rolls, but he also cannot tear his longing eyes away from them. Melike notices him staring and offers him one. His experience is nearly orgasmic: “Ich schnitt die knusprige Semmel in zwei Teile, ließ Butter und Marmelade darüber fließen und versuchte, ohne Gier zu kauen. Langsam breitete sich die Semmel wohligwarm in meinem Magen aus.” (HbT, 73)

Where previous encounters with food have made his stomach turn, Melike’s cooking soothes his insides. The fact that Melike’s food and not Madame Obelix’s revitalizes Kayankaya opens up the possibility of attributing Kayankaya’s preference for Melike’s cooking to some hypothetical Turkish essence. However, the food Frau Ergün offers Kayankaya consists of items that one would find on any German table: Kaffee, Brötchen/Semmel, Butter, Marmelade (vgl. HbT, 72f.). As

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such, both Kayankaya and Frau Ergün confound the binary division between German and non-German. Where the Bahnhofsviertel is the seat of moral and physical decay, non-urban spaces are generally portrayed as tidy and well kept. Nieder-Eschbach, a suburb north of Frankfurt, where Kayankaya drives to visit the Löffs is a prime example of this. In stark contrast to Frau Ergün and Madame Obelix, Frau Löff ’s body is free from infirmity (“sie [war] gut in Schuß”, HbT, 87). The Löffs’ house has a “vier mal vier Meter großer Rasenteppich, eingerahmt von säuberlich angeordneten Blumensträuchern. Drumherum ein niedriger, dunkelbraun gebeizter Jägerzaun mit scharfen Spitzen, zu nichts anderem gut, als fallenden kleinen Kindern die Augen auszustechen” (HbT, 86).

Kayankaya feels like their entire dining room is made out of plastic to prevent children from causing any damage (vgl. HbT, 90). Kayankaya’s observations indicate that the Löffs’ home is actually hostile to rejuvenation (in the form of children): the fence will injure them and the plastic will keep them from touching anything and possibly strangle them. Despite the tidy house and her well maintained body, Frau Löff ’s cooking does not satisfy Kayankaya. The food that Frau Löff serves is perhaps even more stereotypically German meal than Frau Ergüns: “Würste, Kartoffelbrei, und Sauerkraut.” (HbT, 90) The food leaves something to be desired as Kayankaya notes that the “selbstgemachte Brei bestand zu großen Teilen aus halbgaren Kartoffelbrocken” (HbT, 90). Along these lines, Arjouni suggests that ethnic decay poses the best opportunity for revitalization. Frau Löff ’s clean home, healthy body, and German cooking cannot properly feed Kayankaya; Madame Obelix’s sickly white body in the crumbling Bahnhofsviertel cannot nourish Kayankaya either. Instead, the woman who threatens ethnic decay is the most capable of sating Kayankaya and does so with typically German food. This capacity points to the rejuvenating power of ethnic decay on display in the Kayankaya series. Kayankaya is constantly complaining about food. He does it in “Happy birthday, Türke!” and he does it in “Mehr Bier”. In the latter novel, he starts his first day of a new case at Herthas Ecke with thin coffee and a “feuchtweiche Käsebrötchen” (MB, 9) that he suspects is days old. The bar is sticky and smells like old beer. Kayankaya then makes an unappetizing reference to German food to describe the hostess: her “üppiger Busen stecke in einem Ballkleid, Arme und Kopf quollen hervor wie Würste” (MB, 9). As soon as Kayankaya steps outside to head to his appointment with a potential client, the lawyer Anastas, he encounters an almost obligatory pile of dog shit in Arjouni’s Frankfurt. At the courthouse, the media’s interest in the case makes Anastas late to his meeting with Kayankaya, who, in turn, is angry that he woke up so early. When they finally meet, Carla Reedermann is there, a member of the media who had chatted with

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Kayankaya at the courthouse. The restaurant where they meet is very different from where Kayankaya started his day. At Herthas Ecke, the bartender was on a first name basis with the only other patron Karl. At Chez Jules “ißt [man] Häppchen auf Stühlchen an Tischchen und trinkt aus Gläschen” (MB, 15). According to Kayankaya, other patrons “schlürften Weißwein und knabberten an gerösteten Knoblauchschnitten” (MB, 15). True to the form, Kayankaya orders a scotch and coffee but also a toast with egg. He complains that it tastes prepackaged and reheated. Anastas does not help matters; the lawyer makes so much noise and is so dramatic while he eats, that Kayankaya cannot even finish his toast. Once again – as seen in “Happy birthday, Türke!” – white Germans’ eating habits nauseate Kayankaya. Instead of finishing his food, Kayankaya lights a cigarette and orders another scotch and coffee (vgl. MB, 16f.). Just as Arjouni situates Kayankaya between Ilter Hamul and the clerk in “Happy birthday, Türke!”, so too does he situate Kayankaya between the cultures on display in Herthas Ecke and Chez Jules. Frankly put, Kayankaya finds Herthas Ecke disgusting. The bar is dirty and smells like old beer, and Karl uses the same handkerchief to blow his nose and wipe his mouth and forehead. The bartender looks like too much ground meat stuffed into too little casing. Here, using the simile of Würste to describe the bartender simultaneously reinforces Kayankaya’s Germanness and shows his complicated affinity for German cuisine: German food is the food he knows but he also finds it unappetizing.4 While he disparages Herthas Ecke, he is more at home in such a dingy setting than in the posh Chez Jules. Kayankaya finds the elegance of Chez Jules overstated and hollow. While it has a more sophisticated setting, Anastas’ manners are no better than those people who were eating Sauerkraut and Bratwürste in “Happy birthday, Türke!”: “Er angelte mit der Zunge nach Käsefäden […] Die halbe Tomate, die [ihm] von der Gabel fiel, lutschte er von der Krawatte weg.” (MB, 16) Kayankaya also notes with scorn how the customers slurp white wine and later refers to Chez Jules as a “Weinklitsche” (MB, 48). More acerbically, he describes the restaurant as set against beer drinking: Chez Jules “war einer dieser Edelkeller, bei denen man Angst haben muß, der Tisch bricht zusammen, wenn man ein anständiges Glas Bier draufstellt” (MB, 15). These disparaging references to wine and his bemoaning the lack of beer reveal Kayankaya’s disdain not only for the upper-class values on display at Chez Jules but also the sanctimoniousness that come with them. While Kayankaya and a friend Max are checking Anastas’ house for wiretaps, Max asks what kind of man Anastas is. Kayankaya replies sarcas-

4 Kayankaya uses other repulsive food metaphors to describe people’s appearances. He notes how Ibiza-Charly’s head reminds him of a “doppelte Portion Eisbein mit dauergewelltem Sauerkraut über der Stirn” (EM, 28).

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tically: “An seine Freunde verschenkt er Wein oder Wallraff” (MB, 81)5 In “Ein Mann, ein Mord”, Kayankaya has an internal tantrum about his new client who has a similar socio-economic standing as Anastas; Manuel Weidenbusch is a man, “der Rotwein schlürft, ohne Bier von Fanta unterscheiden zu können” (EM, 9). Kayankaya’s self-definition as a beer drinker and his condescension towards wine drinking suggest that Kayankaya sees himself as a German everyman and seeks to distance himself from bourgeois or upper-class mores. His actions complicate this conclusion, though, and once again point to his (un-)belonging. Max’s question about the kind of man Anastas is receives a sarcastic answer from Kayankaya about wine and the author Wallraff. As a follow-up question, Max asks why Anastas is defending the four eco-terrorists. Kayankaya replies: “Damit er in Ruhe schlafen kann.” (MB, 81) Max then asks why Kayankaya is working the case and Kayankaya replies, “[w]ahrscheinlich aus dem selben Grund” (MB, 82). This self-effacing confession shows that Kayankaya’s values system is not all that different from Anastas’. This similarity is reinforced by the fact that Kayankaya is drinking wine while having this conversation. When Max and Kayankaya arrive at Anastas’ home, Kayankaya feels thirsty and gladly finds a bottle of Sekt. Kayankaya did not go looking for Sekt, though. Instead, as Kayankaya puts it: “Ich machte mich auf die Suche nach was Trinkbarem.” (MB, 81) The young Kayankaya would maintain that he drinks wine correctly or with the proper cause: to grow inebriate and not to feign sophistication. But then again, in “Ein Mann, ein Mord”, Kayankaya fantasizes about “Garnelen und Weißwein” (EM, 101). The truth is that Kayankaya despises the type of people who drink wine as a status symbol and turn their noses up at beer. He is in favor of drinking for drinking’s sake, not as a performance of high culture. Of course, drinking for drinking’s sake is its own performance: in Kayankaya’s case, a performance of hard-boiled masculinity.6 In which case, Kayankaya’s drinking is a truer expression of himself than his own words. He may think that he despises wine drinkers, but he is one himself. There is one drink that the young Kayankaya abstains from: raki, an anise-flavored liquor popular in Turkey, which is covered later in this article (vgl. MB, 75). In a move that betrays Kayankaya’s hard-boiled masculinity, he makes a friend. This friendship is an exception for the genre, but – in keeping with the Kayankaya series – their bond is built on mutual trust, food, and drink. Ernst Slibulsky is “[e]in kleiner Dealer vom Bahnhof” (MB, 113), whom Kayankaya first meets when he needs help stealing a planner from the corrupt Detective 5 “Wallraff” here is a reference to Günter Wallraff, a progressive, undercover investigative journalist. 6 Vgl. Rippetoe, Booze and the Private Eye. 2004, S. 10.

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Superintendent Kessler. Directly after this dangerous mission, they head to Schnitzelfritz and order “Schnitzel, Kartoffelsalat, Bier und Korn” (MB, 114). True to form, Kayankaya finds the food disappointing. Supposedly to wash the taste out of his mouth, he starts taking shots and continues taking shots until he is completely drunk. Slibulsky, for his part, reveals his character by not running off with the planner and by paying for Kayankaya to spend the night with a prostitute. Having earned Kayankaya’s trust, the two slowly build a relationship based largely on a shared love of alcohol. After the frustrating end to Kayankaya’s case in “Mehr Bier”, Slibulsky takes Kayankaya out on the town to blow off some steam. Their conversation runs along the lines of “nicht schlecht, das Bier,” and “mhm, gar nicht schlecht” (MB, 166). Where all of the other Kayankaya novels end with Kayankaya with or thinking about women, “Mehr Bier” ends with Slibulsky and Kayankaya making a date to play billiards (vgl. MB, 171). This arrangement coupled with Kayankaya’s rejection of an apparent offer of sex from Carla Reedermann reinforces Kayankaya’s everyman status. While he is certainly interested in sex with women, as the end of “Mehr Bier” shows, Kayankaya is more interested in drinking lots of alcohol. In “Ein Mann, ein Mord”, a quixotic trip to the suburbs shows the extent to which Kayankaya relies on alcohol and how much beer defines his Frankfurt home. Kayankaya has been hired by the wealthy artist Manuel Weidenbusch to find Sri Dao Rakdee, a former prostitute and Weidenbusch’s girlfriend. Slibulsky, who is actually involved in the scheme to extort money from recent immigrants, betrays Kayankaya’s trust. In a conversation over goulash that is “ziemlich schlecht” (EM, 63) and Kayankaya’s promise of beer, Slibulsky gives Kayankaya a false lead that sends him to a gay bar in Dietzenbach. Dietzenbach is home to “Vorgärten wie nach Schnittmustern angelegt”, and “keimfreie Bürgersteige” (EM, 69). Such orderliness is unheimlich to Kayankaya, and for good reason. The first Dietzenbacher he encounters yells at him in a pidgin dialect and the employees of the gay night club, After Hours, knock Kayankaya unconscious (vgl. EM, 69, 75). After returning to consciousness from the blow to the head, Kayankaya regains his strength thanks to some scotch he steals from After Hours. At which point, Kayankaya drives to Gellersheim to investigate a house he thinks is where the German gang is holding immigrants for extortion money (vgl. EM, 77, 79). On his way back to Frankfurt from Gellersheim, Kayankaya wants to talk to Slibulsky, so he stops “bei der ersten Wirtschaft mit Henninger-Emblem” (EM, 85). When the bartender sees Kayankaya, he crosses his arms and says “[a]lles reserviert” (EM, 85), despite the fact that the bar is virtually empty. In a maneuver that reveals his knowledge of German stereotypes and thereby how German he is, Kayankaya threatens to come back with all of his (non-existent) Turkish friends and make this bar their regular spot. The bartender relents and gives Kayankaya a beer and the phone.

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The portrayal of alcohol in the previous scenes are particularly demonstrative of who Kayankaya is. Kayankaya’s ability to heal from a concussion by drinking scotch possesses a fantastical element. His affinity for scotch is typically hardboiled as is his ability to bounce back from injury. This trait of hard-boiled fiction, however, belies the realism that supposedly undergirds the genre. More indicative for Kayankaya as an individual is his experience at the bar with the Henninger sign. Arjouni uses Henninger as a marker of Frankfurter-ness in the first three Kayankaya novels. Henninger was once a regional powerhouse brewery located in Frankfurt. The rail station loaders that Kayankaya confronts about Ahmed Hamul use a Henninger crate to play cards (vgl. HbT, 40). Directly after his first meeting with the Ergüns in “Happy birthday, Türke!”, Kayankaya heads across the street to Madame Obelix’s Trinkhalle and notices three men clutching their Henninger bottles. That these three men speak the Hessian dialect and drink the Frankfurt-brewed Henninger show how they are of, and not just from, Frankfurt. That Kayankaya does the same thing – he orders two pilsners, presumably Henningers, and then speaks in the Hessian dialect – brings him into fellowship with them (vgl. HbT, 25–27). The Henninger-Turm, now an apartment building, stands as a defining feature of the Frankfurt skyline. When Kayankaya visits Barbara Böllig – whose husband’s death he is investigating – Kayankaya reveals his Frankfurter view of the world by referring to her muscular lover as “Henningerturm von Mann” (MB, 35). Along these lines, the Henninger emblem outside of the bar in “Ein Mann, ein Mord” tells Kayankaya that he is back in his hometown. This reality again demonstrates Kayankaya’s (un-)belonging. Just like the dog shit in the streets and disgusting food, the presence of Henninger is a marker of the familiar for Kayankaya. As is too often the case, the markers of home and of the familiar do not guarantee an atmosphere of warmth and acceptance. The men in this bar would refuse Kayankaya his Frankfurter-ness, if they could. Kayankaya, however, knows their prejudices because he is one of them – he drinks from the same well – and is able to manipulate them into giving him what he wants. Arjouni thereby shows Kayankaya’s simultaneously belonging and unbelonging: Kayankaya drinks German beer and can speak a hyperGerman dialect but is deemed other by those who drink German beer and speak that same dialect.

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Kayankaya’s Upward Mobility As other scholars such as Seeber, Moraldo, Gissane have noted,7 Arjouni’s “Kismet” and “Bruder Kemal” differ greatly in tone from the first three novels of the Kayankaya series. Kayankaya, the perennial everyman, has bourgeois aspirations in “Kismet” and has joined the middle class in “Bruder Kemal”. Both drink and food play prominent roles in marking this transition. Acting as a role model for Kayankaya, Slibulsky has left behind his criminal enterprises and now owns a fleet of Speiseeiswagen (vgl. K, 26f.). This nostalgia-producing ice cream has been a real boom for Slibulsky. Despite having a more legitimate source of income, Slibulsky agrees to help Kayankaya and Romario confront the Armee der Vernunft. The plan – a half-baked one – is to hide in a closet, wait for a pair of Armee der Vernunft racketeers to show up, and then jump out of the closet with guns drawn. On the night of the mission, things are uncomfortable in the Saudade, Romario’s restaurant. Even in the unseasonably warm weather, Romario leaves the heat on. Kayankaya thinks Romario does this to remind him of his Brazilian home (vgl. K, 6). Making matters worse is Slibulsky, who ate Handkäse mit Zwiebeln for dinner, also known as Handkäse mit Musik, before climbing into the closet with Kayankaya. The ‘mit Musik’ alludes to the fact that the mixture of the pungent cheese with onions causes flatulence. Handkäse mit Musik, a typically Frankfurter delicacy, emphasizes Slibulsky’s Frankfurt of-ness. Kayankaya has a short soliloquy on Handkäse: “ein gelber Stinker, der bei entsprechender Phantasiebereitschaft auch wie ein in Leichenhallen gewonnener, gewässerter und in Gummistiefeln langjährig gelagerter Hornhautklumpen wirken konnte.” (K, 41)

Having such detailed knowledge of this food, its appearance, and its smell suggests a long-running relationship similar to the one that Kayankaya has with the dog shit in the streets of Frankfurt. He does not like it, but it is a sign of home. The shift in Kayankaya’s drinking habits from “Ein Mann, ein Mord” to “Kismet” demonstrates not only a departure from his old tastes but how Kayankaya is becoming ever closer to Frankfurt. In “Kismet” there is no mention of his favorite liquor from the first three books: scotch. This change in taste is 7 Seeber, Stefan: Ich und die Anderen. Kemal Kayankaya auf dem Weg in die Bürgerlichkeit. In: Germanica 58: Le roman policier dans l᾽espace germanophone. Der Kriminalroman im deutschsprachigen Raum. Hrsg. von Elisabeth Kargl/Aurélie Le Née, 2016, S. 189–198; Moraldo, Sandro M.: Fremdheit in der ‘Heymat’ als Zuschreibung, Faszinosum und Bedrohung. Ein Versuch über Jakob Arjounis Bruder Kemal. In: Gewissheit und Zweifel. Interkulturelle Studien zum kriminalliterarischen Erzählen. Hrsg. von Sandra Beck/Katrin Schneider-Özbek. Bielefeld: Aisthesis 2015, S. 79–97; Gissane, Lesley: Detecting Islam. (Mis)recognition and the Muslim Detective in Jakob Arjouni’s Kayankaya Crime Series. In: Journal of Commonwealth and Postcolonial Studies 4, H. 1, 2016, S. 41–60.

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accompanied by other shifts that indicate Kayankaya is moving away from his hard-boiled lifestyle. For instance, Kayankaya overcharges Frau Beierle while looking for her dog, prolongs his search, and then gladly accepts her money (vgl. K, 232f.).8 What makes this aberration stand out even more is how Kayankaya celebrates: he uses the money to dine on caviar toast and champagne with Leila, his teenaged client (vgl. K, 233). While not necessarily less disgusting than herring salad or canned sardines – which Kayankaya eats regularly throughout the series – caviar is a delicacy that acts a status symbol. Kayankaya eats the caviar without complaining, which is relatively high praise from him. This meal distances him from the German-everyman façade he has previously built up. Drinking champagne, however, is the greater rupture. When he drank Anastas’ Sekt, he could at least claim that it was stolen. Here, he willingly orders and pays for champagne. Not only is champagne a type of wine, but it is a beverage that claims authenticity on account of its geographic origin. Champagne is only champagne if it is from Champagne. As such, it is antithetical to how Kayankaya defines himself: as German despite being from Turkey, as possessing Frankfurter of-ness, despite lacking Frankfurter from-ness. Yet, drinking champagne is a sign that Kayankaya is growing ever surer of himself. No longer does he need to drink beer and scotch to buttress some macho masculinity while avoiding wine. His growing closeness and affinity to Germany – specifically Frankfurt – can be seen in by the fact that drinking Apfelwein with Slibulsky is a pastime in “Kismet” (vgl. K, 222). By shifting Kayankaya’s drinking habits in this way, Arjouni reveals Kayankaya’s developing – and perhaps maturing – character. Vodka, Kayankaya’s new go-to liquor, is a neutral spirit and is relatively characterless compared to scotch. It serves Kayankaya’s desire to grow inebriate, and could be considered a poor person’s drink, but is less recognizable as a hard-boiled detective’s drink. Meanwhile, Kayankaya openly indulges in champagne, a drink with upper-class associations, suggesting Kayankaya’s desire for upward mobility. Finally, Apfelwein is a Frankfurter specialty – especially when it is referred to in the Hessian eye dialect as Ebbelwoi – and as such suggests Kayankaya’s evergrowing fondness and closeness to his hometown (vgl. K, 43, 220–225). In “Kismet”, Kayankaya recounts a night of drinking with the Albanian mob boss that sheds light on an earlier scene from the series in “Mehr Bier”. After being beaten unconscious and spending the night in jail, detective Kessler calls Kayankaya to his office. Kessler wants Kayankaya to drop his current inves8 Such eagerness to take a client’s money is already an aberration for Kayankaya and the hardboiled genre (vgl. Kniesche, Thomas W.: Vom Modell Deutschland zum Bordell Deutschland. Jakob Arjounis Detektivromane als literarische Konstruktionen bundesrepublikanischer Wirklichkeit. In: Mord als kreativer Prozess. Zum Kriminalroman der Gegenwart in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Hrsg. von Sandro M. Moraldo. Heidelberg: Winter 2005, S. 21–39, hier S. 33f.).

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tigation. Kessler, at first, shows a softer side and offers Kayankaya some raki: “Was trinkt man bei Ihnen? Raki, nicht wahr? Wollen Sie einen Schluck?” (MB, 75) Kayankaya refuses both the raki and the plea to drop the case, at which point Kessler beats him unconscious. While the beating is typical for both the genre and the series, Kayankaya’s refusal of an alcoholic drink is not (vgl. HbT, 6f.). Kayankaya’s night of drinking with the Albanian recalls Kessler’s offer of raki in “Mehr Bier” because Kayankaya and the Albanian are doing shots of Anisschnäpse (vgl. K, 106). Anisschaps is a rather opaque reference and could be any number of liquors, including ouzo, absinthe, pastis, or raki. Rippetoe’s observation that the hard-boiled detective “will sip fine brandy with a wealthy client or drink rotgut with an informant in a waterfront dive”9 applies to Kayankaya. Thus, his rejection of Kessler’s liquor demonstrates a breach from tradition and his own behavior. Furthermore, Kayankaya’s willingness to drink Anisschaps with the Albanian suggests that he did not refuse Kessler’s raki strictly on the basis of its flavor. Rather, Kayankaya abhors the implication behind Kessler’s offer: that someone like him (read: Turkish) would drink raki. This implication – coupled with the duplicitous demand that Kayankaya drop the case for the greater good – is enough to make the young Kayankaya do something he does not do again until he is in his 50s: turn down a drink. In turn, if the Anisschaps in “Kismet” is raki, it reveals that Kayankaya is growing less sensitive to the appearance of participating Turkish culture. This observation is also born out in Kayankaya’s eating in “Kismet”. While Kayankaya’s taste in alcohol has changed, his eating habits are still generally bleak but also reveal a new nonchalance towards the prospect of being perceived as Turkish. After drinking beer through the night with Slibulsky, Kayankaya calls him the next day. He shares what he is eating for lunch: “Ich eß gerade Sardinen aus der Büchse und bin froh, daß sie keine Köpfe haben […]. Normalerweise mag ich sie lieber ganz.” (K, 57) The reason for Kayankaya’s squeamishness is partially his hangover and partially the topic of their conversation: the bodies they buried the night before. His lunch hints at the sad truth that Kayankaya is still strapped for cash despite his bourgeois yearnings. A later interaction makes the same point. When Romario – whom Kayankaya thought was dead – shows up at Kayankaya’s apartment, all Kayankaya can offer Romario is another tin of sardines and some crackers (vgl. K, 70). However, Kayankaya shows a different kind of hospitality when he brings Leila, a precocious and world-wise Kosovar teenager, back to his apartment. While trying to find out information about the Armee der Vernunft, Kayankaya met Leila at a refugee hostel. Leila insists on hiring him to find her mother and he reluctantly accepts the proposal. Once they are back at his apartment, “bestellte [Kayankaya] bei 9 Rippetoe, Booze and the Private Eye. 2004, S. 28.

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einem türkischen Restaurant genug Eintopf, Salat und Käse für eine Runde LKW-Fahrer” (K, 185). His opulence with the Turkish Eintopf more reflects his affinity for Leila than any financial stability. Up to this point in the series, Kayankaya’s menu has consisted of cooking that Arjouni uses to make him appear ur-German in his appetite (e. g., Würste, Schnitzel, Sachertorte) and provisions that reflect his impoverished bachelorhood (e. g., sardines, pickled herring). Like the Anisschaps potentially do, this meal from a Turkish restaurant demonstrates how Kayankaya can partake in Turkish food without it threatening his Germanness. The Kayankaya of the final novel, “Bruder Kemal”, is in several ways the inverse of the Kayankaya from the first three novels as far as drinking and eating go. In “Ein Mann, ein Mord”, Kayankaya berates Manuel Weidenbusch as a “Westendaffe[], der Rotwein schlürft, ohne Bier von Fanta unterscheiden zu können” (EM, 9). In “Bruder Kemal”, Kayankaya lives in Frankfurt’s posh Westend with his girlfriend, Deborah, who operates Deborahs Naturweinstube, a restaurant and wine boutique (vgl. BK, 37, 90). At Kayankaya’s initial meeting with Valerie de Chavannes, he drinks tea instead of beer; even his clients are posher, as the last name ‘de Chavannes’ suggests French nobility. Directly after that meeting, Kayankaya tells how he has given up smoking and drinks a maximum of three beers in a night or shares a couple of bottles of wine with friends (vgl. BK, 34). Furthermore, he and Deborah do not drink on Sundays (vgl. BK, 225). In which case, Kayankaya is now not only a wine drinker, he is also relatively temperate. One scene in particular highlights Kayankaya’s current lifestyle. While serving as a bodyguard for the Moroccan author, Malik Rashid, Kayankaya accompanies Rashid to a dinner hosted by the Rashid’s publisher at the Frankfurter Hof. Kayankaya still complains about the food – it is too dry – but for a change, he does not drink: “Zum Trinken gab es den bei solchen Anlässen wohl üblichen ‘guten Bordeaux’, aber erstens war mein Arbeitstag noch nicht beendet, und zweitens hatte Deborah mir das holzfässige Mixgetränk mit ihren frischen, fruchtigen Weinen ein für alle Mal abgewöhnt.” (BK, 174)

Where the younger Kayankaya would have drunk just about anything at any time of day, the elder Kayankaya refuses to drink because the quality of the stuff is too low, and he still has work to do. This commitment to quality and his own health is on display throughout the novel. Where in “Mehr Bier”, he eats a days-old “feuchtweiche Käsebrötchen” (MB, 9) for breakfast, after his meeting with Chavannes, he has an apple (vgl. BK, 34). Where the young Kayankaya would have had a beer at any point in the day, the older Kayankaya dares to have the thought that “Milchschaum auf dem Kaffee habe den Bierschaum als deutschen Schaum Nummer eins klar abgelöst”

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(BK, 143). Finally, where the young Kayankaya would have forced himself to eat Rollmöpse and drink coffee as a hangover cure, Kayankaya now sips on an organic Assam tea, eats “frisches Landbrot, salzige Butter,” “selbst gemachtes Früchtemüsli” and “weichgekochte Eier” (BK, 224). The menu for this breakfast seems like a knowing wink from the author Arjouni to his readership. Critics and scholars see a strong similarity between Kayankaya and the American hardboiled detectives Sam Spade as written by Dashiell Hammett and Philip Marlowe by Raymond Chandler. These comparisons ring true especially in Arjouni’s depictions of drinking and violence in the first three novels. In the final novel, Kayankaya lets his long-term girlfriend spoil him with gourmet food and a softboiled egg. In terms of gastronomy and in terms of his style of detection, Kayankaya’s hard-boiled ways have all but dissipated in “Bruder Kemal”. He recalls them occasionally in flairs of nostalgia, but they exist in “Bruder Kemal” largely to be repudiated by Kayankaya’s new habits (vgl. BK, 186, 223f.). Despite the fact that Kayankaya’s diet and drinking shift in a more eclectic and socially upward direction, Arjouni still employs stereotypical German cuisine to reveal Kayankaya’s German roots. At their first meeting, Malik Rashid jokes that he and Kayankaya are both pigs: “Vielleicht essen wir darum keine, es wäre ja quasi Kannibalismus.” (BK, 137) The joke does not land well with Kayankaya, who does not appreciate being referred to as an Orientale. Kayankaya rebukes Rashid’s joke and informality: “Wir werden vermutlich einige Male miteinander im selben Restaurant, vielleicht am selben Tisch sitzen. Falls es Sie stören sollte, wenn ich Bratwurst bestelle, sagen Sie mir das bitte.” (BK, 138) While Kayankaya uses pork here to distance himself from Rashid and his own Turkish roots, Kayankaya never does order that bratwurst. Later, when Scheich Hakim demands a meeting with Kayankaya, Kayankaya again uses pork to distance himself from his interlocutor. Arjouni’s description of this restaurant is typically disgusting: “Den ‘Haxen-Herbert’ gab es seit vierzig Jahren, und die Vorhänge und Sitzpolster waren meines Wissens nie gewechselt worden. Selbst wenn nicht den ganzen Tag gegrillte oder gekochte Haxen serviert worden wären, hätte es aus jeder Pore des Gastraums nach Schweinnfett gerochen. Dass ich Scheich Hakim hierherbestellt hatte, war ein Nazischerz.” BK, 179f.)

Despite using the presence of pork to offend Sheich Hakim, the only things Kayankaya orders are water and a “doppelten Korn” (BK, 186) – one of the few times he practices his earlier, hard-boiled predilection for drinking. By choosing this location, Kayankaya demonstrates to Scheich Hakim that the Scheich’s presumptuous informality is unwelcome. Furthermore, Kayankaya emphasizes his non-adherence to Islam and his cultural Germanness. Thus, as the series progresses, Arjouni concomitantly moves Kayankaya away from the hard-boiled template and out of the poverty implied in the Bahnhofsviertel. While the older

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Kayankaya enjoys into the comforts of bourgeois living, Arjouni keeps intact Kayankaya’s stereotypically German frame of reference.

Food and Food’s End In the Kayankaya series, there is an intricate interplay between disgust, decline, food, and rejuvenation. Most of Arjouni’s white Germans see Kayankaya as garbage or connected to it; and they see his presence in Germany – along with other brown bodies – as detrimental ethnic decay. Conversely, Kayankaya makes a reference to his father in “Mehr Bier” that suggests a more positive understanding of ethnic decay: “Mein Vater war einer der ersten türkischen Müllmänner der Republik.” (MB, 13) This formulation makes it sound as if Tarik Kayankaya was a proud leader in the fledgling German republic. And verily, someone needed to take out the trash to assure West Germany’s economic resurgence. Kemal Kayankaya, however, has taken on the role of Müllmann Frankfurts in a figurative sense: he takes out the metaphorical trash (i. e., those members of the hegemony who abuse their power), or at least tries to do so. The fact that Arjouni portrays recent immigrants in close proximity to decay and waste – epitomized by the Bahnhofsviertel – introduces a complicated interplay between victuals and the renewing decay that recent immigrants suggest in the Kayankaya series. In “Bruder Kemal”, Kayankaya attempts to frame Erden Abakay for the death of Volker Rönnthaler; Kayankaya does not care about Rönnthaler, but rather the evidence that suggests that Abakay pimps underaged girls. Near the end of “Bruder Kemal”, Kayankaya must meet with Abakay to retrieve Malik Rashid, whom Abakay’s uncle kidnapped. Just before Abakay attacks Kayankaya, Kayankaya asks where Rashid is. Abakay responds, “[h]inten im Wagen. Hat sich vor Angst vollgeschissen, ist das ein Gestank!” (BK, 196) Then Abakay charges Kayankaya with surprising force. After being knocked to the ground and beaten, Kayankaya starts crawling towards a trash can. Abakay taunts him: “Willst du dich gleich selbst in den Müll wegwerfen?” (BK, 199). Abakay’s suggestion that Kayankaya throw himself away, Kayankaya’s regurgitation in this scene, and Rashid’s defecation reinforce the motif of ethnic decay in the series. Despite Kayankaya’s upwardly social trajectory and Rashid’s international education and renown as an author, they are still associated with trash and waste. While ethnic decay is not new to the series, what is new in “Bruder Kemal” is whither the accusation of decay comes: Erden Abakay, another German with Turkish ethnic roots. Thus, there has been a shift in who considers whom trash. In previous novels, white Germans advanced the negative connection between brownness and waste/decay. In “Bruder Kemal”, brown Germans make this accusation of

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each other. The final novel of the Kayankaya series shows, then, how Arjouni has pivoted away from a stale portrayal of brown Germans. Importantly, Abakay and Scheich Hakim victimize people the same way that white Germans do in previous novels: by abusing their positions of power. Furthermore, while Kayankaya has moved up in the world, he still sees himself as the figurative Müllman der Republik. Where in “Happy birthday, Türke”, “Mehr Bier”, and “Ein Mann, ein Mord” Kayankaya pursues crooked (white) police officers, in “Bruder Kemal” he pursues a fellow German with Turkish roots in Erden Abakay. Thus, ethnic decay breaks down the lines that define the roles brown people can play in Germany: they can be both victims and perpetrators. It also breaks down barriers of class: Kayankaya began the series on the margins of society in the Bahnhofsviertel, and now he finds himself in the middle, enjoying the fruits of his long labors. Perhaps the best demonstration of Kayankaya’s upward mobility comes from the nexus of food, waste, and disgust. The Kayankaya series is bookended with scenes of regurgitation. While trying to find out information about Ahmed Hamul in “Happy birthday, Türke!”, Kayankaya condescends to some strong rail station loaders. One of them rewards Kayankaya’s sharp tongue with a punch to the gut. When Kayankaya comes to his senses, he opens his eyes and sees a puddle next to him: it consists of beer, burnt burger meat, and peas (vgl. HbT, 33–35, 42). Comparing this instance of regurgitation to Kayankaya’s last in the series helps show Kayankaya’s transition from margin to middle. After pistol whipping Kayankaya, Abakay kicks Kayankaya in the stomach, which causes Kayankaya to vomit (vgl. BK, 196f.). A couple of days after Kayankaya’s altercation with Abakay, Octavian Tatarescu – a police officer and friend of Kayankaya’s – calls Kayankaya. Tartarescu tells him that the police found vomit found at the scene Abakay’s killing. Out of curiosity he (Octavian) called Deborah’s restaurant to find out what was served the night of the incident. Kayankaya breaks into a sweat: “Ziegenragout mit weißen Bohnen” (BK, 207). Kayankaya, for a change, has nothing to say. The implication is that the contents of the vomit found at the crime scene fits that dish. Octavian merely tells Kayankaya to lay low for the foreseeable future. Kayankaya thanks Octavian, hangs up the phone, and goes to his kitchen to take a shot of unnamed schnapps. In many ways, Kayankaya’s entry into the middle class is a maturation process through which he grows into his values and tastes. Kayankaya has always had a highly developed palate – he knows exquisite vodka when he tastes it, he thinks Irish stouts taste like “verdünnte Schuhe” (MB, 86; K, 259). By the end of the series, Kayankaya can not only tell beer from Fanta – unlike Weidenbusch, who supposedly cannot – but he can also distinguish good wine from a “wohl üblichen ‘guten Bordeaux’” (BK, 174). As such, Kayankaya transitions from defining himself at odds with wine drinkers to defining himself at odds with people who cannot discern quality. Similarly, he has always known what good food should

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taste like – even if he does not prepare it for himself. His relationship with Deborah shows how he moves from eating to survive without pleasure to enjoying gourmet meals. As such, Kayankaya’s diet throughout the series serves to reinforce Seeber’s point: “Kayankaya durchläuft einen Geschmackswechsel weg vom Außenseiter hin zu einem mittleren Geschmack, die Rezipienten verfolgen einen Versuch des Dikstinktionsgewinns durch Akkumulation der Kapitalien.”10

Whereby it must be stated that Kayankaya’s tastes were never middling. His taste for food and drink – just like his own biography – sets an example for what German culture could be and could look like, with and without typical markers of Germanness.

Bibliography Arjouni, Jakob: Brother Kemal. A Kayankaya Thriller. Brooklyn, London: Melville House 2013. Gissane, Lesley: Detecting Islam. (Mis)recognition and the Muslim Detective in Jakob Arjouni’s Kayankaya Crime Series. In: Journal of Commonwealth and Postcolonial Studies 4, H. 1, 2016, S. 41–60. Kniesche, Thomas W.: Vom Modell Deutschland zum Bordell Deutschland. Jakob Arjounis Detektivromane als literarische Konstruktionen bundesrepublikanischer Wirklichkeit. In: Mord als kreativer Prozess. Zum Kriminalroman der Gegenwart in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Hrsg. von Sandro M. Moraldo. Heidelberg: Winter 2005, S. 21–39. Leal, João: The making of saudade. National identity and ethnic psychology in Portugal. In: Roots and Rituals. The construction of ethnic identities. Hrsg. von Ton Dekker/John Helsloot/Carla Wijers. Amsterdam: Het Spinhuis 2000. S. 267–287. Moraldo, Sandro M.: Fremdheit in der ‘Heymat’ als Zuschreibung, Faszinosum und Bedrohung. Ein Versuch über Jakob Arjounis Bruder Kemal. In: Gewissheit und Zweifel. Interkulturelle Studien zum kriminalliterarischen Erzählen. Hrsg. von Sandra Beck/ Katrin Schneider-Özbek. Bielefeld: Aisthesis 2015, S. 79–97. O’Carroll, Cliona: “Cold Beer, Warm Hearts.” Community, Belonging and Desire in Irish Pubs in Berlin. In: Drinking Cultures: Alcohol and Identity. Hrsg. von Thomas M. Wilson. New York: Berg 2005, S. 43–64. Rippetoe, Rita Elizabeth: Booze and the Private Eye. Alcohol in the Hard-Boiled Novel. Jefferson/London: McFarland & Co 2004. Seeber, Stefan: Ich und die Anderen. Kemal Kayankaya auf dem Weg in die Bürgerlichkeit. In: Germanica 58: Le roman policier dans l᾽espace germanophone. Der Kriminalroman im deutschsprachigen Raum. Hrsg. von Elisabeth Kragl/Aurélie Le Née, 2016, S. 189– 198. 10 Seeber, Ich und die Anderen. 2016, S. 196.

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World Health Organization: Recorded alcohol per capita consumption, from 2010. (05.2018) (Zugriff am 05. 20. 2020).

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„Ich war Anfang fünfzig, ich erledigte meine Arbeit, zahlte meine Rechnungen, ich hatte es geschafft, mit dem Rauchen aufzuhören, trank fast nur noch gepflegt zwei, drei Bier am Abend oder ein paar Flaschen Wein mit Freunden, und ich plante mit Deborah unsere Zukunft. Heute Morgen, gerade eben noch, war ich rundum zufrieden aus der Haustür getreten und hatte mich mit einem Apfel in der Hand aufs Rad geschwungen.“ (BK, 34)

Der autodiegetische Erzähler, der hier spricht, ist Kemal Kayankaya, die Hauptfigur der gleichnamigen Detektivromanreihe von Jakob Arjouni. Zwischen der Veröffentlichung des ersten Kayankaya-Romans „Happy birthday, Türke!“ und der des letzten Teils, „Bruder Kemal“, liegen siebenundzwanzig Jahre. Der erste Roman beginnt am Geburtstagsmorgen des Privatdetektivs. Er wacht verkatert auf, nachdem er den vorherigen Abend Chivas trinkend mit einem Nachbarn verbracht hat: „Die Sonne stand schon weit oben und blinzelte mir zu. Ich trank Kaffee, spukte Satz auf die Küchenkacheln und versuchte, mich an den letzten Abend zu erinnern. […] Ich holte eine offene Büchse Heringssalat aus dem Kühlschrank und stocherte mißmutig drin herum. Die blaugrau schillernde Haut der Fischstücke glänzte im Sonnenlicht. […] Ich schmiß die Büchse in den Abfall, machte eine Flasche Bier auf und zündete mir eine Zigarette an.“ (HbT, 5f.)

Wie die beiden Szenen zeigen, hat sich die Figur merklich verändert. Aber nicht nur sie, auch die Rahmenbedingungen, wie beispielsweise das gesellschaftliche Leben Deutschlands und die Stadt Frankfurt sind einem Wandel unterlegen. In diesem Aufsatz soll die Figur Kemal Kayankaya im Wandel der Zeit und das Werk Arjounis im Vordergrund stehen. Die dadurch entstandenen Veränderungen werden mit Hilfe eines Vergleichs zwischen dem Debütroman und dem Abschlusswerk des Autors aufgezeigt. Die zu untersuchenden Aspekte sind hierbei die narrative Struktur der beiden Romane, das Älterwerden der Hauptfigur und, wie sie in Beziehung zu bestimmten Nebenfigur-Typen steht. Immer im Blick behalten werden soll hierfür der Werkkontext – das Genre, dem Ar-

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jounis Detektivromane zuzuordnen sind1 und der Werdegang des Autors – und wie dieser die beiden Kayankaya-Romane beeinflusst haben könnte. Die narrative Struktur ist grundlegend für dieses Vorhaben und dient deswegen als Ausgangspunkt der Analyse. Der Aufbau der beiden Kayankaya-Romane weist entscheidende Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten auf. In den ersten drei Detektivromanen hält sich Arjouni strikt an das Schema des hardboiled-Krimis,2 welches in den erst später erschienenen Romanen „Kismet“ und „Bruder Kemal“ aufgeweicht wird.3 Der erste Kayankaya-Roman ist in drei Tage unterteilt. Am ersten Tag bekommt Kayankaya den Auftrag, Ahmed Hamuls Mörder zu finden, und der zweite Tag ist von mehr oder weniger erfolgreichen Ermittlungsarbeiten geprägt. Am dritten Tag kommt es dann zu einer schnellen Auflösung. Die Handlung des letzten Romans dagegen erstreckt sich über mehrere Tage, sogar Wochen hinweg. Das Vergehen der Zeit wird zwar thematisiert, aber nicht mehr so stark in den Fokus gerückt wie durch die schematische Dreiteilung. Das wäre auch gar nicht möglich, denn ein besonderes Kennzeichen des Romans ist die Doppel-Fall-Struktur. Am Anfang bekommt Kayankaya zwei Aufträge, die beide recht einfach scheinen und nichts miteinander zu tun haben. Erst Kayankayas Handeln im Fall Abakay führt dazu, dass sein Klient, der Autor Malik Rashid, durch eine Entführung mithineingezogen wird. Ironischerweise 1 Jakob Arjouni gilt als der „Mann, der den deutschsprachigen Kriminalroman revolutionierte“ (Brylla, Wolfgang: ‚Chandlerisierung‘ des deutschen Kriminalromans. Zu Jakob Arjounis literarischem Krimikonzept. In: Estudios fiológicos alemanes 26, 2013, S. 551–556, hier S. 552). In der Forschung werden seine Detektivromane eindeutig dem hardboiled-Genre zugeordnet. Vgl. hierzu zusätzlich Wilczek, Reinhard: Von Sherlock Holmes bis Kemal Kayankaya. Kriminalromane im Deutschunterricht. Seelze: Klett Kallmeyer 2007, S. 94. Arjouni selbst sagt, dass er „mit zwölf zum ersten Mal ‚Rote Ernte‘ von Hammett gelesen“ habe (so der WikipediaArtikel zu Jakob Arjouni. (Zugriff am 24. 05. 2020)), wodurch sich der Einfluss der hardboiled-Krimis auf sein Werk nur schwer abstreiten lässt. Volker Neuhaus unterstellt Arjouni sogar „die Unverfrorenheit, den Anfang der deutschen Übersetzung von Hammetts Red Harvest, Bluternte, dem eigenen Text einzuverleiben, für den Nichtfan unmerklich, für den Kenner Gag und Hommage zugleich“ (Neuhaus, Volker: „Zu alt, um nur zu spielen“. Die Schwierigkeit der Deutschen mit dem Kriminalroman. In: Mord als kreativer Prozess. Zum Kriminalroman der Gegenwart in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Hrsg. von Sandro M. Moraldo. Heidelberg: Winter 2005, S. 9–19, hier S. 17). 2 Damit sind die klassischen Elemente gemeint, die einen Detektivroman der hardboiled school ausmachen und die Wolfgang Brylla in Bezug auf die Romane Arjounis hinreichend ausgearbeitet hat. Vgl. Brylla, Chandlerisierung. 2013, S. 551–556. 3 Es erfolgt deshalb eine Aufteilung in zwei Phasen: „Die Texte der ersten Phase halten sich strikter an das hard-boiled-Schema, wogegen die späteren Texte, besonders ‚Bruder Kemal‘, von diesem Schema in einigen markanten und markierten Aspekten abweichen, ohne es aber gänzlich zu verlassen.“ (Aust, Robin-M.: Grenzüberschreitungen: Jakob Arjounis KayankayaRomane zwischen hardboiled detective und Migrationsthematik. In: Germanica 58: Le roman policier dans l’espace germanophone. Der Kriminalroman im deutschsprachigen Raum. Hrsg. von Elisabeth Kargl/Aurélie Le Née, 2016, S. 199–210, hier S. 201).

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trägt dies sogar positiv zum Image des Autors bei, was zugleich unausgesprochenes Ziel des ursprünglichen Auftrags des Personenschutzes war.4 Gleichzeitig ist diese Doppel-Fall-Struktur allerdings eine deutliche Abweichung von den früheren Romanen und damit vom hardboiled-Schema. Denn dort „existieren keine zwei separaten Ermittlungen. Es gibt nur die EINE Ermittlung, die zwei Sachverhalte miteinander verknüpft“5. Auch wenn durch die Verquickung der beiden Fälle in „Bruder Kemal“ ein ähnliches Verhältnis entsteht, lässt sich nicht leugnen, dass es zwei Ermittlungen sind, denn es gibt zwei Auftraggeber. Neben diesem Unterschied weisen die beiden Kayankaya-Romane auch eine Gemeinsamkeit auf: Es gibt ein „Ende nach dem Ende“6. In „Happy birthday, Türke!“ werden die mit Drogen handelnden Polizisten gefasst und Kayankaya dreht es so, dass sie auch wegen des Mordes an Ahmed Hamul verdächtigt werden, wodurch der Fall als gelöst erscheint. Doch der Privatdetektiv kennt den wahren Mörder, dessen Schwager Yilmaz Ergün. In „Bruder Kemal“ wurde Abakays Kumpane ermordet, doch Kayankaya hängt den Mord Erden Abakay selbst an. Der kann nicht mehr dafür zur Rechenschaft gezogen werden, denn der Detektiv hat ihn zuvor, aus Notwehr, erschossen. Dennoch weiß der Privatdetektiv, wer ihn in Wahrheit umgebracht hat, nämlich Edgar Hasselbaink, der seine Tochter beschützen wollte. Demnach weisen die beiden Romane auch hier eine Gemeinsamkeit auf: „Letztlich geht es […] um ein Familiengeheimnis“7. Der Schwager mordet aus Eifersucht, der Vater wegen seines Beschützerinstinkts. Der Privatdetektiv dagegen hat viel mehr herausgefunden als das, wofür er eigentlich engagiert wurde und sein Ziel, „die Wiederherstellung dessen, was er als Ordnung empfindet“,8 erreicht. Das fehlende Happy End, das Sandro Moraldo als „Grundmuster von Arjounis Kriminalromanen“9 bezeichnet, lässt sich allerdings nicht für das Ende von „Bruder Kemal“ feststellen. Der letzte Satz „Dann durfte ich sie endlich küssen“ 4 Dieser ironische Zufall ist typisch für die Ermittlungen des Detektivs, denn er löst „seine Fälle eher durch Zufall und Intuition als durch analytische Brillanz“ (Seeber, Stefan: Ich und die Anderen. Kemal Kayankaya auf dem Weg in die Bürgerlichkeit. In: Germanica 58: Le roman policier dans l’espace germanophone. Der Kriminalroman im deutschsprachigen Raum. Hrsg. von Elisabeth Kargl/Aurélie Le Née, 2016, S. 189–198, hier S. 193). 5 Brylla, Chandlerisierung. 2013, S. 562. 6 Kniesche, Thomas W.: Vom Modell Deutschland zum Bordell Deutschland. Jakob Arjounis Detektivromane als literarische Konstruktionen bundesrepublikanischer Wirklichkeit. In: Mord als kreativer Prozess. Zum Kriminalroman der Gegenwart in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Hrsg. von Sandro M. Moraldo. Heidelberg: Winter 2005, S. 21–39, hier S. 30. 7 Ebd. 8 Aust, Grenzüberschreitungen. 2016, S. 203. 9 Moraldo, Sandro M.: Fremdheit in der ‚Heymat‘ als Zuschreibung, Faszinosum und Bedrohung. Ein Versuch über Jakob Arjounis Bruder Kemal. In: Gewissheit und Zweifel. Interkulturelle Studien zum kriminalliterarischen Erzählen. Hrsg. von Sandra Beck/Katrin SchneiderÖzbek. Bielefeld: Aisthesis 2015, S. 79–97, hier S. 97.

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(BK, 225) klingt eher nach einem klassisch-kitschigen Happy End. Ob sich der Autor dieses Happy End für seine Figur gewünscht hat und deswegen vom Schema des hardboiled detective abgewichen ist? Es ist anzunehmen, dass er „Bruder Kemal“ in dem Wissen schrieb, dass es sein letzter Roman sein würde, da er zu diesem Zeitpunkt bereits an Krebs erkrankt war.10 Dies legt die Vermutung nahe, dass er sich seiner Lieblingsfigur noch einmal zuwendete, um sie alt und glücklich werden zu lassen.11 Von alt und glücklich ist der Sechsundzwanzigjährige Kemal Kayankaya im ersten Detektivroman allerdings noch weit entfernt. Stattdessen steht er noch am Anfang seiner Karriere. Seinen bisherigen Lebensweg beschreibt der autodiegetische Erzähler folgendermaßen: „Ich machte ein durchschnittliches Abitur, fing an zu studieren, hörte wieder auf, verbrachte die Zeit hiermit und damit und bewarb mich vor drei Jahren um eine Lizenz für Privatermittlungen.“ (HbT, 10) Diese Schilderung erinnert stark an eine Selbstaussage des Autors über sein eigenes Leben: „Nach dem Abitur nach Montpellier, Südfrankreich. Abgebrochenes Studium. Zweieinhalb Jahre Arbeit als Kellner, Badeanzug- und Erdnussverkäufer. Ersten Roman geschrieben.“12 Jakob Arjouni und seine Figur wissen beide am Anfang noch nicht, wohin sie ihr Lebensweg führt. Ein Studium ist nicht das Richtige, erst später zeigt sich ihre wahre Berufung. Für Arjouni ist es das Schreiben und seine Figur ist ein guter Privatdetektiv. Auch wenn Kayankaya die romantisierte Vorstellung, die er von dem Beruf hatte, bereits abgelegt hat: „Na, ja. Inzwischen weiß ich auch, es ist vollkommen egal, ob ich da bin oder nicht. Ich mache meine Arbeit so gut es geht, das ist alles.“ (MB, 115) Nicht nur der Werdegang ist eine Parallele zwischen dem Autor und seiner Figur, sondern auch und vor allem der Handlungsort. Schauplatz aller Kayankaya-Romane ist die Stadt Frankfurt am Main, ihr Bahnhofsviertel und ihre Vorstädte. In Frankfurt ist Jakob Arjouni aufgewachsen13 und damit gibt er seiner 10 Vgl. Buß, Christian: Zum Tode Jakob Arjounis. Heimat, das ist eine Dose Bier (2013). (Zugriff am 24. 05. 2020). 11 Ein weiteres Indiz für diese Vermutung ist die Zueignung seines Werks „Bruder Kemal“. (Ich beziehe mich für den Begriff der Zueignung auf die Definition Gérad Genettes. Vgl. hierzu: Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Aus dem Französischen von Dieter Hornig, 5. Auflage. Sinzheim: Suhrkamp 2014, S. 115.) Zuvor verzichtete Arjouni in seinen Romanen auf diese Art der „Huldigung“ (ebd., S. 117), doch seinen letzten Roman widmete er seiner Frau Miranda und seinen Kindern Lucy und Emil. Dieser Peritext unterstreicht die enge Beziehung, die Arjouni zu seiner Figur Kemal hatte und die er in einem Interview verriet: „[g]anz vertraut. Wie Familie“ Seiler, Christian: Kayankaya ist zurück. In: Diogenes Magazin 11, 2012, S. 6. 12 Wikipedia-Artikel zu Jakob Arjouni. (Zugriff am 24. 05. 2020). 13 o. A.: Eintrag „Arjouni, Jakob“ (2013). (Zugriff am 26. 11. 2022).

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Figur seine Heimat als Handlungsraum.14 Das Bahnhofsviertel nimmt dabei eine besondere Stellung ein, denn dort befindet sich seit Beginn seiner Karriere das Büro des Privatdetektivs. Es ist nicht das gleiche geblieben, denn das Gebäude wurde bei vergangenen Ermittlungen zerstört (vgl. K, 175–177). Und wenn es auch nur ein „vorübergehender Ersatz“ (BK, 36) sein sollte, so ist Kayankaya dem Bahnhofsviertel treu geblieben. Nichtsdestotrotz hat er sich weiterentwickelt: Das Türschild des alten Büros trug die Inschrift „Kemal Kayankaya Privatermittlungen“ (HbT, 9), auf dem Schild des neuen Büros steht: „Kemal Kayankaya – Ermittlungen und Personenschutz“ (BK, 36). Diese Veränderung ist wichtig, da sie erstens anzeigt, dass sich der Ermittler beruflich weiterentwickelt hat und zweitens die parallele Gestaltung der beiden Romane verdeutlicht. Bei seiner Arbeit als Privatdetektiv bedient sich Kayankaya sowohl der „Manneskraft als auch d[er] Rede- und Wortkraft“,15 wie es für einen hardboiled detective üblich ist. Im Zuge seiner Ermittlungen gerät Kemal Kayankaya kurz hintereinander in zwei Prügeleien. Oft verbindet er dabei seine körperliche Schlagkraft mit seiner sprachlichen Schlagfertigkeit, die sich in dem für ihn so typischen Sarkasmus äußert: „‚Wieviel von so ’nem Goldzahn zahlt denn die Kasse?‘ ‚Wieso?‘ ‚Bin am überlegen, ob ich dich zu ’ner Runde einlade.‘“ (HbT, 53). In „Bruder Kemal“ erwartet den Privatermittler nicht mehr an jeder Straßenecke eine Prügelei. Dafür nennt er selbst einen Grund: „Ich hatte zu lange nicht mehr in üblen Absteigen verkehrt.“ (BK, 196).16 Nichtsdestotrotz kommt es am Ende zu einem Kampf mit Erden Abakay, den Kayankaya mit seinem gewohnten Sarkasmus einleitet: „‚Hallo, Abakay. Der elegante Ausdruck – man merkt doch gleich, dass man es hier mit einem sozial engagierten Feingeist zu tun hat. Was macht die Fotokunst?‘ Er war stehen geblieben, stutzte, dann mit übertrieben aufgerissenem Mund und wegwerfender Handbewegung: ‚Ach, du Pisser!‘“ (BK, 195).

Die anschließende Prügelei ist brutal und heftig. Sie erscheint durch die besondere Stellung am Ende des Romans und den tödlichen Ausgang wie eine

14 Wahrscheinlich rührt daher, die familiäre Nähe, die er zu seiner Figur Kemal Kayankaya spürt. Vgl. Seiler, Kayankaya ist zurück. 2012, S. 6. 15 Brylla, Chandlerisierung. 2013, S. 560. 16 Damit spielt er auf das in den Romanen allgegenwärtige Bahnhofsviertel an. Besonders im ersten Kayankaya-Roman treibt sich der junge Detektiv oft dort herum. Jede Gelegenheit, ein Bier zu trinken, nutzt er; auch während der Arbeit. Damit entspricht der junge Kemal dem Bild des hardboiled detective, „der innerhalb der anonymen oder bedrohlichen Welt der Großstädte“ agiert (Buchloh, Paul G./Becker, Jens P.: Der Detektivroman. Typologische Problematisierung. In: Der Anti-Detektivroman. Zwischen Identität und Erkenntnis. Hrsg. von Mirko F. Schmidt. Paderborn: Fink 2014, S. 13–37, hier S. 31). Der ältere Kemal hat dieses Verhalten abgelegt und verbringt seine Pausen stattdessen Espresso trinkend in Cafés (vgl. BK, 80).

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Hommage an die vielen Schlägereien des jüngeren Kayankayas und damit an das Dasein als hardboiled detective. Ein weiteres Merkmal des hardboiled detectives ist dessen fragwürdige moralische Integrität.17 Auch Kayankaya handelt immer nach seinen eigenen Moralvorstellungen. Der Autor Jakob Arjouni beschreibt diesen Umstand wie folgt: „Kayankaya entwickelt seine Moral von Fall zu Fall, von Moment zu Moment neu, und anders geht’s ja auch gar nicht.“18 Als Privatdetektiv kennt er die Gesetze, setzt sich aber bewusst über sie hinweg und handelt nach seiner eigenen Moral. Sowohl in „Happy birthday, Türke!“ als auch in „Bruder Kemal“ bedeutet das, dass er den wahren Mörder davonkommen lässt und die Tat einem anderen anhängt, der zwar nicht schuldig, in seinen Augen aber der wahre Bösewicht ist. Am Ende seiner Ermittlungen stellt er Yilmaz Ergün und Edgar Hasselbaink persönlich zur Rede. Diese Szenen sind ähnlich angelegt, laufen aber auf unterschiedliche Ergebnisse hinaus, denn das Verhältnis zwischen den Gesprächskontrahenten ist ein anderes. Kayankaya ist Yilmaz Ergün moralisch überlegen und spielt diese Überlegenheit aus. Der Maler Edgar Hasselbaink weiß sich zu wehren, indem er Kayankaya den Mord an Abakay vorhält. Auch wenn er diesen nicht für seine Auftraggeberin, Valerie de Chavannes, begangen hat, kann es für Außenstehende so aussehen. Kayankaya ist sozusagen in seine eigene Falle getappt. Im letzten Kayankaya-Roman wird seine vermeintliche moralische Überlegenheit erstmals in Frage stellt: „Sie stellen also Ihre eigenen Regeln über die der Allgemeinheit, wissen besser, was Recht und Unrecht ist?“ (BK, 184). Und damit wird auch das hardboiled-Schema in Zweifel gezogen. Arjounis Privatdetektiv ist allerdings nicht nur als hardboiled detective bekannt geworden, sondern auch durch seinen Migrationshintergrund. Als „Türke von Geburt“ (HbT, 9) spielt die Fremdwahrnehmung bei Kayankaya eine große Rolle. Er wird von Fremden oft eindeutig als Türke wahrgenommen19 und ist sich dessen auch bewusst.20 Er selbst betrachtet sich allerdings als Deutscher, da er „in 17 Vgl. Buchloh/Becker, Der Detektivroman. 2014, S. 31. 18 Seiler, Kayankaya ist zurück. 2012, S. 7. 19 Vgl. Zeller, Regine: ‚Türkischer‘ Detektiv mit doppeltem Bewusstsein. „Happy birthday, Türke!“ und die stereotypen Bilder des Fremden. In: Gewissheit und Zweifel. Interkulturelle Studien zum kriminalliterarischen Erzählen. Hrsg. von Sandra Beck/Katrin Schneider-Özbek. Bielefeld: Aisthesis 2015, S. 41–57, hier S. 44. 20 Ironischerweise hielt sich zeitlebens das Gerücht, der Autor Jakob Arjouni sei selbst DeutschTürke. Dafür ist wohl v. a. der fremdklingende Nachname verantwortlich, auch wenn er ihn von seiner marokkanischen Ehefrau übernommen hat. Vgl. Moraldo, Fremdheit in der ‚Heymat‘. 2015, S. 80. Morlado überlegt, dass dies eine Strategie des Autors sein könnte, „die vermeintliche Fremdwahrnehmung von der Fiktion in die Realität zu verlegen und ab absurdum zu führen“ (Moraldo, Sandro M.: „Türke von Geburt“ und „Staatsbürger der Bundesrepublik“. Überlegungen zum irregulären Lebenslauf von Jakob Arjounis Privatermittler Kemal Kayankaya. In: Annali di Ca’ Foscari. Serie occidentale 54, 2020, S. 69–86, hier S. 71). Ich möchte diese Theorie stützen und auf die enge Beziehung zwischen dem Autor und seiner

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einer durch und durch deutschen Umgebung auf[wuchs]“ (HbT, 10).21 Nichtsdestotrotz weiß er sein fremdländisches Aussehen für seine Ermittlungen zu nutzen, beispielsweise wenn er sich als türkischer Botschafter bei der Polizei ausgibt, um an Informationen zu gelangen (vgl. HbT, 28). Auch in „Bruder Kemal“ nutzt er sein Aussehen, um in eine andere Identität zu schlüpfen. Er gibt sich in diesem Fall allerdings nicht als Türke, sondern als Italiener aus: „Ich bin von der Polizei. Paolo Magelli, zivile Spezialeinheit.“ (BK, 55). Seine eigentliche Identität als Deutscher wird ihm allerdings entweder nur am Telefon oder wenn er sich eine Begründung für seinen südländischen Teint überlegt, abgenommen: „Ei naa, Bubsche, isch war zwaa Woche uff Maijorga.“ (HbT, 27) „Bei all dem spielt die Sprache eine große Rolle, springt Kayankaya doch problemlos zwischen Hessisch, Standard-Deutsch, Bayrisch und Straßen-Slang hin und her, wie es ihm gerade nützlich ist.“22 Umso lächerlicher ist es, wenn er auf der Straße rassistischen Anfeindungen ausgesetzt ist, die im Xenolekt formuliert sind, da davon ausgegangen wird, dass er kein Deutsch versteht: „Hier Deutschland! Nix Türkei! Hier kommen Bierdosen in Mülleimer, und… ähm, türkisch Mann zur Müllabfuhr!“ (HbT, 17). Solchen Anfeindungen ist Kemal Kayankaya in „Bruder Kemal“ nicht mehr ausgesetzt. Er ist auch kein „heldenhafter Außenseiter“23 mehr, der sich von anderen abgrenzt. Stattdessen hat er ein stabiles soziales Umfeld, bestehend aus Figuren, die er im Laufe der anderen Romane kennengelernt hat. In „Mehr Bier“ lernte er seinen besten Freund Slibulsky kennen und die Prostituierte Deborah, mit der er in „Kismet“ eine lose Beziehung führte, ist am Ende zu seiner festen Partnerin geworden. Mit ihr wohnt der Detektiv im Westend, „also der gehobenen Wohngegend des Bürgertums“24 und entspricht selbst „den gängigen Klischees und Stereotypen“,25 die er lange Zeit belächelte.26 Nicht länger gehören

21 22 23 24 25 26

Figur hinweisen: „Kayankaya ist mir viel näher als die meisten anderen Figuren, über die ich geschrieben habe.“ Seiler, Kayankaya ist zurück. 2012, S. 7. Arjouni sieht Kayankaya als einen Freund (vgl. Senn, Claudia: Bücherwelt. Ein Interview mit dem Schriftsteller Jakob Arjouni (2012). (Zugriff am 24. 05. 2020)) und könnte die Absicht gehegt haben, die Probleme seiner Figur in der Realität widerzuspiegeln. Moraldo wies erst kürzlich die Aussage, Kayankaya habe eine deutsch-türkische Identität, entschieden zurück, da er sich selbst als Deutscher wahrnehme. Vgl. Moraldo, „Türke von Geburt“. 2020, S. 76. Zeller, ‚Türkischer‘ Detektiv mit doppeltem Bewusstsein. 2015, S. 51. Seeber, Ich und die anderen. 2016, S. 192. Ebd., S. 195. Moraldo, Fremdheit in der ‚Heymat‘. 2015, S. 88. V. a. in „Happy birthday, Türke!“ verspottet Kayankaya die Spießigkeit der Vorstadtbürger. So ist beispielsweise die Beschreibung von Nieder-Eschbach, der Vorstadt, in der die Löffs wohnen, nicht nur klischeehaft, sondern v. a. ironisch: „Drumherum ein niedriger […] Jä-

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„Saufen, langes Schlafen und Unordnung“27 zum Alltag des Privatdetektivs. Stattdessen kümmert er sich um die Nichte seiner Freundin und denkt über ein Familienleben nach: „Zum ersten Mal wurde ich neugierig, wie so ein Gefühl wohl sein mochte“ (BK, 93). Dadurch hat Kayankaya „[e]rstmals […] etwas zu verlieren“28. Dass das Paar seine Vergangenheit nie ganz hinter sich lassen wird, wird zum Schluss deutlich, als Deborah Kemal erzählt, dass sie schwanger ist: „Mir blieb der Mund offen, dann sagte ich: ‚Ach was!‘ Im selben Moment überkam mich ein Grinsen, und es glitt mir einfach von der Zunge: ‚Von wem?‘“ (BK, 225). Der Privatdetektiv ist zwar älter und auch reifer geworden, ist aber nach wie vor nicht um eine witzige Antwort und einen flotten Spruch verlegen. Neben dem sozialen Umfeld hat sich auch das Arbeitsumfeld des Privatdetektivs gewandelt. Steht er am Anfang dem Polizeiapparat, aufgrund der korrupten Machenschaften, skeptisch gegenüber, so scheint er im Laufe der Jahre etwas Vertrauen gefasst zu haben.29 In beiden Romanen gibt es zwar jeweils eine Helferfigur, die auf der Seite der Polizei steht und zu der der Detektiv eine Beziehung hat, aber diese Beziehung fällt in dem jeweiligen Roman sehr unterschiedlich aus. Den „ehemaligen Kripokommissar […] Theobald Löff“ (HbT, 85) bittet er nur wegen dessen Beziehungen zur Polizei um Hilfe, nicht weil er ihn besonders schätzt. Im Gegenteil, oft behandelt Kayankaya den Kommissar sehr geringschätzend und obwohl er auf seine Hilfe angewiesen ist, weiht er ihn nicht in seine Ermittlungen ein: „‚Herr Kayankaya, was halten Sie davon, mir endlich zu erklären…‘ ‚Nichts. Ich kann Ihnen noch nichts erklären. Entweder Sie helfen mir, ohne viel zu fragen, oder Sie lassen es bleiben.‘“ (HbT, 130) Anders verhält es sich mit dem polizeilichen Helfer aus dem letzten Kayankaya-Roman: Octavian Tatarescu. Ihn spannt der Privatdetektiv zwar auch nur in seine Ermittlungen ein, doch zwischen den beiden besteht eine Verbundenheit und Freundschaft. Das liegt v. a. an den Umständen unter denen sie sich kennengelernt haben, wie der autodiegetische Erzähler in einer Rückwendung berichtet (vgl. BK, 81–85). Denn der Polizist ist ebenfalls nicht gebürtiger Deutscher und so geraten sie, „ein Rumäne und ein Türke, dann in eine Art Heimatrausch“ gerzaun mit scharfen Spitzen, zu nichts anderem gut, als fallenden kleinen Kindern die Augen auszustechen“ (HbT, 86). 27 Brylla, Wolfgang: „Kayankaya am Tatort“. Raumdarstellung im modernen deutschen Kriminalroman „Happy birthday, Türke!“ von Jakob Arjouni. In: Studia Niemcoznawcze 43, 2009, S. 279–290, hier S. 281. 28 Seeber, Ich und die anderen. 2016, S. 195f. 29 Das „System, das durch Korruption von innen aufgefressen wird“ (Brylla, Chandlerisierung. 2013, S. 555) ist typisch für den hardboiled-Roman. So stehen beispielsweise sowohl in „Happy birthday, Türke!“ als auch in „Ein Mann, ein Mord“ die korrupten Polizisten im Fokus der Ermittlungen. Dass dieses Element in „Bruder Kemal“ fehlt, ist daher bezeichnend für die Andersartigkeit dieses letzten Romans.

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(BK, 84). Dabei ist Octavian das perfekte Gegenstück zu Kemal. Dieser sieht nämlich „trotz seines Namens und der rumänischen Herkunft wie Hans-Jörg aus Kleindings aus, oder anders: Er sah aus, wie sich viele Leute in der Welt einen deutschen Polizisten vorstellten“ (BK, 80). Was, wie eben ausgeführt, auf Kayankaya nicht zutrifft. Nichtsdestotrotz ist das „Ausländersein“ eine Sache, die sie ebenso verbindet wie ihr „Heimischsein[]“ (BK, 85) in Deutschland. Zusätzlich zu den Helferfiguren sind die Klienten ein weiterer wichtiger Bestandteil einer Detektivgeschichte. In den zu untersuchenden Romanen handelt es immer um weibliche Klientinnen. Das ist interessant, da sie den Privatdetektiv alle aus dem gleichen Grund auswählen: Sie denken, er sei Türke. Die beiden Klientinnen aus „Bruder Kemal“ sehen darin einen Vorteil für ihren Auftrag. „Darum haben Sie Kayankaya angerufen und nicht Müller oder Meier. Weil Sie dachten, ein Kayankaya sollte wissen, wie man mit Migrationshintergründen umgeht.“ (BK, 12), entlarvt der Ermittler die Absichten seiner Klientin Valerie de Chavannes. Die zweite Auftraggeberin, Katja Lipschitz, geht davon aus, dass er, wie der Autor Malik Rashid, den sie vertritt, auch Moslem sei (vgl. BK, 46). Als sie erfährt, dass dem nicht so ist, konfrontiert der Privatdetektiv sie mit den Vorurteilen, die die Leute nichtsdestotrotz haben werden: „Ich heiße Kayankaya und sehe so aus, wie ich aussehe. Ich weiß nicht, wie muslimisch ich nach religiösem Recht bin, aber fragen Sie irgendeinen meiner Nachbarn, er wird es Ihnen sagen können.“ (BK, 46). Die Absichten der Klientin Ilter Hamul aus „Happy birthday, Türke!“ sind nicht von derlei Vorurteilen geprägt. Sie hatte einfach auf einen Landsmann gehofft. „Sie hatte im Branchen-Telefonbuch unter Detekteien nachgesehen und mit Freude unter den ganzen Müllers einen türkischen Namen entdeckt.“ (HbT, 14). Nichtsdestotrotz spiegelt sich in allen drei Fällen die bereits erwähnte problematische Fremdwahrnehmung Kemal Kayankayas wider. Die beiden Klientinnen Ilter Hamul und Valerie de Chavannes werden in ihrer Weiblichkeit sehr unterschiedlich inszeniert. Ilter Hamul wird als „kleine Türkin im Trauerflor mit dicken goldenen Ohrringen“ (HbT, 11) beschrieben. „Ihre Haare hatte sie zum strengen Zopf geflochten, und unter den Augen hingen Schatten“ (HbT, 11). Viel mehr erfahren die Lesenden nicht über sie. Das Unscheinbare wird nur noch weiter betont, indem Kayankaya sie gar nicht als Frau wahrzunehmen scheint. In der Erzählung werden ihre Reaktionen auf vergegenständlichte Weise beschrieben: „Die Ohrringe wackelten bedenklich“ (HbT, 12) oder „Ihre Ohrringe schlenkerten ein bißchen hin und her“ (HbT, 14). Ihr Aussehen und ihre Emotionen scheinen dabei keine Rolle zu spielen. „Die Türkin ist nicht der Typ Frau, der den Detektiv ins Unglück stürzen könnte.“30 30 Brylla, Chandlerisierung. 2013, S. 558. An dieser Stelle ein kurzer intermedialer Exkurs: In der 1992 erschienenen gleichnamigen Romanverfilmung von Doris Dörrie wurde die Figur der

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Valerie de Chavannes dagegen schon. Sie entspricht dem klassischen Bild der Femme fatale. Obwohl es zuvor schon unterschiedlich besetzte Motive der Femme fatale in den anderen Romanen gab,31 ist Valerie de Chavannes „ihre unverhohlene Umsetzung“32. Sie ist eine Versuchung für Kayankaya mit ihrem „Ich-denke-immer-nur-an-das-eine-Blick!“ (BK, 9) und ihrer auf den Bauch „tätowierten Schlange“ (BK, 7). Für den Privatdetektiv ist seine Klientin eine Erinnerung an die alten Zeiten, als er sich wie in „Happy birthday, Türke!“ noch häufig im Bahnhofsviertel und mit Prostituierten herumgetrieben hat. Zumindest vermutet er bei Valerie de Chavannes eine solche Vergangenheit (vgl. BK, 132). Deshalb führt der kurze Kuss, zu dem sie ihn verführt (vgl. BK, 209f.), zu einem „Beinahe-Rückfall in die alten Gewohnheiten“33. Nach einem gelösten Fall suchte der Detektiv bisher des Öfteren eine Kneipe im Bahnhofsviertel auf, um sich zu betrinken (vgl. z. B. HbT, 163). Diesmal fährt er „[o]hne darüber nachzudenken […] durch die sternenklare Nacht Richtung Bahnhofsviertel“ (BK, 223). Doch der Moment der Versuchung ist schnell vorbei und er geht nach zwei Bier erleichtert nach Hause, um dort auf Deborah zu warten (vgl. BK, 224). Die Untersuchung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Romane „Happy birthday, Türke!“ und „Bruder Kemal“ hat ergeben, dass sie trotz der siebenundzwanzig Jahre, die zwischen ihren Veröffentlichungen vergangen sind, mehr gemeinsam haben, als es zu Beginn den Anschein hat. Immer wieder wurden in der Analyse Aspekte hervorgehoben, die den ersten Roman eindeutig mit dem letzten in Verbindung bringen. Dies geschieht entweder durch Gegensätze, wie beispielsweise die Abweichung vom hardboiled-Schema oder durch Gemeinsamkeiten, wie die parallele Gestaltung der Enden. Beides ist so inszeniert und konzipiert, dass Parallelen entstehen, die den Fokus auf die Veränderungen im Allgemeinen und auf die der Figur Kemal Kayankaya im Besonderen richten. So zeigt sich z. B., dass der Detektiv kein reiner hardboiled detective mehr ist. Er ist weicher geworden, wie sein Umgang mit den Helferfiguren verdeutlicht. Gleichzeitig wird immer wieder hervorgehoben, dass sich der Ilter Hamul völlig gegensätzlich zur Vorlage umgesetzt. Sie übt eine starke Anziehungskraft auf den Detektiv aus. Diese wird durch das blaue Tuch, das sie in der ersten gemeinsamen Szene getragen und bei ihm vergessen hat und im Laufe der Handlung nicht zurückhaben möchte, verdeutlicht. Die Anziehung scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen, denn nach ihrem Geständnis: „Ich glaube, ich möchte Sie gerne in den Arm nehmen“ (Dörrie, Doris (Regie/Drehbuch): Happy Birthday, Türke! Deutschland: Cobra/ZDF, 1992, etwa 01:14:32) verbringen sie die Nacht gemeinsam in seinem Büro. Es ist ein spannendes Verhältnis zwischen dem Film und den Romanen entstanden. Weicht die Verfilmung in diesem Punkt stark von der Vorlage ab, so scheint sich Jakob Arjouni Jahre später davon inspirieren zu lassen und inszeniert die Beziehung zwischen Valerie de Chavannes und Kemal Kayankaya auf ähnliche Weise. 31 Vgl. Aust, Grenzüberschreitungen. 2016, S. 209. 32 Ebd., S. 209. 33 Seeber, Ich und die anderen. 2016, S. 195.

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Charakter Kayankayas kaum geändert hat und er nach wie vor seinen eigenen moralischen Vorstellungen treu bleibt. Ebenso sind ihm sein Sarkasmus und seine Schlagfertigkeit geblieben, die es ihm ermöglichen, sich jeder Situation – beruflich wie privat – anzupassen. Der Wandel der äußeren Umstände spielt dabei ebenfalls eine Rolle, da sich durch das Verändern der Stadt Frankfurt und der Gesellschaft auch die Arbeit des Detektivs wandelte, wie beispielsweise sein erweitertes Tätigkeitsfeld zeigt. Die Untersuchung seines sozialen Umfelds hat überdies ergeben, dass er kein Underdog mehr ist, sondern dem Spießbürgertum nun näher steht als ihm lieb ist. Und obwohl Kayankaya sich in so vielen Punkten gewandelt hat, zeigt der Vergleich der Klientinnen, dass die Fremdwahrnehmung doch immer die gleiche bleiben wird. Mit dem Abschluss der Detektivromanreihe hat Jakob Arjouni seine Figur nicht einfach nur altern, sondern sie den Wandel der Zeit verdeutlichen lassen. Demnach kann wahrhaftig behauptet werden, dass „[d]as aufrichtig versöhnliche Werk […] zu Arjounis Vermächtnis geworden“34 ist.

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34 Buß, Christian: Zum Tode Jakob Arjounis. Heimat, das ist eine Dose Bier (2013). (Zugriff am 24. 05. 2020).

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Kniesche, Thomas W.: Vom Modell Deutschland zum Bordell Deutschland. Jakob Arjounis Detektivromane als literarische Konstruktionen bundesrepublikanischer Wirklichkeit. In: Mord als kreativer Prozess. Zum Kriminalroman der Gegenwart in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Hrsg. von Sandro M. Moraldo. Heidelberg: Winter 2005, S. 21–39. Moraldo, Sandro M.: „Türke von Geburt“ und „Staatsbürger der Bundesrepublik“. Überlegungen zum irregulären Lebenslauf von Jakob Arjounis Privatermittler Kemal Kayankaya. In: Annali di Ca’ Foscari. Serie occidentale 54, 2020, S. 69–86. Moraldo, Sandro M.: Fremdheit in der ‚Heymat‘ als Zuschreibung, Faszinosum und Bedrohung. Ein Versuch über Jakob Arjounis Bruder Kemal. In: Gewissheit und Zweifel. Interkulturelle Studien zum kriminalliterarischen Erzählen. Hrsg. von Sandra Beck/ Katrin Schneider-Özbek. Bielefeld: Aisthesis 2015, S. 79–97. Neuhaus, Volker: „Zu alt, um nur zu spielen“. Die Schwierigkeit der Deutschen mit dem Kriminalroman. In: Mord als kreativer Prozess. Zum Kriminalroman der Gegenwart in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Hrsg. von Sandro M. Moraldo. Heidelberg: Winter 2005, S. 9–19. o. A.: Eintrag „Arjouni, Jakob“ (2013). (Zugriff am 26. 11. 2022). Seeber, Stefan: Ich und die Anderen. Kemal Kayankaya auf dem Weg in die Bürgerlichkeit. In: Germanica 58: Le roman policier dans l’espace germanophone. Der Kriminalroman im deutschsprachigen Raum. Hrsg. von Elisabeth Kragl/Aurélie Le Née, 2016, S. 189– 198. Seiler, Christian: Kayankaya ist zurück. In: Diogenes Magazin 11, 2012, S. 4–11. Senn, Claudia: Bücherwelt. Ein Interview mit dem Schriftsteller Jakob Arjouni (2012). (Zugriff am 24. 05. 2020). Wikipedia-Artikel zu Jakob Arjouni (Zugriff am 24. 05. 2020). Wilczek, Reinhard: Von Sherlock Holmes bis Kemal Kayankaya. Kriminalromane im Deutschunterricht. Seelze: Klett Kallmeyer 2007. Zeller, Regine: ‚Türkischer‘ Detektiv mit doppeltem Bewusstsein. „Happy birthday, Türke!“ und die stereotypen Bilder des Fremden. In: Gewissheit und Zweifel. Interkulturelle Studien zum kriminalliterarischen Erzählen. Hrsg. von Sandra Beck/Katrin SchneiderÖzbek. Bielefeld: Aisthesis 2015, S. 41–57.

Wolfgang Brylla (Zielona Góra)

Kayankaya-Romane als screwball-Krimis? Zur filmischen Poetik Jakob Arjounis

Kemal, der Roman Ende der 1980er Jahre galt Jakob Arjouni als eines der größten Talente der deutschen (Kriminal-)Literatur. Dieser Ansicht war zumindest Jochen Schmidt, der die beiden ersten Kayankaya-Romane – „Happy birthday, Türke!“ (1985) und „Mehr Bier“ (1987) – über den grünen Klee lobte. Vor allem schien es ihm Arjounis Privatdetektiv angetan zu haben, den er als „ehrliche Haut“1 und dessen Gemüt er als eine Mischung von „grün-linkem Aktionismus und konservativer Arroganz“2 bezeichnete. Mit seiner Meinung zu Arjouni stand Schmidt nicht allein da. Auch Ulrike Leonhardt sprach in hohen Tönen von seinem Debüt und dem Erzählstil des in Frankfurt am Main geborenen Schriftstellers. Sie verglich dessen Handlungsskizzierungsstrategie mit keinem anderen als Raymond Chandler. „Da ist alles beisammen“, konstatiert Leonhardt, „die kurzen Sätze, die oft gar keine sind, alltägliche Worte, die wiederholt werden, ohne schulmeisterliche Ängste vor Wiederholungen, und die leichte Ironie, die dem Leser anderes vorgaukelt als das, was er erwartet. […] Der harte Slang der amerikanischen Kneipenbrüder wird zum gemütlich-harmlosen Hessisch der Äppelwoi-Trinker, und darum doch nicht weniger enthüllend.“3

Die Erkenntnis, dass Arjouni wegen seiner Darstellungsweise der Kriminalstory und der Figurenporträtierung häufig in einer Reihe mit einem der grandfather des US-Krimis genannt wird, ist in der Forschung zur Kriminalliteratur nichts Neues. Immer wieder wurde auf die Ähnlichkeiten zwischen Chandler und Arjouni hingewiesen.4 Es handelt sich an diesem Punkt allerdings nur um Entleh1 Schmidt, Jochen: Gangster, Opfer, Detektive. Eine Typengeschichte des Kriminalromans. Frankfurt/Main: Ullstein 1989, S. 658, S. 657. 2 Ebd., S. 657. 3 Leonhardt, Ulrike: Mord ist ihr Beruf. Eine Geschichte des Kriminalromans. München: C.H. Beck 1990, S. 235. 4 Vgl. Brylla, Wolfgang: ‚Chandlerisierung‘ des deutschen Kriminalromans. Zu Jakob Arjounis literarischem Krimikonzept. In: Estudios Filológicos Alemanes 26, 2013, S. 551–556.

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nungen, um Anspielungen auf Chandler, keinesfalls um eine (angeblich) von Arjouni betriebene Erzählpolitik der cannibalization.5 Mit dem Begriff der literarischen Kannibalisierung wird im Hinblick auf Chandler dessen Affinität für die ‚Wiederverwurschtelung‘ von Stoffen oder ganzen Romanpassagen umschrieben, um eine Art narratives Recycling, eine Wiederverwendung von Motiven, Figurencharakteren oder auch konkreten Plotelementen zu bewirken.6 Arjouni nimmt sich zwar ein Beispiel an Chandler und weiß an der einen oder anderen Stelle auch berühmte Chandler-Szenen einzuflechten – wie beispielweise die den Protagonisten nervende Fliege aus Arjounis Erstling, die zu derselben Sorte von Fliegen gehört, wie das Insekt in Chandlers „Die kleine Schwester“7 – aber im Großen und Ganzen ‚klaut‘ er nicht, sondern lässt sich inspirieren. Arjouni verweist auf die Schule des hardboiled-Verbrechens, indem er seinen Haupthelden, den „getürkten Türken“,8 Kemal Kayankaya, durch die urbanen Räume von Frankfurt am Main oder das naheliegende hessische Umland auf Verbrecherjagd schickt, ihn mit der typischen Philip Marlowe-Ironie in der Stimme ausstattet, einen Ich-Detektiverzähler zum Einsatz bringt und Actionszenen aneinanderreiht. Im amerikanischen crime waren die Ermittler, die private eyes, nicht imstande, die Welt vor einem totalen Kollaps zu retten und für Gerechtigkeit in dieser ungerechten, weil korrupten, Welt zu sorgen, was Chandler in seinem Essay „Die simple Kunst des Mordes“ mehr oder weniger unterstreicht.9 Der Detektiv von der Straße konnte das Böse nicht bekämpfen, sondern nur versuchen es einzudämmen. Mit harten Bandagen, mit Gewalt, mit einem Modus operandi, der bis dato nur den Gangstern und Outlaws vorbehalten war. Die Kayankaya-Serie, zumindest die ersten drei Krimis, die nach Robin-M. Aust separat von den beiden Folgeromanen aus den 2000er Jahren betrachtet werden müssen,10 ist keine billige Kopie des noir11 im Sinne Chandlers, statt5 Vgl. Mihaeis, Mircea: The Metaphysics of Detective Marlowe. Style, Vision, Hard-Boiled Repartee, Thugs, and Death-Dealing Damsels in Raymond Chandler’s Novels. Lanham: Lexington Books 2014, S. 90. 6 Zum Problem der Plotstruktur bei Chandler siehe unter anderem: Suerbaum, Ulrich: Krimi. Eine Analyse der Gattung. Stuttgart: Reclam 1984, S. 144–154; Jameson, Fredric R.: Über Raymond Chandler. In: Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. Hrsg. von Jochen Vogt. München: W. Fink 1998, S. 378–397. 7 Auf diesen Umstand machte aufmerksam: Schiel, Tobias M.: Die andere Detektivgeschichte. Detektiverzählungen als Erzählungen von Detektiven. Köln: [Eigenverlag] 1999, S. 109. Vgl. ebenfalls den Beitrag von Manuel Bauer in diesem Band. 8 Ruffing, Jeanne: Identität ermitteln. Ethnische und postkoloniale Kriminalromane zwischen Popularität und Subversion. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 251. 9 Chandler, Raymond: Die simple Kunst des Mordes. Ein Essay. In: ders.: Die simple Kunst des Mordes. Briefe, Essays, Notizen, eine Geschichte und ein Romanfragment. Hrsg. von Dorothy Gardiner und Katherine Sorley Walker. Zürich: Diogenes 1975, S. 318–342, hier S. 341f. 10 Aust, Robin-M.: Grenzüberschreitungen: Jakob Arjounis Kayankaya-Romane zwischen hardboiled detective und Migrationsthematik. In: Germanica 58: Le roman policier dans

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dessen eine literarische Hommage an die Erzählmachart des harten Krimis. Einige vertreten die Position, dass der Kayankaya-Zyklus eine Fortführung und Perfektionierung des schon seit den 1970er Jahren in Deutschland bekannten Sozio-Krimi-Modells sei,12 das die gesellschaftliche Problematik aufgreift und auf politische Problemlagen hindeutet. Schlicht: Die Aktualität zum Gegenstand hat. Allerdings haben so gesehen auch Chandler, Dashiell Hammett oder Ross Macdonald schwarze Kriminalromane mit gesellschaftskritischem Touch verfasst.13 In den Kayankaya-Romanen nur eine Fortsetzung der Untergattung des Sozio-Krimis zu sehen, greift zu kurz und beraubt Arjounis Werk des einmaligen, weil selten zu beobachtenden, überdachten Zu- und Umgangs mit literarischen Vorbildern, die nicht in thematischer und narrativer Hinsicht ausgeschlachtet werden, sondern sich zu großen Referenzpunkten aufschwingen. Arjounis Kayankaya-Krimis sind keine Secondhand-Ware, sie stehen eher für einen ausgeklügelten Prozess der ‚Vintagiesierung‘: Altes wird zu einem neuen, modernen Leben erweckt. Bei Arjouni nimmt der Rückbezug auf die gattungsgeschichtliche Vergangenheit nicht nur textkompositorische Züge an, sondern auch filmische. Zum Schluss von „Happy birthday, Türke!“ sagt Kayankaya offenkundig, er möchte sich jetzt, nach getaner Arbeit und erfolgreich beendetem Auftrag, einen Bogart-Movie anschauen (vgl. HbT, 164). Bis heute verbindet man Humphrey Bogart meistens mit den filmischen Adaptationen der Chandler- und HammettRomane aus den 1930er oder 40er Jahren. Bogart wurde zur Leinwandpersonifikation von Marlowe und Sam Spade, deren charakteristische emotionale Unterkühlung, Spitzfindigkeit und „verbale Aggressivität“14 er am besten in einem leicht zerfledderten Anzug und Hut von der Stange verkörpern konnte. Kayankaya lässt sich als literarisches Pendant Bogarts auffassen. Dies ist jedoch nicht der einzige Rekurs auf die Filmpoetik oder -industrie im Zusammenhang mit Kayankaya. Auch die Romanreihe scheint filmisch unterfüttert zu sein und sich immer wieder der Filmwerkstatt zu bedienen. Dabei werden nicht nur am film

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l᾽espace germanophone. Der Kriminalroman im deutschsprachigen Raum. Hrsg. von Elisabeth Kargl/Aurélie Le Née, 2016, S. 199–210, hier S. 201. Noir wird im Folgenden als Synonym für hardboiled benutzt, obwohl hauptsächlich in der amerikanischen Literaturwissenschaft der Trend sichtbar ist, zwischen beiden Untergattungen eine Trennlinie zu ziehen. Siehe: Pepper, Andrew: The American roman noir. In: The Cambridge Companion to American Crime Fiction. Hrsg. von Catherine Ross Nickerson. Cambridge: University Press 2010, S. 58–71. Andere wiederum schließen beide Sungenres kurz: Marling, William: The American Roman Noir. Hammett, Cain, and Chandler. Athen/ London: The University of Georgia Press 1995. Hall, Katharina: Crime fiction in German: Concepts, developments and trends. In: Crime fiction in German. Der Krimi. Hrsg. von Katharina Hall. Cardiff: University of Wales Press 2016, S. 1–32, hier S. 18. Vgl. dazu Burkhardt, Rainer: Die „hartgesottene“ Amerikanische Detektivgeschichte und ihre gesellschaftliche Funktion. Frankfurt/Main: P. Lang 1978. Nusser, Peter: Der Kriminalroman. Stuttgart: J.B. Metzler 2003, S. 61.

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noir Anleihen gemacht, sondern auch an der heute weniger populären Filmgattung der screwball-Komödie, die in den USA v. a. vor dem Zweiten Weltkrieg zum Kassenschlager wurde,15 d. h. in demselben Zeitraum, in dem die ersten hardboiled-Romane veröffentlicht und deren erste Hollywood-Verfilmungen produziert wurden. Denn die screwball-Komödie und der Kriminalfilm bilden keine Gegensätze, sie haben mehr Gemeinsamkeiten als ursprünglich gedacht, was u. a. Thomas C. Renzi betonte. Auf den ersten Blick seien beide Filmgattungen „unexpected connections“16. „Screwball comedy and film noir – the very names suggest genres that are diametraly opposed to one another“, behauptet Renzi, der sich gleichzeitig jedoch für das Eingestehen der Korrelationen zwischen diesen vorgeblich diversen Genres stark macht: „Comparing film noir with screwball comedy, how can we even consider that there is any relation betwenn the two? Yet there is – and more than just a distant kinship“17. Im Folgenden wird gezeigt, inwieweit sich Arjouni am screwball-Konzept orientiert und wie er es in den Kayankaya-Krimis umsetzt.

Das filmische screwball-Konzept Im amerikanischen Sprachraum bedeutet screwball so viel wie crazy, verrückt oder unkonventionell. Der Begriff stammt aus dem Baseball, in dem man flatternd geschlagene Bälle, deren Flugkurve schwer vorauszusehen war, eben als screwball apostrophiert. Seit Mitte der 1930er Jahre etablierte sich in Hollywood eine neue Gattung von Filmen, denen man in der Regel ebenfalls den be- und umschreibenden Zusatz screwball verpasste. 1934 entstanden in der Traumfabrik an der Westküste gleich drei Kinostreifen, die man – nicht nur in der Filmwissenschaft – als screwball-Komödien zu klassifizieren vermag. „It Happened One Night“ von Frank Capra, „Twentieth Century“ von Howard Hawks und „The Thin Man“ in der Regie von W.S. Van Dyke, der somit Dashiell Hammetts Kriminalroman unter demselben Titel verfilmte.18 Ein hardboiled-Sujet im romantischen Komödie-Gewand? Ja und nein. Erstens ist das screwball-Muster nicht nur auf den Bereich der Filmkomödien einzuschränken, obwohl diese Tendenz in der Forschung klar hervorsticht. Zweitens war Hammetts Krimitext, mit seiner Situationskomik und seinem Wortwitz, knapp gehaltenen Dialogen, sowie mit seiner Ummodelung der Geschlechterrollen (schwacher Mann, starke 15 Vgl. Milberg, Doris: The Art of the Screwball Comedy. Madcap Entertainment from the 1930s to Today. Jefferson/London: McFarland & Co. 2013, S. 5–14. 16 Renzi, Thomas C.: Screwball Comedy and Film Noir: Unexpected Connections. Jefferson/ London: McFarland & Co. 2012, S. 1. 17 Ebd. 18 Nowak, Anneliese: Die amerikanische Filmfarce. München: TR-Verlagsunion 1991, S. 91.

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Frau), wie prädestiniert dazu, in einem unterhaltsamen Entertainment-Format in die Filmpaläste gebracht zu werden. Eine der bekanntesten, klassischen screwball-Komödien basiert auf diese Weise auf einem ‚hartgesottenen‘ Roman, zudem Hammetts letztem. Dies erlaubt, sich sowohl der Erzählgrammatik von hardboiled-Autoren als auch der filmischen Erzählsyntax der screwball comedy zu widmen, beide miteinander zu kombinieren und nach formellen wie inhaltlichen Überlappungen, Replikationen und narrativen Übernahmen Ausschau zu halten. Wenn man den screwball-Regelkatalog den Richtlinien bzw. Dogmen des Schwarzen Krimis gegenüberstellt, so erweist sich, dass beide Genres, das filmische wie das literarische, mehr Analogien als Unterschiede miteinander haben. Wodurch charakterisiert sich eine screwball-Komödie? Es gibt viele Gliederungs- und Typologisierungsvorschläge von screwball.19 Trotz eines steigenden wissenschaftlichen Interesses an einem Filmgenre, das heutzutage den romantic comedies in der simplen larmoyant-kitschigen Hollywood-Manier, am besten noch mit einem zum Überlaufen drohenden Pool an Filmstars und -sternchen, weichen musste, hat sich eine einzig geltende Begriffsklärung nicht durchsetzen können. Katrin Oltmann, die sich mit diesen Komödien beschäftigte, kommt zum Schluss, dass es sich im Falle von screwball weniger um konzeptuelle Zuschreibungen handele, als vielmehr um einen spezifischen „filmic mode“. Eben aus dieser Sicht sollte man diesem filmischen Phänomen beikommen: „Mein Begriff der Screwball Comedy“, bemerkt Oltmann, „geht dabei auf die Beobachtung zurück, dass es sich bei dem, was in der Forschung als ‚Screwball‘ bezeichnet wird, weniger um eine präzis zu isolierendes Genre oder Subgenre als um einen ‚filmic mode‘ handelt – eine bestimmte Erzählweise, einen spezifischen Perfomancestil –, in der in den 30er Jahren viele Subgenres der Romantic Comedy prägt“20.

Mit anderen Worten: Screwball ist als besonderer (cineastischer) Erzählmodus zu signifizieren, der auf der Handhabe und Verarbeitung von konkreten erzählerischen sowie stofflichen Elementen beruht. Unter diesen lassen sich folgende Bausteine erwähnen, aus denen sich das screwball-Paradigma zusammensetzt:

19 Einige charakteristische Strukturelemente listet Claudia Liebrand in ihrem Beitrag auf, die vor allem die „Game-Over-Restart-Konfigurationen“ hervorhebt. Darunter versteht sie „eine temporeiche Mischung aus Slapstick, Sophisticated (Romantic) Comedy und Farce mit extrovertierten, verrückt-komischen Protagonisten“ (Liebrand, Claudia: The Trouble with Endings. Schließungsfiguren in Screwball-Comedies und Sex Comedies. In: Glück paradox. Moderne Literatur und Medienkultur – theoretisch gelesen. Hrsg. von Anja Gerigk. Bielefeld: transcript 2010, S. 227–260, hier S. 230). Vgl. auch Byrge, Duane/Miller, Robert Milton: The Screwball Comedy Films. A History and Filmography, 1934–1942. Jefferson/ London: McFarland & Co. 2001, S. 2f. 20 Oltmann, Karin: Remake | Premake. Hollywoods romantische Komödien und ihres GenderDiskurse, 1930–1960. Bielefeld: transcript 2008, S. 146.

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Erstens: exzentrische Charaktere, zweitens: Frau-Mann-Relationen, drittens: Metropolen als Handlungsraum, viertens: Umgang mit Sexualität, fünftens: (filmischer) Erzähldrive, sechstens: Dialogisierung, siebtens: sprachliche Komik mit slapstick-Einlagen. Zu fragen wäre, inwieweit sich Arjouni in seinen Kayankaya-Krimis auf diese Kriterien beruft und wie er von ihnen Gebrauch macht.

Exzentrische Charaktere Fast immer wird im Kontext des Kayankaya-Detektivs dessen ethnische Zugehörigkeit angesprochen und Arjounis Figurenentwurf aus der Perspektive des sogenannten ethnic detectiv ausdiskutiert. Katharina Hall adelt sogar Kayankaya mit dem Titel „first German ethnic detectiv“21 überhaupt. Dabei ist das ethnicSiegel im Hinblick auf Kayankaya nur behutsam und mit Vorsicht zu verwenden, was unter anderem von Sandra Beck unter Beweis gestellt wurde,22 denn Kemal repräsentiert keine typische, kulturell-religiöse Minderheit; er steht nicht pars pro toto für die türkische Minorität in Deutschland, sondern ist vielmehr das Brennglas, in dem sich die deutschen Stereotype gegenüber den Ausländern und Menschen mit Migrationshintergrund widerspiegeln.23 Die einzige ‚ethnische‘ Gruppe, zu der sich Kayankaya wennschon bekundet, ist das Menschentum,24 obwohl er häufig, um zu provozieren oder den Erwartungen seiner Gesprächspartner standzuhalten, sich selbst als Türke ins Spiel bringt. Kayankaya ist in einer deutschen Pflegefamilie aufgewachsen – „Ich wuchs also in einer durch und durch deutschen Umgebung auf und begann erst spät, nach meinen richtigen Eltern zu forschen“ (HbT, 10) –, er spricht kein Wort Türkisch, ist aber der hessischen Mundart mächtig. Als ehemaliger Studienabbrecher, der sich gegen

21 Hall, Crime Fiction in German. 2016, S. 62. 22 Beck, Sandra: Zwei Welten, im Verbrechen überbrückt? Interkulturelles Erzählen in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart. In: Gewissheit und Zweifel. Interkulturelle Studien zum kriminalliterarischen Erzählen. Hrsg. von ders./Katrin Schneider-Özbek. Bielefeld: Aisthesis, 2015, S. 7–40, hier S. 29. 23 Vgl. Zeller, Regine: ‚Türkischer‘ Detektiv mit doppeltem Bewusstsein. „Happy birthday, Türke!“ und die stereotypen Bilder des Fremden. In: Gewissheit und Zweifel. Interkulturelle Studien zum kriminalliterarischen Erzählen. Hrsg. von Sandra Beck/Katrin Schneider-Özbek. Bielefeld: Aisthesis 2015, S. 41–57, hier S. 44. 24 Für Sandro M. Moraldo sei Kayankaya ein „aufgeklärter Europäer“ (Moraldo, Sandro M.: Fremdheit in der ‚Heymat‘ als Zuschreibung, Faszinosum und Bedrohung. Ein Versuch über Jakob Arjounis Bruder Kemal. In: Gewissheit und Zweifel. Interkulturelle Studien zum kriminalliterarischen Erzählen. Hrsg. von Sandra Beck/Katrin Schneider-Özbek. Bielefeld: Aisthesis 2015, S. 79–97, hier S. 92).

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die ihm von der Außenwelt aufgezwungene ‚Labelung‘25 der Identität stemmt und sich dem Türken-Bashing widersetzt,26 fungiert Kayankaya mehr oder weniger als „trickster“27 der Kulturen. Über einen deutschen Personalausweis verfügend, ständig jedoch als „Mustaffa“ (HbT, 13), „Alladin“ (HbT, 32), „Negerdetektiv“ (K, 178), Kanacke und Nicht-Deutscher beleidigt und verhöhnt, sieht er sich weder der einen noch der anderen sozialen Herkunftsschicht zugehörig. Kayankaya schlüpft in die Beobachterrolle der deutschen Realität und deutschen Spießbürgerlichkeit, die er entschleiert28 und deren Alltagsrassismus er verunglimpft. Ein Beispiel findet sich im Gespräch zwischen Kemal und einem Vermieter in „Ein Mann, ein Mord“: „‚Türke. Ein türkischer Privatdetektiv? Was es nicht alles gibt. Und wieso sprechen Sie so gut Deutsch, wenn ich mir die Frage erlauben darf ?‘ ‚Weil ich keine andere Sprache gelernt habe. […]‘ ‚Aber Türke sind Sie – ich meine…‘ ‚Ich habe einen deutschen Paß, falls Sie das beruhigt‘ […] ‚Dürfte ich einmal sehen? […] Nicht, daß eine türkische Herkunft für ein Mietverhältnis bei uns irgendeine Bedeutung hätte. […]‘ Ich verabschiede mich. Eine Woche später werde ich von einer Sekretärin abgewimmelt.“ (EM, 7f.)

Ein anderes Beispiel findet sich im Meinungs- und Gedankenaustausch zwischen Kayankaya und Weidenbusch, der seine entführte thailändische Frau vermisst: „‚Ich nehme an, Sie haben im Branchenverzeichnis nachgeschaut. Warum Kayankaya, warum nicht Müller?‘ ‚Weil sie Thailänderin ist, und ich dachte…‘ ‚Sie dachten, Thailand – Türkei, fängt beides mit T an.‘ ‚Wie konnte ich wissen, daß Sie Türke sind? Im Gegenteil. Ich hätte erwartet… aber…‘[…] Sie besuchen Ausstellungen in New York und gehen auf Safari in Afrika; sie kiffen in Kairo, essen japanisch und wollen Moskau Demokratie beibringen; sie sind international bis auf die Pariser Unterhose – aber einen Türken ohne Sperrmüll unterm Arm und zehn ungewaschenen Kindern an der Hand, das geht nicht rein in ihren Schädel.“ (EM, 16) ˇ ujic´, Sandra: Herkunftskonzepte und Identitätsinszenierung in Jakob Arjounis „Kis25 Vgl. C met“. In: Gewissheit und Zweifel. Interkulturelle Studien zum kriminalliterarischen Erzählen. Hrsg. von Sandra Beck/Katrin Schneider-Özbek. Bielefeld: Aisthesis 2015, S. 59–77, hier S. 73. 26 In „Mehr Bier“ versucht die Journalistin Carla Reederman Kayankaya einzutrichtern, dass die Deutschen sich mit den Türken nicht verständigen können: „Und Sie sind Türke. Das ist eine andere Kultur, und möglicherweise verstehen wir uns gar nicht…“ (MB, 50). 27 Sturm-Trigonakis, Elke: Kayankaya, Cheng und Weber-Tejedor als narrative Konfigurationen des Dritten. In: Gewissheit und Zweifel. Interkulturelle Studien zum kriminalliterarischen Erzählen. Hrsg. von Sandra Beck/Katrin Schneider-Özbek. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2015. S. 99–118, hier S. 111. 28 Vgl. Beck, Zwei Welten, im Verbrechen überbrückt? 2015, S. 30.

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Arjounis Spiel mit den kulturellen Klischees gipfelt in den Kayankaya-Romanen in der Annahme, dass im Grunde jedes Identitätsmodell eine Zuschreibung von außen sei29 und somit auch zum Scheitern verurteilt ist, denn jedes Identitätskonstrukt kann zu einer Posse werden,30 die es zulässt, an dem Identitätskorsett, in das man gedrückt worden war, herumzubasteln. Identitäten werden zu (sinnlosen) Konstruktionen der Gesellschaft, die auf diesem Wege Menschen je nach Abstammung, Aussehen oder Glauben einstuft. Kayankaya sträubt sich gegen solche Vorweg-Attribuierungen in Form der ‚Kostümierung‘, indem er Maskeraden betreibt und sich als türkischer Botschafter, Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft oder Gärtner ausgibt.31 Der Exzentrizität von Kayankaya liegt nicht nur die spezifische Figurenzeichnung Arjounis, sondern v. a. dessen Attitüde als Sprüche-, weniger als Menschenklopfer („[I]ch bin kein Schläger“ (EM, 18)) zugrunde. Kayankaya definiert sich nicht über seine vermeintliche Nicht-Herkunft, stattdessen über sein Agieren, Sinnieren und Dialogisieren. Erst infolge der Verknüpfung von Gedachtem, Gesagtem und Getanem profilieren sich Kayankaya und andere Protagonisten Arjounis, die in den Frankfurter Krimis in Erscheinung treten. Kayankayas einziger Freund, Ernst Slibulsky, ist ebenso als exzentrisch zu charakterisieren. Trinker, Bordellmitarbeiter, Drogendealer, Menschenschläger auf der einen Seite, sympathischer Lebenspartner einer Akademikerin und Eisdielenbetreiber auf der anderen Seite: „Vor zehn Jahren war Slibulsky ein kleiner Drogendealer zwischen Bahnhofsviertel und Westend-Schickeria gewesen. Er schmuggelte, streckte und verkaufte, was er in die Finger bekam und was nicht den sofortigen Tod der Konsumenten bedeutete. Er selber hielt sich an Bier. Nebenbei war er offen für alle Geschäfte, die ihm im schlechtesten Fall nicht mehr als fünf Jahre Gefängnis einbringen würden. Bei einem dieser Geschäfte lernten wir uns kennen. Er half mir, ins Frankfurter Polizeipräsidium einzubrechen. Wenig später wurde er mit Koks erwischt und kam für ein Jahr hinter Gitter. Ich schickte ihm Pakete mit Fußball-WM-Videos und Rindswürsten, und er bedankte sich mit einem Karton selbstgefertigter Wäscheklammern. Ich war ehrlich gerührt.“ (K, 25)

Oder die Polizisten Futt und Hosch, die für Recht und Ordnung stehen sollten, in der Wirklichkeit jedoch zum Synonym von Bestechlichkeit, Menschenverachtung und racial profiling werden. Die ganze Kayankaya-Erzählwelt ist gespickt mit abstrusen, widersprüchlichen Figuren (die Hessen-Mafia, der brasilianische Gastwirt Romario, Schmidi, die Böllig-Dynastie etc.), deren Facettenreichtum nicht auf einen Nenner gebracht werden kann.

29 Vgl. Zeller, ‚Türkischer‘ Detektiv mit doppeltem Bewusstsein. 2015, S. 44. 30 Vgl. Sturm-Trigonakis, Kayankaya, Cheng und Weber-Tejedor. 2015, S. 110f. 31 Vgl. Zeller, ‚Türkischer‘ Detektiv mit doppeltem Bewusstsein. 2015, S. 49.

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Frau-Mann-Relationen In der amerikanischen screwball-Komödie kommt der Frau-Mann-Beziehung eine große Bedeutung zu, sie macht den Dreh- und Angelpunkt der Handlung aus. Meistens werden die männlichen Figuren als Taugenichtse dargestellt, die in der Konfrontation mit der femininen Domina den Kürzeren ziehen müssen. Das weibliche Geschlecht ist dem männlichen klar überlegen, der screwball wird von Feminität statt von vor Adrenalin strotzender Maskulinität geprägt. Mit List, Tücke und Köpfchen weisen die charmanten Frauengestalten ihre männlichen Widersacher – quasi in Glacéhandschuhen – in die Schranken. Auf ein vergleichbares geschlechterausgerichtetes Relationsbild stößt man auch im hardboiled mit seiner Femme fatale32 – einer Frauenfigur, die den Männern ebenbürtig ist und sie häufig an der Nase herumführt. Frauen, die im noir Unglück bringen, bilden eine der zentralen Handlungsachsen der Kriminalromane, ja sie setzen erst die Handlung in Gang. Im Werk von Arjouni sucht man vergebens nach solchen über alles und allem herrschenden ‚Weibsbildern‘, allerdings wird den Frauen eine große Relevanz nicht nur in der erzählten Welt, sondern auch im discourse beigemessen. Dabei, was bemerkenswert ist, ähneln sie der screwball heroine, die auf Unschuldslahm und Charakterschwäche tut,33 in Wahrheit jedoch mit einem flotten Spruch dem Machogehabe der Männer den Garaus machen kann. Kayankaya, indem er sich während seiner Ermittlungen mit solchem Frauentypus auseinandersetzen muss, ist auf das Zuhören und Reagieren angewiesen. Der türkischstämmige Schnüffler ist in solchen Männer-FrauenSituationen keinesfalls der aktive Part. Vielmehr muss er sich sogar bemühen, mit seinen Gegenspielerinnen auf Augenhöhe zu bleiben. Oft werden die Frauen von Arjouni geradezu als hartgesottene Figuren geschildert: sie wurden zur Prostitution gezwungen, sind nach Deutschland aus europäischen Kriegskonfliktzonen geflohen, hängen an der Fixe. Nicht die Akademiker-Frauen haben bei ihm etwas zu sagen – „Nicht zum ersten Mal faszinierte mich, was Bildung haben und studiert sein alles nicht bedeutete“ (K, 110) –, sondern die underclass women, die mit Alltagsproblemen ringen und der Wirklichkeit die Stirn bieten müssen. In „Kismet“ tritt zum ersten Mal Kayankayas Lebenspartnerin Deborah auf, die er in einem Bordell kennengelernt hatte und ihr aus der verkorksten Lebenslage herauszukommen half, indem er ihr ein ordentliches Etablissement vermittelte: „Ich hatte Deborah mal aus einer ziemlich engen Zuhälter-Patsche geholfen, wir waren uns bei Willy DeVilles ‚Heaven Stood Still‘ nähergekommen, und seitdem gab es ein unausgesprochenes Arrangement: Einmal die Woche durfte ich mich von ihr verwöh32 Vgl. Scaggs, John: Crime Fiction. London/New York: Routledge 2005, S. 77. 33 Siehe Landay, Lori: Madcaps, Screwballs, Con Women. The Female Trickster in American Culture. Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1998, S. 43, S. 103f.

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nen lassen, dafür stand ich für eventuelle weitere Patschen bereit. Der Punkt war, daß es die nicht gegeben hatte und in absehbarer Zukunft auch nicht geben würde. Im ‚Mister Happy‘ ging es so zivilisiert und familiär zu wie in einer Dorfbäckerei aus einem französischen Film.“ (K, 136–138)

Auch gegenüber der minderjährigen Leila, die mit ihrer Mutter aus Kroatien geflüchtet ist, kann Kayankaya seinen männlichen, patriarchalischen Anspruch nicht durchsetzen. Im Gespräch mit Leila ist Kayankaya sogar oft ratlos und weiß nicht, was er auf die messerscharfen Kommentare antworten soll. Statt die Replik laut zu äußern, räsoniert er nur: „‚Appetit?‘ ‚Hunger, Lust zu essen.‘ ‚Riech wie Heimküche.‘ […] ‚Aber wenn du so weitermachst, bist du bald nur noch ein wunderschönes Gerippe.‘ ‚Dir gefällt besser fette Schlampe, hm?‘ ‚Fette Schlampe… Sag mal, wer gibt euch in diesem Heim da eigentlich Deutschunterricht?‘ ‚Mir selber.‘ ‚Dir selber? Mit was? Öffentlichen Toilletenwänden?‘ ‚Porno.‘ ‚Bitte?‘ ‚Jungs aus Heim haben Filme und ein Buch. Ich hab auch ein Buch: Die Spermajägerinnen.‘ […] ‚…Das ist aber ein ziemlich spezielles Vokabular. Wie klappt das, wenn du Brötchen kaufen willst oder so was?‘ […] ‚Wir gucken die Filme?‘ ‚Äh, was für Filme?‘ ‚Filme von meine Mutter natürlich, Blödi.‘ Blödi. Kam das auch aus dem Pornobuch? Fick mich, Blödi? […] Ob ich, der auf der Schule in Fremdsprachen regelmäßig Witznoten wie Fünf plus abbekommen hatte, mit Pornos mehr bei der Sache gewesen wäre? Vielleicht säße ich heute bei der UNO.“ (K, 192f.)

Das Verhältnis zu der Journalistin aus „Mehr Bier“ sowie zu der Literaturagentin aus „Bruder Kemal“ ist sichtbar gestört – genauer: die Kommunikation. Reederman weiß nicht, wie man mit Kayankaya in sprachlicher Hinsicht umgehen soll: „‚Kalt, was?‘ Sie schniefte. ‚Mhm.‘ Sie kuschelte sich in ihren Pelzmantel. ‚Von welcher Zeitung kommen Sie?‘ ‚Meine Frau und dein Auto.‘ ‚Aha.‘ Nach einer Pause. ‚Kenn ich nicht.‘“ (MB, 12)

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Auch Katja Lipschitz bereitet Kayankaya auf einer verbal-kommunikativen Ebene Probleme: „Ich erwiderte Katja Lipschitz‘ professionelles Lächeln. ‚Möchten Sie ein Autogramm?‘ ‚Später vielleicht – unter einen Vertrag. Wollen Sie den Grund meines Besuches hier…‘ […] ‚Kommt drauf an. Verkauft der Mauer Verlag Zeitungsabonnements? Ihr Hosenanzug sieht zwar nicht so aus, als könne man ihn sich mit Drückerkolonnen-Lohn leisten, aber vielleicht steht er Ihnen einfach gut…‘ […] ‚Nein, nein, keine Angst. Wir sind ein angesehener Literaturverlag. Haben Sie noch nie von uns gehört? […]‘ ‚Tut mir leid. Bei uns liest meine Frau‘, sagte ich und musste bei dem darauffolgenden, leicht gequälten Geschichtsausdruck von Katja Lipschnitz lachen.“ (BK, 39f.)

Allerdings maßt sich der Detektiv auch in solchen Dialogszenen nicht an, die maskuline Keule zu schwingen und Duftmarken zu setzen. Und davon, dass Kayankaya von seinem taffen Image loslassen kann, zeugt seine Beziehung zu der Familie Hamul aus „Happy birthday, Türke!“, wo er (christliche) Barmherzigkeit und Gnade vor Recht walten lässt.

Metropolen als Handlungsraum Marlowe ohne Los Angeles, Spade ohne Chicago, Lew Archer ohne die kalifornischen Städte wären kaum denkbar und möglich gewesen. Der Schwarze Krimi konvergiert neben dem Stadtkrimi wie keine andere Subgattung der Kriminalliteratur stark mit der urbanen (Handlungs-)Kulisse. Schon in den 1920er Jahren hat der katholische Schriftsteller G. K. Chesterton, der durch seine Pater BrownDetektivgeschichten Weltruhm erlangte, mit Blick auf die damals florierende Detektivliteratur, von der sich der hardboiled abkapselte,34 festgestellt, dass sie im Grunde eine moderne Literatur sei, weil sie die Urbanität thematisiere.35 Der US-noir folgte diesem Aufruf Chestertons und wählte für seinen Haupthandlungsschauplatz amerikanische (Groß-)Städte aus, in denen man die Verruchtheit der Zwischenkriegszeit mit ihrer Wirtschaftskrise oder der Geburt der Organisierten Kriminalität schildern konnte.36 Ebenso hat sich der screwball für das städtische Ambiente interessiert, jedoch aus einem ganz anderen Blickwinkel. Da 34 „Trotzdem ist es schwierig, aus der Detektivstory, selbst in ihrer konventionellsten Form, wirklich gute Prosa zu machen. Literarische Qualität dieser Art findet sich in ihrem Genre noch viel seltener als in der sonstigen ernsten Belletristik“ (Chandler, Die simple Kunst des Mordes. 1975, S. 319f.). 35 Chesterton, Gilbert Keith: Verteidigung von Detektivgeschichten. In: Der Kriminalroman I. Hrsg. von Jochen Vogt. München: W. Fink 1971, S. 95–98, hier S. 95f. 36 Vgl. Mandel, Ernest: Ein schöner Mord. Sozialgeschichte des Kriminalromans. Frankfurt/ Main: Athenäum 1987, S. 45–48.

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in den screwball-Komödien überwiegend Frauen wie Männer aus gehobenen Gesellschaftsschichten favorisiert wurden, lag es nahe, dass man sich für New York, Washington oder Los Angeles als Setting entschied, in denen die high class der society lebte. Arjouni bezieht sich ebenfalls auf das Metropolen-Sujet und bebildert Frankfurt am Main auf die hardboiled-Weise. Die Stadtskyline fügt sich aus verdreckten Wohnvierteln zusammen, die Ausländer, Drogenabhängige oder Möchtegernmafiosi zu ihren no-go-areas machen. Stichwort: das berühmtberüchtigte Bahnhofsviertel. Dort gibt es halblegale Freudenhäuser oder Spielkasinos, dort wird mit Rauschgift gehandelt oder in den Kneipen gesoffen bis zum Gehtnichtmehr, häufig gepaart mit einer ordentlichen Tracht Prügel. Die dunklen Gassen des Bahnhofsviertels wurden zu Kayankayas Arbeitsort. Die Bankenmetropole wird allerdings vom Ich-Erzähler nicht nur von ihrer schrecklichsten Seite gezeigt. In der Schicki-Micki-Wohngegend Nieder-Eschbach haust beispielsweise in „Happy birthday, Türke!“ ein alter Weggefährte Kayankayas und Polizeikommissar a. D. „Sherlock Löff“ (HbT, 89). Des Weiteren wird das Frankfurter Hinterland zum Handlungsraum.37 In der Kleinstadt Dietzenbach überzeugt sich Kayankaya von dem existierenden Stadt-Provinz-Gefälle: „Ich mag deutsche Kleinstädte. Sie geben mir das Gefühl, ein paar Sachen richtig gemacht zu haben. Berufsverkehr, Winterschlußverkauf, lärmende Nachbarn, und auch die Bauarbeiten zur Erweiterung der Frankfurter U-Bahn direkt unter meinem Fenster schon seit über einem Jahr erschienen hier in ganz neuem Licht.“ (EM, 69)

Was Kayankaya an dem Wohlgefühl-Flair der städtischen Peripherie abseits vom City-Lärm missfällt, sind nicht die „gewienerte[n] Gardinenfenster, glänzende[n] Briefkästen, Vorgärten wie nach Schnittmustern angelegt, keimfreie[n] Bürgersteige“, sondern vor allem die Einwohner. Zu einem Mann, der das Nummernschild seines BMW mit Zahnbürste (!) reinigt, sagt Kayankaya: „Hat er Karies oder stinkt er einfach nur’n bißchen aus dem Maul?“ (EM, 69) Der urbane Raum von Frankfurt am Main ist ein Ort, in dem sich zwar das Gesetz und Gerechtigkeit verabschiedeten, aber weiterhin ist es Kayankayas Lebensraum, in dem er gegen die Gesetzlosigkeit – mit miserablen Folgen – ankämpfen kann.

37 Zur Raumdarstellung in „Happy birthday, Türke!“ siehe Brylla, Wolfgang: „Kayankaya am Tatort“. Raumdarstellung im modernen deutschen Kriminalroman „Happy birthday, Türke!“ von Jakob Arjouni. In: Studia Niemcoznawcze 43, 2009, S. 279–290.

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Umgang mit Sexualität Darstellung von Sex, Sexualität oder Geschlechtsverkehr galt in den screwballKomödien als verpönt, obwohl anfangs mit sexuellen Andeutungen gewieft gespielt wurde. In den 1930ern wurde Sexualität in Hollywood verboten. 1934 wurde der Production Code eingeführt, der im Film, den Sittlichkeitsregeln gemäß, jede Schilderung von Anzüglichkeit, Frivolität und Sex untersagte.38 Filme, die nackte Körper zeigten, wurden indiziert, Homosexualität tabuisiert. Somit ist der screwball eine sexfreie Komfortzone, in der Männer und Frauen über ihre Beziehungen sprechen, sie aber nicht vor der Kamera ausleben können. Im hardboiled-Kosmos wird weitgehend auch auf sexuelle Praktiken oder nahes Beisammensein verzichtet. Die angespannten Mann-Frau-Relationen werden meistens nicht durch physische Akte, sondern durch verbale Akte gelöst. Arjouni bleibt über weite Strecken diesem Asexualitätspostulat treu. Nur in „Mehr Bier“ rückt Sex für einen Augenblick in den Fokus, aber das Sich-Nahekommen wird auch nur angerissen und elliptisch aus der erzählten Welt herausgeschnitten: „Ihre Hand kraulte meinen Nacken. Ich schloß die Augen. ‚Wie wär’s mit einem Blick in die feine Stube? Ist gleich um die Ecke. Ein ganzes Haus voll netter Mädchen und toller Ideen.‘ […] Dann nahm ich nichts mehr wahr. […] Endlich schloß sie eine der grünen Preßspantüren auf und schleppte mich aufs blauseidene Bett. Sie steckte mir eine Zigarette an und zog mich aus. Dann setzte sie sich neben mich und half mir, sie auszuziehen. Schließlich streifte sie das bißchen Stoff, was noch blieb, selber ab. Nackt und warm spürte ich ihre Haut. Meine Hände patschten ihre Beine entlang. Später bewegte sie sich über mir, und ich sah nur noch Busen und tauchte vollends weg. Halb fünf war es, als ich aufwachte und auf die Uhr sah.“ (MB, 115–117)

(Filmischer) Erzähldrive Die Kayankaya-Kriminalromane sind erzählerisch insofern dem hardboiledSubgenre verhaftet, als dass in ihnen, wie bei Chandler, eine Ich-Erzählinstanz zur Anwendung kommt, die sich wiederum mit der handelnden Hauptfigur deckt. Mit der Überlappung des erzählenden bzw. erlebenden und erzählten bzw. erlebten Ich wird von Arjouni eine bestimmte Nähe zum Erzählten aufgebaut. Diese stützt sich vor allem auf das Identifikationspotential mit dem ermittelnden Deutsch-Türken Kayankaya. Durch die Reduzierung der Erzähldistanz zwischen der Leserschaft und dem Krimi-Dispositiv wird darüber hinaus ein ganz besonderer Modus des Erzählens aktiviert, dem man das Etikett ‚filmisch‘ verleihen 38 Siehe Oltmann, Remake | Premake. 2008, S. 144; Renzi, Screwball Comedy and Film Noir. 2012, S. 31.

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kann. Mit dem Primat des filmischen Erzählens knüpft Arjouni auf diese Weise nicht nur an den film noir, sondern auch mehr oder weniger an die screwballKomödien an. Dieses Prinzip äußert sich vor allem in der Art und Weise der Handlungsschilderung und Erzählstruktur(en). Vom autodiegetischen Kayankaya-Ich-Erzähler werden meistens – hauptsächlich in den ersten drei Romanen – kurze Kapitel und Absätze bevorzugt, jedes Kapitel bzw. jeder Absatz bildet eine eigene Szene, die wiederum häufig mit einem cliffhanger-ähnlichen Übergang ins nächste Kapitel respektive in die darauffolgende Szene endet. Mithilfe von solchen rapiden Schlüssen werden einerseits Brücken zu den weiteren Szenen und weiterem Handlungsverlauf geschlagen, andererseits auch Spannung erzeugt, denn die Rezipienten werden zum Weiterlesen angespornt. Bei der Erzählchronologie und deren Logik werden aber keine Abstriche gemacht: „Ich steckte den Kalender ein und stand auf. ‚Ich muß sofort nach Doddelbach.‘ ‚Ich komme mit.‘ ‚Warum?‘ ‚Ich kriege noch dreihundert Mark und bleib dir auf den Fersen, habe keine Lust, nachher zu hören, daß du sie mit Herbert Kollek in der Kneipe durchgebracht hast.‘ Wir nahmen den Aktenordner und gingen. ‚Fahr bis zum Ende der Straße, dann rechts, einmal um den Block herum, in zehn Minuten bin ich wieder unten. Wenn nicht, haust du ab.‘ ‚Glaubst du wirklich, die warten seit zwei Uhr auf dich?‘“ (MB, 119)

Die sich aus der Perspektive von Kayankaya herauskristallisierende Welt ist eine in sich schlüssige, gleichzeitig jedoch ist sie von Beschränktheit bestimmt. Diese Limitierung wird durch den eingegrenzten und eingrenzenden point of view des Ich-Erzählers verursacht, der nur davon Bericht erstatten kann, was er mit seinen eigenen Augen gesehen, mit seinen eigenen Ohren gehört und am eigenen Körper erfahren hat. Die Erzählstruktur der Kayankaya-Romane wird somit – mit Blick auf die Filmwerkstatt – von der Froschperspektive dominiert. Aufnahmen wie die Totale und Halbtotale kommen nicht vor, weil auch die ichbehaftete Erzählfigur ausschließlich in der Lage ist, Ausschnitte der Erzählwelt in der Nahen wiederzugeben, um sich später aus diesen Fragmenten ein Gesamtbild zurechtzuzimmern, das schon wieder aus seiner bruchstückhaften Sicht präsentiert wird. Es hat den Anschein, als würde Kayankaya stets eine Handkamera mit sich tragen und seine Ermittlungen filmen. Quasi ein Undercover-Kameramann, der die Protagonisten und Geschehnisse auf Band verewigt; statt zu inszenieren, dokumentiert und kommentiert er. Das Be- oder Verurteilen resultiert aus der subjektiven Ich-Perspektive und dieses Kommentieren wird dazu benötigt, die Leser/Zuschauer in die Szenerie bzw. Szene einzuweihen.

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„Der kleine Mann seufzte. Das Puzzle war fertig. Seine Hand tastete nach dem Glas, und auch beim Trinken blieb die Kippe im Mund. Als er das Glas absetzte, war es leer. Mißmutig wischte er sich mit dem Handrücken übers Kinn“ (EM, 21)

An solchen Erzählereinschüben ist sein Hang zur sprachlichen Lakonie abzulesen.39 Mit kurzen Sätzen führt er in die Handlung ein, andererseits weisen sie eine unverkennbare Ähnlichkeit mit den Drehbuch-Regieanweisungen auf. Überhaupt entsteht bei der Lektüre der Eindruck, man halte ein Filmscript, ein fertiges Filmmanuskript, in der Hand. „Mehr Bier“ beginnt bspw. mit zitierten Zeitungsartikeln oder Schlagzeilen, die an „Citizen Kane“ erinnern und deren Funktion einerseits im Aufbau der Spannungskurve, und andererseits im Kommentieren der Handlung besteht. Sie können allerdings außerdem, wie bei Kayankaya, in das Erzählte in-medias-res einleiten. Die Dramatik speist sich nicht nur aus dem Ermittlungsgang der deutsch-türkischen Spürnase, sondern auch aus dem durchgetakteten Ablauf der durchnummerierten Einzelszenen, von denen einige mit einem Verweis auf ein konkretes Datum und einen genauen Tag beginnen (‚erster Tag‘, Mai 1998). Dadurch wird quasi ein Countdown gestartet. Kayankaya kämpft weniger mit den Tätern als vielmehr mit der Zeit. Dieser zeitliche Zugzwang löst ein schnelles Erzähltempo im Rhythmus der Rede, oder genauer gesagt, des Gesprächs aus.

Dialogisierung Die Gesprächsebene in der Kayankaya-Serie stiftet die Hauptachse des Narrativs und ist parallel dazu die Schnittstelle zum Film. Auf der einen Seite wird mit der Handlungsdialogisierung der Krimi-Gattung Rechnung getragen, in erster Linie dem amerikanischen schwarzen Kriminalroman, in dem die Privatdetektive zum Verhören, Sich-Unterhalten und zur (Tat)Ortserkundung verdammt sind.40 Auf der anderen Seite wird mit Arjounis eindeutigem Faible für die Handlungskomposition auf Basis der Figurengespräche die Nähe zum Film deutlich. Überspitzt könnte im Falle von Kayankaya von ‚gesprochenen‘ oder auch ‚Dialogkrimis‘ die Rede sein. Mit knapp formulierten Fragen peilt Kayankaya die Lage aus, fühlt seinen Kunden und Verdächtigen auf den Zahn. Das physische Operieren wird durch Verbalität ersetzt. In jeder Szene unterhalten sich verschiedene Figuren, auf die Kayankaya im Laufe seiner Ermittlungen gestoßen ist. Der Dialog nimmt die filmische Form der Schuss/Gegenschuss-Technik an: ein 39 „Lakonische Handhabung der Sprache“ (Moraldo, Fremdheit in der ‚Heymat‘ als Zuschreibung, Faszinosum und Bedrohung. 2015, S. 83). 40 „Die Ortserkundung als Analyse einer gefährlichen Situation herrscht anstelle der Tatortbesichtigung vor“ (Suerbaum, Krimi. 1984, S. 146).

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Protagonist spricht und prompt, ohne zu zögern, folgt die Antwort. Weil die inquit-Formeln wie ‚er sagte‘ usw. fehlen, wird nur aus der Erzählkausalität ersichtlich, welche Figur sich gerade zu Wort gemeldet hatte. Ein Beispiel hierfür findet sich im Gespräch zwischen Kayankaya und Weidenbusch: „‚Lady Bump. In der Elbestraße.‘ ‚Und wem haben Sie die fünftausend Mark gegeben?‘ ‚Einem Mann namens Korble oder Köble…‘ ‚… Köberle? Charly Köberle?‘ ‚Ja, genau.‘ ‚Wer wußte sonst noch, wann die Aufenthaltsgenehmigung abläuft?‘ ‚Nun… ein paar Freunde, und meine Schwester.‘ ‚Was macht Ihre Schwester?‘ ‚Sie arbeitet in einer Kindertagesstätte – therapeutisch, sozial-therapeutisch.‘ ‚Kindergärtnerin?‘ ‚… so ähnlich.‘“ (EM, 16f., Hervorh. i. Orig.)

Aufgrund der mangelnden erzählerischen Hinweise auf die ID des Sprechers wird einmalmehr der filmische Charakter der Romane markiert, die im dramatischen Modus gehalten werden. Die Kayankaya-Kamera visiert die sprechenden Figuren sofort an und muss sie deshalb nicht beim Namen nennen. Es wird sozusagen von Gesicht zu Gesicht ‚geswitcht‘, immer allerdings vom Standpunkt Kayankayas aus.

Sprachliche Komik mit slapstick-Einlagen So wie Witz und sprachliche Komik zu den tools und zum Darstellungsrepertoire des screwball zählen, so fällt auch in den Kayankaya-Krimis die Kategorie des Komischen ins Gewicht. Bei Arjouni, ebenso wie in den screwball-Komödien, weniger im film noir, können zwei Komikarten ausdifferenziert werden: Erstens die sprachliche, in den Dialogen artikulierte Komik, zweitens die Situationskomik mit slapstick-Elementen. Im Falle des sprachlichen Lustigseins handelt es sich um Gespräche zwischen Kayankaya und anderen Romanfiguren, in denen der Privatermittler immer einen scharfen Spruch oder einen Vergleich parat hat. Mit Schlagfertigkeit, in den Angriffsmodus geschaltet, ist er seinen Gesprächspartnern immer – mit einigen Ausnahmen – um Längen voraus. Beispiele dafür gibt es zuhauf. So unterhält sich Kayankaya bspw. mit einem Mädchen in einer Fast-Food-Bar: „‚Ist nur Schminke, Schwester. Ich komme drüben vom Theater, hab grad Pause.‘ Sie lachte. ‚Oh, tut mir leid, sieht ziemlich echt aus. Was wird denn gespielt?‘ ‚Shakespeares Romeo und Julia, als moderner orientalexistentialistischer Gegenent-

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wurf zu herkömmlichen traditionell europäischen Interpretationsmodellen.‘ Sie nickte ernst und meinte: ‚Ah, ja.‘ Nach einer Pause: ‚Und was passiert da so?‘ ‚Romeo trifft Ali Baba und tauscht Julia gegen die vierzig Räuber.‘ ‚Mhm, und dann?‘ ‚Julia verliebt sich in die vierzig Räuber, die vierzig Räuber wollen mit Romeo Kinder machen, und Ali Baba steht im Regen. Am Ende vertragen sich alle, schwimmen im Nil einer neuen Zukunft entgegen und singen ‚Fußball ist unser Leben‘.‘“ (HbT, 56f.)

Ein Gespräch zwischen Kayankaya und Weidenbusch verläuft folgendermaßen: „‚Setzen Sie sich.‘ Er drehte sich um, machte zwei Schritte, sah den Sessel und hielt inne. ‚… wenn Sie natürlich lieber im Stehen reden.‘ Er nickte dankbar: ‚Im Stehen redet es sich tatsächlich oft viel besser.‘ ‚Na schön. Dann mal raus mit der Sprache. In ‘ner halben Stunde hab ich Termin bei der Maniküre.‘ […] ‚Ihr Beruf ?‘ ‚Künstler.‘ Mir blieb die Sprache weg. ‚Hä?‘ Eifrig, mit jetzt nervösem Glanz in den Augen, erklärte er: ‚Ja, Bildhauer und Maler. Und ich schreibe, Kurzgeschichten und fürs Fernsehen. Vielleicht drehe ich demnächst sogar einen Film. Und beim Radio bin ich auch.‘ Ich glotzte ihn an. ‚Alles auf einmal?‘ ‚Ich kann nicht anders. Ich muß was tun, muß arbeiten und kreativ sein, sonst werde ich verrückt.‘ ‚Aha. Haben Sie’s mal mit Fernsehen und Bier versucht?‘“ (EM, 18)

Im Ausländeramt bekommt es Kayankaya mit einer Beamtin zu tun: „‚Name?‘ ‚Kemal Kayanakya.‘ ‚Können Sie buchstabieren?‘ ‚Das meiste schon. Nur bei Fremdwörtern hapert’s manchmal.‘ Sie sah auf, und ihre Lippen spitzten sich stiefmütterlich. Nachdem sie mich kurz und endgültig gemustert hatte, fauchte sie: ‚Ihren Namen!‘ Ich buchstabierte. Ohne den Stift abzusetzen, fragte Sie: ‚Staatsbürgerschaft?‘ ‚BRD.‘ ‚Deutsch‘, verbesserte sie murmelnd, um im nächsten Moment irritiert aufzusehen. ‚Deutsch…?‘ ‚Soll ich buchstabieren?‘“ (EM, 43)

Mit Katja Lipschnitz unterhält sich Kayankaya über den korrekten Dresscode – auf seine Art und Weise: „‚[…] Nun, Sie haben gehört, aus Sicherheitsgründen werde um Voranmeldung gebeten. […] Das Risiko beim Einlass von normalem Publikum wäre einfach zu groß. Die Bürgermeisterin will kommen, vielleicht sogar der hessische Innenminister … Na ja,

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jedenfalls in dem Zusammenhang wollte ich Sie um … ähm … angemessene Kleidung bitten.‘ ‚Wie meinen Sie das? Turban?‘“ (BK, 122)

Die Kayankaya abhandengekommene sprachliche Feinfühligkeit, sein Herumjonglieren mit den Zwischentönen, ist das Ergebnis und eine Art Experiment, sich in der deutschen Gesellschaft, die ihn nicht als Mitbürger wahrnimmt, durchzuboxen, seinen Mann zu stehen und das obsolete „Modell Deutschland“,41 wie es Thomas Kniesche meint, literarisch anzuzweifeln. Er weiß sich zu behaupten und offenbart die Eingeschränktheit der Weltsicht von anderen mit Redefloskeln wie der Folgenden: „Kein Problem für mich. Ich mähe meinen Rasen, lache bei Karneval und kann gleichzeitig Bier trinken und Skat spielen. Irgendwo hinter München liegt Afrika, da wohnen die Neger. Bei der Sportschau möchte ich nicht gestört werden. Meine Couchgarnitur ist pünktlich abbezahlt. Und im Grunde meines Herzens bin ich ein tanzender Schlesier.“ (MB, 20)

Die situative Komik gründet auf einigen Szenen, in denen Alltagsgegenstände entweder als Mordwaffe bzw. Verbrechensutensilien benutzt werden, oder die fiese Natur der Figuren exponieren sollen. In „Ein Mann, ein Mord“ streitet sich Kayankaya mit dem Gemüsehändler, Herrn Knapp, den er mit „Heil Hitler“ (EM, 66) grüßt, über ein Republikaner-Plakat, das an der Hausfassade aufgehängt werden soll. Die beiden Leichen der „sprachlosen Erpresser“ (K, 12) in „Kismet“ sollen in einen großen Kartoffelkochtopf eingepackt werden: „Meinst du, man schmeckt die beiden durch?“ (K, 19) Und in „Bruder Kemal“ mutiert die Buchmesse zu einem einzig großen, langweiligen Kabarettabend mit „nervöse[r] Ereignislosigkeit“ (BK, 165), an dem der style von Herrn Doktor Breitel ausreicht, um zum „außergewöhnlichen“ Ereignis zu werden: „mit seinen grauen Flannelknickerbockern, breiten, ledernen Hosenträgern, einem leuchtenden, blaurot-gestreiften Hemd und einer gelben Fliege“ sah Breitel „wie eine Mischung aus dickem Hitlerjungen und Lady Gaga“ aus, dabei redete er „das übliche Zeug von der ‚drohenden Islamisierung‘ Europas“ und wurde „trotzdem von fast allen Anwesenden auf eine Art ernst“ genommen, „als spräche auf der Bühne Kant im grauen Dreiteiler“ (BK, 165f.).

41 Kniesche, Thomas W.: Vom Modell Deutschland zum Bordell Deutschland. Jakob Arjounis Detektivromane als literarische Konstruktionen bundesrepublikanischer Wirklichkeit. In: Mord als kreativer Prozess. Zum Kriminalroman der Gegenwart in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Hrsg. von Sandro M. Moraldo. Heidelberg: Winter 2005, S. 21–39, hier S. 36.

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Arjouni, der Pionier der screwball-Prosa In seinen Kayankaya-Romanen weiß Arjouni sowohl auf die Erzählweise des hardboiled als auch der Filmbranche – vor allem der screwball comedy – zurückzugreifen, von ihnen zu profitieren, um im Endeffekt der Leserschaft Kriminaltexte zu kredenzen, in denen es von komischen Dialogsituationen nur so wimmelt, mithilfe deren die politische wie soziale Gegenwartsproblematik (Ausländerfeindlichkeit, Korruption, Menschenhandel, Umweltpolitik, MafiaKriege, Kulturszene) ironisch angetippt wird. Mit screwball-ähnlichen Darstellungsmitteln, die Arjouni für seine Zwecke literarisierte, kann er nicht nur der deutschen Gesellschaft einen Spiegel vorhalten, sondern auch beim Lesen für Unterhaltungsmomente sorgen. Dass Arjouni generell mit der screwball-Programmatik liebäugelte, zeugt dessen 2009 erschienener Berlinroman „Der heilige Eddy“, den der ZEIT-Kritiker Peter Henning als „leicht inszenierte. […] Screwball-Prosa“ kategorisierte.42 Allerdings war diese Gaunergeschichte kein screwball-Sonderfall im Œuvre des 2013 verstorbenen Beststellerautors. Sie ist stattdessen der Höhepunkt seiner engeren Beschäftigung mit der komödienhaften Filmgattung und ihrer literarischen Verwirklichung, deren Anfänge schon in den Kayankaya-Krimis zu suchen sind. „Also, es gab Stücke von ihm“, sagte Ulrich Noller in einem Interview für Deutschlandfunk Kultur, „die an wirklich die besten Screwball-Comedies erinnert haben. Es war mal stark geprägt von einem Wortwitz, von einer Situationskomik.“43 Und so gesehen, ist Arjouni als der Vorreiter der deutschen screwball-Literatur schlechthin zu betrachten.

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Brylla, Wolfgang: „Kayankaya am Tatort“. Raumdarstellung im modernen deutschen Kriminalroman „Happy birthday, Türke!“ von Jakob Arjouni. In: Studia Niemcoznawcze 43, 2009, S. 279–290. Burkhardt, Rainer: Die „hartgesottene“ Amerikanische Detektivgeschichte und ihre gesellschaftliche Funktion. Frankfurt/Main: P. Lang 1978. Byrge, Duane/Miller, Robert Milton: The Screwball Comedy Films. A History and Filmography, 1934–1942. Jefferson/London: McFarland & Co. 2001. Chandler, Raymond: Die simple Kunst des Mordes. Ein Essay. In: ders.: Die simple Kunst des Mordes. Briefe, Essays, Notizen, eine Geschichte und ein Romanfragment. Hrsg. von Dorothy Gardiner/Katherine Sorley Walker. Zürich: Diogenes 1975, S. 318–342. Chesterton, Gilbert Keith: Verteidigung von Detektivgeschichten. In: Der Kriminalroman I. Hrsg. von Jochen Vogt. München: W. Fink 1971, S. 95–98. ˇ ujic´, Sandra: Herkunftskonzepte und Identitätsinszenierung in Jakob Arjounis „Kismet“. C In: Gewissheit und Zweifel. Interkulturelle Studien zum kriminalliterarischen Erzählen. Hrsg. von Sandra Beck/Katrin Schneider-Özbek. Bielefeld: Aisthesis 2015, S. 59–77. Hall, Katharina: Crime fiction in German: Concepts, developments and trends. In: Crime fiction in German. Der Krimi. Hrsg. von Katharina Hall. Cardiff: University of Wales Press 2016, S. 1–32. Henning, Peter: Früher der Mord, jetzt das Leben. (Zugriff am 28. 12. 2020). Jameson, Fredric R.: Über Raymond Chandler. In: Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. Hrsg. von Jochen Vogt. München: W. Fink 1998, S. 378–397. Kniesche, Thomas W.: Vom Modell Deutschland zum Bordell Deutschland. Jakob Arjounis Detektivromane als literarische Konstruktionen bundesrepublikanischer Wirklichkeit. In: Mord als kreativer Prozess. Zum Kriminalroman der Gegenwart in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Hrsg. von Sandro M. Moraldo. Heidelberg: Winter 2005, S. 21–39. Landay, Lori: Madcaps, Screwballs, Con Women. The Female Trickster in American Culture. Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1998. Leonhardt, Ulrike: Mord ist ihr Beruf. Eine Geschichte des Kriminalromans. München: C.H. Beck 1990. Liebrand, Claudia: The Trouble with Endings. Schließungsfiguren in Screwball-Comedies und Sex Comedies. In: Glück paradox. Moderne Literatur und Medienkultur – theoretisch gelesen. Hrsg. von Anja Gerigk. Bielefeld: transcript 2010, S. 227–260. Mandel, Ernest: Ein schöner Mord. Sozialgeschichte des Kriminalromans. Frankfurt/Main: Athenäum 1987. Marling, William: The American Roman Noir. Hammett, Cain, and Chandler. Athen/ London: The University of Georgia Press 1995. Mihaeis, Mircea: The Metaphysics of Detective Marlowe. Style, Vision, Hard-Boiled Repartee, Thugs, and Death-Dealing Damsels in Raymond Chandler’s Novels. Lanham: Lexington Books 2014. Milberg, Doris: The Art of the Screwball Comedy. Madcap Entertainment from the 1930s to Today. Jefferson/London: McFarland & Co. 2013. Moraldo, Sandro M.: Fremdheit in der ‚Heymat‘ als Zuschreibung, Faszinosum und Bedrohung. Ein Versuch über Jakob Arjounis Bruder Kemal. In: Gewissheit und Zweifel.

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Stefan Seeber (Freiburg)

Der türkischste Deutsche, der deutscheste Türke. Kayankaya und die Stereotypie bei Arjouni und Dörrie

Ein Detektiv, wie für die Germanistik gemacht „‚Privatdetektiv? Gibts doch gar nicht.‘ ‚Gibts, glauben Sie mir.‘“ (HbT, 123)

Jakob Arjouni ist in der Forschung immer mehr präsent – davon legt nicht zuletzt dieser Sammelband Zeugnis ab. Neben der Krimireihe um den Privatdetektiv Kemal Kayankaya findet zunehmend auch das weitere Werk Arjounis die Aufmerksamkeit der Germanistik.1 Ein besonderer Schwerpunkt des Interesses liegt dabei im Bereich der Gesellschaftsdarstellung und auch der Gesellschaftskritik in seinem Oeuvre, besonders in den Detektivromanen. Das „Literarische Quartett“ hatte 1991 anlässlich des Erscheinens des dritten Krimis „Ein Mann, ein Mord“ dem Autor noch ein vergebliches Bemühen darum attestiert, in die Fußstapfen der amerikanischen hardboiled-Romane und ihrer Sozialkritik zu treten.2 Dieses Urteil ist mittlerweile überholt – inzwischen ist nicht nur die produktive Rezeption amerikanischer Muster bei Arjouni herausgearbeitet worden,3 nach frühen Studien zur Darstellung von Ethnie und zu rassistischen Stereotypen in

1 Vgl. zuletzt Je¸drzejewski, Maciej: Gesellschaft in Jakob Arjounis Werk. Berlin u. a.: Peter Lang 2019. 2 Literarisches Quartett am 18. 07. 1991. (Zugriff am 10. 09. 2021). Besprochen wird Arjounis Buch am Schluss der Sendung ab 1:03:13, das Verdikt wird gesprochen 1:09:32 von Sigrid Löffler und Hellmuth Karasek. 3 Zu Arjouni und dem amerikanischen Detektivroman vgl. Brylla, Wolfgang: ‚Chandlerisierung‘ des deutschen Kriminalromans. Zu Jakob Arjounis literarischem Krimikonzept. In: Estudios fiológicos alemanes 26, 2013, S. 551–556. Einen einführenden Überblick zum hardboiledKriminalroman bietet: Suerbaum, Ulrich: Krimi. Eine Analyse der Gattung. Stuttgart: Reclam 1984. S. 127–160. In einem früheren Beitrag habe ich dafür plädiert, die Komik und Ironie im Kontext der Adaptation amerikanischer Muster bei Arjouni stärker zu berücksichtigen: Seeber, Stefan: Allein unter Hessen. Formen der Komik in den Kayankaya-Romanen von Jakob Arjouni. In: Mord und Totlach. Hrsg. von Christian F. Hoffstadt/Melanie Möller/Sabine Müller. Bochum/Freiburg: Projektverlag 2014, S. 81–92.

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den Romanen4 hat sich die Forschung auch intensiv mit den Fragen nach Herkunft und Heimat Kayankayas und ihrer Bedeutung für die Romanreihe beschäftigt.5 Dabei hat sich zunehmend Heimat als „Assoziationsgenerator“6 herauskristallisiert, der in den Romanen disparate Ergebnisse hervorbringt. Das bedeutet: Kayankaya wird in dieser Lesart stärker bestimmt durch das, was andere in ihm sehen, als durch seine tatsächliche biographische Herkunft, er scheint dominiert durch die „Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern“,7 die sich in den Kriminalromanen durch die Herkunft des Helden und durch seine Stellung zur Gesellschaft prismenhaft gebrochen zeigt. Folgerichtig haben diese Studien dazu geführt, dass Kemal Kayankaya inzwischen im „third space des in-between“8 verortet wird, wo er als Gewährsmann für eine Kritik an der BRD der 1980er Jahre dient, die in den Romanen den Spiegel vorgehalten bekomme.9 Das macht aus der Krimireihe allerdings in letzter Konsequenz eine soziologische Versuchsanordnung,10 die jedes noch so 4 Grundlegend ist hierfür die Arbeit von Teraoka, Arlene A.: Detecting Ethnicity. Jakob Arjouni and the Case of the Missing German Detective Novel. In: The German Quarterly 72, 1999, H. 3, S. 265–289. 5 Kutzbach, Konstanze: The hard-boiled pattern as discursive practice of ethnic subalternity in Jakob Arjouni’s „Happy birthday, Türke!“ and Irene Dische’s „Ein Job.“ In: Sleuthing ethnicity. The detective in multiethnic crime fiction. Hrsg. von Dorothea Fischer-Hornung/ Monika Mueller. Madison: Fairleigh Dickinson University Press 2003, S. 240–259; Ruffing, Jeanne: Identität ermitteln. Ethnische und postkoloniale Kriminalromane zwischen Popularität und Subversion. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011; Eickenboom, Christine: „Babbelst en gudes Deutsch. Bisde net vom Balgan?“ Zur Stigmatisierung durch Herkunft und deren Bedeutung in der Konzeptualisierung von Heimat. In: LIMBUS. Australisches Jahrbuch für germanistische Literatur- und Kulturwissenschaft 11 ,2018, S. 211–226. 6 Gebhard, Gunther u. a.: Heimatdenken: Konjunkturen und Konturen. Statt einer Einleitung. In: Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts. Hrsg. von dens. Bielefeld: transcript 2007, S. 9–56. hier S. 9. Zitiert bei Eickenboom, Stigmatisierung. 2018, S. 214. 7 Zeller, Regine: ‚Türkischer‘ Detektiv mit doppeltem Bewusstsein. „Happy birthday, Türke!“ und die stereotypen Bilder des Fremden. In: Gewissheit und Zweifel. Interkulturelle Studien zum kriminalliterarischen Erzählen. Hrsg. von Sandra Beck/Katrin Schneider-Özbek. Bielefeld: Aisthesis 2015, S. 41–57, hier S. 53. 8 Ruffing, Identität. 2011, S. 20; zustimmend Zeller, Bewusstsein. 2015, S. 46. 9 Vgl. etwa die Bewertung von Joscha Schmierer in seiner Rezension zu „Ein Mann, ein Mord“ (1991): „Mit Kayankaya wirft Jakob Arjouni nicht einen fremden Blick auf Deutsches, sondern läßt den vertrauten deutschen Blick dadurch bizarr erscheinen, daß er immer an der Oberfläche hängenbleibt und völlig überrascht ist, wenn ihm der Fremde auf den ureigensten Feldern überlegen ist. […] Ein Deutscher in türkischer Haut erweist permanent die Dummheit und Brutalität eines Staatsbürgertums, das sich durch deutsche Haut definiert sieht und geadelt meint und sich damit nicht nur vor bürgerlichen Werten, sondern auch vor der Realität permanent blamiert.“ Ich zitiere Schmierer nach Teraoka, Arjouni. 1999, S. 280, Sp. 1. 10 Dies auch bei Kniesche, Thomas W.: Vom Modell Deutschland zum Bordell Deutschland. Jakob Arjounis Detektivromane als literarische Konstruktionen bundesrepublikanischer Wirklichkeit. In: Mord als kreativer Prozess. Zum Kriminalroman der Gegenwart in

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kleine Detail der Handlung mit weitreichender Bedeutung auflädt.11 Damit fallen wesentliche Elemente der Romane und besonders der Figurenzeichnung Kayankayas aus dem Blickfeld der Forschung, die sich so intensiv auf die Gesellschaftskritik und den moralischen Anspruch Arjounis fokussiert hat. Hier setzt dieser Beitrag an, der in einem ersten Schritt das intertextuelle Spiel des Romans „Happy birthday, Türke!“ mit den Vorgaben des hardboiled- Schemas aufzeigen und in einem zweiten Schritt das Buch Arjounis mit der Verfilmung des Stoffs durch Doris Dörrie vergleichen will. Mein Ziel ist es, zu zeigen, dass Arjouni Stereotypien der Kriminalliteratur in der Figurenzeichnung seines Helden unterläuft und einen individuellen Entwicklungsspielraum für Kayankaya eröffnet. Dörries filmische Umsetzung re-typisiert den Detektiv hingegen, um ihn für das thematische Programm nutzbar zu machen, das sie mit der Darstellung von Fremdem und Vertrautem in ihren Filmen aufzeigt. Die unterschiedlichen Appropriierungen der Figur sollen dabei vergleichend aufgezeigt werden, und v. a. soll auch über die üblichen Seitenbemerkungen in der bisherigen Forschung hinaus der germanistische Blick auf Dörries Adaptation stärker in den Vordergrund rücken.

Das Transzendieren der Stereotypien bei Arjouni „Es war mit verbundenen Augen ins Schwarze getroffen.“ (HbT, 61)

Raymond Chandler hat einen viel beachteten Essay darüber geschrieben, wie ein hardboiled-Held als Figur funktioniert.12 Zu den wesentlichen Eigenschaften Deutschland, Österreich und der Schweiz. Hrsg. von Sandro M. Moraldo. Heidelberg: Winter 2005, S. 21–39, der trotz des Blickes auf die zur Zeit der Veröffentlichung seines Aufsatzes bereits vier Romane keine Entwicklung des Helden wahrnimmt, sondern den Außenseiterstatus als poetologisch zentral für die Texte definiert (vgl. S. 35). 11 Exemplarisch bei: Brylla, Wolfgang: „Kayankaya am Tatort“. Raumdarstellung im modernen deutschen Kriminalroman „Happy birthday, Türke!“ von Jakob Arjouni. In: Studia Niemcoznawcze 43, 2009, S. 279–290, wo der bloße Tatbestand des Ortswechsels zum sozialkritischen Impetus erhoben wird: „Kayankayas Fahndung nach dem Killer bildet in ihrer Komplexität eine einzige Überquerung der Räume, nicht nur in topographischer, sondern auch in topologischer und semantischer Hinsicht.“ Ähnliche Feststellungen mit weitreichenden Deutungsimplikationen finden sich auch bei Je˛drzejewski, Gesellschaft. 2019 z. B. in der Zusammenfassung, S. 183 zur Raumstruktur. 12 Der Aufsatz Chandlers ist – zusammen mit dem Sammelband, in dem er erschienen ist – im Internet frei zugänglich: Raymond Chandler: The Simple Art of Murder: An Essay. In: ders.: The Simple Art of Murder. o. O.: Houghton Mifflin 1950: (Zugriff am 10. 09. 2021). Der Ausgabe fehlen Seitenzahlen; die relevante Passage steht am Ende des Essays, sie lautet: „The realist in murder writes of a world in which gangsters can rule nations and almost rule cities […]. / It is not a fragrant world, but it is the world you live in, and certain writers with tough minds and a cool spirit of detachment can

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eines solchen Helden gehört demnach eine Ethik, die nicht unbedingt deckungsgleich mit geltendem Recht und Gesetz ist, die aber doch dem Guten, auch gegen die Regeln, Geltung verschafft. Und auch, wenn die Arbeit als Detektiv ein Broterwerb ist, bringt sich der Held dennoch über Gebühr ein, um seine Fälle zu lösen, er riskiert seine Gesundheit und scheut auch vor körperlichen Konflikten nicht zurück, um in einer Welt, in der die Standards von Gerechtigkeit verkehrt worden sind, Ordnung zu schaffen. Diesen Vorgaben folgt auch Arjounis Figurenzeichnung von Kayankaya, dem „Haudrauf-Ermittler“13, der durch eine eigene Ethik jenseits der Gesetze gekennzeichnet ist und der einen abgeklärten Blick auf die ihn umgebende Welt hat. Trotz der vielen Anlehnungen an die amerikanischen Vorbilder, bis ins Detail der Ehrlichkeit bei der Abrechnung hinein (vgl. HbT, 166) und in die den Band beschließende Einsamkeit des Helden (vgl. HbT, 170), setzt Arjouni doch eigene Akzente in der Figurenzeichnung. Besonders in zwei Punkten weicht er vom Schema ab: Sein Held hat keine „awareness that startles you“,14 er ist im Gegenteil eher tollpatschig in seinen Ermittlungen,15 und sein Held hat, anders make very interesting and even amusing patterns out of it. It is not funny that a man should be killed, but it is sometimes funny that he should be killed for so little, and that his death should be the coin of what we call civilization. All this still is not quite enough. / In everything that can be called art there is a quality of redemption. It may be pure tragedy, if it is high tragedy, and it may be pity and irony, and it may be the raucous laughter of the strong man. But down these mean streets a man must go who is not himself mean, who is neither tarnished nor afraid. The detective in this kind of story must be such a man. He is the hero; he is everything. He must be a complete man and a common man and yet an unusual man. He must be, to use a rather weathered phrase, a man of honor – by instinct, by inevitability, without thought of it, and certainly without saying it. He must be the best man in his world and a good enough man for any world. I do not care much about his private life; he is neither a eunuch nor a satyr; I think he might seduce a duchess and I am quite sure he would not spoil a virgin; if he is a man of honor in one thing, he is that in all things. / He is a relatively poor man, or he would not be a detective at all. He is a common man or he could not go among common people. He has a sense of character, or he would not know his job. He will take no man’s money dishonestly and no man’s insolence without a due and dispassionate revenge. He is a lonely man and his pride is that you will treat him as a proud man or be very sorry you ever saw him. He talks as the man of his age talks – that is, with rude wit, a lively sense of the grotesque, a disgust for sham, and a contempt for pettiness. / The story is this man’s adventure in search of a hidden truth, and it would be no adventure if it did not happen to a man fit for adventure. He has a range of awareness that startles you, but it belongs to him by right, because it belongs to the world he lives in. If there were enough like him, the world would be a very safe place to live in, without becoming too dull to be worth living in.“ 13 Brylla, Chandlerisierung. 2013, S. 560. 14 Vgl. zu diesem und den beiden anschließenden englischen Zitaten Anmerkung 12. 15 Kayankaya ermittelt lange Zeit in die falsche Richtung, nämlich in eine politische, torpediert seine eigenen Strategien („Ob es vernünftig war oder nicht“ (HbT, 33), erkennt nicht, was um ihn herum geschieht (HbT, 63) und stellt selbst einigermaßen konsterniert fest: „Es ist keine gute Reklame für einen Privatdetektiv, wenn er zugibt, seine analytischen Fähigkeiten seien mehr oder weniger unterentwickelt.“ (HbT, 73)

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als Marlowe, ein Privatleben. Das Publikum erfährt viel über seine Biographie (auch und gerade über sein Liebesleben, das Chandler explizit vernachlässigt wissen will), seine Geschichte und seine Ansichten. Und obwohl er sich unter „common people“ mischt, ist er mitnichten ein „common man“, ganz im Gegenteil: Er ist der deutscheste Türke, der türkischste Deutsche und, im Falle eines Falles, sogar ein „wilder Scheich“ (HbT, 49). Kayankaya als exzeptionelle Figur verschiebt die Tektonik des Detektivromans in doppelter Hinsicht: Erstens setzt er durch seine ausgestaltete Biographie neue Schwerpunkte im Vergleich zu den amerikanischen Vorbildern,16 und zweitens unterläuft er die eigenen Ermittlungen, die zugunsten der Darstellung der Figur und ihres Schicksals in den Hintergrund rücken. Dadurch verschieben sich auch die Prioritäten der Darstellung: Die Stadt, in der er sich bewegt, wird ihm durchaus zum „Raum der Entfremdung und der Identitätssuche“17, seine Stellung zwischen den Kulturen, die mit rassistischen Stereotypen eingefasst wird, bleibt ebenfalls dauerhaft präsent,18 wird aber nicht zum Ausgangspunkt von Sozialkritik, sondern von Komik. Denn die „Pfannibäuche“ (HbT, 17), „käsige[n] Cowboy[s]“ (HbT, 11), „Metzger auf Urlaub“ (HbT, 30), „Schwabbel“ (HbT, 37), usw. bleiben vom zynischen Blick des Helden nicht verschont. Kayankaya ist nicht einfach in einem third space positioniert, er interagiert mit den unterschiedlichen Sphären, die er tangiert, und er steckt nicht nur rassistische Kritik ein, er versteht es durchaus auch auszuteilen. Jede „halbnackte hessische Sünde“ (HbT, 49), jeder Vorstadtbewohner wird kritisch beäugt, niemand entgeht der Bewertung durch den Detektiv, der zudem seine eigenen Rassismen und Vorurteile offen zur Schau stellt: Wenn Frauen mit dunkler Hautfarbe als „Nesquick-Damen“ (HbT, 19) und Asiaten als „schlitzäugige Minoltas“ 16 Dass der Romaneinstieg mit der Fliege (HbT, 5) auf Raymond Chandlers „Kleine Schwester“ anspielt, betont zuerst Hellmuth Karasek in der bereits erwähnten Folge des „Literarischen Quartetts“ (, hier 01:05:05, er nennt das allerdings eine „Parodie“). Vgl. Raymond Chandler: Die kleine Schwester. Aus dem Amerikanischen von Robin Detje. Mit einem Nachwort von Michael Connelly. Zürich: Diogenes 2020. Zum Konnex zwischen Arjounis Provinzvorstellungen und Dashiell Hammetts „Roter Ernte“ vgl. Neuhaus, Volker: „Zu alt, um nur zu spielen“. Die Schwierigkeit der Deutschen mit dem Kriminalroman. In: Mord als kreativer Prozess. Zum Kriminalroman der Gegenwart in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Hrsg. von Sandro M. Moraldo. Heidelberg: Winter 2005, S. 9–19, hier S. 17. 17 Suerbaum, Krimi. 1984, S. 129. 18 Belegstellen nur für rassistische Bemerkungen gegen Kayankaya (zu unterscheiden von seinen rassistischen Einlassungen gegenüber PoC und Menschen asiatischer Herkunft) finden sich allein im ersten Drittel des Buches auf folgenden Seiten: 12f., 17f., 26f., 28, 32f., 38, 41, 45, 49 („wilder Scheich“), 50, 54, 56 (Selbstreflexion), 58f. Keine rassistische Abqualifizierung erfährt Kayankaya von Hanna Hecht und ihrem Zuhälter, die ihn nur als „Sau“ (HbT, 65) und „Schnüffler“ (HbT, 67) beschimpfen. Hier wird die hierarchische Position der beiden Personen aus dem Prostitutions- und Drogenmilieu unter dem Detektiv deutlich gemacht.

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(HbT, 36) bezeichnet werden, wenn der Held sich mit seiner durch das Jackett gut sichtbaren Waffe wie ein „Neger im Solarium“ (HbT, 44) fühlt, macht Arjouni deutlich, dass sein Held um keinen Deut besser ist als diejenigen, die ihn diskriminieren, dass allerdings seine Empfindlichkeiten wesentlich mehr Relevanz haben als die seiner Gegenüber: Es ist ein Kayankaya-Roman (so nennt der Verlag bereits den 1987 erscheinenden zweiten Band der Reihe, „Mehr Bier“) und kein einfacher Detektivroman. Der Held steht im Mittelpunkt. Arjouni konfiguriert mit seiner bewussten intertextuellen Anlehnung an den hardboiled-Krimi einerseits und mit der konstruierten universalen Heimatlosigkeit seines Helden andererseits einen Roman, der eine Metaposition zum Genre und seinen Ansprüchen einnimmt. Heraus kommt dabei eine „beinahe formalistische Vermischung von deutschem Tagesgeschehen und amerikanischen Genrekonventionen“,19 wobei der Fall als solcher in den Hintergrund tritt und das Wohl und Wehe des Detektivs den meisten Raum der Darstellung einnimmt. So wird das hardboiled-Schema zur „Fassade oder Maskerade“20. Der Held spielt „[k]omische Genrespiele“ mit dem Schema und stellt den „Widerstand […] gegen die variantenreichen Strategien der Usurpation und des Othering“ zur Schau.21 Dieses Unterlaufen von Stereotypen des hardboiled-Romans eröffnet Arjouni die Möglichkeit, die Prätexte und Erwartungen an das Genre in seiner Darstellung zu transzendieren und so einen Roman eigener Art zu schreiben, der sich nicht darin erschöpft, Parodie amerikanischer Vorbilder oder sozialkritischer Text zu sein. Kayankayas „doppeltes Bewusstsein“ (so der Titel von Zellers bereits zitiertem Aufsatz) reicht stattdessen in eine Metaebene hinein, welche die Romananlage und soziale Verortung der Handlung aus der Perspektive des Helden heraus gleichermaßen kritisch reflektiert. Diese „Identitätskonstruktion“22 des Helden öffnet Spielräume „für eine psychologisch vertiefte Charakterisierung“23 und spielt mit den „Spielregeln des Kriminalromans“24. Die Anlagen, die Kayankaya in „Happy birthday, Türke!“ erhält, ent19 Aust, Robin-M.: Grenzüberschreitungen: Jakob Arjounis Kayankaya-Romane zwischen hardboiled detective und Migrationsthematik. In: Germanica 58: Le roman policier dans l᾽espace germanophone. Der Kriminalroman im deutschsprachigen Raum. Hrsg. von Elisabeth Kargl/Aurélie Le Née, 2016, S. 199–210, hier S. 210. 20 Kniesche, Modell. 2005, S. 30. 21 Beck, Sandra: Zwei Welten, im Verbrechen überbrückt? Interkulturelles Erzählen in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart. In: Gewissheit und Zweifel. Interkulturelle Studien zum kriminalliterarischen Erzählen. Hrsg. von ders./Katrin Schneider-Özbek. Bielefeld: Aisthesis, 2015, S. 7–40, hier S. 29. 22 Eickenboom, Stigmatisierung. 2018, S. 213. 23 Suerbaum, Ulrich: Der gefesselte Detektivroman. Ein gattungstheoretischer Versuch. In: Der Kriminalroman. Poetik, Theorie, Geschichte. Hrsg. von Jochen Vogt. München: Fink 1998, S. 84–96, hier S. 94 spricht dem Helden des Detektivromans diese Möglichkeit ab. 24 Vgl. den Titel des Beitrags von Helmut Heißenbüttel, abgedruckt ebenfalls im Sammelband von Jochen Vogt, S. 111–120.

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faltet Arjouni später weiter und vertieft so das Profil seines Helden, dem er auch eine Entwicklung zugesteht. Diese Entwicklung vollzieht sich durch alle fünf Romane der Reihe, ich habe sie an anderer Stelle ausführlich beleuchtet: Aus dem Ostend-Detektiv mit Alkoholproblem (programmatisch hierfür steht der Titel des zweiten Romans: „Mehr Bier“ von 1987) und Bindungsschwierigkeiten wird ein Nichtraucher und Bio-Wein-Trinker mit fester Beziehung im Westend Frankfurts.25 Im letzten Roman der Reihe steht die Geburt des ersten gemeinsamen Kindes des Paares bevor (vgl. BK, 225), und die „pubertäre[] Besserwisserei“26, die der „Spiegel“ dem Helden von „Happy birthday, Türke!“ unterstellt hat, gehört endgültig der Vergangenheit an. Arjouni zeichnet das Bild eines Detektivs, der sich in allen fünf Romanen mehr schlecht als recht durch seine Fälle hindurchkämpft, oft dem Zufall und dem Glück vertrauen muss und bei dem es vor allem um sein Privatleben geht, das in den Vordergrund gerückt wird. Kayankaya-Romane werden, so meine These, nicht aus Gründen der Spannung auf den Ausgang des Falles gelesen, sondern sind besonders durch ihre individuelle Figurenzeichnung des Helden rezeptionslenkend: Der Ich-Erzähler selbst berichtet von seiner sukzessiven Metamorphose weg vom Außenseiter hin zum bürgerlichen Helden, und dass er diese Entwicklung nehmen kann, ist vor allem der reflektierten, differenzierten Anlage Kayankayas bereits im ersten Roman der Reihe geschuldet.

Neue Stereotype in Dörries Film „Happy Birthday, Türke!“ (1992) „‚Und weshalb das blutige Kinn?‘ ‚Um das Publikum zum Nachdenken zu bringen.‘“ (HbT, 57)27

Arjounis Romanreihe war mit „Happy birthday, Türke!“ (1985/1987), „Mehr Bier“ (1987) und „Ein Mann, ein Mord“ (1991) schon drei Bände lang, als 1992 die Verfilmung seines Erstlingswerks in die deutschen Kinos kam. Von Anfang an ist der Film immer im Vergleich zu Arjounis Roman gesehen worden. Der „Spiegel“, der dem Buchhelden pubertäre Besserwisserei unterstellte, lobte im Gegensatz dazu den Film als „das perfide-komische Gegenstück zum sauber gebügelten

25 Vgl. Seeber, Stefan: Ich und die Anderen. Kemal Kayankaya auf dem Weg in die Bürgerlichkeit. In: Germanica 58: Le roman policier dans l᾽espace germanophone. Der Kriminalroman im deutschsprachigen Raum. Hrsg. von Elisabeth Kargl/Aurélie Le Née, 2016, S. 189– 198. 26 Rezension zur Verfilmung des Stoffes: „Der Müll und der Tod. „Happy Birthday, Türke!“ Spielfilm von Doris Dörrie. Deutschland 1991. 109 Minuten, Farbe.“, S. 140. 27 Das Zitat findet sich ebenfalls in Dörries Verfilmung, 00:34:41.

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‚Tatort‘ deutscher TV-Provinz“28, in der „Zeit“ hingegen echauffierte sich Robin Detje: „Aber andererseits hat dieser Film überhaupt keinen Spaß an sich selbst: keinen Spaß am Spiel mit dem Genre, keinen Witz und, [sic] keinen Esprit (alles Qualitäten der Buchvorlage). […] Er bleibt unentschlossen in der Wahl seiner Mittel – man könnte auch sagen: Er hat keine Identität.“29

Die Kritiken maßen den Film am Buch und werteten ihn im Vergleich zur Vorlage; die Germanistik wiederum hat bisher nur Seitenblicke auf den Film geworfen und ihn ebenfalls vor dem Hintergrund des Buches rezipiert.30 Ich will deshalb im Folgenden dem Film mehr germanistische Aufmerksamkeit widmen und auch intensiver auf die Dörrie-Forschung eingehen, die – erwartbar – einen anderen Blick auf den Film hat, die jedoch im Gegenzug die Romanvorlage kaum oder gar nicht zur Kenntnis nimmt. Mir ist es deshalb wichtig, die beiden Sphären enger zusammenzubringen und die Verbindungen und das Trennende in der Konzeption der beiden Werke aufzuzeigen, ohne mich in Geschmacksurteilen zu verlieren. Die Dörrie-Forschung hat anders als die Germanistik betont, dass der Film nicht nur im Kontext der Buchvorlage zu sehen ist, sondern sich in eine einzelwerkübergreifende poetische Entwicklung der Regisseurin einordnen lässt: „‚Happy Birthday‘, then, is no mere Krimi, no mere genre movie. It continues Doris Dörrie’s explorations of her main subject, the problems of conformity, and sets them firmly in the particular and important context of present-day Germany.“31

Das bedeutet: Dörrie nutzt das Konzept des Romans, um ihre eigene Frage nach Konformität in der Gegenwart filmisch umzusetzen und unterstreicht dabei auch die Rolle der Frauen in ihrer Neuformung des Plots: „If race serves as the dominant subtext, the female characters again provide an enigmatic core to ‚Happy Birthday‘.“32 Die Kontrolle über den Text hat bei der Verfilmung dem Vernehmen

28 Der Müll und der Tod, S. 140. 29 Detje, Robin: Deutschland ist blau. „Happy Birthday, Türke!“: ein Krimi, der keiner sein will. In: Die Zeit 03/1992, online abrufbar unter (Zugriff am 10. 09. 2021). 30 Vgl. vor allem die Anmerkungen bei Zeller, Bewusstsein. 2015 und Teraoka, Arjouni. 1999. 31 Angier, Carole: Always the Outsider. In: Sight and Sound 1, 1992, S. 16–19, hier S. 18f. Vgl. allg. auch Anderson, Susan C.: Outsiders, Foreigners, and Aliens in Cinematic or Literary Narratives by Bohm, Dische, Dörrie, and Ören. In: The German Quarterly 75, 2002 H. 2, S. 144– 159, hier S. 144: „Dörrie has achieved renown for her cinematic probing of gender and multicultural issues“. 32 Vgl. dazu: Wagner, Jans B.: Dangerous Dames. Women and Representation in the Weimar Street Film and Film Noir. Athens: Ohio University Press 1999, S. 129.

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nach sogar so weit geführt, dass Arjouni seine anfängliche Beteiligung am Projekt wegen ‚künstlerischer Differenzen‘ beendet hat.33 Dörrie nutzt nicht allein „Happy birthday, Türke!“ als Ausgangspunkt ihrer Arbeit. Ein – abgewandeltes – Zitat Kayankayas zur Selbstbeschreibung aus dem zweiten Roman „Mehr Bier“ hat ebenfalls Eingang in den Film gefunden: „Ich mache meinen Job, weil es zum Anwalt nicht gelangt hat. Ich hatte geglaubt, Privatdetektiv wäre so eine Art Hausarzt. An den großen Schlachtereien und dem allgemeinen Dreck ändert er zwar nichts, aber für den einen oder anderen kann es vielleicht doch wichtig sein, daß er da ist. […] Inzwischen weiß ich auch, es ist vollkommen egal, ob ich da bin oder nicht. Ich mache meine Arbeit so gut es geht, das ist alles.“34 (MB, 115)

Im Buch äußert sich Kayankaya gegenüber seinem neuen (und zukünftig besten) Freund Slibulsky und legt diesem sein Innerstes offen; in der Adaptation von Dörrie berichtet er seiner Auftraggeberin Ilter (im Buch heißt sie mit Nachnamen Hamul, der Nachname wird im Film nicht genannt) zuerst von seiner Kindheit und dann davon, wie er seine Adoptiveltern dadurch enttäuscht habe, dass er nicht Polizist geworden ist. Das ist die Einleitung für die Selbstbeschreibung, an die sich direkt die körperliche Intimität zwischen Auftraggeberin und Detektiv anschließt.35 Damit arbeitet Dörrie nicht allein mit zwei Prätexten (Verwendungen des dritten Romans „Ein Mann, ein Mord“, der 1991, während der Dreharbeiten erschienen ist, finden sich allerdings nicht), sie gewichtet auch in der Verwendung der Motive neu und selbständig: Offenlegen von Biographie wird gleichgesetzt mit Verletzlichkeit, und die ist nur im Gespräch zwischen Mann und Frau denkbar, das aufbauend darauf in sexuelle Intimität mündet. Diese kurze Sequenz aus dem letzten Drittel des Films zeigt bereits deutlich, dass Dörrie sich Freiheiten im Umgang mit dem Roman erlaubt und ihn nicht vorlagengetreu ins andere Medium transponiert. Das zeigt sich besonders in der Figurenzeichnung Kayankayas, der bei Dörrie im Vergleich zu Arjouni, wie bereits angedeutet, stark sexualisiert erscheint. Gleich in der Anfangsszene versucht er, sich beim Abschied seiner Bettpartnerin schlafend zu stellen, um ein Gespräch zu vermeiden,36 unterwegs zu seinem Auftrag werden ihm homosexuelle Avan33 Birgel, Franz A.: „Happy Birthday!“ or, Is a Private Eye a Type of Family Doctor? In: Straight through the Heart. Dorris Dörrie, German Filmmaker and Author. Hrsg. von Franz A. Birgel/ Klaus Philips unter Mitarbeit von Christian-Albrecht Gollub. Lanham u. a.: The Scarecrow Press 2004, S. 115–127, hier S. 118: „Since Dörrie likes to control plots and create or adapt stories that she can make her own, she wrote the script for „Happy Birthday!“, as she had done for most of her other feature films. According to reports, Arjouni originally collaborated on the script, but then suddenly walked out on the project because of artistic differences“. 34 Vgl. zu dieser Übernahme auch Birgel, Family Doctor. 2004, S. 118. 35 Vgl. Dörrie 01:14:09. Ilter antwortet nach einer kurzen Schweigepause: „Ich glaube, ich möchte Sie gern in den Arm nehmen.“ (01:14:39) 36 Vgl. Dörrie ab 00:01:13.

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cen gemacht,37 die Anziehungskraft seiner Auftraggeberin auf ihn wird durch den Schal symbolisiert, den sie bei ihrem ersten Besuch bei ihm vergisst und den er bis zum Ende des Films bei sich trägt, da sie immer die Rücknahme verweigert bzw. auf später verschiebt und so den Kontakt zu ihm weiter verlängert.38 Anders als bei Arjouni haben Kayankaya und Ilter in Dörries Fassung eine intime Beziehung,39 am Ende des Films macht er sich auf den Weg zur Prostituierten, die er im Lauf der Ermittlungen kennengelernt hat (im Roman trägt sie den Namen Susanne Böhnisch und ist seine einzige Partnerin (vgl. HbT, 96), bei Dörrie heißt sie Margret (Spitzname Susi, gespielt von Nina Petri) und ist die dritte Frau, mit der er eine Beziehung unterhält).40 Im Kontakt mit Ilter wird Kayankaya zudem zu einer Figur stilisiert, die domestiziert werden soll, sich letztendlich jedoch als nicht in den Kosmos der Familie integrierbar erweist41 und auf One-Night-Stands und auf Beziehungen zu Prostituierten zurückgeworfen wird, die ebenso wie er keine Familie haben. Auch die Umstellung der Herkunftsgeschichte im Vergleich zum Roman weist in die Richtung einer stärkeren Orientierung der Figur an Frauen als unerreichbaren Vorbildern und Bezugspersonen: Während bei Arjouni der Vater den Sohn nach dem Tod der Mutter nach Deutschland bringt, ist bei Dörrie die ganze Familie nach Deutschland gekommen, wo zuerst der Vater und erst drei Jahre nach ihm die Mutter stirbt.42 So wird Kayankaya in ein neues Beziehungsgeflecht gesetzt, er muss sich nicht nur gegen die Welt, sondern auch in Beziehungen behaupten – gegen die Darstellung des Romans, der ja gerade nicht mit der Aussicht auf eine Beziehung endet, sondern den Helden im Gegenteil allein zurücklässt. Ähnlich verstärkend verfährt Dörrie bei der Zeichnung der rassistischen Stereotype: Es wird das Kontrastbild der Italiener und Afrikaner43 eingeführt, denen von den Deutschen im Film mehr savoire vivre zugesprochen wird (weshalb sich z. B. Ilter Hamuls Bruder Yilmaz im Dienst als italienischer Koch ausgibt).44 Rassistische Witze werden ergänzt, so der Albtraum Kayankayas, in 37 Vgl. Dörrie 00:11:46. 38 Das im Büro vergessene Textil nimmt Kayankaya zuerst in 00:09:27 in die Hand. 39 Die gemeinsame Nacht wird am 01:14:45 gezeigt und am Ende von Ilter Hamul kommentiert mit „Das ist das einzige was hilft gegen den Tod.“ (01:16:10). 40 Vgl. Dörrie 01:42:39. 41 Vgl. Angier, Outsider. 1992, S. 18 und Birgel, Family Doctor. 2004. S. 123. zur Rolle der Familie im Film. 42 Dörrie 00:06:59 sowie HB, 9f. 43 Dörrie ab 01:08:27. Vgl. dazu Heather Merle Benbow: Ethnic Drag in the Films of Doris Dörrie. In: German Studies Review 30 (2007), H. 3, S. 517–536, hier S. 521. 44 Dörrie ab 00:49:23. Vgl. zu dieser Stereotypie Dörries eigene Feststellung: „[R]acism against Italians is by far not as heavy as against the Turks. So a lot of Turkish people pretend they’re Italian.“ (A Conversation with Dories Dörrie, in: Straight through the Heart. Dorris Dörrie, German Filmmaker and Author. Hrsg. von Franz A. Birgel/Klaus Philips unter Mitarbeit von Christian-Albrecht Gollub. Lanham u. a.: The Scarecrow Press 2004, S. 1–16, hier S. 11). Diese

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dem der ermordete Vasif Ergün in einer Quizshow ein Rätsel löst: „‚Was ist blau und schwimmt im Main?‘ – ‚Ein Türke im Müllsack‘“45. Zusätzlich eingeführt wird die Figur eines Türken, der im Rotlichtmilieu von einer Prostituierten rassistisch beleidigt und als Kunde abgewiesen wird und der dann Kayankaya auf türkisch anspricht.46 Kombiniert wird diese Intensivierung zudem mit der Identitätsproblematik des Helden, der aufgrund seiner eigenen Herkunftsgeschichte Familie als Konzept ablehnt,47 gleichzeitig aber in Rückblenden sich selbst als junges Kind in Begleitung seiner Mutter sieht, wenn er mit den spielenden türkischen Kindern vor der Wohnung der Familie konfrontiert wird.48 Die Figurenzeichnung wird dadurch im Vergleich zu Arjounis Text noch stärker zugespitzt. Dörrie selbst nennt den Film als Medium „sehr träge“ im Vergleich zur Prosa, „[d]er Film mag die Ambivalenz nicht so gerne“49. Und dieses Bemühen, nicht zu ambivalent zu verfahren, führt Dörrie am Exempel des Helden vor, geht dabei über die Grenzen des Romans hinaus und integriert Kayankaya als Figur in ihr eigenes cineastisches Universum. Ihre künstlerische Grundfrage: „Wie hält der Mensch das Leben aus?“ und ihr Zugangsprinzip zum Leben: „Ich bestehe auf dem Nichtwissen. Dem Nicht-Konzept. Dem Fremd-sein. In der Fremde sein, auch wenn es scheinbar die Heimat ist“50 werden in den Film transponiert, der auf diese Weise wesentlich mehr ist als eine bloße Literaturverfilmung. Diese Zuspitzung im Dienste der Ambivalenzvermeidung durchzieht die gesamte Darstellung Kayankayas und appropriiert den Helden in dem künstlerischen Universum der Regisseurin, in dem er eine eigene, andere Funktion erfüllt, als dies in Arjounis Text der Fall ist. Die Dörrie-Forschung hat Bhabha- und Butler-Referenzen in der „ethnic masquerade“51 des Helden ausmachen wollen und v. a. auch die ironische Ausrichtung der Figur betont: „Kayankaya’s ironic appropriation“52 lässt kaum Platz für Zwischentöne und tendiert zur Übertreibung – ganz gleich, ob der deutsche Hausmeister dem Detektiv auflauert, um ihn

45 46 47 48 49

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Aussage kann nur auf anekdotischer Evidenz beruhen, sie wird zumindest nicht weiter vertieft oder verifiziert. Vgl. Dörrie 00:55:22. Vgl. Dörrie 00:31:31. Vgl. Dörrie 01:13:08. Vgl. Dörrie 00:17:24. Dirk Jasper, Interview mit Dories Dörrie, hier zitiert nach dem Aufsatz von Herrmann, Mareike: Show and Tell: Dories Dörrie’s Strategies of Adaptation in „Bin ich schön?“. In: Reworking the German Past. Adaptations in Film, the Arts, and Popular Culture. Hrsg. von Susan G. Figge/Jenifer K. Ward. Rochester: Camden House, 2010, S. 223–246, hier S. 227. Die ebd. in Anm. 13 genannte Online-Quelle ist inzwischen nicht mehr verfügbar. Dörrie, Doris: Erzählen. Leipziger Poetikvorlesung. In: Neue Rundschau 128, 2017, H. 1, S. 219–233, hier S. 232 bzw. S. 230. Benbow, Drag. 2007, S. 518. Ebd., S. 524.

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wegen der Zigarettenstummel im Treppenhaus zu behelligen,53 ob Kayankaya als radebrechender Immigrant verkleidet bei der Polizei vorspricht,54 oder ob er in den fragwürdigen Genuss einer Bauchtanzvorführung der Frau seines Ermittlungspartners Löff kommt:55 Dörrie überzeichnet, vereindeutigt und schafft eine ironische Distanz zwischen der Figur und ihrer Umwelt, sie oszilliert zwischen Dekonstruktion und Reaffirmation von Stereotypen56 und schafft so eine deutlich konturierte Figur des Helden, die in ihrer Hin- und Hergerissenheit zwischen den Welten greifbar wird. Was dabei verloren geht, ist Arjounis komplexe Anlage des Detektivs als eine Art tertium comparationis der Stereotypien, als eine Figur, die ein Eigenleben zu entwickeln vermag, gerade weil sie nirgendwo dazu gehört. Dörries Film schafft die starke soziologische Ausdeutung der Figur, die Arjouni im Roman immer wieder unterläuft. Ihr Held hat zwar auch eine Biographie, sie stellt dieses Leben aber gänzlich in den Dienst der Milieu-Studie und einer gender-fokussierten Darstellung von Männlichkeit im Konflikt mit der Umwelt.

Appropriationen und Poetiken von Roman und Film „Ach Gott, tippen Sie Ihren Kram zu Ende.“ (HbT, 118)

Ein Thema verbindet Roman und Film: die Fokussierung auf den Helden, dessen Strahlkraft den Fall (im hardboiled-Kriminalroman das eigentliche Zentrum des Erzählens) verblassen lässt und zum Ermöglichungsraum einer besonderen Biographie reduziert. Allerdings gestalten Arjouni und Dörrie die Figur unterschiedlich aus. Arjouni denkt mit der Figur Kayankaya den hartgesottenen Detektiv neu. Er nutzt hierfür die genretypischen Rezeptionserwartungen und bekannten Stereotype der Figurenzeichnung. Er affirmiert sie jedoch nicht, sondern unterläuft sie in der Konzeption einer Figur, die zwischen den Welten angesiedelt ist und sich als einzigartig erweist: Kayankaya definiert sich durchaus über die Fremdsicht der Anderen,57 die ihm die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft verwehren wollen, allerdings hat diese Fremdsicht nur eine bestimmte, klar begrenzte Reichweite – denn sie kann nur bestimmen, was Kayankaya nicht ist. Was er ist, wird von ihm selbst definiert und auf der Metaebene der Betrachtung verhandelt, die der Ich-Erzähler seiner Geschichte als Kommentar einschreibt. Die Appropriation der genre-geprägten Heldenfigur ist eine der Individualisie53 54 55 56

Vgl. Dörrie 00:00:21 als Eingangssequenz des Films. Vgl. Dörrie 00:10:41, vgl. dazu Benbow, Drag. 2007, S. 523. Vgl. Dörrie ab 00:54:10. Vgl. Birgel, Family Doctor. 2004, S. 118: „On one level, Dörrie consciously deconstructs stereotypes of the Turks, and on another she inadvertently reinforces them.“ Ich würde anders als Birgel kein Versehen, sondern Absicht in der Überzeichnung unterstellen. 57 Zeller, Bewusstsein. 2015, S. 46f.

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rung, die zugleich mit einer Dekonstruktion des Heldenhaften einhergeht, denn die Pose des harten Mannes ist die einstudierte Maske eines Detektivs, der häufig in die Irre geht und oft zweifelt, wie zum Beispiel bei einer martialischen Aktion in der Wohnung einer Verdächtigen, bei der er vom überrumpelten Gegner spöttisch angesprochen wird: „‚Das hast du im Fernsehen gelernt, nicht wahr, mein Freund?‘ Stimmt, dachte ich, sagte es aber nicht.“ (HbT, 97). Dörries Film hat keinen Ich-Erzähler, sondern blickt von außen auf den Helden. Das schafft eine neue Distanz zum Geschehen, die der bereits herausgearbeiteten Tendenz zur Zuspitzung dienlich ist. Die Vereindeutigung, die Dörrie vornimmt, zeigt sich nicht nur in der Sexualisierung des Helden, sondern auch in der hyperbolischen Darstellung seines Alkohol- und Zigarettenkonsums: Es gibt keine ironische Brechung der Stereotype, sondern nur eine Verwahrlosung, die disqualifizierend wirkt. Da der Fall im Vergleich zum Buch wesentlich gerafft und gekürzt wird, bleibt mehr Raum, um diese re-typisierende Figurenzeichnung zu vertiefen und die Fremdheit Kayankayas in den Vordergrund zu rücken. Die dafür notwendigen Neuakzentuierungen im Detail sind umfangreich. Deutlich wird: Auf der Makroebene geht es Dörrie nicht darum, die Romanvorlage möglichst direkt ins neue Medium zu übertragen. Sie schafft stattdessen ihren eigenen Kayankaya, der dem eigenen Programm der Drehbuchautorin und Regisseurin eine Stimme verleiht, selbst wenn er auf der Mikroebene oft wörtliche Rede wie im Roman nutzt. Im Sinne Hutcheons handelt es sich damit bei der Verfilmung um „a creative and interpretive transposition“, ihre „adaptation is a kind of extended palimpsest and, at the same time, often a transcoding into a different set of conventions“58. Der Film ist in gleicher Weise „(re-)interpretation and then (re-)creation“59. Das hat zum einen mit den medialen Bedingungen zu tun: Der „telling mode“60 des Romans wird in das „showing“61 des Films überführt, der, wie von Dörrie bemerkt, Ambivalenz nicht schätzt und in der Neuakzentuierung eine Vereinheitlichung schafft. Auf diese Neuaufstellung des Helden und seiner Geschichte im Film kann das Publikum je nach Vertrautheit mit dem Roman unterschiedlich reagieren, denn: „With the adaptation of novels, the essential process is excision of one kind or other: either paring down or the surgery that removes whole sections, subplots and sets of characters.“62 Wer Arjounis Text genauer kennt, wird, wie die oben zitierten Kritiker im Feuilleton, den Film vor dem Hintergrund seiner Vorlage sehen und seine eigenen Setzungen zuerst als Abweichungen 58 59 60 61 62

Hutcheon, Linda: A Theory of Adaptation. London/New York: Routlegde, 2006, S. 33. Ebd., S. 7f. Ebd., S. 23. Ebd., S. 23. McFarlane, Brian: Novel to Film. An Introduction to the Theory of Adaptation. Oxford: Oxford University Press 1996, S. 24.

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klassifizieren. Wer hingegen mit dem Blick auf „Doris Dörrie: The Filmmaker as Writer“63 die Umsetzung der Vorlage als künstlerische Adaptation wertschätzt, wird das Augenmerk stärker auf Dörries Leistung der Appropriation der Figur und der Schaffung einer eigenen Filmpoetik lenken. Diese Poetik ist erkauft um den Preis von Vereindeutigungen, wo der Roman auf Nuancen setzt. Sie erhöht die Aussagekraft der gesellschaftskritischen Botschaft, will durch die Überzeichnung aber auch gezielt unterhalten, wie Dörrie betont.64 Vor allem aber macht Dörrie aus einem Helden, der zum Zeitpunkt der Verfilmung schon drei Fälle bearbeitet hat, eine in sich geschlossene Figur, der, anders als in Arjounis Roman-Reihe, keine Möglichkeit zur weitergehenden Charakterentfaltung gegeben ist. Mit dieser Vereindeutigung stellt Kayankaya Stereotype aus, statt sie wie bei Arjouni zu transzendieren, und das ist die wesentliche Eigenleistung der Bearbeitung des Stoffes durch Dörrie. Film und Roman stehen exemplarisch für die grundsätzlich verschiedenen Appropriierungen der Grundidee der Kayankaya-Figur ein; was den Vergleich besonders interessant macht, sind die konzeptionellen Differenzen bei großer oberflächlicher Ähnlichkeit. Denn die Darstellung Kayankayas lässt deutlich nachvollziehen, wie unterschiedlich der Held in den verschiedenen Medien ‚funktioniert‘.

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63 So der Titel des Aufsatzes von Thomas R. Nadar, in: Straight through the Heart. Dorris Dörrie, German Filmmaker and Author. Hrsg. von Franz A. Birgel/Klaus Philips unter Mitarbeit von Christian-Albrecht Gollub. Lanham u. a.: The Scarecrow Press 2004, S. 188–195. 64 Vgl. das Zitat bei Birgel, Family Doctor. 2004, S. 119: „This thriller gave me the opportunity to deal with the subject of racism in quite a casual manner. […] This time I also wanted to tell a story which would entertain the spectator and not only preach at him.“

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Romane und Erzählungen

Carolin Kull (Bochum)

„Call me Hopeman!“ Inszenierung und Konstruktion von Identität in Jakob Arjounis Roman „Magic Hoffmann“

Einleitung „I told you a hundred times: Call me Hopeman!“ (MH, 281), mit diesen Worten Fred Hoffmanns endet Jakob Arjounis Roman „Magic Hoffmann“ und das, obwohl seine Geschichte, seine Erfahrungen und Erlebnisse für den Protagonisten allemal das Zeug zur Hoffnungslosigkeit hätten haben können. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der narratologischen Inszenierung von Identität und der Entwicklung des Protagonisten Fred, dessen Fantasien und Träume der Realität nicht standhalten können, an denen er dennoch beharrlich festhält. Fred, der im Roman als eher einfache und nicht besonders intelligente Person gezeichnet wird, versucht mittels englischer Einfügungen in seinen Sprachgebrauch an seinem Ziel, seinem Traum auf ein Leben in Kanada, festzuhalten und dieses bereits in seinem Leben in Dieburg und Berlin greifbar zu machen. Im Beitrag soll zunächst das Spannungsfeld zwischen Identität und Sinnsuche beleuchtet werden. Dabei wird herausgearbeitet, wie sich einzelne Figuren des Romans (selbst) inszenieren, Lebens- und Identitätskonzepte entwerfen und sich in einer immer wieder verändernden Wirklichkeit bewegen. In diesem Kontext wird beleuchtet, wie der Protagonist Fred sich in diesen Zusammenhängen bewegt und wie er sich in der Auseinandersetzung mit der Welt, in dieser sowie in den Begebenheiten verortet. Damit verknüpft wird aufgezeigt, wie sich Fred seine eigene Wirklichkeit konstruiert und wie seine Konfrontation mit der Realität auf sprachlicher und narrativer Ebene dargestellt wird. In einem Moment ist sich Fred einer Sache ganz sicher – „kein Zweifel“ (MH, 15) – und auch die Erzählstruktur lässt keinen Zweifel aufkommen, dass die Sache anders sein könnte, die Sätze sind parataktisch und klar. Doch dann stellt sich heraus, dass etwas anders ist als angenommen: Fred beginnt sich abzulenken, schweift ab und sein Reden endet oder beginnt mit Auslassungspunkten (vgl. MH, 16). Insgesamt bewegt sich der Protagonist im Konjunktiv und in Vermutungen – ‚wahrscheinlich‘ – wobei er an den realen gesellschaftlichen Entwicklungen und Veränderungen kein Interesse hat. Während politische Gegebenheiten und die Auseinander-

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setzung mit solchen für Fred nicht von Belang sind, wie im Roman u. a. an der Neo-Nazi-Thematik aufgezeigt wird, holen ihn diese dennoch ein und haben direkten Einfluss auf sein Leben. Aufgrund fehlender Beschäftigung mit dem und Reflexion des Realen, ist Fred gezwungen, sich immer wieder an veränderte Umstände anzupassen, wobei er seine Hoffnung jedoch nicht verliert: „… Und so war’s ja auch … oder würde es werden, nur heute nicht, jedenfalls nicht exakt.“ (MH, 27) Als Reflexionsmedium stellt Literatur der Gesellschaft ein Modell des Realen, der Wirklichkeit zur Verfügung.1 In Literatur kommt Kommunikatives zum Ausdruck. Texte aus dem Bereich des Literarischen gelten als zentrale Formen des kulturellen Gedächtnisses und haben zudem – als sogenanntes Sozialsystem – Anteil an übergreifenden Sinnstiftungsprozessen einer Kultur. Für die generationelle Selbstverständigung und Identitätsbildung gewinnt Literatur in diesem Kontext an Bedeutung, was aus partikularen Erfahrungen, die in dieser dargestellt werden, folgt. Indem Individuen, deren Denken, Fühlen und Handeln im Mittelpunkt stehen und Verhaltens- und Redeweisen präsentiert werden, ermöglicht Literatur „Zugang zu sowie die Illusion einer sinnlichen Wahrnehmung einer bestimmten fiktionalen Welt und induziert Erfahrungshaftigkeit“2.

Identität als Problem Der Umgang mit nationalen wie auch globalen (Veränderungs- bzw. Entwicklungs-)Prozessen ist zu einer Schlüsselqualifikation eines jeden Einzelnen geworden.3 Die Dynamik der Individualisierungsprozesse hat seit Mitte der 70er Jahre erheblich zugenommen, was dazu führt(e), dass jeder Einzelne gefordert ist, aktives Engagement bei der Gestaltung seines Lebens und der eigenen sozialen Position in einer variablen Umwelt und sich stetig verändernden Gegebenheiten zu zeigen.4 Entwicklung von Identität und einer eigenen Persönlichkeit wird in der Gegenwart, die für jedes Individuum eine (scheinbar) unbegrenzte Anzahl an Möglichkeiten bietet und gleichzeitig nach einem bewusst 1 Vgl. Monika Wolting: „Identität kann nur als Problem existieren“. Zu Identitätskonstruktionen in der Gegenwartsliteratur. Einleitung. In: Identitätskonstruktionen in der deutschen Gegenwartliteratur. Hrsg. von ders. Göttingen: V&R unipress 2017, S. 9–18, hier S. 10. 2 Carolin Kull: Juli Zehs Roman Spieltrieb. Intertextuelles Spiel als Ausdruck von Gesellschaftsund Kulturkritik. Berlin: Peter Lang 2018, S. 56f; vgl. Birgit Neumann: Erinnerung – Identität – Narration. Berlin: De Gruyter 2005, S. 120; vgl. Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart: Springer 2017, S. 193. 3 Vgl. dazu Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2003, S. 102. 4 Vgl. Peter Wagner: Soziologie der Moderne. Frankfurt/Main: Campus 1995, S. 243.; vgl. zudem Wolting, „Identität kann nur als Problem existieren“. 2017, S. 9.

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geführten Leben verlangt, zu einer Frage der Wahl und Entscheidungen. Zentral wird dabei die Selbstverantwortung und Selbstsorge des Individuums, das seine Wahl aus den Optionen zu treffen hat.5 Folglich ist Identität nicht als festes oder statisches Produkt zu begreifen, vielmehr stellt diese „ein temporäres Ergebnis der Selbst- und Fremdbestimmungen eines Individuums dar“6. Situative Erfahrung, die übersituativ verarbeitet und generalisiert wird, wird zum Entstehungsmoment von Identität. Damit ist Identität mit selbstreflexiven Prozessen des Individuums verknüpft und basiert auf (Selbst-)Konstruktion.7 Im Roman Arjounis wird das Spannungsfeld Identität und Sinnsuche sowie Fremdheit und Festhalten an Altem und Bewährtem in der Charakterisierung der Figuren sichtbar. Gleichzeitig werden Wandelungen durch historische Ereignisse angedeutet: „[A]lles ist doch neu: das Land, die Leute, die Politik – alles ist im Umbruch. […] Deutschland ist der Mittelpunkt der Welt!“ (MH, 104) Obgleich die nationalen Neu- und Umstrukturierungen an dieser Stelle nicht explizit benannt werden, wird mit Deutschland als Mittelpunkt der Welt Ende der 80er und dem Beginn der 90er Jahre auf die Wiedervereinigung Deutschlands verwiesen. Diese Veränderungen haben wiederum Auswirkungen auf die (Neu-)Konstituierung von Gemeinschafts- und Sozialgefügen8 sowie die Ausgestaltung von Identitätskonzepten. Auch der Protagonist Fred bemerkt, dass das eine „Mordssache zu sein“ scheint, denn „sogar im Knast haben viele auf einmal angefangen, von Volk und, äh… I-den-ti-tät zu reden“; er stellt aber auch fest, „daß oft dieselben Leute nicht mal das bißchen Volk ausstehen konnten, was ihr Zellennachbar war“ (MH, 87). Mit dieser Feststellung legt Fred offen, dass die Begriffe Identität und Volk (noch) nicht an klaren Konturen gewonnen haben und noch kein Selbstverständnis in Bezug zum wiedervereinigten Deutschland besteht;9 stattdessen haben die Leute mit dem Unmittelbaren, dem Nahen und Kleinen in der direkten Auseinandersetzung bereits Schwierigkeiten. Orientierungslosigkeit hinsichtlich der eigenen Identität ist auch bei Randfiguren des Romans, Personen, denen Fred nur kurz begegnet, erkennbar. So macht sich der Kellner des französischen 5 Vgl. Kull, Juli Zehs Roman Spieltrieb, 2018, S. 235. 6 Wolting, „Identität kann nur als Problem existieren“. 2017, S. 10. 7 Vgl. Wolting, „Identität kann nur als Problem existieren“. 2017, S. 10 sowie darin gelesen: Identität. Entwicklung psychologischer und soziologischer Forschung. Hrsg. Von Hans-Peter Frey. Stuttgart: Enke 1987, S. 23. 8 Vgl. dazu auch den Aufsatz von Ilse Nagelschmidt: Identitätsdiskurse im Spannungsfeld der Generationen in Ostdeutschland. In: Identitätskonstruktionen in der deutschen Gegenwartliteratur. Hrsg. von Monika Wolting. Göttingen: V&R unipress 2017, S. 37–48. 9 Vgl. dazu im Allgemeinen auch den Aufsatz von Aust, Robin-M.: Grenzüberschreitungen: Jakob Arjounis Kayankaya-Romane zwischen hardboiled detective und Migrationsthematik. In: Germanica 58: Le roman policier dans l’espace germanophone. Der Kriminalroman im deutschsprachigen Raum. Hrsg. von Elisabeth Kargl/Aurélie Le Née, 2016, S. 199–210, hier zunächst S. 199f.

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Restaurants Le Parisien über Fred, der die Speisekarte nicht lesen kann oder vielmehr nicht versteht, welche Gerichte sich hinter den französischen Titeln verbergen, und deshalb schlicht Nudeln bestellt, lustig und regt sich künstlich bei seinen Kollegen über Fred auf. Dass das tadellose Kostüm, sein Auftreten und seine Art zu sprechen nicht der eigentlichen Person, dem Inneren und Selbst des Kellners entsprechen, wird durch einen kurzen Einblick in dessen Gedankenund Gefühlswelt offengelegt. Indem dieser Einblick mittels personalen Erzählstils in dritter Person gewährt wird und nicht als ein innerer Monolog in erster Person, also unmittelbar durch den Kellner, präsentiert wird, wird markiert, dass dieser es selbst gar nicht als Problem oder Widerspruch begreift, wenn er selbst zwar gerne Nudeln – am liebsten Spätzle – isst, eben genau dafür aber Fred verlacht, nur, weil der Aufenthaltsort ein französisches Restaurant ist (vgl. MH, 200–202). Es muss eine scheinbare Ordnung aufrechterhalten werden; entsprechend glaubt der Kellner des französischen Restaurants auch vortäuschen zu müssen, er spreche Französisch. Das Paradox wird durch den Hinweis unterstrichen, dass ihm als Angestellter in einem Imbiss jeder zuwider gewesen wäre, „der einen neuen Mantel angehabt oder eine saubere Serviette verlangt hätte“ (MH, 202). Der Konjunktiv II Vergangenheit unterstreicht hier das Irreale und rückt den Satz insofern von der Figur ab, als dass er Unstimmigkeiten oder vielmehr Scheinhaftigkeiten dieser offensichtlich macht, die eine (Selbst-)Reflexion nahezu herausfordern, aber dennoch eben nicht zu derartigen Prozessen führen. Die äußeren Umstände bestimmen folglich das Sein und nicht die Auseinandersetzung mit den eigenen Ansichten oder dem eigenen Wollen. Literatur vermag als Spiegel von Gesellschaft künstlerisch unterschiedliche Identitäten zu zeichnen, deren Entwicklungen, Brüche und Unklarheiten oder auch Beständigkeiten und Kontinuitäten sowie Wandlungsprozesse auszuführen. Prozesse von Identitätsbildung oder Identitätswandel werden so durch Literatur manifest und zugleich nachvollziehbar.10 Die (Neu-)Orientierung des Einzelnen in dieser veränderten Wirklichkeit und das (Selbst-)Gestalten von Ich-Identität wird von der Figur Annette als positiv bewertet, der ihr neues Leben und ihre Arbeit in Berlin, wie sie betont, Spaß mache und das sei, was sie sich immer gewünscht habe. Auch bei ihren Unternehmungen in der Film- und Medienbranche, in der sie erfolgreich zu werden versucht, kommt ebenfalls das Thema Identität zur Sprache. Gegenüber Fred stellt sie dar, dass sie derzeit an der Vorproduktion zu einem Film über Identität und Heimat beteiligt sei: „Ein philosophischer Film, aber mit viel Handlung.“ (MH, 87) In diesem Zusammenhang lässt sie sich auf keinen echten Dialog mit Fred ein und scheint durch ein Vertiefen in ihren Filmordner zu markieren, dass ihr der Tiefgang solcher Themen von besonderer Bedeutung ist. Freds Ansichten 10 Vgl. Wolting, „Identität kann nur als Problem existieren“. 2017, S. 13.

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scheinen für sie von keiner Relevanz mehr und so nimmt sie diese nur am Rande, flüchtig und oberflächlich selektiv zur Kenntnis. Ihr Wirken in den neuen Zusammenhängen, der modernen, sich im Wandel befindenden Gesellschaft und Arbeitswelt, wird auch zu einem Reflexionsmoment für die Veränderung eines Individuums und für die Entfremdung von Prinzipien und eigenen Vorstellungen.11 Annette hat sich verändert. Ihre Denkweisen, Entscheidungen und Handlungen, wie sie ihr privates und berufliches Leben gestaltet, sieht sie für sich als gut und richtig an. Dabei wird dies von ihrer Vergangenheit deutlich abgegrenzt: „[U]nd sie freute sich auch wirklich, Fred wiederzusehen, obwohl sie wusste, daß es schwierig werden würde: Ihr Leben hatte sich in den letzten vier Jahren völlig verändert. Fred war Dieburg, und Dieburg war weit weg. Selbst der Banküberfall – immerhin das wegbahnende Ereignis für den Schritt nach Berlin und eine Zeit sorgloser Zukunftsplanung – tauchte in ihren Gedanken nur noch selten auf, und wenn, als ein schlimmer törichter Ausrutscher, der ihr Leben hätte zerstören können und den es zu vergessen galt. Den Zusammenhang zwischen diesem Ausrutscher und dem Geld, mit dem sie bis heute Miete und Brötchen bezahlte, nahm sie nur noch verschwommen wahr.“ (MH, 78)

Entsprechend haben die einstigen Versprechen und Abmachungen für Annette keinen Raum mehr in ihrem nun neu gestalteten Leben. Dass sie sich verändert hat, bemerkt auch Fred vom ersten Augenblick des Wiedersehens an. Dies wird an einer offensichtlichen Veränderung des Äußeren manifest. Insbesondere ihr Gesicht steht hier im Fokus und wird als leichenblass beschrieben. Auf diese Veränderung angesprochen, reagiert Annette harsch: „‚…Was ist eigentlich mit deinem Gesicht?‘ ‚Was soll damit sein?‘ ‚Es ist so…na ja ziemlich blaß.‘ ‚Puder, was denn sonst?‘ ‚Wegen Pickeln?‘ ‚Bist du dumm? […] das ist mein Stil.‘“ (MH, 83)

Mit einem Überschminken ihres Gesichts scheint Annette ihren Wandel zu unterstreichen – oder: unterstreichen zu wollen. Diese Veränderung im Aussehen grenzt sie von der eher als natürlich beschriebenen kleinen, dicken Annette aus Dieburger Zeiten ab. Mit dem Puder wirkt Annettes Gesicht auf Fred fremd, sodass die Schminke wie eine künstliche Abdeckung des Gesichtes und damit wie eine Maskerade im Sinne der Definition im grimmschen Wörterbuch als Ver-

11 Siehe parallel dazu den Aufsatz von Monika Wolting: Das Versprechen des guten Lebens und die Angst vom Versagen. Folgen der Modernisierungsprozesse im Roman von Daniel Kehlmann „F“. In: Identitätskonstruktionen in der deutschen Gegenwartliteratur. Hrsg. von ders. Göttingen: V&R unipress 2017, S. 49–64, hier u. a. S. 50f.

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kleidung des Gesichts erscheint.12 Unter dem Puder wird das Gesicht verhüllt und das Authentische muss etwas künstlich Aufgesetztem und Trügerischem weichen; der Puder verdeckt damit – wie eine Schutzhülle – das Wahre, was in der Filmbranche und den Gesellschaften, in denen Annette sich bewegt, notwendig erscheint. Für ihre Karriere bei ‚Megastars‘ verändert sie sich nicht nur optisch – „weiß geschminkt, mit hochgestecktem Haar“ – sondern nimmt, in dieser neuen Gestalt, mit maskiertem Gesicht, die sexuelle Belästigung eines fetten Mannes „mit aufgequollenem, roten Gesicht“ (MH, 205) in der Öffentlichkeit hin. Dass dies nicht Annettes Natur entspricht, zeigt ihre Reaktion, als sie bemerkt, dass Fred die Szenerie beobachtet hat: Sie hält erschrocken inne. Ihre Selbstinszenierung als erfolgreiche Geschäftsfrau in der Film- und Medienwelt wird durch die Beobachtung eines einstigen Freundes als oberflächlich und scheinhaft aufgedeckt; es scheint, als diene ihr neuer ‚Stil‘, das auffallend blass geschminkte Gesicht, als Schutzschicht für ihr eigentliches Selbst. Dass Fred mit seinen Geschichten und Erzählungen vom Gefängnis ebenso eine Art Selbstschutz aufgebaut hat, wird mit einem kurzen Eindruck evoziert, den er in einer Auseinandersetzung mit Nickel vom wohl wahren Bild der Haft gibt. Im Gefängnis hat Fred nicht nur ein Gespür für potentielle Gewaltsituationen entwickeln müssen, sondern auch Wege finden müssen, sich Respekt zu verschaffen und mit den Gegebenheiten umzugehen. Bereits die in wenigen Worten zusammengefasste Beschreibung Freds – „wo die Leute dich abwechselnd ficken und auf dich scheißen“ (MH, 226) – lassen vier schwierige Jahre in seiner Biographie vermuten – obgleich er nicht ganz offen über diese spricht und nicht preisgibt, wie der Umgang anderer Gefangener mit ihm und sein tatsächlicher Alltag gestaltet waren. Stattdessen zeigt er seine Strategie auf, wie er mit seinem Gefängnisaufenthalt verfahren ist: „Weißt du, was mich gerettet hat? Daß mir der Laden egal war, die Leute, die vier Jahre, alles. Weil ich wußte, wofür […].“ (MH, 226) Damit wird seine eigene Anstrengung, sich selbst zu erhalten, markiert: Rückzug in seine Gedankenwelt, das Besinnen auf das gemeinsame Vorhaben – die Verabredung vor dem Banküberfall – haben ihn durch die Gefängniszeit gebracht. Aus seiner Perspektive hatte er nichts zu verlieren, sondern verlagerte sein Leben – gedanklich – in eine vermeintlich positive Zukunft. Die Gefängnisrealität hat er hingenommen mit der Perspektive anschließend seine Wirklichkeit gestalten zu können, wodurch er gleichzeitig der Fred geblieben ist, der er vor der Haftstrafe war. Die Zeit des Gefängnisaufenthalts versucht der Protagonist durch positive Ausschmückungen nicht an sich heranzulassen oder durch eine phantasierte 12 Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Band 6. Leipzig: S. Hirzel 1885, Sp. 1702.; vgl. Richard Weihe: Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form. München: Wilhelm Fink 2004, S. 18, 25.

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Vergangenheit auszusparen und umzugestalten und diese so zu umgehen und ihr damit keine Bedeutung in seiner Biographie beizumessen. Gegenüber Moni Sergejew, die er in Berlin kennenlernt, konstruiert er (s)eine Realität und seine Identität, indem er ihr Geschichten von der Schifffahrt erzählt und behauptet, er sei in den letzten vier Jahren als Matrose zur See gefahren. Diese erdachte Lebensgeschichte wird zur Erklärung, weshalb ihm gerade in Deutschland, in Berlin, alles so neu vorkomme und immer wieder „Englisch-Brocken“ (MH, 166) in seine Sprache einflössen. Gleichzeitig vermag er so, in seiner Selbstinszenierung als Seefahrer, seinen Traum auf ein Leben in Kanada bereits als Bestandteil seines Lebens zu integrieren, da er mit dem Schiff vorgeblich dort gewesen ist. Mit der Realität und politischen sowie nationalen Veränderungen setzt Fred sich dagegen nicht auseinander. Kurz nach seiner Entlassung aus der Haft trifft Fred auf einen ehemaligen Klassenkameraden, der ihm von Problemen mit Nazis berichtet: eine Gruppe von Skinheads, die meist am Wochenende die Heimatstadt Dieburg verunsichern, pöbeln und Dinge kaputtmachen. Ein Thema, das Fred nicht interessiert und ihn entsprechend nicht zum Nachdenken anregt (vgl. MH, 48, 265f.). Sowohl der deutschen Historie und deren Bewältigung als auch aktuellen, mit der Geschichte und nationalen Entwicklungen verwobenen sozialen Problemen stellt sich Fred, wie auch eigenen ernsthaften Einschnitten in seinem Leben, dem Banküberfall und der anschließenden Freiheitsstrafe, nicht. Fred ist fokussiert auf seine individuellen, in der Zukunft liegenden Bedürfnisse und sieht für sich keine Relevanz, sich mit gesellschaftlichen Zusammenhängen, Neuformierung von Systemen – in der Romangegenwart die Wiedervereinigung Deutschlands – und damit auch gegebenenfalls einhergehenden Neuorientierungen bei Wert-, Norm- und Identitätsverständnissen auseinanderzusetzen. Darin zeigt sich ein Mangel an (Selbst-)Reflexion und ein Fehlen an Verortung der individuellen Identität im Kollektiv, dem gesellschaftlichen Gefüge. Eben jenes Desinteresse an den gesellschaftlichen Orientierungs- und Findungsprozessen, die mit politischen, sozialen und auch territorialen – im Sinne der Zusammenführung der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland – Verschiebungen und Veränderungen zusammenzudenken sind, holt Fred im Verlauf der Erzählung ein und führt dazu, dass er seine individuellen Ziele und Wünsche (erneut) nicht verwirklichen kann. Am Bahnhof in Berlin – kurz vor seiner Abfahrt, Kanada vor Augen – geraten er und Moni in eine Auseinandersetzung zwischen „Nazis“ und „Rotfront“.13 In dieser verliert 13 Hier ist Anzumerken, dass sich eine generell zu geringe Beschäftigung in der Zivilgesellschaft mit den hinter „Nazis“ und „Rotfront“ stehenden politischen Haltungen zeigt. Ausgedrückt findet sich dies im Roman durch das zunächst Annehmen von „Werbegeschenken“ und Flugblättern und anschließende verächtliche Wegwerfen. Eine Konfrontation im übergeordneten Sinn und Diskurs wird vermieden und vielmehr ein Eindruck des Nicht-Angehens von jedem Einzelnen aus erzeugt (vgl. MH, 274).

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er nicht nur Moni, die nach einem Schlag mit einem Baseballschläger auf den Kopf stirbt, sondern wiederum seine Freiheit; er wird ein weiteres Mal verhaftet. Im Text wird so eine Konfrontation des Protagonisten mit der Realität erzeugt, der seinen Lebensentwurf weiterhin – auch nach gravierenden Einschnitten – auf seine individuellen Träume aufbaut und seinen Glauben in Glück und Hoffnung setzt.

Glück und Hoffnung als Lebenskonzept „[Z]u einem glücklichen Menschen [gehört] auch eine entsprechende Charaktereinstellung. Er sollte erstens glückliche Lebensumstände herbeirufen können, zweitens sich diese erhalten können und drittens ein Mensch sein, der auch beim Ausbleiben von äußerem Glück dennoch nicht völlig unglücklich ist.“14

Die Konstruktion eigener Realität und auch Identität Freds werden in seiner wiederholten Aussage „I told you a hundred times: Call me Hopeman!“ (MH, 281) sichtbar. In Sprache und Handeln manifestiert sich, wer jemand ist.15 Trotz vielfältiger Momente des Scheiterns sucht der Protagonist Fred sein Lebenskonzept, sein Entwurf vom Leben und seine eigene Selbstwahrnehmung und -inszenierung aufrechtzuerhalten. Dabei spielen die Aspekte Glück und Hoffnung eine bedeutende Rolle und bilden auch in Freds Denken und (Selbst-) Entwürfen tragende Säulen. Bei seiner Ankunft in Berlin, auf der Suche nach seiner (einstigen) Komplizin und Freundin Annette, empfiehlt ihm ein Taxifahrer das ‚Hotel Glück‘ als günstige Unterkunft. Die Beschreibung, die vom Hotel Glück gegeben wird und der Anblick, der sich Fred bietet, lässt bereits vermuten, dass die ersten Schritte für Fred in Berlin nicht von Glück geprägt sein werden – zumindest nicht so, wie er es sich ursprünglich vorgestellt hat: „TEL G ÜCK. Trüb leuchteten die Neonbuchstaben über einer gesplitterten Glastür.“ Dennoch „Fred im Glück, dachte er feixend“ (MH, 60). Er scheint die Situation, wie sie sich zu diesem Zeitpunkt darstellt, annehmen zu können, wie sie ist und versucht offenbar, das Beste in ihr zu sehen. Gleichzeitig wird mit diesem Gedanken Freds eine Allusion auf das Märchen „Hans im Glück“ erzeugt. Damit scheint bereits im Vorfeld angedeutet zu werden, dass Fred sein Glück nicht durch den Erhalt seines ihm zustehenden Anteils der Beute aus dem Banküberfall erlangen wird, sondern – wie bei der Märchenfigur Hans – das Glück letztlich nicht an materiellen Besitztümern hängt und er vielmehr Begegnungen und „Zufälle des Lebens als glückliche Fügun14 Günther Bien: „Glück ist nicht das Ziel, sondern der Lohn …“. Interview. In: der blaue reiter. Journal für Philosophie. Ausgabe 14. 2001, S. 64–71, hier S. 66. 15 Vgl. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, Zürich 2005, S. 226.

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gen“16 zu begreifen vermag. Jedoch sind es zunächst scheinbare Zufälle und Fügungen, die in Freds Leben gerade nicht zu seinem Glück beitragen und zu seinen Gunsten verlaufen. Veranschaulicht wird dies durch einen Einschub, in Form eines narrativen Rückblicks zum Banküberfall durch den Erzähler, der nicht chronologisch zu Beginn des Romans als Ausgangspunkt geschildert wird, sondern dessen Ablauf und situationsbezogene Dialoge in Freds ersten Tag in Berlin, auf seinem Weg zu Annette, eingebettet werden. Anschaulich werden der Banküberfall sowie das anschließende Geschehen durch die Erzählinstanz dargestellt. Indem die Rückschau nicht als Erinnerung Freds gestaltet ist, sondern von einem personalen Erzähler eingefügt wird, erscheint die Szenerie nüchtern und wie eine Art Erklärung der Situation, die Auslöser für Freds Weg nach Berlin ist. Durch diese Reminiszenz wird auf der Ebene der Erzählung offenbar, dass eine Fehleinschätzung Freds ihn zunächst ins Gefängnis und entsprechend an dieser Stelle des Romans überhaupt erst auf den Weg nach Berlin gebracht hat. Während die Freunde Annette, Nickel und Fred nach dem Banküberfall alle Beweise – vom Fluchtwagen über ihre Kleidung, die sie trugen – zu vernichten suchten, war Fred mit Blick auf seine Schuhe überzeugt: „Behalte ich, die bringen mir Glück.“ (MH, 64) Eben diese Schuhe sind es dann aber, die ihm vorerst kein Glück bringen: sie identifizieren ihn als einen Täter des Überfalls, werden so zum Grund für Freds Verhaftung und für seinen Aufenthalt im Gefängnis. Diese Ausgangslage führt Fred jedoch – nach seiner Entlassung – auf seiner Suche nach seinen Freunden und Komplizen nach Berlin. Entsprechend hätte die narrative Rückschau auch als Erinnerungs- oder Reflexionsprozess Freds angelegt sein können, aus dem der Protagonist Rückschlüsse für sein weiteres Leben oder zunächst unmittelbare Handlungen hätte ziehen können oder sie hätte seine Emotionen in diesem Zusammenhang sichtbar werden lassen können. Dass der Einschub stattdessen auf der personalen Erzählebene berichtend – unter Einbezug der handlungsbezogenen Dialoge – erfolgt, und damit einen eher objektiven Klang hat, zeigt, dass Fred die Situationen vielmehr so annimmt, wie sie auf ihn zukommen. Wenn er selbst von seinem Gefängnisaufenthalt erzählt, schmückt er diesen aus, statt sich mit der realen Vergangenheit reflexiv auseinanderzusetzen und daraus Gegenwart und Zukunft zu gestalten. Obgleich Fred sich in Berlin mit Veränderungen seiner Außenwelt und der ihm einmal nahestehenden Personen konfrontiert sieht, vermag er dennoch Glück in seiner Situation zu erkennen, Glück in der Begegnung mit Moni Sergejew:

16 Ulrike Tanzer: Fortuna, Idylle, Augenblick. Aspekte des Glücks in der Literatur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 25.

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„[D]er Himmel war nicht mehr einfach nur grau, sondern verhieß ein baldiges Blau. Und war das nicht wie in seinem Leben? Lachte ihm nicht hinter den ganzen Schwierigkeiten das Glück? Und hatte sich für ihn nicht immer alles irgendwann zum Besten gewendet…? Genau so war’s! Und heute ging es damit los. Um das zu wissen, mußte er nur Moni anschauen […].“ (MH, 169)

Dass Fred sein bisheriges Leben, den Banküberfall, seine anschließende Verhaftung nicht reflektiert und als bedeutsamen Einschnitt in seine Biographie begreift, macht er in einer Einschätzung, die er gegenüber Moni äußert, deutlich; er sieht sich nicht als ein Typ mit Problemen. Die Unwägbarkeiten mit den einstigen Freunden Annette und Nickel, mit denen Fred keinen echten Dialog mehr findet, da diese inzwischen andere Träume verfolgen und andere Lebensmittelpunkte gefunden haben als die gemeinsame Verabredung, nach Kanada auszuwandern, (vgl. MH, 253) werden durch die Figur Moni kompensiert. Mit ihr glaubt er zu seinem Glück und seiner Hoffnung zurückzufinden, was sich in gemeinsamen Zukunftsplanungen ausdrückt, die Fred hoffnungsvoll ausmalt. Seine frohen Erwartungen und seine Hoffnungen drücken sich auch in seiner Selbstbezeichnung aus – „Hopeman“ (u. a. MH, 267, 281): Mittels der Anglisierung seines Namens ‚Hope-‘ erfolgt eine Betonung des ‚Hoff-‘ im Sinne von Hoffnung, wodurch auch eine Bedeutungsverschiebung einhergeht. Aus der ursprünglichen Namensherkunft, der Berufsbezeichnung Hof(f)-mann, also Pächter eines Gehöfts, der einem Dienstherrn verpflichtet ist, wird der Mann, der Hoffnung hat – ‚Hopeman‘. Fred entwirft so sein eigenes Konzept von Identität. Durch die Bezeichnung ‚Hopeman‘ verbalisiert er seine Selbstwahrnehmung sowie seine Sicht auf die komplexe Welt und heterogenen Begebenheiten und Umgebungen, in denen er sich bewegt. Diese vermögen ihn zwar zu irritieren, führen jedoch kaum zu Orientierungsproblemen oder echter Selbstreflexion – Fred Hoffmann verfolgt seinen Weg.

Narrative Elemente und Konstruktion von Identität Raum und Zeit sind konstitutive Elemente der erzählten Welt. Für die Gestaltung von Ereignissen, Figuren und ihren Handlungen geben sie den Rahmen vor, wodurch Raum und Zeit damit meist eine bedeutungstragende Funktion zukommt.17 In „Magic Hoffmann“ hat ein Raum und eine bestimmte Zeitspanne für den Protagonisten besondere (Aus-)Wirkung: Das Gefängnis und sein vierjähriger Aufenthalt dort. Eben diese vier Jahre werden im Roman jedoch nicht 17 Vgl. Ruth Ronen: Possible Words in Literary Theory, Cambride: Cambridge University Press 1994, S. 199; vgl. Antonius Weixler: Bausteine des Erzählens. In: Erzählen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hrsg. von Matías Martínez. Stuttgart: J.B. Metzler 2017, S. 7–21, hier S. 17.

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erzählt. Zu Beginn des Romans erfährt der Leser von Freds Plan gemeinsam mit seinen Freunden Annette und Nickel eine Bank zu überfallen, um den Traum auf ein Leben in Kanada zu verwirklichen; seiner Großmutter berichtet er von einem neuen ‚Job‘: „Mach dir keine Sorgen, Oma, das is ’n Job für die Zukunft…“ (MH, 9) Dabei markieren die Auslassungspunkte die folgenden Jahre, die eben nicht erzählt werden; so heißt es im folgenden Satz des Romans: „Vier Jahre später wurde Fred aus der Jugendvollzugsanstalt Dieburg entlassen.“ (MH, 9) Im wahrsten Sinne des Wortes wird diese Zeit, vier Jahre Gefängnis, in der Konsekutive der Erzählung ausgespart. Diese nicht erzählte Zeit zeigt sich gespiegelt in der Identitätsentwicklung Freds, bzw. in der Stagnation seiner Persönlichkeitsentwicklung. Art, Verhalten und Denken des Protagonisten Fred sind gleichgeblieben und setzten in der Zeit vor seinem Gefängnisaufenthalt an – es scheint, als ob diese vier Jahre keine Veränderung bewirkt hätten. Der Gefängnisaufenthalt, der als Moment des Scheiterns in Freds Biographie begriffen werden kann, hätte auch ein Moment der Auseinandersetzung mit der Außenwelt und insbesondere mit der eigenen Person, dem Selbst sein können und somit einen Entwicklungsprozess charakterisieren können.18 Als ob es diese vier Jahre nicht gegeben hätte, wird diese Zeitspanne in der Chronologie der Erzählung ausgelassen und stattdessen einzelne Situationen, Aspekte und Momente im Rückblick an unterschiedlichen Stellen des Romans dargestellt. Dementsprechend gilt für Fred unmittelbar nach seiner Entlassung: „Er war der alte geblieben – keine Frage. Und er war stolz drauf. […] Das Gefängnis war nur ein Wartezimmer gewesen, […].“ (MH, 11) Dass jedoch außerhalb des Gefängnisses, außerhalb Freds zu diesem Zeitpunkt begrenztem Einfluss- und Aufenthaltsbereich, Weiterentwicklungen stattgefunden haben, deutet sich bereits nach seiner Entlassung beim Warten auf deine Freunde Annette und Nickel am Kiosk an, als der Verkäufer anmerkt, dass Freds Uhr wohl nicht mehr das neuste Modell sei (vgl. MH, 14). Freds Reaktion lässt den Verkäufer Empfindlichkeiten in Modefragen vermuten, allerdings steht die Uhr vermutlich vielmehr für Freds Sein, seine innere Verfassung und sein Festhalten an früheren Zeiten. In die Uhrsymbolik gehen auch das Bedürfnis nach Erinnerung sowie die Problematik der Dynamisierung ein, was wiederum mit der Beschleunigung und Unverfügbarkeit von Zeit verbunden ist. Anders als es im Zusammenhang mit der Uhrsymbolik in der Literatur häufig verknüpft ist, ist Fred kein mechanisch strukturiert denkend und agierender Mensch,19 sondern er gestaltet seine Handlungen vielmehr arglos und intuitiv. 18 Vgl. zum Aspekt des Scheiterns und der Entwicklung Michael Heidgen: Inszenierung eines Affekts. Scham und ihre Konstruktion in der Literatur der Moderne. Göttingen: V&R unipress 2013, S. 283 sowie Matthias Hoffmann: Gesellschaftskritik in Wilhelm Genazinos Roman „Das Glück in glücksfernen Zeiten“. Frankfurt/Main: Peter Lang 2015, S. 35. 19 Vgl. Christiane Holm: Uhr. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer/Joachim Jacob. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2012, S. 456–458, hier S. 456f.

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Narrativ wird mit Freds zweitem Gefängnisaufenthalt parallel zum ersten verfahren. Der Leser erhält einen Einblick in die Situation, die zur Verhaftung führt – das darauf Folgende muss hinzugedacht werden, in der Erzählung selbst wird wiederum die Zeit der Haft ausgespart. So beginnt das letzte Kapitel des Romans analog zum Ende des ersten Kapitels mit dem Satz „Dreieinhalb Jahre später“ (MH, 279) – lediglich die Anzahl an Jahren ist verändert. Entsprechend dazu scheint diese Zeit für Fred erneut eine Ellipse in seinem Lebenslauf darzustellen. Von dem Wenigen, das der Leser zum Abschluss des Romans über ihn noch erfährt – er arbeitet als Gehilfe in einem Lebensmittelladen – bleibt gewiss, dass Fred seinen Traum und seine Hoffnung auf Kanada nicht aufgegeben hat. Offenbar wird dies in der im letzten Kapitel einzigen und auch die Erzählung schließenden Äußerung des Protagonisten: „Call me Hopeman […]! I told you a hundred times: Call me Hopeman!“ (MH, 281) Hier wird nicht nur abermals die Betonung auf hope, also auf Hoffnung, gelegt, sondern der Satz ist im Kontext weiterer Aussagen Freds innerhalb des Romans, die er auf Englisch formuliert, zu lesen: Zwar nutzt der Protagonist vermehrt Anglizismen und versucht sich im Gebrauch des Englischen, dies erfolgt aber insbesondere dann, wenn seine Idee und Hoffnung auf ein Leben in Kanada im Vordergrund stehen und ein solches Leben für ihn in scheinbar greifbare Nähe rückt; zuletzt zeigt sich dies – nach seinen Enttäuschungen mit Annette und Nickel, die, jeder für sich, neue Lebensentwürfe in Berlin verfolgen oder bereits realisiert haben und deshalb nicht mehr an der gemeinsamen Verabredung festhalten – in einem Gespräch mit Moni. Monis Offenheit ihm nach Kanada zu folgen, geht einher mit kurzen Einfügungen, Gedanken oder Leitsprüchen Freds in englischer Sprache. Auch hier gebraucht er den Namen Hopeman für sich selbst, mit der eine Klammer zum Romanende gespannt wird: „HOPEMAN’S APPLEWINE“ (MH, 269). Es erscheint wie Ironie, dass Fred in Kanada eine Apfelplantage und eine Fabrik für die Herstellung von Apfelwein aufbauen möchte und zum Ende der Erzählung in einem kleinen Lebensmittelgeschäft in Dieburg Getränkekisten sortiert; die von Fred gewünschte und in seinen Gedanken konstruierte Wirklichkeit wird so der Realität gegenüber abgegrenzt. Dabei dachte Fred in Berlin im Gespräch mit Moni noch: „Magic Hoffman goes lucky!“ (MH, 270). Seine Freude und Träume sind stets mit der Idee von einem Leben in Kanada verwoben, was durch den Versuch, Englisch als Bestandteil seiner Sprache zu etablieren, unterstrichen wird. Gleichzeitig ist damit auch ein Hochgefühl verbunden. In „Magic Hoffmann“ zeigt sich entsprechend seine Selbstsicht: ein Fred, der es geschafft hat, seine Identität und seine Wirklichkeit auf magische Weise selbst zu gestalten. Die Figur Fred strebt danach, in ihren Gewohnheiten und ihrer Identifikation konstant zu bleiben und dies auch über krisenhafte Einschnitte in ihrem Leben

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hinweg. Gleichzeitig haben das Versprechen und das gehaltene Wort20 für ihn, sein Handeln und seine Erwartungen an andere besondere Bedeutung (vgl. u. a. MH, 103). Freds Loyalität kommt auch bei seinem Wiedersehen mit Nickel in Berlin zum Ausdruck. Obwohl es Fred ist, der sowohl die Schuld des Banküberfalls auf sich nimmt als auch nach seiner Haft die nötigen Anstrengungen unternimmt, seine ‚Freunde‘ wiederzutreffen, während diese keine oder wenig Bemühungen zeigen, bleibt er aufrichtig und seiner Linie treu. Nickel, der sich beim Aufeinandertreffen durchaus bewusst ist, was er Fred zu verdanken hat und dass er in dessen Schuld steht – „Hauptsache du bist frei! […] ich weiß nicht, wie ich’s sagen soll, aber…“ – wird von Fred unterbrochen mit den Worten „Schon gut! Es ist vorbei!“ (MH, 186). Auf der Text- und Erzählebene wird an dieser Stelle durch die Beendigung der beiden kurzen Sätze mit jeweils einem Ausrufezeichen markiert, wie sicher Fred sich in dieser Sache ist; seiner Aussage, die offensichtlich nicht vieler Worte bedarf, wird so besonderer Nachdruck verliehen, insbesondere, da Aussagen des Protagonisten sonst häufig mit Auslassungspunkten und damit offen enden. Mit Blick auf seine ‚Freunde‘ und seinen Einsatz für sie und der einst gemeinsamen Phantasie – eines Lebens in Kanada – wirkt er entschlossen und seiner Sache gewiss, zeigt Klarheit und Eindeutigkeit. Das Wiedersehen mit Nickel ist geprägt von einem Dialog, in dem Fred versucht, über das neue Leben des früheren Freundes Auskunft zu erhalten und sich so durch die vergangenen vier Jahre, an denen er nicht Teil hatte, fragt. Der Text ist an dieser Stelle durch einen hohen Anteil an direkter Rede geprägt – Fragen und Antworten. Dabei wird deutlich, dass die Fragen innerhalb der Kommunikation nicht nur Fragen des Interesses darstellen, sondern vielmehr reelle Fragezeichen allegorisieren, die Sinnbilder von Un- und Missverständnis sind. Freds Gedanken, die zwischen den Fragen und Antworten im Rahmen der direkten Rede offenbar werden, spiegeln dies wider: „‚Weißt du noch […], wie du mit der roten Fahne alleine auf ’m Dach gestanden und Aufwachen, verdammt noch mal, oder wie das heißt, gesungen hast?‘ ‚Es heißt anders, und damals war ich noch jung.‘ ‚Also, mir hast du gefallen.‘ ‚Jedenfalls wohnen wir […] im Osten […] wegen der Quadratmeterpreise […].‘ ‚…Ach so?‘ […] Fred stürzte sein Bier runter und öffnete die nächsten beiden Flaschen. Haus gekauft, Familie, Kind, Mundgeruch….“ (MH, 189, Hervorh. i. Orig.)

Die direkte Rede wird nicht nur durch Freds Gedankengänge, sondern auch durch eine knappe Sequenz in indirekter Rede unterbrochen. Als das Gespräch 20 Diese bezeichnet Paul Ricœurs als zweite Grundkomponente des Selbst, vgl. dazu Inga Römer: Narrative Identität. In: Erzählen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hrsg. von Matías Martínez. Stuttgart: J.B. Metzler 2017, S. 263–269, hier S. 265.

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ins Stocken gerät, beginnt Fred vom Gefängnis zu erzählen. Während die direkte Rede polyphon ist, dem Leser Rückschlüsse auf die Art und Weise einer Äußerung ermöglichen und durch Sprachstile der Figuren Nähe und Authentizität zu suggerieren vermögen, wird durch die indirekte Rede vielmehr eine Distanzierung von der Erfahrung erzeugt.21 Die Darstellungen des Gefängnisaufenthalts sind in der indirekten Rede so verkürzt und auf scheinbar Bedeutungslosigkeiten reduziert, „die üblichen Geschichten, wie er Tischfußballmeister geworden sei […] und wie schnell so ein paar Jahre runtergerissen wären“ (MH, 189), sodass diese vier Jahre in vier Sätze zusammengefasst sind. Auf der Erzählebene wird damit markiert, was Fred auszustrahlen und selbst zu betonen sucht – dass diese vier Jahre weder ihn noch für ihn etwas ge- oder verändert haben. Gleichzeitig wird über die personale Erzählsituation das Gefühl von Verunsicherung und Perspektivlosigkeit transportiert, wenn sich Situationen, insbesondere bei dem Protagonisten, nicht so einstellen, wie gedacht oder geplant. Die illusionsschaffende und weltdeutende Kraft geht bei der Darstellung mit personaler Erzählsituation von einem personalen Medium, einer Romangestalt aus, sodass die Wahrnehmung, die zeitliche und räumliche Bestimmtheit dieser Gestalt den Orientierungsfokus bildet.22 In einer Form der Innensicht werden trotz eines Sprechers in dritter Person die individuellen Züge23 und der Gedankengang Freds transparent, zeigen seine Selbst- und Wirklichkeitswahrnehmung und – nach seinem Gespräch mit Nickel, der erkennbar macht, dass er nicht mehr den Weg nach Kanada sucht, sondern ein neues solides Leben in Berlin führt – auch Zweifel und ein Prüfen der Selbst- und Fremdperspektive. Sprachlich drückt sich die Verunsicherung in Auslassungspunkten und dem Offenlassen von Satzausgängen aus; so wie auch der weitere Verlauf Freds Lebens offen und fraglich erscheint. Entsprechend treten auch eine Vielzahl rhetorischer Fragen auf, die der Protagonist an sich selbst zu richten scheint. Dabei wird deutlich, dass er die Entwicklungen und Veränderungen um sich herum nicht versteht. Der sonst zuversichtliche Fred macht sich nach seiner Unterhaltung mit Nickel die Diskrepanz zwischen dem, was vor vier Jahren, vor seiner Haft zwischen ihnen als Freunden verabredet war, und wie die Situation im Hier und Jetzt vorliegt, klar und lässt den Gedanken zu, dass die Wärter im Gefängnis sowie die Sozialarbeiter recht behalten könnten, dass sich die Wirklichkeit verändert habe. Während er zuvor stets Erklärungen für das Verhalten seiner Freunde findet und dabei vom Positivem, im Sinne des Festhaltens an gemeinsamen Träumen aus21 Vgl. dazu Florian Coulmas: „Reported speech: Some issues.“ In: Direct and Indirect Speech. Hrsg. von Florian Coulmas. Berlin: De Gruyter 1986, S. 1–28. 22 Vgl. Franz Stanzel: Die typischen Erzählsituationen im Roman. Dargestellt an Tom Jones, Moby Dick, The Ambassadors, Ulysses u. a. Stuttgart: Wilhelm Braumüller UniversitätsVerlagsbuchhandlung 1955, S. 28. 23 Vgl. Stanzel, Die typischen Erzählsituationen im Roman. 1955, S. 151f.

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geht (vgl. MH, u. a. 15–17, 29, 107), wird auf der Erzählebene, in seinen rhetorischen Fragen und den darüber angezeigten Gedankengängen, das allmähliche Begreifen der Realität lesbar. Eines bleibt jedoch in diesem Moment, wie über den gesamten Roman bis zum Schluss konstant – das Hoffen und das Festhalten an dem Plan auf ein Leben in Kanada, denn: „Wenn er dort nichts verstand, wäre – für eine Weile wenigstens – nichts dabei.“ (MH, 198)

Literaturverzeichnis Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben. Zürich: Piper 2005. Aust, Robin-M.: Grenzüberschreitungen: Jakob Arjounis Kayankaya-Romane zwischen hardboiled detective und Migrationsthematik. In: Germanica 58: Le roman policier dans l’espace germanophone. Der Kriminalroman im deutschsprachigen Raum. Hrsg. von Elisabeth Kargl/Aurélie Le Née, 2016, S. 199–210. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003. Bien, Günther: „Glück ist nicht das Ziel, sondern der Lohn …“. Interview. In: der blaue reiter. Journal für Philosophie 14, 2001, S. 64–71. Coulmas, Florian: „Reported speech: Some issues.“ In: Direct and Indirect Speech. Hrsg. von dems. Berlin: De Gruyter 1986, S. 1–28. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart: Springer 2017. Frey, Hans-Peter (Hrsg.): Identität. Entwicklung psychologischer und soziologischer Forschung. Stuttgart: Enke 1987. Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Leipzig: S. Hirzel 1885, Bd. 6. Heidgen, Michael: Inszenierung eines Affekts. Scham und ihre Konstruktion in der Literatur der Moderne. Göttingen: V&R unipress 2013. Hoffmann, Matthias: Gesellschaftskritik in Wilhelm Genazinos Roman Das Glück in glücksfernen Zeiten. Frankfurt/Main: Peter Lang 2015. Holm, Christiane: Uhr. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer/ Joachim Jacob. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2012, S. 456–458. Kull, Carolin: Juli Zehs Roman Spieltrieb. Intertextuelles Spiel als Ausdruck von Gesellschafts- und Kulturkritik. Berlin: Peter Lang 2018. Nagelschmidt, Ilse: Identitätsdiskurse im Spannungsfeld der Generationen in Ostdeutschland. In: Identitätskonstruktionen in der deutschen Gegenwartliteratur. Hrsg. von Monika Wolting. Göttingen: V&R unipress 2017, S. 37–48. Neumann, Birgit: Erinnerung – Identität – Narration. Berlin: De Gruyter 2005. Römer, Inga: Narrative Identität. In: Erzählen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hrsg. von Matías Martínez. Stuttgart: J.B. Metzler 2017, S. 263–269. Ronen, Ruth: Possible Words in Literary Theory, Cambride: Cambridge University Press 1994.

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Stanzel, Franz: Die typischen Erzählsituationen im Roman. Dargestellt an Tom Jones, Moby Dick, The Ambassadors, Ulysses u. a. Stuttgart: Wilhelm Braumüller UniversitätsVerlagsbuchhandlung 1955. Tanzer, Ulrike: Fortuna, Idylle, Augenblick. Aspekte des Glücks in der Literatur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011. Wagner, Peter: Soziologie der Moderne. Frankfurt/Main: Campus 1995. Weihe, Richard: Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form. München: Wilhelm Fink 2004. Weixler, Antonius: Bausteine des Erzählens. In: Erzählen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hrsg. von Matías Martínez. Stuttgart: J.B. Metzler 2017, S. 7–21. Wolting, Monika: „Identität kann nur als Problem existieren“. Zu Identitätskonstruktionen in der Gegenwartsliteratur. Einleitung. In: Identitätskonstruktionen in der deutschen Gegenwartliteratur. Hrsg. von ders. Göttingen: V&R unipress 2017, S. 9–18. Wolting, Monika: Das Versprechen des guten Lebens und die Angst vom Versagen. Folgen der Modernisierungsprozesse im Roman von Daniel Kehlmann „F“. In: Identitätskonstruktionen in der deutschen Gegenwartliteratur. Hrsg. von ders. Göttingen: V&R unipress 2017, S. 49–64.

Sandro M. Moraldo (Bologna)

Rhetorik der Selbsttäuschung. Ein Versuch über Jakob Arjounis „Hausaufgaben“

Einleitung Nur wenige Autoren haben es verstanden, in ihren Werken Humor, Leichtigkeit und Tiefgang so wunderbar miteinander zu verbinden und dadurch einen erstaunlichen Erzählsog zu entwickeln, wie Jakob Arjouni. Das gilt sowohl für seine Krimiserie um den in der Türkei geborenen und in Deutschland aufgewachsenen Privatermittler Kemal Kayankaya wie für die 1996 mit „Magic Hoffmann“ einsetzenden belletristischen Werke. Der aus der hessischen Metropole Frankfurt am Main stammende Autor repräsentiert den vielleicht nicht einzigartigen, aber dennoch kuriosen Fall eines Schriftstellers, dessen Gesamtwerk sich in das traditionelle Kategorienpaar von U- und E-Literatur aufteilen lässt. „Die Krimidramaturgie“, so Arjouni selbst, habe ihm einerseits bei seinen Kayankaya-Romanen „ein Korsett für den Erzählverlauf“ geboten und mit „Magic Hoffmann“ sei er andererseits „aufs offene Meer hinausgeschippert, stets in Gefahr, das Ufer aus den Augen zu verlieren“1. Eine ähnliche Metapher zur poetologischen Differenzierung von unterhaltender und ernsthafter Literatur benutzte schon Friedrich Glauser (1896–1938) in einem offenen Brief vom 25. 03. 1937 an Stefan Brockhoff hinsichtlich der „Zehn Gebote für den Kriminalroman“:2 Im Vergleich zum „salonfähigen Bruder“, dem Roman, habe der „verachtete Bruder“, der Kriminalroman, „von allen Eigenschaften, die den Roman ausmachen, einzig die 1 Zit. in Focus, 11. 03. 1996. So ähnlich in einem persönlichen Schreiben Arjounis an den Verfasser Anfang des Jahres 1995. Auf die Frage, warum er gerade mit dem Genre des Kriminalromans zu schreiben angefangen habe, antwortete er: „Im Nachhinein denke ich, Krimi ist ein guter Rahmen, um mit dem Schreiben anzufangen. Es ist wie einen Fluß hinunter zu fahren, mit Ufern und Begrenzungen, der Weg ist mehr oder weniger vorgegeben. Beim NichtKriminalroman befindet man sich eher auf offenem Meer“. Die Frage war Teil eines Interviews, das auf Italienisch in foglio giallo VII, 1996, 22, S. 23–25, hier S. 24, erschienen ist. 2 Hinter dem Namen Stefan Brockhoff verbirgt sich das Sammelpseudonym von Dieter Cunz (1910–1969), Richard Plant (1910–1998) und Oskar Seidlin (1911–1984). Vgl. den Eintrag ‚Brockhoff, Stefan‘ im Lexikon der deutschen Krimi-Autoren unter (Zugriff am 22. 02. 2021).

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Spannung beibehalten“. Zwar fabuliere er auch ein wenig, „jedoch ohne die sicheren Pfade zu verlassen“ und verzichte „freiwillig auf das Wichtigste: das Darstellen der Menschen und ihres Kampfes mit dem Schicksal“3. Mit „der Variation mehr oder weniger festgelegter Elemente“ leistete Arjouni mit den Kayankaya-Krimis seinen Beitrag für diesen stets aufs Neue „kultivierten Literaturzweig“4. Auch wenn bei ihm die Grenzen der Zuschreibung von Gut und Böse im Vergleich zum klassischen Rätsel-Krimi ein wenig verschwimmen und er ein gesellschaftliches Panorama entwirft, das nicht mehr Ausdruck einer erkennbaren staatlichen Ordnung ist, sind seine Kriminalromane nach dem klassischen seriellen und vorhersehbaren Muster gestrickt. Mit „Magic Hoffmann“ aus dem Jahr 1996 „befreit sich Arjouni aus dieser Schublade“,5 unternimmt den Versuch, die eingetretenen Pfade der Genreliteratur zu verlassen, deren Beschränkungen aufzugeben und sich ins weite Feld der Belletristik zu wagen. Jenseits handwerklicher Fertigkeit und schriftstellerischer Versiertheit geht es hier u. a. darum, „mit einer eigenständigen Sprache und glaubhaften Figuren eine komplett eigene Welt bzw. Weltsicht zu erzeugen“6. Mit sprachlicher Brillanz, überwiegend einsträngigen Handlungsführungen und facettenreichen Personencharakterisierungen hat sich Jakob Arjouni nicht nur in „Magic Hoffmann“, sondern auch in seinem 2004 erschienen Roman „Hausaufgaben“ der Darstellung der Menschen und ihres Kampfes mit dem Schicksal gewidmet und sich als ein Meister der atmosphärischen Andeutung brüchiger gesellschaftlicher Konstellationen erwiesen. Ist „Magic Hoffmann“ ein Buch über die verlorenen Illusionen einer Flucht aus der Enge, so ist „Hausaufgaben“ ein Roman über die Flucht in das geschützte Refugium einer Selbsttäuschung und Lebenslüge, in der die Phantasie jegliche Wirklichkeit übertrifft. Manchmal, so hat es Bernhard Schlink in Bezug auf seinen Erzählband „Sommerlügen“ auf den Punkt gebracht, mache man sich etwas vor, wenn man Probleme als gelöst fingiere, die man nicht lösen könne, „und Brüche als gekittet, die sich nicht wirklich kitten lassen“. Dann lebe man „oft ganz überzeugt mit dieser Geschichte“,7 die man sich zurechtlegt. Jakob Arjouni hat diese Widersprüchlichkeit der Verhältnisse nun auf eine Weise zum Thema erhoben, das in seiner variantenreich schattierten Bedeutung dem Leser den Blick für die Schärfe der Problematik öffnet. Wie diese Poetologie der 3 Glauser, Friedrich: Offener Brief über die ‚Zehn Gebote für den Kriminalroman‘. In: Glauser, Friedrich: Gesprungenes Glas. Das erzählerische Werk. Bd. IV: 1937–1938. Hrsg. von Bernhard Echte. Zürich: Unionsverlag 2001, S. 213–231, hier S. 213f. 4 Brecht, Bertold: Über die Popularität des Kriminalromans. In: Werke. Bd. 22.1. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1993, S. 504–510, hier S. 504. 5 Steinert, Hajo: Ein Berliner Taugenichts. In: Focus, 11. 03. 1996. 6 Neft, Anselm zit. in: Schreibhain, Trennung von U- und E-Literatur. 1. August 2016. (Zugriff am 15. 03. 2021). 7 Strehle, Res: ‚Zuerst ist die Lüge klein und unschuldig‘. In: Tages-Anzeiger, 24. 07. 2010, S. 27.

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Selbsttäuschung und Lebenslüge in „Hausaufgaben“ inszeniert wird und nach welchen Mechanismen sie funktioniert, soll Gegenstand dieser Abhandlung sein. Nach einer allgemeinen Einführung werden im zweiten Kapitel das Wesentliche des Inhalts zusammengefasst, eine Bestandsaufnahme des damaligen literaturkritischen Diskurses durchgeführt und die Frage- und Problemstellungen benannt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie das Thema der Selbsttäuschung und der Lebenslüge des Deutschlehrers Joachim Linde psychologisch erklärt werden kann. Dies soll ausführlich im dritten Kapitel fokussiert werden. Das Psychogramm, das hier erstellt wird, ermöglicht als differenziertes Persönlichkeitsprofil die Beweggründe Joachim Lindes zu hinterfragen. Hier geht es zum einen darum, die Diskrepanz im positiven Selbstbild Lindes und der Initiierung seiner Selbsttäuschung und Lebenslüge aufzudecken, die defensiven Strategien zur Herstellung seiner inneren Stimmigkeit zu beleuchten und schließlich das funktionale Realitätsmodel zu untersuchen, auf dem seine Erkenntnisverweigerung gründet. Ein kurzes Fazit rundet den Beitrag ab.

Handlung und Rezeption des Romans Der Inhalt von „Hausaufgaben“ lässt sich in wenigen Sätzen skizzieren: Mit einer dichten Handlung, dramatischen Wendungen und subtilen Anspielungen erzählt Arjouni vordergründig eine Familiengeschichte, in der Untreue, Verrat und Ehebruch die Beziehungen gestört und den zwischenmenschlichen Umgang verschärft haben. Allerdings durchzieht den Roman als stringentes Thema ein Geheimnis „über einen bestimmten Vorfall“ (H, 65), durch das die Geschichte sich zur Tragikomödie steigert. Die Idylle ist längst zerstört, denn die einzelnen Familienmitglieder reden nicht mehr miteinander, und wenn, dann höchstens aneinander vorbei. Diese Familie besteht neben dem scheinheilig verlogenen wie opportunistischen Vater Joachim Linde, „Deutschlehrer am Reichenheimer Schiller-Gymnasium“ (H, 5), aus der Mutter Ingrid, die an Depressionen leidet und sich „seit über fünf Jahren in regelmäßiger psychiatrischer Behandlung befindet“ (H, 174), dem unsicher im Leben schwankenden neunzehnjährigen Sohn Pablo, „Bezirksgruppenreferent“ (H, 42) von Amnesty International und der achtzehnjährigen „hysterischen Schwester“ (H, 60) Martina, die einen Selbstmordversuch unternommen und sich nach Mailand abgesetzt hat. Als ihr Freund Moritz nach Reichenheim kommt, um die zurückgebliebenen Sachen zu holen, bringt dieser unerwartete Zwischenfall dasjenige, was Arjounis Protagonist zu vergessen versuchte, unerbittlich in die Gegenwart zurück. Überschattet wird das perfekte Selbstbild des Joachim Linde von dem Verdacht, er habe seine Tochter an einem „bestimmten Morgen“ (H, 91) bei einem Urlaub in Südfrankreich, aber auch schon in ihrer Kindheit, sexuell bedrängt. Seit diesem

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Ereignis, so heißt es im Buch, „ging der Bruch durch die Familie“ (H, 61). Jetzt, wo dieses sorgsam verborgene Ereignis wieder ans Licht geholt wird und auch der Sohn davon erfährt, droht ihm endgültig die Fassade wegzubröckeln. Während die Mutter aus der Situation eines missglückten Lebens „immer tiefer in Depressionen“ (H, 61) fiel, die Tochter nach einem fehlgeschlagenen Suizidversuch in Italien Zuflucht sucht, um sich dem Einflussbereich und der sexuellen Belästigung durch den Vater zu entziehen, bleibt auch dem Sohn Pablo das Drama des desillusionierten Kindes nicht erspart und er reagiert gewalttätig. Er schlägt auf den Vater ein, verschwindet mit dessen Wagen, hat einen Autounfall und liegt nun in der Klinik im Koma. Assoziativ ruft sich Linde Ereignisse des Familienlebens und die daraus entstandenen Konfliktsituationen ins Gedächtnis zurück und sehnt sich nach einer Wirklichkeit, wie sie sein sollte, aber nicht ist. Um seine Ehe und den Familienzusammenhalt zu retten, will er sich schließlich der Wahrheit stellen – „eine Wahrheit die, so schäbig sie auf den ersten Blick erscheinen mochte, von nichts anderem als Sehnsucht und großer Liebe herrührt“ (H, 151). Bevor er aber die „Verwechslung“ (H, 152), wie er den Vorfall in Südfrankreich definiert, in einem klärenden Gespräch rechtfertigen kann, kommt ihm seine Frau zuvor. Mittels einer E-Mail unterrichtet sie das Lehrerkollegium über die Seitensprünge und den sexuellen Missbrauch ihres Mannes an der Tochter. Nun muss sich Joachim Linde dem Lehrerkollegium stellen, „peinlichstes Privatleben“ (H, 173) ausbreiten und versuchen, auf „Ingrids vermeintliche ‚Hirngespinste‘“ (H, 161) zu reagieren, um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Mit einem rhetorisch versierten performativen Akt der Selbstverteidigung versteht er es vor den Kollegen geschickt, die gegen ihn erhobenen Anschuldigen zu widerlegen. Emotional fesselnde Episoden, wo die Wörter vor allem Wirkungen und Stimmungen entfalten sollen, werden gezielt eingesetzt, um sich der Aufmerksamkeit des Kollegiums zu versichern. Doch nur indem er bewusst eine Version der Ereignisse präsentiert, die nicht den tatsächlichen Gegebenheiten zu entsprechen scheint, kann er seine Lebenslüge aufrechterhalten. Alles wird im Sinne seiner Selbsttäuschung rationalisiert. Im Bemühen um Ansehen und persönliche Integrität geht sein moralisch fragwürdiges Handeln sogar soweit, den Autounfall seines Sohnes, den er indirekt mit zu verantworten hat, zu seinen Gunsten auszunutzen. In der zynischen Überzeugung, sich auch diesmal souverän aus der Affäre gezogen zu haben („Er hatte es geschafft“; H, 188), endet der Roman. Dem Klappentext zufolge geht es in „Hausaufgaben“ „um private, aber auch um historische Schuldzuweisung“ und darum, „wie sich ein Mensch in Wunschdenken und Halbwahrheiten verstrickt, weil er mit sich selbst im Reinen bleiben,

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vor sich selbst bestehen möchte“8. Die Fragen, die „Hausaufgaben“ aufwirft und die Arjouni in einem Interview einmal selbst formuliert hat, nämlich: „Wie weit verläuft Verdrängung bewusst oder verlaufen Lügen bewusst und wie ist das Mischverhältnis? Wieweit glaubt man irgendwann seinen eigenen Lügen, wie weit geht man sich selber auf den Leim?“,9

sind nur einige von mehreren, durch die der Roman eine raffinierte Vieldeutigkeit erzielt, die sich auch nach wiederholter Lektüre nicht erschöpft. Die Literaturkritik reagierte vorwiegend positiv auf diese „ganz alltägliche Geschichte“10, in der „ein Klassenzimmer und eine zweifelhafte Lehrerpsyche zum Austragungsort für die deutsche Schuldfrage und ihre Verdrängungs- und Sublimierungspraktiken“11 stilisiert wird. Markus Bundi von der Aargauer Zeitung liest das Werk als „einen Roman mit Widerhaken, der nicht nur Tabuthemen zur Sprache bringt“, sondern vielmehr „die Wirkung von Verdacht und Vorstellung“ thematisiert, bei der „Kunst der Rhetorik und Gerechtigkeitssinn in ein vielschichtiges Wechselspiel“12 geraten. Dabei verstehe es der Autor bei dieser „erzählerischen Achterbahnfahrt des Grauens“ geschickt, so Peter Exinger vom Züricher SonntagsBlick, „den Leser bloß auf Fährten zu führen und nichts explizit auszusprechen“13. Für Joachim Kaiser vom Deutschlandfunk zieht sich als roter Faden die Frage durch das Buch, „wie Verdrängung funktioniert und wie es funktioniert, dass ja doch erstaunlich viele Leute, was sie selbst betrifft, relativ blind sind, jedenfalls ein großes Missverhältnis zwischen ihrer Außenwirkung entsteht und was sie selber von sich denken“.14

Als „ein Meister der Selbsttäuschung, des Schönredens eigenen Versagens, der Verdrängung“ ist die Hauptfigur nach Kaiser „so realistisch, so lebensnah, dass man das Buch erschöpft aus der Hand legt – aber erst nach der letzten Zeile“15. Die Neue Züricher Zeitung sieht in „Hausaufgaben“ dagegen „eine unprätentiös erzählte, aber komplexe Geschichte“. Es sei „ein schlackenloser, spannender und beklemmender Text um die Frage von Täter und Opfer“ und kommt zu der Überzeugung, der Roman sei Arjounis „bisher bestes Buch“16. Für Sven Boede8 So ähnlich auch im Diogenes Verlagsprogramm Herbst/Winter 2004/2005, S. 18. 9 Arjouni zit. in Johannes Kaiser: Ein unsympathischer Held. In: Deutschlandfunk, 04. 01. 2005. (Zugriff am 23. 02. 2021). 10 o. A.: Er löst Probleme auf höchst literarische Art: Jakob Arjouni. In: Madame, September 2004. 11 Person, Jutta: o.T., in: Süddeutsche Zeitung, 05. 10. 2004. 12 Bundi, Markus: Ein Lehrer, ein Kotzbrocken vor allem. In: Aargauer Zeitung, 20. 08. 2004. 13 Exinger, Peter: o.T. In: SonntagsBlick, 28. 08. 2004. 14 Kaiser, Ein unsympathischer Held. 2005. 15 Ebd. 16 pap: o.T. In: Neue Zürcher Zeitung, 29. 08. 2004.

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cker von der SonntagsZeitung (Zürich) ist der Autor ein „Spezialist für deutsche Lebenswirklichkeiten“ und „Hausaufgaben“ sowohl in der Themenentfaltung als auch dank einer raffinierten Erzählkunst „in all seiner Schrecklichkeit ein grandioser Roman“17. Stefan Sprang von der Stuttgarter Zeitung richtet sein besonderes Augenmerk auch auf die Erzähltechnik, denn „mit den Perspektiven und den vermeintlichen Fakten“ gelinge etwas „ganz Außerordentliches“18, nämlich das Leben in ein heimtückisches Spiel zu verwickeln. Auch Jochen Förster von der taz hält „Hausaufgaben“ für das „relevanteste“ und „feinste“ Buch Arjounis, weil es aus der „passende[n] Perspektive“ der Er-Form eine „brillante Innenansicht pädagogischer Uneigentlichkeit“19 widerspiegele und – so Peter Mohr von literaturkitik.de – „[t]rotz aller Bitternis und Ernsthaftigkeit auch eine angenehm spannende Lektüre“20 bietet. Stieß der Roman im deutschsprachigen, zumal im schweizerischen Feuilleton auf ein durchaus zustimmendes Echo – sieht man von dem einzigen Misston der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einmal ab, die sich mit offener Kritik an der Thematik nicht zurückhielt und ein vernichtendes Urteil sprach: „großer Ernst auf kleinem Raum, Probleme, die gut für ein Jahr Lindenstraße reichen würden“21 – tut sich die Literaturwissenschaft schwer, sich überhaupt mit Arjounis EWerken auseinanderzusetzen. Genießt er als Verfasser der Kayankaya-Romane nahezu Kultstatus, stehen seine belletristischen Arbeiten im Schatten seines kriminalistischen Schaffens. Der Eindruck einer sich steigernden Meisterschaft, eines schriftstellerischen Lernprozesses, der neue Qualitäten eröffnet, hat sich seit dem Erscheinen von „Magic Hoffmann“, seinem ersten, ‚ernsthaften‘ Roman im Jahr 1996, jedenfalls im akademischen Betrieb nicht durchsetzen können. Dabei sind gerade die Romane („Magic Hoffmann“, 1996; „Hausaufgaben“, 2004; „Chez Max“, 2006; „Der heilige Eddy“, 2009), Erzählungen („Ein Freund“, 1998), Märchen („Idioten“, 2003) und sein Theaterstück „Edelmanns Tochter“ (1996) Zeichen eines Gefüges, das mit großer künstlerischer Sorgfalt nach den Gesetzen des klassischen Erzählens seine verschiedensten Ausprägungen gefunden zu haben scheint. Seine Kriminalromane sind zwar sprachlich sorgfältig gearbeitet wie selten Texte in der Unterhaltungsliteratur; doch die akkurat durchgearbeiteten Stoffe und durchdachten Formen des belletristischen Werkes stellen ge17 Boedecker, Sven in: SonntagsZeitung (Zürich), 03. 20. 2004. 18 o. A.: Eintrag auf Mein-Literaturkreis.de (Zugriff am 14. 11. 2021). 19 Förster, Jochen: o.T. In: Die Tageszeitung, 13. 11. 2004. 20 Mohr, Peter: Halbwahrheiten und Selbsttäuschungen. Jakob Arjounis Roman ‚Hausaufgaben‘. In: literaturkritik.de, Nr. 10. 2004. (Zugriff am 19. 02. 2021). 21 o.A. Die Welt ist nicht genug. In: faz.net, 06.10. 2004. (Zugriff am 30. 08. 2021).

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genüber den Kayankaya-Werken eine deutliche Zäsur in seiner künstlerischen Weiterentwicklung dar. „Hausaufgaben“ jedenfalls ist – soweit ich sehen kann – nicht die Aufmerksamkeit zuteilgeworden, die es aufgrund seiner poetologischen Substanz eigentlich verdient hätte. Dabei reiht sich der Roman in eine Vielzahl von Büchern ein, in denen u. a. Autoren wie Henrik Ibsen („Vildanden“; dt. „Die Wildente“; 1884), August Strindberg („Pelikanen“; dt. „Der Pelikan“, auch: „Der Scheiterhaufen“; 1907), Tennessee Williams („A Streetcar Namend Desire; dt. „Endstation Sehsucht“;1947), Arthur Miller („Death of a Salesman“; dt. „Tod eines Handlungsreisenden“; 1949) und Edward Albee („Who’s Afraid of Virginia Woolf“; dt. „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“; 1962) über die Schutzfunktion der Welt ‚in den Köpfen ihrer Protagonisten‘22 schreiben, in der durch Verdrehung bestimmter Fakten und Lebensepisoden das Festhalten am schönen Schein durchgespielt und eine Selbsttäuschung inszeniert wird. Hinter der Fassade wohlanständiger Durchschnittlichkeit verbirgt auch Joachim Linde wie seine literarischen Vorgänger eine Lebenslüge und versucht mit allen Mitteln, dieser bitteren Erkenntnis auszuweichen und die Illusion eines vermeintlichen glücklichen Familienlebens aufrechtzuerhalten, obwohl viele Indizien auf genau das Gegenteil weisen.

Rhetorik der Selbsttäuschung Jakob Arjouni eröffnet mit der Diskussion, die der Leiter des Oberstufenkurses „Deutsche Nachkriegsschriftsteller und ihre Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich“ (H, 30) mit seinen Schülern über den Einfluss des NS-Staates auf deren Leben führt, souverän den Zugang zur Selbsttäuschung, auf der Joachim Linde sein eigenes Leben aufgebaut hat. Geschickt überführt er die Kontroversen um Gegenwartsbestimmung und Vergangenheitsbesinnung in ein Familiendrama. Joachim Lindes Behauptung, eine der prägnantesten Auswirkungen des Dritten Reiches auf das heutige Leben sei die „Verleugnung – oder besser: Verneblung oder Verschattung – unserer Herkunft“ (H, 10),23 bekommt einen auf die 22 „Inside of His Head“ sollte ursprünglich Arthur Millers Drama „Death of a Salesman“ heißen. Vgl. Lahr, John: „Walking with Arthur Miller“. In: The New Yorker March 1 2012. (Zugriff am 02. 01. 2021). 23 Von „Vernebelung“ und „Verzerrung der Wahrnehmung“ spricht in diesem Kontext auch der Philosoph Hermann Lübbe. Vgl. ders.: „Der Nationalsozialismus im politischen Bewußtsein der Gegenwart“. In: Deutschlands Weg in die Diktatur. Internationale Konferenz zur nationalsozialistischen Machtübernahme im Reichstagsgebäude zu Berlin. Referate und Diskussionen. Ein Protokoll. Hrsg. von Martin Broszat. Berlin: Siedler 1983, S. 329–349, hier S. 356.

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Handlung vorausweisenden Charakter. Es ist nämlich die kunstvolle Taktik der Beschönigung, oft auch Verschleierung der Tatsachen, die hier am Werk ist. Der Leser erfährt im Verlauf der Geschichte von den Täuschungen und Halbwahrheiten, denen Lindes Biografie unterliegt und die durch nichts in Frage gestellt werden darf. Als eine längst verdrängte „unsägliche Geschichte“ (H, 73) in seine selbstgefällige Welt einbricht, sieht dieser sich plötzlich mit dem Drama seines Lebens konfrontiert, auf das er mit einer Selbsttäuschung reagiert, die „als eine motivierte […] Verdeckung unangenehmer Sachverhalte“24 zu deuten ist. Sein positives wie lebensfrohes Selbstbild kollidiert dabei mit dem Bild, das die Anderen von ihm haben. Linde stellt sich diesen „Diskrepanzen“, indem er versucht, „die auftretenden Widersprüche kognitiv umzudeuten“25. Selbsttäuschung bedeutet also in diesem Zusammenhang, „dass man eine bestimmte Annahme (oder Annahmen) über sich selbst glauben will, obwohl es dafür keine oder nur wenige empirische Belege oder sogar Gegenbeweise gibt“26. Die Lebenslüge dient entsprechend dazu, „ein System, das in Frage gestellt wird, wieder stabil, in sich stimmig zu machen“27. Geschickt versteht es Arjouni, in den Strang der Ereignisse einzelne Episoden einzuflechten, in denen Schritt für Schritt die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit aufgedeckt wird. Wie Arjouni in einem Interview selbst angemerkt hat, ist Linde „[e]in großer Verdränger und einer, der versucht, bestimmte Bilder zu erfüllen, die er von sich und dem Leben hat und wie man so zu sein hat im Leben und daran dauernd scheitert, weil die Realität mit diesen Bildern nichts zu tun hat. […] Der ist sicher kein Genie, aber er ist auch nicht unintelligent. Er kann diesen Unterschied zwischen Bild und Realität mit seiner Schläue […] verwischen für die Leute drum herum und auch für sich.“28

In der Tat bewährt sich Lindes Versuch, mit Hilfe von Lebenslügen „eine Art von ‚Parallel-Realität‘ oder ‚Gegen-Realität‘“29 zu schaffen, letztendlich „als erfolgreiche Strategie der Problemlösung“30. Zumindest beruflich! Ob allerdings im Familienleben „alles wieder ins Lot“ (H, 67) kommt, wie er sich immer einredet, bleibt mehr als fraglich. Moralisch verwerflich ist diese Strategie insofern, als bei einer Selbsttäuschung „man selbst dafür verantwortlich ist, dass man eine eigene 24 Angehrn, Emil: Selbstverständigung und Selbsttäuschung. Zwischen Selbstsein und Selbstverfehlung. In: Selbsttäuschung. Eine Herausforderung für Philosophie und Psychoanalyse. Hrsg. von Emil Angehrn/Joachim Küchenhoff. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2017, S. 36–50, hier S. 48. 25 Sachse, Rainer: Psychologie der Selbsttäuschung. Belastungen und Ressourcen einer verkannten Kompetenz. Berlin: Springer 2020, S. 8, Hervorh. i. Orig. 26 Ebd., S. 8. Hervorh. i. Orig. 27 Ebd., S. 16. Hervorh. i. Orig. 28 Arjouni zitiert in Kaiser, Ein unsympathischer Held. 2005. 29 Sachse, Psychologie der Selbsttäuschung. 2020, S. 10. 30 Angehrn, Emil: Selbstverständigung und Selbsttäuschung. 2017, S. 38.

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Motivation hat, sich nicht einzugestehen, was man eigentlich wissen könnte“31. Selbsttäuschungen und heuchlerische Tarnungen werden von Arjouni andeutungsweise als ‚defensive Strategien‘ entlarvt, auch fehlt es nicht an illusionslosen Bemerkungen über die wahre Natur der im Roman vorgeführten Familienverhältnisse. Ohne Zweifel sind es gerade diese Passagen, die aus dem Deutschlehrer eine tragische Figur machen und aus denen die Geschichte ihre erzählerische Sprengkraft bezieht. Die von seiner Tochter Martina gegen ihn erhobenen „schmutzigen Vorwürfe“ (H, 124) der sexuellen Belästigungen – u. a. unerwünschter körperlicher Annäherungen („Nach ihrem Selbstmordversuch hatte Martina dem Psychologen als einen der Gründe für ihren Zustand genannt, daß ihr Vater immer ins Bad käme, während sie in der Wanne liege oder unter der Dusche stehe.“; H, 84) –, die also schon vor „der bescheuerten Südfrankreichgeschichte“ (H, 105) ihren Anfang nehmen, werden als „Phantasieprodukt ihres verwirrten, bösartigen Teenagergeists“ (H, 73), „Lügenmärchen“ (H, 83), „Spinnereien“ (H, 93) oder „phantasmanische Ballade“ (H, 91) umgedeutet. Auch die Anschuldigungen seiner Frau Ingrid, er „hätte Martina mit seiner Nacktheit bedrängt“ (H, 109), sind aus seiner Sicht nichts weiter als „hysterische Interpretationen“ (H, 90), „bösartige Verdächtigungen“ (H, 94) und ein „mit Projektionen gespeister Masterplan“ (H, 162), um ihn zu zerstören. Der festen Überzeugung, man wolle „ihm etwas andichten“ (H, 83), weist Joachim Linde alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe als vollkommen ungerechtfertigt zurück: „Und überhaupt, es war ja nichts passiert. Nie war etwas passiert. Am wenigsten in Südfrankreich.“ (H, 82) Das familiäre Miteinander ist zwar einerseits von Konflikten durchzogen, doch andererseits von dem Bedürfnis Lindes nach Konsens geprägt. Seinen Argumentationen liegt aber ein „motivationstheoretischer Glaubensbegriff“32 zugrunde, der darin gipfelt, diese „Unstimmigkeit“33 in der Auslegung der ihm vorgeworfenen Sachverhalte auch „unabhängig von ihrer faktischen Validität“34 demonstrativ zu re-interpretieren und sie seinem Selbstbild anzupassen. Er entwickelt hierfür bestimmte „kognitive Schutzstrategien“, die es ihm ermöglichen, „eine Annahme zu glauben, obwohl sie ständig in Frage gestellt wird“35. Indem Linde anderen gegenüber seine Version der Ereignisse erzählt, hält er die Illusion einer Scheinwelt aufrecht, mittels derer er in Problemsituationen die schmerzliche Härte des wirklichen Lebens auszuhalten 31 Kathi Beier zit. in: Wilhelm, Klaus: Selbsttäuschung – Wie wir uns betrügen und warum. Südwestrundfunk. SWR2 Wissen. Autor: Sendung: Montag, 26. März 2012. (Zugriff am 15. 04. 2021). 32 Sachse, Psychologie der Selbsttäuschung. 2020, S. 17. 33 Ebd., S. 16. 34 Ebd., S. 18. 35 Ebd., S. 33.

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versucht. Arjouni bringt hier exemplarisch „die Bedingung der Bedeutsamkeit von Selbsttäuschung“36 zum Ausdruck. Denn Linde präsentiert sich nicht nur anderen gegenüber als ‚Opfer‘, sondern er kann sich letztlich auch selbst davon überzeugen, das Opfer zu sein.37 Insofern haben alle seine Rechtfertigungen in der sozialen Interaktion sowohl mit den Familienmitgliedern als auch mit „Schulleiter Doktor Gerhard Bruns“ (H, 28) und den Lehrerkollegen „manipulative Funktionen“ im Blick, denn Rechtfertigungen werden eingesetzt, „um sein System intern stimmig zu machen“38. Diese Informationen, so genannte „Images“, dienen dazu, „den IP [Interaktionspartner – S.M.] in bestimmter Weise ‚einzustimmen‘, ihn für Appelle aufnahmebereit zu machen, die Appelle vorzubereiten“, die als „die eigentlichen Manipulationen“ die Interaktionspartner dazu veranlassen, „etwas Bestimmtes zu tun oder nicht zu tun“39. Vor allem gegenüber den Familienmitgliedern und dem Lehrerkollegium entwirft Linde von sich selbst ein Bild, das zur gezielten Manipulation der Meinung und zur Verbreitung von alternativen Informationen und deren Beeinflussung genutzt wird. Immer wieder assoziiert er wünschenswerte Entwicklungen im angespannten Verhältnis zu den übrigen Familienmitgliedern, die jedoch realistisch betrachtet unwahrscheinlich sind.40 Während diese an Erinnerungen rühren, die er unter Verschluss halten möchte („es brachte [nichts], die innerfamiliären Probleme und Mißverständnisse […] in die Öffentlichkeit zu tragen“; H, 94), erzeugen seine Fehleinschätzungen im Spannungsfeld der Gegensätze die Illusion der Kontinuität. Auch das Lehrerkollegium lässt er an dieser Realität einer zynischen Scheinwelt teilhaben. Seine Leidensgeschichte liefert jene notwendigen Effekte, die den gespannt zuhörenden Kollegen eine Wirklichkeit suggerieren, wie sie nicht ist. Aber Lebenslügen, so liest man bei Arjouni zwischen den Zeilen, lassen sich weder vergessen noch verdrängen, sondern holen einen immer wieder ein, gerade dann, wenn man meint, man habe das eigene Schicksal voll im Griff. Arjounis Kunst liegt gerade darin, das Sein immer wieder mit dem Schein zu konterkarieren. Immer wenn Lindes funktionales Realitätsmodell zu greifen und er sich mit seinem angegriffenen Selbstbild zu versöhnen scheint, wird er 36 „Das Ausweichen vor der Wahrheit und das Festhalten an falschen Überzeugungen“, schreibt Kathi Beier: Selbsttäuschung. Berlin/New York: De Gruyter 2010, S. 28, „ist mit möglicherweise erheblichen Mühen und Anstrengungen verbunden, die diejenigen, die sich selbst täuschen, auf sich nehmen, weil das, worum es in der Selbsttäuschung geht, für sie selbst wichtig ist, die schlichte Akzeptanz der Wahrheit sie jedoch stark belasten würde oder ihnen zumindest sehr unangenehm ist. Ich möchte dies die Bedingung der Bedeutsamkeit von Selbsttäuschung nennen.“ (Hervorh. i. Orig.) 37 Vgl. ebd., S. 43. 38 Ebd., S. 44. 39 Sachse, Rainer: Manipulation und Selbsttäuschung. Wie gestalte ich mir die Welt so, dass sie mir gefällt: Manipulationen nutzen und abwenden. Heidelberg: Springer 2014, S. 24. 40 Vgl. dazu in „Hausaufgaben“ insbesondere die Seiten 116f., 129, 151, 153 und 188f.

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erneut von einem Tiefschlag heimgesucht. Unerwartet und doch eigentlich ohne Überraschung bricht dann die Vergangenheit in die Gegenwart ein, wird Joachim Linde von Ereignissen seines Familienlebens eingeholt und muss sich längst vergessen Geglaubtem stellen. „Hausaufgaben“ ist auch und vor allem ein Beitrag zu der Frage, inwieweit die eigene Erkenntnis eine Wirklichkeit abbildet, die auch außerhalb seines Erkenntnisprozesses existiert, oder die eigene Erfahrung nur Schein, ein inneres Konstrukt ist, was die Grenzziehung zwischen Sein und Schein noch einmal erschwert. Denn wer die Frage nach den wahren Umständen nicht stellt, fällt schließlich dieser Schein-Welt zum Opfer. Aber einer kritischen Selbsterkenntnis, die Lindes bisheriges Leben als Selbsttäuschung entlarven würde, widersetzt er sich.

Fazit „Hausaufgaben“ steht in einer literarischen Reihe, in der Themen wie Wiederkehr des Verdrängten, Selbstbetrug und Lebenslüge, Familie und Verrat an der Figur des Joachim Linde mit unerbittlicher Konsequenz entfaltet werden. In einzelnen Rückblenden spürt der Roman der Selbsttäuschung des Deutschlehrers Joachim Linde nach. Szenen aus der Vergangenheit des Familienlebens tauchen wie Scherben der zerbrochenen Illusion aus der Erinnerung auf. Immer wieder zeigt Arjouni, wie Wahrnehmungen und Erinnerungen Lindes und die seiner familiären und beruflichen Umgebung auseinanderklaffen als plötzlich „ein Mißgeschick“ (H, 82) in seine selbstgefällige Welt einbricht. Diese Diskrepanz zwischen der Selbstwahrnehmung und dem Bild, das die Anderen, insbesondere die Familienmitglieder, von ihm haben, ist das zentrale Leitmotiv des Romans. Dank seiner Imaginationskraft gelingt es dem Deutschlehrer, sein unmittelbares Umfeld über seine wahre Befindlichkeit hinwegzutäuschen. Und seine Rechtfertigungen unterstreichen die Tugenden und die Gefahren einer entfesselten Imaginationskraft. Sie zeigen Linde, der sich selbst als Opfer präsentiert, gefangen in einer verzweifelten Einsamkeit, die jedoch seine Regungen nicht erstickt, sondern im entscheidenden Augenblick erstarken lässt. Seine Argumente ermangeln in keinem Zusammenhang ihrer Überzeugungskraft. Joachim Linde macht sich die Sprache untertan, nutzt sie, um ambivalenten Ereignissen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Er kennt nur ein Ziel: die Vergangenheit zu überwinden und alles zu tilgen, was auf „einen bestimmten Vorfall“ (H, 65) hinweisen könnte und dabei Lüge und Verdrehungen als wichtigste Voraussetzung des eigenen, beruflichen wie privaten Überlebens kennenlernt. Und doch gewinnt dieser Roman seine Kraft auch aus dem Uneingestandenen. Alles ist trügerisch, nichts ist wirklich verbürgt. Zuweilen ergänzen zwar die in den Text eingeflochtenen geschilderten Begebenheiten von Frau und

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Tochter einzelne Aspekte dieser „unsägliche[n] Geschichte“ (H, 73), die Lücken endgültig füllen können sie jedoch nicht. Nichts bleibt in der Optik dieses Romans so einfach und eindeutig, wie es zunächst erscheint. Nur vordergründig handelt er von der historischen Schuldzuweisung der Nationalsozialisten, der Pflicht moralischer Wiedergutmachung gegenüber den Vertretern des Judentums und dem Staat Israel und die Debatte um die Palästina-Frage. Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus dient hier als Hintergrund für die Aufdeckung eines lang verschwiegenen Unglücksfalls und der daraus entstandenen Selbsttäuschung und Lebenslüge. Wenn man die von Jakob Arjouni feingesponnenen psychologischen Verflechtungen innerhalb der Familie näher untersucht, dann erkennt man, dass die Figuren um den Deutschlehrer Joachim Linde zu Stichwortgebern degradiert werden. Er entpuppt sich letztlich als souveräner Monologkünstler und Herrscher, der in jedem Moment souverän über Gegenwart und Vergangenheit gebietet. Seine Rechtfertigungen sind zwar nicht mehr als erzählerisches Blendwerk, doch sich selbst und am Ende schließlich auch das Lehrerkollegium vermag er zu überzeugen. Und doch wird man das Gefühl nicht los, dass Joachim Linde, so Jakob Arjouni, „sicher einer [ist], der sich selber sehr auf den Leim geht“,41 denn „bei manchen“, unterstreicht Schriftstellerkollege Bernhard Schlink, „laufen die Lebenslu¨ gen aus dem Ruder“42.

Literaturverzeichnis Angehrn, Emil: Selbstverständigung und Selbsttäuschung. Zwischen Selbstsein und Selbstverfehlung. In: Selbsttäuschung. Eine Herausforderung für Philosophie und Psychoanalyse. Hrsg. von Emil Angehrn/Joachim Küchenhoff. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2017, S. 36–50. Beier, Kathi: Selbsttäuschung. Berlin/New York: De Gruyter 2010. Boedecker, Sven: o.T. In: SonntagsZeitung (Zürich), 03. 20. 2004. Brecht, Bertold: Über die Popularität des Kriminalromans. In: Werke. Bd. 22.1., Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1993, S. 504–510. Bundi, Markus: Ein Lehrer, ein Kotzbrocken vor allem. In: Aargauer Zeitung, 20. 08. 2004. Diogenes Verlagsprogramm Herbst/Winter 2004/2005. Eintrag ‚Brockhoff, Stefan‘ im Lexikon der deutschen Krimi-Autoren unter (Zugriff am 22. 02. 2021). Exinger, Peter: o.T. In: SonntagsBlick, 28. 08. 2004. Förster, Jochen: o.T. In: Die Tageszeitung, 13. 11. 2004. Glauser, Friedrich: Offener Brief über die ‚Zehn Gebote für den Kriminalroman‘. In: ders.: Gesprungenes Glas. Das erzählerische Werk. Bd. IV: 1937–1938. Hrsg. von Bernhard Echte, Zürich: Unionsverlag 2001, S. 213–231. 41 Arjouni zitiert in Kaiser, Ein unsympathischer Held. 2005. 42 Strehle, Res: ‚Zuerst ist die Lüge klein und unschuldig‘. In: Tages-Anzeiger, 24. 07. 2010, S. 27.

Rhetorik der Selbsttäuschung. Ein Versuch über Jakob Arjounis „Hausaufgaben“

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Lahr, John: „Walking with Arthur Miller“. In: The New Yorker March 1 2012. (Zugriff am 02. 01. 2021). Lübbe, Hermann: „Der Nationalsozialismus im politischen Bewußtsein der Gegenwart“. In: Broszat, Martin (Hrsg.), Deutschlands Weg in die Diktatur. Internationale Konferenz zur nationalsozialistischen Machtübernahme im Reichstagsgebäude zu Berlin. Referate und Diskussionen. Ein Protokoll. Berlin: Siedler 1983, S. 329–349. Mohr, Peter: Halbwahrheiten und Selbsttäuschungen. Jakob Arjounis Roman ‚Hausaufgaben‘. In: literaturkritik.de, Nr. 10. 2004. (Zugriff am 19. 02. 2021). Neft, Anselm zit. in: Schreibhain, Trennung von U- und E-Literatur. 1. August 2016.

(Zugriff am 15. 03. 2021). o. A.: Die Welt ist nicht genug. In: faz.net, 06. 10. 2004. (Zugriff am 30. 08. 2021). o. A.: Eintrag auf Mein-Literaturkreis.de (Zugriff am 14. 11. 2021). o. A.: Er löst Probleme auf höchst literarische Art: Jakob Arjouni. In: Madame, September 2004. pap: o.T. In: Neue Zürcher Zeitung, 29. 08. 2004. Person, Jutta: o.T. in: Süddeutsche Zeitung, 05. 10. 2004. Sachse, Rainer: Psychologie der Selbsttäuschung. Belastungen und Ressourcen einer verkannten Kompetenz. Berlin: Springer 2020. Steinert, Hajo: Ein Berliner Taugenichts. In: Focus, 11. 03. 1996. Strehle, Res: ‚Zuerst ist die Lüge klein und unschuldig‘. In: Tages-Anzeiger, 24. 07. 2010, S. 27. Wilhelm, Klaus: Selbsttäuschung – Wie wir uns betrügen und warum. Südwestrundfunk. SWR2 Wissen. Autor: Sendung: Montag, 26. März 2012. (Zugriff am 15. 04. 2021).

Joshua C. Poschinski (Düsseldorf)

Fehlgeschlagene Vergangenheitsbewältigung und unzuverlässiges Erzählen in Jakob Arjounis „Hausaufgaben“

„Trotzdem muss man differenzieren. Du machst es dir einfach: da die Bösen, hier die guten. Aber so funktioniert das nicht.“ (H, 18)

Bereits im ersten Abschnitt der ersten Seite von Jakob Arjounis Roman „Hausaufgaben“ stellt der Protagonist seinen Schülern die richtungsgebende Frage, „welchen Einfluß das Dritte Reich heute, fast sechzig Jahre später, auf [deren] Leben“ (H, 5) habe. Inzwischen sind es mehr als 75 Jahre nach Kriegsende, beinahe 20 nach Veröffentlichung von Arjounis Roman. Die gespaltenen politischen Debatten in Deutschland, aber auch vielen Teilen Europas werfen die Frage auf, ob es im letzten Dreivierteljahrhundert überhaupt eine Zeit gab, in der Vergangenheitsbewältigung und alles, was in ihr mitschwingt, die Öffentlichkeit mehr beschäftigte. „Indes hat der Historiker das Monopol auf die Beschäftigung mit der Vergangenheit und ihre Rekonstruktion verloren, denn das Interesse am Thema des Nationalsozialismus intensiviert sich zunehmend in der breiten Öffentlichkeit.“1

Während die unmittelbaren Nachfolger*innen, die ‚Generation danach‘,2 die Nachwirkungen der NS-Zeit in Form von zerbombten Städten bis zur Mitschuld der eigenen Eltern spürten, sind die Nachwehen dieses Abschnitts der deutschen Geschichte heute zwar indirekter, aber nicht weniger spürbar. Nationalistisches, nationalsozialistisches und rechtes Gedankengut sind im öffentlichen Diskurs präsent, was sich u. a. an wachsendem Nationalstolz, einer aufsteigenden rechten Partei in Deutschland, der Ermordung des Kasseler Oberbürgermeisters Walter Lübke, der NSU-Affäre, Schüsse auf Synagogen oder Shishabars und dem mehrfach in den Medien diskutierten Verschicken von Nazipropaganda über

1 Molitor, Anne: Erinnernde Literatur. Die Verarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit in der deutschen Nachkriegsliteratur. Hamburg: Diplomica 2012, S. 3. 2 Vgl. Reiter, Margit: Die Generation danach. Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag 2006, S. 9f.

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soziale Medien und in privaten Chatgruppen zeigt. All dies wirft die Frage auf, welchen Nachhall das ‚Dritte Reich‘ auch heute noch auf das eigene Leben hat. Diesem Umstand nimmt sich auch Arjouni an – er vernimmt ein „Aufblühen“ immer stärker werdender „nationalsozialistischer Tendenzen“3 in der deutschen Gesellschaft. Momente von Ausländerfeindlichkeit sind in seinem Werk omnipräsent; der „elatente[n], destruktive[n] Präsenz der Judenfeindlichkeit, die im Endeffekt zur sozialen Spaltung führt und die Integration der Gesellschaft verhindert“4 sowie dem immer virulenter und gewalttätiger werdenden rechten Populismus widmete er mindestens zwei Texte: Den Roman „Hausaufgaben“ von 2005 und „Edelmanns Tocher“, ein Theaterstück von 1996. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der vermeintlichen Aufarbeitung der Vergangenheit in der deutschen Gesellschaft, die in „Hausaufgaben“ portraitiert wird. Dies geschieht auf Grundlage des unzuverlässigen Erzählenden, der im Roman zur Abarbeitung bewusst gezeichneter Missstände benutzt wird, um schließlich eine entscheidende Rolle in deren Darstellung einzunehmen. Da in „Hausaufgaben“ noch eine zweite Thematik – die der Vorwürfe sexualisierter Gewalt von Linde an seiner eigenen Tochter – den Großteil des Handlungsstrangs prägt, muss auch diese zur Analyse des unzuverlässigen Erzählenden miteinbezogen werden. Im Folgenden soll diese Kritik des Autors hinterfragt und eingeordnet werden.

Joachim Linde als unzuverlässiger Erzähler Gegen Anfang mag der ironisch klingende Ton der Erzählfigur (nicht Erzählstimme), der dem Lesenden in „Hausaufgaben“ dargeboten wird, noch nicht einzuordnen sein; schnell verfestigt sie sich im Laufe des Romans aber,5 sodass das Ausmaß der Weltanschauung des Protagonisten immer erkennbarer wird: „Der Roman liest sich fortan wie eine gesellschaftliche Anklageschrift, in der Arjouni auf Erklärungs- oder gar Entschuldigungsversuche für das Verhalten seines Protagonisten gänzlich verzichtet, diesen aber selbst stets Verteidigungsreden führen lässt.“6

Die Figur des Lehrers hat auch eine Machtposition,7 die von Linde ausgenutzt wird, indem er z. B. die Beiträge seiner Schüler zur Diskussion relativiert oder keinerlei Bedeutung schenkt.

3 Je¸drzejewski, Maciej: Gesellschaft in Jakob Arjounis Werk. Berlin u. a.: Peter Lang 2019, S. 123. 4 Ebd., S. 130. 5 Vgl. Emeis, Kathrin: Schul-Aufgabe. Der Lehrer als Figur der Krise in der deutschen Literatur zu Beginn des 21. Jahrhunderts: Würzburg. Königshausen & Neumann 2017, S. 103. 6 Ebd., S. 104. 7 Vgl. Emeis, Schul-Aufgabe. 2017. S. 105.

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Zu beurteilen ist, ob Linde als solche unzuverlässige Erzählinstanz definiert und in welchem Maße und wodurch dies belegt werden kann. Ebenso ist zu klären, welchem Typus des unzuverlässigen Erzählenden Linde zugerechnet werden kann. „Dass Erinnerungen als subjektiv verzerrte und fragmentarische Rekonstruktionen vergangener Ereignisse prinzipiell unzuverlässig sind“,8 mag den Grundbaustein setzen – hinsichtlich der Betrachtungsweise „aus narratologischer Sicht, wenn die Informationen, die über die fiktionale Welt gegeben werden, dort nicht den Tatsachen entsprechen“.9 „Trotz der Vielfältigkeit der Standpunkte und Theorien zur Definition von erlebendem und erzählendem Ich“,10 dürften die wenigen Grundtypen, die noch in Unterpunkten zu unterteilen sind, nach Diller folgend beschrieben werden: Zum einen wird von der „ironischen Unzuverlässigkeit“ eines Erzählenden gesprochen, wenn die literarisch kognitive Fähigkeit, bewusst verzerrt wiederzugeben, vorhanden ist, sodass die Erzählung klar als unzuverlässig verstanden werden kann; zudem eine „ambige Unzuverlässigkeit“, die den Lesenden im Unklaren über seine Verlässlichkeit lässt; und zuletzt die „alterierte Unzuverlässigkeit“, wobei die Narration meist manipulativ funktioniert, man bewusst von etwas „Falschem“ überzeugt werden soll, wobei gegen Ende die Wahrheit aufgelöst wird.11 „Die doppelte Kommunikation entsteht also aus einer Zweistimmigkeit, die die Funktion des erzählenden Ichs übersteigt.“12 In „Hausaufgaben“ wird eindeutig zwischen Erzählendem und Erzählfigur unterschieden, was letztendlich auch als Grundlage für Joachim Linde und dessen Art des Unzuverlässigen Erzählens dient.13 Hinzu kommt, dass in „Hausaufgaben“ zwar ein personaler Erzählender gegeben ist („Joachim Linde, Deutschlehrer“ (H, 5); den Rest des Romans folgen die Leser*innen ausschließlich dieser Figur und weicht ihr nicht von der Seite), dieser jedoch aus keiner Ich-Perspektive wiedergegeben wird. Dahingehend kann die Erzählstimme die „durchaus fragwürdigen Ansichten“14 Lindes und sein Verhalten ironisch 8 Volpp, Lisa: Zwischen Irrtum und Lüge. Unzuverlässiges Erzählen in der deutschsprachigen Erinnerungsliteratur der 1990er Jahre. Freiburg: Rombach Verlag 2016, S. 55. Die „Erinnerung“ bezieht sich auf jene im Kontext mit dem Dritten Reich. Jedoch mit Blick auf die Literatur der 1990er, was für Hausaufgaben nicht ganz zutreffend ist. Nichtsdestotrotz wird das Zitat im übertragenen Sinne hier auch für die Figur des Joachim Linde verstanden. 9 Vogt, Robert: Theorie und Typologie narrativer Unzuverlässigkeit am Beispiel englischsprachiger Erzählliteratur. Berlin: De Gruyter 2018, S. 1. 10 Diller, Franziska: Einheit in der Differenz – Die innere Struktur des Erzähler-Ichs. Hamburg: Verlag Dr. Kovacˇ. Zugl. Diss., Otto-Friedrich-Universität Bamberg (2004) 2005, S. 11f. 11 Vgl. Vogt, Theorie und Typologie narrativer Unzuverlässigkeit. 2017, S. 326. 12 Diller, Einheit in der Differenz. 2005, S. 175. Alle Typen des Unzuverlässigen Erzählenden werden hier ausreichend erklärt. 13 Vgl. Emeis, Schul-Aufgabe. 2017, S. 104. 14 Ebd., S. 110.

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beschreiben und seine Figur damit bloßstellen. So könnte die Unzuverlässigkeit als „ironische“15 klassifiziert werden, wenn auch als indirekte. Demnach wird die Erzählstimme in „Hausaufgaben“ um den „Antiheld[en] Joachim Linde“16 fortan als ironisch Unzuverlässiger Erzählender verstanden. „Es ist auffallend, wie kategorisch Jakob Arjouni allein durch seine Sprache im Roman zu verhindern weiß, dass auch nur der Gedanke an Verständnis oder Mitgefühl für seinen Protagonisten aufkommt.“17

Tatsächlich zieht sich dieses narrative Element durch das gesamte Werk. Arjouni nutzt dies vor allem, um seine Kritik an der Gesellschaft im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zum Ausdruck zu bringen, aber eben auch – und dieser Handlungszweig formt letztlich auch einen Großteil der Erzählung – die Leugnung des sexuellen Misbrauchs der eigenen Tochter durch Linde und den damit einhergehenden Anschuldigungen. Beides muss in den folgenden Abschnitten erläutert und in Bezug gesetzt werden, damit die Rolle des Unzuverlässigen Erzählers im Roman vollumfänglich analysiert werden kann.

Der Umgang mit der privaten Vergangenheit „[W]o Lindes Fassadenmoral, seine Manipulation und die Ausnutzung des gesellschaftlichen Vertrauens zur zentralen Problematik erhoben werden“,18 findet sich der zweite Hauptkonflikt des Romans – die sexualisierte Gewalt gegenüber seiner eigenen Tochter im Frankreichurlaub (vgl. H, 64f.; 91–95).19 „Der Bericht zum Frankreichurlaub als ‚Fahrt der Katastrophe‘ (vgl. H, 61) existiert im Erzähltext in drei verschiedenen, widersprüchlichen und damit ‚verdächtigen‘ Versionen“,20 die dem Lesenden das Ausmaß dieser Gewalt durch den Protagonisten vermitteln. Auf die Missbrauchsvorwürfe reagiert Linde unreflektiert, Fakten verdrehend und letztlich auch verständnislos mit Aussagen wie: „Und seitdem glaubt meine Familie offenbar, ich sei pervers oder so was.“ (H, 93) Die Erzählstimme bietet jedoch genug Gegenargumente für die eigenen Behauptungen des pädophilen Deutschlehrers.21 So etwa als Joachim Linde davon spricht, dass es nicht schlimm sei, wenn seine Kinder auch mal reinplatzen, während er mit seiner Frau schläft (vgl. H, 78). Er hält sich selbst zugute, dass er 15 16 17 18 19 20 21

Vgl. Diller, Einheit in der Differenz. 2005, S. 175. Je˛drzejewski, Gesellschaftbild in Jakob Arjounis Werk. 2019, S. 123. Emeis, Schul-Aufgabe. 2017, S. 133. Je˛drzejewski, Gesellschaftbild in Jakob Arjounis Werk. 2019, S. 180. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Sandro Moraldo in diesem Band. Emeis, Schul-Aufgabe. 2017, S. 126. Vgl. Je˛drzejewski, Gesellschaftbild in Jakob Arjounis Werk. 2019, S. 123.

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„für eine liberale-, scham- und angstfreie Erziehung“ (H, 78) stünde. Deutlicher wird die Anschuldigung, als der Lesende wenig später von einer ähnlichen, tatsächlich stattgefunden Situation erfährt, sodass die Aussage rückblickend wie eine vorweggenommene Rechtfertigung wirkt – einem Zwischenfall, bei dem seine Tochter im Kleinkindalter ins Schlafzimmer kommt und ihren Vater unbedeckt mit erigiertem Penis im Bett vorfindet (vgl. H, 79–82). Er bemüht sich nicht, das Kind vor der für sie nicht einordbaren Sexualität des Vaters zu schützen. Linde verdreht die Tatsachen und stempelt sich selbst mit der Liberalität und des Freidenkens ab, damit er sich nicht den Vorwürfen der Pädophilie schuldig bekennen muss – v. a. auch vor sich selbst. Es finden sich eine Vielzahl solcher Textstellen, die die – unbewussten oder selbstverdrängten – pädophilen Neigungen der Hauptfigur veranschaulichen; so z. B. auch, wenn er „sich dessen immer wieder versicherte“ dass Jennifer, eine seiner Schülerinnen „einen ganz außergewöhnlich runden und strammen Hintern“ (H, 7) hat. Ebenso als Linde seinen Sohn, nachdem er ihm nachspioniert (vgl. H, 52), mit einem Sexshop-Besuch konfrontiert (vgl. H, 110). Am deutlichsten wird dies während Lindes Gespräch mit dem Psychiater seiner Tochter Martina: Dieser konfrontiert ihn damit, dass er „im Badezimmer und bei anderen Gelegenheiten, bei denen [s]ie zu zweit seien, sich nach ihren sexuellen Erfahrungen [erkundigte] und dabei von eigenen Erlebnissen“ (H, 87) erzählte. Dass sie kurz vorher im Gespräch noch über den „ungewöhnlich ernsthaft[en]“ (H, 86) Selbstmordversuch der Tochter sprachen, bildet ein weiteres Puzzleteil, das die Tatsächlichkeit und Schwere der Taten des Joachim Linde verdeutlicht. Abgesehen davon wird seine Unzuverlässigkeit ebenfalls durch die Doppelmoral deutlich, die er als „Alt-68-Karikatur“22 einnimmt, indem er sich zwar als liberalen Charakter empfindet, sich aber homophob äußert (vgl. H, 63) oder in überholten, ‚klassischen‘ Rollenverteilungen denkt (vgl. H, 149f.).23 Dass die Reaktion Lindes auf die Anschuldigungen des Psychiaters als „ehrlich schockiert“ (H, 87) beschrieben wird, verdeutlicht, dass Joachim Linde (im Gegensatz zur Erzählstimme und den Lesenden) sich seiner eigene Schuld nicht bewusst ist.

Der Umgang mit der deutschen Vergangenheit Wenn Herr Linde seine Schüler*innen in „Hausaufgaben“ nach dem Einfluss des NS-Regimes auf den heutigen Alltag fragt – bzw. zu jenem, zu welcher Zeit der 2004 erschienene Roman einzuordnen ist – dann spielen mehrere Faktoren eine

22 Emeis, Schul-Aufgabe. 2017, S. 105. 23 Vgl. ebd., S. 105.

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Rolle. Zum einen die Stellungnahme der Figur selbst, wenn Linde später den Hintergrund seiner Frage und auch seine Meinung zu dem Thema erläutert: „Womit wir bei einer der prägnantesten Auswirkungen des Dritten Reichs auf unser heutiges Leben wären: der Verleugnung – oder besser: Vernebelung oder Verschattung – unserer Herkunft. Wir können immer noch nicht wie ein Franzose oder Engländer stolz und froh erklären, woher wir kommen. Nach wir vor müssen wir aufpassen, was wir äußern, um nicht in den Nazitopf geworfen zu werden.“ (H, 18)

Joachim Linde flüchtet in die Opferrolle und verschleiert den Umstand, dass er selbst verleugnet – eine „parabolische Darstellung für den Umgang mit Schuld“24 –, indem er gegenüber seinen Schüler*innen die Frage um die Auswirkungen des Nationalsozialismus in Deutschland auf das eigene Leben in solch einer Situation stellt.25 Die Fragestellung bietet eine derart tiefgreifende Diskussionskultur, dass sie bisher noch nicht wissenschaftlich vollständig aufgearbeitet wurde. Somit reichen die letzten fünf Minuten einer Schulstunde für eine zufriedenstellende Diskussion bei weitem nicht aus. Dem fügt sich die Unzuverlässigkeit der Erzählstimme an, wobei Herr Linde in „Hausaufgaben“ den Lesenden davon zu überzeugen versucht, seine eigene, verdrehte Denkweise glaubhaft darzustellen: „So wirkt [Hausaufgaben] vor allem durch das karikierende Potential seiner Figur wie das Pendant zu Heinrich Manns ‚Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen‘ (1905): Das […] Werk zeigt, wie weit die Doppelmoral eines von Sekundärtugenden bestimmten Bürgertums reichen kann.“26

Oder eben in „Hausaufgaben“, wo sich Sonja Kaufmann in der Klassenzimmerdiskussion Lindes „Wunsch nach Negation“27 entgegensetzt. Im Grunde ist hier entscheidend, „dass es in dem gegenwärtigen Erinnerungsdiskurs vor allem um die Art und Weise einer angemessenen Erinnerung an die verschiedenen Opfergruppen geht.“28 Da Je˛drzejewski den Protagonisten Joachim Linde deutlich als antisemitisch beschreibt,29 und auch Emeis von „linke[m] Antisemitismus“30 spricht, gilt es, dies noch einmal näher zu betrachten: Linde zeigt sich selten zustimmend noch aufklärend, wenn Figuren um ihn herum rassistische Aussagen tätigen, ignoriert diese sogar (vgl. H, 134). Sonja Kaufmanns Mutter wirft ihm vor, ein „kleiner, feiger antisemitischer Scheißer“ (vgl. H, 102) zu sein. Arjouni lässt ihn im Unterricht Bemerkungen wie „Gras über die Verbrechen der 24 25 26 27 28 29 30

Ebd., S. 108. Vgl. Je˛drzejewski, Gesellschaftsbild in Jakob Arjounis Werk. 2019, S. 123. Emeis, Schul-Aufgabe. 2017, S. 105. Ebd., S. 107. Molitor, Erinnernde Literatur. 2012, S. 4. Vgl. Je˛drzejewski, Gesellschaftbild in Jakob Arjounis Werk. 2019, S. 124. Emeis, Schul-Aufgabe. 2017, S. 138.

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Deutschen wachsen“ (H, 97) äußern. Doch gibt das Werk letztlich nicht eindeutig her, ob Linde dies aus Hass auf jene Minderheit tut oder aus nazistischen Gründen, weil er sich selbst in die Opferrolle drängt und aus dieser vermeintlichen Position zu entfliehen versucht. Nichtsdestotrotz stellt er sich der Aufarbeitung der Shoah mit aller Kraft entgegen. Hierdurch könnte abgeleitet werden, dass die in „Hausaufgaben“ bewusst gewählte Figur eine Verarbeitungskultur in Deutschland widerspiegelt, die Arjouni kritisch zu portraitieren versucht. Linde stellt schließlich auch seinen Schülern die Frage, ob die Verarbeitung der NS-Zeit 76 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges innerhalb der Gesellschaft nicht schon längst abgeschlossen sei. Die wissenschaftliche Forschung über den Umgang mit Schuld und den unfassbaren Gräueltaten während des Nationalsozialismus ist ein umfangreicher, weitläufiger, wissenschaftlicher wie emotionaler Komplex.31 „Die Holocaust-Thematik gilt als eines der meistdiskutierten Themen in den Geisteswissenschaften und dementsprechend umfangreich gestaltet sich der Umfang der Liste der Veröffentlichungen zu diesem Thema.“32

Ebenso ist sie aus unzähligen Blickwinkeln zu betrachten (explizit in Hinblick auf die Verarbeitung des Kollektivs oder von Individuen innerhalb der Gesellschaft): Die Täter*innen und ihrer Verarbeitung,33 deren Kinder, die versuchen, das Geschehene aufzuarbeiten,34 oder die Toten und deren Leid durch die „planmäßigen Ermordung […], die das national-sozialistische Deutschland zwölf Jahre lang mit zunehmender Effizienz betrieben hat.“35 „Der interessenlose, kritische Blick, der sich losgelöst von der Perspektive des Historikers entfaltet, emanzipiert sich von den Gesetzlichkeiten der Erinnerung.“36 Die Shoah, die industrialisierte Ermordung von Bürger*innen v. a. in Deutschland, aber auch in anderen Teilen des europäischen Kontinents, ist aufgrund des Ausmaßes der Grausamkeit das Zentrum der Vergangenheitsbewältigung; sie sei vergleichbar mit einem Erdbeben, das „auch die Instrumente, mit denen man direkt und indirekt“37 deren Stärke misst, zerstöre. Die Umgangsform mit dieser Ausein-

31 Vgl. Emeis, Schul-Aufgabe. 2017, S. 108. 32 Molitor, Erinnernde Literatur. 2012, S. 8. 33 Vgl. Jarausch, Konrad Hugo: Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945–1995. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 2004, S. 14–20. 34 Vgl. Schlipphacke, Heidi M. Nostalgia After Nazism. History, Home, and Affect in German and Austrian Literature and Film. Lewisburg: Bucknell University Press 2010. S. 15. 35 Langer, Phil C.: Schreiben gegen die Erinnerung? Autobiographien von Überlebenden der Shoah. Frankfurt/Main: Krämer 2002, S. 17. 36 Roviello, Anne-Marie: Das Gedächtnis des Leidens in der Politik. In: Gedächtnis und Widerstand. Hrsg. von Mireille Tabah in Zusammenarbeit mit Sylvia Weiler und Christian Poetini. Tübingen: Staufenburg-Verlag 2009, S. 27–42, hier S. 27. 37 Lyotard, Jean-François: Der Widerstreit. Lindenberg: Fink 1989, S. 105.

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andersetzung ist jedoch tiefgehender und verstrickter, als es letzteres vielleicht ahnen lässt: „Es hat sich eine absurde Frontlinie gebildet, an der in ihrer vergleichbar gefährlichen Einseitigkeit die besessenen Erinnerungsverfechter und die neurotischen Verteidiger des Vergessens aufeinandertreffen. Es scheint, als reproduzierten wir in größerem Maßstab, was sich in Deutschland im direkten Nachkrieg abgespielt hat: eine Art gesellschaftlicher Schizophrenie, in der die einen – Opfer oder Mitläufer – nichts wollen, als sich an das radikal Böse zu erinnern und die anderen vor allem nichts mehr davon wissen wollen.“38

Die Komplexität der Emotionen in Zusammenhang mit dem Dritten Reich zu reflektieren oder zu analysieren,39 ist eine weitere Möglichkeit, dem Thema aus wissenschaftlicher Perspektive „in gesellschaftlich relevanter Weise zu begegnen“40. Die Schwierigkeit hierbei mag die Neutralität sein, mit der man sich des Themas annimmt: „Die unmittelbare Bezugnahme auf das Reelle kann nicht ausgestrichen werden, denn sie ist es, durch die sich die interpretative Erzählung des Historikers von fiktionalen Erzählungen unterscheidet.“41

Anknüpfend an die vorher bereits so betitelte Vielzahl von Blickwinkeln, spiegelt der sog. Gedächtnismissbrauch, den Paul Ricoeur in „Mémoir, Histoire, Oubli“ in drei, später vier Formen unterteilt,42 die Komplexität dieser Thematik wider. Im Allgemeinen ist bei der Betrachtung der Gesellschaft als ganze und deren Verarbeitung, z. B. die Rede vom „kulturellen Trauma […], das auf eine Abwesenheit, eine spezifische Leere verweist“43, auch Folgendes relevant: Spezifischer sind die Unterscheidungen zwischen „Erfahrungsgedächtnis der Überlebenden“ und „Erinnerungsgebot für die Menschheit“44 durch Aleida Assmann. Zusammen mit Jan Assmann unterscheidet sie hier auch noch zwischen kollektivem und kulturellem Gedächtnis, wobei letzteres als politisch unabhängiger verstanden wird.45 In Bezug auf die Geschichte der Verarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit innerhalb der deutschen Gesellschaft ist, neben den bereits benannten Aspekten, auch dies zu vermerken: „Sowohl auf der Opfer- als auch auf der Täterseite wurde in diesen unmittelbaren Nachkriegsjahren ein Konsens des ‚kommunikativen Beschweigens‘ getroffen. Es galt in 38 39 40 41 42 43 44 45

Roviello, Das Gedächtnis des Leidens in der Politik. 2009, S. 33. Vgl. Schlipphacke, Nostalgia After Nazism. 2010, S. 14. Langer, Schreiben gegen die Erinnerung. 2002, S. 18. Roviello, Das Gedächtnis des Leidens in der Politik. 2009, S. 33. Vgl. ebd., S. 32f. Langer, Schreiben gegen die Erinnerung. 2002, S. 18. Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 8. Molitor, Erinnernde Literatur. 2012, S. 8.

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erster Hinsicht, die traumatischen Erlebnisse hinter sich zu lassen und die verbleibende Lebenskraft in den Aufbau einer neuen Zukunft zu investieren.“46

Fest steht, dass „eine kritische Geschichtswissenschaft es immer wieder aufs Neue zu hinterfragen [hat], die Wunde Shoah offen zu halten“47 und das Geschehene weiter aufzuarbeiten – gleiches wäre für die Gesellschaft wünschenswert, um Wiederholungen der Geschichte zu vermeiden. Einige, im Kontext zum Roman „Hausaufgaben“ relevante Arten der Verarbeitung sollen nun herausgearbeitet werden. Dafür ist vor allem die Schulstunde zu Beginn des Werks weiterhin relevant, als Joachim Linde seine Schüler fragt, „welchen Einfluß das Dritte Reich heute“ (vgl. H, 5) auf sie habe. Im Dialog innerhalb des Klassenzimmers, in dem Joachim Linde mit seinen Schülern kurz vor dem verlängerten Wochenende den Einfluss des Nationalsozialismus auf den eigenen Alltag zu besprechen versucht (vgl. H, 5–25), nehmen v. a. drei Figuren eine bedeutende Rolle ein: Der Lehrer, Sonja Kaufmann und Oliver Jonker. Linde initiiert das Gespräch – zwischen den letzteren Charakteren entwickelt sich ein Streit, der eskaliert. Dieser ist bis zur Lehrerkonferenz gegen Schluss des Romans tragend und wird immer wieder aufgegriffen.48 Arjouni erschafft somit auf den ersten zwanzig Seiten jenen Konflikt, der für die Kernaussage des Werkes bedeutend sein wird. „Die beteiligten Schülerfiguren stehen in diesem Zusammenhang gewissermaßen für die beiden Extrempositionen, die sich innerhalb der gesellschaftlichen Debatte um die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands einnehmen lassen.“49

Sonja, deren verbaler Angriff auf Olli die Zündung der Eskalation markiert, funktioniert in diesem Streitgespräch als Gegenpol zur „manipulativen Instrumentalisierung des weltzeitlichen Vergangenheitsbewusstseins“50 durch Joachim Linde und im Grunde auch Olli, der zwar nicht direkt den Rücken des Lehrers deckt, aber zumindest gegen Sonja argumentiert – oder es versucht: Schwer zu übersehen, wenn er sich nicht mehr zu helfen weiß und Sonjas Großeltern wünscht, sie wären vergast worden (vgl. H, 15). Der Lehrer in „Hausaufgaben“ ist – wie bereits durch sowohl Je˛drzejewski und Emeis ausführlich erarbeitet – ein Teil der „Verstrickung und Verschuldung der Menschheit, ihrer Generationen und Völker miteinander, […] und zeigt inwiefern ‚jede Generation […] die Taten derjenigen mit[verantwortet], deren Fortsetzung sie ist‘“51. Er versteckt sich hinter der Frage, wie „sich ein demokratischer 46 47 48 49 50 51

Molitor, Erinnernde Literatur. 2012. S. 5. Langer, Schreiben gegen die Erinnerung. 2002, S. 19. Vgl. Emeis, Schul-Aufgabe. 2017, S. 106. Ebd., S. 106. Je˛drzejewski, Gesellschaftsbild in Jakob Arjounis Werk. 2019, S. 123. Emeis, Schul-Aufgabe. 2017, S. 110.

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Patriotismus entwickeln“52 kann, um sich selbst und „die deutsche Gesellschaft im Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg als Opfer [darzustellen] und die Kollektivvergangenheit aus ihren Zeithorizonten wegzudenken versucht.“53 Oliver Jonker kann auch als Teil dieser von Arjouni kritisierten Verarbeitung der Geschichte gesehen werden, doch unterscheiden Linde und Jonker etwas: Olli wird als Sohn jener Tätergruppe zugeschrieben und diese so auch von Sonja als Nazi betitelt (vgl. H, 14f.). Seine ausfallende Beschimpfung ist der einzige Ausweg, da er sich persönlich angegriffen fühlt und keine argumentative Gegenwehr mehr liefern kann, was der „Anforderung der Unparteilichkeit und der Wahrhaftigkeit und damit den Ansprüchen kritischer Analyse[n widerspricht], ist aber auch affektiv motiviert“54. Er nennt Sonja eine „widerliche linke Zecke“ (H, 15) und wirft ihr damit vor, ein bestimmtes politisches Lager zu decken – interessanterweise wird diese einschränkende und vormündige Einordnung wieder oder immer noch im aktuellen populistischen Stil genutzt.55 Sonja wird auch so größtenteils zum „Sprachrohr“56 Arjounis: z. B. wenn sie erklärt, dass das Gespräch immer nur von einer Seite gezeigt wird, „nämlich die der armen, zu Unrecht verurteilten Deutschen“ (H, 13). Jedoch wird ihre Figur durch Aussagen wie die, dass „Freunde und Leute, mit denen [sie] wahrscheinlich zusammengearbeitet hätte, die gar nicht erst geboren werden konnten, weil ihre Eltern […] ermordet worden […] sind“ (vgl. H, 22) auch der jugendlich rebellischen Rolle gerecht. Da die Aufarbeitung des NS-Zeit eben ein sehr komplexer, langwieriger Prozess ist, gibt es für eine einzelne Figur keine vollumfänglich und klar definierte Rolle, die zugeordnet werden kann. Doch mag der Gegenpol, den Sonja verkörpert, als Infrage- und Entgegenstellen der deformativen, manipulativen Vergangenheitsbewältigung verstanden werden. Jene Position, die vielleicht keine Antworten auf ein derart komplexes Thema liefert, doch zumindest gewillt ist, nach diesen zu suchen und sich zum Gedächtnismissbrauch57 kritisch äußert. Eine Antwort gibt sie trotzdem, wenn auch eine sehr einfache, die genug Potential hätte, als Denkanstoß zu fungieren und den Kurs der Klassenzimmerdiskussion zu korrigieren. Gemeint ist folgende Textstelle: „Mit dem Land, in dem man geboren ist, hat ja nun jeder zu tun, und Deutschland hat eben eine besonders beschissene Geschichte, das kann man ja nicht wegzaubern, und

52 53 54 55

Jarausch, Die Umkehr. 2004, S. 96. Je˛drzejewski, Gesellschaftsbild in Jakob Arjounis Werk. 2019, S. 123. Roviello, Das Gedächtnis des Leidens in der Politik. 2009, S. 28. Stokowski, Margarete: Warum „linksgrün versifft“? (2019). (Zugriff am 09.01.21). 56 Je˛drzejewski, Gesellschaftbild in Jakob Arjounis Werk. 2019, S. 124. 57 Vgl. Roviello, Das Gedächtnis des Leidens in der Politik. 2009, S. 33.

Fehlgeschlagene Vergangenheitsbewältigung und unzuverlässiges Erzählen

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darüber wird geredet, und ich finde, sechzig Jahre sind auch keine Zeit, um über was wegzukommen, was so ungeheuerlich war und soviel zerstört hat.“ (vgl. H, 13)

So fungiert sie als jener Spiegel, der Linde und Jonker vorgehalten wird: Ihr reicht die abstrakte Vorstellung unvorstellbaren Leids, um ihr eigenes Handeln zu reflektieren und eine oberflächliche Objektivität schaffen zu können, was sich daraus schließen lässt, dass sie die „sehr eigentümliche, unaufrichtige Gedächtnishaltung“58 Lindes kritisiert. Dies ist damit sehr wahrscheinlich ebenso Arjounis Kritik an der deutschen Gesellschaft. In diesem Kontext bedeutet das auch, dass die Figuren im Roman stellvertretend für – in der Gesellschaft vertretende – Meinungen verstanden werden könnten, und dass die Diskussion im Klassenzimmer im übertragenden Sinne auch als Diskussion in Deutschland empfunden werden kann.

Fazit: „Denn niemand sollte denken, es sei ein guter Tag für ihn“ (H, 188) Jakob Arjouni hat mit Joachim Linde jenen ironischen Unzuverlässigen Erzähler geschaffen, der „als höchst eindimensionale Figur“59 keinerlei Identifikationsspielraum zulässt. Dadurch wird der Lesende selbst dazu animiert, den eigenen Blick auf Vergangenes zu reflektieren. Die Art, wie der Protagonist gezeichnet wird, vor allem im Zusammenspiel mit der Erzählstimme, formt jenes Grundkonzept, das man eben selbst ausschließlich kritisch betrachten kann – und das sowohl in Bezug auf Gedächtnismissbrauch als auch die pädophile Seite des Protagonisten. So bietet die Figur Lindes trotz ihrer beschriebenen Eindimensionalität genug Raum, um ihre Charakterzüge als Wesensmerkmale einer ganzen Nation oder zumindest Bevölkerungsgruppe zu verallgemeinern:60 Der Text zeichnet das zeitlose Porträt des privilegierten weißen Mannes, der keinen Fehler in seinem Handeln ausmachen kann, der die selbst ausgeübte (sexuelle) Gewalt nicht als solche zu erkennen weiß und der seine Machtposition ausnutzt – und der am Ende der Erzählung sogar ungestraft davon kommt,61 obwohl er öffentlich angeprangert und auch verurteilt wird (vgl. H, 170–189). Im Kontext der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit gelesen, bietet der Roman auch den Leser*innen den Denkanstoß zu hinterfragen, „welchen Einfluß das 58 59 60 61

Ebd., S. 34. Emeis, Schul-Aufgabe. 2017, S. 133. Vgl. ebd., S. 133. Jedoch nur, weil der Text kurz nach der Konferenz endet, sodass der Lesende von keinen Konsequenzen erfährt. Auch wenn zu vermuten ist, dass diese früher oder später kommen würden, endet „Hausaufgaben“ mit dem vermeintlichen Triumph Lindes.

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Dritte Reich heute […] auf [das eigene] Leben hat“ (vgl. H, 5). Dass die Aufarbeitung der Geschehnisse noch lange nicht abgeschlossen ist und sich somit durch die allermeisten gesellschaftlichen Strukturen zieht, ist keine neue These und wurde, wie bereits die herangezogene Sekundärliteratur zeigt, bereits von verschiedenen Seiten beleuchtet. Darüber hinaus ist die Kritik an dem verwerflichen Umgang mit der Schuldfrage mit dieser Figur authentisch ausgearbeitet. Diese Kritik ist auch an diejenigen gerichtet, die sich, die wie Linde die Opferrolle einzunehmen versuchen, oder sich von dem Thema ganz losreißen wollen, um den Diskurs zu ignorieren – genau jene also, die Arjouni letztlich mit diesem Werk kritisiert. „Hausaufgaben“ prangert dieses Verhalten an und hält ihnen den Spiegel vor: Deutschlands „besonders beschissene Geschichte“ lässt sich auch 17 Jahre nach Veröffentlichung von „Hausaufgaben“, mehr als 75 Jahre nach Kriegsende „nicht wegzaubern“ (H, 13). Dass seitdem keine Antwort auf diese ‚Frage‘ der deutschen Gesellschaft gefunden wurde, macht deutlich: Die unzureichend verarbeitete NSZeit ist nach wie vor präsent. Mehr noch: aktuelle politische und gesellschafltiche Entwicklungen machen sie sogar präsenter denn je. Der Protest der Schülerin in „Hausaufgaben“ zeigt jedoch, welche kleine Antwort Arjouni auf diese große Frage sieht: die Chance auf Aufarbeitung der Vergangenheit und eine Zukunft, in der die NS-Zeit auch tatsächlich ‚vergangen‘ ist, liegt im lautstarken Protest der jungen Generation.

Literaturverzeichnis Diller, Franziska: Einheit in der Differenz – Die innere Struktur des Erzähler-Ichs. Hamburg: Verlag Dr. Kovacˇ 2005. Zugleich: Bamberg, Universität, Dissertation 2004. Emeis, Kathrin: Schul-Aufgabe. Der Lehrer als Figur der Krise in der deutschen Literatur zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Würzburg: Königshausen & Neumann. 2017. Jarausch, Konrad Hugo: Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945–1995. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 2004. Je¸drzejewski, Maciej: Gesellschaft in Jakob Arjounis Werk. Berlin u. a.: Peter Lang 2019. Molitor, Anne: Erinnernde Literatur. Die Verarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit in der deutschen Nachkriegsliteratur. Hamburg: Diplomica 2012. Reiter, Margit: Die Generation danach. Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag 2006. Roviello, Anne-Marie: Das Gedächtnis des Leidens in der Politik. In: Gedächtnis und Widerstand. Hrsg. von Mireille Tabah in Zusammenarbeit mit Sylvia Weiler und Christian Poetini. Tübingen: Staufenburg-Verlag 2009, S. 27–42. Schlipphacke, Heidi M.: Nostalgia After Nazism. History, Home, and Affect in German and Austrian Literature and Film. Lewisburg: Bucknell University Press 2010.

Fehlgeschlagene Vergangenheitsbewältigung und unzuverlässiges Erzählen

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Stokowski, Margarete: Warum „linksgrün versifft“? (2019). (Zugriff am 22. 08. 2021). Vogt, Robert: Theorie und Typologie narrativer Unzuverlässigkeit am Beispiel englischsprachiger Erzählliteratur. Berlin: De Gruyter 2018. Volpp, Lisa: Zwischen Irrtum und Lüge. Unzuverlässiges Erzählen in der deutschsprachigen Erinnerungsliteratur der 1990er Jahre. Freiburg: Rombach Verlag 2016. Weiler, Sylvia: Ein Leben im Zeichen von Gedächtnis und Widerstand. In: Gedächtnis und Widerstand. Festschrift für Irene Heidelberger-Leonard. Hrsg. von Mireille Tabah, Sylvia Weiler, Christian Poetini und Irene Heidelberger-Leonard. Tübingen: Stauffenburg 2009.

Melissa Heinbach (Düsseldorf)

Wie ein elementarer Teil einer Erzählung das Leseerlebnis beeinflusst. Die Rolle des Erzählers in Jakob Arjounis Kurzgeschichte „Ein Freund“

Laut eines Nachrufes in der „WELT“ zählt Arjounis Reihe über den hardboiled detective Kemal Kayankaya „längst zu den Klassikern der Kriminalliteratur“1, wogegen seine Kurzgeschichten in dieser Aufzählung seines literarischen Schaffens keine Erwähnung finden. „1998 legte Arjouni den Kurzgeschichtenband ‚Ein Freund‘ vor“2 ist der einzige Satz in einem zum gleichen traurigen Anlass veröffentlichten Artikel im „Spiegel“, der den Kurzgeschichten des Schriftstellers gewidmet ist. Nicht einmal der Diogenes-Verlag erwähnt Arjounis kürzere Werke in seinem Profil, obwohl sie dort verlegt werden.3 Dabei enthalten diese spannende Tiefe. In mehreren von ihnen lässt sich zum Beispiel beobachten, wie Arjouni die vermittelnde Instanz des Erzählers nutzt, um den Leser zu lenken.

Der Erzähler in Jakob Arjounis „Ein Freund“ Besonders eindrucksvoll zeigt „Ein Freund“, wie ein geschickt eingesetzter Erzähler durch vielfältige Täuschungsmittel das Leseerlebnis beeinflussen kann. Florian Illies rezensierte die Kurzgeschichte 1998 in der FAZ bewundernd: „Es ist Arjounis auffälligste Begabung, daß er auch im Tiefgang noch leichtfüßig tänzeln kann, daß ihm die Geschichte des übermutterten Regisseurs, der sich unseren Taugenichts für sechshundert Mark Tagesgage an einer Tankstelle als ‚Freund aus alten Tagen‘

1 o. A.: Krimi-Autor Jakob Arjouni stirbt mit 48 Jahren (2013). (Zugriff am 25. 04. 2021). 2 o. A.: „Happy Birthday, Türke!“: Jakob Arjouni ist tot (2013). (Zugriff am 25. 04. 2021). 3 Vgl. o. A.: Jakob Arjouni. (Zugriff am 25. 04. 2021).

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eingekauft hatte, weder zu einer Tragödie gerät, die sie ist, noch zu einer Farce, die sie sein könnte.“4

Im Folgenden soll nun genauer betrachtet werden, wie Arjouni dieser Balanceakt in „Ein Freund“ gelingt und warum der geschickte Einsatz des Erzählers dabei eine wichtige Rolle spielt. Dazu werden zunächst die Eigenschaften untersucht, die Arjouni der vermittelnden Instanz hier verleiht, um anschließend Rückschlüsse darauf ziehen zu können, warum es sich hierbei um ein wichtiges Gestaltungsmittel handelt. Bereits im ersten Satz, „Das Wetter war schuld, sonst hätte ich den Job nie gemacht – ehrlich nicht!“ (EF, 7), ist erkennbar, dass die Geschichte in der ersten Person aus der Perspektive einer beteiligten Figur erzählt wird. Damit wird der Erzähler als Teil der Diegese deutlich. Gérard Genette nennt dies interne Fokalisierung.5 Dadurch entsteht der Eindruck, dass der Protagonist selbst und unmittelbar zum Leser spricht. Dabei bietet er hier nur stellenweise Informationen über sich selbst, bleibt zum Beispiel bis zum Ende namenlos. Diese Namen- und Identitätslosigkeit der Figur sowie die Ich-Perspektive ermöglichen dem Leser eine bessere Identifikation mit der Hauptfigur, wohingegen das Bewusstsein für die Existenz einer vermittelnden Instanz in den Hintergrund gerät. Der Leser blickt durch die Augen der Erzählinstanz und erlebt das Geschehen scheinbar selbst, sodass er die gegebenen Informationen für besonders zuverlässig hält. Er erkennt die Präsenz des Erzählers nur noch an den Stellen, an denen dieser auf sich verweist, beispielsweise im Satz „Naja, Sie kennen das, wer kennt das nicht.“ (EF, 8), wo er nicht das Geschehen schildert, sondern bewusst als Figur auftritt, worauf an anderer Stelle noch genauer eingegangen werden soll. Die Informationen, die der Erzähler in seltenen Momenten von sich preisgibt, sind taktisch platziert und beschönigend. Beispielsweise schildert er zu Anfang sein Leben als obdachloser Tramper, der eine schwierige Nacht im Freien hinter sich hat, und bezeichnet sich selbst als „Goldschmied“ (EF, 7), obwohl er nur Schmuck aus weniger wertvollen Materialien wie Draht herstellt und zu verkaufen versucht. Dies erzeugt Mitleid beim Leser und fördert dessen Sympathie für den Protagonisten. Die Figur führt ein schweres Leben in Armut, nutzt jedoch ihre künstlerischen Fähigkeiten, um zu überleben, und bezeichnet dies mit einem aufwertenden Begriff. Später lässt der Erzähler jedoch durchblicken, dass er tatsächlich ein Dieb und Betrüger ist und deshalb wahrscheinlich absichtlich

4 Illies, Florian: Ein Freund, ein Freund (1998). (Zugriff am 25. 04. 2021). 5 Vgl. Martínez, Matías/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 10., überarbeitete und aktualisierte Auflage. München: C. H. Beck 2016, S. 68.

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nicht lange an einem Ort bleibt (vgl. EF, 16). Doch das kann der Leser verzeihen, da in der Zwischenzeit Zuneigung aufgebaut wurde. Trotz des abrupten Einstiegs in das Geschehen zu Beginn der Erzählung sowie dessen detailreicher Schilderung einschließlich der Gedanken und Gefühle des Protagonisten ist das Erzähltempus nicht das Präsens, sondern das Präteritum. Das bedeutet, dass der Protagonist zwar eigene Erlebnisse beschreibt, jedoch zu einem späteren Zeitpunkt auf sie zurückblickt und dabei nacherzählt. Martínez und Scheffel erklären, dass auf diese Art formulierte Texte strukturiert, fokussiert und zuverlässig wirken, da der Erzähler in der nach dem Geschehen vergangenen Zeit einen Überblick über die Geschichte gewinnen sowie Unwichtiges heraus filtern kann.6 Allerdings bleibt hier der genaue Zeitpunkt des Erzählens undefiniert. Es ist fraglich, ob sich der Erzähler so detailreich an die Ereignisse erinnern kann, jedoch möglich, da der Erzählzeitpunkt beliebig nah an der Geschichte liegen könnte. Im letzten Satz der Erzählung wird jedoch angedeutet, dass nach den Geschehnissen schon einige Zeit vergangen sein muss. Der Erzähler gibt an, sich noch lange gewünscht zu haben, er hätte Retzmann mitteilen können, „was für eine perfekte Inszenierung [dieser] abgeliefert hatte“ (EF, 54). Außerdem deutet die Bemerkung „Tatsächlich kam mir die Sache von Anfang an merkwürdig vor“ (EF, 7) gleich zu Beginn an, dass er den Ausgang der Geschichte bereits kennt. Der Erzähler muss seine Kenntnis von Retzmanns Täuschung also bewusst verschwiegen haben. Janina Jacke zählt verschiedene Tätigkeiten eines Erzählers auf, von denen sich ableiten lässt, ob er zuverlässig ist, ob er dem Leser korrekte Informationen vermittelt oder ihn, möglicherweise intendiert, täuscht. So ist von einem unzuverlässigen Erzähler auszugehen, wenn zwischen den Komponenten Aussagen, Bewertungen, Moralvorstellungen und Taten des Erzählers Unstimmigkeiten auftreten.7 Aus bisherigen Untersuchungen ist bereits hervorgegangen, dass der Erzähler in „Ein Freund“ den Leser absichtlich täuscht. Das gelingt ihm durch verschiedene formale und inhaltliche Aspekte. Zum einen nutzt er die Präsentation der beiden Hauptfiguren und deren sich im Laufe der Geschichte veränderndes Verhältnis zueinander, indem er Retzmanns Inszenierung für den Leser nachahmt. Der Erzähler führt die zweite Hauptfigur der Geschichte mit den Worten „Dann kam Retzmann“ (EF, 9) ein, obwohl er ihn zu diesem Zeitpunkt selbst zum ersten Mal sieht und seinen Namen demnach noch nicht kennt. Danach beschreibt er in einem langen Absatz dessen luxuriöses Erscheinen (vgl. EF, 9). Dadurch wird dem Leser der Eindruck vermittelt, es handele sich um eine wichtige Begegnung, ein einschneidendes 6 Vgl. ebd., S. 36. 7 Vgl. Jacke, Janina: Systematik unzuverlässigen Erzählens. Analytische Aufarbeitung und Explikation einer problematischen Kategorie. Berlin 2020, S. 49–52.

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Erlebnis für den Protagonisten, das als Katalysator für den Rest der Geschichte fungieren wird. Darüber hinaus ist der starke Kontrast zwischen den beiden Figuren auffällig. Während der Protagonist keinen festen Wohnsitz hat und mangelnde Hygiene aufweist, trägt Retzmann einen Anzug und fährt ein teures Auto. Sie befinden sich auf den gegenüberliegenden Enden eines Spektrums, verkörpern jeweils Armut und Wohlstand. Im Laufe der Erzählung schließt sich diese Kluft jedoch immer weiter. Retzmann, der zu Anfang noch eine Aura des Reichtums versprüht, bietet dem Protagonisten später selbstgemachte Brote als Mittagessen an, zählt die Kosten der Komponenten seiner Geburtstagsfeier auf (vgl. EF, 23f.) und achtet während dieser penibel darauf, dass die Champagnerflaschen bis zum letzten Tropfen geleert werden (vgl. EF, 51). Zudem rückt er immer weiter in die Position des eigentlich Bemitleidenswerten in der Geschichte. Er bezahlt einen fremden Obdachlosen dafür, vor den Partygästen seinen Freund zu spielen, weil er in Wirklichkeit keinen hat (vgl. EF, 17), teilt seine Lebensgefährtin mit einem in der Theaterszene einflussreichen Mann (vgl. EF, 45), um sich bei ihm gut zu stellen, und wird als erwachsener Mann von seiner Mutter klein gehalten (vgl. EF, 26), zu der er ein konfliktreiches Verhältnis hat. Retzmann und Archie, wie der Protagonist von Retzmann getauft wird und wie er zur Vereinfachung im Folgenden auch bezeichnet werden soll, scheinen sich im Laufe der Geschichte tatsächlich anzunähern. Zum Beispiel bei einer Unterhaltung während Retzmanns Feier, als Retzmann Archie einen Arm um die Schulter legt und dieser ihn als „plötzlich irgendwie… mickrig“ (EF, 44) beschreibt. „Ich begann, mich in Retzmanns Gesellschaft wohl zu fühlen“ (EF, 33), heißt es weiter von Archie. Alles deutet auf ein Happy End hin, da die Figuren jeweils genau das verkörpern, was der anderen im Leben zu fehlen scheint. Archie könnte ein echter Freund für Retzmann sein und Retzmann ein Anker sowie eine finanzielle Versicherung für Archie. Archie macht Andeutungen, dass er sich Retzmann in seiner Zukunft vorstellen kann. Er äußert beispielsweise, dass ihm Retzmann „zum Partner“ für seine kriminellen Aktivitäten „wie geschaffen“ (EF, 34) scheine. An Stellen wie diesen wird offensichtlich, dass der Erzähler unzuverlässiges Verhalten zeigt. So wie er zunächst verschweigt, dass er ein Betrüger statt eines Goldschmiedes ist, verschweigt er auch dem Leser, dass Retzmann ihn die ganze Zeit über täuscht. Stattdessen stellt er seine Gedanken und Gefühle während des Geschehens dar, als er die Wahrheit selbst noch nicht kannte, wie in den zuvor angeführten Beispielen veranschaulicht. Archie fühlt sich außerdem Retzmann geistig überlegen und glaubt ihn zu durchschauen. Während der anfänglichen Autofahrt denkt Archie: „Ein Kerl in seinem Alter, der im Gespräch über angebliche Fähigkeiten einem Fremden gegenüber unvermittelt seine Mutter als Zeugin anführt, kam mir merkwürdig vor. […]

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Ich meine, wer kommt schon auf seine Mutter, und wer würde ihr Urteil ernst nehmen?“ (EF, 15)

Daraus schließt er, dass Retzmann tatsächlich keine Freunde haben muss. Der Leser traut Archies Urteil aus bereits erläuterten Gründen, so wie Archie sich selbst und seinen Erkenntnissen über Retzmann traut. Jedoch ist es wohl Retzmanns Intention, dass Archie sein Verhalten so interpretiert. Aus seinen eigenen Worten ist abzulesen, dass es ihn nicht stört, keinen Freund zu haben: „Schon [in der Schulzeit] war ich ein Einzelgänger, [meine Mutter machte] sich Sorgen wegen meiner angeblichen Einsamkeit. Ich selber habe mich nie einsam gefühlt, und bis heute gibt es nichts, was mir ein Mensch geben könnte, was mir die Arbeit nicht hundertmal mehr gibt.“ (EF, 18)

Archie hält diese Aussage nicht für Retzmanns wahre Gedanken und glaubt, ihn zu durchschauen. Daher glaubt das auch der Leser. Dieser Moment illustriert, wie die Nachahmung des Erzählers von Retzmanns Täuschung funktioniert. Die Bindung zum Leser sowie die Illusion der Verlässlichkeit wird auch dadurch gefestigt, dass Archie ihn direkt anspricht. Archie richtet seine Geschichte an einen unbekannten Adressaten, den er mit „Sie“ (EF, 7) anredet. Da der Adressat nicht definiert wird, fühlt sich davon der Leser angesprochen. Der Umgang ist durch die förmliche Anrede höflich und respektvoll, als stehe Archie einem fremden Erwachsenen gegenüber. Des Weiteren stellt er sich zum Beispiel durch wiederholtes Anführen der bereits erwähnten Bemerkung „Sie kennen das“ (EF, 8) als dem Rezipienten ebenbürtig dar. Auch hier finden sich also eindeutige Widersprüche im Verhalten des Erzählers. Er scheint seine Adressaten sehr zu achten, während er sie mit seiner bewussten Manipulation in die Falle lockt. Somit zeigt sich, dass Janina Jackes Kriterien eines unzuverlässigen Erzählers an mehreren Stellen auf den Erzähler in „Ein Freund“ zutreffen. Arjouni nutzt einen unzuverlässigen Erzähler, um den Leser im Glauben zu lassen, Archie und Retzmann würden sich tatsächlich anfreunden und dadurch ihre beiden Leben zum Positiven ändern, bis am Ende die Wahrheit enthüllt wird. Dabei verschweigt der Erzähler inhaltlich nie Retzmanns eigentliche Intention, dieser äußert sie sogar selbst. Es ist also dem geschickten Einsatz der Erzählerinstanz zu verdanken, dass „Ein Freund“ bis zum Ende spannend bleibt und es schafft, den Leser nach dem letzten Wort erstaunt zurückzulassen.

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Der Erzähler in anderen Werken Arjounis Auch in Arjounis Roman „Hausaufgaben“ ist die Art und Weise bedeutsam, wie die Geschichte vermittelt wird. Auch hier ist der Erzähler Teil der Diegese. Allerdings täuscht diese Erzählerfigur, der Gymnasiallehrer Joachim Linde, den Leser nicht auf die gleiche Weise wie Archie. Stattdessen findet er für jegliches Fehlverhalten eine Ausrede, die ihn in ein anderes Licht rücken und Zweifel an seiner Schuld aufkommen lassen soll. Beispielsweise tut er den sexuellen Missbrauch seiner Tochter als „Phantasieprodukt ihres verwirrten, bösartigen Teenagergeists“ (H, 73) oder simpler als „Lügenmärchen“ (H, 83) ab, obwohl er später dem Leser gegenüber zugibt, dass er Martina „an dem Morgen“ in Südfrankreich „wie eine Frau und nicht wie seine Tochter angesehen“ (H, 152) habe. Zudem weist er Vorwürfe antisemitischer Äußerungen von sich und dreht die Einwände einer besorgten Mutter später gegen sie und seine Schülerin (vgl. H, 180f.). Dabei wird an einigen Stellen des Romans deutlich, dass Linde Vorurteile gegenüber Juden hegt. Beispielsweise denkt er während eines Telefonats mit der besagten Mutter: „Eigentlich mußte sie Jüdin sein. So redete doch sonst keiner mehr. Dabei spürte Linde, wie ihn die Möglichkeit anstachelte, dem Telefonat einen gewissen Reiz verlieh. Denn außer aus dem Fernsehen kannte er eigentlich keine Juden.“ (H, 99)

Während Linde also selbst noch unschuldige Erklärungen für erschütternde Zwischenfälle vorschiebt, was im Laufe der Geschichte immer schwieriger wird, kann der Leser schnell erkennen, dass sich dahinter mehr verbergen muss. Gleich auf der zweiten Seite erwähnt er den Selbstmordversuch seiner Tochter beiläufig als Grund dafür, dass er nicht entspannt wegfahren könne, als sei dies nichts Schlimmes (vgl. H, 6). Seine Frau beschreibt er verachtend und provoziert einen ihrer Zusammenbrüche, sodass sie stationär in einer Klinik behandelt wird und ihn nicht bei seinem Kurztrip begleiten kann (vgl. H, 39). Obwohl die Wahrheit über Lindes Schuld erst im Laufe des Textes zu Tage tritt, sendet der Erzähler einem aufmerksamen Leser also schon von Anfang an Warnzeichen, dass Linde kein zuverlässiger Zeuge seiner eigenen Geschichte ist. Das ist hier der wesentliche Unterschied zur Leserlenkung in „Ein Freund“. Zum Hauptcharakter wird weder Vertrauen noch eine andere Art von Bindung aufgebaut. Im Gegenteil, durch die bereits geschilderten Ereignisse wirkt Linde mindestens unsympathisch. Darüber hinaus fallen die unterschiedlichen Enden der Texte auf. Erst auf der letzten Seite von „Ein Freund“ wird dem Leser klar, dass Archie ihn ausgetrickst hat. In „Hausaufgaben“ kommt Lindes zuvor erwähnte Beichte über den Vorfall in Südfrankreich hingegen wenig überraschend, obwohl die meisten seiner Kollegen seine mittlerweile weit hergeholten Ausreden glauben. Nur einer äußert

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Bedenken während der Lehrerkonferenz (vgl. H, 185f.). Das ist für den Leser keine zufriedenstellende Auflösung, da der Schuldige ohne Strafe davonkommt. Dieser Effekt wird dadurch verstärkt, dass einige Fragen offen bleiben. Unter anderem ist unklar, ob Lindes Sohn wieder aus dem Koma erwachen wird. Das kann symbolisch für die anderen Menschen in Lindes Umfeld gedeutet werden, die sozusagen noch nicht aus der Unwissenheit über Lindes Taten aufgewacht sind. Es bleibt fraglich, ob sich dieser Umstand ändern wird. Eine andere Kurzgeschichte Arjounis, deren Vergleich mit „Ein Freund“ sich lohnt, ist in der gleichen Erzählsammlung erschienen. Am Ende von „Das Innere“ trifft der Hauptcharakter Jürgen Schröder-von-Hagen eine Entscheidung, die der Leser ihm nicht zugetraut hätte. Obwohl er anfangs dafür plädiert, dass es auf die inneren Werte eines Menschen ankomme (vgl. DI, 83), geht er später so weit, eine Bankräuberin grundlos zu erschießen, um vor der Presse und Polizei behaupten zu können, es sei Notwehr gewesen, und so als Held dazustehen (vgl. DI, 109f.). Es wird nicht aufgeklärt, ob dieser Plan funktioniert, jedoch ist davon auszugehen, da die Geschichte unmittelbar nach der Tat endet. Der entscheidende Unterschied zur Gestaltung von „Ein Freund“ ist jedoch, dass der Erzähler hier nicht Teil der Diegese ist. Obwohl er Jürgens Gedanken und Gefühle schildert, bleibt er in der dritten Person intern fokalisiert8 und wechselt sogar an einer Stelle zum Innenleben der Bankräuberin (vgl. DI, 105). Das erlaubt dem Leser nicht, die Existenz des Erzählers zu vergessen, und sorgt daher verglichen mit Archie für weniger Nähe zu Jürgen. Würde der Erzähler in der ersten Person aus Jürgens Perspektive berichten, wäre am Ende ein ähnlicher Überraschungseffekt wie in „Ein Freund“ möglich. An der Bedeutungslosigkeit des kurzen Abschnitts in der Gedankenwelt der Bankräuberin für den Gesamtkontext lässt sich ableiten, dass Arjouni die Entscheidung gegen eine solche Gestaltung bewusst getroffen haben muss. In „Das Innere“ kommt es weniger auf die Erzählweise an als auf die Parallelen zwischen dem Geschehen der Geschichte und der Handlung von Jürgens Roman. Zudem lässt bereits der Titel „Das Innere“ vermuten, dass in der Erzählung etwas verborgen ist. „Ein Freund“ ist dagegen ein trügerischer Titel, der die zuvor geschilderten falschen Vermutungen über den Textausgang, die im Laufe der Lektüre aufkommen, bereits von Anfang an zu unterstützen scheint.

Fazit: Die Erzählinstanz als zentrales Gestaltungsmittel Die vorangehenden Erkenntnisse haben gezeigt, wie gravierend die Auswirkungen des Verhaltens des Erzählers auf die Leseerfahrung sein können. In „Ein Freund“ ist die Wahrheit über Retzmanns Täuschung offensichtlich, aber nach 8 Vgl. Martínez/Scheffel, Erzähltheorie. 2016, S. 68.

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deren Enthüllung am Ende trotzdem verblüffend. Das gelingt Arjouni nur durch die Gestaltung und den Einsatz der Erzählinstanz. Diese erzählt aus der erlebenden Sicht die eigene Vergangenheit, in der sie sich im Durchblick wähnt, wodurch auch der Leser diesen Eindruck erhält. Besonders im Vergleich zu zwei anderen, ähnlich konzipierten Werken Arjounis, „Hausaufgaben“ und „Das Innere“, ist deutlich geworden, dass der Autor die Erzählerinstanz in „Ein Freund“ absichtlich manipulativ gestaltet. Wie an diesen Beispielen zu erkennen ist, ist unzuverlässiges Erzählverhalten ein von Arjouni häufig und effektiv angewendetes Gestaltungsmittel, das die Auslegung des jeweiligen Werkes stark beeinflusst und eine bedeutende Stellung im Gesamtwerk des Autors einnimmt.

Literaturverzeichnis Illies, Florian: Ein Freund, ein Freund (1998). (Zugriff am 25. 04. 2021). Jacke, Janina: Systematik unzuverlässigen Erzählens. Analytische Aufarbeitung und Explikation einer problematischen Kategorie. Berlin/Boston: De Gruyter 2020. Martínez, Matías/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 10., überarbeitete und aktualisierte Auflage. München: C. H. Beck 2016. o. A.: „Happy Birthday, Türke!“: Jakob Arjouni ist tot (2013). (Zugriff am 25. 04. 2021). o. A.: Jakob Arjouni (unbekannt). (Zugriff am 25. 04. 2021). o. A.: Krimi-Autor Jakob Arjouni stirbt mit 48 Jahren (2013). (Zugriff am 25. 04. 2021).

Denise Schroeren (Düsseldorf)

Die Wasserfrau in „Schwarze Serie“

„Schwarze Serie“ ist eine Kurzgeschichte Jakob Arjounis und gehört im weiteren Sinne zu den Kriminalerzählungen des Autors. Charakteristisch für diese sind die vielfältige Nutzung verschiedener Motive und Symbole, in Gesellschaftskritik verpackte Geschlechter-Stereotypen, sowie diverse filmischer und literarischer Topoi und tropes. In der Krimireihe um den türkischstämmigen deutschen Privatdetektiv Kemal Kayankaya beispielsweise sticht besonders auffällig die Nutzung von Lebensmitteln als Motiv hervor.1 Auch Farben tragen eine große Bedeutung, dabei werden beide Motivbereiche sowohl positiv als auch negativ konnotiert. Weiterhin bleibt Arjouni nah am Vorbild der amerikanischen hardboiled detective Krimis: Kayankaya ist ein lone wolf, ein Einzelgänger, dem es bei seinem Job nicht nur ums Geld geht, sondern um die Ausführung des Auftrages im Einklang mit seinem eigenen Gerechtigkeitssystem. Auch andere genretypische Figuren treten auf: Schläger und Raufbolde, Alkohol- und Drogenabhängige, korrupte Beamte, Personen im Rotlichtmilieu, sowie diverse Auslegungen von weiblichen Figuren als Verkörperung einer Femme fatale. Dies gilt auch für „Schwarze Serie“. Liest man den Text, kommt man bei der ersten Begegnung mit der Figur Jessica nicht umhin, sie optisch mit einer Hexe zu vergleichen. Sie hat blaue Augen (vgl. S, 74), rote Hexenlocken (vgl. S, 66), treibt ihren Ehemann Harry an den Rand des Wahnsinns und von dort aus in den Tod. In Verbindung mit ihrem Charakter tauchen immer wieder die in der Handlung verankerten Wassermotive auf, genauso wie sie mit einer rot-blau-Symbolik verbunden ist. Durch die deutliche Verknüpfung des Wassers mit Jessica lässt sich die Nähe zu einem weiteren mystisch-dämonischen Frauenbild, dem der Wasserfrau, nicht absprechen. Arjouni legt durch seine Charakterbeschreibung zwar die Typisierung als Hexe nahe, jedoch lässt sich nicht abstreiten, dass Jes-

1 Vgl. Hierzu auch den Beitrag von Richard Hronek in diesem Band.

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Denise Schroeren

sicas einerseits auch als Femme fatale-Figur, andererseits als moderne Wasserfrau2 gelesen werden kann. Um Jessica als Figur und ihre Rolle innerhalb der vorliegenden Kurzgeschichte deuten zu können, werden die genutzten Farbsymboliken, das Motiv des Wassers und ihre Charakterisierung als verderbliche Ehefrau, untersucht. Im Fokus liegen die Farben rot und blau, denn sie treten als ambivalente Dichotomie auf und sind mit der Handlungsstruktur verknüpft. Rot und Blau sind zwei komplett gegensätzliche Farben, sowohl in ihrer physikalischen Zusammensetzung, als auch in ihrer psychologischen Wirkung, die früh durch (vorchristliche) Kulturen mit bestimmten Werten und Funktionen belegt wurden.3 Die Farbe Rot steht als Farbe des lebensnotwendigen Blutes für Leben und Regeneration, wird aber auch mit Feuer und Energie in Verbindung gesetzt4. Als sehr dominante Farbe steht das Rote für starke Emotionen wie Liebe, Wut und Leidenschaft. Zugleich ist es die Farbe der Verführung, Männlichkeit und in manchen Fällen auch Bedrohung. Bis zum 15. Jahrhundert stand die Farbe für göttlichen Schutz vor Unheil, was sich jedoch durch den Einfluss der Kirche änderte5. Das mit dem Teufel assoziierte Höllenfeuer war rot und so auch Darstellungen des Teufels. Opfer der Hexenverfolgungen wurden daher besonders oft rothaarige Frauen6. Die Farbe Blau wird hingegen als kühl und ruhig wahrgenommen, was daran liegt, dass sie besonders lichtschwach ist und kaum Energie abgibt7. Durch ihre in der Natur, z. B. im Himmel oder Wasser, begründete Allgegenwärtigkeit verursacht sie sowohl ein Gefühl der Geborgenheit als auch der Undurchdringbarkeit. Die Assoziation mit Himmel und Wasser, wobei ‚blaues‘ Wasser nur eine Reflexion des Himmels ist, verleiht der Farbe Blau einen unnahbaren und mysteriösen Charakter. Sie spiegelt das Geheimnisvolle der Natur wider und steht für Sehnsucht, unendliche Tiefe und Weite und, aufgrund des ruhigen und sanften Farbcharakters für Weiblichkeit8. Auch mythische Figuren werden mit dieser Farbe in Verbindung gebracht: 2 In Arjounis Erzählungen bedient sich der Autor häufig am Typus des dämonisierten Frauenbildes. Da in der Erzählung „Schwarze Serie“ das Wasser als Motiv eine Hauptrolle spielt, liegt es nahe, sich in der Auseinandersetzung mit dem Text besonders auf die Figur der Wasserfrau zu beziehen. 3 Vgl. Welsch, Norbert; Liebmann, Claus Christian: Farben: Natur, Technik, Kunst. Heidelberg 2003, S. 16. 4 Vgl. Linares, Marina: Alles Wissenswerte über Farben: Farbenlehre, Kunsttheorie, Farbenpsychologie, Kulturgeschichte, Neue Medien. Essen 2005, S. 158. 5 Vgl. Welsch/Liebmann, Farben, 2003, S. 58. 6 Vgl. ebd., S. 59. 7 Vgl. Linares, Farben. 2005, S. 153. 8 Vgl.ebd., S. 158.

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„[I]n der Mythologie mancher Völker teilte man Erdgeistern, übelwollenden Berggeistern und Zauberern die Farbe Blau zu; blaue Irrlichter lockten Wanderer in Moorgebieten ins Verderben“9.

Beide Farben treten in Arjounis Kurzgeschichte u. a. in Verbindung mit Wasser als Motiv auf. Wasser ist, ebenso wie Blut, für Menschen und Tiere lebensnotwendig, wird daher oft als Quell des Lebens, als Ursprung aller Dinge dargestellt. In religiösen Kontexten ist Wasser wesentlicher Bestandteil vieler Rituale, die Leben, Reinigung und auch den Tod beinhalten. Wasser ist in sich ambivalent, es kann Leben schenken und nehmen, als Naturkraft ist es also nicht zu unterschätzen.10 Da der Grund vieler tiefer Gewässer nicht zu sehen ist, wirken diese unergründlich und nahezu magisch. Es war lange Zeit nicht erklärbar, wie Wasser als Kraft- und Energiequelle wirkt. Gewässer galten daher oftmals als Heimat von Gottheiten und Elementargeistern. Durch Opfergaben sollten diese milde gestimmt werden. Das Wasser ist durch seine Schöpfungsmacht weiblich konnotiert,11 es kann genauso Leben schenken wie der weibliche Schoß. Wasserfrauen sind die Personifizierung dieser geheimnisvollen und gefährlichen Natur des Wassers. Sie sind ein Typus Frau, der Männer mit einer verführenden Persönlichkeit und v. a. Schönheit in den Tod reißt. Sie repräsentieren ein durch Männerfantasien geprägtes Weiblichkeitsbild12, in dem sie den männlichen Protagonisten durch erotische Verführung in ihren Bann ziehen und im Gegenzug für sein Leben seine Sehnsüchte und Leidenschaften befriedigen. Das Motiv der Wasserfrau lässt sich über Jahrhunderte zurückverfolgen. Sie sind allesamt nach dem Vorbild der Sirenen zu dämonischen Verführerinnen geworden, auch wenn beispielsweise Undinen und Nymphen in ihren Ursprüngen sanfte, liebevolle Wesen waren.13 Die Literatur setzt im Motiv der Wasserfrau gezielt Erotik und Weiblichkeit gleich.14 Wasserfrauen sind u. a. durch religiösen Einfluss zu Schreckfiguren geworden, welche mit den männlichen Protagonisten kontrastierten. Sie wurden als oberflächlich betrachtet schöne Frauen dargestellt, die z. B. durch ihren wohlklingenden Gesang Männer verlocken und sie ins 9 Welsch/Liebmann, Farben. 2003, S. 69. 10 Vgl. Gutiérrez Koester, Isabel: „Ich geh nun unter in dem Reich der Kühle, daraus ich geboren war …“ Zum Motiv der Wasserfrau im 19. Jahrhundert. Berlin 2001, S. 21: „Der gewaltigen Naturkraft des Wassers gegenüber hat der Mensch schon seit Urzeiten ambivalente Gefühle gehegt. Seine Bedeutung als Lebenselement, als Quelle der Lebensenergie, macht es zu einer absoluten Notwendigkeit, aber Wasser kann auch unberechenbar und gefährlich sein. Es kann verschlingen, zerstören, töten. Im Element Wasser verschmelzen die entgegengesetzten Kräfte, in ihm ist das Mysterium von Leben und Tod unauflösbar miteinander verbunden, denn jeder Zerstörungsakt bedeutet gleichzeitig eine Regeneration des Zerstörten.“ 11 Vgl. ebd., S. 18. 12 Vgl. ebd., S. 15. 13 Vgl. Trüpel, Helga: Undine: eine motivgeschichtliche Untersuchung. Bremen 1987, S. 15. 14 Vgl. Gutiérrez Koester, Wasserfrau. 2001, S. 21.

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Verderben ziehen, wenn sie in ihren Bann fallen. Schiffsunglücke, über Bord gegangene Fischer und andere Unglücke die Gewässer beinhalten, wurden so während des Mittelalters erklärt, u. a. von der christlichen Kirche im 11. und 12. Jahrhundert. Wasserfrauen waren mit Hexen zusammen die am weitesten verbreiteten dämonisierten Frauenbilder der abendländischen Kultur.15 Beim Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert traten die vielfältig negativ ausgelegten Weiblichkeitsbilder vermehrt zum Vorschein und die verschiedenen Frauentypen der dämonischen Verführerinnen legten die ästhetische Grundlage für die Femme fatale, einen heute oft genutzten Weiblichkeitstyp.16 Die Schnittmenge für alle in dieser Untersuchung genannten Frauenbilder ist Folgende: die den Frauen zugrunde liegende Macht über die Männlichkeit durch körperliche Reize und die Boshaftigkeit ihres Wesens. Sirenen und Hexen galten als besonders böse und hinterlistig, aber auch mythologische Figuren wie die Medusa waren dem männlichen Geschlecht nicht wohl gesonnen17. Wasserfrauen sind dagegen als bewusst genutztes Motiv nahezu aus der modernen Literatur verschwunden,18 legen aber im Gegensatz zu anderen mystisch-dämonischen Frauenbildern dennoch einen der Grundsteine für das Frauenbild der Femme fatale. Carola Hilmes definiert dieses Figurenmotiv wie folgt: „Dieser ‚Minimaldefinition‘ zufolge ist die Femme fatale eine meist junge Frau von auffallender Sinnlichkeit, durch die ein zu ihr in Beziehung geratender Mann zu Schaden oder zu Tode kommt. Die Verführungskünste einer Frau, denen ein Mann zum Opfer fällt, stehen in den Geschichten der Femme fatale im Zentrum.“19

Für Arjounis Gesamtwerk ist dieser Typus erstaunlich charakteristisch, denn in auffällig vielen seiner Werke lässt sich eine Femme fatale oder anderweitig ‚verdorbene‘ oder verderbliche Frauenfigur auffinden, insbesondere in der Romanreihe um den Privatdetektiv Kayankaya.20 In Arjounis zweitem Kayankaya-Krimi „Mehr Bier“ werden z. B. drei für die Handlung relevante weibliche Charaktere in verschiedenen Auslegungen der Femme fatale dargestellt. Als erstes trifft der Privatdetektiv auf die junge Reporterin Carla Reedermann, die in dem Prozess um den Anschlag auf die Firma Böllig ihre Chance auf einen journalistischen Höhepunkt ihrer Karriere sieht. Sie 15 16 17 18 19 20

Vgl. ebd., S. 30f. Vgl. ebd., S. 178. Vgl. ebd., S. 179. Vgl. ebd., S. 16. Hilmes, Femme fatale. 1990, S. 12. Eine Ausnahme bildet hier Deborah, die insbesondere im letzten Roman „Bruder Kemal“ auftaucht und als Partnerin einen positiven Einfluss auf die charakterliche Entwicklung von Kayankaya hat. Interessant ist hier auch, dass die Beziehung nicht durch äußere Einflüsse zerstört wird. (BK, 224f.)

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wird dem Leser direkt als ein „hübsches Ding“ (S, 12) dargestellt. Durch diese Objektifizierung wird sie rein auf ihr Geschlecht reduziert und nicht ernst genommen. Erst in einem der späteren Treffen nimmt der Protagonist und mit ihm der Leser die Reporterin als eigene Person und Frau wahr: durch ihre selbstbewusste Haltung und Kleidungswahl setzt sie gekonnt ihre weiblichen Reize in Szene, auch um an für sie und ihren Zweck relevante Informationen zu kommen. Durch Barbara21 Böllig wird die egozentrische, kaltblütige Ehefrau dargestellt, die nur an dem Materiellen interessiert ist, was ihr Ehemann zu bieten hat. Mit nur 19 Jahren heiratet die ehemalige Sekretärin ihren Vorgesetzten Friedrich Böllig, besitzt damit 30 % Anteile an der Firma und kann sich ihr Leben mit schickem Designer-Interior und -Kleiderschrank leisten. Den Mord an ihrem Ehemann versucht sie durch einen Chemieanschlag auf die Firma zu vertuschen, der durch ihre Langzeitaffäre Herbert Kollek eingeleitet wird. Als Witwe gehören ihr somit 100 % der Firmenanteile, was das Motiv für den Mord zeigt. Barbara Böllig und Kollek fühlen sich in ihrem Unterfangen sehr sicher, bis ihre Machenschaften von Kayankaya aufgedeckt werden. Die letzte weibliche Figur des Romans, die für die Betrachtung des Archetypes Femme fatale interessant ist, ist Nina Scheigel (geborene Kaszmarek). Die Polin kommt während des Krieges über diverse Liebhaber nach Deutschland und ist durch ihre Liebschaften zu Otto (Vater) und Friedrich (Sohn) Bölling in Doddelbach heimisch geworden. Ihre Liebe zu Friedrich bleibt bestehen, auch nachdem er die Firma seines Vaters übernimmt, Barbara Böllig heiratet und damit seine Liebhaberin komplett aus seinem Leben ausschließt und sie wie Luft behandelt. Sie ist sich bewusst, welche Stellung sie als Affäre der Böllig-Männer einnimmt, sieht die Hauptursache für ihr Leiden jedoch in Barbara Böllig, die ihr die Chance auf ein gemeinsames Leben mit Friedrich Böllig durch die Hochzeit nimmt. Als sie erfährt, dass Barbara ihren Ehemann ermordet hat, beendet sie das Leben der Witwe durch eine Arsenvergiftung und ihr eignes, indem sie sich nach der Tat bei der Polizei stellt und ins Gefängnis geht. Dass sich ein Großteil von Arjounis weiblichen Figuren auf den Typus der Femme fatale beziehen lässt , ist darauf zurückzuführen, dass er sich bei seinen Krimis an dem amerikanischen Vorbild des hardboiled detective orientiert. Es ist aber auch Gesellschaftskritik herauszulesen, die Materialismus und die Objektifizierung des weiblichen Geschlechts in den Blick nimmt. Dies gilt für die Darstellung von reichen Personen, die auf die Diskrepanz zwischen Arm und Reich hinweist, ebenso wie für den Handlungsort des Frankfurter Rotlichtmilieus: 21 In der für diesen Beitrag verwendeten Ausgabe von „Mehr Bier“ steht auf S. 94 ‚Brigitte‘ statt ‚Barbara‘, eine tiefergehende literarische Bedeutung ist jedoch nicht erkenntlich. In diesem Fall ist zu vermuten, dass hier ein Fehler unterlaufen ist.

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„Es wird ein Gesellschaftsbild präsentiert, in dem das Geld absolute Macht über die Menschen hat. Das zeigt sich insbesondere in der Kayankaya-Reihe, wo Beschreibungen käuflicher Liebe schneller zu finden als ihr Gegensatz sind.“22

Auch Jessica gehört zu den Femme fatale-Charakteren Arjounis. Eine interessante Beobachtung ist, dass ihr Erscheinungsbild mehr an die magisch-dämonischen Vorbilder der Femme fatale angelehnt ist. Als stereotype ‚Hexe‘ dargestellt mit roten Locken und blauen Augen, sowie dem stetigen Bezug zum Motiv Wasser und ihre Wirkung auf den Protagonisten Harry spricht ebenso für die Theorie, dass Jessica als eine ‚moderne‘ Wasserfrau gesehen werden kann: Im Vergleich zu anderen Protagonisten in Arjounis Werken ist Harry nahezu besessen von seiner Frau Jessica und vergöttert sie regelrecht. „Schwarze Serie“ beginnt an einem See in Berlin. Hier geht ein Job des Protagonisten und Mafia-Handlangers Harry horrend schief: Es soll eine Übergabe von geschmuggeltem Plutonium stattfinden, der Neffe des Mafia-Chefs Horst Ruttke wird dabei erschossen. Harry lässt sich bei einem Blick über den See hinweg ablenken und denkt an seine Frau Jessica (vgl. S, 55). Die Kurzgeschichte startet mit einem Mord am See, stellt an dieser Stelle also eine Verbindung von Wasser mit dem Tod her, die auch im Verlauf der Geschichte aufrechterhalten wird. In der Beziehung zwischen Harry und Jessica läuft es nicht gut, sie streiten regelmäßig und auch ihr Liebes- und Sexleben ist nicht mehr existent. Dennoch ist er in sie vernarrt. Sie leben gemeinsam in einem Bungalow am Schlachtensee, lassen diesen komplett renovieren und bauen sich einen Pool in den Garten. Während Harry auf die Arbeit fährt, ist Jessica für die Inneneinrichtung ihres Heims zuständig. Für den Keller sucht sie eine himmelblaue Seidentapete aus, bei einem Streit in diesen Räumlichkeiten beschimpft sie Harry als Irren (vgl. S, 67). An dieser Stelle lassen sich erste, anfängliche Ähnlichkeiten mit der Thematik Wasserfrau erahnen: genau wie ein Fischer oder Seefahrer, der sich in den Tiefen eines Gewässers verliert, zieht es Harry in den blauen Keller, an die tiefste Stelle ihres Bungalows, wo er von seiner Frau beschuldigt wird, nicht ganz bei Sinnen zu sein. Dass seine Besessenheit von Jessica und seine Eifersucht in Bezug auf mögliche Nebenbuhler Harry blendet, wird auch an anderen Stellen ersichtlich, am auffälligsten als es um die neue Luftmatratze geht, die Ruttke dem Paar geschenkt hat: „Harry warf einen Blick ins Wohnzimmer und wollte schon weiter zur Kellertreppe, als er die Luftmatratze neben der Couch sah und stehenblieb. Ein blaurotes, doppelbett-

22 Je¸drzejewski, Maciej: Gesellschaft in Jakob Arjounis Werk. Berlin u. a.: Peter Lang 2019, S. 144.

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großes, einen halben Meter dickes Monstrum. […] Woher kam das? Wozu war das gut?“ (S, 66)

Jessica und Ruttke pflegen eine freundschaftliche Beziehung und telefonieren häufig, wenn Harry für ein paar Tage auf einem Job ist. Auf diese Weise erfährt sie auch Informationen über Harrys Arbeit, die er ihr selbst nicht erzählt. Das Geschenk ist für sie eine freundliche Geste, einfach eine Überraschung, mit der Ruttke dem Paar eine Freude machen will. Für Harry jedoch ist es unverständlich, wie sein Chef ihnen ein Geschenk macht, ohne ihm davon etwas zu sagen und es zum Bungalow zu bringen, während er nicht zuhause ist. Diese Eifersucht zeigt seine obsessive und possessive Einstellung Jessica gegenüber, die er wie einen Schatz behandelt welchen nur er haben kann. Andererseits unterstreicht dies die Theorie von Jessica als verführerischer Wasserfrau, welcher er verfallen ist. Als Harry erfährt, dass sich ein Massagemotor in der Luftmatratze befindet, steht für ihn fest, dass eine boshafte Absicht hinter dem Geschenk stecken muss. Er sieht die Tatsache, dass man auf der Matratze „bumsen könne, ohne sich zu bewegen“ (S, 68) als direkten Angriff auf seine Männlichkeit und potenziellen Versuch, ihm Jessica auszuspannen.23 Der Text legt durchaus eine Deutung dieses Geschenks mit sexueller Absicht nahe, doch kann man die Geste noch anders interpretieren. Eine Luftmatratze ist ein Gegenstand, der eine Person über Wasser hält und sie so als Hilfsmittel vor dem Ertrinken schützen kann. Da in „Schwarze Serie“ Wasser ein Zeichen für Gefahr ist, und sowohl Ruttke als auch Jessica vehement versuchen, Harry zu helfen, aus seiner verschrobenen Sicht auf die Situation herauszukommen (vgl. S, 68), kann man diese Luftmatratze als ein Hilfsangebot Ruttkes an Harry sehen. Ob diese Hilfe sich auf das Schwimmen im Swimmingpool bezieht oder darauf, dass eingeschlafene Sexleben des Paares wieder in Schwung zu bringen, bleibt dem Leser überlassen (vgl. S, 70). Auch farblich pendelt die Matratze zwischen den Farben blau und rot und greift somit die beiden in der Erzählungen dominanten Farben auf. Die folgende Szene vereint alle oben genannten Motive, gibt proleptisch Aufschluss über das Ende, und ereignet sich, als Harry seinen großen Coup plant, um Jessica wieder für sich zu gewinnen und als starker Mann dazustehen (vgl. S, 72). „Wieder Zuhause, saßen sie noch eine Weile bei Kerzenlicht und Cognac auf der Terrasse, sahen auf die für den Swimmingpool ausgehobene Grube im Garten und be23 An dieser Stelle ist anzumerken, dass die Kurzgeschichte auf Harry fokalisiert erzählt wird und der Leser die Ereignisse somit aus dessen Wahrnehmung und Einschätzung vermittelt bekommt, und somit nur eine gefilterte Sicht auf die Motive und Absichten der anderen Figuren hat. Es kann also davon ausgegangen werden, dass es sich um einen unzuverlässigen Erzähler handelt, der nicht nur Harry, sondern auch den Leser auf eine falsche Fährte locken will.

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sprachen, welche Lichteffekte für den Pool in Frage kämen. Jessica war von der Idee eines in der Nacht blutrot leuchtenden Wassers fasziniert.“ (S, 73)

Mit dem Swimmingpool wird wieder das Wasser-Motiv aufgegriffen, auch wenn es ein künstliches bzw. menschengemachtes Gewässer darstellt. Swimmingpools bieten die Möglichkeit, sich auch in der Stadt ins kühle Nass zu begeben und sich der ‚Natur‘ zumindest ein Stück weit verbunden zu fühlen. Das Wasser im Swimmingpool ist ein gebändigtes Gewässer, man sieht klar den Boden und weiß, es ist keine unberechenbare Tiefe zu fürchten. Der Mensch macht sich hier das Wasser untertan. Außerdem versprechen Swimmingpools allgemein Ruhe und Entspannung, dieses Gefühl wird durch die in der Regel hellblaue Gestaltung der Fliesen erzeugt. Die Frage nach der Färbung des Wassers durch Licht spielt erneut mit der Rot-Blau-Dichotomie. Blutrot leuchtendes Wasser bei Nacht kann grundlegend auf zwei Arten gedeutet werden: entweder als eine erotischen Fantasie, die ausgelebt wird, wo das Wasser die sinnliche Stimmung intensiviert, oder es wird mit einem Todesfall assoziiert, bei dem sich durch eine Verletzung oder einen Mord am bzw. im Wasser dieses durch austretendes Blut rot färbt. Jessica als Frau mit Lebensfreude und dem Drang danach, etwas zu erleben, ist vermutlich eher an der ersten Auslegung interessiert, um ihr dürftiges Sexualleben mit Harry wieder etwas in Schwung zu bringen. Andererseits deutet der blutrote Pool bereits Harrys späteren Tod an. Bei dem Dinner am See, für welches er ein Attentat auf Ruttke geplant hat, wird nicht Ruttke erschossen, sondern Harry: „Drei Schüsse vom gegenüberliegenden Ufer, drei Treffer. Harrys Beine knicken ein, er fiel nach hinten und platschte in den See. Um ihn herum färbte sich das Wasser rot.“ (S, 76) An dieser Stelle schließt sich der Kreislauf: Die Kurzgeschichte beginnt mit einem Todesfall am See, sie endet mit einem Todesfall am See. Sie beginnt damit, dass Harry an einem See in Berlin an seine Frau Jessica denkt. Sie endet damit, dass seine letzten Gedanken ihr gewidmet sind, und wie „sie nun tatsächlich seine Liebe fürs Leben gewesen war“ (S, 76). Er ist wie die Protagonisten vieler Wasserfrau-Erzählungen der Held, der durchs Wasser stirbt, weil er einer wunderschönen Frau verfallen ist, die er trotz aller Widrigkeiten abgöttisch liebt. Sein Fehler ist, Jessica nicht zu vertrauen und jedem Mann gegenüber eifersüchtig zu sein. Er will seine Stärke und Männlichkeit vor Jessica beweisen, indem er einen Job plant, der eine Nummer zu groß für ihn ist. Stellt Jessica somit eine moderne Wasserfrau oder eine Femme fatale dar? Zumindest finden sich einige Ähnlichkeiten mit einer Femme fatale. Sie ist eigenständig, selbstbewusst, lebensfroh und durchaus daran interessiert, etwas zu erleben. Auch in Sachen Sexualität ist sie nicht auf den Mund gefallen, kontert gewusst beim Streit mit Harry (S, 69) und weiß, wie sie ihren Körper zur Geltung bringt. An dieser Stelle ist interessant anzumerken, dass ihre Kleidung nur ein

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einziges Mal erwähnt wird, nämlich in der letzten Szene. Dies sticht besonders heraus, da sie ein „kleines Schwarzes“ (S, 77) trägt; ein verführerisches Kleidungsstück. Auch ihr kokettes Auftreten gegenüber Ruttke in dieser Szene zeigt deutlich, dass sie genau weiß, was sie will und vor allem: von wem (vgl. S, 78). Für die These, dass sie Ähnlichkeiten mit einer Wasserfrau hat, spricht vor allem, dass sie der Katalysator für Harrys Niedergang ist. In ihrer Funktion als Figur tritt sie in jedem Moment der Handlung auf, der ausschlaggebend für eine Wendung ist und auffallend ist dabei, dass jeder dieser Momente das Motiv Wasser beinhaltet. Konstante Gedanken und Tagträumereien über sie unterbrechen Harrys Konzentration bei Jobs, die er dann nicht vernünftig abwickeln kann und sich so zur Gefahr entwickeln, bei Fehlschlägen sein Leben oder seinen Job zu verlieren. Es ähnelt den Sagen, in denen die Fischer so sehr auf die Wasserfrauen fixiert sind, dass sie sich, ohne auf ihre Umgebung zu achten, in Gefahr begeben und über Bord gehen. Ein kleines Detail, welches in der Kurzgeschichte nur angesprochen wird, um Kontext zu einer der vielen Streitereien des Paares zu geben, ist, dass Jessica gerne ausgeht, etwas erleben und auf Partys tanzen möchte (vgl. S, 64f.). Sie versucht, Harry in ‚ihre Welt‘ hineinzuziehen, so dass die beiden ihre Freizeit nicht nur daheim verbringen. Musik ist hier das Stichwort, dass eine weitere Parallele zu dem literarischen Vorbild aufzeigt, da Wasserfrauen Männer durch ihren Gesang anlocken und dann in die Tiefe ihrer eigenen Welt herabziehen. Am meisten für diese These spricht der Fakt, dass Harry, ihr Geliebter, ihr so verfallen ist, dass er blind vor Liebe und Eifersucht in sein Verderben rennt, um in einem See stehend mit dem Gedanken an sie stirbt. Auch andere männliche Figuren können sich ihrem Bann nicht wirklich entziehen. Im Verlauf der Kurzgeschichte erfährt der Leser, dass sie ebenfalls Ruttke um den Finger gewickelt hat, Geschenke, Informationen zu Harrys Arbeit und eine überdurchschnittlich gute Witwenrente bekommt und mit Istvan, Harrys verhasstem Arbeitskollegen, direkt nach seinem Tod anbandelt um sich „auf andere Gedanken zu bringen.“ (S, 79) Somit ist Jessica eine Figur, die mit ihrem verführerischen Aussehen und ihrer Funktion als mystisch-dämonische Frau, die für Unheil sorgt, eine überraschend hohe Ähnlichkeit mit einer Wasserfrau hat, welche die literaturgeschichtlichen Vorgängerinnen der Femme fatales sind.

Literaturverzeichnis Gutiérrez Koester, Isabel: „Ich geh nun unter in dem Reich der Kühle, daraus ich geboren war…“ Zum Motiv der Wasserfrau im 19. Jahrhundert. Berlin: Logos 2001. Hilmes, Carola: Die Femme fatale: ein Weiblichkeitstypus in der nachromantischen Literatur. Stuttgart: J.B. Metzler 1990.

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Je¸drzejewski, Maciej: Gesellschaft in Jakob Arjounis Werk. Berlin u. a.: Peter Lang 2019. Linares, Marina: Alles Wissenswerte über Farben: Farbenlehre, Kunsttheorie, Farbenpsychologie, Kulturgeschichte, Neue Medien. Essen 2005. Trüpel, Helga: Undine: eine motivgeschichtliche Untersuchung. Bremen 1987. Welsch, Norbert; Liebmann, Claus Christian: Farben: Natur, Technik, Kunst. Heidelberg 2003.

Robin-M. Aust (Düsseldorf)

„Ein Schriftsteller, so dachte ich […], drückt sich gerne in Metaphern aus“. Arjounis Künstlerfiguren als Vehikel von Poetik, Kritik und Selbstbespiegelung

Ob nun die Kayankaya-Reihe, „Magic Hoffmann“, „Hausaufgaben“, „Der heilige Eddy“ oder „Idioten“ – Jakob Arjouni ist primär als Autor gesellschafts- und deutschlandkritischer Romane und Erzählungen bekannt. Gemein haben fast all diese Texte die Figurenkonzeption und das Thema der (Lebens-)Lüge und damit einhergehend das Spiel mit Identitäten. Regine Zeller merkt in ihrem Beitrag zu „Happy birthday, Türke!“ an, dass für den Kriminalroman im Allgemeinen und seine Umsetzung durch Arjouni im Speziellen gilt: „Das performative Spiel mit Identitätskonstruktionen steht definitionsgemäß im Zentrum jedes Detektivromans, geht es doch im Kern um die so zentrale wie triviale Einsicht, dass ‚Menschen nicht sind, wie sie zu sein scheinen‘. […] Im Alltag wird in der Regel ausgeblendet, dass der Andere uns immer in gewissem Grade fremd sein muss, da uns sein Bewusstsein unzugänglich bleibt.“1

Zeller führt aus, dass im Kriminalroman „aus diesem Misstrauen gegenüber scheinbaren, angenommenen und inszenierten Identitäten ein Spiel“ werde, „an dem Erzähler, Figuren und Leser teilhaben und aus dem der Detektiv im klassischen Fall als Sieger hervorgeht, da er die zweifelsfreie Identifikation des Schuldigen leistet“.2 Nun beschränken sich das Inszenieren von Identitäten und das Täuschen des Gegenübers nicht nur auf die Mörder, denen Kayankaya in den Kriminalromanen nachjagt. Auch die Figuren anderer Romane und Erzählungen von Jakob Arjouni sind oftmals Betrüger – wenn auch nicht unbedingt aus kriminellen Motiven: sie täuschen sich und ihre Umwelt im zwanghaften Bemühen, ein brüchiges, falsches Selbst- und Fremdbild aufrecht zu erhalten, oder um schlicht die (Lebens-)Realität zu bewältigen. 1 Zeller, Regine: ‚Türkischer‘ Detektiv mit doppeltem Bewusstsein. „Happy birthday, Türke!“ und die stereotypen Bilder des Fremden. In: Gewissheit und Zweifel. Interkulturelle Studien zum kriminalliterarischen Erzählen. Hrsg. von Sandra Beck/Katrin Schneider-Özbek. Bielefeld: Aisthesis 2015, S. 41–57, hier S. 41. Hervorh. i. Orig. Zeller zitiert Peter Nusser: Der Kriminalroman, S. 41. 2 Ebd., S. 42.

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Arjounis Erzählungen und den darin enthaltenen Figuren ist ebenfalls ihre modellhafte Anlage sowie die starke strukturelle Ordnung und Schematisierung gemein: „Situationen, Charaktere, Milieus werden nicht naturalistisch geschildert, sondern hergestellt, sie sind Bausteine des Geschehens, nicht seine Träger. […] Alle Erzählungen Arjounis sind […] exemplarische Geschichten, Novellen. Sie schnüren den Knoten zum moralischen Konflikt. Sie zielen perspektivisch auf die Pointen.“3

Eine Dimension, die in der Forschung bisher größtenteils unbeachtet geblieben ist, die aber diese beiden Aspekte zentral in sich vereint, ist die von Arjounis Werken als poetologische Künstlertexte: nicht nur als Protagonisten diverser, kürzerer Einzeltexte, sondern auch als Randfiguren in seinen ‚Hauptwerken‘ treten Künstler auf. Auch diese Figuren sind modellhafte Bausteine einer übergeordneten Erzählung, es wird nicht direkt eine Geschichte über sie erzählt, sondern mit ihrer Hilfe eine Aussage formuliert. Das Spektrum seiner Künstlerfiguren durchzieht Arjounis Gesamtwerk und ist breit und vielfältig. Oft sind aber auch diese Künstler typische, entweder ‚täuschende‘, ‚getäuschte‘ oder ‚enttäuschte‘ Arjouni-Protagonisten. Mal werden ihre Kunst und ihr Künstlertum prominent in Szene gesetzt, mal sind sie bloße Randerscheinungen, mal dienen sie der Kritik an der gesellschaftlichen Rolle der Kunst, mal der Kritik an der Rolle von Autor:innen im Literaturbetrieb. Dabei richtet sich die Kritik nicht ausschließlich gegen den Künstler als kultureller Typus im Allgemeinen oder konkrete Künstlerkolleg:innen im Speziellen. In Ermangelung explizit autofiktionaler Texte, Poetikvorlesungen oder anderer Epitexte findet sich in diesen Künstlerfiguren somit eine wichtige Quelle für Arjounis Poetik: über sie formuliert Arjouni seinen Blick auf die Rolle der Kunst und des Künstlers im Allgemeinen und den kulturellen Typus des Literaten im Speziellen.4 Häufig weisen diese Künstlerfiguren zudem Züge ihres Autors auf – sie werden somit zu literarischen Vehikeln seines Selbstverständ3 Waibel, Ambros: Jakob Arjouni. Hamburg: Diplomarbeiten Agentur 2000, S. 22–24. Vgl. hierzu ebenfalls Kniesche, Thomas W.: Vom Modell Deutschland zum Bordell Deutschland. Jakob Arjounis Detektivromane als literarische Konstruktionen bundesrepublikanischer Wirklichkeit. In: Mord als kreativer Prozess. Zum Kriminalroman der Gegenwart in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Hrsg. von Sandro M. Moraldo. Heidelberg: Winter 2005, S. 21–39 sowie Brylla, Wolfgang: „Kayankaya am Tatort“. Raumdarstellung im modernen deutschen Kriminalroman „Happy birthday, Türke!“ von Jakob Arjouni. In: Studia Niemcoznawcze 43, 2009, S. 279–290. 4 Nicht unerwähnt bleiben soll die Vielzahl von Interviews mit Jakob Arjouni, die allerdings einen gänzlich anderen Modus der Auseinandersetzung mit dem eigenen Schriftstellertum offenbaren: literarische Figuren und Texte können unter dem ‚Deckmantel‘ der Literarizität und Fiktionalität Themen und Aspekte zwar chiffriert, aber teils offener an- und besprechen, als es der reale Autor in einem realitäts- und oftmals werbewirksamen, geleiteten Interview vermag.

„Ein Schriftsteller, so dachte ich […], drückt sich gerne in Metaphern aus“

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nisses und Selbstbildes als Schriftsteller, sowie einer oftmals schonungslos kritischen, teils aber auch mitleidvollen Selbstbespiegelung. Wie im Falle anderer Figurentypen in seinem Œuvre appliziert Arjouni auch bei seinen Künstlern eine Vielzahl von Stereotypen und Klischees – und subvertiert diese oftmals wieder. Im Folgenden soll der Entwicklung dieses Figurentypus und den Perspektivverschiebungen nachgegangen werden, die mit einem möglicherweise veränderten Weltbild und literarischen Programm sowie wechselnden Produktionsbedingungen einhergehen. Aus dem breiten Spektrum von Arjounis ‚Künstlertexten‘ werden exemplarisch „Ein Mann, ein Mord“ (1991), „Das Innere“ (1998), „Besiegt (2003) und „Bruder Kemal“ (2012) herausgegriffen. Im Fokus stehen hierbei die unterschiedlichen Ausprägungen und Funktionalisierungen der in ihnen erzählten Künstlerfiguren und -schicksale, um abschließend die hieraus resultierenden Implikationen für Arjounis Poetik, Kunstkonzept und Selbstbild als Autor zu diskutieren.

Ein unerwartet gefährlicher ‚Kunstbubi‘: „Ein Mann, ein Mord“ (1991) Ein erster auffälliger Prototyp von Arjounis Künstlerfiguren ist der Auftraggeber in „Ein Mann, ein Mord“ von 1991, dem dritten Kayankaya-Krimi. Manuel Weidenbusch wendet sich in einem für Arjounis Krimireihe geradezu typischen Anliegen an den Ermittler: Kayankaya soll Weidenbuschs verschwundene Freundin, Sri Dao Rakdee, eine Thailänderin ohne gültige Aufenthaltserlaubnis und ehemalige Prostituierte, ausfindig machen (vgl. EM, 14f.). Wie schon im Vorgängertext „Happy birthday, Türke!“ fällt der Auftrag Kayankaya aufgrund seines ausländischen Namens zu (vgl. EM, 16). Dem hartgesottenen Ermittler erscheint sein naiver, überforderter Auftraggeber zunächst wenig schmeichelhaft als „bonbonfarben verpackter Hurenretter mit rosarundem Guck-in-die-Luft“ (EM, 14): in eine Situation hineingeraten, die er nicht zu beherrschen vermag, kapituliert er vermeintlich unter dem Druck und möchte Kayankaya von dem Fall abziehen (vgl. EM, 102f.). Dieser bereits etablierten Konstellation wird nun eine weitere, für Arjounis späteres Werk zentrale Komponente hinzugefügt: „‚Ihr Beruf ?‘ ‚Künstler.‘“ (EM, 18) Während sich Weidenbusch in einer Vielzahl von Künsten von Bildhauerei bis Film betätigt (vgl. EM, 18), bleibt er Kayankaya jedoch ausgerechnet als Schriftsteller im Gedächtnis (vgl. EM, 178). Bereits bei seinem ersten Auftritt wird er als Karikatur eines „durchschnittlichen Westendaffen“ (EM, 9) präsentiert, als dünkelhafte, geradezu groteske Figur:

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„Die Tür öffnete sich, und eine bunte Kugel schob sich herein. Braune Bommelschuhe, weiße Hose, roter Gürtel, blau-weiß gestreiftes Hemd, grüne Krawatte mit Pünktchen, blauer Mantel, dicker Bauch, kurze Beine. Von Kopf bis Fuß auf Lebenslust eingestellt, blieb er neben der Tür stehen und musterte entgeistert das Büro. […] Vorsichtig, als habe er Angst, seine Schuhe könnten schimmeln, durchquerte er den Raum […].“ (EM, 9)

Kayankayas Erzählerrede lässt keine Gelegenheit aus, Weidenbusch als oberflächlich lächerliche Figur zu präsentieren: „Er fiepte […]. Entweder drückte sein Bauch von unten auf die Stimmbänder, oder die Krawatte war zu fest gebunden, jedenfalls fiepte er wie ein Welpe.“ (EM, 9) Diese Figurenzeichnung spiegelt sich auch räumlich in Weidenbuschs Wohnort: die „bunte Kugel“ (EM, 9) bewohnt zu ihrer heterogenen, grotesken Erscheinung passend einen „dieser frisch in Bonbonfarben gestrichenen Altbauten, vor denen man ein Kreuz schlägt und froh ist, den eigenen Fenstern gegenüber graue Fassaden zu haben. Leuchtend türkise Streifen auf gelbem Grund, die Fenster rosa gerahmt. Damit nicht genug, strotze jeder Balkon vor Blumen- und Palmentöpfen, Luftballons, Kinderspielzeug […] und allerhand anderem Firlefanz. Eine Mischung aus ‚Anarchie ist machbar, Herr Nachbar‘ und ‚Unser Dorf soll schöner werden‘. […] Ein riesiger Kronleuchter hing von der Decke, und über die Treppe lief roter Teppich.“ (EM, 168f.)

Diese Widersprüchlichkeit aus bürgerlich-konservativem Wohlstand und linksprogressiver Ideologie setzt sich auch im Inneren des Hauses fort. So finden sich im Gebäude neben einem „Werbebüro“ (EM, 169) – und damit einem Vertreter einer kapitalistischen, hedonistischen Ökonomie – auch „eine Filiale der Partei mit Herz für Bäume“ (EM, 169) – und damit einem Repräsentanten einer sozialen, altruistischen Ökologie. Das politische Profil dieser Partei und ihre Kernthemen scheinen dabei in ihrer wahllosen Reihung komisch: „Die Tür war mit Aufklebern übersät: Nordsee, Atomkraftwerke, Fahrräder, Frieden, Mandela, Palästina, Nicaragua, Kinder, Behinderte, Schwule, Ausländer, schwule Ausländer, Frauen, schwangere Frauen, alleinstehende Frauen, Frauen in Häusern… Die Tür war eine Mischung aus Madonnenbild und Guten-Zweck-Sammelbüchse, in die man nichts reinstecken mußte. Ein längerer Blick genügte, um Absolution für unsoziales Handeln der letzten und moralischen Vorschuß für die nächsten Wochen zu erhalten. Selber solche Aufkleber an Tür oder Auto zu haben müßte etwa hundert abgeleisteten Avemarias entsprechen.“ (EM, 169)

Kurzum: Weidenbusch, seine bonbonfarbene Welt und ihr oberflächlicher ‚shabby chic‘ verkörpern alles in allem den Gegenpol zur düsteren „shabby and depressing reality“5 des grauen Frankfurter Bahnhofsviertel, in der sich Kayan-

5 Grella, George: The Hard-Boiled Detective Novel. In: Detective Fiction. A collection of critical essays. Hrsg. von Robin S. Winks. New Jersey: Prentice-Hall 1980, S. 103–120, hier S. 111.

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kaya sonst bewegt.6 Weidenbuschs Weltgewandtheit offenbart für Kayankaya jedoch letztlich bloß Engstirnigkeit. Wie die Aufkleber an der Parteifiliale erscheint er ihm auf Oberflächlichkeit bedacht, als wortreich daherredender, aber weltfremder Philister mit „Pflaumenaugen“ (EM, 13), „der Rotwein schlürft, ohne Bier von Fanta unterscheiden zu können, gebügelte Unterhosen trägt und meint, rosa Brillen und bunte Uhren machten Charakter. Was ihm fehlte, war ein gepflegter Vier-Tage-Bart, und dafür konnte er nichts.“ (EM, 9)

Der Künstler wird somit Ausgangspunkt einer kritischen Auseinandersetzung mit vermeintlich kultivierten Poseuren, wie sie auch für spätere Arjouni-Texte typisch ist:7 „Sie besuchen Ausstellungen in New York und gehen auf Safari in Afrika; sie kiffen in Kairo, essen japanisch und wollen Moskau Demokratie beibringen; sie sind international bis auf die Pariser Unterhose – aber einen Türken ohne Sperrmüll unterm Arm und zehn ungewaschenen Kindern an der Hand, das geht nicht rein in ihren Schädel.“ (EM, 16)

Damit ist die erste Funktionalisierung des Künstlers in Arjounis Werk etabliert: Arjounis Künstlertypen sind Heuchler. Hinter der Maske der oberflächlichen Weltverbesserer offenbaren sich Hedonisten, die sich bequem auf ihren eigenen Vorteil zurückziehen. Nun bleibt Weidenbusch aber nicht das bloße Zerrbild eines lächerlichen Künstlers, dient die Figur nicht bloß als Vehikel von Arjounis Gesellschaftskritik. Die Vielzahl der Kunstformen, in denen sich Weidenbusch betätigt, wirkt zunächst wahllos, übertrieben, lächerlich. Hierüber wird zudem die zweite Funktionalisierung zumindest ansatzweise deutlich: Weidenbusch wird trotz seiner oberflächlichen Lächerlichkeit – ebenfalls zentral für Arjounis Künstlerfiguren – in seinem Künstlertum jedoch auch als Getriebener stilisiert, der gar nicht anders kann, als Kunst zu schaffen:

6 Weidenbusch entspricht damit ironischerweise aber auch dem ‚rotweinschlürfenden Westendaffen‘, zu dem Kayankaya später selbst, in „Bruder Kemal“ (2012), dem letzten von Arjounis Kriminalromanen, werden sollte. Siehe hierzu auch die Ausführungen zum Ende dieses Beitrages, den Beitrag von Carolin Wallraven in diesem Band sowie Seeber, Stefan: Ich und die Anderen. Kemal Kayankaya auf dem Weg in die Bürgerlichkeit. In: Germanica 58: Le roman policier dans l’espace germanophone. Der Kriminalroman im deutschsprachigen Raum. Hrsg. von Elisabeth Kargl/Aurélie Le Née, 2016, S. 189–198. 7 Eine ganz ähnliche Figuration des scheinheiligen Bildungsbürgers findet sich auch in „Hausaufgaben“ (2004). Hier kaschiert Joachim Lindes vermeintliche Weltoffenheit jedoch engstirnigen Rassismus. Siehe hierzu auch den Beitrag von Sandro M. Moraldo in diesem Band sowie Greif, Gudrun/ Greif, Stefan: „Jemand“ sein und „den Ton“ angeben. Lehrer als Parvenüs in Jakob Arjounis Hausaufgaben und Judith W. Taschlers Die Deutschlehrerin. In: Gescheit, gescheiter, gescheitert? Das zeitgeno¨ ssische Bild von Schule und Lehrern in Literatur und Medien. Hrsg. von Gu¨ nter Helmes und Gu¨ nter Rinke. Hamburg: Igel 2016, S. 81–91.

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„Eifrig, mit nervösem Glanz in den Augen, erklärte er: ‚Ja, Bildhauer und Maler. Und ich schreibe, Kurzgeschichten und fürs Fernsehen. Vielleicht drehe ich demnächst sogar einen Film. Und beim Radio bin ich auch.‘ \ […] ‚Alles auf einmal?‘ \ ‚Ich kann nicht anders. Ich muß was tun, muß arbeiten und kreativ sein, sonst werde ich verrückt.‘“ (EM, 18)

Wie sich im weiteren Verlauf dieser Analyse zeigen wird, teilt sich Weidenbusch diese Getriebenheit mit vielen anderen Künstlerfiguren aus Arjounis Texten. Anhand von Weidenbusch reflektiert Arjouni ebenfalls über seinem eigenen Status als Verfasser gesellschaftskritischer Kriminalromane. Über die Figur und ihre Funktion im Fall werden poetologische, wenngleich rudimentäre Selbstaussagen formuliert. Hierfür ist paradoxerweise der Abschluss des Falles, mit dem Kayankaya in „Ein Mann, ein Mord“ betraut ist, zentral: Die Suche nach den Entführern und der Entführten konfrontiert den Detektiv zwar mit den Köpfen der Frankfurter Unterwelt und den Niederungen ‚Mainhattans‘, die Ermittlung in einem Netz aus Korruption und Gewalt führt zwar zu diversen Enthüllungen und Todesopfern – Kayankaya kann Sri Dao zunächst jedoch nicht auffinden. Er trifft sie letztlich, erst am Ende der Erzählung, nach Zerschlagung des Schleuserringes, wohlbehalten bei Weidenbusch zuhause an. Die Lösung des ursprünglichen Falles: Weidenbusch hatte sich nach Erteilung des Auftrags selbst auf die Suche gemacht, seine Freundin vor Kayankaya gefunden – und den Entführer getötet:8 „Zehn Minuten später hatte Weidenbusch drei Zigaretten geraucht und nacheinander erzählt, wie er in der Villa sehen mußte, wie Manne Greiner Sri Dao vergewaltigte. Was folgte, war Reflex: dem bäuchlings Liegenden das Knie in den Nacken, die Hände um die Stirn und ein kräftiger Ruck. \ Während er sprach, war seine Stimme fester geworden, jetzt drückte er die Zigarette im Aschenbecher aus und wirkte zum ersten Mal seit unserer Bekanntschaft fast gelassen.“ (EM, 177)

Die Leser:innen und der Ermittler teilen sich nach der anfänglichen Darstellung Weidenbuschs ihr Erstaunen: „Das hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut.“ (EM, 178). Nun steckt hierin möglicherweise ebenfalls poetologisches Potenzial: Der Ermittler als Vertreter der Gerechtigkeit löst den Fall zwar, berichtet den Leser:innen den Hergang – er bringt aber nicht seine eigentliche Lösung hervor. Der positive Abschluss des Falles, die Rettung der Entführten wird hier durch den vermeintlich verweichlichten „Kunstbubi“ (EM, 171) hergestellt, der die Gerechtigkeit selbst in die Hand nahm. Und auch der reale Schriftsteller Arjouni nimmt die Gerechtigkeit – zumindest auf der Ebene der literarischen Fiktion – 8 Zunächst überwiegt hier aber erneut Weidenbuschs Heuchelei und Feigheit: So geht Kayankaya zunächst davon aus, dass Sri Dao ihren Entführer und Vergewaltiger selbst getötet habe; Weidenbusch korrigiert dies zunächst nicht. Erst Sri Daos kühle Reaktion und Kayankayas Kombinationsgabe verleiten Weidenbusch zu einem Geständnis (vgl. EM 174–177).

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selbst in die Hand, verfasst er doch einen zunächst spannenden Kriminalroman, dessen gesellschaftskritisches Potenzial und die in ihm verhandelten unangenehmen Wahrheiten die Leserschaft ihm auf dem ersten Blick ebenfalls nicht ‚zugetraut‘ hätte.

Die Sucht des Künstlers nach Anerkennung: „Das Innere“ (1998) Während Künstler in den meisten von Arjounis Romanen eher Nebenfiguren darstellen, finden sich insbesondere unter seinen kürzeren Erzählungen mehrere dezidierte Künstlertexte, die ebenfalls poetologisch lesbar sind. Ein erstes Beispiel findet sich in der 1998 in „Ein Freund. Geschichten“ veröffentlichten Erzählung „Das Innere“. Hier findet das Bild des Künstlers als selbstbezogenem Heuchler, wie es durch Weidenbusch vorgezeichnet wurde, eine gesteigerte Umsetzung. Zentral für diesen Text ist das Auseinanderklaffen von Schein und Sein, von Fremd- und Selbstbild, eben von Äußerem und Innerem.9 Die Erzählung greift somit vor allem die Funktionalisierung der Künstlerfigur als Heuchler auf. „Das Innere“ erzählt die Geschichte von Jürgen Schröder-von Hagen, einem „mittelmäßig begabte[n] [Langzeit-]Studenten russischer Sprache und Literatur“, verheiratet mit Elisabeth, einer wohlhabenden Anwältin „adelige[r] Herkunft“ (DI, 80) – also einem Außenseiter in der ihn umgebenden Welt der „stuckverzierten Altbauten und Abendgesellschaften auf Penthouse-Terrassen“, der „reichen Immobilienmakler und braungebrannten High-Society-Playboy[s]“ (DI, 81). Nicht nur, dass es bereits durch den Klassen- und Werteunterschied in der Ehe kriselt – seine angeheiratete Familie grenzt ihn aus und lässt keinen Zweifel an ihrer geringen Meinung über Jürgen: Für seine Frau ist er „eine Flasche“ (DI, 82), er wird bei Familientreffen weggeschickt, sein Schwager sieht ihn gar als „Erbschleicher[]“ (DI, 82), die „trübste Tasse im Saal“ (DI, 108), gar „irgendein Ungeziefer“ (DI, 81), er selbst sieht sich als „Waschlappen“ (DI, 100). Nun handelt es sich bei Jürgen nicht nur um einen Studenten und somit Rezipienten, sondern auch um einen Produzenten von Literatur: „[E]igentlich schreibe ich einen Roman“ (DI, 100) – seit drei Jahren ist dieses Werk „Jürgens Lebensinhalt“, von dem er bisher allerdings noch niemandem erzählt hat, „als Überraschung […] für Elisabeth und einige Freunde gedacht“ (DI, 84). Dieser Roman soll die mehr als nur ins Wanken geratene Ehe retten – und er soll Jürgens Ansehen nicht nur bei seiner Frau, sondern auch seinen Mitmenschen im Allgemeinen wiederherstellen (vgl. DI, 86). 9 Eine freie Adaption der Erzählung wurde 2017 unter der Regie von Stephan Wagner als „Am Ruder“ mit Wotan Wilke Möring und Julia Koschitz in den Hauptrollen verfilmt.

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Nach dieser grundlegenden Exposition setzt die eigentliche Handlung von „Das Innere“ ein: Jürgen gerät in einen Banküberfall und wird als Geisel genommen; der vermeintliche Bankräuber entpuppt sich jedoch schnell als junges Mädchen, „kaum älter als achtzehn“ (DI, 93). Geisel und Geiselnehmerin kommen ins Gespräch, Jürgen erzählt ihr sogar von seinem geheimen Romanprojekt; die beiden nähern sich einander an und imaginieren schließlich eine gemeinsame Flucht und Zukunft. Als die Bankräuberin jedoch während Jürgens Erzählung einschläft, ergreift Jürgen ihre Waffe und erschießt sie. Wie (fast) alle von Arjounis Erzählungen hat auch diese kein Happy End. Somit gilt für „Das Innere“, was Jürgen auch für seinen fiktiven Roman beansprucht: „Tja. […] Was ich schreibe, ist leider weder lustig noch ein Märchen.“ (DI, 102) Ironischerweise wird gerade über Jürgens Nacherzählung seines Romans und das Einschlafen der Bankräuberin ein intertextueller Bezug aufgespannt: Dieses Plotmuster verweist auf das Motiv des lebensrettenden Erzählens, wie es insbesondere aus den „Geschichten aus 1001 Nacht“ – und somit einer vermeintlichen Märchensammlung – bekannt ist. Titel und Handlung der Erzählung rücken ‚das Innere‘ in den Fokus und verhandeln über das Auseinanderklaffen von innerer Motivation und äußerem Schein. Die beiden Protagonisten spielen zunächst oberflächliche Rollen und verdecken ihr Inneres. Dies gilt zunächst für die mit „braun glitzernde[m] Anzug mit seidenem Einstecktüchlein, spitze[n] Lacklederschuhe[n] mit goldenen Schnallen, eine[r] breite[n] gelbrosa gemusterte[n] Krawatte“ (DI, 87) als „seltsames Männchen mit Perücke“ (DI, 86) verkleidete Bankräuberin. Während sich ihre „Sonnenbräune […] aus der Tube“ (DI, 87) langsam auflöst, erkennt Jürgen den Menschen unter der Verkleidung und reflektiert über ihre Biographie und die Umstände, die sie zu einem Banküberfall bewegten. Vor allem aber betrifft dies Jürgen selbst: Er spielt vor Freunden und Familie, aber auch sich selbst die Rolle des weltabgewandten Studenten und Schriftstellers mit einem völligen „Desinteresse an allem Materiellen“ (DI, 85) und „Ablehnung jeder Oberflächlichkeit“ (DI, 86), auf der „Suche nach Echtheit und Wahrheit bei den Menschen“ (DI, 85f.). Diese Eigenschaften macht er zum zentralen Merkmal seiner Persona: „Nach außen wirke ich vielleicht wie ein Feigling, der nichts auf die Beine kriegt, aber was weißt du von meinen Gedanken, Gefühlen, Träumen? Und sind die nicht wichtiger als die Frage, ob ich nun bald meinen Abschluß an der Universität mache, oder als mein Verhalten gegenüber deinem Großkotz von Bruder? Natürlich könnte ich darauf bestehen, mit euch am Tisch zu sitzen, und uns allen einen unangenehmen Abend bereiten, aber wozu? Der Mensch besteht doch aus mehr als einer öffentlich handelnden Hülle. Das darin verborgene Innere macht ihn ja erst zum Menschen. Aber dieses Innere beim anderen zu sehen und zu verstehen, muß man sich Zeit nehmen.“ (DI, 83)

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Diesen proklamierten Grundsätzen zum Trotz entpuppt sich Jürgen bereits zu Anfang der Erzählung als kalkulierend und profitorientiert: Er erkennt, dass „seine Heirat mit Elisabeth […] einem Banküberfall vielleicht nicht ganz unähnlich“ (DI, 96) sei und plant von vornherein, „irgendeine Beziehung zwischen“ sich und der Bankräuberin zu „schaffen, die einen Mord nicht mehr zuließe“ (DI, 91). Am Ende gelingt dies – zynischerweise aber nur, was einen Mord an, aber nicht durch Jürgen betrifft: die Bankräuberin vertraut und öffnet sich ihm, wird für ihn zunehmend ungefährlich. In einer Umkehr der Verhältnisse offenbart er dafür sein wahres ‚Inneres‘, seine Suche nach Anerkennung, erschießt das wehrlose Mädchen – und begeht damit auf Basis der aufgebauten Beziehung selbst einen Mord. Neben dem durch diese Erzählung thematisierten moralischen Dilemma und den in ihr formulierten Reflexionen über die Bedingungen eines ‚guten Lebens‘ rückt „Das Innere“ den Fokus vor allem auf die Kunst als Vehikel der Selbstdarstellung und reflektiert über den Wunsch des Künstlers, Ruhm und Anerkennung um jeden Preis zu erfahren. Schreiben wird hier zur Wunscherfüllung eines im Leben Gescheiterten. Aus dieser Perspektive handelt es sich bei Jürgens vermeintlicher Verliebtheit in die Bankräuberin nur auf der ersten Ebene um eine Form des StockholmSyndroms. Auf einer zweiten Ebene wird die Bankräuberin kurzzeitig ein zentraler Pfeiler für Jürgens Selbstbild: Sie gibt ihm die langersehnte Anerkennung, lobt (wenn auch sarkastisch) seinen Intellekt, sein Aussehen und seinen Mut (vgl. DI, 92), flirtet mit ihm (vgl. DI, 94). Sie wird so sukzessive zu einem Fluchtpunkt für den Ausstieg aus seinem bisherigen, verhassten Leben; er imaginiert sich eine romantische Beziehung mit ihr (vgl. DI, 98), sie evoziert in ihm „Bilder von Glück und Abenteuer“ (DI, 99), die beiden nähern sich einander an. Das wichtigste für Jürgen ist aber: sie interessiert sich für seinen Roman (vgl. DI, 101f.), überhaupt erzählt er ihr als erster von seinem Werk. Dieser metadiegetische Einschub10 markiert einen entscheidenden Wendepunkt in der Erzählung: Erstens enthüllt die Handlung des fiktiven Romans Jürgens eigentliche Beweggründe und somit sein ‚Inneres‘; zweitens lenkt das Nacherzählen des Werkes die Haupthandlung in ihre in jeder Hinsicht fatale Richtung.

10 Die mise-en-abyme-Struktur der Erzählungen wird auch von Jürgen selbst hervorgehoben: „Seine Idee sei gewesen, […] etwas zu schreiben, das so ähnlich wie russische Holzpuppen zum Zusammenstecken funktioniere, die, wenn man sie öffne, immer wieder die gleichen Puppen enthielten, nur kleiner.“ (DI, 105) Es ist zudem möglich, die poetologische Aussageebene als die äußerste ‚Matrjoshka‘ zu betrachten: der fiktive Autor Jürgen, aber auch der implizite Autor, präsentieren sich als von der Gesellschaft verletzte Individuen, in ihrem Schreiben von Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung geleitet, die in der Gefahr stehen, ihrer Ruhmsucht anheimzufallen und amoralisch zu handeln.

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Trotz eines vermeintlichen „Wirrwar[s] der verschiedenen Romanebenen und Erzählperspektiven“ (DI, 103) ist die übergeordnete Handlung dieses Textes simpel: „Es geht um einen Mann in einem Dorf, der reich geerbt hat und nicht arbeiten muß. […] Jedenfalls hackt das ganze Dorf auf ihm rum: Er sei faul und weich und würde es im Leben zu nichts bringen. Weil er weder Frau noch Kinder hat, vermuten zudem viele, er sei schwul. Alles in allem ist er sowas wie der Dorfdepp. […] Und darum fängt er irgendwann an, jeden Morgen einen Zug zu besteigen, als fahre er zur Arbeit. […]“ (DI, 103f.)

Schnell wird somit klar, dass es sich bei Jürgens Roman um seine eigene, nur leicht chiffrierte Lebensgeschichte handelt; beide, Autor und Protagonist, hangeln sich schließlich „von Demütigung zu Demütigung“ (DI, 104). Diese mise-enabyme-Struktur wird noch um eine weitere metametadiegetische Ebene ergänzt, die Diffusion von Figur und Schöpfer wird noch offenkundiger: „Tatsächlich fängt er aber erst in der Nacht an, wirklich zu arbeiten… […] Er schreibt ein Buch über das Dorf und wie schäbig es ihn behandelt, nur weil er nicht in den dorfüblichen Rahmen paßt.“ (DI, 104f.) Nun teilen sich Jürgen und sein literarisches Alter Ego auch die Motivation, überhaupt zu schreiben und Kunst zu schaffen: „Selbstverständlich möchte er mit dem Buch berühmt werden, um es allen zu zeigen…“ (DI, 105) Die Kunst wird hier somit zur Waffe gegen eine Lebensrealität, die für den Künstler nur Geringschätzung und Unterdrückung bereithält. In seiner literarisierten Fiktion gelingt dem Protagonisten letztlich, was Jürgen in der Realität bisher verwehrt blieb: „Doch eines Nachts bricht im Nachbarhaus ein Feuer aus, und weil er als einziger im Dorf noch wach ist, kann er zwei Kinder aus ihren Betten retten, die sonst verbrannt wären. Und am nächsten Tag ist er plötzlich der Held. Die Zeitung schreibt über ihn, das Fernsehen kommt, die Eltern der Kinder hören nicht auf, ihm zu danken, und abends in der Wirtschaft werden Hochs auf ihn ausgerufen. Alles, was vorher an ihm verachtet wurde, ist plötzlich gut, und man akzeptiert ihn als Mann für außergewöhnliche Anlässe. Dabei ist sein Buch, in dem alle im Dorf schlecht wegkommen, fast fertig…“ (DI, 106)

Die Erzählung dient hier somit der Wunscherfüllung, das Erzählen wiederum dient der Aufrechterhaltung des eigenen Selbstbildes: Während des Überfalls sind die Rolle und Pose des Künstlers eine, die Jürgen Stabilität und (Selbst-) Sicherheit bringen. Sein Selbstbewusstsein ist dabei an den Erfolg seiner Erzählkunst bei seiner Rezipientin gekoppelt: „Immer weniger Geisel und immer mehr Schriftsteller, feuerte er sich an: Ich schaff ’s, dachte er, sie wird die Geschichte spannend finden!“ (DI, 104) Andererseits bereitet diese metadiegetische Erzählung und ihre Lesart als Jürgens Wunscherfüllung auch das Ende der Haupthandlung vor. Anders, als von

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Jürgen beabsichtigt, aber in Übereinstimmung mit dem Prätext der Märchen aus „Tausendundeine Nacht“, schläft die Bankräuberin während der Erzählung ein. Dies hat zwei Konsequenzen: Erstens hat Jürgen nun die Möglichkeit, sich zu befreien. Die Bankräuberin ist wehrlos, Jürgen muss nur die Pistole greifen und könnte sich befreien; sie wünscht sich sogar ebenfalls eine gemeinsame Flucht (vgl. DI, 98). Zweitens aber kränkt das Einschlafen seines Publikums den Künstler. Auch hier bleibt die Kopplung zwischen Rezeption des Kunstwerks und Selbstwahrnehmung des Künstlers aufrecht erhalten: „Er fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen, taub, abgelehnt, irgendwo rausgefallen, wertlos. Wie oft hatte er sich ausgemalt, wie es sein würde, wenn er mit seiner Geschichte zum ersten Mal an die Öffentlichkeit träte.“ (DI, 106) Nicht von ungefähr fällt Jürgens Blick in diesem Moment auch auf „seine Hose über der Heizung“ (DI, 107) – die Hose fungiert hier als Dingsymbol: Jürgen hat sowohl sprichwörtlich, innerlich, als auch realiter, äußerlich, die Hosen runtergelassen: Er erfährt eine Kränkung, indem er sich vor Angst in die Hose macht und diese vor der Bankräuberin ausziehen muss. Jürgen hat zudem – über den Umweg der Erzählung – Nähe zugelassen,11 sein Innerstes präsentiert, das nun scheinbar nicht gewürdigt wird; die Eitelkeit des Künstlers ist gekränkt. In diesem Moment konvergieren die Wünsche der metadiegetischen Romanfigur und ihres Autors: „Ob er jemals so bekannt würde, daß der Bruder und alle anderen endlich den Mund hielten? Daß niemand mehr, auch er selber nicht, irgendwas erklären müßte? Daß Elisabeth stolz auf ihn wäre?“ (DI, 108) Jürgen offenbart somit sein ‚Inneres‘ – und entscheidet sich für ‚äußere‘ Wirkung, gegen seine vermeintlichen Ideale. Nicht nur, dass er sich somit ebenfalls als Heuchler entpuppt: Seine Tat ist unnötig; er hätte die Bankräuberin auch überwältigen, mit der Pistole in Schach halten oder einfach fliehen können. Mehr noch – er steigert sich wortwörtlich in einen ‚Overkill‘: „Auf dem Höhepunkt seines Kampfes auf Leben und Tod fühlte er eine eigenartige Taubheit in sich. Als die Bankräuberin sich bewegte […] mußte er handeln. Mit halbabgewandtem Gesicht schoß er viermal auf sie, dann schrie er um Hilfe.“ (DI, 110)

Obwohl er vorgibt, „daß gerade er das Scheinen […] zutiefst ablehnte“ (DI, 86) verstößt er gegen seine eigenen Grundsätze und entscheidet sich, eben doch nur „öffentlich handelnde Hülle“ zu sein – sein vorgegebenes „Innere[s]“, seine

11 Interessant ist an dieser Stelle, dass die Fokalisierung der sonst vor allem Jürgens Gedanken wiedergebenden, heterodiegetischen Erzählerinstanz umschwenkt: Am Höhepunkt von Jürgens Erzählung und Erzählen, an der Stelle der größten Nähe zwischen beiden, werden auch kurz die Gedanken und Emotionen der Bankräuberin wiedergegeben (vgl. DI, 105). Das Innere der Bankräuberin wird auch für die Erzählinstanz relevant; die menschliche, emotive Ebene wird somit empathiesteigernd hervorgehoben.

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„Gedanken, Gefühle[], Träume[]“ (DI, 83) unterdrückt er. Er wird somit in seiner Sucht nach Ruhm seinen eigenen Wertvorstellungen entgegen ‚unmenschlich‘: „Und plötzlich sah er vor sich, wie sie im Fernsehen sein Bild bringen würden: Jürgen Schröder, der es mit Geduld und Mut geschafft hat, die unter Drogen stehende Bankräuberin zu überwältigen. Aus eigener Kraft konnte er sich und, wäre es zu Flucht und Verfolgungsjagd gekommen, wahrscheinlich noch vielen anderen das Leben retten.“ (DI, 109)

Jürgens moralische ‚Verfehlung‘ aus Ruhmsucht ist somit der eigentliche Kern der Erzählung: Sie endet mit dem Erschießen der Bankräuberin; ob Jürgen sein Ziel erreicht und nach seiner Befreiung tatsächlich interviewt und als Held gefeiert wird, lässt die Erzählung offen. Überhaupt ist das hinterhältige Erschießen einer wehrlosen, schlafenden Teenagerin wohl kaum als Heldentat zu werten. Dies wird auch innerhalb der Erzählung deutlich hervorgehoben. Dies geschieht vor allem durch unterschiedliche Strategien der Rechtfertigung, die primär auf Jürgens Sprache und Blick fußen. Anfangs bemerkt Jürgen den attraktiven Körper der jungen Frau (vgl. DI, 94f.); ihr Gesicht beschreibt er zuerst als „unter der zerstörten Oberfläche weich, mit Resten von Babyspeck“, ihren „Blick eines Kindes“ als „neugierig, unschuldig, frech, traurig“, „beinahe schön“ (DI, 93) – „[u]nd strahlten Augen und Lächeln […] nicht mehr Leben aus als alles, was er in den letzten Jahren gesehen hatte…?“ (DI, 100) Nach der Kränkung wandelt sich jedoch Jürgens Blick auf die Bankräuberin. Er fokussiert zunächst auf die weniger attraktiven Teile ihres Gesichts: „Die Bankräuberin wandte im Schlaf den Kopf, und ihre Akne glänzte im Deckenlicht. Sie sah jetzt aus wie irgendein Teenager, der sich nach einer Klassenfete auf dem erstbesten Stuhl ausschlief.“ (DI, 108f.) Anstatt jedoch Mitleid mit einem abhängigen „Straßenkind[]“ (DI, 95) oder der ‚erschöpften Teenagerin‘ zu haben, rechtfertigt Jürgen seine Handlung a priori. Aus der erotischen Phantasie wird eine der übersteigerten Bedrohung: „Aber das täuschte! Während er den Blick auf die Bankräuberin heftete, verhärteten sich Jürgens Züge. Wie oft hatte sie im Laufe des Abends die Pistole auf ihn gerichtet! Sie ihm sogar auf die Stirn gedrückt! Und was war er schon für sie gewesen? Ein Spießer, ein Feigling! Sein Roman hatte sie einen Dreck interessiert!“ (DI, 109) Zudem imaginiert er Szenarien, die nicht seiner realen Situation entsprechen. Dies betrifft zuerst die positiv gewertete gemeinsame Flucht mit der Bankräuberin, später aber auch einen der Ausgangslage zuwiderlaufende Verlauf der Geiselnahme: „Ein für einen Augenblick zu nervöser Finger der Bankräuberin, und er wäre tot gewesen. Was waren Gefühle und Gedanken, die in so einer Situation entstanden waren, wert?… Und trotzdem: Wie euphorisch war er gewesen, wie… glücklich auf eine Art.“ (DI, 107)

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Aus Jürgens Fluchtphantasie eines „romantische[n] Abenteuer[s] mit Literaturdiskussion“ (DI, 107) wird für ihn innerlich zunehmend ein „Kampf auf Leben und Tod, so mußte man es sehen“ (DI, 109), mit der er seine Tat vor sich selbst begründet – und der in sein imaginiertes Heldennarrativ passt. Am Ende konvergieren also die metadiegetisch eingeschobene Handlung des Romans und die (Rahmen-)Handlung des Banküberfalls zu Jürgens eigener Lebensgeschichte: Jürgen erzwingt nun in der Realität, was sein Leben ihm bisher verwehrte und was er sich lediglich in der Literatur erschreiben konnte. Der im Roman ausformulierte Geltungsdrang des Schriftstellers übernimmt nun die Macht über sein reales Handeln. Arjouni thematisiert hier das Aufgehen und Verschwinden des Künstlers in seiner eigenen Kunst: die Realität folgt zunehmend der Kunst. Durch den fehlgeleiteten Willen des Künstlers zu Ruhm und Ehre, durch charakterliche Schwäche und Geltungssucht ist es aber oft „weder lustig noch ein Märchen“ (DI, 102), was in der fiktionalen Literatur oder der realitätswirksamen Lebensgeschichte erzählt wird.

Scheitern an eigenen und fremden Ansprüchen: „Besiegt“ (2003) Auch der Protagonist der kurzen Erzählung „Besiegt“, die 2003 in der ‚Märchen‘Sammlung „Idioten“ erschien, ist ein Künstler. Anders als im Falle anderer Künstlertypen in Arjounis Œuvre steht hier jedoch kein Schriftsteller im Fokus. Ebenso handelt es sich bei dem Künstler im Zentrum der Erzählung auch nicht um einen ruhmsüchtigen Heuchler oder einen karikaturesken Philister. Arjouni zeichnet hier stattdessen ein geradezu einfühlsames Psychogramm eines an seiner Kunst scheiternden Künstlers. „Besiegt“ erzählt die Geschichte von Paul, einem Filmstudenten und vermeintlichen ‚Wunderkind‘: „Mit fünfundzwanzig Jahren war Paul einer, auf den man setzte. Nach zwei Jahren Berliner Filmakademie und den drei hochgelobten Kurzfilmen galt er […] als das größte Talent seines Jahrgangs. Auch die, denen sein Ehrgeiz und sein unbeirrbarer, oft fanatischer Wille, sich immer und überall durchzusetzen, zuwider waren, mußten zugeben, daß er […] als einziger das Zeug dazu hatte, eine außergewöhnliche Karriere zu starten.“ (B, 37)

Zunächst wird Pauls Anspruch, „groß[e] und umwerfend[e]“ Kunst zu schaffen, als Triebfeder seines Erfolgs präsentiert – „und er besaß genügend Kraft, Mut und Furchtlosigkeit, das auch meistens hinzukriegen“ (B, 38). Sein Selbstbild entbehrt dabei nicht einer gewissen Hybris: „[I]ch habe wirklich große Filme im Kopf. Ich meine, Filme, die nur ich machen kann. Selbst wenn ich die Geschichten jemandem erzählen würde – keiner könnte sie so

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umsetzen, wie ich es mir vorstelle. Es würde billig und aufgesetzt werden, weil kein anderer meinen Kern, meine Melodie, mein Ziel dahinter hätte.“ (B, 57)

Nun gerät Paul gerade beim Verfassen seines Abschlussfilms über diesen Selbstanspruch nicht bloß in eine Schaffenskrise – er leidet unter „Momenten“ (B, 38), immer häufigeren und schwereren Panikattacken: „Pauls Leben wurde zu einer immer gleichen Abfolge von Zuständen, die kaum mehr Platz für irgendwas anderes ließen: Angst vor dem Moment, der Moment selber, Erleichterung darüber, den Moment überstanden zu haben, Angst vor dem nächsten Moment.“ (B, 40)

Zunächst zieht sich Paul in die Kunst zurück: „Das einzige, in das er sich hin und wieder flüchten konnte, war die Arbeit an seinem Drehbuch“, das Schreiben wird „zu einer Droge“ (B, 40). Obwohl Paul hofft, dass sich auf diesem Wege „das, was sich da eingeschlichen hatte, bei hartnäckiger Nichtbeachtung auch wieder davonschleichen würde“ (B, 38), verliert er die Fähigkeit, sich mit seinem Beruf und seiner Leidenschaft auseinanderzusetzen, erträgt gute Filme nicht mehr, leidet unter Einflussangst und Schreibblockade (vgl. B, 45) – der Künstler verliert sukzessive die Fähigkeit, seine Kunst zu schaffen. Paul gerät in eine schwere Depression: Er beginnt zu trinken, zieht „sich in seine ‚Momente‘ zurück“ (B, 41), besucht die Filmakademie nicht mehr, isoliert sich von seiner Partnerin und seinen Freunden, leidet unter „Albträume[n], Wahnvorstellunge[n] und eingebildete[n] Endzeitszenarien“ (B, 54f.), verlässt Bett und Wohnung kaum noch, verwahrlost zunehmend. Durch diese Isolation verschwindet die Panik, aber „[d]afür erfaßte ihn eine Art Schwund der Sinne. Es kam ihm vor, als würden Farben, Gerüche und Laute sich mehr und mehr seiner Wahrnehmung entziehen. […] [I]rgendwann erschien ihm alles wie ein einziges Geräusch. Genauso fiel es ihm bald schwer, mit der Nase zu erkennen, ob seine Nachbarin Bohnen kochte oder Buletten briet. Aber am deutlichsten Verschwanden die Farben. Selbst die bunteste Samstagabendfernsehshow kam bei ihm so grau an, daß er die halbe Sendung auf den Helligkeits- und Farbregulierungstasten herumdrückte. […] Einmal befiel ihn kurz Panik, ob er überhaupt noch etwas Sinnliches mitbekam […] und schlug sich […] mit einer vollen Flasche Bier auf die Finger. Es tat weh, und das freute ihn. Allen anderen Mängeln ergab er sich und richtete sich darin ein. Es dauerte nicht lange, und er wäre irritiert gewesen, hätte sich jemand über seine knallrot gestrichene Einbauküche lustig gemacht.“ (B, 44)

An dieser Stelle der Handlung, am Tiefpunkt von Pauls Depression, bekommt der Text eine ‚märchenhafte‘ Komponente – „Idioten“, der Band, in dem die Erzählung erschien, enthält schließlich laut Untertitel „Fünf Märchen“. Das Märchenelement ist in allen Texten des Bandes das gleiche: eine Fee erscheint den jeweiligen Protagonisten und erfüllt ihnen einen Wunsch; „[f]olgende Bereiche sind allerdings ausgeschlossen: Unsterblichkeit, Gesundheit, Geld, Liebe“ (B, 56). Die Wünsche der Protagonisten sind allesamt Ausdruck ihrer zwanghaften

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Suche nach Anerkennung und Ruhm, die Erzählungen verhandeln das Auseinanderklaffen von Fremd- und Selbstbild, von Vorstellung und Realität. In tragisch-ironischer Verkehrung erfüllen sich die Wünsche zwar, führen aber nicht zum erhofften Ergebnis.12 Ähnlich verhält es sich auch mit dem Besuch der Fee bei Paul. Zunächst wünscht er sich, länger zu leben und mehr Zeit für sein Drehbuch zu haben (vgl. B, 56), identifiziert dann aber etwas anderes als seinen größten Wunsch: „Am meisten habe ich mir in letzter Zeit gewünscht, keine Angst mehr zu haben. […] Zu scheitern. An meinem Drehbuch, meinem Film, meiner Arbeit. Vor lauter Angst einen falschen Schritt zu machen, mach ich seit Wochen gar keinen mehr.“ (B, 59) Nun ist auch diese Wunscherfüllung doppelbödig: Paul besiegt seine Angst und Depression, gerät geradezu in eine Hochstimmung (vgl. B, 60). Er beschließt aber ebenfalls, das Drehbuch für seinen Abschlussfilm und alle damit verbundenen Ansprüche zu verwerfen. Stattdessen entscheidet er sich für ein gänzlich neues Projekt, eine „Geschichte übers Warten und Verliebtsein“ (B, 62) – ein Thema, das er noch zu Beginn der Erzählung dünkelhaft als Schund betrachtet hätte (vgl. B, 37f.). Auf Kritik an diesem trivialen Sujet reagiert Paul gleichgültig: „Und wenn schon, öde ich eben manche Leute an. Hauptsache, ich fühle mich wohl mit der Geschichte. Und im übrigen. Ist doch nur ’n Film. Die Welt wird weder der eine noch der andere verändern.“ (B, 63) Die Erzählung schließt mit Pauls Reflexionen über den Plot des neuen Films – und einem positiven Ausblick: „Na, da hatte er keine Angst, ihm würde schon irgendwas Schönes einfallen.“ (B, 64) Die Erzählung endet somit auf den ersten Blick mit einem Happy End: Paul überwindet seine Angst und bleibt dennoch weiterhin produktiv. Die hieran 12 Die Reihenfolge der Erzählungen erscheint dabei programmatisch und symmetrisch gespiegelt. In der ersten, titelgebenden Erzählung „Idioten“ wünscht sich ein umweltbewusster Werber Dankbarkeit von seinem gewinnorientierten Geschäftspartner, formuliert seinen Wunsch aber zu abstrakt und bekommt stattdessen pure Abneigung entgegengebracht. Die zweite Erzählung ist „Besiegt“. In der dritten, mittleren Erzählung „Notwehr“, wünscht sich eine Mutter, ihr Sohn würde endlich merken, was sie ihm bedeutet – mit dem Ergebnis, dass dieser erkennt, dass sie längst für ihn gestorben ist. Auch „Im Tal des Todes“, die vierte Geschichte, erzählt von einem Schriftsteller in einer Schaffenskrise: einem alternden Autor von Trivialromanen. Er wünscht sich zunächst, endlich einen anerkannten Roman zu schreiben, von den Leser:innen geliebt zu werden – und entscheidet sich schlussendlich lediglich dafür, die Szene, an der er seit langem scheitert, zu Ende schreiben zu können. Wie Paul verzichtet er somit in Erfüllung des Wunsches auf die höchsten Ziele und entscheidet sich für Erreichbareres, vermeintlich Genügsameres. In „Happy End“, der fünften Erzählung, wünscht sich ein geltungssüchtiger Journalist, dass er von der hippen Elite seines Metiers geliebt und geschätzt wird. Zwar bekommt er nach der Wunscherfüllung tatsächlich Zuneigung entgegengebracht, allerdings auf Basis eines Zeitungsartikels seines Sohnes, der ihn liebevoll, aber schonungslos als Blender, erneut: Bildungsphilister, präsentiert und so das mühsam konstruierte Bild seines Vaters einreißt.

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angebundenen, poetologischen Reflexionen erscheinen allerdings weniger optimistisch. Das neue Werk erscheint anspruchslos, beliebig, derivativ – eben nicht kunstvoll, geradezu langweilig. Die Botschaft der Erzählung: ohne Versagensangst keine hohen Ansprüche und keine Kunst – die Furchtlosigkeit des Künstlers führt zu Trivialität, Mittelmäßigkeit.13 Diese Lesart legt der Text in der Chronologie der Ereignisse ebenfalls nahe, erscheint die Fee doch zu einem bestimmten Zeitpunkt: „[A]ls Paul […] zum ersten Mal darüber nachdachte, sämtliche Erwartungen zu enttäuschen, den Abschlußfilm hinzuschmeißen und seine bis dahin größte Niederlage einzustecken, kam die Fee zu ihm.“ (B, 54) Die gute Fee und der erfüllte Wunsch sind hier somit nur Chiffren für das Eingeständnis des Künstlers, vor der Unerreichbarkeit fremder Erwartungen und des eigenen Anspruchs zu kapitulieren. Aus dieser Perspektive bekommt auch der Titel der Erzählung eine doppeldeutige Komponente: Der Künstler besiegt seine Angst – doch das nur, weil er von seiner Hybris besiegt wird. Nun ist auch diese Künstlerfigur nicht bloß ein Sprachrohr allgemeiner, kunsttheoretischer Reflexionen des Autors. Sie lässt sich ebenfalls als Vehikel einer Auseinandersetzung ihres Autors mit seinem eigenen Schreiben und Schaffensprozess lesen. Dies legen mehrere Signale und chiffrierte werkinterne Verweise im Text nahe. So parallelisieren schon die ersten Sätze der Erzählung Figur und Autor: „Mit fünfundzwanzig war Paul einer, auf den man setzte. Nach zwei Jahren Berliner Filmakademie und drei hochgelobten Kurzfilmen galt er […] als das größte Talent seines Jahrgangs.“ (B, 37) Pauls Werdegang ähnelt hier auffällig der schriftstellerischen Vita seines Schöpfers: Der junge Autor Jakob Arjouni galt als ‚Wunderkind‘ des deutschen Kriminalromans; Pauls „drei hochgelobte[] Kurzfilme[]“ entsprechen den drei ersten Kayankaya-Romanen; wie Paul war Arjouni bei Fertigstellung des dritten Teils fünfundzwanzig. Auf diese drei Kurzfilme folgt wiederum Pauls „von vielen mit Spannung erwartete[r] Abschlußfilm – eine Geschichte über drei Berliner Arbeitslose, die nach Sibirien trampten, um dort nach Gold zu graben, sich unterwegs verliebten, zerstritten, trennten, wiederfanden und schließlich bis auf einen erfroren“ (B, 38). Auch dieser Plot ist als teils rekonfigurierter, werkinterner Verweis lesbar: 1996 wird „Magic Hoffmann“ veröffentlicht; der Text erzählt die Geschichte von Fred Hoffmann, der nach einer Haftstrafe seine beiden ehemaligen Freunde in Berlin aufsucht. Zu dritt hatten sie eine Bank überfallen, um nach Kanada auswandern zu können; um seine Freunde zu schützen, war Hoffmann als einziger ins Gefängnis gegangen. Anders als Paul scheitert Arjouni jedoch nicht an der 13 So äußert bereits vor der Wunscherfüllung auch die Fee ihre Bedenken: „Und sie sind sich sicher, daß sie ein bißchen Angst von Zeit zu Zeit nicht vermissen werden?“ (B, 59) Auch Sergej, Pauls Freund und Reflexionsfigur, merkt an: „[S]o sehr ich mich freue, daß es dir wieder bessergeht und deine Ängste weg sind – wenigstens die Angst, die Leute […] anzuöden, solltest du schon noch haben.“ (B, 63).

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Veröffentlichung dieses Textes; „Besiegt“ kann aber durchaus als Reflexion über den Druck und andere psychische Begleiterscheinungen des Schreibprozesses am mit Spannung erwarteten Nachfolgewerk eines gefeierten Jungautors verstanden werden. Auch der vierte, 2001 und somit wenige Jahre vor „Besiegt“ erschienene Kayankaya-Roman „Kismet“ findet am Rande seine chiffrierte Erwähnung – diesmal aber in Form von Sergejs Dokumentation. Nach seiner Wunscherfüllung reflektiert Paul über das Projekt seines Freundes: „Außerdem: ein 6-Stunden-Dokumentarfilm über die Geschichte Belgrads im zwanzigsten Jahrhunderts – eine Nummer kleiner ging’s wohl nicht? Wollte er denn den ganzen Jugoslawienkrieg, womöglich ganz Europa oder am liebsten gleich die ganze Welt erklären?“ (B, 63)

Im Kontext der anderen Textsignale scheinen auch hier Parallelen auf: Wie Sergejs Dokumentation thematisiert Arjounis „Kismet“ die Auswirkungen der Jugoslawienkriege; zudem ist der vierte Kayankaya-Krimi umfangreicher als die ‚Kurzfilme‘ „Happy birthday, Türke!“, „Mehr Bier“ und „Ein Mann, ein Mord“. Sergej wird hierüber zu einer weiteren Stellvertreterfigur des Autors – diesmal aber einer, die nach einem Sinneswandel und veränderten literarischen Programm kritisch kommentiert wird. Anhand des fiktiven wie des realen ‚Jugoslawien-Werkes‘ werden erneut die Beweggründe des Schriftstellers, ein großes, anspruchsvolles Werk zu schaffen, kommentiert, dem selbstzerstörerischen Anspruch eine Absage erteilt: „Sicher, mutig war das – aber speiste sich der Mut nicht vielleicht nur aus der Furcht, irgendwelchen Ansprüchen nicht zu genügen? Den der Fernsehredakteure? Seiner Freunde? Der Eltern? Des Publikums? Den eigenen? Und selbst, wenn die Begleiterscheinungen dieser Furcht Sergejs Perfektionismus, seine Besessenheit und eine gewisse Genialität sein sollten – machte sie ihn nicht kaputt? Und war ein Film das wert, und sei es ein Meisterwerk? Nein, nein […].“ (B, 63f.)

Was hier in der Stimme Pauls artikuliert wird, ist der Zweifel des ‚Wunderkindes‘, eigenen wie fremden Ansprüchen genügen zu können – oder überhaupt zu müssen. Nun sind – trotz aller herausinterpretierbaren Poetologie – Figuren nicht ihre Autoren. Allerdings koinzidiert diese Absage an ‚hohe Kunst‘ mit dem Beginn einer neuen Phase in Arjounis Werk: „Besiegt“ wurde 2003 veröffentlicht. Bis dahin erschienen von Arjouni die ersten vier Kayankaya-Krimis, ein Theaterstück,14 die Kurzgeschichtensammlung „Ein Freund“, 1996 mit „Magic Hoffmann“ sein erster Roman. Nach der Veröffentlichung von „Idioten“ und damit 14 Gemeint ist „Edelmanns Tochter“ (1996). Ausgeklammert sind hier die Stücke „Nazim schiebt ab“ (UA 1988) sowie „Die Garagen“ (UA 1990), da diese zwar aufgeführt, aber bisher nicht in Buchform veröffentlicht worden sind.

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auch „Besiegt“ verfasst Arjouni allerdings fast ausschließlich weitere Romane: „Hausaufgaben“ (2004), „Chez Max“ (2006), „Der heilige Eddy“ (2009) sowie „Cherryman jagt Mister White“ (2011) und „Bruder Kemal“ (2012). Auch diese Texte schließen nahtlos an das werkübergreifende Thema der Hoffnungslosigkeit, Lebenslüge und Identitätskonflikte an. Die veränderte inhaltliche Ausrichtung und Veränderungen im strukturellen Inventar dieser Texte sowie die zeitweise Einstellung der Kayankaya-Reihe verweisen aber auch hier auf eine Wandlung und Neuausrichtung in Arjounis Poetik und Programm.

Drei Seiten einer Medaille: „Bruder Kemal“ (2012) 2001 setzt Arjouni die auf Eis gelegt scheinende Kayankaya-Reihe mit „Kismet“ fort. Der Text suggeriert durch die in ihm verhandelten Themen, den Verlauf des Falles sowie eine veränderte Erzählweise ein verändertes Programm. Stellenweise wirkt der Text wie der Endpunkt für Kayankayas berufliche wie literarische Laufbahn.15 2012 ermöglicht Arjouni seinem Ermittler in „Bruder Kemal“ dann ein zweites Comeback, das diesmal gleichzeitig ein definitives Ende ist: Der letzte Kayankaya-Krimi – und damit auch Arjounis letzter zu Lebzeiten veröffentlichter Text – ist in vielerlei Hinsicht als bewusster Abschluss der Reihe wie auch seines schriftstellerischen Werkes im Gesamten lesbar. „Bruder Kemal“ ruft immer wieder Topoi und Strukturelemente früherer Kayankaya-Romane ab, invertiert und subvertiert diese. Das betrifft nicht nur Kayankaya selbst, der sich vom hardboiled detective über einen erfolgreichen Privatermittler hin zu genau der Art gutbürgerlichen Philisters á la Manuel Weidenbusch gewandelt hat, die er in den früheren Erzählungen noch verachtend-kritisch in den Blick nahm: „Ich war Anfang fünfzig, ich erledigte meine Arbeit, zahlte meine Rechnungen, ich hatte es geschafft, mit dem Rauchen aufzuhören, trank fast nur noch gepflegte zwei, drei Bier am Abend oder ein paar Flaschen Wein mit Freunden, und ich plante mit Deborah unsere Zukunft. Heute morgen […] war ich rundum zufrieden aus der Haustür getreten und hatte mich mit einem Apfel in der Hand aufs Rad geschwungen. Vielleicht war das nicht der Himmel, aber es kam ihm ziemlich nahe.“ (BK, 34)

15 Kayankaya nimmt sich eines vor dem Jugoslawienkrieg geflüchteten Mädchens an und sucht ihre verschwundene Mutter – nur um am Ende selbst im Zentrum seiner eigenen Ermittlungen zu stehen: er selbst hatte die Mutter bei einer schiefgelaufenen Schutzgeldübergabe unwissentlich in Notwehr erschossen. Auch erzählerisch und ästhetisch unterscheidet sich der Text stark von seinen Vorgängern; vgl. hierzu u. a. den Beitrag von Sarah Seidel in diesem Band.

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Auch Kayankayas Welt hat sich verändert. Arjouni präsentiert ein neues ‚Modell Deutschland‘16 und verfolgt damit auch ein anderes literarisches Programm: Frankfurt ist zwar nach wie vor das „große[], kalte[] Monster“ (BK, 89) der früheren Texte – der Ermittler und das Milieu, in dem er ermittelt, haben sich mit der Zeit gewandelt. Ort der Handlung ist nicht mehr das Frankfurt der 1980er Jahre, mit „tausend Amerikanern, die […] dort ihre Wohnkartons hochgezogen haben“, mit „schmierigen Hühner-Inns oder Hamburger-Depots“ (HbT, 8) und anderen Absteigen – diesmal ermittelt Kayankaya hauptsächlich in geradezu ‚hippen‘, gentrifizierten Stadtteilen oder dem Villenviertel der Zeppelinallee. Damit einhergehend wandelt sich auch die Konzeption der Figuren, denen er im Laufe seiner Nachforschungen begegnet – das Personal, das diese ruhige, von Wohlstand durchzogene Welt bevölkert, besteht folglich nicht mehr aus Drogenabhängigen und Prostituierten, sondern „Pelzmantel-Zicken mit […] ondulierten Hunden“ (BK, 22). Kayankayas letzter Fall führt ihn aus dieser Welt jedoch auch schrittweise zurück in sein altes ‚Revier‘. Diese Rückkehr in das Bahnhofs- und Verbrechermilieu bleibt im Zuge der Ermittlungen jedoch nur ein zeitweiser, allzu bald wieder beendeter Ausflug. Grundsätzlich lassen sich diese veränderten Elemente aber als direkte Rückgriffe und Rekonfigurationen früherer Kayankaya-Romane begreifen. Die Inversion und Re-Strukturierung betrifft ebenfalls die im Text verhandelten Künstlerfiguren – die erste Künstlerfigur trat in einem Kayankaya-Krimi auf, auch die letzten finden sich dort. Anders als in früheren Kayankaya-Krimis stehen hier gleich drei Künstler als zentrale Protagonisten und Handlungsträger im Fokus der Geschichte: Der erfolgreiche Maler Edgar Hasselbaink, der aufstrebende Schriftsteller Malik Rashid und Erden Abakay, der sich als Fotograf inszeniert. Alle drei haben eine wichtige Funktion innerhalb des erzählten Falles, bedienen sich auf verschiedene Weise der Täuschung, üben distinkte Künste aus und rufen hierüber – bereits in vorherigen Werken thematisierte – Kunst- und Künstlerkonzepte ab. Zudem gehören sie unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten an und repräsentieren das Spektrum ‚migrantischer‘ Schicksale in einer gewandelten deutschen Gesellschaftsstruktur. Kayankaya selbst wird zudem in gewisser Hinsicht als eine vierte Künstlerfigur inszeniert – hierauf soll abschließend eingegangen werden. Während Hasselbaink erst am Ende als handelnde Figur in Erscheinung tritt und auch im Fall selbst zunächst eine Nebenrolle zu spielen scheint, konstituieren die beiden Fälle um Abakay und Rashid zunächst den Hauptteil der Erzählung. Beide Figuren sind über ihre Funktion im Plot sowie ihre Ausgestaltung als Spiegelungsfiguren lesbar.

16 Vgl. Kniesche: Vom Modell Deutschland zum Bordell Deutschland. 2005, S. 21–39.

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Der erste (Teil-)Fall in „Bruder Kemal“ konfrontiert Kayankaya mit Erden Abakay: Der Ermittler soll Marieke, die verschwundene Tochter der Bankierserbin Valerie de Chavannes und des Malers Edgar Hasselbaink, finden. Das minderjährige Mädchen führte eine Beziehung zum älteren „Underground-Fotograf[en]“ (BK, 54) Abakay. Der Fotograf inszeniert sich als „sozial engagierte[r] Feingeist“ (BK, 195), der „tolle Fotos, politische Fotos“ (BK, 58) mache: Er arbeite an einer „Dokumentation über eine Romafamilie in Praunheim“ (BK, 67) und einer „Serie mit dem Titel ‚Frankfurt im Schatten der Bankentürme‘ […]. Porträts von Ganoven, Prostituierten, Hip-Hoppern“ (BK, 17), „von kaputten, verlebten Gesichtern, dabei voller Schönheit. Das waren mal ganz andere Bilder von Frankfurt…“ (BK, 59) Aus Kayankayas gewohnt vorurteilsbehafteter Perspektive stellt sich Abakay jedoch als „schmierige[r], glutäugige[r] Lackaffentyp mit etwas zu hohen Absätzen und Migrationshintergrund“ (BK, 11) dar – was sich schnell auch bestätigt: „[E]r wolle Modefotos […] machen, die übliche Tour“ (BK, 9). Im Zuge der Ermittlung stellt sich zudem schnell heraus, dass es sich hierbei nur um ein „Fotografen- und Weltverbessererkostüm[]“ (BK, 133) handelt: „Abakay, Abakay, dachte ich […], du hast den Bogen raus: Bisschen Sozialkitsch, Pissgetränke, öde Filme und ordentlich viel Klunker an den Fingern, und schon läuft das mit den Weibern!“ (BK, 60) Die Inszenierung als sozial engagierter Feingeist dient jedoch nicht nur dem eigenen Hedonismus, der Künstler schlägt nicht nur Profit aus dem Elend anderer. Die Wahrheit hinter der Maske ist jedoch eine noch abgründigere: Abakay handelt mit Heroin und ist Kopf eines Mädchenhändlerringes, in dessen Fänge auch Marieke geraten ist. Fotografie und soziales Engagement sind Teil einer Groomingstrategie, um minderjährige Mädchen in seine Gewalt zu bringen, gefügig zu machen und zur Prostitution zu zwingen: „Abakay ist Zuhälter. Und wenn die Mädchen nicht wollten, hat er sie mit Heroin vollgepumpt. Vergessen Sie die ‚Kunst‘ und ‚romantische Liebesfilme‘“ (BK, 60). Bereits die Einrichtung seiner Wohnung verrät, dass es sich bei Abakay kaum um einen schöngeistigen Künstler handelt. Vielmehr sind die materialen Attribute des Fotografen und kitschige Massenkunst hier oberflächliche Staffage, um den Drogen- und Mädchenhändler zu tarnen und seinen Opfern gegenüber als Künstler auszugeben: „[E]in Schreibtisch mit Computer und Drucker, ein Regal mit Bildbänden und mehreren Fotokameras, als Wandschmuck ein großes gerahmtes Schwarzweißfoto von einem Kaffee trinkenden, jungen, gutaussehenden Pärchen in Paris, im Hintergrund der Eiffelturm. Abakay, alter Underground-Fotograf! \ Es folgten ein […] Bad, ein Stück Flur mit weiteren gerahmten Schwarzweißfotos links und rechts – Bäume, Mädchen, Katzen, Wolkenformationen – und schließlich eine geschlossene Tür, in der der Schlüssel steckte.“ (BK, 53f.)

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Hinter dieser Tür findet Kayankaya dann einen Beweis für Abakays eigentliche Tätigkeit – er blickt hinter die sprichwörtlich blitzblanke Fassade des vermeintlichen Künstlers und übertritt die Schwelle von der oberflächlichen Inszenierung hin zur verborgenen Realität: Er findet die Tochter seiner Auftraggeberin, „auf einem […] Kingsize-Bett nackt gegen die Kissen gelehnt, […] die Beine eng umschlungen gegen ihren Körper gepresst und […] von Kopf bis Fuß mit Erbrochenem vollgeschmiert. Geriebene Karotten, Tomatenstückchen, halbe Nudeln. Wegen des geschlossenen Fensters war der säuerliche Gestank, der von dem Bett aufstieg, überwältigend.“ (BK, 54)

Dabei ist Marieke bei weitem nicht das erste Opfer des vermeintlichen Fotografen: Auf Abakays Rechner findet Kayankaya eine Kartei mit Bildern minderjähriger Mädchen sowie Texte, mit denen er sie potenziellen Freiern anbot (vgl. BK, 61–63). Hinter der Selbstinszenierung als Künstler steht der Kopf eines organisierten, geradezu professionalisierten Mädchenhändlerrings, der Minderjährige zur Prostitution zwingt. Als Figur mit Migrationshintergrund markiert Abakay damit zunächst eine auffällige Abkehr von der bisherigen gesellschaftlichen Hierarchie und moralischen Perspektive der Kayankaya-Romane: In früheren Krimis wurden Personen mit Migrationshintergrund primär als Leidtragende rigider gesellschaftlicher Strukturen inszeniert, die zumeist ausgebeutete Opfer sind oder moralisch unschuldig durch Notwehr oder soziale und finanzielle Chancen- und Ausweglosigkeit in die Rolle von Tätern gedrängt wurden. Die eigentlich mächtigen ‚Strippenzieher‘ in Arjounis Deutschland waren dagegen andere: korrupte deutsche Polizisten, brutale deutsche Menschenhändler, scheinheilige deutsche Mafiabosse. Abakays Verstrickung in das organisierte Verbrechen wiederum ist aber keineswegs durch bloße Not entstanden: seine menschenverachtenden Taten resultieren aus Geldgier und Sadismus. Er ist zudem der „missratene[] Neffe“ (BK, 110) von Scheich Hakim, einer islamistischen Unterweltgröße, „kein Geistlicher, sondern ein professioneller Gangster“ (BK, 194, vgl. u. a. 98f.). Abakay und Hakim beziehen sich in ihrer Figurenkonzeption hier somit auch auf zwei Figuren aus einem der früheren Kayankaya-Krimis: In „Ein Mann, ein Mord“ treten der scheinheilige Unterweltboss Eberhard Schmitz und sein „in jeder Hinsicht mißraten[er]“ (EM, 183) Neffe Axel auf. Axel wird, ähnlich wie Abakay, von Kokain aufgeputscht und in einem wahren Blutrausch, von Slibulski erschossen. Die beiden Onkel und Unterweltbosse Schmitz und Hakim geben sich dagegen den Anschein gesellschaftlicher Unbescholtenheit und elitärer Intellektualität. Die Parallelen sind offenkundig – mit dem markierten Unterschied, dass es sich einmal um ‚Deutsche‘, einmal um ‚migrantische‘ Personen handelt.

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Allerdings ist auch die Figur Abakay keineswegs eindimensional gezeichnet, sondern wird in mindestens zweifacher Hinsicht doppelbödig instrumentalisiert: Die erste Ebene betrifft Abakays Rolle im Gefüge der Fälle in „Bruder Kemal“. Trotz seiner Taten wird Abakay in gewisser Hinsicht zu einem unschuldigen Opfer – erneut in Verkehrung des bisher etablierten Plotmusters: Kayankaya findet in der Wohnung die Leiche eines Mannes, dem Abakay gerade Marieke zur Vergewaltigung angeboten hatte. Kurz darauf trifft er auf Abakay, schlägt ihn nieder, verletzt den Wehrlosen und versucht im Folgenden, ihm den Mord an Mariekes potenziellem Vergewaltiger in die Schuhe zu schieben. Hier geht Kayankaya über die genretypisch und ‚berufsbedingte‘ moralische Ambivalenz des hardboiled detective hinaus, verwischt die Grenzen von Recht und Unrecht – und schadet dabei sich und seiner Ermittlung: durch diesen Eingriff in den Ablauf des Falles gerät Kayankaya ins Visier von Scheich Hakim, wird bedroht und erpresst. Der Fall und damit einhergehend die Plotstruktur geraten aus den Fugen, worauf gleich noch gesondert eingegangen wird. Die zweite Ebene ist eine metafiktionale, poetologische: Obwohl Abakays Künstlertum Fassade ist, schafft und veröffentlicht er dennoch Kunst (vgl. BK, 63, 97f.) – aus dieser Perspektive ist er also Künstler, wenngleich sein Künstlertum letztlich ‚Nebeneffekt‘ seines Verbrechertums ist: Wie erwähnt fertigt er „Porträts von kaputten, verlebten Gesichtern, dabei voller Schönheit“ (BK, 59) an. Grundsätzlich berührt der Text hierüber das Thema, inwieweit ein Künstler das Leid anderer Menschen zum Gegenstand seiner Kunst machen kann. Der Text stellt hier somit – in Anschluss an Adorno – die Frage, ob Künstler das Leid der Opfer und Marginalisierten zu Kunstwerken verarbeiten und also ästhetisieren sollten.17 „Bruder Kemal“ berührt – wie auch andere Künstlertexte Ar17 In „Engagement“ führt Adorno über Kunstwerke, die das Leid der im Holocaust Ermordeten thematisieren, aus: „Die sogenannte künstlerische Gestaltung des nackten körperlichen Schmerzes der mit Gewehrkolben Niedergeknüppelten enthält, sei’s noch so entfernt, das Potential, Genuß herauszupressen. Die Moral, die der Kunst gebietet, es keine Sekunde zu vergessen, schliddert in den Abgrund ihres Gegenteils. Durchs ästhetische Stilisationsprinzip […] erscheint das unausdenkliche Schicksal doch, als hätte es irgend Sinn gehabt; es wird verklärt, etwas von dem Grauen weggenommen; damit allein schon widerfährt den Opfern Unrecht, während doch vor der Gerechtigkeit keine Kunst standhielte, die ihnen ausweicht. Noch der Laut der Verzweiflung entrichtet seinen Zoll an die verruchte Affirmation. […] Indem noch der Völkermord in engagierter Literatur zum Kulturbesitz wird, fällt es leichter, weiter mitzuspielen in der Kultur, die den Mord gebar. […] Im anheimelnden existentiellen Klima verschwimmt der Unterschied von Henkern und Opfern, weil beide doch gleichermaßen in die Möglichkeit des Nichts hinausgehalten seien, die freilich im allgemeinen den Henkern bekömmlicher ist.“ (Adorno, Theodor W.: Engagement. In: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 11: Noten zur Literatur. Hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977, S. 409–430, hier S. 423f.) Dies überträgt sich durch die Figur Abakay auch auf allgemein (deutschland-)kritische, sozial engagierte Kunst, zu der auch Arjounis Texte gehören und die trotz des ernsten Sujets unzweifelhaft auch eine ästhetische, unterhaltende und ökonomische Komponente enthalten.

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jounis – weiterhin die Frage, inwieweit Künstler aus einer privilegierten Position heraus sozial engagierte Kunst schaffen können und überhaupt dürfen. Arjouni fügt jedoch noch eine weitere Ebene der Kritik hinzu, ist doch Abakays soziales Engagement im Gewande ästhetischer Kunst nur eine Maske für noch abgründigere Absichten: engagierte Kunst erscheint als Ausrede, dem eigenen Hedonismus zu frönen, der engagierte Künstler schlägt aus dem Leid der Opfer Profit, wird zum Handlanger der Unterdrücker und bereitet dieses Leid auch noch ästhetisch und bekömmlich auf. Der zweite Fall in „Bruder Kemal“ wirkt auf den ersten Blick wie das Gegenteil zu den Ermittlungen im Bereich der Zwangsprostitution und des Heroinhandels. Kayankaya bewegt sich nun nicht mehr in der Welt des organisierten Verbrechens, sondern im Literaturbetrieb: Er wird als Leibwächter für Malik Rashid engagiert, „einen international renommierten Autor, der nach allgemeinem Dafürhalten ein äußerst wichtiges und höchst brisantes Buch geschrieben hat“ (BK, 120): „Er ist Marokkaner und hat ein Buch geschrieben, das in der arabischen Welt für allerhand Aufregung sorgt. Er wird zur Buchmesse nach Frankfurt kommen und braucht Schutz. […] Es gibt mehrere Morddrohungen von verschiedenen islamischen Organisationen, und sogar Intellektuelle greifen das Buch und unseren Autor scharf an.“ (BK, 42).

Die Ursache der ‚Empörung‘ findet sich in Rashids zuletzt erschienenem Roman „Die Reise ans Ende der Tage“: „[D]ie Hauptfigur, ein Kommissar, entdeckt während einer Ermittlung im Strichermilieu homosexuelle Neigungen an sich. Er verliebt sich in einen Jungen, sie beginnen eine Affäre, er bringt seine Ehe, seinen Job in Gefahr, am Ende sogar sein Leben. Dabei verhandelt das Buch natürlich eigentlich das Verhältnis der muslimischen Gesellschaft zur Homosexualität. Es gibt Passagen, in denen denkt der Kommissar – ein bis dahin gläubiger Moslem – über den Koran, Gott und gleichgeschlechtliche Liebe nach und wendet sich in seiner Verzweiflung und Wut gegen seine Religion. Gleichzeitig beschreibt das Buch einen Abgrund an Drogen, Sex, Armut und Kriminalität, also eine im Grunde völlig unheilige Gesellschaft. Die Religion ist nur noch dazu da, das allgemeine Elend zu kaschieren und die Leute ruhigzuhalten […].“ (BK, 43)

Nun erscheint dieses Buch durchaus mit einigem Skandalpotenzial behaftet – insbesondere im Lichte der zum Erscheinungszeitpunkt von „Bruder Kemal“ medial nach wie vor präsenten Krise um die Mohammed-Karikaturen (vgl. auch BK, 23) und den allgemein erstarkenden islamistisch motivierten Terror. Für Kayankaya scheint es jedoch ein vergleichsweise einfacher Fall zu sein – insbesondere, da er von vornherein richtig vermutet, dass die Morddrohungen erfunden sind (vgl. u. a. BK, 47, 50, 192).

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Die fingierte Bedrohungslage ist somit eine aufmerksamkeitsökonomische Strategie, das Buch und seinen Verfasser ins Feuilleton und öffentliche Gespräch zu bringen – eine offensichtlich nötige Strategie: Für seinen Verlag ist der vermeintlich zugkräftige Autor ein kleines Licht (vgl. u. a. BK, 173) und auch die Öffentlichkeit interessiert sich nicht für die hinter der erzählten Handlung stehende Botschaft oder die literarische Qualität des Textes. Die zur Buchmesse angereisten Kulturjournalisten – leider nur diverser Lokalzeitungen – interessieren ironischerweise vor allem die biographischen Parallelen zwischen dem Protagonisten der Erzählung und dem Schöpfer: „Da konnte er noch so viel erklären, dass die homosexuelle Liebe seiner Hauptfigur […] einem Gemisch aus sexueller Frustration, Sehnsucht nach Freiheit, Lust am Verbotenen und höchstens einem geringen Anteil natürlicher Veranlagung entsprang und dass, er, Rashid, sich als Schriftsteller einfach einen Konflikt ausgedacht habe, mit dem er den aktuellen Zustand der marokkanischen Gesellschaft beschreiben könne – das Einzige, was die meist eher unvorbereitet wirkenden und preiswert gekleideten Männer und Frauen aus Bamberg und Storlitz interessierte, war: Bekennt sich der moslemische [sic] Autor öffentlich zu seiner Homosexualität?“ (BK, 158; Hervorh. i. Orig. getilgt, vgl. ebenfalls BK, 164f.)

Hiermit karikiert Arjouni nicht nur die teils wenig am eigentlichen Text interessierte Berichterstattung im Feuilleton im Allgemeinen. Er spielt hier zusätzlich auf die dem Autor in der feuilletonistischen Rezeption ebenfalls lange unterstellten Ähnlichkeit zwischen sich und seiner Figur Kayankaya an – dies soll an späterer Stelle noch weiter beleuchtet werden. Der Fall um Malik Rashid ist somit zunächst keiner. Stattdessen rückt über diesen Erzählstrang der Literaturbetrieb selbst in den Blick – ein Novum in Arjounis Œuvre. Malik ist bei weitem nicht der einzige Poseur im literarischen Feld, wie Arjouni es präsentiert. Er inszeniert die Literaturwelt als grotesk-bunte Scheinwelt (vgl. u. a. BK, 135f., 165f.), ihre Protagonist:innen als oberflächliche Schwätzer:innen und geltungssüchtige Blender:innen – Schriftsteller:innen, Journalist:innen und Verlagsmitarbeiter:innen inbegriffen: „Die Buchmesse war nicht die Hölle, sie roch nur ein bisschen so.“ (BK, 150) Die grelle Welt der Literatur kontrastiert ihrerseits mit der düsteren Verbrechenswelt des ersten Falles und dem trostlosen Bahnhofsmilieu der vorherigen Krimis. Sie ist dabei keineswegs feingeistiger oder erhabener, sondern genauso profitorientiert: Die Mächtigen dieser Branche entsprechen kaum „einem der üblichen Bilder, die sich ein Buchbranchenfremder von einem Verleger machte. Eher denen eines Immobilienmaklers oder Räuberbankiers“ (BK, 173). Die Verleger ähneln eher Arjounis scheinheiligen Mafiabossen wie Eberhard Schmitz

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oder Scheich Hakim, die sich nach außen hin den Anschein von Intellektualität und Unbescholtenheit geben.18 Literatur ist trotz des künstlerischen Anspruches eine handelbare Ware, die Verleger:innen sind Spekulant:innen; der intellektuelle Bezug zum eigenen Produkt ist lediglich Pose und PR-Strategie (vgl. u. a. BK, 174) – und das Netzwerkevent Frankfurter Buchmesse wird zum Treffpunkt von Sprechern, die einander Stichworte zuwerfen, ohne zu kommunizieren: „Als hätte man einen Raum mit sich drehenden Kreiseln überfüllt, die immer nur kurz zusammenstießen, dadurch die Richtung änderten, gleich darauf mit dem nächsten zusammenstießen, und so weiter.“ (BK, 165, vgl. ebenfalls u. a. BK, 152f.)

Literarischer Erfolg ist in diesem Literaturbetrieb das Ergebnis von Kapitalen, Kontakten und vor allem Kontingenz. Literarischer Erfolg wird hier nicht an der Qualität bemessen, noch garantiert das eine das andere. Der Schriftsteller Rashid wird als körperlich kleiner Mann beschrieben, der von seiner Verlagsbetreuerin „deutlich“ „überragt[]“ (BK, 136) wird – ein offenkundiger Verweis darauf, dass nicht die Autor:innen, sondern die Verlage im literarischen Feld die eigentlichen Machthaber sind. Die Verlage bedienen sich dabei der gängigen Narrative – oder Klischees – über das öffentliche Verhalten von Schriftsteller:innen, die bei Arjouni jedoch eher wie Verharmlosung und Bevormundung erscheinen. Sozial unangepasstes Verhalten wird in der Rolle des Schriftstellers entschuldigt:19 „Die Gedankengänge bei kreativen Geistern sind oft verschlungener und ihr öffentliches Betragen manchmal kantiger, ungelenker als bei unsereinem. Weil sie zu viel nachdenken! […] Weil sie die Dinge in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen versuchen! Und sie dadurch mitunter komplizierter machen, als sie tatsächlich sind.“ (BK, 147f.)

Malik Rashid entpuppt sich im Verlauf der Erzählung allerdings ebenfalls als aufmerksamkeitsgieriger Berufsautor, der von der „Vorstellung von klickenden Kameras“ (BK, 140) und dem „Streben nach einem möglichst wirkungsvollen Messeauftritt“ (BK, 141f.) motiviert wird. Auch dieser Künstler täuscht somit aus egoistischen Gründen: Er befeuert den Medienrummel um sein vermeintliches 18 Interessanterweise empfängt Schmitz Kayankaya in „Ein Mann, ein Mord“ in der imposanten Bibliothek seines Anwesens, „[a]n allen Wänden Bücher bis zur Decke“ (EM, 95); Kayankaya fällt ein aufgeschlagenes Buch auf. Auch hier dienen das Kulturgut und die mit ihr assoziierte Intellektualität als Accessoire und Maske. Scheich Hakim inszeniert sich dagegen als muslimischer Geistlicher und Intellektueller und sendet Kayankaya als Drohung dagegen einen Koran (vgl. u. a. BK, 180). 19 Vgl. hierzu u. a. John-Wenndorf, Carolin: Der öffentliche Autor. Über die Selbstinszenierung von Schriftstellern. Bielefeld: transcript 2014, S. 12–17 sowie hierauf aufbauend auch Kap. III.1.1. in Aust, Robin-M.: „Im Grunde ist alles, was gesagt wird, zitiert“. Die intertextuelle und transfiktionale Thomas-Bernhard-Rezeption. Bielefeld: transcript 2023 [in Vorbereitung], insbes. S. 301–303.

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Skandalbuch, um sich und sein Werk im Gespräch zu halten und die Verkaufszahlen anzukurbeln. Skandal und Lebensgefahr werden zum Teil der Selbstinszenierung des Künstlers – und Arjouni stellt so die rhetorische Frage, ob dies als PR-Strategie auf dem Literaturmarkt nötig sei.20 Rashid wird zunehmend zur wandelnden „Werbekampagne“ (BK, 164): Er beherrscht das Rollenspiel, das ihm die PR-Auftritte abverlangen, und setzt die die dazugehörigen Masken des bescheidenen Schriftstellers auf, dessen „Welt […] der Schreibtisch“ (BK, 144) ist – bis hin zum selbst zum Klischee gewordenen Verlagsfoto des Autors in ‚Denkerpose‘ (vgl. BK, 153). Wie auch in Abakays Falle ist auch Rashids Status als ‚Migrant‘ von zentraler Bedeutung. Rashid wird insbesondere aus Exotismus für den Literaturbetrieb interessant. Er bedient die Rolle des ‚Orientalen‘ routiniert, wenngleich durchschaubar (vgl. BK, 135–140). Ansonsten stellt der Schriftsteller Arjouni den Schriftsteller Rashid als oft altmodisch patriarchal agierenden (vgl. u. a. BK, 45), erfolglosen Möchtegern-Playboy dar, dessen öffentliche Persona und private Person stark voneinander divergieren: Er gibt sich die Maske des weltabgewandten Intellektuellen, der aus Glaubensgründen keinen Alkohol trinkt, trinkt stattdessen aber viel (vgl. u. a. BK, 187) und lässt auch bei Frauengeschichten „nichts anbrennen“ (BK, 45). Wie Abakay nicht nur Zuhälter und Drogenhändler ist, sondern tatsächlich als Künstler Werke veröffentlicht, geht aber auch Rashid nicht in seiner Rolle als ‚(medien-)geiler‘ Poseur auf. Er wehrt sich gegen die Reduktion seiner Texte auf seine Herkunft und Biographie und gegen seine Vereinnahmung als exotischer Weltverbesserer (vgl. BK, 144) – erneut eine Apostrophierung, die ähnlich Abakays Fotografien auf Zuschreibungen anspielt, die Arjouni im Feuilleton ebenfalls ganz ähnlich angetragen wurde. Gerade Rashids Verlangen nach Anerkennung als Künstler und Mann sowie sein Hang zum Alkohol werden ihm später fast zum Verhängnis, sodass beide Fälle konvergieren: Kayankaya hat es „mit dem Arrangieren der Situation in Abakays Wohnung übertrieben“ (BK, 102) und gerät durch diesen Übermut in das Visier von Scheich Hakim. Der betrunkene Rashid wird mittels eines attraktiven, weiblichen, minderjährigen Fans, eines Lockvogels von Hakim, entführt, damit Kayankaya in eine Falle gelockt werden und Abakay sich an ihm Rächen kann (vgl. BK, 192). Die eigentlich erfundene Lebensgefahr wird so zur echten – und kurbelt am Ende ironischerweise seine Verkäufe an: Die Entführung wird genutzt, um PR für den Roman zu machen, Rashid hat es „geschafft“ (BK, 203) – doch selbst dies wird in seiner journalistischen Rezeption wiederum stilisiert und nach Belieben umerzählt (vgl. BK, 205).

20 Bezeichnenderweise wird Rashids Erfolg auf der Buchmesse von dem zweier anderer, noch aufsehenerregenderer Skandalschriftsteller:innen überschattet.

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Nun sind beide Figuren aus zweierlei Gründen interessant. Erstens lassen sie sich textintern als Gegenfiguren begreifen, zweitens sind sie auf einer Metaebene erneut als poetologische Reflexionsfiguren Jakob Arjounis lesbar. Durch ihre Funktion im Fall, die Analogien und Differenzen in ihrer Konzeption sowie die Konvergenz beider Fälle lassen sich Rashid und Abakay als Spiegel- und Komplementärfiguren lesen: der ‚sanfte‘ Poet steht dem brutalen Zuhälter gegenüber, und die Fotografie dem Schreiben. Beide sind im Zusammenhang mit ihrer Kunst zudem nicht aufrichtig und kaschieren – in unterschiedlichem Maße – sündhaftes Verhalten: Abakay erschleicht sich die Bewunderung von minderjährigen Mädchen und zwingt sie zur Prostitution, Rashid wird von einer minderjährigen Bewunderin vermeintlich verführt und in eine Falle gelockt.21 Abakay wird von Kayankaya fälschlicherweise als Mörder inszeniert, Rashid inszeniert sich selbst als Opfer von Morddrohungen. Letztlich verschränken sich beide Fälle und Figuren miteinander: Abakay entführt Rashid, die zunächst fingierten Täter- und Opferrollen werden so zu tatsächlichen. Die Kunstwerke dieser beiden Künstler wiederum verweisen wie bereits erwähnt auf Arjounis eigene Texte und enthalten ein auffälliges Maß an Medienund Selbstkritik. Malik Rashid schreibt einen Text über einen homosexuellen, muslimischen Kommissar – was in seiner soziokulturellen Paradoxie auf den deutschtürkischen Privatdetektiv Kayankaya verweist.22 Wenn sich die angereisten Kulturjournalisten nur für die Parallelen zwischen Protagonist und Autor, nicht aber für den Inhalt und die Botschaft des Textes interessieren, wird die Parallelisierung von Rashid und Arjouni noch offensichtlicher.23 Auch Erden Abakays Kunst verweist auf Arjounis Schaffen:

21 Der Schluss liegt nahe, dass es sich auch bei diesem Lockvogel um ein Opfer von Abakays Mädchenhändlerring handelt. 22 Hiermit ist natürlich nicht gemeint, dass ein homosexueller Polizist für sich genommen oder realiter ein Paradoxon ist. In der rigiden muslimischen Welt, die Rashid in seinem neuesten Roman konstruiert, ist dies aber ebenso ein ‚Ding der Unmöglichkeit‘ wie ein deutschtürkischer Privatermittler im rigiden Deutschland, das Arjouni in seinen früheren KayankayaRomanen konstruiert. Vgl. zu Kayankayas paradoxer Rolle als deutscher hardboiled detective und türkischdeutscher Deutschtürke u. a. Teraoka, Arlene A.: Detecting Ethnicity. Jakob Arjouni and the Case of the Missing German Detective Novel. In: The German Quarterly 72, 1999, H. 3, S. 265–289 sowie darauf aufbauend Aust, Robin-M.: Grenzüberschreitungen: Jakob Arjounis Kayankaya-Romane zwischen hardboiled detective und Migrationsthematik. In: Germanica 58: Le roman policier dans l’espace germanophone. Der Kriminalroman im deutschsprachigen Raum. Hrsg. von Elisabeth Kargl/Aurélie Le Née, 2016, S. 199–210, hier S. 207f. 23 Die Ironie dieses Absatzes blieb dem Verfasser dieses Beitrages natürlich nicht verborgen: die Kritik an der Parallelisierung von Protagonist und Autor (Kayankaya und Arjouni) wurde hier schließlich gerade aus der Parallelisierung von Protagonist und Autor (Rashid und Arjouni) destilliert. Vgl. hierzu u. a. auch Waibel, Jakob Arjouni. 2000, S. 22–24.

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„Die meisten waren Schwarzweißporträts von zerstörten, faltigen, alten oder früh gealterten Gesichtern vor dem Hintergrund der Frankfurter Bankentürme. Eine alte Roma mit zahnlosem Grinsen und Kippe im Mundwinkel, ein dunkelhäutiger Junge mit Elvistolle, Kindergitarre und ausgeschlagenem Auge, eine Fixer-Hure mit völlig weggetretenem Blick und I-love-Frankfurt-Button an der Bluse und so weiter.“ (BK, 63)

Das Sujet der ‚Armut im Schatten der Bankentürme‘, die geradezu zynischgroteske Darstellung der drogenabhängigen Prostituierten und die allgemeine Atmosphäre von Abakays Kunst sind unschwer als Stilmittel, Plotelemente und Topoi früherer Kayankaya-Krimis erkennbar. Dass es sich hierbei nicht um vielleicht zufällige, sondern ganz bewusst und markiert in den Plot eingebaute Parallelen handelt, wird zudem noch überdeutlich von Kayankayas Erzählerstimme hervorgehoben: „Nicht so schlecht, aber auch nicht so neu, und es kam mir vor, als hätte ich die Fotos schon einige Male gesehen.“ (BK, 63) Erneut wird hier die poetologische Parallelkonstruktion beider Figuren deutlich: Rashids Text ‚liefert‘ einen Protagonisten, Abakays Fotografien die Atmosphäre und Nebenfiguren, die an die Kayankaya-Krimis angelehnt sind. Beide Figuren zusammengenommen zeichnen somit ein weiteres (selbst-)kritisches Bild des Künstlers als hedonistischer Heuchler und Poseur. Aus einer isolierten, da privilegierten oder mächtigen Position heraus instrumentalisiert er das Leid und die Unterdrückung anderer, um Kunst zu erzeugen und (kulturelles, soziales, ökonomisches) Kapital anzuhäufen. Auch hier wird über die Parallelisierung Arjounis Auseinandersetzung mit seiner eigenenen Rolle als Schriftsteller und seinen Texten sichtbar, die das Elend von Migrant:innen durchaus auch in finanziellen und feuilletonistischen Erfolg für einem aus einem geradezu bildungsbürgerlichen Milieu stammenden Künstler umwandelten. Der letzte Künstler im Dreieck, das sich in „Bruder Kemal“ aufspannt, ist Edgar Hasselbaink. Seine Rolle im Fall und seine Funktion im Plot sind markant. Zunächst wird er als abwesender Vater des verschwundenen Mädchens eingeführt; als handelnde Figur tritt er erst kurz vor Ende auf – dies aber als der eigentliche Mörder des Mannes, der seine Tochter vergewaltigen wollte. In mehrfacher Hinsicht ist Hasselbaink ein Gegenbild zu den beiden anderen Künstlern: Anders als Abakay und Rashid ist Hasselbaink ein „international erfolgreiche[r] holländische[r] Maler“ (BK, 7). Zwar ist er in der Kunstwelt eine „ziemlich große Nummer“ (BK, 19) – dieser Erfolg schlägt sich jedoch nicht unbedingt finanziell nieder. Auch die Gestaltung dieser Figur kontrastiert mit der des ‚schmierigen‘ Abakay und der des gleichermaßen unsicheren wie aufdringlichen Rashid. Obwohl Valerie de Chavannes sich und ihren Mann als „schwache Leute, verweichlichte Kunstliebhaber, Bücherleser“ (BK, 76) darstellt, erscheint Hasselbaink kraftvoll, entspannt, attraktiv und vor allem selbstbewusst und selbstsicher:

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„Er trug einen zitronengelben, enggeschnittenen Leinenanzug, leuchtend blaue Sneakers, und seine ungefähr zwanzig Zentimeter langen Kraushaare standen wild in alle Richtungen. Unter dem Sakko trug er nichts, und sein dunkler, muskulöser, offenbar guttrainierter Oberkörper trat deutlich hervor. Auf den ersten Blick wirkte er wie eine Mischung aus verrücktem Professor, Nachtleben-Hipster und Sommermoden-Model.“ (BK, 212f.)

Seine Selbstsicherheit und seine Rolle im Fall machen ihn zu einer mehrfach bemerkenswerten Figur unter Arjounis Künstlertypen. Zwar ist Hasselbaink kein ostentativer Heuchler wie Rashid und Abakay, doch auch er täuscht – und von allen Künstlern in „Bruder Kemal“ ist seine Täuschung die fatalste: schließlich begeht er doch den ursprünglichen Mord an Rönnthaler. Dieser Mord, seine Umstände sowie die Tatwaffe sind in mehrfacher Hinsicht auch aus werkgenetischer, poetologischer und ideologischer Perspektive interessant. Auch Hasselbaink repräsentiert schließlich ein migrantisches Schicksal: zunächst wird er als „holländische[r] Maler“ (BK, 7) eingeführt – weitaus später ergänzt der Text jedoch, dass Hasselbaink eine Person of Color ist. Diese Figur divergiert damit ebenfalls von den marginalisierten, unterdrückten und ausgebeuteten ‚Ausländern‘ der früheren Texte: Seine vermeintliche oberflächliche Alterität wird zunächst gar nicht thematisiert und bekommt erst später eine wichtige Funktion in der Geschichte. Im Vordergrund steht sein Status als bekannter Maler und Mitglied der Oberschicht: Er konnte kulturelles, ökonomisches und soziales Kapital anhäufen, erscheint erfolgreich und ‚integriert‘. Dieses Kapital konnte er – anders als frühere ‚finanzkräftige Ausländer‘ wie beispielsweise der albanische Mafiaboss aus „Kismet“ oder Scheich Hakim – nicht durch organisiertes Verbrechen generieren, sondern durch ‚ehrliche Arbeit‘ als Künstler. Durch seine Heirat mit der reichen Bankierserbin Valerie de Chavannes haben sich insbesondere das ökonomische Kapital und der damit einhergehende gesellschaftliche Status weiter gefestigt und vermehrt.24 24 Hierzu zwei Anmerkungen: 1. Durch seine Position als Künstler, der – wie „Bruder Kemal“ mehrfach nahelegt – vor allem durch seine reiche Ehefrau finanziert wird, ähnelt er Jürgen aus „Das Innere“. Anders als dieser ist Hasselbaink mit seiner Kunst aber erfolgreich und anerkannt. 2. Zudem spielt der Text über Edgar Hasselbaink und Valerie de Chavannes mit den Stereotypen ‚Ausländer‘ oder ‚Migrant‘ – und hält dem:der Leser:in den Spiegel vor: es stellt sich die Frage, wie viele Leser:innen beim ‚holländischen Maler Hasselbaink‘ an eine Person of Color gedacht haben mögen – der plot twist in der Ermittlung setzt sich somit auch rezeptionsseitig fort. Der Text thematisiert zudem nicht weiter, dass Valerie de Chavannes durch ihre französische Abstammung und ihren Akzent ebenfalls als ‚Migrantin‘ lesbar ist. Diese ‚Migranten‘, der ‚Holländer‘ und die ‚Französin‘ aus der Oberschicht, sind durch ihre Herkunft, ihren finanziellen und sozialen Status und die daraus resultierende geringe Alterität aber strikt von der Sphäre der anderen, ‚fremden Migranten‘ wie der Familie Ergün, Sri Dao Rakdee oder Erden Abakay getrennt. Potenziert wird dieses Identitäts- und Stereotypenspiel zusätzlich dadurch, dass Arjouni beiden Figuren Nachnamen gibt, die auf reale Personen verweisen: der Name des Malers Edgar Hasselbaink verweist auf die Fußballspieler

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Ebenso wird Hasselbainks oberflächliche Alterität in der Gesellschaft des Textes akzeptiert – erneut ein Novum in den Kayankaya-Krimis. Ob diese Akzeptanz nun auf gesellschaftlichem Wandel beruht oder vor allem durch Hasselbainks finanziellen und kulturellen Status gefördert wird, lässt der Text offen. Ironischerweise wird gerade diese neue Akzeptanz zu einem Problem in der Aufklärung des Mordes. Früh hat Kayankaya einen Mordverdächtigen: von einem Kellner erfährt er, dass kurz vor dem Mord ein Mann, „wie’n Professor oder wie’n netter Lehrer“ (BK, 94), einen Schaschlikspieß und damit die vermeintliche Mordwaffe aus einem Restaurant nahe des Tatorts entwendet hatte. Dass dieser Mann aber eine Person of Color sei, erwähnt der Kellner erst zu Ende der Erzählung. Dieser Hinweis jedoch hätte die Aufklärung des Falles ungemein vereinfacht, ist doch Hasselbaink im Kreis der möglichen Verdächtigen der einzige Mensch mit dunkler Hautfarbe. Der Text hebt hier einerseits hervor, dass Hautfarbe in der veränderten Gesellschaft von „Bruder Kemal“ eine zunehmend untergeordnete Rolle spielt. Er thematisiert über diesen geradezu bizarren plot twist aber auch kritisch eine mögliche fehlgeleitete Political Correctness, die eine Lösung auf anderen Ebenen angesiedelter Probleme entgegenwirken kann (vgl. BK, 217f.). Der eigentliche Mord hebt diese veränderte Welt der Kayankaya-Krimis zudem noch symbolisch hervor: Hasselbaink ermordet Rönnthaler wie erwähnt mit einem Schaschlikspieß (vgl. BK, 217). Mordwaffe und Mörder verweisen auf frühere Kayankaya-Texte: der Schaschlikspieß erinnert als Küchenbesteck an das gestohlene Schinkenmesser, die Mordwaffe in „Happy birthday, Türke!“ (vgl. HbT, 169). In beiden Fällen ist der Mörder ein Migrant. Während jedoch Yilmaz Ergün als Koch in einer Großküche arbeitet, ist Edgar Hasselbaink der Gast eines Cafés. Die Rolle des ‚Bediensteten‘ und unterdrückten Arbeiters kontrastiert mit der des finanzkräftigen, unabhängigen Künstlers, der es sich leisten kann, tagsüber Cafés aufzusuchen.25 Die Struktur und die Handlungsträger dieser Morderzählung erinnern zudem an „Ein Mann, ein Mord“: In beiden Fällen geht es um Frauenhandel, in beiden Fällen ist der Ermordete ein Vergewaltiger, in beiden Fällen wird der Mord von einem ‚feingeistigen‘, wohlhabenden und zunächst unverdächtigen Künstler begangen, Kayankaya konfrontiert beide Mörder in ihren Privaträumen bei einer Zigarette mit der Wahrheit. Beide Künstler sind zudem bunt und auffällig geCarlos, Jimmy Floyd, Marvin und Nigel Hasselbaink sowie den Schauspieler und Rapper Sergio Hasselbaink – und damit auf deren niederländisch-surinamische Herkunft sowie die Geschichte Surinames als niederländische Kolonie, deren Nachwirkungen bis heute spürbar sind. Ironischerweise trägt die Bankierserbin Valerie de Chavannes wiederum den Nachnamen eines Malers, Pierre Puvis de Chavannes – Kunst und Finanz werden hier auch auf der Ebene sprechender bzw. konnotierter Namen miteinander verwoben. 25 Vgl. zur Essenssymbolik auch den Beitrag von Richard Hronek in diesem Band.

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kleidet – der muskulöse, selbstsichere Edgar Hasselbaink ist ansonsten aber das absolute Gegenteil der aufgeregten, fiepsenden, „bunte[n] Kugel“ (EM, 9) Manuel Weidenbusch. Erneut spiegeln sich in den Analogien und Differenzen in der Figurenzeichnung die veränderte Machtposition und veränderte gesellschaftliche Hierarchien. Mit Kayankayas Ermittlungsergebnissen konfrontiert, lässt er sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen und steht gar zu seiner Tat: „Er hielt den Mord an dem Mann, der im Begriff gewesen war, seine Tochter zu vergewaltigen, für völlig gerechtfertigt. […] Dafür, dass er seine Tochter vor Rönnthaler bewahrt hatte, wäre er auch ohne Weiteres ins Gefängnis gegangen.“ (BK, 221)

Mehr noch: Er durchschaut, dass der Ermittler keine stichhaltigen Beweise hat und selbst in den Fall verstrickt ist (vgl. v. a. BK, 219–223). Auch im Verhältnis des Mörders zu Kayankaya manifestiert sich somit ein neues Machtverhältnis, das geradezu von Selbstermächtigung geprägt ist. Nun handelt es sich bei Abakay, Rashid und Hasselbaink auch ‚offiziell‘ um Künstler, die sich – zumindest vorgeblich – schöpferisch in diesem Beruf betätigen. Allerdings tritt in „Bruder Kemal“ unerwartet eine weitere Figur von zumindest diskussionswürdigem Künstlertum auf: Kemal Kayankaya selbst. Auch, wenn Kayankaya von sich selbst sagt „Ich bin kein Künstler“ (BK, 222), ist er von Anfang der Krimireihe an durchaus als solcher lesbar: ob nun durch seine Betätigung als Detektiv, die durchaus auch als ‚Kunst der Verbrechensaufklärung‘ bezeichnet werden könnte, oder durch sein souveränes Identitätswechseln, Rollen- und also Schauspiel im Rahmen seiner Ermittlungen.26 In „Bruder Kemal“ wird er zudem in gewisser Hinsicht selbst ‚künstlerisch‘ tätig und nähert sich in seiner Konzeption damit den anderen drei Künstlerfiguren an. Bizarrerweise geschieht Kayankayas ‚Künstlerwerdung‘ durch vorsätzlich begangene Körperverletzung. Nachdem er Abakay überwältigt hat, beginnt er, den Tatort zu manipulieren, um dem Mädchenhändler den Mord am Freier Rönnthaler in die Schuhe zu schieben: „Mit einem etwa dreißig Zentimeter langen Fleischmesser kehrte ich in den Eingangsflur zurück, kniete mich neben Abakay und schnitt und stach ihm leicht in die Brust und Bauch. Keine tiefen Verletzungen, es sollte nur ein bisschen nach Kampf aussehen, und ich wollte, dass Abakays Blut an der Klinge klebte.“ (BK, 61)

26 Anzumerken ist hier, dass sich Kayankaya in „Bruder Kemal“ als italienischstämmiger Polizist ‚Paolo Magelli‘ ausgibt (vgl. BK, 55). Interessant ist dabei, dass ein ausländisches Aussehen und ein ausländischer Name in der veränderten Gesellschaft in „Bruder Kemal“ für einen Polizisten nichts Ungewöhnliches mehr sind – anders als in früheren KayankayaKrimis, wo sich der Privatdetektiv höchstens als türkischer Botschaftsmitarbeiter ausgeben konnte und oft auf die Hilfe ‚deutscher‘ Polizisten angewiesen war. Als Randnotiz ist hier auch zu erwähnen, dass der Name ‚Paolo Magelli‘ als Hommage auf den gleichnamigen Regisseur verweist, der 1996 „Edelmanns Tochter“ in Wuppertal inszenierte.

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Nun ist hieran zunächst wenig Kunstvolles zu entdecken. Interessant wird Kayankayas Eingreifen in den Fall jedoch durch zwei Szenen – eine ganz zu Beginn des Textes, eine kurz vor dessen Ende. Beide nehmen somit auch strukturell eine rahmende und markierende Funktion ein. So bemerkt Kayankaya bei seinem ersten Besuch im Wohnzimmer von de Chavannes und Hasselbaink mehrere Gemälde: „Fast alle waren großformatige, modern anmutende Farbanordnungen, Öl auf Leinwand, in schweren, goldenen, auf alt gemachten Holzrahmen. Mal Würfel in verschiedenen Farben, mal Kleckse oder Streifen, ein zerfließender Regenbogen, ein rotes Quadrat in einem gelben Quadrat in einem grünen Quadrat und so weiter, eine rotblaue gewitterwolkenähnliche Wischerei.“ (BK, 29)

Von Kayankaya werden diese Bilder zwar schnell als keine „Werke vom Maler der ‚Blinden von Babylon‘“ (BK, 29) identifiziert, von seiner Auftraggeberin werden sie gar als „Innenarchitektur“ (BK, 29) abgetan. Dennoch erfüllen die beinahe beiläufig erwähnten Kunstwerke in dieser Szene eine wichtige Funktion als Prolepse auf das Finale des Textes. In gewisser Hinsicht wiederholt sich am Ende der Anfang: Kayankaya versucht im finalen ‚Showdown‘, den entführten Rashid zu befreien und wird zum zweiten Mal mit Abakay konfrontiert – bei ihrer ersten Begegnung hatte er die vermeintlich entführte Marieke befreit und Abakay verletzt. Dieser will sich nun rächen – und wählt hierbei interessante Formulierungen: „Weißt du, wie meine Brust aussieht? Wie ’ne scheiß geometrische Zeichnung!“ (BK, 197) Abakay will Gleiches nun mit Gleichem vergelten, Kayankaya mit dem Messer verletzen – und seine Worte ähneln dabei fast denen in Kayankayas Beobachtungen aus der früheren Szene: „Ich dachte, wir fangen mal mit Bauklötzen an, dann Kreise und am Ende noch ’n paar schöne gerade Striche, das wird bestimmt hübsch.“ (BK, 199) Kayankayas ‚Werk‘ an Abakays Körper machte ihn unfreiwillig zum Künstler – und durch die Tat und die symbolische Verknüpfung wurde er zu Hasselbainks Stellvertreter: der Detektiv, nicht der Vater, übt Rache für den Missbrauch der Tochter. Wie die Kunst ist die Ermittlung hier vorgeschoben, Heuchelei – der hardboiled detective agiert zunehmend in eigenem moralischen, schlussendlich sogar persönlichen Interesse: zu Beginn überschreitet er seine Grenzen als Ermittler und manipuliert Beweise, verletzt Abakay – am Ende führt er den Mordauftrag, den er nicht ausführen wollte, dennoch aus und tötet Abakay aus Notwehr. Dies vermengt die in Arjounis Krimis ohnehin miteinander verquickte Schuld und Unschuld nur noch weiter. Die Handlungsstränge konvergieren über Rashids Entführung durch Abakay, doch auch die Künstlerfiguren und ihre Konzeption und Funktionalisierung nähern sich einander immer weiter an: Letztlich sind alle Figuren Opfer, Täter, Künstler und Heuchler zugleich geworden. Abakay als Mädchenhändler und fälschlicherweise Verdächtigter, Rashid durch die erfundenen Briefe und seine

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Entführung, Hasselbaink durch die Zwangsprostitution seiner Tochter und den Mord am Rönnthaler. Dieser strukturellen Konvergenz wird inhaltlich und sprachlich jedoch ein Ende gesetzt. Wie zu Beginn geraten Abakay und Kayankaya aneinander, der Detektiv wird erneut zum Täter und tötet den Zuhälter: „‚Jetzt ist Schluss mit Geometrie‘, flüsterte ich, drehte mich um, schoss ihm erst ins Gesicht und dann zur Sicherheit noch in die Brust“. (BK, 200) Und so ist es am Ende einzig Kayankaya selbst, der durch seine übermäßige und unrechtmäßige Einmischung in den Fall vor allem auf der Seite der Täter und Betrüger bleibt. Liest man in Kayankaya und den Künstlerfiguren in „Bruder Kemal“ einen Metakommentar Arjounis über sein Schaffen, so wird hier der Endpunkt des Werkes deutlich markiert: der Versuch, auf dem Wege der Kunst (Romane zu schreiben, Milieuschilderungen zu veröffentlichen, Gangstern die Brust zu zerschneiden) Gerechtigkeit zu erzeugen, ist gescheitert, entweder an äußeren Umständen – oder eben an der Verstrickung in der eigenen Hybris.

Selbstinszenierung, Selbstbetrug und Selbstbespiegelung Kayankaya merkt während der Beschattung von Rashid über die skurrile Literaturwelt und ihre Protagonisten an: „Ein Schriftsteller, so dachte ich beim Lesen, drückt sich gerne in Metaphern aus“ (BK 40). Dies gilt auch für den Schriftsteller Arjouni selbst: insbesondere seine Künstlerfiguren fungieren – sieht man von der etwas schiefen Verwendung des Begriffes ab – als ‚Metapher‘, oder besser: Ideenträger und Vehikel der Kritik und Selbstbespiegelung. Mit Blick auf Arjounis Gesamtwerk erstreckt sich der Komplex aus Inszenierung, Täuschung, Selbstbespiegelung noch auf eine weitere Ebene: Die transfiktionale Konvergenz von fiktionaler Literatur und textexterner Realität, die über die metafiktionalen Selbstverweise und Metakommentare in Arjounis Texten angestoßen wird, verläuft schließlich auch in die andere Richtung. Die Leser:innen werden bereits mit einer täuschenden Künstlerfigur konfrontiert, noch bevor sie überhaupt eine Zeile gelesen haben: geschrieben wurden die Texte genaugenommen schließlich nicht von Jakob Arjouni – sondern von „jemand[em], der sich Jakob Arjouni nennt“.27 Der in der Öffentlichkeit auftretende Autor ist nun zwar keine vollständige Erfindung oder dreiste Fälschung – ein gewisses Maß an (möglicherweise kalkulierter) Täuschung und Rollenspiel ist aber auch der realitätswirksamen Ebene des Werkes eingeschrieben: Geboren wurde der Verfasser der Kayankaya-Romane als Jacob Benjamin Bothe als Sohn des Dramatikers Hans Michelsen und der Verlagschefin Ursula Bothe. Zeitweise nutzte er das Pseudonym Jakob Michelsen, bevor er den Nachnamen seiner marokkanischstämmi27 Kniesche, Vom Modell Deutschland zum Bordell Deutschland. 2005, S. 21.

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gen ersten Ehefrau Kadisha Arjouni annahm.28 Bereits der Autorenname ‚Jakob Arjouni‘ ist somit eine mehrfache realitätswirksame Täuschung – eine Täuschung zudem, die Auswirkungen auf die Rezeption der Texte hatte: „Daß Arjouni bei seinem Debut zunächst […] als türkischer Autor wahrgenommen wurde, erklärt sich durch eine einfache und sehr bezeichnende Projektion. Man nahm den Protagonisten und Ich-Erzähler der Romane als ‚unzweifelhaftes‘ Bild des Autors, stellte eine Beziehung zum fremdländisch klingenden Autorennamen her. Dem wohnte die Vorstellung inne, daß nur ein türkischer Autor ein türkisches Milieu beschreiben könne. […] Die Kritik kam gar nicht auf die Idee, mittels eines universalistischen Standpunktes könne jeder, Interesse vorausgesetzt, jeden Menschen dieser Welt beschreiben, in seiner vornehmsten Eigenschaft als Mensch nämlich […]. […] Wie weit die verbreitete Annahme, bei Arjouni handle es sich um einen türkischstämmigen Autor, zu seinem Erfolg beigetragen hat, darüber läßt sich ebenso nur spekulieren wie darüber, ob Arjouni auf diesen Coup spekuliert hat.“29

Die in Arjounis Texten kritisierte ‚exotistische Oberflächlichkeit‘ im Umgang der Gesellschaft mit vermeintlichen ‚Ausländer:innen‘ wird so auch realiter deutlich gemacht: Kayankaya wird für seine Auftraggeber als Detektiv, Arjouni für das Feuilleton als Schriftsteller durch den vermeintlichen Status als ‚Nichtdeutscher‘ interessant, der beiden vor allem durch den oberflächlichen Marker des Namens angetragen wurde. Ob dieses „identitätsbezogene[] Experiment“30 Arjounis nun vor allem dazu diente, „die empirischen Erfahrungen seines Protagonisten auch an eigener Haut spüren“31 zu können, Assoziationen mit einem bildungsbürgerlichen Elternhaus zu vermeiden oder letztlich vor allem wegen seiner „durchaus erfreulichen marktstrategischen Nebenwirkungen“32 erfolgte – Prätention und Täuschung sind auch hier zentrale Elemente des Künstlertums, Handwerkszeug eines Künstlers im „Weltverbessererkostüm[]“ (BK, 133), der Umstände thematisiert und ästhetisiert, die nicht seine eigenen Lebensumstände sind. Interessanterweise kritisieren Arjounis Texte also eine Strategie, die er selbst zur Konstruktion seiner öffentlichen Autorenpersona nutzte. Nun soll Arjouni bei weitem keine Lebenslüge im Stile von Joachim Linde aus „Hausaufgaben“ oder Erden Abakays unterstellt werden. Dass er sich mit dem Thema der Täuschung und seiner zumeist privilegierten Position als kriti-

28 Vgl. u. a. Je¸drzejewski, Maciej: Gesellschaft in Jakob Arjounis Werk. Berlin u. a.: Peter Lang 2019, S. 70–74. 29 Waibel, Jakob Arjouni. 2000, S. 22–24. 30 Je¸drzejewski: Gesellschaft in Jakob Arjounis Werk. 2019, S. 76. 31 Ebd., S. 76. 32 Moraldo, Sandro M.: Fremdheit in der ‚Heymat‘ als Zuschreibung, Faszinosum und Bedrohung. Ein Versuch über Jakob Arjounis Bruder Kemal. In: Gewissheit und Zweifel. Interkulturelle Studien zum kriminalliterarischen Erzählen. Hrsg. von Sandra Beck/Katrin Schneider-Özbek. Bielefeld: Aisthesis 2015, S. 79–97, hier S. 81.

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sierender Schriftsteller auseinandersetzte, davon zeugen seine poetologischen Texte und Figuren als poetologische ‚Metaphern‘. Dabei wandelt sich die Kritik am allgemeinen, abstrakten Typus des Künstlers hin zu einer selbstkritischen oder zumindest selbstironischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Schaffen. Stellenweise klingt hier auch eine Selbstanklage an, die sich im Spätwerk verstärkt. Augenfällig wird dieser Wandel besonders im Vergleich der frühen Kayankaya-Krimis mit dem letzten Teil der Reihe: Während über den „Kunstbubi“ (EM, 171) Weidenbusch anfänglich noch das unerwartet subversive, realitätswirksame Potenzial von Arjounis engagierter Unterhaltungsliteratur thematisiert wird, wird gerade dieses zum Klischee gewordene publikums- und breitenwirksame Engagement in „Bruder Kemal“ über Rashid und Abakay – wiederum unerwartet – ausgesprochen kritisch betrachtet. Sozialkritisches Schreiben aus einer privilegierten, milieuexternen Position heraus ist jedoch zumeist immer Heuchelei, der Schriftsteller ist ein lächerlicher Philister wie Weidenbusch, ein Poseur wie Rashid oder er schlägt aus dem Elend anderer Profit wie Abakay. Schriftsteller sind geltungssüchtig wie Jürgen Schröder, sie sind aber auch zu Kunst getriebene, von Ansprüchen und Versagensangst blockierte Wunderkinder wie Paul.33 Kunst und Künstlertum sind letzten Endes Täuschung, egal auf welcher Ebene: Arjounis Künstler bemühen sich, betrügen sich, nur um ein Selbst- und Fremdbild aufrecht zu erhalten und ihre Ansprüche oder ihren Willen nach Ruhm und Anerkennung zu befriedigen. Ihnen allen ist aber die Ambivalenz ihres Künstlertums gemein: Abgründigkeit und Erhabenheit liegen nah beieinander. Arjounis Künstler sind nicht nur Betrüger und Heuchler. Sie nehmen sich und ihre Kunst auch ernst oder leiden an ihrem Willen zur Kunst. Teils sind Arjounis Künstler entgegen aller Klischees und Figurenzeichnungen aber auch kraftvolle Akteuren, die wie Weidenbusch oder Hasselbaink von weltfremden Schöngeistern unvermutet auch zu Tatmenschen werden können. Kunst hat das Potenzial, einen realen Wandel anzustoßen. Wie vielen anderen Arjouni-Figuren ist auch seinen Künstlern letztlich das Scheitern gemein: der Weg zum gesell33 Es wären noch weitere Künstlerfiguren und Lebenslügen zu betrachten, beispielsweise Edelmanns Tochter im gleichnamigen Theaterstück (1996) oder der Protagonist aus „Cherryman jagt Mr. White“ (2011). In „Edelmanns Tochter“ fallen Künstler und Kunstwerk zusammen: ein jüdischer Vater erzieht seine Tochter zu einer Künstlerin und isoliert sie so von der von ihm bedrohlich wahrgenommenen Realität der BRD. Sowohl die BRD als auch Vater Edelmann werden von der nationalsozialistischen, verdrängten Vergangenheit eingeholt. In „Cherryman jagt Mr. White“ wird ein naiver junger Mann unwissentlich Helfer bei einem antisemitischen Anschlag, flüchtet sich in seiner Auseinandersetzung mit den ihn instrumentalisierenden Neonazis in die Welt seiner selbstgezeichneten Comics. Die Kunst verhindert also in diesen Texten einerseits eine freie Entfaltung, dient andererseits auch dem Eskapismus und der Stabilisierung gegenüber äußeren Bedrohungen. In beiden Fällen sind die realweltlichen Konsequenzen dieser (erzwungenen) Flucht in die Kunst für die Künstler:innen aber negativ.

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schaftlichen Wandel oder auch nur persönlichem Glück ist von äußeren Zwängen und inneren Krisen gesäumt, von Hedonismus und Geltungssucht versperrt. Wie auch in anderen Texten Jakob Arjounis liegt der Ausweg aus dieser Sackgasse entweder in der Aufgabe der eigenen Ideale und Ansprüche (Paul), oder in zumindest fragwürdigen (Rashid), problematischen (Weidenbusch), unmoralischen (Jürgen) wenn nicht gar illegalen und menschenverachtenden (Abakay) Handlungen. Anders als im Falle z. B. der Migrant:innen aus den KayankayaKrimis ist diese Sackgasse jedoch nicht systembedingt, sondern liegt in der Persönlichkeitsstruktur des Künstlers selbst begründet.

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Robin-M. Aust war bis April 2023 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, danach Mitarbeiter im digital-humanities-Projekt E06 „Vergleichspraktiken in der Genese, Verstetigung und Transformation von ‚Nationalliteratur‘. Der Fall Deutschschweiz“ des SFB 1288 an der Universität Bielefeld. 2015 Veröffentlichung seiner Masterarbeit als erste Monographie zu Nicolas Mahlers Literaturcomics (augezeichnet mit dem Carl-Wambach-Preis). 2020 wurde er für das Seminar „‚Jetzt ist schon wieder was passiert.‘ Kriminalromane literaturtheoretisch“ mit dem Lehrpreis der Heinrich-Heine-Universität in der Kategorie ‚Nachwuchswissenschaftler‘ ausgezeichnet. Die Publikation seiner 2021 eingereichten Dissertation zur intertextuellen und transfiktionalen Thomas-Bernhard-Rezeption ist aktuell in Vorbereitung. Forschungsschwerpunkte: Intertextualität, Intermedialität und Transfiktionalität, Praktiken der Inszenierung von Autorschaft, österreichische und schweizer Literatur, (Literatur-)Comics, Literaturverfilmungen, game studies, digitale Literatur und digital humanities. Priv.-Doz. Dr. Manuel Bauer studierte Germanistik, Philosophie und Medienwissenschaft. Promotion 2009, Habilitation 2015. Zur Zeit ist er Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Neuere deutsche Literatur an der PhilippsUniversität Marburg. Aktuelle Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Deutschsprachige Literatur vom 18.–21. Jahrhundert, Literatur- und Kulturtheorie, Kriminalliteratur, Theorie und Praxis der Literaturkritik. Dr. Wolfgang Brylla studierte 2003–2008 Germanistik und Geschichte in Zielona Góra und Gießen; 2013 promovierte er über Hans Fallada im Kontext der Raumund Erzähltheorie (Berlin als Raum. Hans Falladas erzählte Großstadt. Saarbrücken: SVH 2013); 2014 Preisträger der Polnischen Akademie der Wissenschaften; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Zielona Góra; Forschungsschwerpunkte: Hans Fallada, Kriminalliteratur, Stadtliteratur, schlesische Literatur; aktuelles Projekt (zusammen mit der Christian-Albrechts-

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Universität zu Kiel): „Deutsche und polnische Frauenkrimis“ (gefördert aus Mitteln der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung). ˇ ujic´ promoviert bei Anne-Rose Meyer (Universität Wuppertal) zu Jakob Sandra C Arjounis Kriminalromanen. Sie interessiert die Darstellung interkultureller Themen in kriminalliterarischen Erzähltexten. Im Studiengang Deutschsprachige Literaturen mit dem Profil ‚Interkulturelle Literatur- und Medienwissenschaft‘ hat sie einen Masterabschluss erlangt. Zudem hat sie die erste Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien mit den Fächern Deutsch und Englisch abgelegt. Die zweite Staatsprüfung wird sie voraussichtlich bald abschließen. 2015 wurde bereits ein Artikel über die „Herkunftskonzepte und Identitätsinszenierungen in Jakob Arjounis ‚Kismet‘“ veröffentlicht. Melissa Heinbach, 1998 in Siegen geboren, studiert seit 2018 Germanistik und Anglistik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Ihr Interesse gilt daher vor allem der Literatur aus dem deutsch- und englischsprachigen Raum. Durch ihre Leidenschaft für das Schreiben kreativer Texte setzt sie Forschungsschwerpunkte in der Erzähltheorie, der sprachlichen Gestaltung von Texten sowie der literarischen Tiefe in Genre-Fiction. Richard Hronek, Ph.D., erwarb 2007 am Guilford College (Greensboro) den B.A. in Deutsch mit Auszeichnung sowie 2015 den M.A. in Deutsch an der University of Wisconsin-Madison (Madison). Dort promovierte er 2020 zum Thema „Increasingly Soft-boiled!? Kemal Kayankaya’s transformation from hard-boiled loner to bourgeois father-to-be in Jakob Arjouni’s Kayankaya series“. Von 2014 bis 2020 war er Lehrassistent an der University of Wisconsin-Madison, seit 2021 ist er Dozent an der University of North Carolina (Greensboro). Dr. Carolin Kull, akademische Rätin, ist seit 2013 an der Professional School of Education der Ruhr-Universität Bochum tätig. Zuvor war sie Lehrerin für Deutsch, ev. Religion und Pädagogik. In ihren Forschungsarbeiten beschäftigt sie sich insbesondere mit der deutschsprachigen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts sowie mit Intertextualität, Gesellschaftskritik, der (narrativen) Inszenierung von Identität, Forschendem Lernen in schulischen Praxisphasen und Didaktik des Deutschunterrichts. Dr. Sandro M. Moraldo ist ordentlicher Professor für Deutsche Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften an der Universität Bologna und war bis 2017/2018 Adjunct Professor für Komparatistik an der Università del Sacro Cuore (Mailand). Im Wintersemester 2014/15 nahm er im Rahmen der Exzellenzinitiative eine Gastprofessur am Institut für Deutsch als Fremdsprachenphilologie der

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Universität Heidelberg wahr und war im Spring Semester 2017 Max-Kade-Distinguished Professor am Department of Classical and Modern Languages and Literatures der University of Rhode Island (Kingston, R I/USA). 2022 Verleihung des Bundesverdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen neben der germanistischen Linguistik u. a. E.T.A. Hoffmann und thematologische sowie motivgeschichtliche Untersuchungen. Joshua C. Poschinski studierte Germanistik und Politikwissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf und arbeitet als u. a. freier Publizist. Neben journalistischen Tätigkeiten beschäftigt er sich interdisziplinär mit Literatur, Musik und Fotografie. Denise Schroeren, Jahrgang 1994, studiert Germanistik und Modernes Japan in Düsseldorf und ist angehende Bachelor of Arts Absolventin. Während des Studiums hat sie besonderes Forschungsinteresse an Transmedialität, Populärkultur und Fanpraktiken sowie Mythen und Mystik innerhalb der Literatur entwickelt. Im Oktober 2021 hatte sie die Gelegenheit, auf einer Studentischen Tagung der Heinrich-Heine-Universität einen Vortrag über die Verarbeitung der Diskurse Mentale Gesundheit und Selbstfindung in K-Pop Fanfictions zu halten. Prof. Dr. Stefan Seeber ist akademischer Rat und außerplanmäßiger Professor am Deutschen Seminar der Universität Freiburg. Neben Forschungsschwerpunkten in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literatur arbeitet er auch zur Mittelalterrezeption der Moderne und immer wieder zu Jakob Arjouni, dessen Werk er seit Beginn der Kayankaya-Reihe intensiv rezipiert. Dr. Sarah Seidel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften der Universität Konstanz. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Literatur des 18. Jahrhunderts, Gegenwartsliteratur sowie Literatur in interdisziplinären Zusammenhängen, insbesondere Literatur und Recht sowie Literatur und Medizin. Ein weiteres Interesse liegt im Bereich Literatur als Gegenstand transferorientierter Lehre. Carolin Wallraven, geb. 1999, studiert seit 2017 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Germanistik und Linguistik; nach dem Bachelorabschluss im Jahr 2020 spezialisiert auf die Germanistik mit den Studienschwerpunkten Neuere und Ältere Deutsche Literaturwissenschaft. Sie ist wissenschaftliche Hilfskraft und unterrichtet Fachtutorien am Institut für Germanistik der HHU.