Waren – Wissen – Raum: Interdependenz von Produktion, Markt und Konsum in Lebensmittelwarenketten [1. Aufl.] 9783658307189, 9783658307196

Der Band betrachtet am Beispiel des Lebensmittelmarkts die drei Teilkontexte Produktion, Marktentnahme und Konsum in ihr

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German Pages XIII, 588 [587] Year 2020

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Waren – Wissen – Raum: Interdependenz von Produktion, Markt und Konsum in Lebensmittelwarenketten [1. Aufl.]
 9783658307189, 9783658307196

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XIII
Interdependenz von Produktion, Markt und Konsum in Lebensmittelwarenketten (Elmar Kulke, Linda Hering, Julia Fülling, Nina Baur)....Pages 1-27
Front Matter ....Pages 29-29
Die nationale Einbettung globaler Warenketten. Zum Einfluss nationaler Wirtschaftsakteure auf die Ausgestaltung des Lebensmittelmarktes (Sebastian Nessel)....Pages 31-56
Horizontal koordiniert oder vertikal getrieben? (Simon Dombrowski)....Pages 57-88
Eine historisch-institutionalistische Perspektive auf den deutschen Lebensmitteleinzelhandel (Michael Wortmann)....Pages 89-132
Wissen über Landreformen: Die Weltbank und die Widersprüche ihres Wissensregimes (Mihai Varga)....Pages 133-155
Front Matter ....Pages 157-157
Game Changer Handy? (Peter Dannenberg, Madlen Krone)....Pages 159-186
Risiko Gülle – ein Abfallprodukt gefährdet das Globale Produktionsnetzwerk der intensiven Landwirtschaft (Martin Franz, Kim Philip Schumacher)....Pages 187-215
Vom Lagenwein zum off-shore brand. Qualifizierung und Raumproduktion in globalen Produktionsnetzwerken (Robert Pütz, Gerhard Rainer, Christian Steiner)....Pages 217-257
Zur Komplementarität von Warenkette und Lieferkette (Klaus-Peter Buss)....Pages 259-287
Front Matter ....Pages 289-289
Der „gute“ Lebensmittelmarkt (Angela Million)....Pages 291-330
Wenn der Supermarkt nicht genügt (Patrick Schenk)....Pages 331-364
Versorgung mit frischen Lebensmitteln in ländlich geprägten Food Deserts am Beispiel von Schleswig-Holstein (Ulrich Jürgens)....Pages 365-398
Front Matter ....Pages 399-399
Zur Reproduktion der sozialen Sinnform „Mahlzeit“ in Zeiten des globalisierten Lebensmittelmarkts (Jana Rückert-John, Sophia Reis)....Pages 401-419
„(No) One-fits-all“ – Eine ernährungssoziologische Analyse zur Beeinflussung des Lebensmittelmarkts durch Millennials (Daniel Kofahl, Benedikt Jahnke)....Pages 421-447
Front Matter ....Pages 449-449
Food Crime – Organisierte und organisationale Kriminalität in der Lebensmittelproduktion (Markus Pohlmann)....Pages 451-485
Waren, Wissen und „Raum“: Die Dunklen Seiten globaler Lieferketten im Lebensmittelhandel (Stefan Ouma)....Pages 487-516
Was wissen wir über die ökologischen Wirkungen des privaten Konsums? Anmerkungen zum Stand der Forschung und den Problemen des „Fußabdruck-Denkens“ (Roland Bogun)....Pages 517-560
Wie übernehmen Unternehmen Verantwortung in globalen Zulieferketten? Eine explorative Analyse der „Supply Chain Responsibility“ des schweizerischen Lebensmitteleinzelhandels (Sebastian Koos, Leonie Kattermann)....Pages 561-588

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Nina Baur · Julia Fülling Linda Hering · Elmar Kulke Hrsg.

Waren – Wissen – Raum Interdependenz von Produktion, Markt und Konsum in Lebensmittelwarenketten

Waren – Wissen – Raum

Nina Baur · Julia Fülling · Linda Hering · Elmar Kulke (Hrsg.)

Waren – Wissen – Raum Interdependenz von Produktion, Markt und Konsum in Lebensmittelwarenketten

Hrsg. Nina Baur Technische Universität Berlin Berlin, Deutschland

Julia Fülling Humboldt Universität zu Berlin Berlin, Deutschland

Linda Hering Technische Universität Berlin Berlin, Deutschland

Elmar Kulke Humboldt-Universität zu Berlin Berlin, Deutschland

Der Sammelband wurde aus Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) innerhalb des Sonderforschungsbereichs SFB 1265 ‚Re-Figuration von Räumen‘ finanziert. Er basiert auf den Präsentationen und Diskussionen eines themenbezogenen Workshops des Teilprojekt A03 ‚Waren und Wissen. Raumwissen von Konsumenten und Produzenten‘. (https://urldefense.proofpoint.com/v2/url?u=https-3A__www.sfb1265. de_teilprojekte_waren-2Dund-2Dwissen_&d=DwIGaQ&c=vh6FgFnduejNhPPD0fl_yRa SfZy8CWbWnIf4XJhSqx8&r=zjZ3M5KbUiLuasGQDa1I1baW7r9hwHeIBPbeHliAcK7 1Ci9ODiBny-YIFqPWfhKM&m=KzaAMWoCwLBg4z9U35OClpMUpdEgQaavXmjvu bvdZ5c&s=5gogPoCzAlxgMcl5MTZmldUDN9H8GCM8C4xNZpJthh8&e=)

ISBN 978-3-658-30718-9 ISBN 978-3-658-30719-6  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30719-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Cori Antonia Mackrodt Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis

Interdependenz von Produktion, Markt und Konsum in Lebensmittelwarenketten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Elmar Kulke, Linda Hering, Julia Fülling und Nina Baur Institutionelle Rahmenbedingungen und historische Entwicklung Die nationale Einbettung globaler Warenketten. Zum Einfluss nationaler Wirtschaftsakteure auf die Ausgestaltung des Lebensmittelmarktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Sebastian Nessel Horizontal koordiniert oder vertikal getrieben?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Simon Dombrowski Eine historisch-institutionalistische Perspektive auf den deutschen Lebensmitteleinzelhandel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Michael Wortmann Wissen über Landreformen: Die Weltbank und die Widersprüche ihres Wissensregimes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Mihai Varga Produktionskontext Game Changer Handy?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Peter Dannenberg und Madlen Krone

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Risiko Gülle – ein Abfallprodukt gefährdet das Globale Produktionsnetzwerk der intensiven Landwirtschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Martin Franz und Kim Philip Schumacher Vom Lagenwein zum off-shore brand. Qualifizierung und Raumproduktion in globalen Produktionsnetzwerken. . . . . . . . . . . . . . . . 217 Robert Pütz, Gerhard Rainer und Christian Steiner Zur Komplementarität von Warenkette und Lieferkette. . . . . . . . . . . . . . 259 Klaus-Peter Buss Kontext der Marktentnahme Der „gute“ Lebensmittelmarkt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Angela Million Wenn der Supermarkt nicht genügt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Patrick Schenk Versorgung mit frischen Lebensmitteln in ländlich geprägten Food Deserts am Beispiel von Schleswig-Holstein. . . . . . . . . . . 365 Ulrich Jürgens Verwendungskontext Zur Reproduktion der sozialen Sinnform „Mahlzeit“ in Zeiten des globalisierten Lebensmittelmarkts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Jana Rückert-John und Sophia Reis „(No) One-fits-all“ – Eine ernährungssoziologische Analyse zur Beeinflussung des Lebensmittelmarkts durch Millennials. . . . . . . . . . 421 Daniel Kofahl und Benedikt Jahnke Kehrseiten – Zwischen Verantwortung und Profitstreben Food Crime – Organisierte und organisationale Kriminalität in der Lebensmittelproduktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 Markus Pohlmann Waren, Wissen und „Raum“: Die Dunklen Seiten globaler Lieferketten im Lebensmittelhandel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Stefan Ouma

Inhaltsverzeichnis

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Was wissen wir über die ökologischen Wirkungen des privaten Konsums? Anmerkungen zum Stand der Forschung und den Problemen des „Fußabdruck-Denkens“. . . . . . . . . . . 517 Roland Bogun Wie übernehmen Unternehmen Verantwortung in globalen Zulieferketten? Eine explorative Analyse der „Supply Chain Responsibility“ des schweizerischen Lebensmitteleinzelhandels. . . . . . . . 561 Sebastian Koos und Leonie Kattermann

Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Über die Herausgeber Nina Baur  ist Professorin für Methoden der empirischen Sozialforschung an der Technischen Universität Berlin, Leiterin des Global Center of Spatial Methods for Urban Sustainability (GCSMUS) und Vorstandsmitglied des SFB 1265 ­„Re-Figuration von Räumen“. Forschungsschwerpunkte: Marktsoziologie (insbesondere Arbeitsmärkte und Konsumgütermärkte); Soziologie der Prozesse, Innovationen und Risiken; Raumsoziologie; Methoden der empirischen Sozialforschung (insbesondere prozessorientierte Methodologie, Methoden der Raumforschung und Mixed Methods). Publikationen: Baur, N. Hering, L. (2017). Learning from the past. How local economic conventions influence responses to global crises. Human Figurations: Longterm Perspectives on the Human Condition 6(2). Permalink: http://hdl.handle. net/2027/spo.11217607.0006.208. Heidenreich, M. & Baur, N. (2015). Locations of corporate headquarters in Europe: Between inertia and co-evolution. In S. Lundan (Hrsg.) Transnational corporations and transnational governance. The cost of crossing borders in the global economy (S. 177‒207). Basingstoke: Palgrave. https://doi. org/10.1057/9781137467690_7. Baur, N. (2014). Lokale Variation und Grenzen der Ökonomisierung. Eine figurationssoziologische Perspektive auf das Verhältnis von Ökonomisierung

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Herausgeber- und Autorenverzeichnis

und Raum (119‒129). Soziale Welt, 65(1). https://doi.org/10.5771/0038-60732014-1-119. Baur, N., Löw, M., Hering, L., Raschke, A. L. & Stoll, F. (2014). Die Rationalität lokaler Wirtschaftspraktiken im Friseurwesen. Der Beitrag der „Ökonomie der Konventionen“ zur Erklärung räumlicher Unterschiede wirtschaftlichen Handelns. In D. Bögenhold (Hrsg.) Soziologie des Wirtschaftlichen: Alte und neue Fragen (S. 299‒327). Wiesbaden: Springer Fachmedien. https://doi. org/10.1007/978-3-658-03545-7_12. Webseite: www.mes.tu-berlin.de/Baur Julia Fülling  ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Geographischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Wirtschafts- und Kulturgeographie; Geographien der Produktion und des Konsums; Agro-Food-Studie Publikationen: Baur, N., Fülling, J., Hering, L., & Vogl. S. (2019). Die Verzahnung von Arbeit und Konsum. Wechselwirkungen zwischen der Transformation der Erwerbsarbeit und den Transformationen der milieuspezifischen innerfamiliären Arbeitsteilung am Beispiel der Ernährung. In S. Ernst & G. Becke (Hrsg.), Transformationen der Arbeitsgesellschaft Prozess- und figurationstheoretische Beiträge (S. 105‒132). Wiesbaden: Springer VS. Fülling, J., & Hering, L. (2020). Markt – Quartier – Milieu. Der Berliner Lebensmitteleinzelhandel aus interdisziplinärer Perspektive. Arbeitsbericht des Geographischen Instituts der Humboldt-Universität zu Berlin, 197. Berlin. Webseite: https://www.sfb1265.de/personen/julia-fuelling/ Linda Hering ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt „Waren und Wissen: Raumwissen von Konsumenten und Händlern“ des SFB 1265 ­„Re-Figuration von Räumen“. Forschungsschwerpunkte: Agro-Food Studies, Historische Sozialforschung, Raum- und Wirtschaftssoziologie (insbesondere Räume des Konsums). Publikationen: Baur, N., Fülling, J., Hering, L., & Vogl. S. (2019). Die Verzahnung von Arbeit und Konsum. Wechselwirkungen zwischen der Transformation der Erwerbsarbeit und den Transformationen der milieuspezifischen innerfamiliären

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Arbeitsteilung am Beispiel der Ernährung. In S. Ernst & G. Becke (Hrsg.), Transformationen der Arbeitsgesellschaft Prozess- und figurationstheoretische Beiträge (S. 105–132). Wiesbaden: Springer VS. Fülling, J., & Hering, L. (2020). Markt – Quartier – Milieu. Der Berliner Lebensmitteleinzelhandel aus interdisziplinärer Perspektive. Arbeitsbericht des Geographischen Instituts der Humboldt-Universität zu Berlin, 197. Berlin. Hering, L., & Baur, N. (2019). Die Verschränkung von Lokalem und Globalen an Einkaufsorten. Das Verhältnis von Forminvestitionen, Intermediären und Raumwirkungen in Produktion, Distribution und Konsum von Lebensmitteln in Deutschland und Thailand. Beitrag im Veröffentlichungsband des DGS Kongress 2018. Thierbach, C., Raschke, A. L., Hering, L., & Baur, N. (2014). Spatial methods. Special Issue der Zeitschrift “Historical Social Research” (HSR), 39, 7–50. Webseite: https://www.sfb1265.de/personen/linda-hering/ Elmar Kulke ist Professor für Wirtschaftsgeographie am Geographischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Dienstleistungsgeographie (vor allem Einzelhandel und unternehmensorientierte Dienstleistungen), Globale Warenketten Publikationen: Dannenberg, P., & Kulke, E. (2014). Dynamics in agricultural value chains. DIE ERDE – Journal of the Geographical Society of Berlin, 145(3), 121–126. Kulke, E., & Suwala, L. (2016). Internationalisation of grocery retailing in the global south: General conditions, formats and spatial expansion patterns of selected MNEs. DIE ERDE – Journal of the Geographical Society of Berlin, 147(3), 187–200. Kulke, E. (2017). Wirtschaftsgeographie (6.  Aufl.). Paderborn: Ferdinand Schöningh. Kulke, E. (2019). Online-Einzelhandel in Deutschland. Entwicklung und Wirkungen des E-Commerce. Praxis Geographie, 12, 8‒13. Kulke, E. (2020). Zentren und Zentrensysteme, Dynamik von Zentrensystemen. In B. Hahn & C. Neiberger (Hrsg.), Geographische Handelsforschung (S. 171–192). Heidelberg: Springer VS. Webseite: https://www.geographie.hu-berlin.de/de/Members/kulke_elmar/

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Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Autorenverzeichnis Nina Baur  Technische Universität Berlin, Berlin, Deutschland Roland Bogun  Universität Bremen, Bremen, Deutschland Klaus-Peter Buss  Georg-August-Universität Göttingen, Forschungsinstitut (SOFI), Göttingen, Deutschland

Soziologisches

Peter Dannenberg  Dannenberg, Köln, Deutschland Simon Dombrowski  Technische Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland Martin Franz  Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland Julia Fülling  Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland Linda Hering  Technische Universität Berlin, Berlin, Deutschland Benedikt Jahnke  Universität Kassel, Kassel, Deutschland Ulrich Jürgens  Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Kiel, Deutschland Leonie Kattermann  Universität Konstanz, Konstanz, Deutschland Daniel Kofahl  Technische Universität Berlin, Berlin, Deutschland Sebastian Koos  Universität Konstanz, Konstanz, Deutschland Madlen Krone  Universität zu Köln, Köln, Deutschland Elmar Kulke  Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland Angela Million  Technische Universität Berlin, Berlin, Deutschland Sebastian Nessel  Universität Graz, Graz, Österreich Stefan Ouma  Universität Bayreuth, Bayreuth, Deutschland Markus Pohlmann  Universität Heidelberg, Max-Weber-Institut für Soziologie, Heidelberg, Deutschland Robert Pütz  Goethe Universität Frankfurt am Main, Frankfurt, Deutschland Gerhard Rainer  Katholische Deutschland

Universität

Eichstätt-Ingolstadt,

Sophia Reis  Hochschule Fulda, Fulda, Deutschland Jana Rückert-John  Hochschule Fulda, Fulda, Deutschland

Ingolstadt,

Herausgeber- und Autorenverzeichnis

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Patrick Schenk  Universität Luzern, Luzern, Schweiz Kim Philip Schumacher  Universität Vechta, Vechta, Deutschland Christian Steiner Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ingolstadt, Deutschland Mihai Varga  Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland Michael Wortmann Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, Berlin, Deutschland

Interdependenz von Produktion, Markt und Konsum in Lebensmittelwarenketten Einleitung Elmar Kulke, Linda Hering, Julia Fülling und Nina Baur

Diese Publikation entstand im Rahmen des Projekts „Waren und Wissen“ (A03) des Sonderforschungsbereichs „Re-Figuration von Räumen“ (SFB 1265), der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wurde (Projektnummer 290045248)In der Wirtschaftsgeographie und der Wirtschaftssoziologie sind Lebensmittel ein wichtiger Gegenstand wissenschaftlicher Analysen. Während die Wirtschaftsgeographie dabei eher die Wertschöpfungsketten und den Einzelhandel betrachtet, stellen in der Wirtschaftssoziologie Untersuchungen zu Ernährung und Konsum einen Arbeitsschwerpunkt dar. Durch zahlreiche Studien in beiden Disziplinen gibt es bereits einen vertieften Kenntnisstand zu unterschiedlichen Aspekten des Anbaus, der Logistik, des Vertriebs, des Kaufs und des Konsums von Lebensmitteln. Weniger behandelt wurde dagegen bisher das

E. Kulke (*) · J. Fülling  Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Fülling E-Mail: [email protected] L. Hering · N. Baur  Technische Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] N. Baur E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Baur et al. (Hrsg.), Waren – Wissen – Raum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30719-6_1

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Element des (Raum-)Wissens, welches mit der Ware verbunden ist, und inwieweit dieses die Warenzirkulation sowie Produktion, Markt und Verwendung prägt. Mit dem Themenfeld beschäftigt sich der vorliegende Band.

1 Warenketten als komplexe Interdependenzketten Wirtschaftswissenschaftliche Ansätze arbeiten meist mit Marktmodellen, welche die Koordination von Angebot und Nachfrage abstrakt beschreiben. Sowohl Wirtschaftsgeographie als auch Wirtschaftssoziologie kritisieren, dass solche Marktmodelle nur sehr bedingt geeignet sind, um in der sozialen Wirklichkeit tatsächlich ablaufendes wirtschaftliches Geschehen abzubilden. Die Frage, wie reale Märkte funktionieren, welche Dynamiken sie warum aufweisen sowie wann und warum sie teils erstaunliche Stabilitäten zeigen, sind daher zentrale Fragestellungen von Wirtschaftsgeographie und Wirtschaftssoziologie. Beide Forschungsfelder betrachten Konsumgütermärkte als dynamische, sehr lange und komplexe Interdependenzketten aus individuellen und kollektiven Akteuren, die in soziale Strukturen eingebettet und deren Handlungen durch eine Spannung aus Kooperation und Konkurrenz gekennzeichnet sind. Innerhalb einer Akteursgruppe (z. B. Produzenten, Händler oder Konsumenten) herrscht Konkurrenz, wobei die Wettbewerbsmechanismen jeweils andere sind. So geht es bei Konsumenten um klassische sozialstrukturelle Mechanismen wie Distinktion und Anerkennung, bei Produzenten um das Positionieren auf dem Markt bzw. dem Gewinnen von Marktmacht. Entlang der Wertschöpfungskette („Supply Chain“) kooperieren die Akteure; Zulieferer, Produzenten, Handel und Konsumenten produzieren, vertreiben und tauschen Güter (Baur, 2008). Dabei ist zu beachten, dass diese Bezeichnungen selbst wiederum Sammelbegriffe sind. So verbergen sich hinter dem Begriff „Produzenten“ i. d. R. sehr komplexe Akteursgruppen, die sowohl eine organisationale, als auch eine räumliche Struktur aufweisen, wobei sich die empirische Forschung der Wirtschafts- und Organisationssoziologie bislang stärker auf die organisationale, die der Wirtschaftsgeographie stärker auf die räumliche Struktur fokussiert hat. Unabhängig vom thematischen Schwerpunkt zeigt der Forschungsstand beider Arbeitsgebiete, dass selbst bei so verderblichen Produkten wie Frischgemüse die Warenkette zwar auch heute noch bisweilen sehr kurz sein kann – etwa im Fall des Gemüseanbaus im eigenen Garten –, aber aufgrund moderner Transportsysteme meist translokal – d. h. von lokal über national bis zu international bzw. global – organisiert ist. Lebensmittel im Allgemeinen und frisches Obst und

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Gemüse im Besonderen eignen sich in hohem Maße, um die hieraus entstehende Komplexität von Interaktionsordnungen empirisch und theoretisch herauszuarbeiten, da sie durch die Parallelität von lokalen, kurzen Wertschöpfungsketten (wie etwa im Fall des bereits genannten Gemüseanbaus im eigenen Garten) und langen Wertschöpfungsketten des globalen Agro-Business geprägt sind. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Lebensmittel – auf die sich dieser Band als empirisches Anwendungsbeispiel konzentriert – als Gegenstand der Einzelhandelsforschung und in der Wertschöpfungskettenforschung seit längerer Zeit integraler Bestandteil der Wirtschaftsgeographie sind. In der Soziologie wird dieses Thema in den letzten Jahren vermehrt in der Ernährungs-, Konsum- und Wirtschaftssoziologie aufgegriffen (Ermann, Langthaler, Penker, & Schermer, 2018). Zahlreiche Studien aus beiden Disziplinen beschäftigen sich mit unterschiedlichen Aspekten des Anbaus, der Logistik, des Vertriebs und des Konsums von Lebensmitteln. Insgesamt zeigt der Forschungsstand, dass sich die Warenkette grob in drei Teilkontexte untergliedert, in denen jeweils sehr unterschiedliche Akteure interagieren: 1. Im Produktionskontext werden Waren hergestellt und an die Verkaufsstellen geliefert. Hierzu koordinieren sich die Akteure der Wertschöpfungskette, bestehend aus Zulieferern, Herstellern, Veredlern, Logistik- und Handelsunternehmen (im Folgenden kurz „Produzenten“). Dabei kommen Waren von vielen verschiedenen Orten und werden teilweise über lange Strecken transportiert (Dannenberg & Kulke, 2014; Kulke, 2007; Kulke & Suwala, 2016). 2. Im Kontext der Marktentnahme werden die Waren verkauft bzw. gekauft. Hierzu interagiert der Handel entweder direkt mit seinen Kunden (z. B. auf dem Wochenmarkt) oder indirekt über die Platzierung der Waren (etwa im Supermarkt). Zumindest bei Frischgemüse erfolgt der Einkauf nach wie vor überwiegend an einem konkreten Ort und meist in dem Quartier, in dem der Konsument wohnt, d. h. in einem näheren Umkreis um den Wohnort (Kulke, 2014; Martin, 2006; Reiher & Sippel, 2015). 3. Dem Einkauf folgt der eigentliche Konsum im Verwendungskontext. So müssen die Verbraucher etwa Lebensmittel nach dem Kauf nochmals transportieren, lagern, zu Mahlzeiten weiterverarbeiten, dann verzehren sowie die Abfälle entsorgen (Wiswede, 1972; Zelizer, 2005). Die Verwendung erfolgt nach wie vor überwiegend lokal (Reiher & Sippel,2015) und hier interagieren die Akteure der Alltagswelt (Freunde, Familie bzw. Haushalt, soziales Milieu) (Lüdtke, 2000).

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Entsprechend sind die sich hieraus ergebenden Interdependenzketten sehr komplex und bestehen oft aus vielen Akteuren. Zudem interagieren die Akteure zwischen den Kontexten häufig nicht direkt miteinander, sondern vermittelt über die Ware; nur sie wandert durch alle Stufen der Wertschöpfungskette.

2 Die Relevanz von Wissen auf Märkten Der Forschungsstand zeigt, dass für die Konstitution der Wertschöpfungskette neben finanziellen Transaktionen und der (Markt-)Macht der Akteure das Wissen über die Waren bzw. das Produkt eine wichtige aber bisher wenig betrachtete Rolle spielt. Dieses Wissen über die Ware bzw. das Produkt umfasst dabei neben Qualität und Preis auch die Art der Herstellung (z. B. konventionell, ökologisch), die Transport- und Lagerfähigkeit, Elemente der Organisation der Kette (z. B. aus der Region, Fair Trade mit angemessener Beteiligung der Bauern im Globalen Süden) oder die Kontextbedingungen in den Herstellungsregionen (z. B. Wasserverbrauch in Südspanien, Kinderarbeit im Globalen Süden). „Wissen“ als wissenschaftliches Konzept wird dabei sowohl inner- als auch interdisziplinär ganz unterschiedlich in die theoretischen Überlegungen einbezogen. Die Soziologie argumentiert üblicherweise, dass Menschen erstens Handlungsziele (Wollen) haben. Während in den Wirtschaftswissenschaften diese Handlungsziele üblicherweise als „ceteris paribus“-Bedingungen modelliert werden, hat die Soziologie in zahlreichen Studien gezeigt, dass Handlungsziele unterschiedlich sein können und dass auch in wirtschaftlichem Handeln oft unklar ist, welche Ziele dieses Handeln hat und worin der Erfolg des Handelns besteht (Baur 2008; Baur, Löw, Hering, Raschke, & Stoll, 2014). Dieses sogenannte „Wertproblem“ rückt in den vergangenen zwei Jahrzehnten vor allem im Rahmen des wirtschaftssoziologischen Ansatzes der „Economics of Convention“ (EC) (Diaz-Bone, 2018) verstärkt in den Fokus auch der empirischen Forschung. Zweitens argumentiert die Soziologie, dass diese Ziele mit bestimmten Mitteln verfolgt werden. Allerdings existiert – selbst wenn das Handlungsziel klar ist und die Akteure über vollständige Informationen verfügen – kein einziges bestes Mittel, um dieses Ziel zu erreichen (Baur, 2008; Engels & Knoll, 2012). Welche Mittel als geeignet und legitim erachtet werden, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, hängt daher vom Wissen der Akteure ab. Während die klassischen wirtschaftswissenschaftlichen Theorien von einem allwissenden Akteur ausgehen („homo oeconomicus“), verweisen soziologische Ansätze

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darauf, dass Wissensbestände nicht nur individuell unterschiedlich sind, sondern sich auch systematisch – etwa nach verschiedenen sozialen Gruppen und Milieus (Schulze, 1996) – oder räumlich (Baur et al., 2014) unterscheiden. Der bereits genannte Ansatz der Economics of Convention (EC), der sich innerhalb der Soziologie am intensivsten mit der Art und Relevanz von Wissen in wirtschaftlichem Handeln befasst hat, arbeitet in diesem Rahmen mit dem Konzept der „Konventionen“, die als kulturell etablierte Koordinationsformen Unsicherheit in ökonomischen Handelssituationen auflösen (Diaz-Bone, 2018, S. 3 f.) und mit besonderen Wissensbeständen korrelieren. Aber auch zahlreiche andere soziologische Ansätze unterstreichen die Relevanz des Wissens für soziales, einschließlich wirtschaftliches Handeln. So hat etwa die Praxistheorie zwar ein schwaches Wissensverständnis, betont aber in diesem Kontext die Relevanz des impliziten Wissens („tacit knowledge“) als unbewussten Teil des sozial strukturierten Habitus (Knoblauch, 2017, S. 226). In der Allgemeinen Soziologie ist der Wissensbegriff am stärksten in der Wissenssoziologie ausgearbeitet. Dabei umfasst „Wissen“ für Knoblauch und Tuma (2015, S. 379, Betonung durch Herausgeber): „nicht nur explizite und sprachliche Formen, sondern auch ‚implizite‘ leibliche (z. B. ‚Sehgemeinschaften‘), habitualisierte (‚Körpertechniken‘) und routinisierte (‚Communities of Practice‘) Formen bis hin zu den basalen lebensweltlichen Kategorien von Zeit und Raum. Wissen wird in Zeichen, Sprache, Artefakten und Technologien objektiviert, die im Handeln jeweils situativ realisiert werden. Diese Objektivationen bilden die Grundlage für dauerhafte Wissensordnungen, die von sozialen Institutionen getragen und durch deren Macht gestützt oder gestürzt werden.“

Einerseits ist in diesem wissenssoziologischen Verständnis (Knoblauch & Tuma, 2015) Wissen an Menschen als Akteure und somit deren Handlungen gekoppelt. Anderseits wird wiederum auch die Verfestigung von geteilten Wissenselementen, beispielsweise als physisches Ensemble, mit in die Betrachtungen einbezogen. Weiterhin schließt Wissen in der Soziologie auch explizit Nichtwissen ein, und dieses kann auch handlungsrelevant sein, weshalb es im Kontext dieses Bandes auch als wichtiger Bestandteil und eine relevante Kategorie zur Untersuchung von Wertschöpfungsketten gilt. Nichtwissen soll dabei nicht als die Kehrseite des Wissens, sondern als Dimension des Wissens verstanden werden, insofern es gewusst und reflektiert wird. Nach Gross (2007, S. 751–754) lassen sich verschiedene Kategorien des (Nicht-)Wissens unterscheiden. Sie lassen sich differenzieren in Abhängigkeit vom Grad der Reflexion des Individuums über

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die Grenzen des eigenen (Nicht-)Wissens und der Art und Weise, wie dieses für zukünftige Handlungen relevant gemacht, ignoriert oder erweitert wird. Die Organisationssoziologin McGoey (2012) hebt zugleich die Funktion des Nichtwissens im Sinne einer strategischen Ignoranz („strategic ignorance“) hervor, die einen störungs- und irritationsfreien Ablauf von Routinen ermöglicht, Komplexität reduziert oder dazu dienen kann, Verantwortung von sich zu schieben. Die wachsende Komplexität globaler Lieferketten macht es dabei – aus Perspektive aller beteiligten Akteure – unmöglich die gesamte Warenkette zu überblicken, sodass stets blinde Flecken, Unsicherheiten und unbekannte Faktoren bleiben (siehe Ouma in diesem Band). Ibert, Hess, Kleibert, Müller und Power (2019) haben auf Grundlage dieses Befundes das Konzept der „Geographien der Dissoziation“ („Geographies of Dissociation“) entwickelt. Ihre zentrale These ist, dass nicht nur die Verknüpfung von Waren mit positiven Attributen zur Konstruktion ihres symbolischen Wertes beiträgt (Pike, 2009), sondern auch das Ausblenden oder Überlagern negativer, unerwünschter oder unvorteilhafter Attribute, wie bspw. bestimmte Aspekte der Wertschöpfung (siehe dazu Pütz, Reiner, Steiner in diesem Band). Die meisten soziologischen Theorien gehen – wenn sie Wissen behandeln – von einer direkten Interaktionssituation mit sehr wenigen Akteuren aus. Warenketten sind aber sehr vielschichtige, komplexe Interaktionsketten (Elias, 1997). Erinnern wir uns nun daran, dass Wissen in modernen Gesellschaften zu einer zentralen Ressource avanciert ist (vgl. Ausführungen zur Wissensgesellschaft Knoblauch, 2015) und damit ganz wesentlich zur Schaffung und Erhaltung wie auch der Herausforderung von Machtkonstellationen genutzt wird. Mit fortschreitender räumlicher Ausdifferenzierung der Warenketten und steigender Vielfalt der gleichen angebotenen Produkte im Einzelhandel (parallel werden konventionell und ökologisch erzeugte Produkte, Waren aus der Region und dem Globalen Süden sowie Fair Trade Produkte angeboten) wird das (Raum-)Wissen für Produzenten und Konsumenten wichtiger und kann zur ReFiguration der Warenkette beitragen. Eine differenzierte Auseinandersetzung darüber, wer wann welches Wissen wie und ggf. gegen wen einsetzt bzw. wie Wissen verschleiert oder gar negiert wird, ist besonders in im Feld der Lebensmittelversorgung von großer Bedeutung. Basierend auf diesen Überlegungen verfolgen wir als Herausgeber den theoretischen Ansatz, dass Teilbereiche unseres Wissens einen räumlichen Bezug bzw. eine räumliche Begründung haben. Wir gehen davon aus, dass Akteure durch die Berücksichtigung von räumlichen Aspekten neue Erkenntnisse zu Wissensprozessen erlangen. Im Folgenden sprechen wir deshalb von Raumwissen, welches die Verschränkung von Wissen und räumlich-materiellen Aspekten darstellt.

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3 (Raum-)Wissen und Warenzirkulation Das Handeln auf Märkten, verstanden als voraussetzungsvolle Arenen kommunikativen Handels, ist für die Akteure mit Unsicherheit bzw. Ungewissheit verbunden. Ein Lösungsansatz, um diesen Unsicherheiten zu begegnen, ist Ordnung zu schaffen. Ordnung setzt ein gewisses Maß an Wissen voraus, um situationsangemessen handeln zu können (Aspers, 2015), sowie um in Situationen von Kritik eine universelle öffentliche auf Gemeinwohlvorstellungen rekurrierende Rechtfertigung zu geben (Boltanski und Thévenot, 2007). Um Ordnung in Märkten zu schaffen, müssen Lösungen für drei grundlegende Problemen gefunden werden. Neben dem Problem des Wettbewerbs, das wir oben bereits angesprochen haben, ergeben sich für die Warenzirkulation darüber hinaus zwei weitere zentrale Probleme (Beckert, 2007, 2009): 1. Das „Koordinationsproblem“ meint, dass die Marktakteure die Komplexität der Warenkette handhaben und sich untereinander koordinieren müssen, um die Warenzirkulation aufrechtzuerhalten, weil Waren teilweise über sehr weite Strecken transportiert werden müssen (Baur 2014; Gereffi, Humphrey, & Sturgeon, 2005). Dieses leitet sich aus dem unterschiedlichen Wissen ab, weil die meisten Akteure i. d. R. die Kette nicht in ihrer Gänze überblicken (können). 2. Das „Wertproblem“ basiert auf der Beobachtung, dass – trotz Globalisierung der Produktion – weder alles überall angeboten wird (es also dennoch keine globale Verfügbarkeit aller Waren gibt) noch alles überall (zum gleichen Preis) gekauft wird (es also keine global einheitliche Nachfrage gibt) (Pike, 2009). Dieses leitet sich aus dem unterschiedlichen Wollen ab, weil die Akteure unterschiedliche Handlungsziele (Konsuminteressen) haben. Daraus ergibt sich die Frage, welche Güter überhaupt marktfähig und damit als Waren handelbar werden (Beckert, 2009; Callon, Méadel, & Rabeharisoa, 2002). Neuere wirtschaftssoziologische Ansätze – etwa die Economics of Conventions (EC) – zeigen übereinstimmend, dass zur Lösung dieser Probleme spezifische Wissensbestände (sogenannte „Qualitätskonventionen“) angewandt werden (Diaz-Bone, 2018). Es liegt nahe, dass dieses Wissen auch Raumwissen beinhalten muss, weil die Marktakteure unterschiedliche Orte und Räume der Produktion, des Kaufs und des Konsums sinnvoll miteinander verknüpfen und zu Räumen synthetisieren (vgl. Löw, 2001). Ob und welche Rolle Raumwissen für die Aufrechterhaltung

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und Raumanordnung der Warenzirkulation spielt und bei wem das Raumwissen inhaltlich wie ausgestaltet ist, ist in beiden Disziplinen eine Forschungslücke, die bislang noch nicht direkt adressiert wurde. Allerdings existieren einige Befunde, aus denen sich indirekt auf die Bedeutung von Raumwissen schließen lässt. Es ist davon auszugehen, dass zumindest Teilbereiche unseres Wissens einen räumlichen Bezug bzw. eine räumliche Begründung haben, das sogenannte „Raumwissen“. Raumwissen meint das (sozialisierte) Erleben und Erfahren von Raum, die Raumvorstellungen sowie die mit dem Raum verbundenen Emotionen und Affekte. Dies beinhaltet, wie Produzenten und Konsumenten individuell und strukturell unterschiedliche Raumanordnungen im Verkauf und Kauf zugleich zur Wirkung bringen (d. h. polykontextural handeln), welche Rolle die Ware als Wissensträger spielt, also als Objektivation dieses Wissens, und wie sich dieses Raumwissen aktuell infolge der Re-Figuration der Räume verändert. Angelehnt an Norbert Elias’ (1997, org. 1939) Prozesstheorie meint der Begriff „Re-Figuration“ die prozesshafte Umformung räumlicher Anordnungen und Verflechtungen, etwa seit den späten 1960er Jahren (Löw & Knoblauch, 2019). Es ist davon auszugehen, dass Raumwissen Teil des allgemeinen Wissens ist, und dass durch die besondere Berücksichtigung von räumlichen Aspekten neue Erkenntnisse sowohl zu Wissens, als auch zu wirtschaftlichen Prozessen erlangt werden können. Wenn wir im Folgenden von Raumwissen sprechen, betonen wir daher die Verschränkung von Wissen und räumlich-materiellen Aspekten (Fülling & Hering, 2020). Auch wenn man auf die Ware als Träger von Raumwissen fokussiert, können verschiedene räumliche Bezüge gleichzeitig hergestellt werden, indem beispielsweise in dem Moment der Produktauswahl im Laden – bereits die Wahl des Einkaufsortes ist mit unterschiedlichen Entscheidungsprozessen verbunden – Vorstellungen über den Produktionsort relevant gemacht werden können (Fülling & Hering, 2020). Fragt man, welcher Art das Raumwissen ist, so lässt sich festhalten, dass Raumwissen unterschiedliche Referenzpunkte haben kann: Kauft man etwa „Bordeaux“ oder „Champagner“, so wird darauf Bezug genommen, dass die Produkte genau aus dieser Region stammen (Inglis & Gimlin, 2009). Das Raumwissen kann sich jedoch nicht nur auf den Herkunftsort der Ware, sondern auch auf räumliche Dimensionen der Produktionskette selbst beziehen. Kauft man etwa „regionale“ Produkte, entscheidet man sich bewusst für eine räumlich kurze Lieferkette. Außer diesem explizitem Raumwissen (unmittelbare räumliche Zuordnung) kann Raumwissen auch implizit sein; so stammen „Fair Trade“Produkte per Definition aus dem Globalen Süden, was eine lange Lieferkette nach sich zieht. Es kann auch ambivalent bzw. schlicht falsch sein; so zeigen erste empirische Ergebnisse des Forschungsprojektes, dass viele Konsumenten

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mit regionalen Produkten biologischen Anbau verbinden, bzw. von kleineren Produktionseinheiten ausgehen, was aber oftmals nicht der Fall ist. Weiterhin kann Raumwissen mit dem allgemeinen Produktwissen verwoben sein kann. So meint „Bordeaux“ eine bestimmte Weinsorte und „Parmesan“ eine spezifische Käsesorte; und manche Verbraucher vermeiden „Holland-Tomaten“, weil sie auf Basis der Herkunftsbezeichnung eine bestimmte Produktionsweise oder eine geschmackliche Eigenschaften der Ware assoziieren, die sie vermeiden wollen. Es ist entsprechend zu vermuten, dass Raumwissen Bestandteil des allgemeinen Wissens über die Ware ist, und dass je nach Akteur und Kontext Raumwissen mehr oder weniger handlungsrelevant ist oder gar nicht einbezogen wird. Gleichzeitig können dieselben Produkte mitsamt ihren Geographien konsumiert werden, ohne dass die genannten Formen des Raumwissens bei den Konsumenten vorliegen oder von ihnen relevant gemacht werden (Billig, 1999; Cook et al., 2004; Harvey, 1990), bzw. ohne dass den Verbrauchern die entsprechenden Informationen zur Verfügung stehen, oder indem sie ihnen vorenthalten werden (siehe Pütz et al. in diesem Band). Auch auf Seiten der Händler und Produzenten variieren Verteilung und Relevanz des Raumwissens. So sind Warenketten in vielen Fällen von großen Asymmetrien des Wissens und damit auch ungleicher Verteilung von Macht geprägt (Dannenberg & Krone in diesem Band; Gereffi et al., 2005). Während die Position von Produzenten, beispielsweise von Kleinbauern, oftmals von einem Wissensdefizit geprägt ist, ist wie Buss in diesem Band aufzeigt für die Organisation von Transportprozessen kein umfangreiches Wissen über die jeweiligen Waren notwendig, da der Container als Black Box fungiert, durch welche die Komplexität der Interaktion der Marktakteure reduziert wird. Fragt man nach den „Wissensträgern“ des Raumwissens, so deutet der Stand der Forschung darauf hin, dass es (mindestens) vier typische Wissensträger gibt, von denen sich die ersten drei grob den oben genannten Kontexten zuordnen lassen: die Produzenten (Produktionskontext), das Quartier/der Einkaufsort (Kontext der Marktentnahme), die Konsumenten (Verwendungskontext) und die Ware als Objektivation. Letztere wandert im Regelfall durch alle Kontexte und stellt damit ein vermittelndes Element dar.

4 Produktionskontext Für den Produktionskontext haben vor allem die Economics of Convention (DiazBone, 2018; Ouma, 2015) und die Ernährungssoziologie (Barlösius, 2016; Ponte, 2009) gezeigt, dass die an einer spezifischen Warenkette beteiligten Akteure der

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Produktionskette gemeinsam geteilte Wissensbestände ausbilden. Dies ermöglicht es ihnen, die Koordination der Warenkette aufrechtzuerhalten und gleichzeitig eine gemeinsame Qualitätsdefinition auszuhandeln, was wiederum zu typischen Warenketten mit typischen Raumanordnungen führt. Wenn etwa Lebensmittel „handwerklich“ produziert werden, werden diese oft mit seit Jahrhunderten überlieferten Produktionsmethoden in kleinen bis mittelgroßen Familienunternehmen hergestellt und möglichst ohne Zwischenhandel direkt über kleine Läden (Marktstände, Spezialläden) vertrieben (Diaz-Bone, 2018). Händler und Kunden interagieren persönlich, d. h. die Warenketten sind in der Regel kurz und verknüpfen Orte, welche in relativer Nähe zueinander stehen. Dies ist allerdings nur möglich, wenn das Produkt in der Nähe des Absatzortes gedeiht; wenn man etwa in Deutschland Tomaten oder Erdbeeren im Winter essen möchte, die nicht aus dem Gewächshaus stammen, müssen sie aus dem Ausland kommen. Bei der handwerklichen Herstellung soll jedoch dieses Gemüse nicht aus dem Gewächshaus stammen, sondern „sonnengereift“ sein – was nur ein kenntnisreicher Verbraucher überhaupt feststellen kann. Bei „industrieller“ Produktion ist ein „gutes“ Produkt ein solches, das verlässlich einheitlichen Geschmack und konstante Qualität hervorbringt. Die Verantwortung, diese Qualität zu überwachen, obliegt den Produzenten. Hier stellen in der Regel Großunternehmen große Mengen an Waren für den Massengeschmack her und vertreiben diese über große Handelsketten zu günstigen Preisen. Die Produktionskette kann beliebig arbeitsteilig und damit potenziell global sein.

5 Kontext der Marktentnahme 5.1 Das Quartier Für Betriebe des Einzelhandels ist die Entscheidung für oder gegen einen Standort äußerst relevant. Wichtige Standortfaktoren sind nach wie vor Einwohnerzahl, Einkommen und verkehrliche Erreichbarkeit der direkten Umgebung. Im Einzelhandel verlieren allerdings klassische Erklärungsmodelle wie die Nearest-Center-Bindung an Bedeutung, also der Produkterwerb im nächstgelegenen Ladengeschäft (Kulke, 2005). Verschiedene Studien konstatieren, dass bei Lebensmitteln die Marktentnahme meist (noch) an einem konkreten Einkaufsort stattfindet, der in der Regel im Quartier liegt, in dem der Verbraucher wohnt (Martin, 2006; Weiß, 2005, 2006). In urbanen Räumen lässt sich gegenwärtig eine starke residenzielle Segregation beobachten, die vor allem durch Prozesse der Gentrifizierung geprägt ist (Helbrecht, 2016). Durch sie ergibt sich

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ein Zusammenhang zwischen der baulichen Struktur des Quartiers und der Einkaufsmobilität der Bewohner (Fülling & Hering, 2020). Weiterhin prägt die Zugehörigkeit zu soziodemographischen Gruppen das Einkaufsverhalten (Martin, 2012). Ferner spielen Infrastruktureinrichtungen eine Rolle und erklären, dass z. B. spezielle Geschäfte in bestimmten Lagen eher zu finden sind als in anderen. An diesen ist die „kritische Masse“ der zu gewinnenden Konsumenten erreicht, um bspw. Delikatessenläden rentabel zu betreiben (Otte, 2013). Soziodemographische Prägung kann dazu führen, dass dieselbe Supermarktkette unterschiedliche Sortimente in verschiedenen Quartieren anbietet. In jedem Quartier gestaltet sich damit die Einzelhandelsstruktur sehr verschieden, wie beispielsweise eine jüngst durchgeführte Studie zu Berlin veranschaulicht (Fülling & Hering, 2020).

5.2 Der Einkaufsort (Laden/Marktstand) Am Einkaufsort treffen zwar Konsumenten und Händler aufeinander, kommunizieren aber in der Regel nicht direkt miteinander (Hellmann, 2014), sondern indirekt, also vermittelt über z. B. Medienprodukte, Verkaufszahlen, Ladengestaltung und die Waren. Dabei lässt sich zeigen, dass sich Verkäufer und Käufer aneinander orientieren und koordinieren, indem sie gemeinsame Wissensbestände bzw. Koordinationslogiken – Konventionen (Baur et al., 2014) – entwickeln. Konsumentscheidungen werden hierbei durch den Ort des Einkaufs geprägt. So bestand ein Fokus der bisherigen Forschung darin, wie Konsumentscheidungen am Einkaufsort erfolgen und wie diese etwa von Ladengestaltung, Produktplatzierung und Händlerverhalten abhängen (Schröder, 2012). Dabei lässt sich bereits seit den 1990er Jahren eine zunehmende Erlebnisorientierung des Verbraucherverhaltens feststellen (Schulze, 1996), die verbunden ist mit der Ausgestaltung von Einkaufsstätten zu Erlebnisstätten (Hellmann & Zurstiege, 2008). Massey (1993) zeigt am Beispiel von Londons Kilburn High Road, dass das Einkaufen nicht nur ein lokaler Akt ist, sondern in globale, netzwerkförmige Wirtschaftsräume sowie in transnationale Zirkulationen zwischen Anwohnern, Besuchern und ihren Sprachen, Religionen und Konsumkulturen eingebettet ist. Insgesamt lässt sich festhalten, dass hinsichtlich des kommunikativen Handelns zwischen Händlern und Konsumenten am Einkaufsort und in Bezug auf die Raumproduktion der Waren noch ein Kenntnisdefizit besteht; eine vergleichende Studie von Schenk (in diesem Band) belegt wie erkenntnisreich ein solcher Zugang ist.

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6 Verwendungskontext Während sich aus dem Forschungsstand zum Produktionskontext Hypothesen zum Raumwissen und dessen Relevanz für die Raumanordnung der Warenzirkulation ableiten lassen, existiert für den Verwendungskontext bisher keine systematische Forschung zum Raumwissen; es gibt allerdings zahlreiche unverbundene Einzelbefunde, aus denen sich zumindest indirekt schließen lässt, welcher Art dieses Raumwissen sein könnte. Einerseits lässt sich eine ganze Reihe von globalen Großtrends beobachten, die auf Translokalisierung und globale Homogenisierung des Konsums hindeuten. Hierzu gehören die sogenannte „McDonaldisierung“ – also die Gleichzeitigkeit von Verwestlichung (vor allem Amerikanisierung), Homogenisierung und Standardisierung (Ritzer, Bögenhold, Pusch, & Völkel, 2000) –, die eher auf kurzfristige Bedürfnisbefriedigung angelegte Gegenwartsorientierung und die eher langfristigen Orientierungen auf Gesundheit und Schönheit oder Umweltaspekte (Hellmann, 2014). Anderseits ist Konsum zutiefst in das Alltagsleben eingebettet und zentraler Bestandteil des Lebensstils (Baur & Akremi, 2012; Schulze, 1996). So ist etwa nicht allen Menschen Essen gleich wichtig (Barlösius, 2016; Hayn, 2005), was zu unterschiedlichen Mustern der Marktentnahme führt, auf jeweils spezifische Weise die Bedeutung des lokalen und konkreten Interaktionskontexts verstärkt und damit nicht nur der Homogenisierung des Konsums entgegenwirkt, sondern zu jeweils unterschiedlichen Modi der Raumsynthese führen kann. Für die überwiegende Mehrheit der Verbraucher sind kommunikativ ausgehandelte Eigenschaften von Produkten wichtig, wobei sich fünf einander überlappende symbolische Funktionen des Konsums unterscheiden (Reisch, 2002) lassen: 1. Konsum allgemein und Essen im Besonderen kann innenorientiert sein und etwa der Expression des Selbstwertgefühls, der Identität und des Selbstkonzepts von Menschen dienen (Barlösius, 2016; Schulze, 1996). Dies hat zur Folge, dass trotz globaler Trends nationale Unterschiede im Essverhalten erhalten bleiben (Warde, Cheng, Olsen, & Southerton, 2007). Es lässt sich ein regelrechter „Gastronationalismus“ beobachten, d. h. eine Bevorzugung „einheimischer“, „lokaler“ Küche (DeSoucey, 2010). Dies zeigt sich in den typischerweise verwendeten Zutaten. So werden Tomaten in der italienischen Küche sehr häufig verwendet, während sie in der traditionellen deutschen Küche gar nicht auftauchen. Es lässt sich vermuten, dass hier Raumwissen eine geringe oder bestenfalls nur implizite Rolle spielt; denn welches Produkt

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wie oft verwendet werden kann, hat oft mit den klimatischen Bedingungen einer Region zu tun. 2. Konsum ist darüber hinaus durch Affekte geprägt, etwa weil er imaginativ ist; indem Verbraucher durch Konsum angenehm empfundene Gefühle kreieren, verlängern, verstärken und genießen sowie von nie erreichbaren Lebensstilen und -welten träumen (Hellmann & Zurstiege, 2008). Wenn etwa ein Verbraucher im Sommer eine verkrümmte, aber wohlriechende Tomate von einem Nachbarn geschenkt bekommt, assoziiert er vielleicht den Garten der Großmutter, in dem er in seiner Kindheit viele schöne Stunden verbracht hat. Alternativ kann sich Affektivität auf ferne, „fremde“, „exotische“ Orte beziehen. Die Herkunft oder auch die Erzeuger eines Produktes können dabei exotisiert und damit selbst zur Ware werden (Cook & Crang, 1996). 3. Eine andere Affektivität des Konsums betrifft die Kompensation von ungelösten Problemen, etwa indem man sich eine Tafel Schokolade „gönnt“. Kompensation kann auch bedeuten, dass man einfach „shoppen geht“, d. h. der Einkauf an sich ist die Kompensation. Es kann hier zu einer Affektivität in Bezug auf den Einkaufsort kommen, und der Raum selbst wird konsumiert (Hellmann & Zurstiege, 2008), indem man z. B. in der „Fifth Avenue“ oder auf dem „Bio-Markt“ einkauft. 4. Verbraucher können auch versuchen, über ihr Kaufverhalten bzw. den Konsumstil Kompetenz zu illustrieren und damit einen guten Eindruck zu erwecken (Schulze, 1996). So gibt es bei Tomaten neben massenindustriell hergestellten Tomaten auch sogenannte „alte Sorten“, die in Form, Farbe und Größe sehr unregelmäßig sind, deren Haut sehr leicht verletzt werden kann (und die deshalb nicht massenindustriell verarbeitet oder weit transportiert werden können) und die intensiv und sehr unterschiedlich schmecken. Indem ein Kunde statt industriell hergestellten „Holland-Tomaten“ diese alten Sorten erkennt und kauft, illustriert er möglicherweise, dass er sich mit Lebensmitteln besonders gut auskennt. 5. Menschen passen sich den Normen und Werten einer bestimmten sozialen Schicht, Berufsgruppe oder Subkultur etc. an, um die Zugehörigkeit zu ihr zu erlangen, zu wahren und zu signalisieren. Daher kann Konsum ein wesentliches Mittel zur sozialen Distinktion gegenüber anderen Gruppen sein (Bourdieu, 1982; Elias, 1997, org. 1939; Schulze, 1996). So kann es sein, dass man die gerade erwähnten „alten Sorten“ nicht deshalb konsumiert, weil sie einem selbst gut schmecken, sondern weil sie besonders „exklusiv“ sind und damit einen gehobenen Geschmack signalisieren.

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Insgesamt lässt sich festhalten, dass offensichtlich in Konsumkontexten Waren und Raumwissen eng miteinander verknüpft sind. Bisher wissen wir nicht, wer – erstens – welches Raumwissen hat und es – zweitens – in welchen Konsumkontexten relevant macht. Drittens lässt sich auf Basis des Forschungsstandes festhalten, dass die Befunde in Bezug auf Ernährungsverhalten nicht nur widersprüchlich sind, sondern sie deuten auf eine Gleichzeitigkeit von Homogenisierung und Heterogenisierung hin. Während manche Verbraucher zur delokalisierten globalen Einheitsküche neigen, verhaften andere am traditionellen Geschmack im Sinne der Betonung der nationalen oder lokalen Küche. Daneben steht ein kosmopolitischer Essensgeschmack. Dieser erreicht Distinktion einerseits über die Wertschätzung von Neuem, Exotischen oder Fernem, in Abgrenzung zu dem von diesen „kulturellen Omnivoren“ (Warde, Wright, & Gayo-Cal, 2008) als snobistisch empfundenen Geschmack der klassischen Hochkultur. Andererseits wird auch die „lokale“ Herkunft betont, welche teilweise als Zeichen der Produktqualität gilt (Inglis & Gimlin, 2009). „Lokal“ kann dabei Unterschiedliches bedeuten, nämlich je nach Kontext „aus einem bestimmten Ort stammend“, „ökologisch“ oder „heimisch/aus der direkten Umgebung“ (DeSoucey & Téchoueyeres, 2009; Ponte, 2009). Schließlich wird Globalisierung von vielen Verbrauchern als Problem gesehen, da sie zu vielen negativen Effekten führt (Umwelt, Ökologie, globale Armut, Ausbeutung) (Inglis & Gimlin, 2009; Rückert-John, 2011). Wollen etwa Verbraucher „nachhaltig“ konsumieren, bevorzugen sie üblicherweise biologisch-lokal hergestellte Produkte (um die durch Einsatz von Düngemitteln und lange Transportwege verursachte Umweltverschmutzung zu reduzieren) und Fair Trade-Zertifizierungen (um der Ausbeutung des globalen Südens entgegenzuwirken). Fair Trade-Produkte implizieren jedoch notwendigerweise lange Transportwege. Es ist dabei vollkommen unklar, ob und wie Konsumenten und Produzenten individuell und strukturell unterschiedliche Raumanordnungen zugleich zur Wirkung bringen und damit polykontextural handeln.

7 Zirkulation und die Ware Da die Interdependenzketten so komplex sind, interagieren die Akteure in der Regel nicht direkt. Die Ware ist das Einzige, was sich über alle Kontexte hinwegbewegt. Bereits frühe wirtschaftssoziologische Arbeiten deuten darauf hin, dass die Ware selbst als Objektivation kommunikativen Handelns für die Aufrechterhaltung der Warenzirkulation eine große Rolle spielt und Wissen zwischen verschiedenen Kontexten transportiert (Simmel, 1996, org. 1901, S. 165, 179,

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212–232). So wies Simmel (1996, org. 1901, S. 129–266) darauf hin, dass jede Ware als Produkt kommunikativen Handelns symbolisch aufgeladen ist. So gibt es – auch im Hinblick auf die Umweltverträglichkeit – keine sachliche Notwendigkeit, bzw. keine Eindeutigkeit, ob lange oder kurze Produktionsketten besser oder schlechter sind. Dennoch erachten – wie der obige Forschungsstand zeigt – Produzenten und Verbraucher die eine oder andere Form der Warenzirkulation aus unterschiedlichen Gründen als „wertvoller“. Gleichzeitig ist jede Ware zumindest je nach Kontext mehr oder weniger an ihre Materialität rückgebunden (Kalthoff, Cress, & Röhl, 2015; Simmel, 1901, S. 182–198). Bei keinem anderen Produkt kommt dies so deutlich zum Ausdruck wie bei Lebensmitteln: Menschen müssen eine Mindestmenge und -qualität essen. Viele Gemüsesorten werden über weite Strecken transportiert, weil sie nicht an jedem Ort gedeihen. Welches Wissen allgemein und Raumwissen speziell in der Ware objektiviert ist, ist allerdings eine offene Frage. Sinnvoll erscheint es daher, beispielsweise eine Typologie von Objektivationen zu erstellen und deren spezifische Vermittlungsrolle für die unterschiedlichen Akteure herauszuarbeiten (Steets, 2019).

8 Zusammenschau und Forschungslücke Über die Organisation von Warenketten (Produktionskontext) sowie den Verwendungskontext liegt bereits ein hoher Kenntnisstand vor. Die Schnittstelle von Verkaufen (Einzelhandel) und Kaufen (Konsumenten) sowie die Rolle der Ware selbst wurden dagegen bislang wenig betrachtet. Insbesondere ist unklar, wie das kommunikative Handeln zwischen Konsumenten und Produzenten/Händlern bei der Marktentnahme durch Raumwissen geprägt ist, obwohl angenommen werden kann, dass gerade über Wissen, d. h. über explizite, sprachliche Formen sowie auch über implizite leibliche, habitualisierte und routinisierte Beziehungen zu Lebensmitteln, Räume gebildet werden. Es fehlen Analysen darüber, welches Raumwissen (z. B. über Art der Produktion, Transportwege, Imagination und Wertung, Quartierseffekte durch gesellschaftliche Prägung) für Konsumenten und Akteure der Produktionskette beim Kaufen und Verkaufen handlungsrelevant wird. Diese Schnittstelle hat offenbar starken Einfluss auf die Form und Raumanordnung der Warenzirkulation und auf die Koordination der Akteure der Warenkette über alle Kontexte hinweg. Dies schließt Vorstellungen über Produkte ein. Daraus ergeben sich folgende offenen Fragen:

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• Über welche Art von Raumwissen verfügen Konsumenten und Produzenten, und wie relevant ist es für ihr Verhalten? • Wie bringen sie verschiedene Raumanordnungen zur Wirkung? • Welche Rolle und welcher Sinn kommen den Waren als Objektivation des kommunikativen Handelns zu? • Wie beeinflusst das Raumwissen im Kontext der Marktentnahme die Warenzirkulation?

9 Zum Konzept des Bandes Bisher wurden die Interaktionen zwischen den Akteuren dieser Kontexte und deren Prägung durch Wissen über die gehandelten Waren wenig analysiert. Dieses Wissen über Waren und die damit sich ergebenden räumlichen Strukturen betrachtet der vorliegende Band und führt dabei Erkenntnisse aus Wirtschaftsgeographie und Wirtschaftssoziologie zusammen. Dabei orientieren sich die Beiträge am Ansatz der Waren-/Wertschöpfungsketten und behandeln verschiedene Aspekte bezüglich der beteiligten Akteure sowie deren Interaktionen. Betrachtet wird das Beispiel des Lebensmittelhandels (insbesondere Frischgemüse), da dieser aus mehreren Gründen besonders relevant ist: 1. An einer typischen Produktionskette der Lebensmittelherstellung sind viele Akteure an unterschiedlichen Standorten beteiligt, und es bilden sich parallel lokale, nationale, internationale und globale Warenketten für artähnliche Produkt unterschiedlicher Qualitäten heraus; deshalb ist der Koordinationsbedarf durch Wissen besonders groß und zugleich ist es aber schwierig, Machtprozesse zu identifizieren. 2. Durch die große symbolische und soziale Bedeutung, die Essen in allen Kulturen zukommt, ist davon auszugehen, dass bei Verbrauchern in unterschiedlichen sozialen Milieus und an unterschiedlichen Orten das Raumwissen sehr unterschiedlich ausgeprägt und verschieden handlungsrelevant ist. 3. Durch spezifische Eigenheiten der Ware (Verderblichkeit, Zwang zum Transport im topographischen Raum) und deren Kennzeichnung rückt zudem die Spannung zwischen der materiellen und symbolischen Dimension von Räumen in den analytischen Fokus; und es gibt ein sehr hartes Kriterium für nicht gelungene Koordination: Scheitert die Koordination oder ist sie nicht effizient genug, verderben Lebensmittel, bevor sie verkauft werden können.

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Der Band versammelt Autoren aus Wirtschaftswissenschaften, Geographie, Soziologie und der Stadt- und Regionalplanung, die sich verschiedenen sich ergänzenden Aspekten zu Akteuren und zur Koordination der Warenkette widmen. Die Beiträge zeigen den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Wissen und Handlungen der Akteure sowie deren Wirkungen auf die Organisation und Re-Figurationen der Warenkette. Hinsichtlich der Rolle von Wissen geben die Beiträge eine Vielzahl an pointierten Analysen zu Teilaspekten der Gesamtinteraktionszusammenhänge. Es wird deutlich, dass Wissen von den untersuchten Akteuren in ganz unterschiedlicher Weise genutzt wird. Es spannt sich ein Spektrum auf, das von strategischen Allianzen, der bewussten Verschleierung bis hin zu illegalen Handlungen reicht.

9.1 Teil 1: Institutionelle Rahmenbedingungen und historische Entwicklung Sebastian Nessel richtet in seinem Beitrag den Blick auf die nationale Einbettung der Warenketten und analysiert – auf Deutschland bezogen – die wichtigsten Rahmenbedingungen für die Marktakteure. Diese ergeben sich aus institutionellen Einbettungen (wie Ge- und Verbote, Standards, Steuern, Informationen), Zugangsregeln, Rechten und der Wettbewerbssituation (wie Marktkonzentration, Fusions- und Kartellrecht, Aufsicht). Unter diesen Rahmenbedingungen ergeben sich nicht nur Preise für (Markt-)Objekte sondern auch Konnotationen hinsichtlich „guter Produkte“ oder „negativer Produkturteile“. Simon Dombrowski analysiert die historische Entwicklung des deutschen Marktes für biologische Lebensmittel in einer Langzeitstudie (1946–2012) und betrachtet, wie horizontale und vertikale Einflussfaktoren auf Märkten für landwirtschaftliche Erzeugnisse ineinandergreifen. Dabei werden der Ansatz der Wirtschaftsgeographie, der sich vor allem mit der vertikalen Koordination entlang der Warenkette beschäftigt, mit dem Ansatz der Marktsoziologie, bei dem es um die horizontale Koordination von Landwirten geht, miteinander verknüpft. Es zeigt sich, dass nicht nur die Lebensmittelindustrie und Supermarktketten, sondern auch Anbauverbände und (insbesondere in Nationalstaaten) staatliche Interventionen die Machtbalancen zwischen den Akteuren in Warenketten verändern. Diese Machtbalancen treiben wiederum die Re-Figuration von Märkten voran. Michael Wortmann zeichnet in seiner Analyse nach wie sich die Organisation des Lebensmittelhandels in Deutschland historisch gewandelt hat. Dabei fokussiert er seine Ausführungen jedoch weniger auf Aspekte wie Ladenformate oder Geschäftsmodelle, sondern stellt dar, wie Institutionen, also Gesetze, Regeln

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und Normen, die Entwicklung dieser Unternehmen – im Vergleich zu anderen Kernindustrien – in verschiedenen Bereichen geprägt haben und bis heute prägen. Mihai Varga beschäftigt sich mit der Bedeutung internationaler Organisationen für die landwirtschaftliche Produktion und untersucht dabei die Rolle der Weltbank und ihres Wissensregimes für die Landreform in den (postsozialistischen) Ländern Eurasiens. Sehr deutlich wird der Widerspruch zwischen den Empfehlungen der Weltbank, die auf Privatbetriebe, Marktlösungen und Strukturwandel setzt, und der Wirklichkeit, welche sehr unterschiedliche Geographien der Landreform aufweist und zu Fragmentierungen, Abhängigkeiten, Marktferne und Produktionsproblemen führt.

9.2 Teil 2: Produktionskontext Peter Dannenberg und Madlen Krone zeigen, anhand zweier Fallstudien in Tansania und Kenia wie neue Technologien wie das Handy Machtbalancen unter den Produzenten verschieben. Zugleich arbeiten sie heraus, dass Kommunikationsmedien afrikanische Obst- und Gemüsebauern besser in internationale Wertschöpfungsketten einbinden, weil ihr Informationszugang verbessert wird. Martin Franz und Kim Philip Schumacher untersuchen einen Umweltaspekt, die bei der Tierproduktion anfallende Gülle. Eingebettet ist die Analyse der Tierproduktion im Oldenburger Münsterland in die theoretische Diskussion der Global Production Networks. Die bei diesem Ansatz betrachteten Dimensionen Wert, Macht und Einbettung ergänzen sie um die Dimension Risiko. Die Studie arbeitet zum einen heraus, dass im Kontext von Produktion, Konsum und Politik besondere Produktions- und Umweltrisiken auftreten, welche die Organisation der Kette verändern können. Zum anderen zeigt sie, wie sich durch Zuschreibungen und unterschiedliche Wissensbestände der Status eines Stoffs zwischen Rohstoff, Ressource oder Abfall wandeln kann und welche Rolle dabei die Dissoziation der beteiligten Akteure von verschiedenen Risiken (bspw. Umweltrisiken) spielt. Robert Pütz, Gerhard Rainer und Christian Steiner arbeiten am Beispiel der Weinproduktion in Neuseeland die Bedeutung von Qualifizierung als zentrales Element der Steuerung von globalen Warenketten bzw. Produktionsnetzwerken heraus. Branding und Qualifizierung ist entscheidend, um Kunden anzusprechen und sich am Markt zu positionieren. Neuseeländischer Wein, obwohl in Massenproduktion erzeugt und als Tankwein nach Europa gebracht – und damit ganz anderen Bedingungen aufweisend als übliche Premiumweine von Weingütern

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mit Abfüllung –, konnte sich durch gezielte Imagebildung und Verschleierung als hochpreisiges Qualitätsprodukt positionieren. Die Autoren liefern mit ihrem Beitrag ein gutes Beispiel, wie durch die Aktivierung spezifischer Raumvorstellungen einerseits und der Dissoziation bestimmter Aspekte der Herstellung andererseits, der Statuswert des Produktes hergestellt werden kann. Klaus-Peter Buss beleuchtet die Entwicklungen im Logistikwesen, insbesondere von Seecontainern. Er zeigt auf, dass dieser scheinbar unsichtbare Teil globaler Produktionssysteme ganz eigenen Logiken folgt. Es wird deutlich, dass durch die im Zuge des Transports stattfindende Umdeutung der Ware branchenspezifisches Wissen von den Akteuren relevant gemacht wird. Gleichzeitig beschreibt er am Beispiel der Banane wie sich der globale Handel mit Frischwaren im vergangenen Jahrhundert entwickelte und wie dabei Angebot, Nachfrage, technische Innovationen, Handelspolitik, die Finanzmarktkrise und andere Faktoren ineinandergreifen.

9.3 Teil 3: Kontext der Marktentnahme Angela Million zeigt, wie Supermärkte und Discounter durch die architektonische Gestaltung in die Stadt eingebettet sind und wie sich dies im Lauf der letzten Jahrzehnte verändert hat. Sie zeigt, welche Rolle das (Raum-)Wissen der beteiligten Akteure bei der Gestaltung von Supermärkten spielt und welche Bedeutung die Supermärkte für die städtische Raumproduktion haben. Patrick Schenk analysiert den Zusammenhang zwischen den Einkaufsorten für „faire Produkte“ und den sozialen Merkmalen von Konsumenten basierend auf umfangreichen Primärerhebungen in Zürich und Köln. Er zeigt, dass sich Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata, Wissensbestände und soziale Merkmale der Kunden beim Einkauf in verschiedenen Betriebsformen des Lebensmitteleinzelhandels (z. B. Supermärkte, Discounter, Weltläden) unterscheiden. Damit wird deutlich, dass der Besuch spezieller Einkaufsorte über die reine Transaktion von Waren hinaus auch durch Ambiente, Interaktion mit Gleichgesinnten, Wissen und Bedeutung als Teil der Konsumerfahrung geprägt wird. Ulrich Jürgens transferiert die internationale Diskussion zu „Food Deserts“ für Frischeprodukte in den deutschen Kontext (am Beispiel Schleswig-Holsteins). Er untersucht, wie Kunden mit Versorgungslücken umgehen und welche Lernund Anpassungsprozesse bei Ladenbetreibern auftreten. Dabei geht er deutlich weiter, als nur quantitativ Lücken zu identifizieren, denn es wird zudem die Frage nach realen und mentalen Lücken gestellt. Bei den Kunden wird

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eine p­sychographische Segmentierung verschiedener Kundentypen aufgezeigt (Immobile, Alternative, Preisbewusste, Lustlose und Aufgeschlossene) und an Fallstudien werden Reaktionsmöglichkeiten des Handels aufgezeigt.

9.4 Teil 4: Verwendungskontext Jana Rückert-John und Sophia Reis beschäftigen sich mit der Sinnform Mahlzeit. Mahlzeiten sind nach wie vor nicht nur ein Grundbedürfnis, sondern auch ein soziales Phänomen und Tischgemeinschaften spiegeln die Differenzierung gesellschaftlicher Strukturen wider. Allerdings ist der Charakter von Mahlzeiten gegenwärtig einem Wandel unterworfen; es verändern sich Haushaltsstrukturen, Zeitbudgets und Erwerbstätigkeit, Geschlechterrollen, Ernährungskompetenzen, Ernährungstrends und Ernährungsstile. Daniel Kofahl und Benedikt Jahnke betrachten Konsumverhaltensweisen im Kontext von Anbieter-Nachfrager-Interaktionen, Einkaufsverhalten, Kochen und Essen bei Frischeprodukten. Schwerpunktmäßig wird dabei die Gruppe der Millennials untersucht und ihr Verhalten hinsichtlich regionaler und globaler Produkte sowie konventionell erzeugter, im Fair Trade-System gehandelter oder ökologisch angebauter Produkte analysiert. Gleichzeitig wird der Unterschied zwischen eigenem Anspruch und konkreter Einkaufssituation aufgezeigt.

9.5 Teil 5: Kehrseiten – Zwischen Verantwortung und Profitstreben Markus Pohlmann untersucht eine Schattenseite der Warenkette für Lebensmittel, den Food-Crime. Auf der Grundlage verschiedener Fallanalysen wird herausgearbeitet, dass einerseits bei der Erzeugung von Lebensmitteln Elemente organisierter Kriminalität (z. B. illegale Kinderarbeit, Schutzgelderpressung, Selbstjustiz) auftreten und andererseits organisationale Kriminalität (z.  B. Nahrungsmittelbetrug, Preisabsprachen) eine verbreitete Gepflogenheit darstellt. Stefan Ouma betrachtet eine andere Schattenseite der globalen Warenketten für Lebensmittel und entwickelt eine Idee zur Betrachtung der sozialräumlichen Organisation und der politischen Ökologie von globalen Lebensmittelwarenketten. Illustriert werden die problematischen Effekte im Globalen Süden anhand von auftretenden Marktkrisen/-schocks (Beispiel der Wirkung neuer AnanasSorten auf die Produzenten in Ghana), der Finanzialisierung der Primärgütermärkte (Beispiel Entkopplung von Marktpreis und Bedarf, hohe Preisvolatibilität)

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der Externalisierung von Umweltkosten (Beispiel Waldfußabdruck, virtuelles Wasser). Roland Bogun befasst sich mit dem Forschungsstand zu den ökologischen Wirkungen des Konsums. Denn während früher als Problemverursacher meist die Produktion identifiziert wurde, steht heute das Verhalten der Konsumenten zunehmend im Mittelpunkt. Mit Blick auf konsumbasierte Umweltbilanzen bzw. Fußabdrücke kommt er zu dem Ergebnis, dass diese mehr über die Folgen der Produktion und über die (ökologischen) Voraussetzungen des Konsums als über dessen Folgen aussagen. Insbesondere zu den indirekten Wirkungen des Konsums besteht demgegenüber nach Ansicht des Autors ein erheblicher Diskussions- und Forschungsbedarf. Dies kann zu Missverständnissen und Fehleinschätzungen in der Rezeption und Interpretation persönlicher oder nationaler Fußabdrücke führen. Sebastian Koos und Leonie Kattermann stellen positive Seiten in globalen Warenketten dar und untersuchen Ansätze und Möglichkeiten der Übernahme von Verantwortung für die Gestaltung von Zulieferketten durch Einzelhandelsunternehmen. Die betrachteten Fallbeispiele aus der Schweiz zeigen, dass Supply Chain Responsibility die Einbindung von Multi-Stakeholder-Initiativen, langjährige strategische Partnerschaften und die Förderung von Upgrading umfasst. Wichtiger als staatliche Regulierungen sind dabei die Aktivitäten der Einzelhandelsunternehmen. Bei der Lektüre wünschen wir allen Lesern und Leserinnen viel Vergnügen und hoffen, dass jeder Beitrag für sich interessante Ansatzpunkte für weitere Forschungsprojekte und wissenschaftliche Diskussionen liefert.

10 Ausblick Die Beiträge dieses Bandes zeigen, wie sich die Ansätze aus Wirtschaftsgeographie und Wirtschaftssoziologie ergänzen, welche fruchtbaren inhaltlichen Vertiefungen sie ermöglichen und welche weiteren Potentiale die Zusammenführungen eröffnen. Neben den hier vor allem betrachteten Elementen von Ordnung, Koordination und Zirkulation weisen die Analysen und Diskussionen auch auf die besondere Bedeutung des bisher weniger untersuchten Raumwissens hin. Sehr deutlich wird in der Diskussion das Spannungsfeld zwischen den gegebenen organisatorischen bzw. materiellen Rahmenbedingungen und dem individuellem bzw. kollektiven Handeln. Institutionelle Rahmenbedingungen – von internationalen Organisationen über nationales Recht, Standards oder Normen bis zu koordinierenden Verbänden – prägen Produktion, Markt und Konsum. Sie müssen allerdings auch gleichermaßen für alle Akteure gelten

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und durchgesetzt werden, sonst treten Praktiken wie Food-Crime, Kriminalität, Schutzgelderpressung oder Externalisierungen von Umweltkosten auf. Ebenso bedeutsam sind materiellen Rahmenbedingungen wie Infrastrukturen – von Kommunikationsmedien über Transport bis zu baulichen Anlagen –, welche überhaupt erst die Koordination zwischen Akteuren und die Zirkulation von Waren ermöglichen. Das individuelle und kollektive Handeln der Akteure spannt sich im Kontext der Rahmenbedingungen zwischen den Polen Macht/Verantwortung und Wissen/Wahrnehmung/Bewertung/Lernen/Verhalten auf. Dabei zeigen sich auf unterschiedlichen, auch räumlichen Ebenen vom Quartier bis zu globalen Vernetzungen, parallel Veränderungen und Stabilitäten. Offene Fragen bestehen noch bezogen auf die über alle Kontexte – Produktion, Marktentnahme und Verwendung – zirkulierenden Waren, welche einerseits als Objektivation zu sehen sind und zugleich mit Raumwissen verknüpft sind. Dieses Raumwissen stellt eine Verschränkung von Wissen und räumlich-materiellen Aspekten dar. Es ist bei allen Akteuren unterschiedlich ausgeprägt, wird verschieden in Wert gesetzt, ist teilweise ambivalent oder sogar falsch, kann verborgen werden und ist – mal mehr, mal weniger – handlungsrelevant. Die Analyse von Aspekten des Handelns von Akteuren im Zusammenhang zwischen Raumwissen und der Ordnung, der Koordination und der Zirkulation von Warenketten stellt eine inhaltliche Herausforderung für weitere Arbeiten dar.

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Elmar Kulke ist Professor für Wirtschaftsgeographie am Geographischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Dienstleistungsgeographie (vor allem Einzelhandel und unternehmensorientierte Dienstleistungen), Globale Warenketten Publikationen: Dannenberg, P., & Kulke, E. (2014). Dynamics in agricultural value chains. DIE ERDE – Journal of the Geographical Society of Berlin, 145(3), 121–126. Kulke, E., & Suwala, L. (2016). Internationalisation of grocery retailing in the global south: General conditions, formats and spatial expansion patterns of selected MNEs. DIE ERDE – Journal of the Geographical Society of Berlin, 147(3), 187–200. Kulke, E. (2017). Wirtschaftsgeographie (6. Aufl.). Paderborn: Ferdinand Schöningh. Kulke, E. (2019). Online-Einzelhandel in Deutschland. Entwicklung und Wirkungen des E-Commerce. Praxis Geographie, 12, 8‒13. Kulke, E. (2020). Zentren und Zentrensysteme, Dynamik von Zentrensystemen. In B. Hahn & C. Neiberger (Hrsg.), Geographische Handelsforschung (S. 171–192.) Heidelberg: Springer VS. Webseite: https://www.geographie.hu-berlin.de/de/Members/kulke_elmar/

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Linda Hering ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt „Waren und Wissen: Raumwissen von Konsumenten und Händlern“ des SFB 1265 „Re-Figuration von Räumen“. Forschungsschwerpunkte: Agro-Food Studies, Historische Sozialforschung, Raum- und Wirtschaftssoziologie (insbesondere Räume des Konsums). Publikationen: Baur, N., Fülling, J., Hering, L., & Vogl. S. (2019). Die Verzahnung von Arbeit und Konsum. Wechselwirkungen zwischen der Transformation der Erwerbsarbeit und den Transformationen der milieuspezifischen innerfamiliären Arbeitsteilung am Beispiel der Ernährung. In S. Ernst & G. Becke (Hrsg.), Transformationen der Arbeitsgesellschaft Prozess- und figurationstheoretische Beiträge (S. 105–132). Wiesbaden: Springer VS. Fülling, J., & Hering, L. (2020). Markt – Quartier – Milieu. Der Berliner Lebensmitteleinzelhandel aus interdisziplinärer Perspektive. Arbeitsbericht des Geographischen Instituts der Humboldt-Universität zu Berlin, 197. Berlin. Hering, L., & Baur, N. (2019). Die Verschränkung von Lokalem und Globalen an Einkaufsorten. Das Verhältnis von Forminvestitionen, Intermediären und Raumwirkungen in Produktion, Distribution und Konsum von Lebensmitteln in Deutschland und Thailand. Beitrag im Veröffentlichungsband des DGS Kongress 2018. Thierbach, C., Raschke, A. L., Hering, L., & Baur, N. (2014). Spatial methods. Special Issue der Zeitschrift “Historical Social Research” (HSR), 39, 7–50. Webseite: https://www.sfb1265.de/personen/linda-hering/ Julia Fülling ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Geographischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Wirtschafts- und Kulturgeographie; Geographien der Produktion und des Konsums; Agro-Food-Studies Publikationen: Baur, N., Fülling, J., Hering, L., & Vogl. S. (2019). Die Verzahnung von Arbeit und Konsum. Wechselwirkungen zwischen der Transformation der Erwerbsarbeit und den Transformationen der milieuspezifischen innerfamiliären Arbeitsteilung am Beispiel der Ernährung. In S. Ernst & G. Becke (Hrsg.), Transformationen der Arbeitsgesellschaft Prozess- und figurationstheoretische Beiträge (S. 105‒132). Wiesbaden: Springer VS. Fülling, J., & Hering, L. (2020). Markt – Quartier – Milieu. Der Berliner Lebensmitteleinzelhandel aus interdisziplinärer Perspektive. Arbeitsbericht des Geographischen Instituts der Humboldt-Universität zu Berlin, 197. Berlin. Webseite: https://www.sfb1265.de/personen/julia-fuelling/

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Nina Baur ist Professorin für Methoden der empirischen Sozialforschung an der Technischen Universität Berlin, Leiterin des Global Center of Spatial Methods for Urban Sustainability (GCSMUS) und Vorstandsmitglied des SFB 1265 „Re-Figuration von Räumen“. Forschungsschwerpunkte: Marktsoziologie (insbesondere Arbeitsmärkte und Konsumgütermärkte); Soziologie der Prozesse, Innovationen und Risiken; Raumsoziologie; Methoden der empirischen Sozialforschung (insbesondere prozessorientierte Methodologie, Methoden der Raumforschung und Mixed Methods). Publikationen: Baur, N. (2014). Lokale Variation und Grenzen der Ökonomisierung. Eine figurationssoziologische Perspektive auf das Verhältnis von Ökonomisierung und Raum (119‒129). Soziale Welt, 65(1). https://doi.org/10.5771/0038-6073-2014-1-119. Baur, N., Löw, M., Hering, L., Raschke, A. L. & Stoll, F. (2014). Die Rationalität lokaler Wirtschaftspraktiken im Friseurwesen. Der Beitrag der „Ökonomie der Konventionen“ zur Erklärung räumlicher Unterschiede wirtschaftlichen Handelns. In D. Bögenhold (Hrsg.) Soziologie des Wirtschaftlichen: Alte und neue Fragen (S. 299‒327). Wiesbaden: Springer Fachmedien. https://doi.org/10.1007/978-3-658-03545-7_12. Baur, N. Hering, L. (2017). Learning from the past. How local economic conventions influence responses to global crises. In Human Figurations: Long-term Perspectives on the Human Condition 6(2). Permalink: http://hdl.handle.net/2027/spo.11217607.0006.208. Heidenreich, M. & Baur, N. (2015). Locations of corporate headquarters in Europe: Between inertia and co-evolution. In S. Lundan (Hrsg.) Transnational corporations and transnational governance. The cost of crossing borders in the global economy (S. 177‒207). Basingstoke: Palgrave. https://doi.org/10.1057/9781137467690_7. Webseite: www.mes.tu-berlin.de/Baur

Teil I Institutionelle Rahmenbedingungen und historische Entwicklung

Die nationale Einbettung globaler Warenketten. Zum Einfluss nationaler Wirtschaftsakteure auf die Ausgestaltung des Lebensmittelmarktes Sebastian Nessel 1 Einleitung Um die zunehmende Internationalisierung der Produktion und des Lebensmittelhandels besser zu verstehen, hat sich seit den 1980er Jahren der global value chain Ansatz entwickelt. Dieser Ansatz untersucht globale Warenströme, von den Inputs über die Produktion, die Verarbeitung und die Distribution von Waren, sowie die Koordination und Machtverhältnisse unterschiedlicher Akteure in Warenketten (Gereffi & Fernandez-Stark, 2016; Gibbon, Bair, & Ponte, 2008; Lee, 2010). Der theoretische Zuschnitt dieses Ansatzes endet allerdings vielfach an der „Grenze“ der Absatzmärkte global produzierter Lebensmittel in Europa oder Nordamerika. In einigen Arbeiten wurde gezeigt, dass insbesondere große Supermarktketten die Lebensmittelproduktion entscheidend beeinflussen (Dolan & Humphrey, 2000; Hamilton, Petrovic, & Senauer, 2011). Auch wurde darauf hingewiesen, dass der Nationalstaat die Herstellungsbedingungen in den Exportländern von Agrarprodukten beeinflusst (Gereffi, 1994) sowie über internationale Regulierungsinstanzen (WTO) und Freihandelsabkommen (NAFTA) globale Warenströme zuerst ermöglicht hat und bis heute mitreguliert (Gerreffi & Mayer, 2004). In wenigen Arbeiten wurde schließlich angemerkt, dass national variierende Konsummuster und Konventionen bedeutsam für die konkrete Ausgestaltung von Warenketten sind (Coe, Dicken, & Hess, 2008; Ponte & Gibbon, S. Nessel (*)  Universität Graz, Graz, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Baur et al. (Hrsg.), Waren – Wissen – Raum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30719-6_2

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2005). Die Bedeutung des Nationalstaats sowie anderer nationaler Wirtschaftsakteure für globale Warenketten und für die Funktionsweise von Lebensmittelmärkten wurden bisher allerdings kaum systematisch untersucht (Horner, 2017; Mayer & Phillips, 2017). Somit geraten die nationale Einbettung von Lebensmittelmärkten und deren Rückwirkungen auf die weltweite Warenproduktion bisher aus dem Blick von global value chain Ansätzen. Dieser Beitrag dreht die Perspektive von Warenkettenansätzen um, indem er an der Analyse von Märkten in den Absatzländern global produzierter Lebensmittel ansetzt. Am Beispiel Deutschlands werden die nationale Einbettung des Lebensmittelmarktes und deren Effekte untersucht. Der Ausgangspunkt ist, dass die konkrete Ausgestaltung von Lebensmittelmärkten nicht nur durch globale Prozesse beeinflusst wird, sondern ganz wesentlich durch nationale Rahmenbedingungen und Akteure. Wenngleich in Warenkettenansätzen verschiedene Koordinationsmodi zwischen Produzenten und zwischen Produzenten und Retailern identifiziert wurden (Ponte & Gibbon, 2005), konzentriert sich dieser Beitrag genauer auf den Markt als die zentrale Vermittlungsinstanz zwischen Endkonsumenten1 und Anbietern. Im Anschluss an die Neuere Wirtschaftssoziologie wird verdeutlicht, wie nationale Wirtschaftsakteure die formale Struktur von Märkten (institutionelle Einbettung), die Sichtweise von Konsumenten und Firmen auf den Markt im Allgemeinen und ihr Markthandeln im Speziellen (kulturelle Einbettung) sowie die sozialen Beziehungen von Akteuren beeinflussen. Als nationale Wirtschaftsakteure werden in diesem Beitrag genauer Regulierungsbehörden, Unternehmensverbände und Verbraucherorganisationen untersucht. Wie zu zeigen sein wird, ist es gerade der Staat, der die Markt- und Machtbeziehungen zwischen Konsumenten und Anbietern sowie zwischen Produzenten und Retailern von Lebensmitteln entscheidend rahmt. Dass und wie eine solche nationale Rahmung des Lebensmittelmarktes die Ausgestaltung globaler Warenketten beeinflusst, wird anhand von Beispielen skizziert. So soll schließlich eine engere Verzahnung zwischen eher national fokussierten wirtschaftssoziologischen Arbeiten und eher global fokussierten Warenkettenansätzen angeregt werden. Der Beitrag beginnt mit einem allgemeinen heuristischen Rahmen zur Analyse von Märkten, der drei konstitutive Elemente unterscheidet: die auf Märkten gehandelten Waren („Marktobjekte“); die Nachfrager, Produzenten und Vertreiber

1Obwohl

aus Gründen der besseren Lesbarkeit in diesem Beitrag die männliche Form gewählt wurde, beziehen sich die Angaben immer auf Angehörige beider Geschlechter.

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dieser Waren („Marktteilnehmer“); sowie den zentralen Koordinationsmechanismus des Marktes, den Wettbewerb (Abschn. zwei). Im dritten Abschnitt werden die konkrete Ausgestaltung dieser Marktelemente am Beispiel des deutschen Lebensmittelmarktes und deren Effekte auf globale Warenketten dann genauer verdeutlicht. Im vierten Abschnitt wird eine konflikttheoretische Perspektive eingenommen, welche die konkrete Ausgestaltung marktlicher Einbettung auf Machtkämpfe zwischen Interessenorganisationen der Angebots- und Nachfrageseite zurückführt. Abschließend wird die vorgenommene wirtschaftssoziologische Analyse des Lebensmittelmarktes in Bezug auf den Warenkettenansatz diskutiert. Angeregt wird, globale Warenketten, wie in unterschiedlichen Spielarten des global value chain Ansatzes üblich, nicht nur aus Sicht der Produktionsländer und international agierenden Firmen zu analysieren. Um die Markt- und Machtbeziehungen zwischen Produzenten, Retailern und Konsumenten sowie die Ausgestaltung des Lebensmittelmarktes genauer zu verstehen, wird hingegen für eine engere Verzahnung des Warenkettenansatzes mit Ansätzen der Wirtschaftssoziologie plädiert.

2 Was ist ein Markt? Ein heuristischer Rahmen zur Analyse des Lebensmittelmarktes Es mag unüblich oder gar unnötig erscheinen, einen Beitrag zur Analyse von Warenketten mit einem Abschnitt zur Frage „Was ist ein Markt?“ zu beginnen, da Märkte in den Sozialwissenschaften vielfach definiert wurden. In den Wirtschaftswissenschaften werden sie zumeist als konkrete oder virtuelle „Orte“ des Zusammentreffens von Angebot und Nachfrage verstanden. Die Neuere Wirtschaftssoziologie konzipiert sie hingegen als „Arenen sozialen Handelns“, die eine „soziale Struktur und institutionelle Ordnung zum Tausch von Rechten an Gütern und Leistungen“ darstellen (Aspers & Beckert, 2008, S. 225). Stärker als die Wirtschaftswissenschaft hat sich die Wirtschaftssoziologie den Voraussetzungen und Einflussfaktoren ihrer Existenz und Funktionsweise gewidmet. In einer Vielzahl von Studien wurde gezeigt, dass kulturelle und institutionelle Faktoren sowie Netzwerke Märkte sowohl konstituieren als auch regulieren (vgl. systematisch Zukin & DiMaggio, 1990). Warum dann also ein kurzes Kapitel über Märkte? Märkte wurden in der Neueren Wirtschaftssoziologie weitgehend „problemorientiert“ untersucht. Ausgangspunkt vieler Arbeiten ist die Feststellung, dass Märkte durch vielerlei Unsicherheiten gekennzeichnet sind, so z. B. über Produktqualitäten (Karpik, 2010; Nessel, 2016a), über die „Ehrlich-

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keit“ der Tauschpartner (Granovetter, 1985) oder über die Festlegung von Strategien im Lichte des Wissens um die Handlungsfreiheit anderer (doppelte Kontingenz), der Offenheit der Zukunft oder der eigenen „bounded rationality“ (Zukin & DiMaggio, 1990). Folgt man einem vielbeachteten Vorschlag von Jens Beckert (2009), dann können diese Unsicherheiten als „Probleme“ aufgefasst werden, die Konsumenten und Firmen „lösen“ müssen, damit Märkte existieren und dauerhaft funktionieren – sogenannte „Wert-“, „Kooperations-“ und „Koordinationsprobleme“. Die Lösung dieser Probleme wird nach Beckert und einer Vielzahl wirtschaftssoziologischer Autoren maßgeblich durch die Einbettung von Märkten und Marktakteuren in institutionelle und kulturelle Strukturen sowie in Netzwerke ermöglicht. Für die in diesem Beitrag verfolgte Argumentation ist nun bedeutsam, dass ein solcher Ansatz nicht genauer zwischen drei konstitutiven Marktelementen unterscheidet, nämlich den Marktobjekten, den Marktteilnehmern und dem Marktwettbewerb (Engels, 2009; Nessel, 2016a). Problematisch an einer solchen „Problemzentrierung“ ist des Weiteren, dass hierdurch ein systematischer Blick auf die Effekte aller drei Einbettungsstrukturen auf alle drei genannten Elemente erschwert wird. Entgegen einer solchen Perspektive wird in diesem Beitrag eine gegenstandsbezogene Analyse angewendet, die vor allem die kulturelle und institutionelle Einbettung systematisch auf Marktobjekte, Marktteilnehmer und Marktwettbewerb bezieht. Ein solcher Ansatz wird im Folgenden kurz skizziert und in Kapitel vier auf den Lebensmittelmarkt angewendet. Damit Märkte entstehen, müssen zunächst einmal Objekte existieren, die im Tausch zwischen Akteuren gehandelt werden können, d. h. Ressourcen müssen zu Marktobjekten werden. Aus soziologischer Sicht müssen hierzu mehrere Kriterien erfüllt sein. Zunächst müssen Ressourcen moralisch oder normativ als Marktobjekte legitimiert werden (kulturelle Einbettung; Engels, 2009; Zelizer, 1983). Zweitens müssen sie mit Eigentums-, Verfügungs- und Nutzungsrechten belegt werden, die in modernen Gesellschaften von Staaten definiert und durch das Recht umgesetzt werden (institutionelle Einbettung; Fligstein, 1996, 2001). Schließlich müssen sie klassifiziert und mit Preisen belegt werden (Beckert & Musselin, 2013). Sind Ressourcen als Marktobjekte konstituiert, bedarf es Akteuren, die diese anbieten und nachfragen, den Marktteilnehmern. Die Entstehung von ökonomischen und sozialen Interessen, die Konsumenten und Anbieter erst zu Marktteilnehmern „machen“, werden in der Soziologie als sozial voraussetzungsvoll aufgefasst (Nessel, 2017). Dass Akteure beabsichtigen, am Markttausch teilzunehmen, ist, neben weiteren strukturellen Faktoren, Ergebnis eines historischen Sozialisationsprozesses (kulturelle Einbettung; Bourdieu, 2005; Weber, 1920). Wer unter welchen Bedingungen auf Märkten teilnehmen

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kann, wird in modernen Gesellschaften hingen durch staatliche Regulierungen definiert (rechtliche Einbettung; Nessel, 2017). Marktteilnahme beinhaltet darüber hinaus ein sozial hergestelltes Wissen (Callon, 1998), z. B. über die Frage, „what the market is about“ (White, 1981). Neben Marktobjekten und Marktteilnehmern stellt Wettbewerb das dritte konstitutive Merkmal von Märkten dar (Engels, 2009). Im Gegensatz zu den Tauschmodi Umverteilung oder Reziprozität ist der Markttausch ganz wesentlich durch Wettbewerb charakterisiert. Dies ist auch der Kern von Max Webers (1985, S. 364) klassischer Definition eines Marktes: „Von einem Markt soll gesprochen werden, sobald auch nur auf einer Seite eine Mehrheit von Tauschreflektanten um Tauschchancen konkurrieren“. Konsumenten und Anbieter konkurrieren auf Märkten zunächst um die Möglichkeit, in konkrete soziale Beziehungen mit Anderen einzutreten, um dann Ressourcen zu tauschen. Erst nachdem ein Vergleich von Angeboten konkreter und potenzieller Tauschpartner erfolgt ist, werden Tauschgeschäfte realisiert: „Dies ist eben die Konsequenz, daß innerhalb der Marktgemeinschaft der Tauschakt, zumal aber der Geldtauschakt, sich nicht isoliert an dem Handeln des Partners, sondern, je rationaler er erwogen wird, desto mehr an dem Handeln aller potenzieller Tauschinteressenten orientiert“ (Webers 1985, S. 364; kulturelle und strukturelle Einbettung). Um solche Vergleiche anzustellen, bedarf es verschiedener Wissensquellen, z. B. über Produkteigenschaften (Karpik, 2010) oder über die Anbieter und Nachfrager von Produkten (Granovetter, 1985). Oder es bedarf rechtlicher Regulierungen, die teils ein Substitut für „Nichtwissen“ über Produktqualitäten oder Tauschpartner sein können und in Form von Rückgabe- und Gewährleistungsrechten sowie Qualitätsmindeststandards existieren (Nessel, 2017). Die bisherigen Ausführungen zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass der (formal und rechtlich) freiwillige, durch Wettbewerb koordinierte Tausch von Ressourcen und die Konkurrenz der Marktteilnehmer um reale und potenzielle Angebote von Marktobjekten die soziale Struktur von Märkten begründen. Welche Konsequenzen haben diese Ausführungen nun für eine Analyse von Warenketten und des Lebensmittelmarktes? Drei Konsequenzen sind besonders hervorzuheben. Erstens, dass Produkte nur dann auf einem nationalen Markt existieren werden, wenn sie sowohl normativ-kulturell als auch rechtlich legitimiert sind. Werden Produkte aufgrund kultureller Wertvorstellungen in einer Gesellschaft abgelehnt und/oder rechtlich verboten, wird keine globale Produktion zumindest für solche nationalen Märkte benötigt. Zweitens, dass die Interessen der Marktteilnehmer durch ihr kulturelles und institutionelles Umfeld (mit)geprägt werden. Die kulturelle Einbettung prägt auf der Konsumseite die Nachfrage nach bestimmten Produkten, auf der Firmenseite das Produktangebot

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(Nessel, 2016b, 2017). In Bezug auf globale Warenketten bedeutet dies, dass Konsuminteressen die Nachfrage und hierüber die Herstellungsbedingungen und das Produktangebot beeinflussen (Ponte & Gibbon, 2005). Die institutionelle Einbettung legt hingegen fest, wer unter welchen Bedingungen am Markt teilhaben und handeln kann. Da der Großteil moderner Lebensmittelmärkte unter Wettbewerbsbedingungen organisiert ist, bedarf es drittens Mechanismen zur Regulierung und Aufrechterhaltung des Wettbewerbs.2 Je nach deren Ausgestaltung sind die Markt- und Machtbeziehungen zwischen Endkonsumenten und Anbietern, zwischen Anbietern auf nationalen Märkten sowie zwischen Akteuren in globalen Warenketten ausgestaltet (Abschn. 3.3). Im Folgenden wird das bisher skizzierte Marktverständnis, das die Bedeutung sozialer Strukturen auf die konkrete Ausgestaltung von Marktobjekten, Marktteilnehmerschaft und Marktwettbewerb bezieht, auf den deutschen Lebensmittelmarkt angewendet. Zunächst wird gezeigt, wie der Staat aber auch andere nationale Wirtschaftsakteure die soziale Einbettung der genannten Marktelemente beeinflussen und welche Effekte dies auf Warenketten und deren -arrangement haben kann. Daran anschließend wird eine akteurs- und konflikttheoretische Perspektive eingenommen, die die konkrete soziale Einbettung des Lebensmittelmarktes auf den Ausgang von Machtkämpfen zwischen kollektiven Akteuren der Angebots- und Nachfrageseite zurückführt.

3 Zum Einfluss nationaler Wirtschaftsakteure auf Marktobjekte, Marktteilnehmer und Marktwettbewerb In diesem Teil des Beitrags wird der Einfluss nationaler Wirtschaftsakteure auf den deutschen Lebensmittelmarkt untersucht. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Analyse des Nationalstaats und nationaler Verbraucher- und Unternehmensverbände sowie Aufsichtsbehörden, die bisher in Warenkettenansätzen weitgehend vernachlässigt wurden. Anhand des zuvor skizzierten Rahmens wird gezeigt, wie diese nationalen Wirtschaftsakteure die Ausgestaltung der auf Lebensmittelmärkten gehandelten Waren (Abschn. 3.1), die Rechte und Pflichten der

2Allerdings

ist Wettbewerb nur eine, wenngleich zentrale Koordinationsform von Märkten, der Ökonomie insgesamt (Elder-Vass, 2016) sowie von Warenketten (Ponte & Gibbon, 2005). Auch sind marktliche und nicht-marktliche Praktiken sowie ihr Wechselspiel in Marktanalysen einzubeziehen (Kraemer & Nessel, 2011; Nessel, 2012).

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­ arktakteure und ihre Interessen (Abschn. 3.2) sowie die sozialen Beziehungen M von Konsumenten, Produzenten und Retailer über den Wettbewerb beeinflussen (Abschn. 3.3).

3.1 Zum Einfluss nationaler Wirtschaftsakteure auf Marktobjekte Nationale Wirtschaftsakteure rahmen die Ausgestaltung von Marktobjekten vor allem über deren institutionelle Einbettung. Die institutionelle Einbettung von Lebensmitteln wird insbesondere durch politische und rechtliche Maßnahmen umgesetzt. Solche Maßnahmen lassen sich in ein Kontinuum zwischen starken (Ge- und Verbote, Mindeststandards), mittelstarken (Steuern) und weichen (Informationsinstrumente) Eingriffen in Lebensmittelmärkte einordnen. Da solche Maßnahmen kulturell geprägt und begründet werden, muss eine Analyse von Marktobjekten zugleich deren kulturelle Einbettung berücksichtigen. Ge- und Verbote definieren, welche und wie Produkte hergestellt werden können. Am Lebensmittelmarkt beziehen sich Verbote einzelner Produkte zumeist auf eine temporäre Beschränkung ihres Inverkehrbringens. Sie werden vor allem in „Krisenzeiten“ angewendet, in denen das Inverkehrbringen von Lebensmitteln aus bestimmten Regionen bzw. Ländern ausgesetzt wird. Prominente Beispiele sind „dioxinbelastete“ Eier, „BSE“ belastetes Rindfleisch oder „EHEC“ belastete Gurken. Verbote von Produktinhaltsstoffen oder Gebote zur Festlegung ihrer Obergrenzen finden sich hingegen regelmäßig. Ein Beispiel hierfür ist das Verbot von gentechnisch veränderten Sequenzen in Nahrungs- und Futtermitteln, das mittlerweile auf eine EU-weite Obergrenze von 0,9 % bezogen ist. Ge- und Verbote von Produktinhaltsstoffen definieren Mindestqualitätsstandards, die Anbieter einhalten müssen, wenn sie Waren in Deutschland verkaufen wollen. Solche national definierten Mindeststandards für Lebensmittel können sich auf die Organisation der gesamten Warenkette auswirken (vgl. Abschn. 5). Durch Ge- und Verbote umgesetzte Markteingriffe werden zumeist mit gesundheitlichen Risiken begründet, die von Verzehr (Konsumenten) oder Nutzung (Produzenten im Bereich Futtermittel) von Lebensmitteln bzw. ihrer Zwischenprodukte ausgehen können. Sie basieren auf wissenschaftlichen Risikobewertungen durch Behörden und Ministerien auf Bundes- und Landesebene (Grugel, 2017). Wissenschaftliches Wissen über mögliche gesundheitliche Effekte von Produkten und deren Inhaltsstoffen spielen bei Risikobewertungen ebenso eine Rolle wie das Wissen über den Warenfluss, d. h. über Anbaumethoden und Zwischenprodukte vom „Feld“ (Produzenten) bis hin zum

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­ ertrieb (Retailer). Allerdings hängt dieses „Wissen“ nicht nur von vermeintlich V „objektiven Verfahren“ ab. Vielmehr ist es zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen umstritten und abhängig von kulturellen Deutungsmustern, welche die Interpretation von Risikobewertungen prägen (vgl. Abschn. 4) Ge- und Verbote definieren rechtlich „erlaubte“ Produkte und Produktinhaltsstoffe. Steuern beeinflussen hingegen zuvorderst den Warenpreis. In Deutschland ist für die meisten Lebensmittel der volle Steuersatz von 19 % zu entrichten. Sogenannte „Grundnahrungsmittel“ wie Obst, Gemüse, Milchprodukte, Fleisch, Fisch, Eier, Backwaren oder Getreideerzeugnisse sind hiervon ausgenommen und mit einem ermäßigten Steuersatz von sieben Prozent belegt. Einige wenige Lebensmittel werden hingegen mit zusätzlichen Abgaben belegt (wie z. B. Schaumweine und Spirituosen). Ob und wie der Staat durch Steuern den Konsum dieser Lebensmittel relativ zu anderen genau beeinflusst, sei dahingestellt. Bedeutsam ist vielmehr, dass der Nationalstaat durch Steuern die Preise für Lebensmittel und hierüber deren Nachfrage beeinflussen kann und Steuern ebenso wie Ge- und Verbote Ausdruck kultureller Wertvorstellungen sind. Wie sich eine rechtliche und kulturell begründete Klassifikation von Produkten und deren Besteuerung auf Konsum- und Firmenentscheidungen sowie auf Märkte auswirkt, kann exemplarisch am Beispiel von „Alcopops“, d. h. Mischgetränken mit Spirituosen und einem Alkoholgehalt unter 6 % Vol., veranschaulicht werden. Alcopops waren bei ihrer Einführung Anfang 2000 gesetzlich als „Bier-­WeinMischgetränke“ klassifiziert. Jugendschutzüberlegungen führten 2002 dann zu einer Sondersteuer auf diese Produkte, die ihren Preis vervielfachte, und zu einem massiven Nachfragerückgang führte. Die Hersteller reagierten darauf mit einer Verminderung des Alkoholgehalts von Alcopops, um ihren Preis wieder zu verringern. Den Absatz hat dies allerdings nicht wieder gesteigert. Große Hersteller nahmen Alcopops daraufhin von Markt oder stellen sie heute weitgehend auf „Bier-Wein-Basis“ her, da derart hergestellte Getränke nicht von der Sondersteuer betroffen sind. Dieses Beispiel zeigt exemplarisch, wie Steuern nicht nur das Konsumverhalten, sondern auch die Strategien von Anbietern, die Ausgestaltung von Waren sowie ganze Marktsegmente beeinflussen. Fasst man den Begriff von Lebensmitteln wie im deutschen Recht und in diesem Beitrag weit und berücksichtigt internationale Erfahrungen, dann wird die Bedeutung von Steuern für die Funktionsweise von Märkten weiter ersichtlich. So hat eine „Zuckersteuer“ in Großbritannien oder Mexiko Hersteller von „Süßgetränken“ zur Reduktion des Zuckergehalts in Limonade veranlasst (vgl. für Mexiko und allgemein Brownell et al., 2009). In beiden Ländern werden seitdem vermehrt Süßgetränke mit synthetischen Zuckersubstituten angeboten. Steuern können sich demnach auch auf die Produktqualität auswirken. Über die Wirkung solcher Zuckersteuern

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auf den globalen Anbau natürlicher Süßungsmittel, wie z. B. Stevia, liegen hingegen noch keine belastbaren Studien vor. Solche wären für Warenkettenanalysen jedoch überaus relevant, da sie die Effekte nationaler Steuern auf globale Warenketten und den globalen Anbau von „Inputs“ genauer verdeutlichen würden. Informationsinstrumente stellen schließlich „weiche“ Eingriffe in Märkte dar. Sie zielen weitgehend darauf ab, Konsumenten einen Vergleich von Preisen und Qualitäten am point of sale zu erleichtern sowie ihr Wissen über Produkte zu erhöhen (Schrader et al., 2013). Auf den ersten Blick mag es kaum erwähnenswert sein, dass Preise den Kunden offengelegt werden müssen. Relevant ist auch vielmehr, wie Preise ausgezeichnet sein müssen – nämlich in einer Form, die Vergleiche erleichtert. So sind seit der EU Price Indication Directive von 1998 sogenannte Grundpreisangaben für viele Lebensmittel direkt am Verkaufsort anzubringen, so z. B. der Preis pro Kilo oder der Preis pro Liter. Hierdurch können Konsumenten Produkte besser vergleichen. Solche Grundpreisangaben sind gerade vor dem Hintergrund bedeutsam, dass Verpackungsgrößen vielfach nicht den Produktinhalt widerspiegeln (wobei auch Richtlinien zur Ratio zwischen Verpackungsgröße und Produktinhalt bestehen). Informationsinstrumente beziehen sich darüber hinaus auf das Marketing und legen die auf Verpackungen anzugebenden Qualitäten und Inhaltsstoffe fest, so z. B. die bereits genannten „gentechnisch veränderten Sequenzen“ u. v. a. m. Schließlich werden über das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb (UWG) die auf Verpackungen oder in der Werbung angegebenen Produktqualitäten reguliert. Das UWG trägt dazu bei, dass die von Herstellern versprochenen Qualitäten besser eingehalten werden, so z. B. die geografische Herkunft oder die angegebenen Inhaltsstoffe. Das UWG wird aufgrund seiner „Lücken“ allerdings regelmäßig von Verbraucherverbänden kritisiert. Wie für die wissenschaftliche Risikobewertung als Grundlage von Ge- und Verboten, zeigt sich auch hier die Umstrittenheit des Rechts (vgl. Abschn. 4). Einen besonderen Fall von Informationsinstrumenten stellen Nachhaltigkeitslabel dar. Durch die Vergabe von ökologischen Label wie dem „deutschen Bio-Siegel“ oder dem „Blauen Engel“ bewerten staatliche Stellen „ökologische Produktqualitäten“. Anbieter können solche Zertifizierungen auf Produkte anbringen und deren Qualität so glaubhafter vermitteln (Nessel, 2017). Da ökologische Produktqualitäten für Konsumenten nicht nachprüfbar sind, reduzieren Label damit die Unsicherheit hinsichtlich dieser Produktversprechen. Und da Konsumenten staatlichen Label in hohem Maße vertrauen, werden gelabelte Produkte auch stärker nachgefragt als nicht gelabelte oder mit privaten Label versehene (Koos, 2011). Anbieter, die ihre Produkte von der Politik

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z­ertifizieren lassen, werden schließlich zur Einhaltung verbindlicher Mindeststandards bewogen. Die nationale Ausgestaltung solcher Mindeststandards wirkt sich wiederum auf die Anbaumethoden und die Herstellungsbedingungen in den Exportländern aus. Am Beispiel von Label kann zugleich die Bedeutung von Verbraucherorganisationen für Märkte verdeutlicht werden. Einerseits vergeben auch diese Organisationen eigene Label, wie z. B. die Stiftung Warentest. Andererseits tragen sie dazu bei, Unterschiede zwischen Label durch Rankings oder Detailbeschreibungen deutlich zu machen. Solche Meta-Bewertungen von Produktqualitäten werden Konsumenten z. B. durch Apps oder in Konsumentenzeitschriften, Radio- und Fernsehsendungen zugänglich. Da es in Deutschland mittlerweile ca. 400 soziale und ökologische Zertifizierungen gibt und diese vielfach auch von Lebensmittelanbietern selbst stammen, ergeben sich für Konsumenten aus diesem „Label-Dschungel“ neue Unsicherheiten auf höherer Abstraktionsebene. Durch ihre Bewertungspraxis erhöhen Verbraucherorganisationen das Wissen der Konsumenten, um auch verschieden gelabelte Produkte besser unterscheiden zu können. Dass sie hierzu auch selbst eines hohen Maßes an Wissen bedürfen, sei hier nur erwähnt. Festzuhalten ist vielmehr, dass der Staat und auch Verbraucherorganisationen durch die Bewertung von Produktqualitäten als Informationsintermediäre zwischen Konsumenten und Anbietern auf Märkten auftreten und wichtige Instanzen der Urteilsbildung bei der Produktwahl sind (Nessel, 2016a, 2016b).

3.2 Zum Einfluss nationaler Wirtschaftsakteure auf die Marktteilnehmerschaft Welche Akteure unter welchen Bedingungen auf Märkten partizipieren können, wird maßgeblich durch politische Maßnahmen und das Recht definiert. Über die kulturelle Einbettung von Konsumenten und Anbietern beeinflussen nationale Wirtschaftsakteure darüber hinaus die Interessen der Akteure, d. h. welche Produkte angeboten und nachgefragt werden. Wer als Marktteilnehmer zu definieren ist, wird durch allgemeine Rechtsgrundsätze und konkrete Regulierungen festgelegt. Marktzugangsbeschränkungen definieren, wer am Lebensmittelmarkt partizipieren kann. Solche Beschränkungen werden für Konsumenten insbesondere mit gesundheitlichem Verbraucherschutz begründet. So dürfen z. B. Bier, Wein und deren Mischvarianten in Deutschland nicht an Jugendliche unter 16 Jahren verkauft werden, „Spirituosen“ nicht an Jugendliche unter 18. Einige Bundesländer haben den

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Alkoholverkauf temporär auch für Erwachsene an bestimmten Verkaufsstellen ausgesetzt, so z. B. Baden-Württemberg zwischen 2007 und 2017 an Tankstellen und Supermärkten nach 22 Uhr. Unter Jugendschutzüberlegungen wird seit längerem auch ein Abgabeverbot von „Energydrinks“ an unter 18-Jährige diskutiert, das in der EU in Lettland und Litauen besteht. Auf der Konsumseite definieren Marktzugangsbeschränkungen demnach, wer als „Konsument“ gilt und (legalen) Zugang zum Markt hat (Nessel, 2017). Relevanter für die Marktteilnehmerschaft sind Zugangsregeln für Firmen. Lebensmittelanbieter und -Verarbeiter unterliegen strengen politischen Regulierungen, die u. a. im Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch sowie in der Hygieneverordnung festgeschrieben sind, und in Einklang mit der „EU-Basisverordnung“ sein müssen. Sie sind zu komplex, um sie in diesem Beitrag für jeden Marktbereich einzeln aufzulisten.3 Hinzuweisen ist vielmehr darauf, dass nur diejenigen Akteure als Anbieter von Lebensmitteln auftreten können, die solche Vorgaben regelmäßig erfüllen. Wie am Beispiel temporärer Verkaufsverbote verdeutlicht, kann der Marktzugang jederzeit rechtlich und politisch eingeschränkt werden. Über das Recht und politische Bestimmungen definiert der Staat letztlich, welche Firmen unter welchen Voraussetzungen Lebensmittel anbieten und vertreiben dürfen. Allgemeiner gesagt: Ohne die Zustimmung des Nationalstaats und die Einhaltung der von ihm definierten und durch das Recht umgesetzten Regulierungen können Akteure Lebensmittel weder (legal) anbieten noch nachfragen. Marktzugangsbeschränkungen auf der Anbieter- oder Konsumseite beeinflussen die Größe und Struktur von Märkten. Folgt man Einsichten des population ecology Ansatzes (Hannan & Freeman, 1977), dann wirkt sich die Marktgröße und -struktur wiederum auf die Gewinnaussichten von Firmen und Branchen sowie deren Strategien aus. Analog dazu führen temporäre Angebotsverbote von Lebensmitteln zur Veränderung von Machtpositionen: diejenigen Firmen und Branchen, die von temporären Verkaufsverboten betroffen sind, büßen mindestens kurzfristig an Macht und Einnahmen ein, die nicht betroffenen gewinnen vice versa dazu (vgl. Kuhn, 2001 am Beispiel der BSE-Krise und deren Folgen auf den verstärkten Absatz inländischen Schweinefleischs sowie auf den deutschen Außenhandel mit Rindfleisch). Wohl auch deswegen führen Gesetze oder auch nur Pläne zur Beschränkung des Marktzugangs regelmäßig zu heftigen

3Vgl. dazu je nach Bundesland und anhand konkreter Beispiele: (Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL), o. J).

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Gegenreaktionen von Firmen und Unternehmensverbänden in den betroffenen Branchen (vgl. Abschn. 4). Insbesondere verbraucherpolitische Maßnahmen garantieren Konsumenten gegenüber Anbietern darüber hinaus spezifische Rechte, die die Markt- und Machtverhältnisse zwischen den Parteien beeinflussen. Grundlegende Konsumentenrechte beinhalten das „Recht auf Sicherheit“, das „Recht auf Wahlfreiheit“, das „Recht auf Information“, das „Recht auf Wiedergutmachung“ sowie das „Recht auf Gehör“ (Nessel, 2017). Das „Recht auf Sicherheit“ wird in Deutschland vor allem durch die im letzten Abschnitt angesprochenen­ Ge- und Verbote umgesetzt, das „Recht auf Wahlfreiheit“ durch die im nächsten Abschnitt diskutierten wettbewerbspolitischen Maßnahmen. Das „Recht auf Gehör“ wird durch die Beteiligung von Verbraucherorganisationen im politischen Willensbildungsprozess gewährleistet. Es ist formal dem Verbraucherzentrale Bundesverband auf Bundes- sowie den Verbraucherzentralen auf Landesebene zugesichert. Über ihre Beteiligung am politischen Willensbildungsprozess nehmen Verbraucherorganisationen Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung marktlicher Regulierungen (Nessel, 2016a). Das „Recht auf Wiedergutmachung“ wird vor allem durch kollektive Klage- sowie durch individuelle Gewährleistungsrechte umgesetzt. Letztere legen fest, dass Lebensmittel rechtlich vorgeschriebene sowie von Anbietern versprochene Standards erfüllen müssen. Bei deren Nichteinhaltung können Konsumenten eine Preisreduktion, eine Nacherfüllung oder Schadensersatz fordern. Klagerechte stellen hingegen Instrumente dar, die Verbraucherorganisationen dazu ermächtigen, Anbieter zur Unterlassung einer Marktpraxis zu bringen (z. B. „falsche“ Preisauszeichnung oder Qualitätsangaben). Über beide Rechte wird das „caveat emptor“ Prinzip umgesetzt, d. h. dass Anbieter und nicht Konsumenten das Risiko dafür tragen, dass Waren in Einklang mit rechtlich garantierten und privat versprochenen Qualitätsstandards sind. Es ist gerade dieses Prinzip, dass die Machtposition von Konsumenten gegenüber Anbietern erheblich stärkt (Trumbulll, 2006a). Maßnahmen auf dieser Grundlage verdeutlichen auch, dass Marktmacht nicht „nur“ durch Zahlungsfähigkeit oder Marktstrukturen beeinflusst wird, sondern ganz wesentlich durch das Recht. Schließlich beinhaltet das „Recht auf Information“ die Offenlegung von Preisen und Produktinhaltsstoffen, wie bereits angesprochen. Darüber hinaus begründet es Maßnahmen im Bereich Verbraucherbildung. Verbraucherbildung beinhaltet durch Verbraucherorganisationen und staatliche Akteure umgesetzte schulische und außerschulische Bildungsangebote. Sie trägt dazu bei, das Wissen von Konsumenten über Märkte im Allgemeinen und über Marktangebote im Speziellen zu erhöhen. Und je höher dieses Markt- und Produktwissen desto

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eher werden Anbieter dazu motiviert, sowohl ökonomische als auch kulturelle Erwartungen an ihre Produkte und ihre Strategien umzusetzen (Nessel, 2016b). Die Diskussion um Marktteilnehmerschaft abschließend, wird im Folgenden auf die Bedeutung nationaler Wirtschaftsakteure hinsichtlich der Interessen von Konsumenten und Firmen eingegangen. Interessen, verstanden als Absicht, ein Produkt anzubieten oder nachzufragen, werden maßgeblich durch die soziale Einbettung von Akteuren in spezifische kulturelle Arrangements beeinflusst. Darin, dass die kulturelle Einbettung von Konsumenten deren Kaufentscheidungen beeinflusst, sind sich Warenketten- und wirtschaftssoziologische Ansätze (u. a. Bourdieu, 2005) prinzipiell einig. Wie erstere verdeutlicht haben, wirkt sich diese Einbettungsstruktur auf die Gestaltung der gesamten Warenkette aus (Coe et al., 2008; Ponte & Gibbon, 2005). Interessanterweise haben beide Ansätze den Einfluss der kulturellen und institutionellen Einbettung auf die Anbieterseite allerdings bisher eher vernachlässigt. Dass und wie nationale wirtschaftspolitische Akteure über beide Einbettungsstrukturen auch auf Anbieterinteressen einwirken, wird im Folgenden verdeutlicht. Wirtschaftspolitische Akteure können die Interessen von Anbietern durch zwei Strategien beeinflussen. Erstens durch die Veränderung ihres institutionellen Umfelds, z. B. durch öffentliche Beschaffungsrichtlinien. Der Staat reguliert und kontrolliert nicht nur Firmen, er tritt auch selbst als Nachfrager und Anbieter von Lebensmitteln auf (Horner, 2016; Schrader et al., 2013). Seit 2010 sind öffentliche Einrichtungen in Deutschland z. B. dazu angehalten, bei der Beschaffung nicht nur Preis-, sondern auch Nachhaltigkeitsaspekte zu berücksichtigen. Solche Vorgaben tragen dazu bei, Firmen durch ökonomische Anreize zur Herstellung bestimmter, in diesem Falle „nachhaltiger“, Produkte zu bewegen. Über seine Beschaffungspolitik trägt der Staat so dazu bei, „welche Angebote am Markt Erfolg haben und damit zukünftig verstärkt angeboten werden können und welche nicht“; er kann nämlich „das Angebot direkt beeinflussen“ (Schrader et al., 2013, S. 10). Darüber hinaus kann der Staat auch über andere Instrumente wie Subventionen oder Steuern Anreize setzen, die Anbieter dazu motivieren, bestimmte Strategien zu verfolgen und andere zu unterlassen, so z. B. die Reduktion von Zucker in Lebensmitteln oder die Herstellung nachhaltiger Produkte (vgl. oben). Der Staat und auch andere nationale Wirtschaftsakteure können die Interessen von Anbietern zweitens über die kulturelle Einbettung von Märkten verändern. Der Einfluss sozialer Bewegungen oder Verbraucherorganisationen auf die Interessen von Konsumenten und hierüber auf die Strategien der Anbieter wurde vielfach betont (vgl. aus wirtschaftssoziologischer Sicht King & Pearce, 2010; aus Sicht des Warenkettenansatzes Ponte & Sturgeon, 2014). Wenig beachtet

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ist bisher, dass der Staat auch durch öffentliche Kampagnen, Schulbildung, außerschulische Bildungsangebote oder Ratgeber Kauf- und Nichtkaufentscheidungen sowie Konsumverzicht anregt (Nessel, 2016b, 2017). Über solche Strategien werden Konsumenten dazu motiviert, nachhaltige Produkte eher als „nicht“-nachhaltige nachzufragen, „gesundheitsschädliche“ weniger als nicht als solche eingestufte (z. B. zuckerreduzierte oder alkoholfreie Produkte). Durch eine derartige Veränderung der Produktnachfrage beeinflussen nationale Wirtschaftsakteure indirekt auch Firmenstrategien (Gereffi & Mayer, 2004). Schließlich „moralisieren“ sowohl der Staat als auch Verbraucherorganisationen Anbieter, in dem sie z. B. deren Corporate Social Responsibility (CSR) einfordern. Wie Arbeiten zu CSR zeigen, kann bereits eine diskursiv formulierte moralische Anforderung z. B. über Kampagnen dazu führen, dass Anbieter ihre Produkte an den Forderungen von Konsumenten und Verbraucherbewegungen ausrichten (King & Pearce, 2010). Die staatliche Beschaffungspolitik und die politische und rechtliche Festlegung von Rechten und Pflichten der Marktteilnehmer definieren das institutionelle Umfeld von Firmen. Die letztgenannten Strategien unterschiedlicher nationaler Wirtschaftsakteure sind hingegen Teil ihres kulturellen Umfelds. Geht man nun auf Grundlage des soziologischen Neoinstitutionalismus davon aus, dass Firmen „offene Systeme“ sind (Meyer & Rowan, 1977), dann tragen nationale wirtschaftspolitische Akteure über beide Mechanismen dazu bei, die Interessen von Konsumenten und Anbietern zu beeinflussen. Die so begründeten und national variierenden Konsum- und Firmenstrategien können sich dann wiederum auf die Gestaltung der gesamten Warenkette auswirken (Gereffi & Mayer, 2004; Ponte & Gibbon, 2005; Ponte & Sturgeon, 2014). Ganz ähnlich können sich variierende Strategien und Machtverhältnisse im politischen Feld auswirken (vgl. in Bezug auf Verbraucherpolitik im Allgemeinen z. B. Trumbull, 2006a).

3.3 Zum Einfluss nationaler Wirtschaftsakteure auf den Marktwettbewerb Die bisher genannten Strategien wirtschaftspolitischer Akteure zur Strukturierung von Marktobjekten und Marktteilnehmerschaft haben direkt und indirekt auch Einfluss auf den Wettbewerb. So wirkt sich ein Verbot einzelner Produkte oder Produktinhaltsstoffe unmittelbar auf die Markt- und Machtposition eines Herstellers bzw. einer Branche relativ zu einer anderen aus. Auch durch die Steuer- und Beschaffungspolitik des Staates wird der Wettbewerb unter den Anbietern beeinflusst. Politische Maßnahmen im Bereich der Marktteilnehmer-

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schaft wirken sich hingegen auf die Machtbeziehungen zwischen Konsumenten und Anbietern aus. Wenngleich die genannten Praktiken den Wettbewerb beeinflussen, zielen sie nicht zuvorderst darauf ab, diesen direkt zu regulieren. Die Wettbewerbsregulierung ist in Deutschland Aufgabe des Wirtschaftsministeriums und der Kartellbehörden. Diese sollen im Rahmen einer liberalen Wirtschaftsund Verbraucherpolitik Kartelle und Preisabsprachen verhindern und so ein hohes Maß an Wettbewerb gewährleisten. Hierdurch soll ein „fairer“ Preis- und Qualitätswettbewerb sichergestellt werden, der, so die Annahme, Konsumenten günstige Preise und hohe Produktqualität garantiert sowie Innovationen anregt (vgl. grundlegend Kuhlmann, 1990). Insbesondere durch das Kartellrecht nimmt der Staat Einfluss auf den Wettbewerb. Die Bedeutung des Kartellrechts wurde aus wirtschaftssoziologischer Perspektive insbesondere von Neil Fligstein am Beispiel der USA analysiert (Fligstein, 1996, 2001). Er zeigte, wie die historische Ausgestaltung von Kartellgesetzen die Strategien von Firmen sowie die Machtbeziehungen zwischen ihnen strukturiert. Eine solche Perspektive wird im Folgenden auf den deutschen Lebensmittelmarkt angewendet und erweitert. Gezeigt wird, dass die Regulierung des Wettbewerbs nicht nur Effekte auf nationale Marktbeziehungen hat, sondern auch auf globale Warenketten. Wettbewerbspolitische Regulierungen im Rahmen des Kartellrechts beziehen sich auf zwei Bereiche: Auf die Verhinderung einer marktbeherrschenden Stellung einzelner oder nur weniger Anbieter („Fusionskontrolle“) und den hierdurch möglichen Missbrauch von Marktmacht („Missbrauchsaufsicht“) sowie auf die Verhinderung von Preisabsprachen („Kartellverbot“).4 Preisabsprachen zwischen Anbietern sind am Lebensmittelmarkt häufig. Allein im Jahr 2016 wurden nach langjährigen Verfahren Kartellstrafen gegen 27 Unternehmen in Höhe von 260 Mio. EUR verhängt. Betroffen waren hier die Warengruppen Bier, Kaffee und Süßwaren. Analytisch können Preisabsprachen und die hierzu eingegangenen Kartelle als kooperative Strategien einiger Anbieter gegenüber Mitbewerbern und Konsumenten verstanden werden.5 Kartelle stärken bzw. erhalten

4Vgl.

für die folgenden Ausführungen und deren Angaben, sofern nicht anders angegeben: (Bundeskartellamt, 2018). 5Kartelle verdeutlichen, dass auf Märkten nicht nur Konkurrenz zwischen den Akteuren herrscht, sondern auch Kooperation. Sie und ihre praktische Umsetzung bekräftigen das bereits 1981 von Harrison White theoretisch begründete Argument, dass die Einschränkung von Wettbewerb ein konstitutives Element von Märkten ist. Sie bekräftigen darüber hinaus das Argument, dass Märkte Konflikt- und Kooperationsarenen sind (Nessel, 2012).

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prinzipiell die Machtposition ihrer Teilnehmer in einer Branche. Sie führen dazu, dass Konsumenten höhere Preise für Waren zahlen und behindern Innovation. Sie machen es darüber hinaus für ausländische Anbieter schwieriger, ihre Produkte in einem Land abzusetzen und können sich unter bestimmten Umständen auch auf ausländische Märkte auswirken. Ein Beispiel hierfür ist das „Zuckerkartell“ der drei größten deutschen Zuckeranbieter. Durch Preisabsprachen haben diese einerseits den Marktzugang ausländischer Anbieter erschwert und die in ihrem „Gebiet“ nicht nachgefragte Zuckermenge ins Ausland exportiert, was andererseits die Marktposition der dortigen Anbieter verschlechterte. Kartellverbote begrenzen solche Praktiken, können sie allerdings nicht gänzlich verhindern (vgl. zu Existenz und Effekten von Export-, Einkaufs-, und Preiskartellen genauer Feunteun, 2015). Wie Pierre Bourdieu in einem Beitrag mit dem Titel „das Recht und die Umgehung des Rechts“ treffend argumentiert hat, ist die Missachtung des Rechts aber nicht gleichzusetzen mit seiner Bedeutungslosigkeit. Ganz im Gegenteil: Aus feldanalytischer Perspektive bestätigen Strategien zur Umgehung des Rechts dessen implizite Anerkennung und seine Bedeutung für Feldstrukturen und Handlungsstrategien. Fusionskontrollen zielen hingegen auf die Beschränkung einer marktbeherrschenden Stellung einzelner Firmen bzw. Firmengruppen insbesondere im Bereich des Warenvertriebs ab. Wie der Lebensmitteleinzelhandel (LEH) in einigen anderen europäischen Ländern (z. B. Großbritannien, Österreich, Schweden), ist auch der deutsche LEH durch eine hohe Marktkonzentration gekennzeichnet. Vier große Handelsketten teilen sich ca. 80 % des LEH untereinander auf. Eine solche Konzentration beschränkt einerseits das Recht der Konsumenten auf Wahlfreiheit des Angebots. Andererseits trägt sie dazu bei, dass das Machtpotential der vier großen deutschen LEH-Ketten gegenüber ihren nationalen und internationalen Zulieferern erheblich zugenommen hat, zumindest wenn diese nicht must haves anbieten, d. h. Premiummarken wie z. B. Coca-Cola (Hanf & Hanf, 2005). Mit der Einführung von Handels- bzw. Eigenmarken haben sich die Retailer einen immer größeren Anteil der Wertschöpfung in globalen Warenketten angeeignet. Sie sind heute nicht mehr nur Distributoren von Waren, die Ihnen angeboten werden, sondern sie geben die Herstellung von Handelswaren selbst in Auftrag und kontrollieren so diese Produktionskette. Im Rahmen ihres global sourcing führen Retailer in den Produktionsländern neue Mechanismen und Standards der Qualitätskontrolle ein. Zugleich führt ihr Eintritt in den Produktionsbereich zu einer Zunahme des globalen Wettbewerbs. Gerade „kleine“ Anbieter können die geforderten Preise und Qualitätskriterien häufig nicht mehr erfüllen und verlieren in der Warenkette zunehmend an Einfluss. Zugleich sind auch Premiumanbieter durch die Einführung von

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Handelsmarken einem verstärkten Wettbewerb ausgesetzt. Kurzum: Die zunehmende Konzentration im LEH und die damit einhergehende Internationalisierung der Handelsketten wirken sich auf die Strategien der Produzenten sowie die Herstellungsbedingungen im In- und Ausland aus. Dies beeinflusst wiederum die Machtpositionen zwischen Marken- und Handelsmarkenherstellern sowie zwischen „großen“ und „kleinen“ Lebensmittelproduzenten (Dolan & Humphrey, 2000; Hamilton et al., 2011; Hanf & Hanf, 2005). Selbstredend ist das deutsche Kartellrecht nur ein Faktor zur Begrenzung der Marktmacht nationaler Retailer. Auch kann das Kartellrecht eine marktbeherrschende Stellung weniger Retailer nur ansatzweise verhindern. Dennoch: Ohne regulatorische Bestimmungen zur Begrenzung ihrer Marktmacht, wäre die Konzentration im deutschen LEH wie auch in anderen Ländern vermutlich noch höher, und deren Folgen für Produzenten und globale Warenkettenarrangements noch größer. Denn je stärker die Machtposition eines Retailers auf einem großen nationalen Markt wie in den USA, in Großbritannien oder Deutschland ist, desto größer sind die finanziellen und organisatorischen Ressourcen zur weiteren Expansion in Produktmärkte, der Einfluss auf globale Qualitätsstandards und auf Herstellungspreise (vgl. dazu die Beiträge in Hamilton et al., 2011). Als Fazit dieses Abschnitts lässt sich folgendes festhalten: Wettbewerbspolitische Regulierungen definieren den rechtlichen Rahmen, innerhalb dessen Firmen um Kunden konkurrieren und ihre Angebote gestalten können. Sie regulieren die Macht- und Marktbeziehungen zwischen verschiedenen Marktakteuren, d. h. zwischen Retailern und Endverbrauchern, zwischen Retailern und Produzenten sowie zwischen einzelnen Produzenten. Schließlich kann ihre Ausformulierung unter bestimmten Umständen auch internationale Produktmärkte und Produktionsstrategien sowie die Organisation globaler Warenketten verändern.

4 Die Einbettung von Lebensmittelmärkten als umkämpfte Arena In den bisherigen Ausführungen wurde argumentiert, dass nationale Wirtschaftsakteure die Ausgestaltung der auf Lebensmittelmärkten gehandelten Waren sowie die Beziehungen der Marktteilnehmer und deren Koordination durch Wettbewerb beeinflussen. Im Folgenden wird eine konflikttheoretische Perspektive eingenommen, welche die kulturelle und institutionelle Einbettung von Märkten als umkämpft zwischen gesellschaftlichen Gruppen auffasst. Diese Perspektive verdeutlicht, dass nationale Interessenorganisationen und deren Machtverhält-

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nisse wichtige Faktoren für die konkrete Ausgestaltung von Marktobjekten, Marktteilnehmerschaft und Marktwettbewerb sind. Um dies zu begründen, ­ werden zwei Ebenen genauer unterschieden: der Kampf um institutionellen Einfluss sowie der Kampf um kulturellen Einfluss auf Märkte. Mit Kämpfen um kulturellen Einfluss sind Konflikte um die kulturelle Interpretation von Märkten angesprochen. Sie beinhalten Deutungskämpfe um die Definition „guter“ Produkte, „guten“ Marktteilnehmern und „fairem“ Wettbewerb. Solche Kämpfe werden auch über „gerechte“ Löhne, „regionale Entwicklungsperspektiven“ im In- und Ausland oder über globale und lokale „Umweltprobleme“ geführt, die hier aus Platzgründen aber nicht behandelt werden können. Sie spielen sich vor allem in der Marktöffentlichkeit ab, d. h. in für Konsumenten öffentlich zugänglichen Informationsorganen wie Tages- oder Wochenzeitungen, Fernseh- und Radiosendungen, (Test)Magazinen sowie in neuen Medien („Facebook“, „YouTube“, „Twitter“). Bestandteil dieser Marktöffentlichkeiten sind neben einzelnen Firmen kollektive Akteure der Angebotsund Nachfrageseite (Nessel, 2016a). Auf der Angebotsseite sind vor allem der Spitzenverband der Lebensmittelwirtschaft (BLL), der Markenverband sowie der Bundesverband des Lebensmittelhandels zu nennen, auf der Nachfrageseite die Verbraucherzentralen der Länder und ihr Bundesverband, die Stiftung Warentest sowie diverse NGOs wie die Verbraucherinitiative, Foodwatch oder Greenpeace. Diese Organisationen sowie einzelne Firmen ringen in den und über die o.g. Informationsorgane(n) um die „Sichtweisen“ der Konsumenten auf den Markt. In Bezug auf die Frage nach einem „guten Produkt“ geht es in den Auseinandersetzungen zwischen Akteuren der Angebots- und Nachfrageseite vor allem um die Interpretation der Qualität und Sicherheit von Produkten. Durch vergleichende Warentests, Ratgeber oder Kampagnen beurteilen Verbraucherorganisationen regelmäßig Produkte und deren Qualitäten. Um nur ein Beispiel für solche Praktiken zu nennen: Die Stiftung Warentest führt regelmäßig vergleichende Tests durch, in denen zahlreiche Produkte hinsichtlich ihrer funktionalen oder sozial-ökologischen Eigenschaften verglichen und im Schulnotensystem beurteilt werden. Ergebnisse solcher Tests werden Konsumenten über Magazine aber auch über Radio- und Fernsehen sowie Pressemitteilungen zugänglich gemacht. Darüber hinaus können Anbieter mit diesen Urteilen direkt auf ihren Produkten werben. Sie können Konsumenten so deren Qualität durch anbieterunabhängige Zertifizierung glaubhafter vermitteln sowie direkt am Verkaufsort sichtbar machen. Verbraucherorganisationen sind im Anschluss an Karpik, (2010) daher als „Instanzen der Urteilsbildung“ zu kennzeichnen, welche die Unsicherheit von Konsumenten über Produktqualitäten reduzieren (Nessel, 2016a). Aufgrund ihrer Urteile sprechen sie darüber hinaus

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direkt oder indirekt Kauf- und Nichtkauf-Empfehlungen aus. Diese wirken sich wiederum auf Anbieterstrategien und das Marktangebot aus. Auch kann bereits die Ankündigung von Produkttests Hersteller zur Veränderung von Produkten, ihrer Inhaltsstoffe sowie ihrer Bewerbung bringen. Beide Effekte sind durch die hohe Glaubwürdigkeit von Verbraucherorganisationen bei Konsumenten begründet, d. h. durch kulturelle Deutungsmacht (vgl. zusammenfassend Nessel, 2016a). Hinzuweisen ist aber auch darauf, dass negative Produkturteile nicht immer zu Verhaltensveränderungen von Anbietern und Konsumenten führen. Die Bedingungen hierfür sind bisher kaum erforscht, dürften aber u. a. von der Deutungsmacht der jeweiligen Gruppen sowie von Kontextbedingungen wie der Substituierbarkeit von Produkten, dem Kosten- und Informationsaufwand eines Produktwechsels, der Stärke habitueller Konsumgewohnheiten oder der Marktposition eines Herstellers abhängen. Einzelne Anbieter reagieren auf „negative“ Produkturteile mit öffentlichen und teils auch rechtlichen Gegenstrategien. Einzelne Firmen sowie auch Anbieterverbände konkurrieren mit Verbraucherorganisationen darüber hinaus um die Definition von Qualitätsstandards sowie um Unternehmenspflichten gegenüber Konsumenten. Solche Deutungskämpfe drehen sich zumeist um die Fragen, wann ein Produkt als „sicher“ gilt und ob ein Produkt die in der Werbung oder auf Verpackungen versprochenen „funktionalen“, „geografischen“ oder „sozial-ökologischen“ Qualitäten erfüllt bzw. ab wann diese als „erfüllt“ gelten. Besonders interessant ist diesbezüglich, dass sich vielfach unterschiedliche Interpretationen darüber finden, ob bereits die Einhaltung rechtlicher Standards die „einzige Pflicht“ der Anbieter sein sollte oder ob diese die moralische Pflicht zu deren Übererfüllung haben. So kann ein „Erdbeerjoghurt“ nach deutschem Recht als ein solcher vermarktet werden, auch wenn er „nur“ eine einzige Erdbeere enthält; und ein „Schwarzwälder Schinken“ kann als solcher bezeichnet werden, auch wenn das darin enthaltene Fleisch nicht aus dem Schwarzwald kommt, sondern „nur“ dort geräuchert wurde. Verbraucherorganisationen sehen solche inhaltlichen und geografischen Produktklassifizierungen als illegitime Marktstrategien, die Anbieter hingegen als legitime, da rechtliche erlaubte. Bedeutsam ist nun, dass die Frage nach einem „guten Produkt“ in solchen Deutungskonflikten mit der Frage nach „guten“ Marktteilnehmern bzw. „guten“ Marktpraktiken verbunden wird. Verbraucherorganisationen vertreten zumeist die Auffassung, dass die Einhaltung rechtlicher Standards keineswegs die einzige Pflicht der Anbieter gegenüber Konsumenten sein sollte, Hersteller und Vertreiber bzw. deren Verbände sehen dies vielfach anders. Solche Konflikte werden in „Krisenzeiten“, wie in der BSE- oder der EHEC-Krise, zusätzlich durch Diskussionen über die Sicherheit von Produkten angeheizt, in denen sich

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die rechtliche Einhaltung von Produktstandards als problematisch erweist und die moralische Pflicht der Anbieter verstärkt öffentlich problematisiert wird. Sowohl in Krisenzeiten als auch in „normalen“ Zeiten wird von kollektiven Akteuren auch die Glaubwürdigkeit der jeweiligen Gegenseite öffentlich infrage gestellt. So stellt z. B. Foodwatch regelmäßig die Glaubwürdigkeit des BLL und der von ihm vertretenen Firmen infrage, ebenso wie der BLL die Glaubwürdigkeit von Foodwatch. Vielfach werden auch einzelne Maßnahmen von Verbänden öffentlich infrage gestellt, so z. B. das Vergleichsportal „Lebensmittelklarheit“ des VZBV durch einige Anbieterverbände. Solche Reputationskämpfe finden sich gerade im Lebensmittelmarkt häufig. Je nach ihrem Ausgang, können sie die Nachfrage nach Produkten und auch die Strategien der Hersteller beeinflussen (King & Pearce, 2010). Kollektive Akteure der Angebots- und Nachfrageseite konkurrieren neben einer kulturellen Deutungshoheit auch um institutionellen Einfluss auf Märkte. Durch Lobbying sowie institutionell oder deliberativ gewährte Mitspracherechte im politischen Willensbildungsprozess versuchen Verbraucherorganisationen und Unternehmensverbände, die konkrete Ausgestaltung marktlicher Regulierung zu beeinflussen. Grundsätzlich verfolgen diese Akteure konträre Ziele: Erstere treten prinzipiell für eine starke Regulierung ein, letztere für eine geringe bzw. geringere. Die aus diesen Zielsetzungen entstehenden Anstrengungen zur Beeinflussung der Politik beziehen sich auf alle drei Marktelemente (Nessel, 2016a). Verbraucherorganisationen versuchen z.  B. strenge Kennzeichnungspflichten und Begrenzungen bestimmter Produktinhaltsstoffe, ein Verkaufsverbot von Energydrinks an unter 18-jährige oder Verbote „illegitimer“ Marktpraktiken durchzusetzen. Firmenverbände treten solchen Forderungen entgegen, da sie eine (starke bzw. stärkere) politische Regulierung als ökonomisch negativ für die Gewinnaussichten ihrer Mitglieder einschätzen. Wie die genannten Akteure ihre Ziele jeweils umsetzen können, ist von verschiedenen Faktoren abhängig: von internen Ressourcen wie der Mitarbeiterzahl, finanziellen Ressourcen, Organisations-Know-how oder Netzwerken; sowie von externen Bedingungen wie dem jeweiligen Thema, dem Vorliegen externer Schocks („Umwelt“- oder „Wirtschaftskrisen“) und damit verbundener Gelegenheitsstrukturen, oder konkreten Akteurs- und Netzwerkkonstellation (Nessel, 2016a). Viele dieser Faktoren beeinflussen auch die vorher genannte kulturelle Deutungsmacht der Akteure und deren Effekte (King & Pearce, 2010). Bedeutsam ist nun, dass der Ausgang der Kämpfe um institutionellen Einfluss die konkrete nationale Ausgestaltung von Marktobjekten, Marktteilnehmerschaft und Marktwettbewerb beeinflusst. So hat Gunnar Trumbull (2006b) in komparativen Analysen aus Sicht der Konsumenten grundlegende Marktregime

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herausgearbeitet – so z. B. ein Regime mit starken rechtlichen Eingriffen in den Markt wie in Frankreich oder den USA („Schutzmodell“) oder eines mit eher geringen Markteingriffen wie in Deutschland („liberales Regime“). Darauf aufbauend argumentiert Trumbull (2006a, S. 8), dass nationale Marktregime auch zu variierenden Firmen- und Konsumstrategien sowie Innovationspfaden führen: French approach to consumer protection favored a product strategy that emphasized novelty and discouraged investment in incremental product quality. For Germany the emphasis on consumer information had the opposite effect. Because German consumers relied heavily on product knowledge […] their reliance on information caused them to avoid radically new products of which reliable assessment remained difficult. […] German companies competed along dimensions of quality and engineering, French producers faced competition primarily in innovativeness and style. Eine solche Analyse der Angebots- und Nachfrageseite kann in Erweiterung des überwiegend firmenzentrierten Warenkettenansatzes (vgl. Mayer & Phillips, 2017; kritisch Ponte & Gibbon, 2005) aber auch der Neueren Wirtschaftssoziologie genauer deutlich machen, dass der Ausgang von Kämpfen um institutionellen und auch kulturellen Einfluss zu variierenden Regimen der Markteinbettung sowie hierüber zu variierenden Firmen- und Konsumstrategien führt. Weitere komparative Analysen müssten nationale Interessen- und Machtkonstellationen sowie deren Effekte auf die Ausgestaltung von Märkten sowie von Firmen- und Konsumstrategien noch genauer deutlich machen. Festzuhalten ist an dieser Stelle jedenfalls, dass nationale Akteure der Angebots- und Nachfrageseite sowie deren Machtbeziehungen wichtige Faktoren zum Verständnis der jeweiligen kulturellen und institutionellen Ausgestaltung nationaler Lebensmittelmärkten sind.

5 Die nationale Einbettung des Lebensmittelmarktes und deren globale Folgen. Zur Verzahnung von wirtschaftssoziologischen Ansätzen und Warenkettenansätzen In diesem Beitrag wurde die soziale Einbettung des deutschen Lebensmittelmarktes aus wirtschaftssoziologischer Perspektive beschrieben. Hierzu wurde eine gegenstandsbezogene Analyse von drei konstitutiven Marktelementen angewendet: den auf Lebensmittelmärkten gehandelten Waren (Marktobjekte), den am Markt beteiligten Konsumenten, Produzenten und Retailer (Marktteilnehmer) sowie des zentralen Mechanismus zur Koordination dieser

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Akteure (Marktwettbewerb). Auf dieser Grundlage wurde gezeigt, wie die institutionelle und kulturelle Einbettung dieser drei Marktelemente das Angebot und die Qualität von Produkten sowie die Handlungsbedingungen von Konsumenten, Produzenten und Retailer und deren Markt- und Machtbeziehungen beeinflusst. Die institutionelle und kulturelle Einbettung von Märkten sind jedoch nicht als statisch oder als Realität sui generis aufzufassen, sondern als sich dynamisch wandelnde und durch Akteure beeinflusste soziale Strukturen. Als wichtige Faktoren ihres Wandels wurden in diesem Beitrag Verbraucherorganisationen und Unternehmensverbände sowie deren Machtverhältnisse identifiziert. Diese kollektiven Akteure der Angebots- und Nachfrageseite sowie auch individuelle Firmen konkurrieren um generellen institutionellen und kulturellen Einfluss auf Märkte und spezifisch um die Fragen, welche Produkte am Markt bestehen, wie sie vermarktet und bepreist werden, welche Inhaltsstoffe sie enthalten, wie Rechte und Pflichten der Marktteilnehmer ausgestaltet sind und wie der Wettbewerb reguliert ist. Der Ausgang ihrer Konflikt- aber auch Kooperationsbeziehungen beeinflusst ganz wesentlich die konkrete Ausgestaltung des Lebensmittelmarktes (Nessel, 2012). In weiteren Studien müsste allerdings noch genauer geklärt werden, welche Interessen nicht nur diese Akteure, sondern z. B. auch Parteien oder Gewerkschaften hinsichtlich der nationalen Einbettung des Lebensmittelmarktes verfolgen, unter welchen Bedingungen sie ihre Ziele durchsetzen können und wie sich ihre Interessen- und Machtbeziehungen auf die Ausgestaltung von Marktobjekten, Marktteilnehmerschaft und Marktwettbewerb auswirken. Eine solche konflikttheoretische Perspektive könnte nicht nur weiter verdeutlichen, dass Verbraucherorganisationen oder auch Gewerkschaften Einfluss auf globale Warenketten haben, indem sie Firmenstrategien (Gereffi & Mayer, 2004) und Konsumpräferenzen beeinflussen (Ponte & Gibbon, 2005) sowie Teil „privater Governance“ sind (Ponte & Sturgeon, 2014). Sie könnte darüber hinaus genauer zeigen, wie und unter welchen Bedingungen diese Akteure sowie ihre Interessen- und Machtbeziehungen globale Warenketten beeinflussen. Insbesondere komparative Studien zu diesen Fragen wären hierzu besonders weiterführend (vgl. Trumbull, 2006b). In einigen Ausführungen dieses Beitrags wurden die Effekte der konkreten nationalen Ausgestaltung des Lebensmittelmarktes und die Bedeutung von nationalen Wirtschaftsakteuren auf globale Warenketten aus wirtschaftssoziologischer angedeutet. Wie auch andere wirtschaftssoziologische Studien, folgte die vorgenommene Analyse weitgehend einem „methodologischen Nationalismus“. Die Stärke eines solchen Ansatzes liegt in der Anerkennung der weiterhin zentralen Bedeutung des Nationalstaates sowie anderer nationaler Akteure für die

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Strukturierung von Märkten. Eine Berücksichtigung nationaler Wirtschaftsakteure wird folgerichtig auch in aktuellen Kritiken des global value chain Ansatzes eingefordert (Horner, 2017; Mayer & Phillips, 2017) und wird in neueren theoretischen Konzeptionen zu global production networks berücksichtigt (Coe et al., 2008). Die Schwächen einer solchen Perspektive liegen aber ebenso klar auf der Hand. Die Wirtschaftssoziologie ist bisher kaum komparativ ausgerichtet (Münnich, 2017) und vernachlässigt globale Warenkettenarrangements, um die Ausgestaltung nationaler Märkte nachzuvollziehen. Der methodologische Nationalismus der Wirtschaftssoziologie und der methodologische Internationalismus des Warenkettenansatzes sind bisher weder überwunden noch sind beide Ansätze auch nur ansatzweise verzahnt. Die Überwindung ihrer „-ismen“ und ihre stärkere Integration wären allerdings notwendig und wünschenswert, um sowohl die nationale Einbettung von Märkten als auch die Gestaltung von globalen Warenketten besser konzeptualisieren und empirisch erforschen zu können.

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Sebastian Nessel  ist Universitätsassistent mit Doktorat im Forschungsbereich Wirtschaftssoziologie der Karl-Franzens-Universität Graz. Seine Forschungsschwerpunkte sind Wirtschafts- und Konsumsoziologie sowie Soziologie Sozialer Bewegungen. Ausgewählte Publikationen: Nessel, S. (2012). Der Lebensmittelmarkt als soziales Feld. Theoretische Erweiterungen der Feldanalyse zur Untersuchung von Märkten. In S. Bernhard & C. Schmidt-Wellenburg (Hrsg.), Feldanalyse als Forschungsprogramm 2. Gegenstandsbezogene Theoriebildung (S. 59–81). Wiesbaden: VS für Sozialwissenschaften. Nessel, S. (2017). Verbraucherorganisationen und Verbraucherpolitik als Intermediäre der Nachhaltigkeit. Eine Analyse der institutionellen und organisationalen Einbettung nachhaltigen Konsums. Berliner Journal für Soziologie, 26(2), 227–248. https://doi. org/10.1007/s11609-016-0316-0 Nessel, S. (2017). Was macht Menschen zu Konsumenten? Dimensionen der Konsumentenrolle in Geschichte und Gegenwart. In C. Bala, C. Kleinschmidt, K. Rick, & W. Schuldzinski (Hrsg.), Verbraucher in Geschichte und Gegenwart: Wandel und Konfliktfelder in der Verbraucherpolitik (S. 36–54). Düsseldorf: Verbraucherzentrale NordrheinWestfalen e. V. https://doi.org/10.15501/978-3-86336-916-3 Nessel, S., Tröger, N., Fridrich, C., & Hübner, R. (Hrsg.) (2018). Multiperspektivische Verbraucherforschung. Ansätze und Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS. Website: https://homepage.uni-graz.at/de/sebastian.nessel/

Horizontal koordiniert oder vertikal getrieben? Die Ordnung der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel und ihr historischer Wandel Simon Dombrowski 1 Die Ordnung von Märkten Sowohl die Wirtschaftssoziologie als auch die Wirtschaftsgeografie untersuchen die soziale Ordnung von Märkten und gehen davon aus, dass wirtschaftliche Transaktionen auf und zwischen Märkten von sozialen Strukturen wie Netzwerken, Wissensbeständen oder auch Macht beeinflusst werden. Allerdings beantworten beide Ansätze die Frage nach sozialer Ordnung auf sehr unterschiedliche Art und Weise, was maßgeblich damit zu tun hat, wie sie Märkte konzipieren. Die Wirtschaftssoziologie theoretisiert Märkte als Produzentenmärkte und richtet den Blick auf die Konkurrenz der Produzenten untereinander und deren horizontale Koordination, während die Wirtschaftsgeografie Märkte als Warenketten fasst und nach der vertikalen Koordination zwischen Produzenten und Händler auf unterschiedlichen Stufen von Warenkennte fragt. Beide Ansätze schließen sich nicht aus, sondern erscheinen komplementär zueinander. Ziel dieses Beitrages ist es, beide Marktkonzeptionen miteinander zu verbinden und für die Analyse von Lebensmittelmärkten nutzbar zu machen. In diesem Beitrag soll daher die Wechselwirkung horizontaler und vertikaler Einflussfaktoren anhand des Governance-Mechanismus der verbandlichen Koordination untersucht werden, der sowohl die Ordnung eines einzelnen Marktes als auch die Beziehung zwischen Märkten strukturieren kann. Wie verbandliche Koordination sowohl

S. Dombrowski (*)  Technische Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Baur et al. (Hrsg.), Waren – Wissen – Raum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30719-6_3

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soziale Beziehungen in einem Markt als auch zwischen Märkten beeinflussen kann, wird empirisch am Beispiel der Anbauverbänden Bioland, Demeter, Naturland und Biokreis in der biologischen Landwirtschaft in Deutschland gezeigt.

1.1 Wirtschaftssoziologie: Die horizontale Koordination von Produzentenmärkten Die Wirtschaftssoziologie konzipiert Märkte klassisch als Produzentenmärkte, also als Interaktionen von konkurrierenden Herstellern. Ein Schwerpunkt der Analyse liegt auf der horizontalen Koordination zwischen Produzenten auf einem Markt (Fligstein, 2001; White, 1981, 2002). Die Entstehung sozialer Strukturen auf Märkten wird auf das Handlungsproblem der „doppelten Kontingenz“ und die hierdurch mit dem Markttausch verbundene Ungewissheit zurückführt (Beckert, 1996, 2009). Diesbezüglich wurden in der Marktsoziologie drei Strukturdynamiken identifiziert und theoretisiert, die die Konstitution und Dynamik sozialer Strukturen auf Märkten erklären: Prozesse der wechselseitigen Beobachtung (White 1981, 2002), der wechselseitigen Beeinflussung (Fligstein, 2001) und Prozesse des Verhandelns und der Organisation (Ahrne, Aspers, & Brunsson, 2015) zwischen Produzenten. Harrison White (1981, 2002) befasst sich mit Prozessen der wechselseitigen Beobachtung auf Produzentenmärkten, in denen differenzierte Güter gehandelt werden. Er versteht Produzentenmärkte als eine Liste ökonomisch tragfähiger Nischen, die es Produzenten ermöglicht, ihre Produktionsvolumen und den Verkaufspreis für ihre Produkte festzusetzen. Leifert und White (1987) illustrieren die Funktionsweise eines Produzentenmarktes anhand eines fiktiven Marktes für Tiefkühlpizza. Da sich die Tiefkühlpizzen des Herstellers „Toni“ von den Tiefkühlpizzen anderer Hersteller in Geschmack, durch ihren Markennamen oder auch nur durch ihre Verpackung unterscheiden, variieren auch Konsumentennachfrage und Verkaufspreise für die unterschiedlichen Pizzen. Es gibt also nicht so etwas wie einen Marktpreis. Die neoklassische Markttheorie besagt jedoch, dass Produzenten ihre Produktionsentscheidungen am Marktpreis ausrichten. Toni kann jedoch nur beobachten, welche Anzahl von Pizzen die Konkurrenten zu welchem Preis verkaufen und orientiert sich in seinen Entscheidungen an diesen Beobachtungen. White (1981) geht davon aus, dass Märkte nicht durch das Aufeinandertreffen von Angebot und Nachfrage koordiniert werden, sondern dadurch, dass sich Produzenten wechselseitig beobachten. Durch diesen Beobachtungsprozess entsteht eine Liste mit Kombinationen aus Einnahmen und Produktionsvolumen, die sich in der Vergangenheit bewährt haben.

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Aus dieser Liste wählen Produzenten nun jene Kombination, die vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Produktionskosten den höchsten Profit verspricht. Auch die Beziehungen zu Zulieferern kann für Produzenten in einem Markt mit Unsicherheit behaftet sein, weil Produzenten ex ante nicht wissen können, welche Volumen zu welchen Preisen sie von ihren Zulieferern beziehen können. Auch hier orientieren sich Produzenten an den Kombinationen aus Volumen und Preisen, die sich bei ihnen und ihren Konkurrenten in der Vergangenheit bewährt haben. Zulieferer können im Aggregat genauso wie Konsumenten einen Einfluss auf die Ordnung eines Marktes ausüben, da sie über eine Vetomacht in tragfähigen Marktnischen verfügen (White, 2002, S. 179 ff.). Die eigentliche Ordnung eines Marktes bildet sich jedoch aus den Produktionsentscheidungen von Produzenten und ihrer wechselseitigen Beobachtung heraus. Auch Neil Fligstein (2001) konzipiert Märkte als Produzentenmärkte, deren Ordnung sich aus der Handlungsabstimmung zwischen Produzenten (wechselseitige Beeinflussung) ergibt. Fligstein thematisiert als wesentliches Ziel dieser Handlungsabstimmung die Vermeidung von ruinösem Wettbewerb, also Wettbewerb, der das Überleben von Produzenten gefährdet. Zudem betont er im Gegensatz zu White, dass Produzenten unterschiedliche Einflusspotenziale in den Konstitutionsprozess von Märkten einbringen können. Als Konsequenz dieser unterschiedlichen Gestaltungsmacht geht er davon aus, dass nicht alle Produzenten von der sozialen Ordnung eines Marktes gleichermaßen profitieren. Neben regulativen Rahmenbedingungen verortet Fligstein die Ordnung eines Marktes in marktspezifischen Wissensbeständen, die er als ‚Kontrollkonzeptionen‘ bezeichnet. Kontrollkonzeptionen „umfass[en] die Vorstellungen, die strukturieren, wie Akteure die Funktionsweise eines Marktes wahrnehmen und ihnen die Deutung dieser Welt gestatten, als auch die realen sozialen Beziehungen, die diese Welt erzeugen“. (Fligstein, 2011, S. 82) Produzenten interpretieren einen Markt ausgehend von einer solchen Kontrollkonzeption. Auf ihrer Grundlage wissen sie, welche Handlungsoptionen für sie bestehen, legitim und für andere Marktteilnehmer verständlich sind (Fligstein & McAdam, 2012, S. 12). Kontrollkonzeptionen entstehen durch die wechselseitige Beobachtung von Produzenten untereinander und dadurch, dass Produzenten bestimmte Marktpraktiken mithilfe ihrer Einflusspotenziale durchsetzen oder unterbinden, etwa, weil sie die Preise für Vorprodukte kontrollieren können (Fligstein, 1996, S. 663, 2001, S. 75 f.). Die Einbettung von Märkten in Warenketten wird von Fligstein (2001, S. 17) als ein Faktor genannt, der das Überleben von Unternehmen gefährden kann, z. B. wenn die Preise von zentralen Vorprodukten erhöht werden (Fligstein, 2001, S. 17). Entsprechend enthalten Kontrollkonzeptionen auch ein Wissen darüber, wie die Beziehungen zu Zulieferern stabilisiert werden

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können. Aber auch für Fligstein gilt, dass die Einbettung von Märkten in Warenketten im Gegensatz zur horizontalen Koordination zwischen Produzenten kaum theoretisiert wird. In einem konzeptionellen Beitrag befassen sich Ahrne et al. (2015) mit den Prozessen des Verhandelns und der Organisation und weisen darauf hin, dass Marktakteure ihre Handlungen nicht nur über Prozesse der wechselseitigen Beobachtung oder Beeinflussung, sondern auch durch Organisation koordinieren. Organisierte Ordnungen zeichnet aus, dass sie nicht nur auf sozialen Normen, Traditionen oder Wissensbeständen beruhen, sondern auf kollektiv verbindlichen Entscheidungen darüber, wie „Menschen handeln und welche Unterscheidungen und Klassifikationen sie vornehmen sollen“ (Ahrne & Brunsson, 2011, S. 86; eigene Übersetzung). Auf Märkten finden sich zahlreiche Elemente von Organisation, die die Handlungen von Produzenten koordinieren. Beispiele hierfür sind etwa Standards, die den Produzenten bestimmte Regeln vorgeben, wie sie zu produzieren haben (siehe hierzu ausführlich etwa Dombrowski, 2018). Da der hier umrissene Ansatz von Ahrne et al. (2015) sich noch in einer frühen programmatischen Entwicklungsphase befindet, ist bisher noch nicht konzeptualisiert worden, welche Beziehungen auf und zwischen Märkten durch Organisation genau strukturiert werden können. Wie dieser Abriss der Marktsoziologie zeigt, untersucht diese die horizontale Koordination zwischen Produzenten auf einem Markt. Die Einbettung eines Marktes in Warenketten wird für die soziale Ordnung eines bestimmten Marktes lediglich in Form von externen Ereignissen theoretisiert, die horizontale Ordnungsbildungsprozesse stören können. Eine Erklärung für diesen Schwerpunkt in der Analyse ist, dass die Marktsoziologie bisher vor allem jene Märkte untersucht hat, auf denen großindustrielle Unternehmen als Produzenten auftreten, die – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – die wirtschaftsgeografische Forschung als treibende Unternehmen von Warenketten identifiziert hat. Märkte für Agrarprodukte etwa, die stärker mit vertikalen Einflussfaktoren konfrontiert sind, wurden von der Wirtschaftssoziologie bisher hingegen noch kaum thematisiert.

1.2 Wirtschaftsgeographie: Die vertikale Koordination von Warenketten Während die Wirtschaftssoziologie Märkte als Produzentenmärkte konzipiert, erfasst die Wirtschaftsgeografie Märkte als Warenketten, deren Akteure untereinander koordiniert werden müssen. Bei Warenketten handelt es sich um „interorganisationale

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Netzwerke, die sich um eine Ware oder ein Produkt herum bilden“ (Gereffi, Korzeniewicz, & Korzenienwicz, 1994, S. 2, eigene Übersetzung), beispielsweise das Netzwerk aus Bauern, Großmärkten, Exporteuren, Importeuren und Supermarktketten, das sich um den Gemüsehandel zwischen Großbritannien und Kenia gebildet hat (Dolan & Humphrey, 2004; Ouma, 2010). Entsprechend liegt der Analyseschwerpunkt in der vertikalen Koordination zwischen Produzentenmärkten entlang dieser Warenketten (Gereffi, Humphrey, & Sturgeon, 2005; Gereffi et al., 1994). Während frühe Arbeiten Warenketten als ‚Global Commodity Chains‘ (GCC) untersucht haben, hat sich zunehmend ein Verständnis von Warenketten als ‚Global Value Chains‘ (GVC) durchgesetzt. Ein wesentlicher Unterschied zwischen diesen beiden Ansätzen ist die Art und Weise, wie die Koordination der Unternehmen entlang einer Warenkette – die GVC-Literatur spricht von der Governance einer Warenkette – konzipiert wird (Gibbon, Bair, & Ponte, 2008). Während im GCC-Ansatz Governance als ‚Getriebenheit‘ (‚driving‘) verstanden wird, versteht die GVC-Literatur Governance als ‚Koordination‘ ‚coordination‘. Ponte und Sturgeon (2014, S. 206) sprechen auch von Governance als ‚Verbinden‘ im Sinne von ‚linking‘. In neueren Arbeiten wurde zudem argumentiert, dass Governance als ‚Normalisierung‘ untersucht werden sollte. Im Folgenden werde ich diese drei Governance-Begriffe vorstellen. Das Konzept von Governance als Getriebenheit’ (‚driving‘) geht auf einen wegweisenden Beitrag von Gary Gereffi (1994) zurück, in dem dieser den Governance-Begriff für den GCC-Ansatz entwickelt. Ziel war es zu verstehen, wie Produzenten und Händler im globalen Norden die Produktion im globalen Süden in verschiedenen Warenketten strukturieren und welche Erfordernisse der Handlungsabstimmung zwischen den Stufen einer Warenkette sich hieraus ergeben (Gereffi, 1994; Gereffi et al., 2005). Gereffi (1994) unterschied zwischen zwei Formen von Warenketten, die er als ‚produzentengetrieben‘ (‚producerdriven‘) und als ‚käufergetrieben‘ (‚buyer-driven‘) bezeichnete. Produzentengetriebene Warenketten sind für fordistische Großunternehmen typisch, wie sie sich etwa in der Automobilindustrie beobachten ließen. Hier strukturieren Produzenten die Warenketten entsprechend ihrer Interessen lagern Produzenten weniger profitträchtige und arbeitsintensive Produktionsschritte aus. Indem er von käufergetriebenen Warenketten sprach, fand Gereffi einen Begriff für Entwicklungen, wie sie etwa in der Textilindustrie zu beobachten waren (siehe auch Gibbon et al., 2008). Hier haben sich Unternehmen im globalen Norden auf das Design, das Marketing und die Vermarktung ihrer Produkte spezialisiert und die Produktion an Unternehmen in der Dritten Welt abgegeben. Entsprechend strukturieren hier Händler Warenketten. Die Getriebenheit von Warenketten ergibt sich aus der Wettbewerbsintensität auf unterschiedlichen Stufen der Warenkette. So sind im globalen Norden

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eher Oligopole zu beobachten, die Zulieferern relativ weniger Möglichkeiten bieten, zu einem anderen Abnehmer zu wechseln. Die Märkte für Vorprodukte, z. B. für landwirtschaftliche Rohstoffe, sind hingegen wenig konzentriert und bieten entsprechend zahlreicher Möglichkeiten, auf alternative Anbieter umzusteigen (Gereffi et al., 1994, S. 1 ff.). Außerdem basiert das Einflusspotenzial von Unternehmen im globalen Norden darauf, dass sie die Qualität der von ihnen angebotenen Produkte definieren und Entscheidungen über Produktion und Vertrieb der in einer Kette hergestellten Produkte treffen können (Bair 2009, S. 10 f.; Dolan & Humphrey, 2004, S. 492; Humphrey & Schmitz, 2001). Für Lebensmittelmärkte wurden bisher etwa Supermärkte als Käufer identifiziert, die Warenketten steuern (Dolan & Humphrey, 2004). Die horizontale Koordination zwischen Akteuren in einem Markt wird in Arbeiten zur Getriebenheit von Warenketten nicht thematisiert. So zeigen etwa Dolan und Humphrey (2004) für den Handel mit Frischgemüse zwischen Großbritannien und Kenia, dass die Strukturen von Märkten, in denen landwirtschaftliche Erzeuger, Exporteure und Importeure wirtschaftlich handeln, maßgeblich durch die Anforderungen von großen Supermarktketten in Großbritannien beeinflusst werden. Eine Folge dieser Getriebenheit bestand unter anderem darin, dass kleinere Bauern durch sich wandelnde Qualitätserfordernisse von Supermarktketten weitgehend aus dem Markt gedrängt und durch größere Höfe im Besitz von Exporteuren als Handelspartner ersetzt wurden. Die horizontale Koordination zwischen Bauern, Exporteuren oder Supermarktketten wird hingegen nicht thematisiert. Die Vorstellung von Governance als ‚Koordination‘ erweitert die zuvor diskutierte Konzeption von Governance als ‚Getriebenheit‘. Empirische Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass die Mannigfaltigkeit von empirisch beobachtbaren Warenketten nicht hinreichend genau mit der dichotomen Unterscheidung zwischen produzenten- und käufergetriebenen Warenkette erfasst werden kann. Nach Gibbon et al. (2008, S. 322) war die Beobachtung von modularen Warenketten (‚modular value chains‘, Sturgeon, 2002) für die Entwicklung der Vorstellung von Governance als ‚Koordination‘ maßgeblich. In modularen Warenketten liegt die Entwicklung und Steuerung von Warenketten nicht allein bei einem Produzenten oder Händler im globalen Norden. Vielmehr übernehmen zentrale Zulieferer die Koordination von Produzenten in weiter nachgelagerten Stufen der Warenkette, etwa von Bauern und sind teilweise auch an der Entwicklung neuer Produkte beteiligt (Dolan & Humphrey, 2004; Gibbon et al., 2008; Sturgeon, 2002). So beobachteten Dolan und Humphrey (2004) in ihrer Studie zum Gemüsehandel zwischen dem Vereinigten Königreich und Kenia, dass Gemüseimporteure zunehmend als Kategoriemanager eingesetzt wurden, die Entwicklung neuer Produkte, die Qualitätsüberwachung und die

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Koordination von Importeuren für einzelne Produktkategorien wie Frischgemüse im Auftrag einzelner Supermarktketten übernahmen. An der gleichen Studie lässt sich noch eine weitere Schwachstelle der Governance als ‚Getriebenheit‘Konzeption verdeutlichen. Im Untersuchungszeitraum von Dolan und Humphrey (2004) von 1960 bis etwa 2000 hat sich die Struktur und die Koordination innerhalb dieser Warenkette mehrmals verändert, etwa indem Importeure zu Kategoriemanagern entwickeln haben. Die Unterscheidung zwischen käufer- und verkäufergetriebenen Warenketten war jedoch zu grob, um solche Veränderungen beschreiben zu können. Um die Vielfalt und den Wandel von Warenketten besser analysieren zu können, unterstellt die Governance als ‚Koordination‘Perspektive, dass Transaktionen zwischen Produzenten entlang der Warenketten über verschiedene Governance-Mechanismen abgewickelt werden können. Gereffi et al. (2005, S. 83 f.) unterscheiden zwischen Märkten sowie zwischen modularen, relationalen und gekaperten Netzwerken und Hierarchien. Mit den Governance-Mechanismen variieren auch die Einflusspotenziale von steuernden Unternehmen auf ihre Zulieferer. Bei Marktransaktionen haben steuernde Unternehmen keinen direkten Einfluss auf ihre Zulieferer, sie entscheiden sich lediglich für oder gegen den Kauf ihrer Produkte. Mit dem Begriff der Hierarchie werden vertikal integrierte Unternehmen bezeichnet, in denen ein Großteil der Produktionsschritte einer Warenkette stattfindet. Dementsprechend haben Manager der Unternehmensleitung voll umfassende Weisungsbefugnisse auf alle Produktionsschritte. Modulare, relationale und gekaperte Warenketten liegen jeweils zwischen diesen beiden Extremen. Bei modularen Warenketten beauftragen steuernde Firmen ihre Zulieferer mit der Produktion nach ihren Vorgaben. Jenseits der Auftragsvergabe bestehen kaum Einflusspotenziale. Relationale Netzwerke sind durch langfristige Geschäftsbeziehungen und gegenseitige Abhängigkeiten zwischen steuernden Unternehmen und Zulieferern gekennzeichnet. Gekaperte Netzwerke entsprechen in etwa der Vorstellung von Governance als ‚Getriebenheit‘-Perspektive. Das Verständnis von Governance als ‚Koordination‘ wurde von Gereffi et al. (2005) in enger Anlehnung an die Transaktionskostentheorie entwickelt (Coase, 1937; Williamson, 1975, 1985). Ziel der Transaktionskostentheorie ist es zu erklären, wann Unternehmen auf unterschiedliche Formen der Koordination mit ihren Zulieferern wie dem Markt, Netzwerken oder Hierarchien zurückgreifen. Ausgehend von einem fokalen Unternehmen führt diese Theorie die Wahl einer Koordinationsform − eines Governance-Mechanismus − auf die Merkmale einer Transaktion zurück, etwa den Qualitätsanforderungen von Supermärkten beim Einkauf von Gemüse. Nach Gereffi et al. (2005, S. 85) variieren Transaktionen mit dem für ihre Durchführung erforderlichen Wissen, dem Ausmaß, in dem

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solche Informationen und solches Wissen ex ante kodifiziert werden kann, und den Fähigkeiten von Zulieferern. Hoch standardisierte Vorprodukte, wie etwa Schrauben, können am Markt bezogen werden, weil sie keine Kommunikation spezifischer Informationen erfordern. Hier sind die Produkteigenschaften in technischen Standards eindeutig kodifiziert sind und es gibt zahlreiche Zulieferer, die Schrauben nach den Anforderungen des Standards produzieren können. Ein Produzent wird hingegen Vorprodukte im eigenen Unternehmen herstellen, wenn hohe Investitionen in spezifische Produktionstechnologien erforderlich sind, bei denen das erforderliche Wissen für die Herstellung nur schwer schriftlich fixiert werden kann und bei dem keine kompetenten Zulieferer mit den entsprechenden Fähigkeiten gefunden werden können (Gereffi et al., 2005, S. 84 ff.). Wieder ist der Gemüsehandel zwischen Vereinigten Königreich und Kenia ein gutes Beispiel. Bezogen die Supermärkte das Gemüse zunächst über Großmärkte, ohne direkt auf Landwirte im Produktionsland einzuwirken, haben veränderte regulative Vorgaben und gestiegene Qualitätsansprüche von Supermärkten die Eigenschaften der Transaktionen verändert. Gemüseexporteure und Importeure sowie Landwirte mussten in die Durchführung von Transaktionen mit britischen Supermärkten investieren und das notwendige Wissen erwerben, um die Vorgaben ihres Abnehmers entsprechen zu können. Wie bereits bei Governance als ‚Getriebenheit‘-Perspektive wird deutlich, dass die Autoren – wie auch in transaktionskostentheoretischen Erklärungsmodellen üblich – die Struktur globaler Warenketten auf die Kaufentscheidungen großer Produzenten oder Handelsketten zurückführen. Auch für die Governance als ‚Koordination‘-Perspektive gilt, dass horizontale Koordination zwischen Produzenten nicht untersucht wird, sondern nur die vertikale Koordination entlang der Warenkette. Die Perspektive von Governance als ‚Normalisierung‘ ist eine kultur- und wissenssoziologische Erweiterung des Koordinationsansatzes. Die Koordination innerhalb von Warenketten wird nicht mehr nur als abhängig von den Eigenschaften einer Transaktion gedacht. Ergänzend wird Koordination auch mit Vorstellungen in der Umwelt von Warenketten erklärt, die Wissen darüber enthalten was die Qualität von Produkten ausmacht und wie Unternehmen ihre Produktionsprozesse besonders effizient strukturieren können (Ponte & Gibbon, 2005). In der Tradition der Ökonomie der Konventionen (‚Économie des Conventions‘, siehe für eine Einführung Diaz-Bone, 2018; Knoll, 2017) wird in dieser Governance-Vorstellung davon ausgegangen, dass Anbieter und Abnehmer ihre Erwartungen an die Qualität von Produkten aus einer Pluralität von geteilten Wissensbeständen und kulturellen Modellen ableiten, die als ‚Qualitätskonventionen‘ bezeichnet werden. Jede Qualitätskonvention stellt unterschiedliche Qualifizierungs- und Koordinationsprinzipien zur Verfügung (siehe für eine Übersicht von Qualitätskonventionen: Diaz-Bone,

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2018. S. 146–164). Je nachdem, auf Grundlage welcher Qualitätskonvention qualifiziert wird, werden unterschiedliche Maßstäbe für die Bewertung von Produkten angelegt. In der ‚Konvention des Hauses‘ (die auch als handwerkliche Konvention bezeichnet wird) beruht die Produktqualität auf der Handarbeit und der Meisterschaft derjenigen, die es herstellen. So beruht die Qualität von traditionell hergestellten Camembert auf der Fähigkeit des Käsemeisters und seiner Mitarbeiter, ihrem Camembert die spezifischen Geschmacksnoten seiner Herstellungsregion und der Jahreszeit seiner Herstellung zu geben. In der ‚industriellen Konvention‘ beruht die Qualität eines Produkts auf seiner Übereinstimmung mit Produktstandards. Ein hochwertiger Camembert ist entsprechend ein Käse, der stets den gleichen Geschmack hat, frei von Keimen und lange haltbar ist (Boisard, 1991; Diaz-Bone, 2018). Ponte und Gibbon (2005, S. 6) argumentieren am Beispiel von Warenketten für Kaffee und Bekleidung, dass eine Verschiebung von direkter zu indirekter Kontrolle von Zuliefern zu beobachten ist. Diese Verschiebung sei mit einer zunehmenden Bedeutung der industriellen Qualitätskonvention verbunden, was sich in einer Verbreitung für diese Qualitätskonvention typischer industrieller Mess- und Koordinationsmechanismen wie Standards und Zertifizierungen zeige. Daher beziehen sich zunehmend auch Akteure in solchen Märkten auf die industrielle Konvention, deren Koordination traditionell auf anderen Qualitätskonventionen beruhte. Einen wesentlichen Treiber dieser Verschiebungen sehen die Autoren in der zunehmenden Orientierung von steuernden Unternehmen an den Anforderungen von Finanzmärkten (Ponte & Gibbon, 2005, S. 15). Der Bezug zur Économie des Conventions ermöglicht es nach Ponte und Gibbon (2005) also zunächst, historische Verschiebungen in den Wissensbeständen aufzuzeigen, auf denen Koordinationsvorstellungen von steuernden Unternehmen basieren. Ponte (2007) argumentiert zudem, dass die Getriebenheit und die Treibbarkeit von Warenketten mit den Qualitätskonventionen variiert, die ihrer Koordination zugrunde liegen. So zeigt er, dass die Warenkette für den Weinhandel zwischen Großbritannien und Südafrika unterschiedliche Stränge aufweist, die jeweils auf Basis verschiedener Qualitätskonventionen koordiniert werden. Im Basis-Strang findet Koordination etwa auf der Grundlage der industriellen Konvention statt. Supermarktketten in Großbritannien geben Produzenten und Händlern technische Richtwerte (wie Alkoholgehalt, Zuckergehalt und Geschmacksprofil, zur Verpackung des Weines sowie zur Logistik und Lebensmittelsicherheit) in Form von Zertifizierungen nach internationalen Lebensmittelsicherheitsstandards vor. Anders verhält es sich im Premiumsegment. Qualität basiert hier auf den Bewertungen von Weinkritikern, der Herkunftsregion (dem ‚terroir‘) und der

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wahrgenommenen Genialität spezifischer Winzer. Diese Qualitätskriterien können nicht einfach von einzelnen Akteuren in der Warenkette gesteuert oder definiert werden. Vielmehr basieren sie auf der Arbeit einer Reihe relativ unabhängiger Intermediäre, z. B. bekannten Weinkennern. Während die hier diskutierten Arbeiten die Vorstellung von Governance erweitern, wird Koordination weiterhin ausgehend von vom steuernden Unternehmen gedacht. In diesem GovernanceAnsatz wird die horizontale Koordination zwischen Produzenten auf einem Markt ebenfalls nicht diskutiert. Einzige Ausnahme ist die Feststellung, dass Produzenten in den fokalen, steuernden Märkten sich auf verbreitete kulturelle Modelle der Unternehmensorganisation beziehen. Wie dieser Abriss zeigt, haben sich Forschende (im Gegensatz zur Marktsoziologie) im Rahmen des GCC- bzw. GVC-Ansatzes bereits umfassend mit Agrarmärkten auseinandergesetzt. Allerdings haben alle wirtschaftsgeografischen Beiträge ein sehr enges Verständnis über das Handeln von Akteuren in Warenketten (Ponte & Sturgeon, 2014, S. 197). Es kann festgehalten werden, dass Governance in allen drei Varianten ausgehend von steuernden Unternehmen konzeptualisiert wird. Wie Akteure entlang der Warenkette auf Einflussversuche von führenden Unternehmen reagieren und wie diese versuchen, ihre Interessen in die Governance von Warenketten einzubringen, ist bisher kaum untersucht worden. Während Wettbewerb zwischen Unternehmen in einem Markt ein wesentlicher Gegenstand der Theoretisierung in der Marktsoziologie ist, liegt der Schwerpunkt der GVC-/GCC-Literatur auf der Ausgestaltung einzelner Transaktionen und der dafür notwendigen Kooperation und Koordination von Akteuren entlang der Warenkette.

1.3 Integration wirtschaftssoziologischer und -geografischer Perspektiven: Verbandliche Koordination als Governance-Mechanismus der horizontalen und vertikalen Koordination Insgesamt konzipiert die Wirtschaftssoziologie Märkte als Produzentenmärkte und richtet den Blick auf die Konkurrenz der Produzenten untereinander und deren horizontale Koordination. Im Gegensatz hierzu versteht die Wirtschaftsgeografie Märkte als Warenketten und untersucht Beziehungen zwischen Märkten. In diesem Beitrag sollen beide Ansätze miteinander verknüpft und so ein umfassenderes Verständnis von Ordnungsbildungsprozessen auf Märkten und ihrer Dynamik entwickelt werden.

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Ein möglicher Ansatzpunkt für eine stärker integrierte Analyse von horizontalen und vertikalen Einflussfaktoren auf die Ordnung von Märkten ist es, danach zu fragen, wie die Kopplung eines Produzentenmarktes zu anderen Produzentenmärkten in der Warenkette durch horizontale Koordinationsprozesse beeinflusst wird und vice versa. Diese Fragestellungen werden am Beispiel des Governance-Mechanismus der verbandlichen Koordination untersucht, der sowohl die Ordnung eines einzelnen Marktes als auch die Beziehung eines Marktes zu anderen Märkten strukturieren kann. Verbandliche Koordination wird hier mit Lindberg, Campbell und Hollingsworth (1991, S. 26 f.) als eine verstetigte Verhandlungskonstellation zwischen Produzenten verstanden, die kollektive Interessen definieren und verfolgen und eine formelle Organisation mit Satzung, Statuten und Entscheidungsverfahren gründen. In der Politischen Ökonomie werden Wirtschaftsverbände als Intermediäre zwischen dem Produzenten und dem Regierungssystem begriffen (siehe beispielsweise Schmitter & Streeck, 1999; Streeck & Schmitter, 1985). In diesem Beitrag werden sie darüber hinaus als Intermediäre zwischen Produzenten und ihren Abnehmern entlang von Warenketten verstanden, die durch ihre Vermittlungsfunktion einen Einfluss sowohl auf die horizontalen Beziehungen zwischen Produzenten auf einem Markt als auch auf die Struktur von Warenketten nehmen können (Bessy & Chauvin, 2013). Diese Perspektive ist Anschlussfähig an Arbeiten in der Tradition des GCC/GVC-Ansatzes, die gezeigt haben, dass Vereinigungen von Landwirten – teilweise mit staatlicher Unterstützung – in Verbänden zumindest für einige historischen Entwicklungsphasen Einfluss auf die Struktur von Warenketten nehmen konnten, etwa da sie lokale Angebote bündeln oder die spezifischen Qualitäten der Produkte ihrer Mitglieder herausstellen konnten (siehe etwa Humphrey, 2008; Talbot, 2009). Märkte für Agrarprodukte zeichnet aus dieser Perspektive einerseits aus, dass sie vertikalen Einflüssen unterliegen. Horizontale Koordination in Wirtschaftsverbänden wurde andererseits als eine Strategie beschrieben, mit der landwirtschaftliche Erzeuger auf solche Einflusspotenziale reagieren können. Eine historische und systematische Analyse der Handlungsstrategien und -probleme von Wirtschaftsverbänden aus Agrarmärkten liegt bisher jedoch nicht vor. Wie strukturieren Wirtschaftsverbände die Beziehungen zwischen Produzenten auf einem Markt? Wie vermitteln Wirtschaftsverbände zwischen ihren Mitgliedern, Produzenten entlang der Warenkette und den Konsumenten? Wie verändert sich die Intermediärsfunktion von Wirtschaftsverbänden mit der historischen Entwicklung eines Marktes?

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1.4 Handlungsstrategien von landwirtschaftlichen Erzeugern auf Märkten Sowohl wirtschaftssoziologische als auch wirtschaftsgeografische Ergebnisse deuten darauf hin, dass geteilte Wissensbestände für die Koordination in und zwischen Märkten erforderlich und ein wesentlicher Einflussfaktor für die Ordnung von Märkten bzw. Warenketten sind. Mit Bezug auf die Économie des Conventions wurde von beiden Ansätzen insbesondere der Begriff der ‚Qualität‘ diskutiert (siehe für die Marktsoziologie etwa Beckert & Musselin, 2013; für die GVC-Forschung Ponte & Gibbon, 2005; Ponte, 2007). Zudem erklären Autoren sowohl aus der Marktsoziologie als auch der Wirtschaftsgeografie die soziale Ordnung von Märkten bzw. von Warenketten mit dem Wissen, etwa in Form von Organisationsmodellen, das dem wirtschaftlichen Handeln eine Orientierung gibt (siehe für die Marktsoziologie etwa Fligstein, 2001; für die Wirtschaftsgeografie Ponte & Gibbon, 2005; Ponte & Sturgeon, 2014). Sowohl in der Wirtschaftsgeographie als auch in der Wirtschaftsgeographie wurden solcher Wissensbestände bisher jedoch ausgehend von Großunternehmen untersucht, die Märkte horizontal beeinflussen und Warenketten treiben. In diesem Beitrag werden diese Perspektiven auf Wissensbestände durch die Untersuchung der Frage ergänzt, wie landwirtschaftliche Erzeuger und ihre Kollektivorganisationen ihre Handlungsmöglichkeiten in unterschiedlichen Phasen der Marktentwicklung interpretieren. Neben einer Verbindung von wirtschaftssoziologischen und -geografischen Perspektiven auf Märkte zielt dieser Beitrag daher auch darauf ab, die Handlungsstrategien von landwirtschaftlichen Erzeugern auf Märkten zu untersuchen und Ansätze aus der Wirtschaftssoziologie und Wirtschaftsgeographie auf die Analyse dieser Akteure zu übertragen.

2 Fallbeispiel: Deutsche Märkte für biologische Lebensmittel Für die Untersuchung verbandlicher Koordination auf Agrarmärkten stellen die deutschen Märkte für biologische Lebensmittel einen besonders geeigneten Fall da. Arbeiten, die sich mit der Entwicklung dieser Märkte auseinandergesetzt haben, betonen die Bedeutung von Wirtschaftsverbänden – die hier als Anbauverbände bezeichnet werden – wie Bioland, Demeter oder Naturland (Gerber, Hoffmann, & Kügler, 1996; Suckert, 2015; Vogt, 2000). Wirtschaftsverbände wie die Anbauverbände organisieren einerseits die Beziehungen zwischen Produzenten

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in einem Markt, beispielsweise indem sie Ressourcen ihrer Mitglieder bündeln. Andererseits definieren sie Qualitäten für landwirtschaftliche Produkte, an denen sich Akteure entlang der Warenkette orientieren. Die Anbauverbände sind also sowohl Mechanismus der horizontalen als auch der vertikalen Koordination und eignen sich, erste Erkenntnisse über die Verschränkung vertikaler und horizontaler Koordinationsprozesse auf Agrarmärkten zu gewinnen. Zudem liegen Daten vor, die eine Rekonstruktion der Entwicklung dieser Märkte seit 1946 ermöglichen. Eine Untersuchung dieses Falles verspricht daher Erkenntnisse darüber, wie und warum sich Intermediärsfunktionen von Wirtschaftsverbänden in der Warenkette mit der Entwicklung eines Marktes verändern. In Deutschland gab es 2018 zehn Anbauverbände in der ökologischen Landwirtschaft (siehe Tab. 1). Bei Anbauverbänden handelt es sich um Wirtschaftsverbände landwirtschaftlicher Erzeuger. Einzig im Demeter e. V. sind neben Erzeugern auch Verarbeiter und Händler von biologischen Lebensmitteln organisiert. Jedoch stellen Landwirte und Gärtner auch hier die Hälfte aller Delegierten auf der Delegiertenversammlung, dem höchsten Entscheidungsgremium des Verbandes. Das Spektrum der Organisationspraktiken der Anbauverbände umfasst die politische Interessenvertretung bei Bund, Ländern und der Europäischen Union, die landwirtschaftliche Fachberatung ihrer Mitgliedsbetriebe, die Etablierung von Qualitätsmanagementsystemen und Öffentlichkeitsarbeit für den ökologischen Landbau. Daneben haben die Anbauverbände

Tab. 1   Anbauverbände in der ökologischen Landwirtschaft in Deutschland Anbauverband

Gründung

Mitglieder (Stand 1.1.2018)

Demeter e. V.

1946

1529

Bioland e. V.

1971

7305

Biokreis e. V.

1979

1222

Naturland e. V.

1982

3448

Ecovin e. V.

1985

233

Gäa e. V.

1989

392

Biopark e. V.

1991

525

Ecoland e. V.

1997

42

Verband Ökohöfe e. V.

2007

134

Bio Initiative gGmbH

2017

unbekannt

Quelle: Eigene Darstellung (Datenquelle Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft [BÖLW], 2018)

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jeweils eigene Standards für die landwirtschaftliche Erzeugung entwickelt, zu deren Einhaltung sich die Verbandsmitglieder verpflichten. Verbandsmitgliedschaft und eine Zertifizierung nach dem jeweiligen Verbandsstandard sind Voraussetzungen dafür, dass mit den Verbandszeichen geworben werden darf. Lizenznehmer der Verbände wie Lebensmittelhersteller und -händler verpflichten sich ebenfalls gegenüber dem Verband, Verarbeitungsrichtlinien einzuhalten und Rohprodukte bevorzugt von Verbandsmitgliedern zu beziehen. Insbesondere die Verbandszeichen der großen Anbauverbände verfügen bei Verbrauchern über eine große Bekanntheit. So gaben 2008 bei einer repräsentativen Befragung 67 % der Befragten an, das Bioland-Zeichen zu kennen (Max Rubner-Institut [MRI], 2008, S. 100). Für eine diachrone Untersuchung der Interaktion von vertikalen und horizontalen Koordinationsprozessen auf Märkten sind prozessgenerierte Daten besonders geeignet, da diese nicht reaktiv sind und sich im Zeitverlauf nicht verändern (Baur, 2011; Baur & Lahusen, 2006). Als prozessgenerierte Daten wurden für die hier vorgelegte Studie die Verbandszeitschriften der größten drei Anbauverbände – Bioland (ausgewertete Jahrgänge: 1974‒2012), Demeter (1946‒2012) und Naturland (1994‒2012) – ausgewählt, die mit Ausnahme von Naturland durchgehend seit der Gründung dieser Organisationen verfügbar sind. Außerdem wurden Dokumente und Interviewdaten gezielt nacherhoben, wo die Datenlage aus den Verbandszeitschriften keine eindeutigen Schlussfolgerungen zugelassen haben. Um den umfangreichen Datenkorpus handhabbar zu machen, wurde zum Zweck der Datenextraktion und -organisation zunächst eine qualitative Inhaltsanalyse durchgeführt (Gläser & Laudel, 2013). Anschließend wurden die nach Kategorien geordneten Daten bewertet, verglichen und zu historischen Narrativen verdichtet. Eine ausführliche Diskussion des Forschungsdesigns und eine Dokumentation der Quellen, auf denen einzelne Aussagen beruhen, finden sich in Dombrowski (2018). Auf Basis dieser Daten werde ich im Folgenden darstellen, wie die Anbauverbände Beziehungen zwischen Produzenten entlang der Warenkette für biologische Lebensmittel strukturiert haben und auf welchen Interpretationen diese Strategien jeweils basierten. Ein Schwerpunkt liegt auf der Frage, welche Faktoren zur Veränderung von Wissensbeständen und den Praktiken der Anbauverbände beigetragen und wie sich diese Beziehungen historisch verändert haben. Die Darstellung orientiert sich an den in Dombrowski (2018, S. 130 f.) identifizierten Phasen der Marktentwicklung.

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3 Phase 1 (1946‒1980): Die Konstitution von Märkten für biologische Lebensmittel in Deutschland Die Gründung von Märkten für biologische Lebensmittel fällt mit Entwicklungen in der Landwirtschaft zusammen, die von Frank Uekötter (2012, S. 331) als die „stille Revolution der Nachkriegszeit“ beschrieben worden sind. Zwar waren auch in der Zwischenkriegszeit bereits erste Märkte und Warenketten für biologische Lebensmittel in Deutschland entstanden, die jedoch im Zweiten Weltkrieg weitgehend zusammenbrachen. Ein in den 1950er Jahren beginnende Umstrukturierungsprozess ist von einem drastischen Rückgang der landwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland bei gleichzeitigem Größenwachstum der verbliebenen Betriebe, einem zunehmenden Einsatz von synthetischen Düngeund Pflanzenschutzmitteln und einer zunehmenden Spezialisierung landwirtschaftlicher Betriebe gekennzeichnet, die auch auf einer Ausrichtung der landwirtschaftlichen Produktion an den Erfordernissen einer möglichst effizienten Ausnutzung neuer landwirtschaftlicher Technologien wie Traktoren oder Massentierhaltungssystemen beruht. Der ökologische Landbau, der in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg in Süddeutschland seinen Ursprung hatte, ist in vielerlei Hinsicht eine Reaktion auf die hier angerissenen Entwicklungen in der Landwirtschaft, etwa dadurch, dass in der biologischen Landwirtschaft auf synthetische Dünge- und Pflanzenschutzmittel verzichtet wird und sich seine Methoden zunächst an kleinere, unspezialisierte Betriebe richteten. Während der Konstitutionsphase galt es für Landwirte zunächst, das notwendige Wissen zu erwerben, um ohne den Einsatz solcher Stoffe auskommen zu können. Die horizontale Koordination von Bioerzeugern in den Anbauverbänden diente zunächst dem Wissensaustausch und der Entwicklung neuer landwirtschaftlicher Methoden. Für Bioerzeuger hat diese horizontale Koordination die Abhängigkeit von kostenintensiven Inputs reduziert und ein Angebot an Erzeugnissen aus ökologischer Landwirtschaft geschaffen, das teilweise über eigene Märkte abgesetzt werden konnte. 1946 wurde mit dem Forschungsring für biologisch-dynamische Landwirtschaft e. V., der 2008 weitgehend im Demeter e. V. aufgegangen ist, ein erster Anbauverband in Deutschland gegründet. Der Forschungsring widmete sich zunächst vor allem der Ausbildung und Beratung von Landwirten in den Methoden der biologischen Landwirtschaft, indem er Einführungskurse veranstaltete oder seine Berater Mitgliedsbetriebe bei Produktionsproblemen berieten. Im Zuge der Bemühungen des Forschungsrings wuchs das Angebot an

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biologisch-dynamischen Erzeugnissen. Außerdem entstanden erste Märkte für biologische Lebensmittel, die ab den 1950er Jahren auch über den Reformwarenhandel abgesetzt wurden. Für die Koordination von Landwirten mit Lebensmittelherstellern und dem Reformwarenhandel wurde 1956 mit dem Demeter Bund e. V. eine zweite bundesweit tätige Demeter-Organisation gegründet. Bereits zwischen den beiden Weltkriegen wurden Demeter-Produkte über den Reformwarenhandel vertrieben. Lebensmittelhersteller, die bereits zwischen den beiden Weltkriegen Demeter-Rohstoffe verarbeitet hatten, begannen zudem damit, ihre Produktion wiederaufzunehmen. Der Demeter-Bund vermittelte Getreide von seinen Mitgliedern zu Lebensmittelherstellern und -händlern, mit denen er ebenfalls Lizenzverträge geschlossen hatte. Eine Grundlage für die Mitgliedschaft und Lizenzverträgen war ein erster Demeter-Standard, der zeitgleich mit der Gründung des Demeter-Bundes beschlossen wurde. Um Verbrauchern die Qualität von biologisch-dynamisch erzeugten Lebensmitteln zu vermitteln, gab der Demeter-Bund von 1961 an mit den „Demeter-Blättern“ eine Konsumentenzeitschrift heraus. Zunächst wurden vor allem Demeter-Getreideprodukte über den Reformwarenhandel vertrieben. Weitere landwirtschaftliche Erzeugnisse wie Gemüse wurden von Landwirten und Gärtnern direkt an Konsumenten vermarktet, etwa in Hofläden oder auf Wochenmärkten. Zudem gab es an zahlreichen Waldorfschulen, die mit der Demeter-Bewegung die ideologische Grundlage in der Anthroposophie Rudolf Steiners teilten, Verkaufsstellen. Immer wieder haben Forschungsring und Demeter-Bund zur Schaffung neuer Absatzmärkte für Demeter-Erzeugnisse beigetragen. So haben die Berater des Forschungsrings Methoden zum Anbau von Feldfrüchten, wie der Rote Beete, entwickelt und Verbindungen zwischen Demeter-Landwirten und Saftherstellen hergestellt, um diese Früchte vermarkten zu können. Für tierische Erzeugnisse wie Milch konnten erst in den 1970er Jahren erste eigene Vertriebswege aufgebaut werden. Ein Großteil tierischer Erzeugnisse musste daher ohne Preisaufschlag über konventionelle Vertriebswege abgesetzt werden. Ab 1971 wurde mit dem bio-gemüse e. V. (ab 1974 Fördergemeinschaft organisch-biologischer Land- und Gartenbau e. V.; ab 1987 Bioland e. V.) ein weiterer bedeutsamer Anbauverband gegründet. Die landwirtschaftlichen Erzeugnisse wurden ebenfalls zunächst vor allem direkt vertrieben. Erst im Laufe der 1970er Jahre konnten erste Vertriebsstrukturen, vor allem für Getreide, aufgebaut werden. Anders als in der Demeter-Bewegung wurde bei Bioland neben der Schaffung neuer Märkte auch die Kostenreduktion betont, die mit der Umstellung

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auf biologische Methoden der Landwirtschaft möglich wurde. So orientierte sich Bioland an den Ideen des Schweizer Bauernaktivisten Hans Müller, der fünf Leitsätze auf den auf ihn zurückgehenden organisch-biologischen Landbau formulierte: „Leben schafft leben. Der Gesundheit dienen. Die Kosten senken. Die Leistung steigern. Alles tun, was die Gare fördert, alles lassen was die Gare zerstört. Die Fruchtbarkeit nicht kaufen, sondern selber bauen“. (Zitat geht zurück auf Hans Müller, zitiert nach Kuhlendahl, 1996, S. 10)

Wie dieses Zitat zeigt, war der organisch-biologische Landbau nicht nur ein Landbausystem. Mit der Entwicklung des organisch-biologischen Landbaus verfolgte Müller zudem das Ziel, die bäuerliche Unabhängigkeit gegenüber der Lebensmittelindustrie und -handel zu erhalten. Entsprechend formulierte Müller auch wirtschaftliche Grundsätze für die Betriebsführung, insbesondere das Prinzip, die Produktionskosten niedrig zu halten. 1983/1984 war der Unternehmensaufwand bei alternativen Betrieben um 26 % niedriger als bei konventionellen Betrieben, weil vor allem die Ausgaben für Pflanzenschutz- und Düngemittel reduziert werden konnten. Die mit dem Verzicht auf Pflanzenschutzund Düngemittel verbundenen Ertragseinbußen konnten zumindest teilweise durch höhere Verkaufspreise, insbesondere für Getreide, ausgeglichen werden (Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten [BELF], 1984, S. 31). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Anbauverbände während der Konstitutionsphase der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel aktiv an der Koppelung von Märkten für biologische Rohprodukte mit Märkten von Lebensmittelherstellern und -händlern gearbeitet haben. Die horizontale Koordination zwischen Landwirten, etwa im Austausch von Wissen und die Entwicklung verbindlicher Standards für die landwirtschaftliche Produktion, haben die Voraussetzungen für die Lösung von Beziehungen zu Zulieferern geschaffen und es ermöglicht, neue Märkte für Produkte aus der ökologischen Landwirtschaft zu etablieren. Eine Getriebenheit der Marktentwicklung von Akteuren konnte in dieser Phase nicht beobachtet werden. Vielmehr sind die deutschen Märkte für biologische Lebensmittel aus der horizontalen Koordination von Landwirten, Gärtnern, Agrarwissenschaftlern und Aktivisten in den Anbauverbänden hervorgegangen und dienten auch dem Ziel, sich vertikaler Einflussfaktoren zu entziehen.

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4 Phase 2 (1980‒1990): Wachstum des ökologischen Landbaus in Deutschland Die Wachstumsphase des ökologischen Landbaus kann grob auf die 1980er Jahre datiert werden. In dieser Phase war bei allen Verbänden der ökologischen Landwirtschaft ein deutliches Mitgliederwachstum zu beobachten. Die Demeter-Verbände konnten die Zahl ihrer Mitglieder von 420 (1980) auf 958 (1990) mehr als verdoppeln (Koepf & von Plato, 2001, S. 335). Bioland wuchs sogar um 870 % von 70 landwirtschaftlichen Erzeugern 1978 auf 600 im Jahr 1986. Ende der 1980er Jahre waren 300 landwirtschaftliche Erzeuger im 1982 gegründeten Naturland-Verband organisiert. Aufgrund des mit den steigenden Mitgliederzahlen einhergehenden Angebotswachstums wurde die Frage des Absatzes von Bioprodukten zunehmend in den Verbänden diskutiert und es wurden neue Vermarktungsstrategien entwickelt. In der Wachstumsphase wird deutlich, dass unterschiedliche Vertriebswege von Landwirten unterschiedlich bewertet werden können. Dies wurde insbesondere bei Bioland deutlich, wo zwei Fraktionen einen Konflikt über die zukünftigen Vermarktungsstrategien des Verbandes austrugen. Während eine Fraktion die Ausweitung der Vermarktungswege auf konventionelle Supermärkte als notwendig ansah, um das steigende Angebot an Bioland-Rohstoffen absetzen zu können, lehnte die andere Fraktion eine Vermarktung in Supermärkten ab. Die Position dieser Gruppe wird anhand des folgenden Zitats deutlich: „Wie Bauern dürfen meines Erachtens nicht den gleichen Fehler wie in der Vergangenheit machen und nur erzeugen und die Vermarktung anderen überlassen. Mit der Umstellung zum biologischen Landbau müssen auch direktere, kürzere und für alle Beteiligten überschaubare und kontrollierbare Vermarktungswege aufgebaut werden. […] Der scheinbar leichtere Weg, den Markt anderen zu überlassen, führt langfristig zu neuen Abhängigkeiten und macht auch die Biobauern zu Marionetten der kapitalkräftigen Großstrukturen.“ (Bichler, 1984, S. 6).

Die zweite Fraktion lehnte also Belieferung von Warenketten ab, die den konventionellen Lebensmitteleinzelhandel einbezogen hatten, und befürwortete eine möglichst direkte Vermarktung von landwirtschaftlichen Erzeugern an die Verbraucher. Hiermit sollte die bäuerliche Unabhängigkeit gegenüber den Einflusspotenzialen von Lebensmittelindustrie und -handel gesichert werden. Die erste Fraktion schätzte hingegen das Potenzial für Direktvermarktung deutlich geringer ein. Auch eine Belieferung ausschließlich des Naturkostfachhandels wurde als nicht tragfähig angesehen und eine Öffnung des Vertriebs mit

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konventionellen Supermärkten befürwortet. Im Zuge dieser internen Konflikte wurden einerseits Pilotprojekte für die Zusammenarbeit mit einzelnen regionalen Supermarktketten gestartet, andererseits die Verantwortung für die Vermarktung weitgehend den Landesverbänden übertragen, die je nach lokalen Interessenskonstellationen unterschiedliche Vermarktungsstrategien verfolgten. Zudem versuchte Bioland, die Belieferung an Bedingungen zu knüpfen, um den Einflusspotenzialen von Supermarktketten entgegenzuwirken. So mussten Biolandwirte etwa den konventionellen Supermärkten die gleichen Preise in Rechnung stellen wie dem lokalen Naturkostfachhandel. Dem Verband gelang es jedoch nicht, dauerhafte Handelsbeziehungen auf der Grundlage solcher Bedingungen mit Supermärkten zu etablieren. Neben dem geringen Interesse des Lebensmitteleinzelhandels kann dies auf die internen Konflikte im Bioland-Verband zurückgeführt werden, die die Entwicklung und Umsetzung von Vertriebsstrategien behinderten. Mit ihrer steigenden Zahl nahm auch die Heterogenität der Mitgliedsbetriebe in den Anbauverbänden zu. Sind zunächst vor allem Gemischtbetriebe auf den biologischen Landbau umgestiegen, d. h. Betriebe, die sowohl Ackerbau und Milchviehhaltung betrieben haben, traten nun auch Betriebe mit anderen Schwerpunkten wie der Schweine- und Geflügelmast und Gärtnereien und Weinbauern den Anbauverbänden bei. In der Folge wurden die Standards der Anbauverbände auf immer mehr Bereiche der landwirtschaftlichen Produktion übersetzt und eine zunehmend breitere Palette an Lebensmittel mit den Labels der Anbauverbände gekennzeichnet. Zudem konnten auch erste Erfassungsstrukturen für Biomilch etabliert werden. Der Bioland-Landesverband Niedersachsen gründete 1987 mit der Bioland GmbH Nord die erste Erzeugergemeinschaft im Bioland-Verband. Die Gesellschaft sollte die Erzeugnisse ihrer Gesellschafter zentral erfassen, aufbereiten und an Großabnehmer absetzen. Anteile an der Gesellschaft konnten nur Mitglieder des Landesverbandes erwerben. In den ersten Jahren nach Gründung dieser Erzeugergemeinschaft zeigte sich, dass der Erfolg solcher Zusammenschlüsse auch davon abhing, wie landwirtschaftliche Erzeuger solche Absatzmöglichkeiten interpretierten. So wurde die Erzeugergemeinschaft von den Mitgliedern des Landesverbands vor allem als Möglichkeit gesehen, Überschüsse abzusetzen, für die keine lukrativen Absatzmöglichkeiten gefunden werden konnten. Mit der Gründung verfolgte der Verband jedoch das Ziel, seinen Mitgliedern durch die Angebotsbündelung eine bessere Verhandlungsposition zu verschaffen. Auch Naturkosthersteller berichteten von einer unzuverlässigen Belieferung durch Bioland-Bauern.

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Auf Grundlage dieser Erfahrungen wurden bei der Gründung weiterer Erzeugergemeinschaften Maßnahmen ergriffen, um die Planbarkeit und Verbindlichkeit der Belieferung zu erhöhen. Es zeigte sich, dass die Struktur von Warenketten nicht nur auf Interpretationen und Wissensbeständen von steuernden Akteuren abhing, sondern auch von landwirtschaftlichen Erzeugern. Die horizontale Koordination von Erzeugern in Verbänden und Erzeugergemeinschaften schafften zudem erst die Voraussetzungen dafür, dass den Akteuren der vorgelagerten Positionen in der Warenkette – etwa Verarbeitern – größere Partien an Bioerzeugnissen angeboten werden konnten. Die finanzielle Förderung durch die Bundesregierung bewirkte Ende der 1980er Jahre/Anfang der 1990er Jahre die Gründung zahlreicher Erzeugergemeinschaften. In der Konsequenz ist zwischen Biolandwirten, Lebensmittelherstellern und dem Lebensmittelhandel eine neue Gruppe von Intermediären entstanden, die zunächst eng an einzelne Anbauverbände gebunden war. Auch in der ersten Wachstumsphase waren es vor allem marktinterne Entwicklungen, insbesondere das Mitgliederwachstum der Anbauverbände, die dazu führten, dass Vermarktungsstrategien kontroverser diskutiert worden sind und die zukünftige Einbettung in Warenketten problematisiert wurde. Auch in dieser Phase ist eine Getriebenheit der sozialen Ordnung der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel kaum zu beobachten, mit den Erzeugerzusammenschlüssen mit ihren internen Regeln und Überwachungsverfahren wurden jedoch Strukturen geschaffen, die eine Vermarktung über Lebensmittelhersteller und -händler erleichtern sollten. Die Einrichtung genau dieser Strukturen wurden von Naturkostherstellern bereits in den 1980er Jahren eingefordert.

5 Phase 3 (1991‒2001): Staatliche Interventionen und Differenzierung über Labels In der dritten Entwicklungsphase sind für die Beziehungen zwischen den Märkten für Erzeugnisse aus der ökologischen Landwirtschaft vor allem zwei Entwicklungen relevant: die Erwartung einer steigenden Wettbewerbsintensität im Zuge der EG-Öko-Verordnung und eine Zersplitterung des Angebots an Biorohstoffen aufgrund der auf Basis der Verbandsmitgliedschaft organisierten Erfassungsstrukturen und Erkennungszeichen für Bioprodukte. Vom Rat der Europäischen Gemeinschaft wurde 1991 die Verordnung EWG/2092/91 über den biologischen Landbau beschlossen. Die Regulation legte zunächst nur für pflanzliche Erzeugnisse ab 1999 auch für Produkte tierischen Ursprungs verbindlich fest, unter welchen Bedingungen diese als biologisch

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oder ökologisch vermarktet werden dürfen. Die Anbauverbände begrüßten diese Regelung insofern, als sie „Pseudo-Bio“-Produkte, also Produkte, die als biologisch bezeichnet wurden, ohne nach einem anerkannten Standard produziert worden zu sein, vom Markt verdrängte. Von Verbandsvertretern wurde jedoch auch die Erwartung formuliert, dass durch die gesetzlichen Vorgaben der Wettbewerb mit Erzeugern aus dem europäischen Ausland oder inländische Betriebe ohne Verbandsmitgliedschaft zunehmen werde. Ende der 1980er Jahre/Anfang der 1990er Jahre konnten die Anbauverbände erneut einen hohen Mitgliederzuwachs verzeichnen, nachdem die Europäische Gemeinschaft erstmals Möglichkeiten geschaffen hatte, den Umstieg auf ökologische Landwirtschaft finanziell zu fördern (Lampkin, Foster, Padel, & Midmore, 1999, S. 6). Vor diesem Hintergrund entwickelten die Anbauverbände unterschiedliche Vermarktungsstrategien, die mit einer unterschiedlichen Koppelung mit Märkten in vorgelagerten Stufen der Warenkette verbunden waren. Grundsätzlich wurde von den Anbauverbänden das Verbandszeichen als ein wesentliches Mittel gesehen, die Wettbewerbschancen ihrer Mitglieder gegenüber anderen Angeboten zu verbessern, wie etwa das folgende Zitat aus einem Bericht zur Bioland-Bundesdelegiertenversammlung von 1994 veranschaulicht: „Mit Inkrafttreten der EG-Verordnung ‚Ökologischer Landbau‘ hat sich der Wettbewerb auf dem Bio-Markt verschärft. Das Erzeugerangebot […] ist erheblich gewachsen, der Lebensmittelhandel drängt mit eigenen Bio-Marken in den Markt. Vor diesem Hintergrund kann es nicht Ziel des Bioland-Verbandes sein, das Verbandszeichen Bioland lediglich als Anbau oder Herkunftszeichen zu definieren. Dann würden wir uns vollständig dem Preis- und Mengenwettbewerb auf dem Markt unterziehen und austauschbar werden. Es ist vielmehr unsere Aufgabe, Bioland künftig als Markenzeichen mit besonderen Qualitäten herauszustellen und am Markt durchzusetzen, um die vorhandenen preis- und absatzpolitischen Spielräume zu nutzen“. (Langerbein, 1994, S. 33)

Die Analyse der Verbandszeitschriften zeigt, dass diese Interpretation über die Bedeutung des Warenzeichens zwar von allen drei Anbauverbänden geteilt worden ist, die Anbauverbände aber auf Grundlage dieses Verständnisses unterschiedliche Vermarktungsstrategien entwickelten. In den Verbandszeitschriften zeigten sich zwei Vermarktungsstrategien, mit denen die Anbauverbände auf die erwartete Zunahme der Wettbewerbsintensität reagieren wollten: eine Steigerung der Bekanntheit des Verbandszeichens durch eine möglichst weite Verbreitung und eine Qualitätsdifferenzierung. Für eine Qualitätsdifferenzierung wurden vor allem Potenziale in der engen Anbindung der Verarbeitungsrichtlinien an die Prinzipien der Vollwerternährung gesehen, die etwa intensiv verarbeitete Biolebensmittel wie

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H-Milch ausschlossen. Während Bioland und Demeter sich um eine entsprechende Qualitätsdifferenzierung bemühten, setzte Naturland auf die zuerst genannte Strategie. Durch effiziente Strukturen und eine Bündelung des Angebots von Naturland-Bauern sollten sich die Mitglieder Wettbewerbsvorteile verschaffen und das Verbandszeichen im Markt durch eine Kooperation mit dem konventionellen Lebensmitteleinzelhandel bekannt gemacht werden: „Jetzt stehen Vertragsverhandlungen mit neuen großen Partnern auch im Lebensmitteleinzelhandel an. Eine gewaltige Herausforderung für Naturland, die uns viel abverlangt. Weil aber auch die neuen Partner nicht EG-Ökoware wollen, sondern ausdrücklich Produkte mit dem Naturland-Zeichen, bietet sich jetzt die einzigartige Chance, dem Naturland-Zeichen eine gebührende Bedeutung am Markt zu verleihen“. (Hansen, 1994, S. 3)

Die Demeter-Verbände beschlossen zudem Ende der 1990er Jahren eine selektive Vertriebsstrategie. Demeter-Produkte sollten ausschließlich über den Naturkostfachhandel vertrieben werden. Mit diesem „Fachhandelsbeschluss“ reagierten die Demeter-Verbände als einzige der Anbauverbände auf entsprechende Forderungen von Naturkosthändlern. Die Demeter-Verbände versprachen sich hierdurch für ihre Mitglieder Vorteile bei der Listung im Naturkostfachhandel gegenüber anderen Angeboten. Zudem überwog die Annahme, dass die hohe Qualität von Demeter-Lebensmitteln im Fachhandel besser vermittelt werden konnte. Neben dem Fachhandelsbeschluss wurde eine Co-Markenstrategie entwickelt, die eine leichte Erkennbarkeit von verarbeiteten Demeter-Lebensmitteln gewährleisten sollte. Zudem sollten sowohl die Marken von Demeter-Naturkostherstellern und das Zeichen des Demeter-Verbandes deutlich auf Verpackungen abgebildet werden, womit auch eine „neue Form der Verbindlichkeit von Demeter-Mitglieder untereinander“ (Schaumberger, 1999, S. 49) gefördert werden sollte. Dynamiken der verbandlichen Koordination haben in den 1990er Jahren zu einer „Zersplitterung des Angebots“ (Hamm, 1996) von Bioerzeugnissen geführt, die die Anbindung der deutschen Biorohstoffmärkte an die Lebensmittelindustrie und den Lebensmitteleinzelhandel erschwerte. Die enge Anbindung von Erzeugergemeinschaften an die einzelnen Verbände und die Regel, dass Anbauverbände die Nutzung ihrer Zeichen nur gestatteten, wenn zumindest wesentliche Anteile der Rohstoffe von den eigenen Verbandsmitgliedern stammten, führte dazu, dass Lebensmittelhersteller und -händler Probleme hatten, die für ihre Produktion notwendigen Mengen am Markt zu beziehen. Zudem verteuerten sich hierdurch die Erfassungskosten für Bioerzeugnisse.

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Die 1990er Jahren standen im Zeichen einer erwarteten Zunahme der Wettbewerbsintensität auf den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel, die maßgeblich von der EU-Öko-Verordnung ausgelöst worden sind. Die Anbauverbände reagierten auf diese Entwicklung, indem sie sich darum bemühten, die Angebote ihrer Mitglieder verstärkt über die Verbandszeichen von anderen Angeboten im Markt zu differenzieren. Hierbei orientierten sich die Anbauverbände an zwei konträre Strategien. Das Resultat dieser Vermarktungsstrategien war die horizontale Koordination in den Anbauverbänden mit der Entwicklung unterschiedlicher Stränge in der Warenkette, auch wenn diese Stränge sich in der Handelspraxis vielfach überlappten. Zudem führte die Zersplitterung des Angebots zu Koordinationsproblemen in der Warenkette, die maßgeblich auf die Zersplitterung verbandlicher Koordinationsstrukturen zurückzuführen war.

6 Phase 4 (seit 2001): Der Biolandbau seit der Agrarwende Der erste BSE-Fall bei einer in Deutschland geborenen Kuh, der am 24.11.2000 nachgewiesen wurde, führte zumindest kurzfristig zu einem Paradigmenwechsel in der deutschen Agrarpolitik. Ein wesentliches Element der von der im Zuge der Krise ins Amt gekommenen neuen Bundesministerin für Verbraucherschutz, Landwirtschaft und Wald Renate Künast ausgerufenen „Agrarwende“ (siehe für ausführliche Analysen für Auswirkungen der Agrarwende auf die Landwirtschaft in Deutschland etwa Kropp & Wagner, 2005; Poppinga, 2006) waren Förderprogramme für die Entwicklung des ökologischen Landbaus in Deutschland. Eine maßgebliche Policy der Agrarwende, die die Beziehungen in der Warenkette geprägt haben, war die Einführung eines staatlichen Biosiegels. Erzeuger, Lebensmittelhersteller und -händler dürfen das Siegel gebührenfrei verwenden, wenn ihre Produkte nach der EU-Öko-Verordnung zertifiziert sind. Weder eine Mitgliedschaft in einem der Anbauverbände noch eine spezifische Herkunft der verwendeten Rohstoffe sind eine Bedingung für die Zeichennutzung. Mit der Revision der EU-Öko-Verordnung von 2007 wurde zudem die Einführung eines EU-weit einheitlichen Labels für biologische Lebensmittel beschlossen und die Kennzeichnung von Bioprodukten mit diesem Label 2012 verbindlich. Das deutsche Biosiegel verbreitete sich nach seiner Einführung schnell. Bereits 2002 wurde es von 256 Unternehmen verwendet, die damit 3537 Produkte kennzeichneten (Geschäftsstelle Bundesprogramm Ökologischer Landbau und andere Formen nachhaltiger Landwirtschaft [BÖLN], 2011, S. 2).

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Mit dem deutschen und europäischen Biosiegel standen dem Handel erstmals Erkennungszeichen für Produkte aus dem biologischen Landbau zur Verfügung, die nicht von den Anbauverbänden kontrolliert wurden. Dadurch verschoben sich die Machtbalancen entlang der Warenkette. Neben der Einführung staatlicher Labels für Produkte aus der biologischen Landwirtschaft ist die vierte Entwicklungsphase des ökologischen Landbaus dadurch gekennzeichnet, dass nur etwa die Hälfte der ökologisch wirtschaftenden Betriebe in einem der Anbauverbände organisierten waren. 2018 gehörten von den 27.132 ökologisch wirtschaftenden Betrieben 51 % einem der neun Anbauverbände an (BÖLW, 2018, S. 5). Diese Daten deuten darauf hin, dass ein Großteil jener Betriebe, die seit den 1990er Jahren auf biologische Landwirtschaft umgestellt haben, sich keinen Verband angeschlossen haben. Eine Erklärung für diese Entwicklung ist, dass die Umstellung für zahlreiche Betriebe vor allem in der Mitnahme von Subventionen für ökologisch wirtschaftende Betriebe motiviert war (Dietzig-Schicht, 2016, S. 187). Nachdem es seit den 1980er Jahren erste Kooperationen zwischen den Anbauverbänden und Supermarktketten gab und in den 1990er Jahren nach Einführung der EG-Öko-Verordnung 1992 konventionelle Lebensmittelhändler ihr Sortiment an Bioprodukten deutlich ausgeweitet hatten (Kreuzer & Drube, 1996, S. 136 ff.), wurde in den 2000er und 2010er Jahren ein Großteil des Umsatzes mit Biolebensmitteln im konventionellen Lebensmitteleinzelhandel gemacht. So wurden 2017 59 % des Gesamtumsatzes von Biolebensmitteln im konventionellen Lebensmitteleinzelhandel erzielt, während der Anteil des Naturkostfachhandels lediglich 28 % betrug (eigene Berechnungen nach BÖLW, 2018, S. 15). Zudem sind in den 2000er Jahren erstmals Lebensmitteldiscounter in den Handel mit Bioprodukten eingestiegen (Spiller & Gerlach, 2006, S. 86 f.). Erstmals konnte auch eine Getriebenheit der Ordnung der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel durch Akteure in vorgelagerten Stufen der Warenkette beobachtet werden. So hat etwa die Produktions- und Handelsgesellschaft Alnatura einen eigenen Tierwohlstandard für die Eierproduktion unabhängig von den Verbänden etabliert, nachdem sich diese nicht bereit erklärt hatten, den Forderungen der Handels- und Produktionsgesellschaft nachzukommen. Das deutsche und europäische Biosiegel wird von den Anbauverbänden als Kommensurationsagent (Espeland & Stevens, 1998) interpretiert, der die Angebote von Bioerzeugern nach einem einheitlichen Maßstab bewertet und so für Lebensmittelproduzenten und -händler austauschbar macht. Das Ziel der Warenzeichenpolitik sei es daher, so 2010 Bioland-Präsident Thomas Dosch, „unter allen Umständen zu verhindern, dass die Biolandhöfe zu austauschbaren ‚Rohstoffquellen‘ für anonyme Bio-Märkte werden“ (Grafen-Engert, 2010,

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S. 35). Das Ziel der Vermarktungsaktivitäten der Verbände war es daher, mit ihren Zeichen die besondere Qualität der Erzeugnisse ihrer Mitglieder herauszustellen und ihre Vergleichbarkeit zu reduzieren. Strategien der Qualitätsdifferenzierung zeigen sich neben einem höheren Richtlinienniveau, etwa bei den Anforderungen an eine artgerechte Tierhaltung, in der Vertriebsstrategie und im Qualitätsmanagement. So werden etwa Biorohstoffe von Mitgliedern der Anbauverbände auch über Lebensmitteldiscounter vermarktet, eine Kennzeichnung entsprechender Produkte mit den Verbandszeichen unterbleibt jedoch in diesen Fall. Die Anbauverbände und die ihnen nachgelagerten Erzeugerzusammenschlüsse bedienen unterschiedliche Stränge der Warenkette für Biolebensmittel mit unterschiedlichen Vermarktungsstrategien. In den 2000er Jahren ist zudem Demeter von seinem Fachhandelsbeschluss in einem graduellen Prozess abgewichen. Demeter-Produkte können nun auch über den konventionellen Lebensmitteinzelhandel vermarktet werden. Als einziger Verband versucht Demeter aber auch weiterhin, Händler durch spezielle Partnerprogramme an sich zu binden. Zudem haben die Anbauverbände in den 2000er Jahren damit begonnen, ihre internen Qualitätsmanagementsysteme auszubauen, um Warenströme lückenlos nachvollziehen zu können und Kontaminierungen von Biolebensmitteln mit Rückständen aus der konventionellen Produktion zu vermeiden. Da Qualitätsmanagementsysteme und Lebensmittelsicherheitsstandards im Agrarbereich bei der Koordination von Warenketten eine wachsende Bedeutung zukommt (Hatanaka, Bain, & Busch, 2005), haben sich diese Qualitätsmanagementsysteme seitdem zu einem Wettbewerbsvorteil für Verbandsbetriebe gegenüber nicht organisierten Betrieben entwickelt. In einzelnen Märkten, wie etwa für Biorohmilch, bestehen zudem nur in wenigen Regionen Absatzmöglichkeiten für nicht verbandsgebundene Betriebe, weil ein Großteil der Biomolkereien eine Verbandszertifizierung von den Zulieferern verlangt (BioHandel, 2016). Auf den Märkten für Biomilch hat sich zudem gezeigt, dass Handelspraktiken von Akteuren in vorgelagerten Stufen der Warenkette zur Mobilisierung und Etablierung neuer horizontaler Koordinationsstrukturen führen können. So haben sich Milchbauern aller Anbauverbände ab 2003 koordiniert, um höhere Preise für Biomilch durchzusetzen. Auslöser hierfür waren Preissenkungen zweier großer Biomolkereien. Infolgedessen wurden mit den Milcherzeugergemeinschaften Nord und Süd zwei Organisationen gegründet, die das Angebot von Biomilch bündeln und so die Verhandlungsposition von Bauern gegenüber Molkereien stärken sollten. In diese Organisationsprozesse waren Referenten der Anbauverbände eng eingebunden. Zudem wurden von Bioland und Naturland in den

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Verbandszeitschriften regelmäßig Übersichten über die Anlieferungspreise von Biomilch verschiedener Molkereien veröffentlicht, um die Markttransparenz für Erzeuger zu erhöhen.

7 Fazit: Verschränkung von horizontaler und vertikaler Koordination Das Ziel der vorgelegten Fallstudie der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel war es, die Fragestellung zu untersuchen, wie horizontale und vertikale Einflussfaktoren auf Märkten für landwirtschaftliche Erzeugnisse ineinandergreifen. Dabei hat sich die Kombination aus marktsoziologischen und wirtschaftsgeografischen Erklärungsstrategien als fruchtbar erwiesen. Insbesondere für Agrarmärkte erscheint eine integrative Perspektive das Potenzial zu haben, zu einem theoretisch und empirisch angemessenen Verständnis dieser sozialen Ordnungen und ihrer Dynamik zu gelangen. Am Beispiel der Anbauverbände in der ökologischen Landwirtschaft, also von horizontalen Zusammenschlüssen von Landwirten und Gärtnern, die nach kollektiven verbindlichen Regeln produzieren und ihre Erzeugnisse unter gemeinsamen Zeichen vermarkten, konnte gezeigt werden, dass die Einbettung in Warenketten ein wesentlicher Faktor für die Dynamik der organisierten Ordnung dieser Märkte ist. So war die Abkopplung von Märkten sowohl in nachgelagerten als auch in vorgelagerten Stufen landwirtschaftlicher Warenketten ein wesentliches Motiv für die Gründung von Anbauverbänden und die Konstitution von Märkten für biologische Lebensmittel. Gleichzeitig haben sich Dynamiken der horizontalen Koordination auch immer wieder auf die Ordnung von Warenketten ausgewirkt, etwa durch eine Zersplitterung des Angebots in den 1990er Jahren oder durch die Etablierung unterschiedlicher Stränge in den Warenketten für biologische Lebensmittel. In einigen Märkten, wie etwa für Biomilch, ist eine Verbandsmitgliedschaft in vielen Regionen eine Voraussetzung für den Zugang zu Märkten in den vorgelagerten Stufen der Warenkette. Die vorgelegte Fallstudie zeigt, dass die Ordnung von Märkten für landwirtschaftliche Rohstoffe nicht allein auf ihre Getriebenheit durch die Lebensmittelindustrie oder Supermarktketten zurückgeführt werden kann. Einerseits variierte die Getriebenheit zwischen unterschiedlichen Phasen der Entwicklung der ökologischen Landwirtschaft in Deutschland. Insbesondere in den frühen Phasen der Marktentwicklung waren Ordnungsbildungsprozesse von den Interessen der Erzeuger und ihren Beratern oder durch interne Dynamiken wie einem Mitgliederzuwachs geprägt. Andererseits wurden Strategien identifiziert, mit denen

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landwirtschaftliche Erzeuger in ihren Kollektivorganisationen auf vertikale Einflussfaktoren reagieren, etwa mit der Verbreitung von Verbandszeichen, Maßnahmen der Qualitätsdifferenzierung einschließlich selektiver Vertriebsstrategien und des Qualitätsmanagements. Divergierende Interessen innerhalb der Anbauverbände und ihre variierenden Vermarktungsstrategien zeigen, dass die Governance von Warenketten nicht nur auf die kulturelle Orientierung von steuernden Unternehmen zurückgeführt werden kann, wie es etwa Ponte und Gibbon (2005) tun. Vielmehr können auch landwirtschaftliche Erzeuger ihr wirtschaftliches Handeln an unterschiedlichen Modellen ausrichten. Daher erscheint es notwendig, in der Analyse von Warenketten die Wissensbestände und Interpretationen aller Akteursgruppen zu untersuchen und anschließend diese möglicherweise divergierenden Interpretationen zu erklären, wie Koordination gelingen kann. Ein weiteres Ergebnis der Fallstudie ist, dass sich die Position einzelner Akteure in Warenketten verändern können. Standen die Anbauverbände und ihre Zeichen bis in die 1980er Jahren als einzige legitime Vertreter des biologischen Landbaus, sind sie nunmehr Mittel der Qualitätsdifferenzierung am Markt. Ein wesentlicher Auslöser dieser Veränderungen war jedoch weniger die Getriebenheit von Warenketten, sondern es waren vielmehr staatliche Regulation und staatliches Handeln, die erst die Voraussetzungen für eine enge Koppelung zwischen Märkten für Biorohstoffe und Supermärkten geschaffen haben. So haben es erst die staatlichen Biozeichen den Handelsketten ermöglicht, die von ihnen benötigten Rohstoffe zu erfassen und glaubwürdig als Bioprodukte anzubieten. In der Rolle des Staates für die Entwicklung der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel wird ein wesentlicher Unterschied zu den transnationalen Agrarmärkten deutlich, die gewöhnlich in der GCC-/GVC-Literatur untersucht werden. Da zahlreiche Bioprodukte innerhalb der Europäischen Union und Deutschland produziert werden, können staatliche Akteure umfassender in die Marktordnung eingreifen als in transnationale Warenketten, in denen nur einzelne Produktionsschritte von einzelnen Staaten reguliert werden können. Staatliche Politiken wie etwa die EU-Öko-Verordnung oder das Biosiegel waren hierbei vor allem als Kommensurationsagenten gedacht, die Angebote vereinheitlichen und somit den Handel auf Biomärkten erleichtern sollten. Hierdurch haben sie den Einstieg von Akteuren wie konventionelle Supermarktketten und Lebensmittelhersteller in die deutschen Märkte für biologische Lebensmittel erleichtert, die sich gemessen am Umsatzvolumen schnell zu den größten Händlern von Bioprodukten entwickelt haben. Staatliche Interventionen haben sich in den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel als ein wesentlicher Faktor erwiesen, der die Beziehung von Akteuren auf unterschiedlichen Ebenen von Warenketten verändern kann.

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Zeitgleich hat sich spätestens in der vierten Phase der Marktentwicklung gezeigt, dass Akteure in vorgelagerten Stufen der Warenkette aktiv in die Ordnung von Erzeugermärkten eingreifen, etwa, indem sie eigene Produktionsstandards entwickeln und durchsetzen. Händler wie Alnatura, die aus der Biobewegung heraus entstanden sind, konnten ihre Einflusspotenziale steigern, da sie im Gegensatz zu einzelnen landwirtschaftlichen Erzeugern erheblich wachsen konnten und über die finanziellen Ressourcen verfügen, ihre Standards und Einfluss durchzusetzen, etwa indem sie höhere Preise für Erzeugnisse bieten, die nach ihren Vorgaben erzeugt worden sind. Die hier vorgelegte Studie der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel ist ein erster Schritt für ein besseres Verständnis über die Wechselwirkungen von horizontalen und vertikalen Koordinationsprozessen. Exemplarisch konnte anhand der Koordination in Wirtschaftsverbänden gezeigt werden, dass sich horizontale und vertikale Handlungsabstimmung bedingen und die Getriebenheit landwirtschaftlicher Erzeuger beeinflusst. Für zukünftige Forschung bleibt einerseits zu klären, wie verbreitet verbandliche Koordination in Agrarmärkten ist und unter welchen Bedingungen sich Wirtschaftsverbände als Intermediäre auf Agrarmärkten etablieren können und wann nicht. Zudem bleibt zu untersuchen, wie andere Modi der Handlungsabstimmung – etwa Produzentennetzwerke – horizontale und vertikale Koordination beeinflussen.

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Eine historisch-institutionalistische Perspektive auf den deutschen Lebensmitteleinzelhandel Michael Wortmann 1 Einführung Der Einzelhandel ist einer der größten Wirtschaftszweige in Deutschland. Mit 3 Mio. Beschäftigten entfallen auf ihn 7 % der Beschäftigung. Der Lebensmitteleinzelhandel ist mit Abstand die größte Teilbranche. Der größte Einzelhändler in Deutschland, die Edeka Gruppe, ist mit rund 375.000 Mitarbeitern der größte Arbeitgeber des Landes. Trotz dieser Bedeutung der Branche hat sich die Wirtschaftssoziologie bisher kaum mit ihr beschäftigt. Lediglich aus der Industriesoziologie gibt es umfangreichere Untersuchungen. Der vorliegende Beitrag wählt eine sehr breite Perspektive. Dabei stehen allerdings nicht die Einzelhandelsunternehmen, ihre Ladenformate, Geschäftsmodelle und -praktiken im Vordergrund, sondern die Institutionen, also Gesetze, Regeln und Normen, die die in verschiedenen Bereichen die Entwicklung dieser Unternehmen geprägt haben und bis heute prägen. Die Struktur des deutschen Lebensmitteleinzelhandels unterscheidet sich von der in anderen westeuropäischen Ländern. Am auffälligsten ist wohl die Dominanz der Discounter in Deutschland sowie die relativ geringe Bedeutung großflächiger Betriebe, wie der französischen hypermarchés oder der britischen superstores. Es gibt aber noch eine Vielzahl weiterer, weniger offensichtlicher Unterschiede, wie etwa in der Rechtsform der führenden Unternehmen oder der Ausbildung der Beschäftigten. Die international vergleichende Kapitalismusforschung charakterisiert Deutschlands Wirtschaft als Rheinischen Kapitalismus (Albert, 1992) oder als M. Wortmann (*)  Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Baur et al. (Hrsg.), Waren – Wissen – Raum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30719-6_4

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koordinierte Marktwirtschaft (Hall & Soskice, 2001), deren Institutionen in verschiedenen Bereichen Unternehmen unterstützen, die kooperative und nicht vorrangig preisfokussierte Beziehungen zu anderen Akteuren aufbauen. Die Vertreter dieser Konzepte können sich dabei auf eine Vielzahl empirischer Befunde aus den Kernsektoren der deutschen Industrie wie dem Maschinenbau oder der Automobilindustrie stützen. Dass das aus der Untersuchung dieser Industriezweige gewonnene ‚Deutsche Modell‘ jedoch für alle Branchen der deutschen Wirtschaft gelten und national einheitlich sein soll, erscheint aber problematisch. Unterschiede zwischen Wirtschaftssektoren werden in der vergleichenden Kapitalismusforschung kaum berücksichtigt – und wenn, dann werden sie als Modifikationen des nationalen Modells bzw. als Anpassungen an besondere Anforderungen des jeweiligen Sektors interpretiert (Deeg & Jackson, 2007; Hollingsworth & Streeck, 1994; Lane & Wood, 2013). Insbesondere im Bereich der industriellen Beziehungen wird in jüngerer Zeit unter dem Stichwort Dualismus (Emmenegger, Häußermann, Palier, & Seeleb-Kaiser, 2012; Thelen, 2014) eine tiefgreifende Auseinanderentwicklung zwischen Kern- und Randbereichen der deutschen Wirtschaft diagnostiziert. Bereits ein erster Blick auf den Lebensmitteleinzelhandel verdeutlicht erhebliche Unterschiede zu den industriellen Kernsektoren: Statt Aktiengesellschaften dominieren genossenschaftliche Strukturen oder unternehmensverbundene Stiftungen. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist niedrig, und auch in den Betrieben der großen Unternehmensgruppen fehlen häufig Betriebsräte. Viele der Beschäftigten sind weiblich, arbeiten in Teilzeit und haben keine umfassende, dreijährige, sondern nur eine zweijährige Ausbildung. Schließlich sind die Beziehungen zu den Lieferanten im Lebensmittelhandel nicht kooperativ, sondern ausgesprochen konflikthaft. Diese und weitere Besonderheiten des Lebensmitteleinzelhandels und ihre Hintergründe werden im vorliegenden Beitrag näher untersucht. Dabei wird die These vertreten, dass viele dieser institutionellen und institutionell bedingten Besonderheiten des Einzelhandels weder branchenbedingte Modifikationen eines einheitlichen nationalen Modells noch das Ergebnis von Veränderungen der letzten Jahrzehnte sind, sondern dass ihre Entwicklung eigenständigen Entwicklungspfaden folgte, deren Ursprünge sich teilweise bis in das 19. Jahrhundert zurückverfolgen lassen. Einige davon sind durch spezifische mittelständische Traditionen geprägt. Die Rekonstruktion dieser Entwicklungen erfordert eine historisch institutionalistische Analyse, die bestehende Institutionen als das Erbe

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historischer Auseinandersetzungen begreift (vgl. hierzu insbesondere Thelen, 1999, 2010).1 An dieser Stelle ist eine Vorbemerkung über einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Einzelhandel und Industriesektoren wie der Automobilindustrie oder dem Maschinenbau angebracht. Der Lebensmitteleinzelhandel ist eine uno actu Dienstleistung, in der Erstellung und Verbrauch des Produkts bzw. der Leistung nicht – insbesondere räumlich – voneinander getrennt werden können und somit die Unternehmen ihr Produkt auch nicht exportieren können. Der Wettbewerb im Lebensmitteleinzelhandel findet vorrangig auf nationaler Ebene statt. Die Internationale Managementtheorie bezeichnet solche Industrien als multi-national (multidomestic) (Porter, 1986; Salmon & Tordjman, 1989; Wortmann, 2010, 2011). Innerhalb dieser Sektoren ist keine grenzüberschreitende Spezialisierung möglich, und es bleiben z.B. innerhalb des deutschen Lebensmitteleinzelhandels mehrere verschiedene Geschäftsmodelle mit jeweils ähnlichen Ladenformaten, wie Nachbarschaftsläden, Supermärkte, Discounter und große SB-Warenhäuser (Hypermärkte) nebeneinander bestehen. Diese stehen als ‚strategischen Gruppen‘ (Porter, 1980) miteinander im Wettbewerb – nicht nur im Markt, sondern auch in der Sphäre der Politik. Hier tritt der Einzelhandel, anders als viele Kernsektoren, nur selten mit einer Stimme auf. Vielmehr vertreten verschiedene Einzelhändler häufig unterschiedliche oder gar konträre Interessen. Der Hauptteil der folgenden Analyse konzentriert sich auf eine Rekonstruktion der historischen Entwicklung der für den Einzelhandel bedeutsamen Institutionen in einzelnen institutionellen Domänen. Neben den Domänen der Corporate Governance, der beruflichen Bildung, des Wohlfahrtsstaats, der industrielle Beziehungen und der Lieferbeziehungen, wird auch die für den Einzelhandel

1Der

Beitrag fasst Ergebnisse eines von der DFG geförderten Forschungsprojekts zusammen. Insbesondere den Abschnitten über Stadt- und Raumplanung und über Berufsausbildung liegen umfangreiche empirische Recherchen zugrunde, u. a. in verschiedenen Archiven wie dem Bundesarchiv in Koblenz, dem Landesarchiv Berlin, dem Archiv des Bundesinstituts für Berufsbildung und dem Archiv der sozialen Demokratie in Bonn. Ferner führte der Autor über 30 Gespräche mit Experten aus dem Einzelhandel, Lieferanten, Verbänden, Gewerkschaften und Beratungsunternehmen. Insbesondere der Abschnitt über Lieferbeziehungen basiert auf Expertengesprächen. Diese Quellen können in diesem Beitrag nicht im Einzelnen wiedergegeben werden. Der Autor dankt den Gesprächspartnern sowie den Mitarbeitern der Archive für ihre freundliche Unterstützung. Dank für sehr hilfreiche Korrekturvorschläge geht auch an die HerausgeberInnen dieses Bandes und an Renate Forg.

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besonders wichtige institutionelle Domäne der Stadt- und Raumplanung, die bisher in der vergleichenden Kapitalismusforschung kaum Berücksichtigung gefunden hat, in die Untersuchung einbezogen. Bevor im Folgenden die institutionellen Entwicklungen in diesen einzelnen Bereichen analysiert werden, wird zunächst auf die mittelständische Tradition des deutschen Einzelhandels und die Einzelhandelsrevolution in den 1960er Jahren eingegangen.

2 Mittelstandstradition Der Begriff Mittelstand umfasste ursprünglich Handwerker, Ladenbesitzer und andere kleine Gewerbetreibende. Auch wenn der Begriff im Lauf der Zeit immer mehr an Klarheit verloren hat (vgl. auch Conze, 1978; Welter, 2015), hat er bis heute Konnotationen zu einem (mittelalterlichen) Stand, der eine unabänderliche (einst von Gott gegebene) und über Generationen vererbte Stellung in der Mitte der Gesellschaft innehat. Ein starker Mittelstand gilt als besonderes Merkmal der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft. Einen vergleichbaren Begriff gibt es in den meisten anderen europäischen Ländern und Sprachen nicht. Um 1960 galten selbstständige Einzelhändler als die typischsten Vertreter des Mittelstands, sowohl in ihrer Selbsteinschätzung (Hagemann, 1962) als auch in der Zuschreibung durch andere (Daheim, 1960). Die Ausbildung einer mittelständischen Identität erfolgte gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als die konservativen aristokratischen deutschen Eliten einen Verbündeten gegen die aufsteigende Macht der Arbeiter und der Sozialdemokratie brauchten und begannen, den Mittelstand zu fördern und aufzuwerten (Conze, 1978; Winkler, 1972). Mittelständler, die in ihrer Person Kapitalbesitz und Arbeit verbanden, waren als Puffer zwischen den Arbeitern und der Bourgeoisie bzw. dem Kapital positioniert – als Bindeglied in der Mitte der Gesellschaft. Die kollektive Vorstellung von einem Starken Mittelstand als Garant wirtschaftlicher Prosperität und gesellschaftlicher Stabilität bildet einen zentralen Diskurs (core discourse) (Lehmbruch, 2001) oder kognitiven Rahmen (Hall, 2016), an den interessierte wirtschaftspolitische Akteure (Krickhahn, 2017) immer wieder anknüpfen konnten und der die deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik bis heute prägt. Zunächst wurden vor allem Handwerkern Rechte und Privilegien eingeräumt, die die zwischen 1810 und den 1860er Jahren in Deutschland schrittweise eingeführte Gewerbefreiheit teilweise wieder rückgängig machten: Innungen und Handwerkskammern wurden wieder eingerichtet, und 1908 wurde Handwerksmeistern das alleinige Recht zur Ausbildung von Lehrlingen erteilt (siehe unten).

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Unabhängige Einzelhändler waren weniger erfolgreich bei der Durchsetzung solcher Privilegien, aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden z. B. von den meisten deutschen Teilstaaten Sondersteuern für Warenhäuser, den Symbolen des modernen kapitalistischen Einzelhandels, eingeführt (Spiekermann, 1994). Mit Beginn der Weimarer Republik und der sozialdemokratisch geführten Regierung verlor der Mittelstand an Einfluss. Dies änderte sich wieder in den späteren Jahren der Weimarer Republik und besonders während der Wirtschaftskrise, als konservative Parteien an die Macht kamen. Bereits 1930 wurde eine Sondersteuer auf alle Großbetriebe des Einzelhandels eingeführt. Die Verordnung zum Schutze der Wirtschaft vom März 1932 enthielt neben Bestimmungen über Zugaben und Ausverkäufe ein Errichtungsverbot für Einheitspreisgeschäfte in Städten mit weniger als 100.000 Einwohnern. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wurde durch eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen, darunter das Gesetz zum Schutze des Einzelhandels vom Mai 1933, zunächst ein allgemeines Errichtungsverbot für neue Verkaufsstellen erlassen. Ausnahmen waren nur bei Nachweis eines besonderen Bedürfnisses (etwa in Neubaugebieten) vorgesehen. Bald wurden als regelmäßige Ausnahmen Neueröffnungen durch Personen bestimmt, denen die Industrie- und Handelskammer die für den Betrieb der Verkaufsstelle erforderliche Sachkunde, sowie „persönlichen Zuverlässigkeit“ bescheinigte (Saldern, 1979, S. 132). Die Kriterien für den Nachweis der Sachkunde wurden erst 1940 mit der Kaufmannsgehilfenprüfung einheitlich geregelt. Insgesamt kamen diese Bestimmungen dem 1935 eingeführten großen Befähigungsnachweis (Meisterzwang) im Handwerk recht nahe. Mit diesen beiden umfassenden Regulierungen wurden in den Jahren der Stabilisierung des NS-Regimes langjährige protektionistische Forderungen des deutschen Mittelstands erfüllt. Zur gleichen Zeit wurden Juden gezwungen, ihre Geschäfte zu verkaufen (etwa 50.000 allein im Jahr 1933). 1938/1939 wurden die letzten 9000 jüdischen Ladenbesitzer enteignet; kleinere Geschäfte wurden meist geschlossen, während größere Geschäfte häufig arisiert wurden (Barkai, 1989). Ein Dekret über die Beseitigung der Überbesetzung des Handels von 1939 sollte den Einzelhandel effizienter machen und Arbeitskräfte für das Militär freisetzen, indem kleine Läden geschlossen wurden. Dies lag sicher auch im Interesse etablierter mittelständischer Einzelhändler, die nicht nur den großen ‚kapitalistischen‘ Unternehmen, sondern auch den vielen als unqualifiziert und inkompetent geltenden Kümmerexistenzen die Berechtigung Einzelhandel zu betreiben absprachen (Saldern, 1986). Nach dem Ende des Nationalsozialismus blieben in Westdeutschland unter der Besatzung durch die Alliierten viele der Zugangsbeschränkungen im Einzelhandel bestehen. Warenbewirtschaftung und Lizensierungen erhöhten

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die Zugangsbarrieren sogar noch weiter. Nur die US-Amerikaner, die sich eindeutig für ein freies Unternehmertum einsetzten, führten in der von ihnen verwalteten Zone nach der Währungsreform die Gewerbefreiheit ein. Diese Idee der Gewerbefreiheit wurde auch im Grundgesetz (Artikel 12) als Freiheit der Berufswahl verankert, allerdings mit dem zusätzlichen Hinweis, dass die Berufsausübung durch Gesetz geregelt werden kann. In den Gebieten der ehemaligen französischen und britischen Zonen blieben viele der protektionistischen Regelungen auch in den Anfangsjahren der Bundesrepublik weiter in Kraft (Scheybani, 1996). Bis weit in die 1950er Jahre hinein gab es intensive Diskussionen über die Einrichtung von ständischen Berufsordnungen. Die erste Berufsordnung, die Handwerksordnung von 1953, wurde im Bundestag fast einstimmig beschlossen; auch Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, der eigentlich ordoliberale Grundsätze vertrat, hatte sie gegenüber den Amerikanern verteidigt. Sie bestimmte, dass in über 90 handwerklichen Berufen nur Meister tätig werden konnten. Eine Berufsordnung für den Einzelhandel war jedoch stark umstritten. Während eine kleinere Zahl der CDU/CSU-Politiker, darunter auch Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, sowie die Sozialdemokraten gegen solche Schutzbestimmungen waren, drängte die Mehrheit der CDU/CSU-Bundestagsabgeordneten, aber auch deren Koalitionspartner FDP und DP in diese Richtung, unterstützt von Bundeskanzler Konrad Adenauer (Beyenburg-Weidenfeld, 1992; Scheybani, 1996; Tuchtfeldt, 1955). Um seinen Einfluss zu erhöhen, hatte sich der Zentralverband des Deutschen Handwerks bereits 1951 mit dem Bauernverband zum Mittelstandsblock zusammengeschlossen. Dem trat 1953 auch die Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels (HDE2) bei. Kurz vor der Bundestagswahl 1957 wurde das Gesetz über die Berufsausübung im Einzelhandel verabschiedet, das von jedem, der ein Einzelhandelsgeschäft eröffnen wollte, einen Sachkundenachweis über allgemeine kaufmännische Kenntnisse verlangte. Diese konnten durch eine abgeschlossene Lehre zum Einzelhandelskaufmann und eine anschließende zweijährige Berufspraxis, oder durch eine fünfjährige Berufspraxis (davon zwei in leitender Position) oder auch durch eine besondere Prüfung nachgewiesen werden. Weiterreichende Forderungen der HDE nach einem Nachweis einer Fachkunde, d. h. spezifischer Kenntnisse für einzelne Warenkreise, die dann in dem jeweiligen Geschäft angeboten werden konnten, wurden nicht umgesetzt.

2Die

1919 gegründete Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels änderte 1990 ihren Nahmen in Hauptverband des Deutschen Einzelhandels und 2009 in Handelsverband Deutschland. Im Folgenden wird durchgängig die Abkürzung die bzw. der HDE verwendet.

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Für den Einzelhandel mit Lebensmitteln wurden allerdings auch produktspezifische Kenntnisse verlangt. Heinrich A. Winkler (1976) hat diese Art der berufsständischen Regulierung in Handwerk und Einzelhandel als „organisierten Vorkapitalismus“ bezeichnet – in Anlehnung an Hilferdings Konzept des „organisierten Kapitalismus“, das sich insbesondere auf die Kernsektoren der deutschen Industrie bezog (vgl. Höpner, 2007). Während jedoch die Handwerksordnung nach langen gerichtlichen Auseinandersetzungen vom Bundesverfassungsgericht bestätigt wurde, erklärte dieses die Berufsordnung des Einzelhandels 1965 für verfassungswidrig. Im Lebensmitteleinzelhandel hatte sie zunächst weiter Bestand, bis sie 1972 auch dort für verfassungswidrig erklärt wurde. Dies bedeutete das Ende des organisierten Vorkapitalismus im Einzelhandel.

3 Die Einzelhandelsrevolution in den 1960er Jahren Parallel zur Beseitigung der protektionistischen berufsständischen Regelungen kam es im Einzelhandel, und insbesondere im Lebensmitteleinzelhandel, zu tiefgreifenden Strukturveränderungen, die häufig als Einzelhandelsrevolution bezeichnet werden (Ditt, 2003; Langer, 2013). Das Konzept der Selbstbedienung, das sich in den USA schon weit verbreitet hatte, begann in den 1950er Jahren auch in Europa Fuß zu fassen. Zahlreiche Einzelhandelsunternehmer waren in den 1950er und 1960er Jahren nach Nordamerika gefahren, um sich dort über die neuesten Entwicklungen zu informieren (Lange, 2013; Schröter, 2008). Zwischen 1956 und 1960 nahm die Zahl der Selbstbedienungsgeschäfte im deutschen Lebensmittelhandel von 1379 auf 22.619 und bis 1970 dann weiter auf 86.398 zu, davon 2009 Supermärkte und 721 größere Verbrauchermärkte und SB-Warenhäuser mit über 1000 m2 Verkaufsfläche. Im gleichen Zeitraum sank die Zahl der Bedienungsläden von 138.740 auf 31.112 (Institut für Selbstbedienung [ISB], 1974). Auch die Zahl der Bäckereien und Fleischereien (Nahrungsmittelhandwerk) ging deutlich zurück. Der Übergang zur Selbstbedienung hatte im Lebensmitteleinzelhandel vielfältige Auswirkungen: Die Eröffnung neuer, insbesondere großflächiger Betriebe erforderte wesentlich mehr Kapital und eine vorausschauende Standortpolitik, was zu veränderten Anforderungen an die Corporate Governance, insbesondere bei den Einzelhändlergenossenschaften, führte. Zusammen mit der Motorisierung und der Ausstattung der Haushalte mit Kühlschränken, die einen wöchentlichen Großeinkauf in großflächigen Geschäften am Stadtrand erlaubten, hatte

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die Selbstbedienung erhebliche Auswirkungen auf die räumliche Struktur des Einzelhandels. Da die verpackte Ware im SB-Geschäft „sich selbst verkauft“, veränderten sich die Anforderungen an die Berufsausbildung. Dequalifizierung und veränderte Arbeitsteilung, etwa die Ausdifferenzierung des Kassiervorgangs, ebenso wie die zunehmende Größe vieler Betriebe veränderten die Struktur der Beschäftigung, was wiederum Auswirkungen auf die industriellen Beziehungen hatte. Schließlich veränderte die Selbstbedienung auch die Beziehungen zu den Lieferanten, die zunehmend verpackte Ware herstellten und dadurch der Selbstbedienung zum Durchbruch verhalfen. Es scheint, dass insbesondere in der Dekade von den frühen 1960er bis zu den frühen 1970er Jahren wichtige Weichenstellungen stattfanden, die für viele weitere institutionelle Entwicklungen entscheidend waren. Die durch einen Transfer technischer und organisatorischer Innovationen aus den USA ausgelösten wirtschaftlichen Veränderungen führten zu verschiedenen Reaktionen der Akteure aus kleinen und großen Einzelhandelsunternehmen, aus den Verbänden oder der Politik. Viele der in diesen Jahren in teilweise heftigen Auseinandersetzungen erstrittenen institutionellen Lösungen prägen den Einzelhandel hierzulande bis heute. In den folgenden Abschnitten werden diese Entwicklungen in sechs einzelnen institutionellen Domänen rekonstruiert.

4 Corporate Governance Die vier größten deutschen Lebensmitteleinzelhändler (vgl. Tab. 1) sind heute Edeka und Rewe, die als Genossenschaften entstanden waren, heute aber auch andere Rechtsformen verwenden, sowie Aldi und die Schwarz Gruppe (Lidl und Kaufland), die insbesondere die Rechtsformen der unternehmensverbundenen Stiftung und der GmbH & Co. KG nutzen.

4.1 Einzelhändlergenossenschaften Neben der staatlichen Protektion ist die lange Tradition der Selbsthilfe ein besonderes Merkmal des deutschen gewerblichen Mittelstands. Bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Handwerker in vielen deutschen Teilstaaten noch über Zünfte und Innungen miteinander verbunden waren, taten sich diese in einzelnen Städten aus einzelnen Berufen zusammen, um den Einkauf von Materialien und Werkzeugen zu bündeln und so bessere Preise auszuhandeln (Hanel, 1962). Sie wurden von dem liberalen Politiker und – so würde

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Tab. 1   Die größten Lebensmitteleinzelhändler in Deutschland (2017) Edeka

Beschäftigte

Umsatz

Verkaufsstätten

Marktanteil (%)

369.300

20,3

55.896

13.646

Vollsortiment

38.282

6596

Davon: Selbstständige

26.300

5791

Netto

14.416

4218

Andere

3189

2832

39.827

3879

24.330

3219

Schwarz Gruppe

150.000a

Lidl Kaufland Rewe Group

254.097

15.497

660

38.512

7532

Vollsortiment

27.630

4987

Davon: Selbstständige

13.570

2000a

Penny

8170

2160

Andere

2712

385

30.453

4140

16.952

1890

13.501

2250

Aldi

78.000

Aldi Süd Aldi Nord (Quelle: Lebensmittel Zeitung, 2017,

agrobe

14,5

14,0

11,1

Schätzung des Autors)

man heute wohl sagen – Aktivisten Hermann Schulze-Delitzsch unterstützt, der auch Abgeordneter im preußischen Parlament war. Dort initiierte er das erste Genossenschaftsgesetz (1867), das nach der Gründung des Kaiserreichs in deutsches Recht umgewandelt wurde (Schubert, 1989). Seit den späten 1880er Jahren begann der Staat mittelständische Genossenschaften aktiv zu unterstützen. Im Jahr 1889 wurde, wieder initiiert von Schultze-Delitzsch, ein neues Genossenschaftsgesetz verabschiedet, das die Gründung von Genossenschaften mit beschränkter Haftung (eGmbH) ohne ein festgelegtes Minimum an Eigenkapital erlaubte. Das neue Genossenschaftsgesetz erlaubte es den Genossenschaften auch, eigene Prüfverbände (Revisionsverbände) zu gründen (Guinnane, 2012). Zugleich wurden Konsumgenossenschaften, die meist der Arbeiterbewegung nahestanden, durch das Gesetz schlechter gestellt, da ihnen nun verboten wurde, an Nicht-Mitglieder zu verkaufen. Als Reaktion auf die Entstehung neuer großer Einzelhandelsunternehmen wie Konsumgenossenschaften und Warenhäuser begannen in den 1880er

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Jahren selbstständige Einzelhändler, die Strategien der mittelständischen Handwerker zu kopieren, indem sie die Beschaffung einzelner Waren bündelten und sich dafür auch in Vereinen organisierten (Wein, 1968). Die ersten Genossenschaften wurden dann 1888 gegründet. Das geänderte Genossenschaftsgesetz von 1889 unterstützte diese Entwicklung, da nun auch besser situierte Einzelhändler Genossenschaften beitreten konnten, ohne befürchten zu müssen, ihr gesamtes Eigentum zu verlieren, falls die neuartigen Organisationen versagen würden. Die ersten Einzelhändler, die sich in Vereinen und Genossenschaften zusammentaten, waren Kolonialwarenhändler, die Tee, Kaffee, Schokolade sowie neuartige, abgepackte Markenprodukte anboten. Insbesondere diese in großen Chargen gleichbleibender Qualität beziehbaren Waren eigneten sich für den überregionalen gemeinsamen Einkauf. Das Jahr 1907 war die Geburtsstunde der Edeka. Dreizehn lokale Einkaufsorganisationen schlossen sich in einem Verband zusammen, der bald das Prüfungsrecht verliehen bekam, und der auch andere Aktivitäten, etwa im Bereich des Informationsaustauschs und der Werbung, entfaltete. Am wichtigsten war jedoch die Gründung der Zentraleinkaufsgenossenschaft des Verbandes deutscher kaufmännischer Genossenschaften eGmbH, später Edeka-Zentrale eGmbH, durch acht Mitglieder des Verbands. Diese wurde nach heftigen Auseinandersetzungen 1911/1912 von vielen Markenherstellern als Großhändler anerkannt und konnte nun umfangreiche Lieferverträge abschließen. Schließlich wurde 1914 die Edeka Bank gegründet (Graff, 1994; Spiekermann, 2005). Die dreistufige Struktur der Edeka-Gruppe ist bis heute im Prinzip unverändert geblieben: Sie besteht aus unabhängigen Einzelhändlern, regionalen Genossenschaften und einer aus mehreren rechtlichen Einheiten zusammengesetzten zentralen Organisation auf nationaler Ebene. Edeka wuchs schnell. 1922/1923 zählte die Organisation etwa 30.000 Einzelhändler als Mitglieder, die in über 500 regionalen Genossenschaften organisiert waren (Graff, 1994). In der Folgezeit übernahm die Zentralorganisation von den Einzelgenossenschaften die Zentralregulierung, d. h. die Konsolidierung und Abwicklung der Zahlungen der Einzelhändler an die Lieferanten, und auch das Delkredere, d. h. eine Ausfallhaftung (Richter, 1962). Zugleich wurde die Unterstützung zunehmend auf die stärkeren Mitglieder konzentriert, und die Mitgliederzahl nahm wieder ab. Im Jahr 1927 wurde Rewe als konkurrierende nationale Einkaufsgenossenschaft gegründet. Beide Organisationen wurden ab 1933 ohne nennenswerte Gegenwehr gleichgeschaltet, waren aber in der Lage, ihre operativen Organisationsstrukturen aufrechtzuerhalten (Bredeck, 1957; Spiekermann, 2005; Grumbach, 2011). Auch die nationalsozialistische Politik der Rationalisierung des Distributionssektors durch die Schließung kleinerer Läden

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stand wohl kaum im Widerspruch zur mittelständischen Tradition vieler Einzelhändler und ihrer Genossenschaften. Nach dem Krieg wurden Edeka und Rewe von den britischen und amerikanischen Verwaltungen unterstützt (Kretschmer, 2006). Die Organisationen wuchsen schnell wieder. Die Zahl der Geschäfte der Edeka-Gruppe erreichte 1963 mit 43.400 einen neuen Höhepunkt; von da an nahm sie wieder kontinuierlich ab (Graff, 1994, S. 15). Auch bei Rewe erreichte die Zahl der Geschäfte Mitte der 1960er Jahre 13.300 ihren Höhepunkt (Graff, 2002, S. 38). Mit der Einzelhandelsrevolution begann sich das Wettbewerbsumfeld in den 1960er Jahren radikal zu verändern. Eine entscheidende neue Herausforderung für Edeka, ebenso wie für Rewe, bestand nun darin, nicht nur die bestehenden Geschäfte ihrer Mitglieder dabei zu unterstützen, wettbewerbsfähiger zu werden, sondern die Wettbewerbsfähigkeit der gesamten Gruppe zu stärken. Die Gruppe brauchte moderne Supermärkte oder auch Verbrauchermärkte, auch an neuen Standorten, z. B. in den vielen neuen Wohngebieten. Hier waren die Zusammenschlüsse selbstständiger Einzelhändler gegenüber den zentral gemanagten Filialisten und Konsumgenossenschaften zunächst im Nachteil. Um nachzuziehen, hatten einzelne regionale Genossenschaften begonnen, in strategisch wichtigen Lagen eigene Läden, sog. Regiebetriebe, zu errichten. Um die damit zusammenhängenden Verhandlungen und Entscheidungen effizient und zügig durchführen und umsetzen zu können, musste den Managern auf regionaler, wie auch auf nationaler Ebene mehr Ermessensspielraum eingeräumt werden. Der Umbau der Corporate-Governance-Struktur dauerte nur wenige Jahre. Die Edeka-Zentrale eGmbH wurde in die Edeka-Zentrale AG umgewandelt, deren Anteile von einer immer kleineren Zahl von (fusionierten) regionalen Genossenschaften gehalten wurden. Deren operatives Geschäft wurde auf neue Unternehmen (als GmbHs) übertragen, die nun zu jeweils 50 % im Besitz der jeweiligen Regionalgenossenschaft und der Zentrale waren (Kretschmer, 2006). All diese Veränderungen gaben den regionalen und zentralen Managern mehr Autonomie und Macht. Die Regionalgesellschaften errichteten moderne Supermärkte und Verbrauchermärkte, um das Ladennetzwerk strategisch zu erweitern. Zugleich koordinierte die Zentrale zunehmend Sortimentspolitik und Ladengestaltung (Graff, 1994, S. 28). Auch bei Rewe wurde 1972 eine Rewe-Zentral-Aktiengesellschaft gegründet, ergänzt um operative Regionalgesellschaften in Form einer GmbH, an denen die sowohl Zentrale als auch die regionalen Genossenschaften beteiligt waren. Auch hier war es eines der Ziele, das Ladennetzwerk um moderne Geschäfte zu erweitern (Graff, 2002). Bei beiden Organisationen wurden später viele der neuen und größeren Regiebetriebe ‚privatisiert‘, indem sie an ihre Filialleiter oder Selbstständige veräußert wurden,

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die dann zu Genossenschaftsmitgliedern wurden; anders als bei Edeka hält bei Rewe die Gruppe meist eine Beteiligung von 20 % an den verselbstständigten Unternehmen. Darüber hinaus wuchsen Edeka und insbesondere Rewe aber auch durch Zukäufe bestehender Supermarkt- und sogar Discounter-Ketten. Edeka und Rewe hatten sich damit in den frühen 1970er Jahren von genossenschaftlichen bottom-up-Systemen zu hochgradig integrierten und zentral koordinierte Organisationen gewandelt. Dabei trat neben das Ziel, die eigenen Mitglieder zu fördern, das Ziel, neue Geschäfte zu errichten oder zu übernehmen und durch deren ‚Privatisierung‘ auch neue Mitglieder zu kreieren. Dies geht eindeutig über eine klassische Definition der Aufgaben einer Genossenschaft hinaus (vgl. auch Kretschmer, 2006; Petersen, 1974). Edeka und Rewe kombinieren die Vorteile mittelständischer, familiengeführter Unternehmen – nämlich ein hohes Engagement der selbstständigen ‚Filial‘-Leitungen, eine schnelle Anpassung an lokale Marktbedingungen und kaum formalisierte industriellen Beziehungen (vgl. unten) – mit den Vorteilen einer zentralen Expansions-, Beschaffungs- und Sortimentspolitik. Einzelhändlergenossenschaften im Lebensmitteleinzelhandel, wie auch in anderen Einzelhandelssegmenten (Flögel, Gärtner, Kulke, & Warland, 2013) haben in Deutschland dazu beigetragen, den mittelständischen Einzelhandel einerseits gegenüber den großen ‚kapitalistischen‘ Filialunternehmen andererseits aber auch gegenüber den Konsumgenossenschaften der Arbeiterbewegung zu stärken. Ein internationaler Vergleich zeigt, dass Einzelhändlergenossenschaften auch eine ganz andere Rolle spielen können. In Großbritannien und Frankreich wurden die Zünfte bereits viel früher aufgelöst als in Deutschland, sodass die Einzelhändler kaum Anknüpfungspunkte hatten, um sich zu organisieren; Einkaufsgenossenschaften blieben selten. In Frankreich war dann aber seit den späten 1940er Jahren vor allem die Genossenschaft ‚Leclerc‘ ein bedeutender Modernisierer (Berger, 1965), der das Discountprinzip einführte und heute überwiegend aus Besitzern von SB-Warenhäuser besteht. Leclerc wurde zum Erzfeind („Totengräber“) der radikalen Bewegungen selbstständiger kleiner Einzelhändler (indépendants) unter der Führung von Poujade und, seit den späten 1960er Jahren, Nicoud (Jacques, 2017, 2018). Auch in Italien gab es bis etwa 1960 nur vereinzelte Zusammenschlüsse von Einzelhändlern. Die Einzelhändlergenossenschaft Conad, heute Italiens zweitgrößter Lebensmitteleinzelhändler, wurde 1962 mit Unterstützung der Konsumgenossenschaften und der (euro-) kommunistischen Bewegung gegründet, deren Ziel es war, im italienischen Mittelstand Wurzeln zu schlagen (Viviani & Dessì, 2005).

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4.2 Obskure Rechtsformen Im Jahr 2001 wandelte Edeka seine zentrale Aktiengesellschaft in die Edeka Zentrale AG & Co. KG um; wenig später wurde bei mehreren regionalen operativen Gesellschaften die Rechtsform von einer GmbH in die einer Stiftung & Co. KG geändert. Ziel war es, die internen Corporate-Governance-Strukturen flexibler ausgestalten zu können, Publikationspflichten zu umgehen und die Rechte der Arbeitnehmer zur Mitbestimmung auf Unternehmensebene (Unternehmensmitbestimmung) zu reduzieren (Ronke, 2009). Rewe ging hier einen anderen Weg und wandelte seine drei- in eine zweistufige Struktur um: Bereits 1990 wurden die operativen regionalen Gesellschaften – mit Ausnahme der Rewe Dortmund – in die Rewe-Zentral AG eingebracht, die zusammen mit der ReweZentralfinanz, einer eingetragenen Genossenschaft, eine Doppelspitze bildet. Verschiedene obskure Rechtsformen sind im Einzelhandel weit verbreitet. Auch sie sind häufig eine spezielle deutsche Entwicklung. Die gängigste unter ihnen ist die GmbH & Co. KG. Diese ist sehr beliebt bei deutschen Familienunternehmen (Binz & Sorg, 2011) und wird von knapp 150.000 umsatzsteuerpflichtigen Unternehmen genutzt, auf die etwa ein Fünftel aller Unternehmensumsätze in Deutschland entfällt. Im Lebensmitteleinzelhandel entfällt etwa die Hälfte der Umsätze auf GmbH & Co. KGs (Destatis, 2019). Es handelt sich dabei um eine Kommanditgesellschaft (KG) bei der als Komplementär nicht eine unbegrenzt haftende Privatperson fungiert, sondern eine haftungsbeschränkte GmbH, wodurch der ursprüngliche Charakter der KG untergraben wird. Dennoch behielt die GmbH & Co. KG viele Vorteile einer Personengesellschaft. Interessanterweise wurde dieses „Schmuddelkind des deutschen Gesellschaftsrechts“ (Teichmann, 2014, S. 221) nicht direkt durch staatliche Gesetzgebung geschaffen. Es entstand vielmehr seit 1912 in einem Prozess der Kautelar-Jurisprudenz (Fleischer & Wansleben, 2017), in dem durch eine Reihe von Gerichtsurteilen die zulässigen Ausgestaltungen der Corporate-GovernanceStrukturen definiert und legalisiert wurden. Auch der ‚Stiftung & Co. KG‘ liegt eine ähnliche Entwicklung zugrunde (Stengel, 1993). Dies sind für Deutschland, wo sonst vom Gesetzgeber erlassenes Recht (statute law) vorherrscht, eher ungewöhnliche Prozesse. Um mittelständische Familienunternehmen zu stärken, haben sich später auch die Bundesregierung und der Bundestag stets für den Erhalt der Vorteile, welche diese obskuren Rechtsformen diesen Unternehmen bietet, eingesetzt. Dies zeigt auch die Reaktion auf eine europäische Richtlinie über Publikationspflichten aus dem Jahr 1990; ihre Umsetzung wurde in Deutschland um zehn Jahre verzögert (Teichmann, 2014, S. 222); schließlich wurde das deutsche Gesetz mit der Bezeichnung Kapitalgesellschaften und Co.-Richt-

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linie-Gesetz (KapCoRiLiG) versehen, wodurch klar angezeigt ist, dass es dem deutschen Gesetzgeber durch eine Richtlinie aus Brüssel aufgenötigt wurde. In der europäischen Richtlinie über nichtfinanzielle Berichterstattung wurden nach massivem Druck der Bundesregierung nahezu alle Unternehmensformen außer Aktiengesellschaften ausgenommen (Kinderman, 2019). Ähnliches könnte sich nun beim Lieferkettengesetz wiederholen. Eine andere relevante obskure Rechtsform ist die der unternehmensverbundenen Stiftung, die z. B. von Aldi und der Schwarz Gruppe (Lidl, Kaufland) seit den 1970er Jahren genutzt wird. Die rechtliche Entwicklung der verschiedenen Arten unternehmensverbundener Stiftung ist äußerst kompliziert, auch weil ihre Regulierung in die Zuständigkeit der Länder fällt. Das führte zu einer erheblichen Vielfalt und weiter zu „Stiftungs-Shopping“ (Schwintek, 1999) in Bundesländern mit großzügigeren Regelungen. Aldi Nord hat beispielsweise seine wichtigste Stiftung, die Markus-Stiftung, in Nortorf im Kreis RendsburgEckernförde angesiedelt, da in Schleswig-Holstein die Registrierung und die Aufsicht nicht auf Landes- oder Regionalebene, sondern durch die Behörden auf Kreisebene erfolgen. Die Brüder Albrecht, die seit 1962 das Hard-DiscountFormat entwickelt hatten, schufen Anfang der 1970er Jahre nahezu identische Corporate-Governance-Strukturen für ihre wachsenden Unternehmen Aldi Nord und Aldi Süd (hierzu Fedtke, 2013). Es gibt jeweils eine Hauptstiftung sowie einige andere Stiftungen. Diese halten jeweils zusammen nahezu das gesamte Kapital einer zentralen ALDI Einkauf GmbH & Co. oHG, mit Sitz in Essen (Aldi Nord) bzw. Mülheim an der Ruhr (Aldi Süd), und von 33 bzw. 30 Regionalgesellschaften. Diese bestehen immer aus einem Distributionszentrum und etwa 60 bis 100 Filialen, die von diesem Zentrum beliefert werden und haben die Rechtsform einer GmbH & Co. KG. Diese Konstrukte haben Vorteile in den Bereichen Publizitätspflicht und Unternehmensmitbestimmung auf regionaler wie auch auf Konzernebene; es besteht auch keine Verpflichtung, einen Konzernbetriebsrat einzurichten (Molitor, 2016). Das zentrale Führungsgremium nennt sich bei Aldi Nord Verwaltungsrat bzw. bei Aldi Süd Koordinierungsrat und ist rechtlich keiner der operativen Gesellschaften zugeordnet. Bis heute befindet sich der deutsche Lebensmitteleinzelhandel zum allergrößten Teil in Familienbesitz. Stehen hinter Edeka und Rewe viele kleine, mittelständische Unternehmen, so sind die Eigentümer von Aldi und der Schwarz-Gruppe innerhalb weniger Jahrzehnte zu den reichsten Familien Deutschlands geworden. Im Gegensatz zu den Kernindustrien, wie Maschinen- und Automobilbau, wo reine Kapitalgesellschaften dominieren und die Führungsgesellschaften der Konzerne meist Aktiengesellschaften sind, sind im Einzelhandel neben genossenschaftlichen Strukturen verschiedene obskure Rechtsformen von größter Bedeutung.

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5 Stadt- und Raumplanung Eine zweite institutionelle Domäne, die die Struktur des deutschen Lebensmitteleinzelhandels entscheidend prägt, ist die Stadt- und Raumplanung. Das deutsche System der Stadt- und Raumplanung befand sich während der Einzelhandelsrevolution in den 1960er Jahren noch im Aufbau. Aufgrund langwieriger Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bund und Ländern war das Bundesbaugesetz, das zusammen mit der Baunutzungsverordnung den Rahmen für die Stadtplanung der Gemeinden vorgibt, erst 1960 verabschiedet worden. Das Raumordnungsgesetz, das den Rahmen für die Raumplanung der Länder vorgibt, folgte sogar erst 1965. Stadt- und Raumplanung bilden in Deutschland seitdem ein zunehmend verschränktes Planungssystem, das ein breites Spektrum von Planungsgegenständen integriert (Newman & Thornley, 1996). Sowohl die Stadtals auch die Raumplanung knüpfen dabei an Traditionen an, die auch für den Planungsgegenstand Einzelhandel in den 1960er Jahren bedeutsam wurden. Diese Traditionen werden im Folgenden zunächst kurz dargestellt, ehe dann ausführlicher auf die spezifische Regulierung des Einzelhandels, die sich seit den 1960er Jahren als Reaktion auf die Einzelhandelsrevolution entwickelte, eingegangen wird.

5.1 Zentrale-Orte-Konzept und Bauleitplanung Auf der Ebene der deutschen übergemeindlichen Raumplanung ist das ‚Zentrale-Orte-Konzept‘ ein wichtiges Planungsinstrument. Es geht auf die Theorie der zentralen Orte zurück, die Walter Christaller (1933) als idealisiertes Ergebnis empirischer Forschung und zugleich als normatives Konzept entwickelte. Gemäß diesem Konzept erfüllen zentrale Orte vielfältige Versorgungsfunktionen auch für ihr jeweiliges Umland. Dabei bilden zentrale Orte verschiedener Zentralitätsstufen eine Hierarchie. Orte mit höherer Zentralität übernehmen spezialisiertere Versorgungsfunktionen auch für ein größeres Umland, das auch Orte mit niedrigerer Zentralität einschließt. Dieses Konzept passte gut zum hierarchischen Denken des Nationalsozialismus. Nach 1945 war das Konzept unter deutschen Planern in Wissenschaft und Verwaltungen allgemein verbreitet (Blotevogel, 1996; Fürst & Ritter, 1993; Kegler, 2016). Das Raumordnungsgesetz von 1965 bezog sich auf das Konzept. Legitimiert wurde dies durch das im Grundgesetz verankerte Ziel, in ganz Deutschland gleichwertige Lebensbedingungen herzustellen, eine Vorstellung, die in Deutschland

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eine längere Tradition hat (Leendertz, 2009). Innerhalb weniger Jahre führten die Landesregierungen in ihren Landesentwicklungsplänen und -programmen Zentrale-Ort-Systeme ein. Diese bezogen sich nicht nur auf die Verfügbarkeit öffentlicher Infrastruktur, sondern auch auf die Versorgung der Bevölkerung durch private Unternehmen, unter anderem auch mit Einkaufsmöglichkeiten (vgl. auch Blotevogel, 1996). Im Jahr 1968 einigte sich die Ministerkonferenz für Raumordnung (MKRO) in einer Entschließung auf eine einheitliche Funktionsaufteilung in der Zentrenhierarchie – auch in Bezug auf Einzelhandelsfunktionen: Klein- und Unterzentren sollten über „Einzelhandelsbetriebe“ verfügen; Mittelzentren sollten „vielseitige Einkaufsmöglichkeiten“ bieten; Oberzentren sollten schließlich „Warenhäuser sowie spezialisierte Einkaufsmöglichkeiten“ bereithalten. Ein Kernelement der deutschen Stadtplanung ist die Bauleitplanung, mittels derer die Gemeinden für einzelne Baugebiete bestimmte Nutzungen erlauben oder verbieten. Diese Art der Planung, die sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts aus der Tradition des Polizeirechts entwickelte, war zunächst weniger darauf gerichtet, bestimmte Nutzungen vorzuschreiben, als vielmehr darauf, Gefährdungen durch unangemessene Nutzungen auszuschließen (Schöning & Wolff, 1970, S. 15 ff.). Die Errichtung von Einzelhandelsbetrieben war daher kaum von Verboten betroffen. Auch die erste Baunutzungsverordnung (BauNVO), die 1962 das Bundesbaugesetz ergänzte, erlaubte „Läden“ zur Versorgung des jeweiligen Gebiets in fast allen Baugebietstypen, sogar in reinen Wohngebieten. Einzelhandelsbetriebe waren in Kerngebieten, Mischgebieten, die üblicherweise auch dem Wohnen dienen, Dorfgebieten, Geschäfts- und Industriegebieten, sowie in dafür ausgewiesenen Sondergebieten zulässig. Diese Art der Stadtplanung hatte es insbesondere dem Lebensmitteleinzelhandel ermöglicht, überall in der Nähe der Verbraucher Geschäfte zu errichten. Kaufhäuser und größere Fachgeschäfte, die der Deckung des periodischen Bedarfs dienen, konzentrierten sich seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert in den Kerngebieten der Stadtzentren.

5.2 Einkaufszentren und Verbrauchermärkte in der Baunutzungsverordnung In den frühen 1960er Jahren gab es die ersten Ankündigungen nordamerikanischer Unternehmen, in Deutschland Dutzende Shopping-Center nach amerikanischem Muster zu errichten, d. h. außerhalb der Städte, auf der „grünen Wiese“ und mit guter Straßenanbindung. Im Jahr 1964 öffneten die ersten

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Einkaufszentren, Main-Taunus-Zentrum und Ruhr-Park (Oberhausen). Schnell begann eine breite Diskussion über deren mögliche Auswirkungen auf den Einzelhandel und insbesondere auf die Stadtzentren mit ihren Fachgeschäften und Warenhäusern. Die neue Situation führte auch dazu, dass die mittelständischen Einzelhändler, die seit Jahrzehnten Warenhäuser als ihre ärgsten Konkurrenten oder gar als Feinde betrachtet hatten, nun mit diesen ein gemeinsames Interesse hatten. Auch Kommunalpolitiker und Stadtplanungsämter waren daran interessiert, die innerstädtischen Handelsstrukturen mit ihren Fußgängerzonen zu bewahren, da man diese als Mittel sah, historische Stadtzentren zu erhalten und einer Verödung der Innenstädte wie in Nordamerika entgegenzuwirken (vgl. Logemann, 2012). Zu einer der wichtigsten Arenen für die Diskussion wurde das durch die Initiative der HDE gegründete Institut für Gewerbebetriebe im Städtebau (Ingesta), dem auch der Deutsche Städtetag, der Spitzenverband der deutschen Großstädte, als Mitglied beitrat. Hier wurden mit Vertretern des Bundeswirtschafts- und des Bundesbauministeriums (BMWi und BMBau3) erste konzeptionelle Vorschläge diskutiert. Vonseiten des Einzelhandels war hier insbesondere die Bundesarbeitsgemeinschaft der Mittel- und Großbetriebe des Einzelhandels (BAG) aktiv, in der die innerstädtischen Warenhäuser und größeren Fachgeschäfte organisiert waren. Unter den kleinen Ladenbesitzern, die häufig dem zunehmenden Wettbewerb nicht mehr gewachsen waren, breitete sich immer mehr Unzufriedenheit aus (Zaunitzer-Haase, 1967; Zerban, 1967). Mit der ersten Nachkriegsrezession 1966/1967 kam es hier teilweise zu einer immer stärkeren Radikalisierung, die dann auch zu den Wahlerfolgen der NPD in mehreren Bundesländern beitrug. Im BMWi hatte man schon früh eine Unruhe im mittelständischen Einzelhandel registriert, die man hier insbesondere auf die bundesweiten Aktivitäten des Deutschen Gewerbeverbandes zurückführte. Als einer der ersten machte 1965 der neue Wirtschaftsminister Schmücker, der auch zu den Mitbegründern der einflussreichen CDU/CSU-Mittelstandsorganisation MIT gehörte, den Vorschlag, die Errichtung von Einkaufszentren mit Mitteln der Raumordnung zu regulieren. Mitte 1966 empfahl auch das Ingesta eine Regulierung von Einkaufszentren durch die Baunutzungsverordnung und schlug vor, Einkaufszentren außerhalb von Siedlungen nur in Sondergebieten zuzulassen. Dieser Vorschlag wurde dann immer weiter präzisiert. Im Jahr 1967

3Beide

Ministerien haben im Lauf der Zeit ihre Nahmen mehrfach geändert. Zum Zweck der besseren Lesbarkeit werden im Folgenden durchgängig die Bezeichnungen BMWi und BMBau verwendet.

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schloss sich die für Baurecht zuständige Ministerkonferenz (ARGEBAU) dieser Forderung an. Erst später drängte die HDE erfolgreich auf die Einbeziehung von Verbrauchermärkten neben Einkaufszentren in die Verordnung, wodurch auch der Lebensmitteleinzelhandel stärker reguliert werden sollte. Das BMWi, das seit der Bildung der Großen Koalition von einem Sozialdemokraten geführt wurde, äußerte allerdings grundsätzliche Bedenken hinsichtlich marktwirtschaftlicher Prinzipien, gab aber, nachdem das BMBau versichert hatte, die neue Regelung sei kein Instrument zur Wirtschaftslenkung, sondern eine rein städtebauliche Vorschrift, nach. Im Laufe dieser Verhandlungen waren die unterschiedlichen Interessen der verschiedenen strategischen Gruppen im Einzelhandel zunehmend deutlich geworden; im Jahr 1968 wurde der Bundesverband der SB-Warenhäuser (BdSW) als Interessenvertreter der neuartigen großflächigen Einzelhandelsformate gegründet, während das mit dem Ziel interessenübergreifende, technokratische Lösungen zu finden gegründete Ingesta zerfiel. Ende 1968 verabschiedete der Bundesrat die novellierte Baunutzungsverordnung. Der geänderte § 11 Abs. 3 BauNVO sah nun vor, dass „Einkaufszentren und Verbrauchermärkte, die außerhalb von Kerngebieten errichtet werden sollen und die … vorwiegend der übergemeindlichen Versorgung dienen sollen“, nur in dafür ausgewiesenen Sondergebieten zulässig waren. Diese Entscheidung stellte die entscheidende Weiche für die weitere Entwicklung der planerischen Einzelhandelsregulierung in Deutschland.

5.3 Schwellenwerte und die Verbindung von Stadtund Raumplanung Als in den 1970er Jahren mit der Novellierung des Bundesbaugesetzes auch eine weitere Novellierung der BauNVO anstand, waren CDU und CSU nicht mehr an der Macht. Ihre Mittelstands-Politiker suchten nun offener den Kontakt auch mit Vertretern des Gewerbeverbands, der infolge der Wirtschaftskrise 1973/1974 wieder stärker wurde. Der Diskussionskreis Mittelstand der CDU/CSU-Bundestagsfraktion diskutierte 1974 zusammen mit Vertretern des Gewerbeverbands unter anderem auch intensiv über die französische Loi Royer. Dieses Gesetz wurde in Frankreich 1973 als Reaktion auf radikale populistische Bewegungen kleiner Ladenbesitzer (vgl. oben) verabschiedet. Neben umfangreichen anderen Regulierungen zugunsten kleiner Selbstständiger unterwarf es die Eröffnung von großflächigen Einzelhandelsgeschäften der Zustimmung von Kommissionen in den einzelnen Departements, in denen auch lokale Einzelhändler vertreten waren. Das Gesetz war ein spezifisches Einzelhandelsgesetz und nicht (wie die deutsche

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Regulierung) in die Stadt- und Raumplanung integriert (vgl. Guy, 1998) und konnte bald von den großen französischen Einzelhandelsunternehmen umgangen werden (Cliquet, 2000). Jacques (2017) argumentiert, dass Regierungsbeamte die Unwirksamkeit des Gesetzes vorausgesehen hatten und es lediglich dem Zweck diente, die kleinen Ladenbesitzer zu pazifieren. In Deutschland brachte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion einen Entwurf für ein umfassendes deutsches Mittelstandsgesetz in den Bundestag ein, der allerdings keine Chance hatte, verabschiedet zu werden. In dieser Zeit ergriffen verschiedene Landesregierungen die Initiative und versuchten, mit landesplanerischen Mitteln die Expansion großflächiger Einzelhandelsbetriebe zu begrenzen. So bestimmte ein hessischer Erlass kurz vor der Landtagswahl 1974, dass bei SB-Warenhäusern und Verbrauchermärkten ab einer Verkaufsfläche von 1000 m2 in der Regel eine überörtliche Bedarfsdeckung anzunehmen und ein Raumordnungsverfahren durchzuführen war. Das nordrhein-westfälische Landesentwicklungsprogramm von 1974 bestimmte, dass Sondergebiete für Einkaufszentren und Verbrauchermärkte nur dort ausgewiesen werden sollten, wo sie „der angestrebten zentralörtlichen Gliederung und der in diesem Rahmen zu sichernden Versorgung der Bevölkerung entsprechen und wenn sie an städtebaulich integrierten Standorten vorgesehen sind.“ Damit wurden den Entscheidungsträgern auf Gemeindeebene sowohl raumplanerische (zentralörtliche Gliederung) als auch städtebauliche (integrierte Standorte) Kriterien für die Zulassung großflächiger Einzelhandelsbetriebe vorgegeben. Die Landesregierung von Schleswig-Holstein wurde kurz vor der Landtagswahl 1975 konkreter und bestimmte, dass Geschäfte mit einer Verkaufsfläche von über 1000 m2 nur in zentralen Orten zugelassen werden sollten, und solche über 3000 m2 nur in Mittel- oder Oberzentren. Andere Bundesländer folgten mit ähnlichen Regulierungen. Die HDE veröffentlichte 1974 ein Sofortprogramm, in dem sie unter anderem forderte, eine ähnliche Formulierung wie die des nordrhein-westfälischen Landesentwicklungsprogramms in die BauNVO aufzunehmen, allerdings nicht als Soll- sondern als Mussbestimmung. Der Deutsche Städtetag (DST) brachte ein entscheidendes Argument in die Auseinandersetzung ein: Er verlangte in der BauNVO eine Regelung, die einfacher zu handhaben sein sollte, indem sie die Planungsämter der Städte und Gemeinden nicht mehr verpflichtete, bei jeder möglicherweise problematischen Neuansiedelung eines Einzelhandelsbetriebs den Nachweis erbringen zu müssen, dass dieser überwiegend auf eine übergemeindliche Versorgung abzielt. Als eine einfach zu handhabende Lösung erschien ein Schwellenwert für die Größe des Geschäfts. Die HDE, der Deutscher Städtetag und die Mehrheit der in der ARGEBAU kooperierenden Länder

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einigten darauf, einen Grenzwert von 1500 m2 Geschossfläche in die BauNVO einzuführen. Dabei ging man davon aus, dass dies etwa 1000 m2 Verkaufsfläche entsprach. Gegen das Votum von Edeka und Rewe, die die gerade ihre Corporate Governance und Managementstrukturen modernisiert hatten (vgl. oben) und die nun für einen höheren Schwellenwert von 2500 m2 plädierten, schälte sich in der weiteren Diskussion ein gemeinsamer Vorschlag von HDE, Deutschem Städtetag und ARGEBAU heraus, in dem ein Schwellenwert von 1500 m2 über eine ‚Regelvermutung‘ mit raum- und landesplanerischen sowie städtebaulichen Kriterien verknüpft wurde, und der schließlich auch in dieser Form vom Bundesrat verabschiedet wurde. Während die Spitze des von einem Liberalen geführten BMWi erneut grundsätzliche Bedenken hinsichtlich marktwirtschaftlicher Ordnungsprinzipien äußerte, agierte das BMBau, angeführt von einem Sozialdemokraten, nur zögerlich, und legte schließlich einen stark verwässerten Vorschlag im Bundesrat vor. Dieser beschloss den Paragraphen jedoch in seiner ursprünglichen Formulierung. Die BauNVO bestimmte nun, dass „großflächige Einzelhandelsbetriebe, die sich … auf die Verwirklichung der Ziele der Raumordnung und Landesplanung oder die städtebauliche Entwicklung und Ordnung nicht nur unwesentlich auswirken können, … außer in Kerngebieten nur in für sie ausgewiesenen Sondergebieten zulässig“ sind, und dass solche Auswirkungen „in der Regel anzunehmen [sind], wenn die Geschossfläche 1500 m2 überschreitet“. In den 1980er Jahren stand die Diskussion über die Regulierung des Einzelhandels durch die BauNVO in engem Zusammenhang mit Forderungen nach der Einfügung einer ‚Mittelstandsklausel‘ in das Baugesetzbuch, welches das Bundesbaugesetz ablösen sollte. Die Initiative ging vom Bayerischen Landtag aus, wo in der CSU-Fraktion durch die Abspaltung einer rechts-populistischen Organisation (‚Die Republikaner‘) von der CSU große Unruhe entstanden war. Diese übten nun massiven Druck auf das von einem CSU-Politiker geführte BMBau aus, die damit u. a. auf die Entstehung in Bayern reagierte. Schließlich wurden im Baugesetzbuch § 1 (6) 8a unter den bei der Aufstellung der Bauleitpläne durch die Gemeinden zu berücksichtigenden Belange auch die „der Wirtschaft, auch ihrer mittelständischen Struktur im Interesse einer verbrauchernahen Versorgung der Bevölkerung“ aufgeführt. Parallel zu diesen Entwicklungen forderten andere Bundesländer eine deutliche Senkung des Schwellenwerts in der BauNVO. Das BMBau schlug eine Absenkung auf 1200 m2 Geschossfläche vor. Die HDE stimmte diesem Vorschlag zu. Proteste kamen vom BMWi, vom BdSW, sowie von Edeka, Rewe, den Konsumgenossenschaften und der Arbeitsgemeinschaft der Lebensmittel-Filialbetriebe (ALF). Der Bundesrat stimmte jedoch dem Regierungsentwurf zu. In seiner Presseerklärung wurde die vorgezogene Novelle der BauNVO als „stärkerer Schutz für kleine Einzelhandelsunternehmen“

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gefeiert. Die Regelung des großflächigen Einzelhandels in der BauNVO wurde seit 1986 nicht mehr geändert. Hinzu kamen jedoch weitere Veränderungen in den Landesentwicklungsprogrammen und -plänen (vgl. Brückner, 1998; Greipl, 1975; Hatzfeld, 1997; Jährling, 2012), sowie städtebauliche Instrumente wie etwa Einzelhandelskonzepte (Kruse & Schneider, 1998). So wurde der Einzelhandel immer stärker auf den verschiedenen Ebenen in die umfassende (comprehensive; Newman & Thornley, 1996) deutsche Stadt- und Raumplanung integriert.

5.4 Weitere Entwicklung und unbeabsichtigte Auswirkungen Indem die deutsche Stadt- und Raumplanung vorwiegend auf die Geschoss- bzw. Verkaufsfläche der Geschäfte abstellt und damit die Expansion großflächiger Einzelhandelsbetriebe begrenzt, sind kleinere Einzelhandelsbetriebe kaum reglementiert und können sich in den meisten Gebietstypen der deutschen Städte ansiedeln. Dies erlaubte aber auch das Wachstum neuartiger kleinerer Geschäftsformate, wie insbesondere das der Lebensmitteldiscounter. Dieses heute für Deutschland so typische Format war insbesondere von Aldi seit 1962 entwickelt worden (Kuhna, 2015). Es ist durch eine geringe Ladengröße und eine einfache Ladenausstattung gekennzeichnet. Ein flaches Sortiment mit einer geringen Anzahl schnell drehender Produkte wird in der Umverpackung oder auf Paletten präsentiert. Dies führt zu einer erheblichen Reduktion des Arbeitsaufwands und der Arbeitskosten. Große Einkaufsvolumina senken zudem die Beschaffungskosten (Brandes, 1998; Wortmann, 2004). In den späten 1960er Jahren lag der Marktanteil von Aldi noch unter 1 %. Auch als nach dem Verbot der Preisbindung 1973 weitere Discount-Ketten wie Plus, Penny und Lidl ihren Betrieb aufgenommen hatten, wurden Discounter zunächst weder von Stadtplanern noch von anderen Einzelhändlern als relevante Akteure wahrgenommen. Dies änderte sich erst mit der weiteren Expansion der Discounter in den 1980er Jahren. Im Jahr 1990 hatten sie bereits einen Marktanteil von 24 %; im Jahr 2000 waren es bereits 34 %, und heute sind es 46 % (Angaben des EHI). In den späten 1990er Jahren starteten Edeka und Rewe eine Initiative zur Änderung der BauNVO. Sie argumentierten, dass eine Geschossfläche von bis zu 1200 m2 ideal für die Discounter mit ihrem begrenzten Warenangebot sei, während moderne Supermärkte deutlich mehr Platz benötigen würden, um ihr vielfältigeres Sortiment angemessen präsentieren zu können. In einer vom BMBau eingesetzten Arbeitsgruppe plädierten sie für die Einführung eines höheren Schwellenwerts von 2000 m2 nur für Lebensmittel-Vollsortimenter.

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SB-Warenhäuser ≥ 2.500 m²

DE

IT

Verbrauchermärkte 1.000 - 2.499 m²

FR

Supermärkte 400 - 999 m²

GB

Sonsge 0%

10%

20%

30%

40%

50%

60%

70%

80%

90%

100%

Abb. 1   Marktanteile im Lebensmitteleinzelhandel in Deutschland, Italien, Frankreich und Großbritannien nach Verkaufsfläche der Geschäfte (2015). (Quelle: ACNielsen, 2017)

Hierbei wurden sie vom HDE unterstützt, während die BAG, der Deutsche Städtetag sowie der DIHT diesen Vorschlag ablehnten. In ihrem Abschlussbericht forderte die Arbeitsgruppe eine flexiblere Handhabung der Schwellenwertes durch die Planungsbehörden, die die Auswirkungen geplanter großflächiger Geschäfte von Fall zu Fall berücksichtigen sollten. Mehrere Gerichtsurteile, auch des Bundesverwaltungsgerichts, argumentierten in dieselbe Richtung. Als etwa zehn Jahre später wieder eine Novelle der BauNVO anstand, unternahmen Edeka und Rewe mit Unterstützung des HDE erneut einen Vorstoß, der jedoch ebenfalls nicht zu einer Veränderung der BauNVO führte. Die Wirksamkeit der Regulierung des großflächigen Einzelhandels durch die Stadt- und Raumplanung zeigt sich darin, dass heute der Anteil größerer Geschäfte, insbesondere der SB-Warenhäuser mit über 2500 m2 Verkaufsfläche, am Lebensmittelmarkt in Deutschland relativ gering ist, besonders im Vergleich zu Frankreich oder Großbritannien. Sogar in Italien hat der Marktanteil der SB-Warenhäuser kürzlich den in Deutschland übertroffen (Abb. 1). In Italien bestand seit den Anfängen des Faschismus eine sehr restriktive Regulierung des Einzelhandels (Morris, 1996), die erst nach dem Zusammenbruch der ‚Ersten Republik‘ mit der Legge Bersani (1998) abgeschafft wurde. In Frankreich waren die Planungsvorschriften der Loi Royer eher eine symbolische Maßnahme und konnten kaum Wirkung entfalten (vgl. oben). In Großbritannien schließlich gab es nie eine starke Mittelstandsbewegung (Crossick, 2004) und daher wurden auch keine vergleichbaren Versuche zur Regulierung unternommen. Für die mittelständischen Einzelhändler in Deutschland brachte die Regulierung durch die Stadt- und Raumplanung letztlich jedoch auch ein völlig

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unbeabsichtigtes Ergebnis: Es war ihnen zwar gelungen, einen gewissen Schutz vor der Konkurrenz durch großflächigen Einzelhandelsbetriebe zu erhalten, doch die Form dieses Schutzes erwies sich auch als äußerst nützlich für die ebenfalls kleinflächigen Discounter (Wortmann, 2004). Discounter sind hier zu den härtesten Konkurrenten für die selbstständigen, mittelständischen Lebensmitteleinzelhändler geworden. Sie dominieren heute den deutschen Lebensmittelmarkt.

6 Berufsausbildung Arbeit im Einzelhandel wird häufig als überwiegend ‚einfache Arbeit‘ charakterisiert. Dennoch spielt berufliche Ausbildung in diesem Sektor eine große Rolle. Allgemein verlief die Entwicklung der beruflichen Ausbildung in Deutschland für drei große Gruppen sehr unterschiedlich. Seinen Ursprung hat das deutsche Berufsbildungssystem im Handwerk, wo die Ausbildung zum Gesellen auf eine lange Tradition der Regulierung durch die Zünfte zurückblicken kann. Die kaufmännische Ausbildung der sogenannten Handlungsgehilfen war dagegen lange Zeit kaum reglementiert, bildete aber den Kern für die heutigen verschiedenen beruflichen Ausbildungen für Angestellte. Die dritte Gruppe bilden die Facharbeiter, die – so auch die vergleichende Kapitalismusforschung – einen wichtigen Beitrag zur Qualitätsproduktion der deutschen Kernsektoren leisten.

6.1 Die Regulierung der Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann Das Handelsgesetzbuch – zunächst des Norddeutschen Bundes dann des Deutschen Kaiserreichs – gab für die Ausbildung von Handlungsgehilfen nur einen sehr allgemeinen Rahmen vor. Das preußische Kammer- und Handwerksreglement (1897) erlaubte es den Handelskammern, verpflichtete sie aber nicht, eigene kaufmännische Ausbildungseinrichtungen aufzubauen (Zabeck, 2013, S. 345 f.). Die kaufmännische Berufsausbildung war sehr heterogen und reichte von elitären Schulen für die Auszubildenden reicher Kaufleute bis hin zu einer sehr mangelhaften Ausbildung etwa durch kleine Ladenbesitzer, die häufig selbst keine Ausbildung durchlaufen hatten. Hier war der Missbrauch von Lehrlingen als billige Arbeitskräfte, die sogenannte Lehrlingszüchterei, besonders verbreitet (Horlebein, 1989). Gleichzeitig gab es vonseiten der weltanschaulich ausgerichteten Berufsverbände der Handlungsgehilfen, insbesondere aus dem Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband (DHV), immer wieder

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Beschwerden über den Zustrom von ungelernten Kräften, aber auch von Frauen in den Handel. Erst 1940 wurde von der nationalsozialistischen Regierung eine standardisierte dreijährige Lehre für den Beruf des Einzelhandelskaufmanns. Ein Jahr später folgte der zweijährige Anlernberuf Verkaufsgehilfin (in weiblicher Form!). Allgemein ging man bis weit in die 1950er Jahre hinein davon aus, dass ein großer Teil der weiblichen Lehrlinge in der Ausbildung lediglich eine Überbrückung der Zeit zwischen Schulentlassung und Heirat sah. Die Ausbildung zur Verkäuferin erlangte jedoch nie Bedeutung und wurde 1950 von der Bundesregierung wieder abgeschafft (Lehr, 1965). Die dreijährige Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann wurde beibehalten, erhielt nun jedoch eine Besonderheit, denn sie wurde zweigleisig ausgestaltet: Neben einer allgemeinen, kaufmännisch orientierten Ausbildung gab es nun eine verkaufsorientierte Ausbildung mit erheblich reduzierten Lerninhalten. Letztere war erneut insbesondere für die wachsende Zahl der weiblichen Auszubildenden gedacht (Ehrke, 1981). Dies führte auch dazu, dass viele Ausbildungsverträge im Einzelhandel weiterhin „verschleierte Arbeitsverträge“ waren (Kultusministerkonferenz [KMK], 1952). Problematisch war auch, dass beide Ausrichtungen mit (fast) der gleichen Prüfung abgeschlossen werden mussten, bei der die verkaufsorientiert Ausgebildeten dann häufig versagten. Die Probleme verschärften sich, als sich viele Industrie- und Handelskammern weigerten, Lehrlinge aus den neuen Selbstbedienungsgeschäften zur Prüfung zuzulassen, da hier das Verkaufen nicht wirklich gelernt werden könne. Zugleich ließ in den Filialgeschäften der Bedarf an umfassend kaufmännisch ausgebildeten Arbeitskräften nach, da viele kaufmännische Funktionen nicht mehr in den einzelnen Läden, sondern in den Konzernzentralen angesiedelt wurden.

6.2 Die Wiedereinführung einer zweijährigen Ausbildung All diese Probleme hatten bereits seit den 1950er Jahren zu einer intensiven Diskussion über die Struktur der Berufsausbildung im Einzelhandel geführt. Für alle Akteure, insbesondere für die Arbeitsstelle für Betriebliche Berufsausbildung (ABB), war klar, dass Reformen notwendig waren. Einzelne Handelskammern und die ABB forderten, wieder eine zweijährige Ausbildung zur Verkäufer(in) einzuführen. Die Gewerkschaften, insbesondere die HBV, votierten gegen eine sog. ‚Schmalspurausbildung‘. Sie setzten sich für die vollständige Abschaffung

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der verkaufsorientierten Ausbildung und für eine einheitliche Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann mit leicht abgesenkten Anforderungen ein. Die HDE versuchte immer wieder, den Reformprozess zu verzögern, da es ihr unmöglich war, die sich widersprechenden Interessen ihrer Mitglieder in einem Gesamtkonzept zusammenzuführen. Während insbesondere die Lebensmittelfilialisten eine zweijährige Ausbildung forderten, musste die HDE auch auf die vielen kleineren mittelständischen Mitglieder Rücksicht nehmen, die befürchteten, Lehrlinge als billige Arbeitskräfte zu verlieren. Zugleich musste sie den Zusammenhang der Ausbildungsordnung mit der Berufsordnung für den Einzelhandel (vgl. oben) berücksichtigen, nach der eine erfolgreiche Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann eine Voraussetzung für die Führung eines Einzelhandelsgeschäfts sein sollte und von 1957 bis 1965/1972 auch war. Zu hohe Anforderungen an die kaufmännischen Inhalte der Ausbildung hätten es vielen mittelständischen Einzelhändlern, die häufig selbst keine kaufmännische Ausbildung besaßen, nicht mehr erlaubt, ihren eigenen Nachwuchs auszubilden. Als die Verhandlungen sich immer weiter hinzogen, begann die IHK Essen Mitte der 1960er Jahre mit Zustimmung des DIHT, der ABB und des BMWi probeweise Zwischenprüfungen mit überwiegend verkaufsbetonten Inhalten abzunehmen, die Lehrlinge nach dem Abschluss des zweiten Lehrjahres ablegen konnten, um dann auf eigenen Wunsch in ein Angestelltenverhältnis als Verkäufer(in) einzutreten. Andere Kammern folgten diesem Beispiel. Wenig später schaltete das Unternehmen Kaiser’s Anzeigen, die Bewerberinnen nach zwei Ausbildungsjahren und einer ‚Zwischenprüfung‘ das volle Gehalt einer Verkäuferin versprachen. Als der Druck zur Einführung einer zweijährigen Ausbildung zur Verkäufer(in) immer größer wurde, schlug die HDE die Einführung von drei verschiedenen Ausbildungsgängen vor: Neben der dreijährigen Lehre zum Einzelhandelskaufmann und einer zweijährigen Lehre für Verkäufer(innen) sollte es auch eine dreijähriger Lehre zu einem Fachverkäufer/Kundenberater geben. Um die vielen kleineren, traditionell orientierten mittelständischen Mitglieder zu besänftigen, machte die HDE geltend, dass das Verkaufen, und nicht Wirtschaften, die entscheidende Fähigkeit eines guten Einzelhändlers sei. Dieser Vorschlag fand zwar keine Unterstützung bei den anderen Akteuren, führte aber zu einer weiteren Verzögerung der Reform. Erst nachdem man sich darauf geeinigt hatte, dass Verkäufer(innen) nach ihrer zweijährigen Ausbildung die Möglichkeit erhalten würden, in einem weiteren Ausbildungsjahr Einzelhandelskaufmann zu werden, wurde eine Einigung erzielt. Dieses Stufenausbildungskonzept wurde im Jahr 1968, kurz vor Inkrafttreten des Berufsbildungsgesetzes, eingeführt und hat bis heute Bestand.

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Bereits wenige Jahre nach Einführung wurde die Mehrheit der Auszubildenden im Einzelhandel als Verkäufer(in) ausgebildet (Kutscha, 1988). Trotz der formalen Stufung der Ausbildung bekamen besonders junge Frauen selten die Chance, sich zum Einzelhandelskaufmann weiterzuqualifizieren. Heute haben etwa 80 % der Beschäftigten im Einzelhandel eine Berufsausbildung, darunter auch die überwiegende Mehrheit der Teilzeitbeschäftigten und sogar der Minijobber (Voss-Dahm, 2008). Aber viele von ihnen haben nur eine zweijährige Ausbildung. Der Einzelhandel stellt damit die mit Abstand größte Gruppe (80 %) aller zweijährig Ausgebildeten in Deutschland. Die dreijährige Lehre zum Einzelhandelskaufmann ist heute meist die Voraussetzung für einen Aufstieg etwa zum Abteilungs- oder Filialleiter. Die Funktion der zweijährigen Ausbildung zur Verkäufer(in) ist dagegen nicht so klar. Vermutlich handelt es sich um eine Kombination mehrerer Funktionen: Schlecht bezahlte Auszubildende dienen nach wie vor als billige Arbeitskräfte, insbesondere für kleine Einzelhändler. In der zweijährigen Ausbildung werden aber auch grundlegende Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt, die es erlauben, den Verkäuferinnen mehr Verantwortung bei eigenständigem Arbeiten zu geben (Voss-Dahm, 2008). Schließlich wird, trotz des schlechten Ansehens (Glöß, Goldmann, & Müller, 1988), auch durch die zweijährige Ausbildung ein Gefühl der beruflichen Loyalität gegenüber der Einzelhandelsbranche vermittelt (Brockmann, 2013; Voss-Dahm, 2008).

7 Wohlfahrtsstaat Die Institutionen des deutschen Wohlfahrtsstaats sind, abgesehen von der hier nicht zu behandelnden Sozialversicherung der Selbstständigen, nicht in einer mittelstands- oder gar einzelhandelsspezifischen Tradition verwurzelt. Esping-Andersen (1990) hat diesen Wohlfahrtsstaat als „konservativ“ charakterisiert. Mit seinen abgeleiteten Sozialversicherungsansprüchen für verheiratete Frauen und der gemeinsamen Besteuerung von Ehepartnern (Ehegattensplitting; 1958) unterstützt er das Modell des männlichen Familienernährers, während er für Ehefrauen die Rolle der Hausfrau oder einer Zuverdienerin mit eher geringem Einkommen aus einer Teilzeit- oder geringfügigen Beschäftigung, bzw. einem Mini-Job vorsieht (vgl. Dingeldey, 2016). Damit hat der konservative deutsche Wohlfahrtsstaat – und dies ist eine Besonderheit dieser institutionellen Domäne – sehr unterschiedliche Implikationen für die verschiedenen Wirtschaftsbranchen: In den exportorientierten Kernsektoren der deutschen Industrie unterstützt er die Beschäftigung mit Standardarbeitsverträgen von überwiegend

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männlichen, besser verdienenden Familienernährern. Im Einzelhandel als einem Nicht-Kernsektor, unterstützt er die Beschäftigung von überwiegend weiblichen, relativ schlecht entlohnten Teilzeitkräften als Zuverdienerinnen. In diesem Sektor passt die institutionell geschaffene Präferenz vieler Frauen für Teilzeitarbeit sehr gut zur Präferenz vieler Arbeitgeber für solche Arbeitskräfte. Insbesondere in den seit der Einzelhandelsrevolution vordringenden größeren Betrieben mit ihrer internen Arbeitsteilung haben die Arbeitgeber ein großes Interesse, den im Jahres-, Wochen- und Tagesverlauf schwankenden Arbeitsanfall durch den flexiblen Einsatz von Teilzeitkräften abzudecken (Voss-Dahm, 2009). Hinzu kommt, dass z. B. bei Kassiererinnen die Produktivität nach vier bis sechs Arbeitsstunden deutlich nachlässt. Angemerkt werden soll hier auch, dass bei den Discountern wie Aldi und Lidl die Spezialisierung, insbesondere zwischen den Funktionen Kassieren und Ware-Verräumen, weniger ausgeprägt ist. Aber auch hier werden überwiegend Teilzeitkräfte beschäftigt; der Einsatz von Minijobbern ist dagegen gering.

8 Industrielle Beziehungen Die industriellen Beziehungen sind im Einzelhandel deutlich schwächer ausgeprägt als in den industriellen Kernsektoren. Die industriellen Beziehungen in Deutschland bestehen heute aus drei Säulen: den Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, der betrieblichen Mitbestimmung durch Betriebsräte und der Unternehmensmitbestimmung. Die Unternehmensmitbestimmung, d. h. die Vertretung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsgremien von großen Kapitalgesellschaften und Genossenschaften, liegt an der Schnittstelle von Corporate Governance und industriellen Beziehungen. Bei vielen großen Unternehmen des deutschen Einzelhandels ist die Unternehmensmitbestimmung nicht oder nur sehr schwach ausgeprägt (vgl. auch Höppner & Müllenborn, 2010). Dies gilt insbesondere auch für Edeka, die Schwarz-Gruppe und Aldi, die (wie oben dargestellt) zur Vermeidung gesetzlicher Verpflichtungen für ihre Unternehmen besondere Rechtsformen verwenden.

8.1 Gewerkschaften Die Angestellten im Einzelhandel entwickelten lange Zeit keine Klassenidentität. Bis weit in die 1950er Jahre sahen sich die ausgebildeten männlichen Handlungsgehilfen – durchaus realistisch – als zukünftige Ladenbesitzer und entwickelten

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daher eine eher berufs- und mittelständische Identität. Handlungsgehilfen, nicht nur im Einzelhandel, sondern auch in anderen Branchen, waren früher in weltanschaulich ausgerichteten Berufsverbänden organisiert, deren Mitgliedschaft häufig auch den Ladenbesitzern, nicht jedoch den weiblichen Beschäftigten offenstand (Bayer, 1980; Kocka, 1981). Nach 1945 setzte die Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG) die berufsständische Tradition fort, branchenübergreifend ausschließlich Angestellte zu organisieren. Dies widersprach der Strategie der meisten anderen Gewerkschaften und ihres Spitzenverbands, dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), die Einheitsgewerkschaften favorisierten. Die neue DGB-Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) hatte zunächst nur sehr wenige Mitglieder (Wölk, 1988). Die Struktur des Einzelhandels mit seinen vielen kleinen und kleinsten Läden, die Rivalität zwischen HBV und DAG (Bayer, 1980), sowie die berufsständische Mentalität der Beschäftigten ließen außerhalb von Warenhäusern und wenigen andere großen Geschäften kaum organisatorischen Erfolg zu. Dies begann sich im Lebensmittelhandel in den 1960er Jahren zu ändern, als größere Geschäfte entstanden. Insbesondere die neuen, in Deutschland allerdings nie dominanten SB-Warenhäuser (von denen viele heute unter dem Namen ‚Real‘ zur Metro-Gruppe gehören) wurden zu neuen Schwerpunkten gewerkschaftlicher Organisation. Im Laufe der 1970er Jahre hat sich die Mitgliederzahl der Gewerkschaften im Handel, insbesondere die der HBV, deutlich erhöht: Im Handel insgesamt war sie von 103.866 (1970) auf 235.778 (1980) gestiegen (Dribbusch, 2003, S. 339). Gesonderte Zahlen für den Einzelhandel liegen nicht vor. In den 1980er Jahren verlangsamte sich der Mitgliederzuwachs, und seit 1989 ist (nicht nur in den neuen Bundesländern) ein kontinuierlicher Rückgang zu verzeichnen. Eine wichtige Rolle spielten im Einzelhandel für zwei bis drei Jahrzehnte sogenannte ‚Allgemeinverbindlicherklärungen‘. Bei Vorliegen eines „gesellschaftlichen Interesses“ können Tarifverträge auf Antrag der Tarifparteien von den Arbeitsministern des Bundes oder, wie im Fall des Einzelhandels, wo Tarifverträge auf Länderebene abgeschlossen werden, der Länder, für allgemeinverbindlich erklärt werden. Hierdurch erlangen sie für alle Unternehmen und Beschäftigten einer Branche Gültigkeit, d. h. auch für Beschäftigte von Unternehmen, die nicht Mitglied des jeweiligen Arbeitgeberverbands sind. In den späten 1960er Jahren waren vereinzelt auch Tarifverträge, in denen Löhne und/ oder Gehälter geregelt wurden, für allgemeinverbindlich erklärt worden (Reichel, 1969). Ende der 1970er Jahre war dies in den meisten Bundesländern der Fall – vermutlich eine Folge des gestiegenen gewerkschaftlichen Organisationsgrads und einer Machtverschiebung innerhalb der HDE zulasten der Kleinbetriebe.

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Zu Beginn der 2000er Jahre wurden die Allgemeinverbindlicherklärungen für die Lohn- und Gehaltstarifverträge im Einzelhandel jedoch nicht mehr verlängert. Die Hintergründe hierfür sind vielfältig und komplex: Neuartige Rentenprüfungen in den Unternehmen hatten 1996 festgestellt, dass insbesondere im Lebensmitteleinzelhandel in beträchtlichem Maße Löhne unterhalb des allgemeinverbindlichen Tarifniveaus gezahlt worden waren. Damit wurden insbesondere für viele ursprünglich als geringfügig eingestufte Beschäftigte hohen Nachzahlung von Sozialabgaben fällig. Hierauf verschärften sich die Forderungen nach Beendigung der Allgemeinverbindlicherklärungen, sowie nach der Einführung einer Mitgliedschaft ohne Tarifbindung (OT) im HDE (Behrens, 2011). Gleichzeitig kam es zu vermehrten Konflikten zwischen dem HDE und der BAG. Im Jahr 1997 kündigte Metro, die seit der Übernahme von Real (1993) auch SB-Warenhäuser besaß, die Mitgliedschaft für Kaufhof und Horten in der BAG. Im Gegenzug trat Karstadt aus dem HDE aus (ebd.). Die Streitpunkte zwischen den beiden Verbänden umfassten aber nicht nur tarifpolitische, sondern zugleich viele andere Fragen, wie die Novellierung der BauNVO (vgl. oben), sowie die Regelung der Ladenöffnungszeiten. Hier hatte die BAG eine Regelung gefordert, die ausschließlich Einzelhändlern in der Innenstadt längere Ladenöffnungszeiten erlauben sollte, was auch vom Deutschen Städtetag unterstützt wurde. Der HDE, der sich mit dem Bundesverband der Filialbetriebe und SB-Warenhäuser (BFS), ein Zusammenschluss von ALF und BdSW, in dem u. a. Metro (Real), Tengelmann, Aldi, Lidl und Rewe Mitglied waren, zusammengetan hatte, lehnte dies jedoch vehement ab (Vogel, 1999, 2000). Im Laufe der Auseinandersetzungen waren einige Landesverbände der BAG auch als Arbeitgeberverbände aufgetreten und hatten sich so in Konkurrenz zum HDE begeben, der bis dahin die Tarifverhandlungen alleine geführt hatte. Hierdurch erhöhte sich der Druck auf den HDE weiter, den Forderungen einzelner Mitglieder nach einer Beendigung der Allgemeinverbindlichkeit und der Einführung einer OT-Mitgliedschaft nachzugeben. Nach dem Ende der Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge ist die Tarifbindung im Einzelhandel rasant zurückgegangen. Heute arbeiten nur noch weniger als 40% der Beschäftigten in tarifgebundenen Unternehmen (Ellguth & Kohaut, 2018). Interessanterweise halten sich heute im Lebensmitteleinzelhandel insbesondere die Discounter Aldi und Lidl noch immer vollständig an den Tarifvertrag und zahlen sogar leicht über Tarif. Der Chef der Schwarz-Gruppe (Lidl, Kaufland) fordert in letzter Zeit immer wieder eine Allgemeinverbindlicherklärung der Tarifverträge im Einzelhandel (Klein & Ohs, 2017).

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8.2 Betriebsräte Die Schwierigkeiten bei der Einrichtung von Betriebsräten im Einzelhandel sind eng mit den Schwierigkeiten, Arbeitnehmer gewerkschaftlich zu organisieren, verbunden; beide verstärken sich gegenseitig (Bayer, 1980; Dribbusch, 2003). Das Betriebsrätegesetz, initiiert durch das ‚Stinnes-Legien-Abkommen‘ zwischen Großindustrie und Gewerkschaften, war 1920 von der sozialdemokratisch geführten Regierung gegen den Widerstand des Mittelstands eingeführt worden (Müller-Jentsch, 2008). Während der Debatten über das Betriebsverfassungsgesetz zu Beginn der 1950er Jahre richtete die HDE ihre Forderungen an denen der deutschen Industrie aus, wobei diese ihrerseits auch mittelständische Forderungen unterstützte. Eine Anhebung der Schwelle, ab der ein Betriebsrat eingerichtet werden konnte, von 5 auf 10 Mitarbeiter konnte dennoch nicht durchgesetzt werden. Für den Lebensmittelhandel ist aber wichtig, dass mithelfende Familienangehörige bei der Berechnung des Schwellenwerts nicht berücksichtigt wurden, und dass Betriebsräten in Betrieben mit weniger als 20 Beschäftigten keine Rechte in Bezug auf wirtschaftliche Angelegenheiten gewährt wurden. Betriebsräte werden in Deutschland durch die Initiative der Beschäftigten jeweils eines Betriebes errichtet. Dies unterscheidet sie z.  B. von den französischen comités d’entreprise, die vom Arbeitgeber auf Unternehmensebene eingerichtet werden müssen. Der langwierige Vorgang ihrer Errichtung ermöglicht es dem Management, in dieser Phase Druck auf engagierte Mitarbeiter auszuüben, vor dem diese gerade in kleinen Betrieben kaum geschützt sind. Dies erschwert die Einrichtung von Betriebsräten in den meist relativ kleinen Einzelhandelsgeschäften. Die Tatsache, dass im Lebensmitteleinzelhandel die meisten Beschäftigten Frauen sind, die in Teilzeit und häufig in unterschiedlichen Schichten arbeiten, erschwert die Einrichtung von Betriebsräten in dieser Branche zusätzlich. Ende der 1990er Jahre nahm der Arbeitsminister der rot-grünen Bundesregierung eine Anregung der Gewerkschaften auf, die Errichtung neuer Betriebsräte erheblich zu erleichtern und zusammen mit der ersten Wahl seiner Mitglieder auf einer einzigen Betriebsversammlung zu ermöglichen. Dies wurde vom HDE (2001, S. 17) und anderen Arbeitgeberverbänden als intransparentes und undemokratisches „Hau-ruck“-Verfahren kritisiert. Das Vorhaben scheiterte. Während heute fast alle SB-Warenhäuser, insbesondere die von Real (zu Metro), aber auch von Kaufland, einen Betriebsrat haben, gibt es in den Geschäften von Aldi Süd oder Lidl fast keine Betriebsräte (vgl. Hamann & Giese, 2004). Aldi Nord ist hier ein Sonderfall, da in vielen der dortigen Betriebsräte

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die ‚gelbe‘ Gewerkschaft AUB (Arbeitsgemeinschaft unabhängiger Betriebsangehöriger) stark vertreten ist. Auch in den Geschäften der selbstständigen Edeka- oder Rewe-Kaufleute sind Betriebsräte eher selten. Für die Regiebetriebe von Edeka und Rewe gibt es relativ schwache überbetriebliche Betriebsratskonstruktionen nach § 3 BetrVG. Durch die so genannte ‚Privatisierung‘ von Hunderten dieser Regiebetriebe an selbstständige Einzelhändler (Warich, 2011) fallen diese Betriebe aus der betrieblichen Mitbestimmung – und häufig auch aus der Tarifbindung – heraus. Die Schwäche von Gewerkschaften, Betriebsräten und Unternehmensmitbestimmung im deutschen Einzelhandel unterscheidet diesen deutlich von den Kernsektoren der verarbeitenden Industrie. Dieser Dualismus ist kein neues Phänomen. Er wurde lediglich durch die Allgemeinverbindlicherklärungen vorübergehend, für etwa zwei Jahrzehnte, leicht abgemildert.

9 Lieferbeziehungen Die letzte zu untersuchende institutionelle Domäne sind die Lieferbeziehungen zwischen Lebensmittelherstellern und -händlern. Im Laufe der Jahrzehnte kam es insbesondere im Lebensmittelhandel zu einer zunehmenden Integration von Groß- und Einzelhandel, sei es in Konsumgenossenschaften, Filialunternehmen, Einzelhändlergenossenschaften oder auch freiwilligen Ketten (etwa der später von Edeka übernommenen Spar). Zugleich fand insbesondere im Lebensmitteleinzelhandel ein Konzentrationsprozess statt. Heute liegt der Marktanteil der vier größten Lebensmitteleinzelhändler, Edeka, Rewe, Aldi und Schwarz Gruppe, je nach Berechnungsmethode, bei gut 60 % (vgl. oben) oder deutlich über 75 % (Bundeskartellamt, 2014). Durch die Integration von Einzel- und Großhandel sowie die zunehmende Konzentration verschob sich die Verhandlungsmacht in den Lieferbeziehungen zunehmend von den Herstellern hin zum Einzelhandel, der allerdings aufgrund des ausgeprägten Wettbewerbs die ausgehandelten Konditionen, insbesondere in Form niedriger Preise, an die Kunden weitergeben muss.

9.1 Ende der Preisbindung und Handelsmarken Diese Machtverschiebung zugunsten des Einzelhandels wurde zudem durch zwei weitere Veränderungen befördert: das Ende der Preisbindung und die Verbreitung von Handelsmarken. Die Preisbindung der zweiten Hand hatte sich im

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19. Jahrhundert entwickelt, als Markenhersteller begannen, Groß- und Einzelhandel vertraglich zu verpflichten, ihre Produkte zu einem von ihnen festgelegten Preis zu verkaufen (Epple, 2014). Dies erlaubte es nicht nur den Herstellern, den Absatz und das Image ihrer Produkte zu kontrollieren, die Preisbindung bedeutete auch für kleinere Einzelhändler einen Schutz vor Preiswettbewerb. Seit den 1960er Jahren konnte die Preisbindung von vielen Markenherstellern praktisch nicht mehr durchgesetzt werden. Im Nahrungsmittelbereich war der Marktanteil von Produkten mit gebundenen Preisen bereits 1962 auf 15 % gesunken (Epple, 2014). Mit dem Ziel, die Inflation zu bekämpfen, wurde die Preisbindung schließlich 1973 von der sozialdemokratisch geführten Regierung verboten, wobei Zusammenschlüsse mittelständischer Einzelhändler in Genossenschaften oder freiwilligen Ketten vom Verbot der Preisbindung ausgeschlossen waren (Mittelstandsklausel im Wettbewerbsrecht). Auch die Gewerkschaften und der Bundesverband der Selbstbedienungs-Warenhäuser (BdSW) hatten das Verbot befürwortet, während die HDE sich erfolglos für eine Beibehaltung ausgesprochen hatte (Richter, 1976). Einige Lebensmittelhändler, darunter auch Edeka und die Konsumgenossenschaften, hatten bereits vor dem ersten Weltkrieg begonnen, Produkte für den Verkauf unter ihrem eigenen Namen (Eigen- oder Handelsmarken) zu produzieren oder produzieren zu lassen. Durch das Wachstum der Discounter und der großhandelsdominierten freiwilligen Ketten in den 1970er Jahren nahm die Bedeutung der Eigenmarken im Lebensmittelhandel rasant zu, insbesondere in den unteren Preissegmenten. Dies unterscheidet die Rolle der Eigenmarken in Deutschland insbesondere von der in Großbritannien, wo Eigenmarken eher im mittleren Preissegment angesiedelt waren. Aldi und Lidl, die überwiegend Eigenmarken verkaufen, beschaffen diese meist grenzüberschreitend, d. h. auf europäischer Ebene, und können so zusätzliche Preisvorteile erzielen. Während Lidl für alle Tochtergesellschaften zentral verhandelt, verhandeln Aldi Nord und Aldi Süd zunächst für ihre deutschen Filialen; anschließend können ausländische Tochtergesellschaften ihre Lieferverträge auf die deutschen Lieferverträge aufsatteln. Seit den 1980er Jahren sind Vollsortimenter wie Edeka und Rewe dazu übergegangen, sich in europäischen Einkaufsgruppen zusammenzuschließen (Robin-Sohn & Clarke-Hill, 1995) und die Rahmenkonditionen für das wachsende Eigenmarken-Sortiment in international abgestimmten Ausschreibungen festzulegen, deren Details dann auf nationaler Ebene nachverhandelt werden. Erst seit Kurzem werden internationale Allianzen auch genutzt, um koordiniert mit Markenherstellern über Preise zu verhandeln (Bielefeld, Varnholt, Giuri, & Tietze, 2019; Mende, 2018).

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9.2 Konflikthafte und preisfokussierte Lieferbeziehungen Durch die Einführung von Barcodes, Scanner-Kassen und IT-basierten Warenwirtschaftssystemen seit den späten 1970er Jahren haben sich die Beziehungen zwischen Einzelhändlern und Lieferanten weiter verändert. Im Lebensmittelbereich werden diese Veränderungen unter dem Begriff ‚Efficient Consumer Response‘ (ECR) diskutiert (Reyes & Bhutta, 2005; Seifert, 2006). Bereits 1974 hatten der Einzelhandel, vertreten durch die Rationalisierungs-Gemeinschaft des Handels (RGH), heute EHI Retail Institute, und die Industrie, vertreten durch den Deutschen Markenverband, die Centrale für Coorganisation gegründet. Diese koordiniert die technische Standardisierung und die Vergabe der Artikelnummern und ist heute als GS1 Germany Teil eines globalen Netzwerks, das u. a. weltweit einheitliche Artikelnummern vergibt. Die am an den Scannerkassen des Einzelhandels, dem ‚point of sale‘, erhobenen Daten lassen sich vielfältig nutzen: Zunächst lässt sich durch die Weitergabe der Abverkaufsdaten entlang der Logistikkette bis hin zu den Herstellern die Effizienz in der Lieferkette verbessern, indem die Umschlagsgeschwindigkeit erhöht und Fehlbestände reduziert werden (‚lean retailing‘), aber auch, indem die Logistikkosten gesenkt werden. Darüber hinaus lassen sich die Daten, insbesondere wenn sie durch kundenspezifische Informationen (die über Kredit- und Kundenkarten erlangt werden) angereichert werden, von Einzelhandel und Industrie für die Entwicklung gemeinsamer Strategien zur Optimierung der Sortiments- und der Preisstrukturen, das sogenannten Category Management, und für die Abstimmung von Werbemaßnahmen verwenden. Schließlich lassen sich die Daten auch für Produktinnovationen durch die Hersteller und eine mit dem Handel abgestimmte Markteinführung nutzen. Insbesondere letzteres, aber auch das Category Management haben allerdings eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Handel und Herstellern zur Voraussetzung. Bereits Studien aus den 1990er Jahren (Behrens, 1992) charakterisierten die Lieferbeziehungen im deutschen Lebensmittelhandel jedoch nicht als vertrauensvoll, sondern als antagonistisch. Auch heute sind die Lieferbeziehungen des deutschen Lebensmitteleinzelhandels im internationalen Vergleich, insbesondere mit Großbritannien, hochgradig preisfokussiert und konflikthaft. Die dahinterliegenden Gründe sind weniger staatliche Vorschriften (etwa des Wettbewerbsrechts), sondern vielmehr die Struktur des deutschen Lebensmitteleinzelhandels. Zum einen haben die Einkaufsorganisationen der führenden Vollsortimenter Edeka und Rewe nicht die Möglichkeit sicherzustellen, dass ihre

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selbstständigen Mitglieder die mit den Lieferanten vereinbarten Maßnahmen tatsächlich umsetzen, z. B. in Bezug auf die Produktplatzierung, Preisgestaltung oder Werbung. Ein weiterer, noch wichtigerer Grund ist der mit dem Aufstieg der Discounter seit den 1970er Jahren verbundene ständige Druck auf die Preise. Zudem verkaufen die Discounter neben ihren Eigenmarken auch ausgewählte Markenprodukte; sobald ein solches Produkt bei einem Discounter neu gelistet wird, bringt dies das Preis- und Konditionengefüge für eine ganze Produktgruppe durcheinander und erzwingt Neuverhandlungen. Ähnliches passiert auch, wenn Discounter große Werbeaktionen mit Markenartikeln starten. All dies vereitelt immer wieder eine langfristige vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen dem Lebensmitteleinzelhandel und seinen Lieferanten. Der konflikthafte und preisorientierte Charakter der Lieferbeziehungen des deutschen Lebensmitteleinzelhandels unterscheidet diesen von den industriellen Kernsektoren der deutschen Wirtschaft, deren Lieferbeziehungen in der vergleichenden Kapitalismusforschung als hochgradig vertrauensvoll und kooperativ charakterisiert werden (Lane, 1995). Dieser Befund passt ferner zu der Tatsache, dass auch die Lebensmittelindustrie, wie übrigens auch viele andere Konsumgüterindustrien (zur Bekleidungsindustrie vgl. Wortmann, 2009), keine deutsche Kernindustrie ist. Unter den deutschen Herstellern von Lebensmitteln und anderen schnelllebigen Verbrauchsgütern (fast moving consumer goods, FMCG) gibt es keine großen Global Player, und ihre Exportquote ist viel niedriger als die der Kernindustrien des verarbeitenden Gewerbes.

10 Schluss In allen untersuchten institutionellen Domänen – Corporate Governance, Stadt- und Raumplanung, Berufsausbildung, Wohlfahrtsstaat, industrielle Beziehungen und Lieferbeziehungen – unterscheiden sich die Institutionen und ihre prägende Wirkung im deutschen Einzelhandel von denen in den Kernsektoren der verarbeitenden Industrie. Häufig sind sie nicht einfach eine branchenspezifische Modifikation oder eine schwächere oder unvollständigere Version der Institutionen, die von der vergleichenden Kapitalismusforschung als charakteristisch für die deutsche koordinierte Marktwirtschaft bzw. für deren Kernsektoren identifiziert wurden. Viele Besonderheiten des deutschen Einzelhandels wurzeln in der Tradition des Mittelstands, die sich im späten 19ten Jahrhundert herausbildete und die bis heute fortwirkt. Weitere entscheidende Weichenstellungen fanden dann in den 1960er und frühen 1970er Jahren als Reaktion auf die durch die Einführung

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der Selbstbedienung ausgelöste Revolution im Einzelhandel statt, d. h. vor der ersten ernsthaften Krise der deutschen Nachkriegswirtschaft und vor dem ‚Ende des Fordismus‘. Während sich Ordo-liberale Prinzipien 1965/1972 gegen den organisierten Vorkapitalismus mit einer ständische Berufsordnung im Einzelhandel durchsetzten, konnten interessierte Akteure in den politischen Auseinandersetzungen über die Ausgestaltung der Institutionen immer wieder an den kognitiven Rahmen des mittelständischen Diskurses anknüpfen Kräfte durchsetzen. In der Domäne der Corporate Governance konnten die mittelständischen Einzelhändler genossenschaftliche Strukturen nutzen, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, wobei die führenden Handelsgruppen seit den frühen 1970er Jahren auch andere Rechtsformen verwenden. Dazu gehören obskure Formen wie verschiedene ‚& Co. KGs‘. Seit den frühen 1970er Jahren nutzen auch die führenden Discounter, große in Familienbesitz befindliche Konzerne, diese Rechtsformen in Verbindung mit verschiedenen Formen unternehmensnaher Stiftungen. Bei aller Verschiedenheit haben die Corporate-Governance-Strukturen im Einzelhandel jedoch auch eine Gemeinsamkeit mit der Corporate Governance der deutschen Aktiengesellschaften in den Kernsektoren: Beide schirmen die Unternehmen vom kurzfristigen Druck der Finanzmärkte ab. Die Regulierung des Einzelhandels durch Stadt- und Raumplanung ist sektorspezifisch und hat in den Kernindustrien keine wirkliche Entsprechung. Sie ist das Ergebnis einer neueren Entwicklung, die als Reaktion auf die Einzelhandelsrevolution begann und seitdem stark durch mittelständische Interessen beeinflusst wurde. Die Regulierung in Deutschland unterscheidet sich von den einzelhandelsspezifischen Regulierungen etwa in Frankreich dadurch, dass sie fest in das System der Stadt- und Raumplanung integriert ist und innerhalb dieses System über einen längeren Zeitraum weiterentwickelt wurde. Eine unbeabsichtigte Folge war allerdings die dynamische Entwicklung der Discounter seit den 1970er Jahren. Das deutsche System der Berufsausbildung ist tief in der mittelständischen Tradition des Handwerks verankert und wurde erst später auf die verarbeitende Industrie und die verschiedenen kaufmännischen Bereiche ausgeweitet. Eine Besonderheit im Einzelhandel ist die große Bedeutung der zweijährigen Ausbildung zur (meist weiblichen) Verkäuferin. Diese branchenspezifische Modifikation des allgemeinen deutschen Ausbildungsmodells konnte in der Zeit der Einzelhandelsrevolution von den großen Filialunternehmen gegen die Interessen der kleinen mittelständischen Einzelhändler durchgesetzt werden. Der deutsche konservative Wohlfahrtsstaat ist eine ganz besondere Institution: Während er in den exportorientierten Kernsektoren der deutschen Industrie die

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Beschäftigung von überwiegend männlichen, relativ gutverdienende Familienernährern mit Standardarbeitsverträgen unterstützt, fördert er im Einzelhandel die Teilzeitbeschäftigung von überwiegend weiblichen, relativ schlecht entlohnten Zuverdienerinnen. In der Domäne der Arbeitsbeziehungen konnten die Interessen der Arbeitnehmer nie eine ähnliche Kraft entfalten wie in den großen Betrieben der verarbeitenden Industrie. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist niedrig, und die betriebliche Mitbestimmung ist schwach oder fehlt ganz. Dies liegt heute zum einen an der durch den konservativen Wohlfahrtsstaat geprägten Beschäftigungsstruktur und zum anderen an der geringen Größe der meisten mittelständischen Einzelhandelsbetriebe, aber auch daran, dass die führenden Unternehmen durch die Ausgestaltung ihrer Corporate Governance Mitbestimmungsverpflichtungen umgehen. Der Versuch, die industriellen Beziehungen im Einzelhandel mit Allgemeinverbindlicherklärungen zu stabilisieren, war nur vorübergehend wirksam, während der Versuch, die Errichtung von Betriebsräten in Kleinbetrieben wesentlich zu erleichtern, scheiterte. Die Lieferbeziehungen im Einzelhandel sind nicht wie in den Kernindustrien vertrauensvoll kooperativ, sondern eher konflikthaft und kurzfristig preisorientiert. Die komplizierten Corporate-Governance-Strukturen der führenden Vollsortimenter, der permanente Preisdruck durch die Discounter und die häufigen Marktverwerfungen, die etwa von der Listung neuer Markenprodukte durch die Discounter ausgehen, unterminieren eine langfristig ausgerichtete, vertrauensvolle Koordination zwischen Einzelhändlern und ihren Lieferanten. Die Fokussierung auf preisliche Wettbewerbsfähigkeit wird auch durch die Strukturen der deutschen Lebensmittelindustrie unterstützt, die ihrerseits ebenfalls nicht zu den Kernsektoren der deutschen Wirtschaft gehört. Zusammen befördern die Institutionen in den analysierten Domänen eine spezifisch deutsche Einzelhandelsstruktur. Corporate Governance und planungsrechtliche Regelungen ergänzen sich in der Unterstützung von zwei Arten von Einzelhändlern: die Einkaufsgruppen von unabhängigen mittelständischen Einzelhändlern (Edeka und Rewe) und die Discount-Ketten (Aldi und Lidl) die beide überwiegend relativ kleine Geschäfte betreiben. Das Geschäftsmodell der Discounter ist unmittelbar auf niedrige Betriebskosten und niedrige Preise ausgerichtet. Unterstützt wird diese Ausrichtung – nicht nur bei den Discountern, sondern insbesondere auch bei den Vollsortimentern – durch den konservativen Wohlfahrtsstaat und schwache Institutionen im Bereich der industriellen Beziehungen. Die berufliche, häufig nur zweijährige Ausbildung der Arbeitnehmer scheint trotz niedriger Löhne eine Bindung der Arbeitskräfte an den Einzelhandelssektor zu bewirken. Auch die konflikthaften Lieferbeziehungen

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unterstützen die Ausrichtung der Unternehmen auf preisliche Wettbewerbsfähigkeit. Zum Schluss sollen neben den institutionellen Unterschieden zwischen Einzelhandel und Kernindustrien auch deren Interdependenzen in den Blick genommen werden. In den letzten Jahren wurde die vergleichende Kapitalismusforschung um eine makroökonomische Perspektive erweitert. Baccaro und Pontusson (2016) charakterisieren Deutschland als ein exportgetriebenes Wachstumsmodell. Dieses basiert auf der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der industriellen Kernsektoren (ähnlich bereits Esser, Fach, Junne, Schlupp, & Simonis, 1979). Hassel (2014) argumentiert, dass die Beschäftigten in vielen Dienstleistungssektoren wie dem Einzelhandel heute „unter Bedingungen arbeiten, die den Arbeitsmärkten liberaler Marktwirtschaften ähnlich sind“ (ebd. S. 72). „Der zunehmend dualistische Charakter der deutschen Wirtschaft hat eine exportorientierte Hochqualitätsindustrie geschaffen, die auf ein inländisches Umfeld von Billiglohndiensten zur Kontrolle der Arbeitskosten angewiesen ist“ (ebd. S. 75). Die Ergebnisse dieses Beitrags legen nahe, dass nicht nur Wohlfahrtsstaat und industrielle Beziehungen, sondern auch die Institutionen in anderen Domänen den deutschen Lebensmitteleinzelhandel auf niedrige Preise konditionieren und so über die Begrenzung der Lebenshaltungskosten auch für die Beschäftigten der Kernsektoren indirekt zu deren Wettbewerbsfähigkeit und Exporterfolg beitragen.

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Wissen über Landreformen: Die Weltbank und die Widersprüche ihres Wissensregimes Mihai Varga 1 Einleitung Internationale Organisationen wie die Weltbank sind Akteure, die in Analysen globaler Wertschöpfungsketten oft übersehen werden – und dass, obwohl ihnen eine führende Rolle in der Unterstützung der Globalisierungsprozesse eingeräumt wird, die die internationale Organisation von Wertschöpfungsketten erst möglich machen. Dieser Beitrag argumentiert, dass internationale Organisationen von grundlegender Bedeutung für die Wertketten der Lebensmittelbranche sind, da sie – und allen voran die Weltbank – international Landreformprogramme verfolgen, mit denen sie die Regeln für die zahlreichsten Akteure in der Lebensmittelproduktion – die Kleinbauern1 – grundsätzlich beeinflussen. Weiterhin forcieren internationale Organisationen – am deutlichsten die Weltbank – den Rückzug des Staates aus Strukturen, die Kleinbauern in ihrer Produktion unterstützen oder ihre Lebensunterhaltungskosten subventionieren. Dieser Beitrag bezieht sich auf die Tätigkeit der Weltbank in den Ländern Eurasiens, in welchen das Landreformprogramm seinen Höhepunkt erreichte: die post-kommunistischen Länder Osteuropas, Zentralasiens und des Kaukasus sowie die Türkei.

1In

der vorliegenden Arbeit sind durch diese Formulierung sowohl Bauern als auch Bäuerinnen gemeint.

M. Varga (*)  Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Baur et al. (Hrsg.), Waren – Wissen – Raum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30719-6_5

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M. Varga

Dieser Beitrag fragt nach der Produktion von Wissen über Kleinbauern und Landreformen: Welches Wissen stellt die Weltbank her, welche Rolle sollten Landreformen für Kleinbauern spielen und wie wird mit den widersprüchlichen Ergebnissen von Landreformen in den Weltbank-Berichten umgegangen? Zwar ist die Weltbank nicht die einzige Instanz, die zu Kleinproduzenten forscht, aber keine andere ist so einflussreich. Dabei ist es nicht die Weltbank alleine, die entsprechende Berichte zur Lage der Kleinbauern verfasst: Vielmehr geht es um ein „Wissensnetzwerk“ (Stone, 2013), in welchem die Weltbank oft die Herausgeberschaft der Studien übernimmt, die Verfasser aber mit universitären Einrichtungen und anderen, von der Weltbank unabhängigen Instituten, assoziiert sind. Folgende Thesen über Kleinbauern werden in diesem Netzwerk produziert und verbreitet: Erstens, dass diese sich in einer Welt bewegen, die als relativ fern von Märkten zu verstehen ist, die aber durch eine grundlegende Reform der Eigentumsstrukturen und einen Rückzug des Staates dereguliert – und näher an die Märkte gebracht – werden kann (Akram‐Lodhi, 2008; Varga, 2017). Zweitens können die unterschiedlichsten Länder relativ unproblematisch hierarchisch geordnet werden, je nach dem Grad, wie weit und konsequent sie diese Reformen durchgeführt haben. Dies führt zu Hierarchien von best und worst performers. Obwohl auch in anderen Reformbereichen festgestellt wurde, dass die Weltbank das Ordnen von Ländern mittels Indikatoren als Druckmechanismus einsetzt (Appel & Orenstein, 2016), sind Landreformen besonders interessant, da sie mit widersprüchlichen Entwicklungen einhergingen – von der Fragmentierung der Eigentumsverhältnisse bis hin zur Etablierung großer Agrarkonzerne. Dies ermöglicht es, zu untersuchen, wie das Wissensnetzwerk der Weltbank auf solche Widersprüche reagiert. Und wie Hierarchien so angepasst werden, dass diese nicht mehr die ursprünglich gewonnenen Ergebnisse einbeziehen, sondern überwiegend das Ausmaß der Durchführung (und die damit verbundenen Indikatoren) reflektieren. So wird etwa in Bezug auf best performers die sonst in Weltbankberichten so oft thematisierte Subsistenz kaum noch erwähnt. Stattdessen legen Weltbankstudien ihr Augenmerk viel stärker auf die Reform der Eigentumsstruktur oder auf den Rückzug des Staates. Dieser Beitrag ist wie folgt strukturiert: Der nächste Abschnitt präsentiert den allgemeinwissenschaftlichen Rahmen zur Rolle der Weltbank in der globalen Wissensproduktion und formuliert das Argument des Beitrags, wonach dieses Wissen nicht nur aus bestimmten Thesen besteht, sondern auch von einem Prozess der Wissensadaptation gekennzeichnet ist. Im darauffolgenden Teil wird auf Landreformen eingegangen, also auf die Reformen des Agrarlandeigentums in den Ländern, wo sie am schnellsten und weitesten vorangeschritten sind: die post-kommunistischen Länder Eurasiens und die Türkei. Dabei wird untersucht,

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welche Entwicklungen im Wissensnetzwerk der Weltbank reflektiert und welche Schlussfolgerungen daraus gezogen wurden. Als erste Entwicklung kam es zu einer starken Differenzierung der Reformländer in Bezug auf ihre Bereitschaft, die Landreform so konsequent und weitgehend durchzusetzen wie von der Weltbank gewünscht. Eine zweite Entwicklung war die allgemeine Fragmentierung der Eigentumsverhältnisse in allen Ländern, die eine Landreform durchgeführt haben. Dies war gerade in einigen dieser Länder (darunter auch in den größten: Russland, Ukraine und Kasachstan) mit dem Aufkommen großer Agrarkonzerne verbunden. Die Erfolgsindikatoren der Weltbank veränderten sich entsprechend, wobei nicht nur die Auswirkungen der Landreformen auf die Lebenswelten der betroffenen Kleinbauern verfolgt wurden. Entscheidende Indikatoren waren die Registrierung von Eigentumsrechten und die „Individualisierung“ der Landwirtschaft, also das Ausmaß, inwieweit Kollektivunternehmen und Kooperativen durch „individuelle Farmen“ und nicht durch Agrarkonzerne ersetzt wurden. Der Beitrag endet mit einer abschließenden Betrachtung der Widersprüche der Landreformen und der Art und Weise, wie diese Widersprüche in den Berichten (allen voran im Weltentwicklungsbericht zur Landwirtschaft und Ernährungssicherheit) gelöst wurden.

2 Die Relevanz von Kleinbauern in der globalen Lebensmittelproduktion Mehrere Berichte und Studien zur Relevanz von Kleinbauern für die globale Lebensmittelproduktion signalisierten zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Rückkehr der Kleinbauern ins öffentliche Bewusstsein (Lowder, Skoet, & Raney, 2016; van Vliet et al., 2015; World Bank, 2007). Oft mit Familienhöfen gleichgestellt, erschienen Kleinbauern als zentral für die Ernährungssicherheit der meisten Weltregionen: Mindestens 70 % des täglichen individuellen Kalorienverbrauchs in Lateinamerika, Asien, und Afrika seien durch die Produktion in Familienhöfen gedeckt und mehr als die Hälfte der globalen Lebensmittelproduktion werde in Familienhöfen erzeugt (Graeub et al., 2016; Samberg, Gerber, Ramankutty, Herrero, & West, 2016). Allerdings gibt es erhebliche Unterschiede in der Art und Weise, wie die Produkte die Verbraucher erreichen: über Lebensmittelketten in Westeuropa, Nordamerika und Ostasien und über Wochen- und Freiluftmärkte in den meisten anderen Regionen. Diese Dominanz von Kleinbauern ist überraschend, denn sie besteht trotz der Etablierung einer globalen food economy. Diese ging einher mit dem Aufkommen multinationaler Agrarkonzerne und Lebensmittelketten und der Unterstützung – durch die Weltbank und andere

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internationale Organisationen – für Prozesse, die die Migration der Kleinbauern in die Städte begünstigen sollten (Li, 2007). Es war erwartet worden, dass die Stärkung großer Ketten – wie Agrarkonzerne und Retailketten – eine Zunahme mit sich bringen oder die Rückkehr großbäuerlicher Strukturen begünstigen würde. Diese Erwartung aber wurde nur zum Teil bestätigt: Zwar lässt sich vielerorts das Phänomen der Landnahme (land grabbing) beobachten, jedoch ist dieser Prozess kaum auf das Wirken von Agrarkonzernen und Handelsketten zurückzuführen. Vielmehr ist Landnahme oft mit spekulativen Investitionsstrategien zu erklären (De Schutter, 2011), die beispielsweise infolge die Weltwirtschaftskrise 2007–2009 durch fehlende Investitionsmöglichkeiten in anderen Sektoren oder durch ein großzügiges System von Subventionen in der Europäischen Union begünstigt wurden. Die Beharrlichkeit von Kleinbauern in der Lebensmittelproduktion wurde in den Berichten und Veröffentlichungen internationaler Organisationen stark problematisiert – es wurde darauf hingewiesen, dass die extreme Fragmentierung der Eigentumsverhältnisse, die die meisten Länder mit mittlerem Einkommen kennzeichnet, ein Hemmnis für die Entwicklung dieser Länder und sogar eine Gefahr für die Versorgung mit Lebensmitteln in diesen Regionen darstelle. Unklare Eigentumsstrukturen würden Investoren anziehen, die vor allem auf Landnahme statt auf Produktion setzten und so die Ernährungssicherheit in diesen Ländern gefährdeten. Unvollständige Reformen dieser Strukturen würden zudem dazu beitragen, dass Kleinbauern in Dependenzverhältnissen zu besser positionierten Akteuren (Händler, Mittelleute) verbleiben (McCullough, Pingali, & Stamoulis, 2010). Darüber hinaus bezeichnet die Weltbank die Märkte, auf welchen Kleinbauern tätig sind, als „traditionell“, also als isoliert von den effizienteren und wesentlich komplexeren Wertschöpfungsketten der food economy. Kleinbäuerliche Strukturen und ihre Landwirtschaft müssten zunächst zu den „Märkten“ „gebracht“ werden („Bringing agriculture to the markets“ heißt ein Kapitel des Weltbank-Entwicklungsberichtes aus 2008), sonst drohe den Familienhöfen das aussichtslose Verharren in der „Subsistenz“ und in der darin implizierten Armut (World Bank, 2007). Dieses Problem scheint den Berichten der Weltbank und anderer Entwicklungsorganisationen zufolge die middle-income Länder (von China und dem Südosten Asiens über Osteuropa und Nordafrika bis Südamerika) besonders stark zu treffen: Während in den Ländern des Globalen Nordens Familienhöfe – exemplarisch dafür steht Deutschland – in den von Lebensmittelketten dominierten Wertschöpfungsketten relativ gut integriert wurden, seien die Länder mit niedrigem Einkommen laut Weltbank noch stark von den Problemen einer fehlenden Infrastruktur betroffen und institutionelle Reformen der Eigentumsstruktur wenig erfolgversprechend. Es sind die Länder mit mittlerem Einkommen, für welche die von der Weltbank

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bevorzugten institutionellen Reformen infrage kommen: Diese Länder sind durch eine Koexistenz von großen kommerziellen Akteuren (exportfähige Konzerne, Retailketten) und kleinbäuerlichen Strukturen, die von diesen Akteuren mehr oder weniger isoliert sind, geprägt. Daher wird vor allem in diesen Ländern die Lage der Kleinbauern, welche im hohen Ausmaß durch Informalität und Subsistenzproduktion gekennzeichnet ist, als eine vertane Chance dargestellt und dazu geraten, sie in teilweise bereits vorhandenen, viel effizientere und gewinnbringende Wertschöpfungsketten zu integrieren. Der Weltbank-Diskurs zu Informalität und Subsistenz als entwicklungshemmend mag überraschen, da die Weltbank behauptet, sie erkenne zunehmend die Diversität ruraler Lebenswelten an, entsprechend dem Ansatz der „sustainable livelihoods“ – nachhaltigen Lebensgrundlagen (Ellis, 2000). Die Weltbank verbindet aber nach wie vor diese zunehmende Anerkennung mit ihrem üblichen Ansatz, Marktlösungen für Entwicklungsprobleme zu fördern. Sie tut dies mit Bezug auf die Annahme über Strukturwandel, wonach Entwicklung nur durch den Übergang von Landwirtschaft zur Industrie erfolgen könne (Chenery & Syrquin, 1975). Diese Annahme lässt den Kleinbauern nur wenig Spielraum: Entweder sie wandern in die Städte ab oder, wie im Weltentwicklungsbericht 2008 dargestellt, sie integrieren sich in die von Globalunternehmen dominierten Wertketten der Lebensmittelbranche (AkramLodhi, 2008; Oya, 2009; Veltmeyer, 2009). Diese „Integration“ trifft aber nicht auf alle Kleinbauern zu, sondern nur auf die, welche in der Lage sind, einen Großteil ihrer Produktion zu vermarkten, also ihre Produktion zu kommerzialisieren.

3 Zur Kritik an der von der Weltbank geförderten Wissensproduktion Die Literatur zu Wissensnetzwerken unterstreicht das Vorhandensein eines weltweiten – und von der Weltbank bewusst geförderten – Netzwerkes von Wissenschaftlern und Instituten (Stone, 2005, 2013), welche die Weltbank beraten und deren Mitglieder die Weltbank in ihren Studien auch zitiert (im Falle der Länder, auf welche sich dieses Kapitel bezieht, zitiert sie ausschließlich solche Autoren). Generell argumentiert diese Literatur, dass Wissensproduktion zentral für die Entwicklungs- und Wirtschaftspolitik ist. Diese Wissensproduktion ist organisationsgebunden, das heißt, ihr Einfluss ist umso höher, je stärker und ausgebauter die Organisationen sind, in denen sie stattfindet (Blyth, 2002; Campbell & Pedersen, 2015; Fourcade-Gourinchas & Babb, 2002). Dieser Beitrag kombiniert die Literatur zu Wissensnetzwerken und -regimes (Campbell & Pedersen, 2015; Stone, 2013) mit von Michel Foucault inspirierten Studien zur

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Weltbank (Escobar, 1984; Ferguson, 1990; Goodman, 2005; Li, 2014; Wade, 2002). Darin wird die Vorgehensweise der Weltbank dokumentiert und hervorgehoben, wie die Weltbank mittels Wissensproduktion ihren Einfluss ausbaut. Die Vorwürfe, welche diese Literatur gegen die Weltbank äußert, reichen von der Nähe zu den Wirtschaftsinteressen der USA und anderer Geldgeber aus dem globalen Norden bis hin zur „Entpolitisierung“ von Entwicklungsfragen. Mehrere Studien argumentieren, dass die Weltbank auf diese Kritik und Vorwürfe reagiert und sich reformiert hat, wobei sie zumindest teilweise auf die Kritik eingegangen ist. Zu den erfolgreichen Reformversuchen zählen die Revision des Wahlrechts in der Weltbank und im Internationalen Währungsfonds – eine Reform, die von früheren Kritikern wie Ngaire Woods (Elson, 2007; Woods & Narlikar, 2001) begrüßt wurde – oder die Bemühungen, Debatten offen, durch die Beteiligung unterschiedlicher „stake-holders“, und „wissenschaftlich“ (mittels „Peer-Review“) zu gestalten (Ratha, 2010). Bezogen auf das „Wissen“ über Landreformprozesse und Kleinbauern in post-kommunistischen Ländern und in der Türkei kann dieser Beitrag nicht bestätigen, dass die Weltbank tatsächlich entgegenkommend auf Kritik reagiert. Ähnlich wie im Falle anderer Weltbank-Interventionen, problematisiert die Weltbank selbst dann Landreformen nicht, wenn sie zu Ergebnissen führen, die mit der ursprünglichen Zielsetzung wenig vereinbar sind. Kleinbauern werden als „marktfremd“ und ihre Existenz als abhängig von staatlichen Strukturen und als Hindernis für die Entwicklung exportfähiger Firmen dargestellt. Die Ironie liegt darin, dass trotz dieser Darstellungsweise und der mit ihr verbundenen Politik gerade dort exportfähige Firmen die Lebensmittelbranche dominieren, wo Landreformen mit „hybriden“ Strukturen verbunden sind. Das sind meistens die Länder, in denen die Kleinbauern der Wertketten nicht nur als direkte (und einzige) Produzenten beitreten, sondern als Verpächter ihrer Landflächen an Großunternehmen. Dass die Weltbank solche hybriden Strukturen kritisiert, passt zu einem Modernisierungsverständnis, welches an einer klaren Trennung von „Moderne“ und „Hybridem“ festhält (Latour, 1993). Es organisiert Wissen meist um binäre Unterscheidungen, die klare Grenzen voraussetzen; zum Beispiel beschreibt Timothy Mitchell (2007) die Art und Weise, auf welche Ökonomen zwischen Markt und Nicht-Markt unterscheiden und dabei von der Möglichkeit einer klaren Grenzziehung um Marktphänomene ausgehen. Auch wenn diese Unterscheidungen auf Missverständnissen und Fehlinterpretationen beruhen, beeinflussen sie das Wissen über wirtschaftliches Handeln, das von der Weltbank und anderen internationalen Organisationen produziert wird. Somit findet eine „Einbettung“ der wirtschaftlichen Phänomene in wirtschaftswissenschaftlichen Konstruktionen statt (Callon, 1998). Solche Konstruktionen beeinflussen nicht nur die Wirtschaft, sondern generell Gesellschaften, indem sie sich

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oft von den ursprünglich verfolgten Zielen entfernen. Diesen Prozess gilt es zu erforschen. In erster Linie geht es um die Frage, im Lichte welcher empirischen Entwicklungen die ursprünglichen Ziele aufgegeben, relativiert oder umgewandelt werden. Vielleicht sind die Experten der Weltbank von der Komplexität der unterschiedlichen Reaktionen auf die Reformpläne zunächst überwältigt. Der Beitrag aber stellt fest, dass die Weltbank ihre Reformziele anpasst: Sprach man im Kontext der ursprünglichen Landreformpläne noch über das Ziel der Armutsbekämpfung, ist heute zunehmend von anderen Zielen die Rede, wie etwa der Registrierung von Eigentum oder der „Individualisierung“ von Nutzungsrechten. Ich gehe von der Existenz eines Wissensregimes aus, das einerseits aus einem Netzwerk von Experten der Weltbank und Wissenschaftlern verschiedener Institute und Universitätsabteilungen besteht. Andererseits besteht es aus einem spezifischen Wissen, das auf mindestens zwei – in diesem Zusammenhang sehr bekannten – Thesen beruht. Die erste These ist die des „Strukturwandels“, also die fortschreitende Verringerung der Beschäftigung im landwirtschaftlichen Sektor (Akram‐Lodhi, 2008). Die zweite These – die mit der ersten verwoben ist – ist die der Überlegenheit von Marktlösungen bei der Herbeiführung des Strukturwandels (Borras, 2003). Eine weitere dritte und meine Hypothese ist, dass dieses Wissen auch aus einem Prozess der Wissensadaptation, also der Anpassung widersprüchlicher empirischer Erkenntnisse an die oben genannten Thesen, besteht. Diese Anpassung führt dazu, dass Reformziele so umformuliert werden, dass ihr Verfehlen keine Konsequenzen für die ersten beiden genannten Thesen und die mit ihnen verbundenen Landreformen haben. Diese Hypothese erlaubt es, das Herangehen der Weltbank und ihres Netzwerkes als komplexe Struktur zu interpretieren, welche durchaus widersprüchliches Wissen produziert. Dieses Wissen wird dann jedoch so ausgelegt, dass die ursprünglichen Thesen nur selten unter Kritik geraten. Meine Vorgehensweise beruht auf der Unterscheidung zwischen zwei Arten von Dokumenten: Studien des Weltbank-Wissensnetzwerkes sowie Berichte der Weltbank. Die Veröffentlichungen in der ersten Kategorie werden meist für die Begründung der in dem zweiten Typ von Dokumenten vorgeschlagenen Maßnahmen herangezogen. Auf die seltenen widersprüchlichen Entwicklungen, die in den Studien thematisiert werden, wird aber in den Berichten nicht eingegangen oder die Widersprüche werden verneint. Die Untersuchung der Berichterstattung zur Ukraine in den Weltbank-Dokumenten ergab, dass sich diese Berichte ausschließlich auf Veröffentlichungen ersterer Kategorie beziehen, die von einem überschaubaren Kreis von Autoren verfasst oder herausgegeben werden: In Bezug auf die Länder Eurasiens geht es um Artikel und Monografien der Wissenschaftler am IAMO-Institut in Deutschland oder einiger internationaler

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Experten, von denen sich die Weltbank über Jahrzehnte beraten ließ, wie etwa Zvi Lerman (Berater der Weltbank von 1988 bis 2015) und sein Co-Autor Csaba Csaki sowie die Weltbank-Chefökonomen Johan Swinnen und Klaus Deininger. Für unsere Untersuchung habe ich die Studien des WB-Wissensnetzwerkes und alle Weltbank-Berichte ausgewertet, die eine Bilanz der Landreformen der 1990er Jahre für die Länder Osteuropas und Zentralasiens präsentieren und auf dieser Grundlage Empfehlungen für weitere Länder formulieren (zum Beispiel, Byerlee & Deininger, 2013; Dudwick, Fock, & Sedik, 2007; Lerman, 2017; World Bank, 2004, 2016). Auf der Basis dieser Studien und Berichte untersuchte ich mit welchen Argumenten bestimmte Länder als erfolgreich und andere als „laggards“ (Nachzügler) dargestellt werden.

4 Die Weltbank und die Landreformen Internationalen Organisationen wird oft eine führende Rolle in den Globalisierungsprozessen eingeräumt, die den Weg für die Etablierung globaler Wertschöpfungsketten bereiten. Andererseits ist ihr Einfluss nicht direkt auf solche Wertschöpfungsketten spürbar, sondern wirkt viel mehr auf gesetzlicher Ebene, indem Anreize erzeugt werden, aufgrund derer sich Staaten gegenüber multinationalen Firmen „öffnen“ (Kaplinsky & Morris, 2000) oder Bedingungen geschaffen werden, unter denen Kleinbauern sich in solche Ketten integrieren können. Für die Analyse der eigentlichen Wertschöpfungsketten spielen Organisationen wie die Weltbank daher kaum eine Rolle. Selbst viel zitierte Beiträge, die unterstreichen, dass Wertschöpfungsketten nicht nur auf Käufer und Produzenten reduziert werden können, sondern oft auch von Dritten beeinflusst seien, nehmen internationale Organisationen nicht in die Liste solcher „Dritten“ auf (Bolwig, Ponte, Du Toit, Riisgaard, & Halberg, 2010; Gibbon, Bair, & Ponte, 2008). Dies ist vielleicht verständlich, wenn man bedenkt, dass Kleinbauern „an sich“, wenn sie nur auf lokalen Märkten aktiv und nicht in globalen Ketten integriert sind, eben nicht als Teil der Wertschöpfungsketten angesehen werden (Lee, Gereffi, & Beauvais, 2012) und in vielen Branchen kaum präsent sind. Dies trifft aber nicht auf die Lebensmittelherstellung zu: Gerade in dieser Branche sind Kleinbauern für einen Großteil der globalen Produktion verantwortlich (Graeub et al., 2016; Samberg et al., 2016). Zudem haben internationale Organisationen massiven Einfluss auf Wertschöpfungsketten ausgeübt, und zwar durch den Versuch, mittels eines globalen Programms die Lebens- und Produktionsbedingungen der Kleinbauern zu beeinflussen. James C. Scott (2015) nannte es

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das größte Entwicklungsprogramm in der Weltgeschichte: das „land titling“Programm, also der Versuch, private Eigentumsrechte über nicht-registriertes oder verstaatlichtes Land weltweit einzuführen, indem Eigentumstiteln an breite Bevölkerungsschichten verteilt werden. Meist in Verbindung mit den Schriften Hernando De Sotos (1989) geht der Vorschlag auf ein Papier der Weltbank aus den 1970er Jahren zurück, der der Armutsbekämpfung dienen sollte (Deininger & Binswanger, 1999). Die Idee hinter diesem Vorschlag war, dass die ärmsten Bevölkerungsschichten wesentlich einfacher Kredite von Banken bekommen könnten, wenn sie mehr Eigentumsrechte hätten, um damit für Bankkredite abzusichern. Das Programm erreichte einen Höhepunkt in den 1990er Jahren: Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus wurde auch die Idee einer staatlich gesteuerten Modernisierung kompromittiert und viele Staaten orientierten sich an den Ideen der Weltbank, um die Transformation ihrer Wirtschaft voranzubringen. 145 Mio. Landtitel wurden in den 1990ern Jahren erstellt und umverteilt, meist in post-kommunistischen Ländern (Dudwick et al., 2007); die entsprechenden Programme wurden nicht immer unter Weltbank-Aufsicht durchgeführt, sie wurden jedoch von der Weltbank befürwortet und von ihrem Wissensnetzwerk begutachtet und evaluiert. Es gab aber auch viele direkte Interventionen der Weltbank: In der Türkei konzipierte und finanzierte die Weltbank Anfang der 2000er Jahre das gesamte Landreform-Programm. Insgesamt erteilte die Regierung über drei Millionen Landtitel, eines der größten Landesprogramme unter WeltbankAufsicht. In anderen Ländern – zum Beispiel in Rumänien und in der Ukraine – finanzierte die Weltbank die Erstellung nationaler Kataster oder die Reform der staatlichen Katasterämter bzw. setzte die Regierungen unter Druck, um die Landreform voranzutreiben, wie zum Beispiel 2007 in Tadschikistan und 2017 in der Ukraine. Trotz der Tatsache, dass die Weltbank diesen Prozess befürwortete oder sogar selbst begleitete – wie etwa in der Türkei oder in Tadschikistan –, konnte man den meisten Berichten bereits Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre sehr viel Kritik an den Ergebnissen des Programms entnehmen. Obwohl man sich von der Landreform eine kommerzielle, eventuell sogar export-fähige Landwirtschaft erhofft hatte, war das Ergebnis der 1990er Jahre eine vielerorts extrem fragmentierte Eigentumsstruktur. Diese war nicht durch kommerzielle Farmen, sondern durch Millionen von Kleinbauern gekennzeichnet. Für das Weltbank-Wissensnetzwerk wurde die Untersuchung dieser Eigentumsstruktur – und der Frage, wie man ihre Fragmentierung überwinden könne – zu einem zentralen Thema. Damit direkt verbunden war auch die Frage, was genau die Fragmentierung begünstigt hat.

142

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Tab. 1   Pfade der Landreform in Eurasien (1990–2010) 3. Langwierige Umstrukturierung der Staatsbetriebe zu Kooperativen; Bevölkerung bekommt Eigentumstitel aber keine Eigentumsrechte

1. Staatsbetriebe werden privatisiert, behalten Landnutzungsrechte

2. Staatsbetriebe werden liquidiert; Bevölkerung bekommt Nutzungs- und sogar Eigentumsrechte

Bulgarien; Slowakei; Tschechien; Ungarn

Aserbaidschan; Chinaa; Kasachstan; Russlandc; Estland; Kirgisien; Lettland; Ukraine; Republik Moldauc; Litauen; Polena; Sloweniena; Tadschikistan; Rumänien; Usbekistan; Türkeib

a China bildet zwar nicht den Fokus dieses Beitrags, weist aber Ähnlichkeiten mit den anderen Ländern dieser Kategorie auf (Oi, 1999). In Slowenien und Polen gab es nur gescheiterte Kollektivierungsversuche, sodass diese Länder nur bedingt mit den Anderen verglichen werden können b In der Türkei handelt es sich um eine andere Form von Staatsbetrieben als in den postkommunistischen Ländern, und zwar um solche, die anders als ehemalige Kolchosen nur in der Vermarktung tätig waren c Sowohl Russland als auch die Republik Moldau liberalisierten ab Mitte der 2000er Jahre ihre Landmärkte, das Land bleibt aber trotz der Einführung von Eigentumsrechten überwiegend unter der Kontrolle von großen Firmen. (Weitere Quellen: Dudwick et al., 2007; Lerman, 2017; Swinnen & Rozelle, 2006; World Bank, 2016)

4.1 Fragmentierung Eine erste Beobachtung in Bezug auf Landreformen und ihre Folgen war die Diversität der Reformen, die in den 1990ern und 2000ern unternommen wurden (siehe Tab. 1 weiter unten). Erstens folgten nicht alle Länder Eurasiens, die in den 1990er Jahren vor der Hausforderung standen, ihre Lebensmittel- und Agrarbranche grundsätzlich reformieren zu müssen, dem Weg der Landreform. Die meisten mitteleuropäischen Länder entschieden sich für Reformmodelle, die die ehemaligen Staatsbetriebe – in kommunistischen Ländern auch Kolchosen oder Sowchosen, später auch landwirtschaftliche Produktionsgemeinschaften (LPGs) genannt – in der einen oder anderen Form am Leben hielten. Es wurde nicht versucht, die ländliche Bevölkerung zu Landwirten umzubilden, sondern die meisten ehemaligen Mitarbeiter der LPGs wurden entlassen und die ehemaligen Landbesitzer entschädigt; das Land wurde den LPGs verpachtet. Zweitens experimentierten einige südosteuropäische Länder und die meisten post-sowjetischen Länder – darunter auch die größten, also Russland, die Ukraine,

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und Kasachstan – mit Landreformen, entweder wie von der Weltbank befürwortet (mittlere Spalte der Tab. 1) oder in einer abgeschwächten Form. In manchen wurde Land privatisiert; in anderen blieb das Land im Staatsbesitz, die Bevölkerung bekam aber Nutzungsrechte und in der letzten und größten Kategorie von Ländern wurden die ehemaligen Kolchosen in Kooperativen umgewandelt (rechte Spalte in Tab. 1), in welchen die ehemaligen Angestellten zu Anteilseigentümern wurden, ohne dass sie diese Anteile verkaufen konnten. Dieses System wurde aber gegen Ende der 1990er abgeschafft (zuletzt 1999 von der Ukraine, wofür damals das Land von den WB-Experten gelobt wurde) und durch die Einführung privater Nutzungs- oder Eigentumsrechte ersetzt. China folgte einem eigenen Weg, weist aber bis Ende der 1990er Jahre ähnliche Ergebnisse wie die Länder in der zweiten Spalte der Tab. 1 auf. Darüber hinaus gab es Länder, die schon längst Eigentumsrechte eingeführt hatten (da sie keine kommunistische Vergangenheit hatten), jedoch ebenfalls von einer Fragmentierung der Eigentumsstruktur gekennzeichnet waren, da sich aus Sicht der Weltbank infolge staatlicher Interventionen keine Landmärkte herausbilden konnten. Exemplarisch für diese dritte Länderkategorie ist die Türkei, die sich Anfang der 2000er Jahre unter Weltbank-Aufsicht drei Millionen Grundstücke registrieren ließ, insbesondere in den östlichen, ärmeren Regionen des Landes. Die spannende Frage lautet: Welches Wissen wurde nun über diese Länder und ihre hybriden Strukturen der Lebensmittelproduktion in den Berichten der Weltbank produziert? Erstens führte die Weltbank die Fragmentierung der Eigentumsverhältnisse, die sich in den 1990er Jahren in der Region bemerkbar macht (und alle Länder in den Spalten zwei und drei der Tab. 1 charakterisiert), in erster Linie auf die unterschiedliche Bereitschaft der Staaten zurück, die Reformen konsequent bis zur Erreichung ihrer Ziele zu verfolgen. Die Fragmentierung der Eigentumsverhältnisse wird als eine der wichtigsten Hürden für die Etablierung exportfähiger Produzenten und die Herausbildung komplexerer Wertschöpfungsketten gesehen. Dabei wird nicht die Landreform an sich als Ursache für die Fragmentierung ausgemacht, sondern die Tatsache, dass diese aus der Perspektive der Weltbank nicht weitgehend genug durchgesetzt wurde: Eigentumsrechte wurden zwar eingeführt und Eigentumstitel an die Bevölkerung verteilt, die Möglichkeit diese Titel zu verkaufen wurde jedoch stark begrenzt oder sogar verboten (mittels Moratorien über den Kauf von Land). Zweitens wurden in Russland, Kasachstan und in der Ukraine die ehemaligen Kolchosen nicht einfach aufgelöst, wie in Rumänien, Albanien, oder den Ländern des Kaukasus, sondern privatisiert (zum Beispiel von ihren ehemaligen Direktoren aufgekauft) oder einfach als Kooperativen weitergeführt. Die ehemaligen Kolchosen bewirtschafteten weiter das Land, das sie nun von den Kleinbauern gegen unterschiedliche

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Produkte (meistens Getreide) formell oder informell pachteten. Aus Sicht der Weltbank wurde dieses Arrangement zwischen ehemaligen Kolchosen und Kleinbauern zur zentralen Hürde für das Wachstum effizienter, exportfähiger Firmen. Diese Sichtweise wird auch in dem Wissensnetzwerk der Weltbank geteilt, wie etwa der Band des IAMO in Deutschland belegt, das als Standardwerk über Subsistenz und Kleinbauern gilt (Abele & Frohberg, 2003; von Braun & Lohlein, 2003; Yefimov, 2003). Darin wird wie auch in den Berichten der Weltbank behauptet, dass die ehemaligen Kolchosen Kleinbauern subventionieren würden und sie noch viel zu oft für wohlfahrtsstaatliche und Infrastruktur-Ausgaben auf kommunaler Ebene („social welfare expenses“) aufkommen müssten, was ebenfalls als Hürde angesehen wird (World Bank, 2008). Die Weltbank konstatiert, dass die Produktion der so „subventionierten“ Kleinbauern mit „Subsistenz“ gleichzusetzen sei, was lediglich einer Produktion für den Eigenverbrauch entspräche (World Bank, 2004). Folglich würde bei so geringen Anbauflächen nur ein sehr kleiner Teil der Produktion „die Märkte“ erreichen und diese geringen Marktanteile wären schließlich eine Ursache für Armut.

4.2 Agrarkonzerne Die Wahrnehmung der Post-Reform-Landschaft als Ort der Fragmentierung, in welchem kleinbäuerliche Strukturen eine Hürde für die Effizienz lokaler Agrarunternehmen darstellen, veränderte sich grundlegend in den 2000er Jahren: aus den ehemaligen Kolchosen wurden trotz Fragmentierung und Moratorien exportfähige Konzerne. Eine der Entwicklungen, die in den meisten Studien und Berichten zur eurasischen Region, auch in dem Weltentwicklungsbericht 2008, reflektiert wird, ist in einigen der größten Flächenstaaten das Aufkommen riesiger einheimischer Agrarkonzerne. Diese vereinten Hunderttausende von Hektar unter ihre Kontrolle und integrierten die meisten Produktions- und Vermarktungsschritte vertikal in ihre jeweiligen Lieferketten, von der Saatgutproduktion bis hin zu Exportanlagen und Fertigprodukten (Plank, 2013). Gemessen nach der von ihnen kontrollierten Anbaufläche, zählen solche „Agroholdings“ zu den größten Unternehmen weltweit (Hermans, Chaddad, Gagalyuk, Senesi, & Balmann, 2017). Sie sind zu erfolgreichen Exporteuren von Agrarprodukten geworden und haben ihre Länder in der Weltrangliste der Nettoexporteure von Agrarprodukten auf Spitzenplätze gebracht, wie auch Weltbank-Ökonomen einräumen (Byerlee & Deininger, 2013; Deininger, Nizalov, & Singh, 2013). Auf der anderen Seite war, wie bereits angedeutet, in Folge der Landreformen ein Großteil der landwirtschaftlichen Flächen im Besitz von Kleinbauern, die diese Flächen an die

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ehemaligen Kolchosen verpachteten, meist für geringe Summen oder gegen bestimmte Produkte, die die Kleinbauern als Tierfutter verwenden konnten. In anderen Worten, das Ergebnis der in den 1990ern Jahren durchgeführten Landreformen ist in einigen der größten Länder eine „hybride Landschaft“, in welcher ehemalige Kolchosen mit Millionen Kleinbauern zusammen existieren. Dies wiederum sieht laut Weltbank-Berichten in den kleineren Staaten Zentralasiens, des Kaukasus und in der Türkei anders aus: Trotz ähnlicher Fragmentierung der Eigentumsstruktur spricht die Weltbank im Falle dieser Länder nicht von kleinbäuerlichen Strukturen oder „Subsistenz“, sondern von „peasant farms“ (Landwirten) und unterstreicht das Fehlen großer Konglomerate. Die Weltbank und ihr Wissensnetzwerk deklarieren das Aufkommen großer landwirtschaftlicher Konzerne vor allem dort als etwas Negatives, wo es mit einer starken Präsenz von Kleinbauern einherging. Dass sich Agrarkonzerne ausgebreitet haben, wird weniger auf bestimmte Maßnahmen der nationalen Regierungen nach dem Zusammenbruch des Kommunismus zurückgeführt, als auf mangelnde oder falsch funktionierende „Institutionen“ wie etwa die „schwache“ oder „langsame“ „Entwicklung der Märkte“ (Deininger et al., 2013). Die Ukraine wird in diesem Kontext oft als paradigmatisch angeführt, da sie als letztes europäisches Land (mit der Ausnahme Belarus) den Verkauf von landwirtschaftlichen Flächen immer noch verbietet. Tatsächlich wurden solche Moratorien von vielen anderen post-kommunistischen Ländern bis in die 2000er Jahre praktiziert, nicht nur von fast allen, die der EU 2004 und 2007 beigetreten sind, sondern auch von Russland (bis 2003), und Kasachstan (das Moratorium wurde 2016 erneut verlängert). Die Studien des Weltbank-Wissensnetzwerkes behaupten, dass Agroholdings die Hauptnutznießer des Moratoriums in der Ukraine sind, und zwar auf Kosten von rund 7 Mio. Landbesitzern, denen das verfassungsmäßige Recht auf Veräußerung ihres Eigentums entzogen wird (Deininger & Nizalov, 2016). Darüber hinaus werfen Weltbank-Experten den Agroholdings vor, durch ihre angebliche Unterstützung des Moratoriums die wirtschaftliche Entwicklung des Landes blockiert zu haben.

4.3 Geografien der Landreformen Die Weltbank projiziert in ihrem Weltentwicklungsbericht 2008 ein widerspruchsloses „Wissen“ über Landreformen und ihre Folgen. Darin wird eine reformierte Landwirtschaft als Hauptmotor der Armutsbekämpfung und Ernährungssicherheit angesehen (World Bank, 2007). Dieses Wissen ist in einfachen Thesen zu resümieren: „Entwicklungsprobleme“ wie etwa die mangelnde Einbeziehung von

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Kleinbauern in Wertschöpfungsketten sind auf fehlerhafte oder mangelnde Institutionen zurückzuführen: Darunter ist sowohl die schwache oder langsame Entwicklung von Märkten zu verstehen als auch die mangelnde Gewährleistung von Eigentumsrechten, vor allem des Rechtes, Eigentum kaufen und verkaufen zu dürfen. Das war nicht immer so. In den Zeiten unmittelbar nach den Ölpreisschocks der 1970er Jahre, sprach der 1982 verabschiedete Weltentwicklungsbericht – vor 2008 der letzte mit Landwirtschafts- und Ernährungsschwerpunkt – anders über die Kleinbauern, obwohl beide Berichte die Herangehensweise des Strukturwandels unterstützten (Akram‐Lodhi, 2008), die davon ausgeht, dass Entwicklung mit der Verringerung des landwirtschaftlichen Sektors korreliert und von dieser Verringerung auch begünstigt wird (Chenery & Syrquin, 1975). Der 1982er Bericht konnte nur so viel sagen, dass Kleinbauern von Ressourcenmangel betroffen sind, etwas was durch Technologietransfer gelöst werden kann. Der Begriff „Subsistenz“ tauchte nur 3-mal auf, nicht um alle Kleinbauern zu charakterisieren, sondern um eher die ärmsten, landlosen Schichten der ruralen Bevölkerung zu kennzeichnen. Auch waren die Erwartungen gegenüber Kleinbauern und wie sie einen größeren Teil ihrer Produktion vermarkten könnten eher positiv, im Sinne, dass es einfach nur mehr Liberalisierung brauche, um diese einem stärkeren Wettbewerb mit größeren Unternehmen auszusetzen. Dies hätte dazu führen sollen, dass Kleinbauern ihre Produktion effizienter gestalten. Dazu wurden auch Maßnahmen hervorgehoben, die bewusst den Zugang der Kleinbauern zu besseren Technologien ermöglichen sollten. Dagegen taucht der Begriff „Subsistenz“ in dem Bericht aus 2008 ganze 76-mal auf, und zwar um generell die Lage der Kleinbauern weltweit zu beschreiben. Die oben beschriebene Situation der Kleinbauern scheint nur noch auf das Gebiet der Sub-Sahara zuzutreffen, während es für die anderen Länder, etwa für die „transforming countries“ mit mittlerem Einkommen eher eine Frage „der institutionellen Entwicklung, wie z. B. die Verbesserung der Sicherheit der Eigentumsrechte und der Qualität der Bodenverwaltung“ ist (World Bank, 2007, S. 29). Subsistenz wird als Anachronismus oder Fehlentwicklung dargestellt, welche von der Abwesenheit „richtiger“ Institutionen begünstigt worden sei, und welche durch die Einführung solcher Institutionen wieder behoben werden könne. Unerwähnt bleibt auch die Möglichkeit, dass Subsistenz eine Reaktion auf die in der Umwelt der Kleinbauern bestehenden Verhältnisse darstellen könnte, die von der Einführung von Eigentumsrechten wenig betroffen sind. (Für die Analyse des “Land-Titling”-Programms in Peru und für das Thematisieren ähnlicher Annahmen über die Lebenswelt der ärmsten Bevölkerungsschichten, siehe Mitchell, 2005). Weltbank-Berichte und die Studien aus dem Wissensnetzwerk der Weltbank veranschaulichen die Versprechen der „institutionellen Entwicklung“. Sie stellen eine Geografie der Landreformen in Eurasien her, welche die Länder

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der Region entlang eines Kontinuums der Landreformen und des damit verbundenen Produktionsaufschwungs ordnet. Am schlechtesten stehen die postsowjetischen Länder Osteuropas da (Russland und die Ukraine), gefolgt von den Ländern des Kaukasus. Die Länder Zentralasiens schneiden dagegen am besten ab, da sie viel mehr Land an Kleinbauern transferiert haben, was laut WeltbankExperten für deutlich mehr Wachstum in der Landwirtschaft gesorgt habe (Dudwick et al., 2007; Lerman, 2017). Interessant dabei ist, dass in diesen Studien des Weltbank-Wissensnetzwerkes nicht mehr die Fragmentierung oder das Ausmaß der Subsistenz gemessen werden. Vielmehr geht es dabei um die „Individualisierung“ der Landwirtschaft (Lerman, 2017; Swinnen & Rozelle, 2006), also um das Ausmaß des Wandels zu einer Landwirtschaft, die von „peasant farms“, von Bauernhöfen, und eben nicht von „korporatistischen Farmen“ (damit gemeint sind die ehemaligen Kolchosen) dominiert ist. Vielmehr gilt „Individualisierung“, als Euphemismus oder Ersatzbegriff für „Fragmentierung“, da die Individualisierung von Landnutzungsrechten – ihre klare Möglichkeit zur Zuordnung zu konkreten Individuen – erstrebenswert ist. Was unerwünscht ist, ist eine hybride Landschaft, für welche beispielhaft die Ukraine steht, die durch die Koexistenz von großen Agrokonzernen und Kleinbauern gekennzeichnet ist. Wie aber haben es die Länder Zentralasiens mit Ausnahme Kasachstans geschafft, anders als die Ukraine den Wandel von einer Landwirtschaft der Kleinbauern (die zusammen mit den Kolchosen charakteristisch für die sowjetische Vergangenheit war) zu einer Landwirtschaft der individuellen Farmen zu vollziehen? Die Weltbank-Studien und Berichte präsentieren keine Belege, dass so ein Wandel tatsächlich stattgefunden hat. Was als „Individualisierung“, Schaffung von Farmen, präsentiert wird, bezieht sich eigentlich nur auf die Tatsache, dass in diesen Ländern die Kleinbauern ab dem Zeitpunkt des letzten Landtransfers nicht mehr als „rurale Haushalte“ in den Statistiken geführt werden, sondern als „individuelle Farmen“. So erzielte Turkmenistan etwa eine „Individualisierungsrate“ von fast 100 % und Tadschikistan von 86 %, obwohl in beiden Ländern der Staat immer noch der Eigentümer von Agrarland ist und nur die Nutzungsrechte an die Bevölkerung transferiert hat. Skepsis gegenüber solchen Ergebnissen ist in diesen Studien selten, viel wichtiger erscheint dabei die Hierarchisierung der Länder und die Trennung zwischen „erfolgreichen“ Ländern und „laggards“ wie etwa die Ukraine. Besonders positiv wird über Länder wie Tadschikistan in Zentralasien und Republik Moldau in Osteuropa geschrieben, in welchen die Weltbank Pilotprojekte zur Überwindung der Fragmentierung durchführen könnte (Republik Moldau) oder, wie der Weltbank-Berater Zvi Lerman (2017, S.  19) für Tadschikistan schildert, direkten „Druck“ auf die Regierung ausübte, damit diese die Übertragbarkeit der Landtitel gewährleistet. Auf diese Hierarchie geht der

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Weltentwicklungsbericht 2008 explizit ein: Den zentralasiatischen Ländern werden Wachstum, eine erhöhte Produktivität und eine Landreform „zugunsten der Kleinbauern“ bescheinigt, während Russland, der Ukraine und Kasachstan „extreme“ Entwicklungen wie die Präsenz sehr großer landwirtschaftlicher Betriebe zugeschrieben werden. Die Verbreitung dieser Betriebe wird als ein Effekt staatlichen Transfers dargestellt (World Bank, 2007, S. 260). Als Quelle werden die Arbeiten des Experten und Weltbank-Chefökonoms Johan Swinnen herangezogen (Swinnen & Rozelle, 2006). Obwohl „Subsistenz“ ein zentrales Thema des Weltentwicklungsberichtes ist, findet es in der Darstellung der europäischen und zentralasiatischen Länder keine Erwähnung, bis auf die Behauptung, dass die „Liberalisierung und Privatisierung der Farmen und der Lebensmittelunternehmen ursprünglich [in den ersten Reformjahren] einen dramatischen Fall der Produktion und des Verbrauchs verursachten“; die gleichen Faktoren aber hätten in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zu „besseren Anreizen [welche zusammen] mit reformierten Institutionen zu einem Aufschwung und Produktionswachstum führten“ geführt (World Bank, 2007, S. 260). Durch diese Darstellungsweise werden die Widersprüche zwischen den Zielen der Landreform und tatsächlichen Entwicklungen gelöst: Nicht die Fragmentierung der Landwirtschaft infolge der Landreform begünstigte das Aufkommen der großen Agrarkonzerne, sondern die hohen Einnahmen solcher Staaten wie Russland und Kasachstan aus der Erdölund Erdgasförderung, die dann die oben genannten staatlichen Transfers ermöglichten. Dass die Ukraine über solche Einnahmen nicht verfügte, sich aber auch dort Agrarkonzerne etablieren konnten, geriet dabei in den Hintergrund. Ebenso unerwähnt bleibt die Tatsache, dass sowohl Russland als auch die Ukraine den Empfehlungen der Weltbank zufolge die Landnutzungsrechte entsprechend liberalisierten, und zwar in einem Ausmaß, welches mit dem der zentralasiatischen Länder vergleichbar ist. Nicht immer sind sich Weltbank-Berichte und die Studien der WB-Experten einig; Widersprüche zwischen den beiden Arten von Dokumenten werden in den WB-Berichten aber so umgedeutet, dass sie den Thesen der Weltbank doch noch entsprechen, oder ignoriert. Ein großer Widerspruch besteht zum Beispiel bezüglich der Türkei zwischen der laut Weltbank positiven Erfolgsbilanz des Reformprogramms aus dem Jahr 2001 und der tatsächlichen und offenkundigen Perspektive einiger Weltbank-Berater: Die Weltbank schreibt vom Erfolg der Land-Titling-Komponente, die erreichen konnte, dass nicht nur die ursprünglich drei Millionen Grundstücke registriert werden konnten, sondern zusätzlich dazu weitere 8,5 Mio., was den betroffenen Eigentümern ermöglichte, Zugang zu staatlichen Assistenzprogrammen zu bekommen. Die Schlussfolgerung der Weltbank lautete: „Die Gesamtfläche der Grundstücke, über welche Eigentumstitel erlassen wurden, betrug 100.000 km2 oder 10 Mio. ha, was

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größer ist als die Fläche vieler kleinen Länder“ (World Bank, 2009, S. 20). Dagegen wurde aber innerhalb des Weltbank-Wissensnetzwerkes argumentiert, dass die Bank ihre Ziele verfehlt habe; viele kleine Kleinbauern hätten ihre Grundstücke wegen der hohen Kosten nicht registriert. Die Koppelung des Zugangs zum Assistenzprogramm an eine Registrierung habe sogar zu zunehmender Fragmentierung geführt (Akder, 2007, S. 528). Die entsprechende Studie und ihre Implikationen für das Weltbank-Programm bleiben unberücksichtigt, obwohl sie im Weltbank-Bericht zum Türkei-Programm zitiert werden. Widersprüche zwischen Wissensnetzwerk und der Weltbank bestehen zudem bezüglich der Ukraine, die, wie bereits beschrieben, von der Weltbank als Fall einer gescheiterten Landreform angesehen wird. So bestreitet eine Studie aus dem Wissensnetzwerk, dass die Transfers an Kleinbauern eine große Hürde für ein besseres Funktionieren von Firmen darstellen: bis zu 76 % der Unterstützung, die Kleinbauern von den Firmen in ihrer Umgebung bekommen, wird auch zurückgezahlt. Und nur knapp über ein Viertel der Firmen (ehemalige Kolchosen) mussten noch Mitte der 2000er Jahre für wohlfahrtsstaatliche und Infrastruktur-Ausgaben aufkommen (Lerman, Sedik, Pugachov, & Goncharuk, 2007). Obwohl er einzig diese Studie zur Lage der ukrainischen Kleinbauern einbezieht und auf derselben Seite zitiert, widerspricht der Weltbank-Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit der ukrainischen Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion den eigenen Experten und stellt die Firmen als Benachteiligte der bestehenden Arrangements mit Kleinbauern dar: „Landwirtschaftliche Betriebe sind oft gezwungen, eine Vielzahl wichtiger sozialer und infrastruktureller Verantwortlichkeiten im ländlichen Raum zu übernehmen […] Das Ergebnis sind höhere Produktionskosten und weniger Liquidität für landwirtschaftliche Investitionen. Noch schädlicher ist vielleicht die Tatsache, dass die ‚Wahrung des [sozialen] Friedens‘ und die Verwaltung des sozialen Bereichs oft einen großen Teil der Zeit eines Betriebsleiters von Fragen der effizienten Produktion und Vermarktung ablenken.“ (World Bank, 2008, S. 21).

5 Schlussbetrachtungen Welches Wissen produziert die Weltbank in ihren Berichten über die hybriden Landschaften der Landreformen und der Lebensmittelproduktion in postkommunistischen Ländern und in der Türkei? Ein erster Aspekt dieses Wissens ist, dass es die Wichtigkeit der Weltbank-inspirierten Interventionen herunterspielt, wenn die ursprünglichen Ziele nicht erreicht werden. Die ursprünglichen Ziele werden dann aufgegeben oder angepasst, wie etwa im Falle der „Armutsbekämpfung“, das ursprüngliche Ziel der Landreform, und welche durch Ziele wie

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etwa „Individualisierung“ ersetzt wurde. Die Ursachen für verfehlte Ziele werden meist außerhalb der Reformpläne gefunden: Wenn Aserbaidschan, Republik Moldau und Bulgarien von Fragmentierung charakterisiert sind und Kasachstan nicht, obwohl das Land die Eigentumsverhältnisse kaum entsprechend der Weltbank-Pläne reformiert hat, wird dies nicht als Form und Ausmaß der Landreform untersucht. Stattdessen wird behauptet, dank hoher Erdöleinnahmen konnte Kasachstan für die Kosten einer nichtreformierten Landreform aufkommen (Dudwick et al., 2007). Der zentrale Widerspruch zwischen den Empfehlungen der Weltbank und der Wirklichkeit, die sie mitgestaltet hat, bleibt aber, dass die Exportfähigkeit lokaler Produzenten – laut Weltbank ein zentraler Erfolgsindikator – nicht mit dem Stand der Landreform korreliert. Unter den exportstärksten Ländern der eurasischen Region tauchen die Länder auf, die nur wenig getan haben, um die „hybride Landschaft“ mittels einer klaren Trennung von Kleinbauern und größeren Firmen zurückzudrängen, nämlich die Ukraine, Russland, und Kasachstan. Der Weltentwicklungsbericht 2008 konnte diesen Widerspruch lösen, indem er auf die Ressourcen-Abhängigkeit Russlands und Kasachstans verwies und die Ukraine nicht weiter betrachtete. Dies bedeutet, dass Fälle nicht weiter diskutiert wurden (und auch nicht werden), die entgegen der Thesen der Weltbank eben keinen Widerspruch zwischen Agrarkonzernen und kleinbäuerlichen Strukturen belegen. Kleinbauern und ihre Umwelt in diesen Ländern sind auch nicht als „traditionell“ zu bezeichnen. Im Falle Kasachstans sind Kleinbauern laut Weltbank-Daten sogar weniger von Subsistenz betroffen (im Sinne, dass sie viel weniger auf die eigene Produktion als einzige Einkommensquelle angewiesen sind), als solche erfolgreichen Reformländer wie Republik Moldau oder Bulgarien (Dudwick et al., 2007). Die in diesem Beitrag angewendete Wissensregime-Perspektive konnte darstellen, dass trotz der Bemühungen, ihre eigene Reformbereitschaft unter Beweis zu stellen, die Weltbank nach wie vor die Komplexität der eigenen Interventionen herunterspielt und ihre Ergebnisse im Sinne einer starken Präferenz für einen Strukturwandel auslegt. Diese Tendenz besteht auch für die Länder, die von der Weltbank als Erfolgsfälle der Landreform dargestellt werden, wie die Türkei, die zentralasiatischen Länder mit der Ausnahme Kasachstans und die Länder des Kaukasus, mit der Ausnahme Georgiens. Hierin besteht der zweite Widerspruch, zwischen den Versprechungen der Landreformen auf der einen Seite und der Wirklichkeit fragmentierter Eigentums- und Nutzungsrechte auf der anderen. Zwar konnte die Weltbank in den meisten Ländern Registrierungserfolge verbuchen, tatsächlich aber trugen diese wenig zur Verringerung der Subsistenz bei, eher im Gegenteil. Dies wiederum ist jedoch nur unter der Annahme besonders problematisch, dass Subsistenz ein Anachronismus ist, also ein Zeichen einer

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längst obsoleten und traditionellen Landwirtschaft, die es einfach zu überwinden gibt und nicht die letzte Alternative zu Armut. Gegenwärtig ist trotz des angeblichen Wandels der Weltbankpolitik nicht abzusehen, dass die Widersprüche zwischen der Wissensproduktion der Weltbank, ihren Empfehlungen und der Wirklichkeit in absehbarer Zukunft aus der Weltbank heraus aufgelöst werden. Danksagung  Der Autor möchte sich bei Martin Brand, Julia Fülling, Linda Hering, Elmar Kulke, und Rüya Gökhan Koçer für ihre Anregungen und Verbesserungsvorschläge bedanken.

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Mihai Varga ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin, am Lehrstuhl für die Soziologie Osteuropas. Forschungsschwerpunkte: Wirtschaftssoziologie, politische Ökonomie und politische Soziologie (insbesondere wirtschaftliche Liberalisierung und ihre Auswirkungen auf kollektives Handeln und informelle Wirtschaft).

Ausgewählte Publikationen: Bluhm, K., & Varga, M. (Hrsg., 2019). New Conservatives in Russia and East Central Europe. London: Routledge. Bluhm, K., & Varga, M. (2020). Conservative Developmental Statism in East Central Europe and Russia. New Political Economy, 25(4), 642-659, https://doi.org/10.1080/135 63467.2019.1639146. Varga, M. (2014). Worker protests in post-communist Romania and Ukraine: Striking with tied hands. Manchester, New York: Manchester University Press. Varga, M. (2017) Cash rather than contract: The re-emergence of traditional agrifood chains in post-communist Europe. Journal of Rural Studies 53 (2017), https://doi. org/10.1016/j.jrurstud.2017.04.010.

Wissen über Landreformen …

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Varga, M. (2019). From the Qualities of Products to the Qualities of Relations: Value Conventions in the Solidarity Economy in Sicily. Valuation Studies, 6 (1), 63–86. https://doi.org/10.3384/vs.2001-5992.196163. Varga, M. (2020) Poverty reduction through land transfers? The World Bank's titling reforms and the making of „subsistence“ agriculture, online first in World Development Vol. 135, https://doi.org/10.1016/j.worlddev.2020.105058. Webseite: https://www.oei.fu-berlin.de/soziologie/team/team2/varga.html

Teil II Produktionskontext

Game Changer Handy? Die Bedeutung von Informations- und Kommunikationstechnologien für die Einbindung afrikanischer Obst- und Gemüsebauern in internationale Wertschöpfungsketten Peter Dannenberg und Madlen Krone

Die Einbindung afrikanischer Kleinbauern in Wertschöpfungsketten. In Afrika südlich der Sahara war 2017 mit 57 % immer noch der Großteil der Bevölkerung in der kleinbäuerlichen Landwirtschaft beschäftigt (World Bank, 2018). Die meisten dieser Bauern und ihre Familien verfügen über niedrige Einkommen, die ihnen nur geringe Entwicklungsperspektiven (z. B. in Bezug auf Investitionen in den Betrieb oder die Ausbildung der Kinder) ermöglichen. Als eine Strategie zur Verbesserung ihrer Einkommenssituation und damit auch ihrer Entwicklungsperspektiven wurde in den letzten Jahren intensiv die Einbindung in kommerzielle Wertschöpfungsketten diskutiert. Beispiele aus Kenia zeigen, dass gerade in der Produktion von frischem Obst und Gemüse für europäische Supermarktketten vergleichsweise hohe Erlöse erzielt werden und diese Produktion somit die Einkommenssituation für die betroffenen Bauern deutlich verbessern kann (Dijkstra, 1997; Minot & Ngigi, 2003). Die Einbindung in eine kommerzielle Wertschöpfungskette zu erreichen ist allerdings gerade für afrikanische Kleinbauern mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden und daher für viele nicht oder nur mit erheblicher externer Hilfe möglich. So ist neben Kapital für verschiedene Investitionen (z. B. in Lagerräume P. Dannenberg (*) · M. Krone  Universität zu Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Krone E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Baur et al. (Hrsg.), Waren – Wissen – Raum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30719-6_6

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P. Dannenberg und M. Krone

oder spezifische Zulieferprodukte wie chemischen Dünger und Pestizide, die oft von den Abnehmern verlangt werden) auch ein umfangreiches Wissen über die Anforderungen für die Produktion in solchen Ketten fundamental (Dannenberg, 2008; Ouma, 2010). Für alle Ketten ist es zunächst notwendig, ein grundsätzliches Verständnis von landwirtschaftlichen Anbaumethoden und weiteren Kenntnissen etwa zu Organisation von Betrieb und Absatz zu besitzen. Von Vorteil ist zudem der Zugang zu weiteren volatilen Informationen, etwa zu aktuellen Wettervorhersagen, Preisen und weiteren sich ständig verändernden Rahmenbedingungen. Insgesamt lässt sich dieses Wissen als ‚einfaches Wissen‘ zusammenfassen. Vor allem für die Produktion für den Export, in zunehmendem Maße aber auch für inländische Ketten (etwa für nationale Supermärkte) wird zusätzlich weiteres kettenspezifisches ‚komplexeres Wissen‘ benötigt. Hierzu gehören Kenntnisse über internationale Produktionsstandards und die damit verbundenen Bedingungen beispielsweise bei Buchführung, Input-Einsatz, Arbeitsschutz, Hygiene und Umweltschutz (Dannenberg, 2012). Während der Zugang zu einfachem Wissen in der Regel zumindest zum Teil durch bestehende persönliche lokale Netzwerke möglich ist, besitzen die Bauern dagegen im direkten Umfeld in der Regel keinen Zugang zu komplexem Wissen und sind daher auf externe Quellen angewiesen (Krone & Dannenberg, 2018a). War ein mangelnder Zugang zu externem spezifischem Wissen bisher eines der zentralen Hemmnisse für die Einbindung in kommerzielle Wertschöpfungsketten, so hat sich dieses in den letzten Jahren deutlich geändert. Durch die umfangreiche Verbreitung von Mobiltelefonen und mittlerweile in Teilen auch Smartphones und Internet können afrikanische Bauern auch in entlegenen Regionen heute auf ein Wissen zugreifen, wie es noch vor wenigen Jahren für sie kaum vorstellbar war. Gleichzeitig ermöglicht die Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT bzw. IuK-Technologien) die Vernetzung mit Abnehmern und Zulieferern außerhalb der Region oder im digitalen Zahlungsverkehr. Insgesamt liegt der Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien in Subsahara-Afrika und anderen Ländern des Globalen Südens jedoch noch deutlich hinter dem in Europa und anderen Ländern des Globalen Nordens zurück. So wird bislang kaum auf komplexere digitale Anwendungen in der Produktion, im Vertrieb oder im Management zurückgegriffen, weshalb man (in der Landwirtschaft wie auch in anderen Bereichen der Wirtschaft) von einer digitalen Spaltung (digital divide) zwischen Globalem Norden und Süden spricht. Zudem ist der Einsatz von IuK-Technologien bei Kleinbetrieben im Globalen Süden nicht unumstritten. So werden nicht nur die positiven Effekte der

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Technologien, sondern auch mögliche negative Aspekte diskutiert. So können z. B. IuK-Technologien zu einer neuen Barriere beim Zugang zu Märkten und wettbewerbsfähigen Wissen für die Betriebe werden, die IuK-Technologien (noch) nicht nutzen können (digitale Spaltung zwischen den Bauern). Auch wird befürchtet, IuK-Technologien könnten als Überwachungstechnologien eingesetzt werden, um Machtungleichgewichte in Wertschöpfungsketten aufzubauen und auszunutzen (Krone & Dannenberg, 2018b; Murphy, 2013; Murphy & Carmody, 2015). Für Kleinbauern könnten sich so ggf. die Abhängigkeiten gegenüber ihren Abnehmern und die Gefahr eines Kettenausschlusses – etwa, wenn sie neu eingeführten Technologien nicht nutzen (können) – sogar erhöhen. Während sich grundsätzlich diskutieren lässt, wie eine Einbindung von Kleinbauern in globale Wertschöpfungsketten z. B. aus ökologischer und sozialer Perspektive grundsätzlich zu bewerten ist (Bernzen & Dannenberg, 2011; Dannenberg & Kulke, 2014), wird in diesem Beitrag analysiert, inwiefern die Einbindung von Kleinbauern in kommerzielle Warenketten (national und global) durch diese zumindest potentiell disruptiven modernen IuK-Technologien positiv oder auch negative verändert wird. Der Beitrag stützt sich hierfür auf empirische Untersuchungen kommerzieller Gartenbauketten (frisches Obst und Gemüse) im Tansania und Kenia in den Jahren 2013 bis 2015. Im Folgenden wird zunächst der Stand der Forschung zu landwirtschaftlichen Wertschöpfungsketten und der Rolle von IuK-Technologien im Globalen Süden dargestellt und mit der Fragestellung verknüpft. Anschließend identifiziert und diskutiert der Beitrag an Fallstudien zu unterschiedlichen Warenketten wesentliche Wirkungsmechanismen von IuK-Technologien zur Einbindung von Kleinbauern. Dabei wird deutlich, dass sich durch den Einsatz von IuK-Technologien nicht nur der Wissenszugang, sondern auch die Möglichkeiten des Finanztransfers, die Verhandlungsmacht gegenüber dem direkten Käufer und die Auswahl des Absatzweges für die Bauern verändern. Hierbei werden sowohl positive Entwicklungen als auch Grenzen und negative Aspekte unterschiedlicher IKT-Nutzung aufgezeigt. In den letzten 25 Jahren hat sich eine große Zahl wissenschaftlicher Arbeiten mit der Einbindung wirtschaftlicher Aktivitäten in Wertschöpfungsketten beschäftigt. Besondere Bedeutung haben hierbei konzeptionelle Arbeiten zu ‚Global Commodity Chains‘ (GCC), ‚Global Value Chains‘ (GVC) und ‚Global Production Networks‘ (GPN/GPN 2.0) erfahren (Gereffi, Humphrey, & Sturgeon, 2005; Gereffi & Korzeniewicz, 1994; Yeung & Coe, 2015). Hierbei entstanden auch eine ganze Reihe Studien, die sich mit der Einbindung von Bauern des Globalen Südens in landwirtschaftliche Wertschöpfungsketten beschäftigten (Dannenberg & Kulke, 2014; Dannenberg & Nduru, 2013; Dolan & Humphrey, 2000; Franz, Felix, & Trebbin, 2014).

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P. Dannenberg und M. Krone

Durch die Arbeiten zu Wertschöpfungsketten gelang es, verschiede Betrachtungsebenen zu identifizieren, durch die sich die Wertschöpfungsketten unterscheiden und bewerten lassen. Hierzu gehören die Art des Wissens, welches innerhalb der Ketten transferiert wird, die Fähigkeiten, Kapazitäten und Kompetenzen der wirtschaftlichen Akteure sich in die Ketten einzubringen, die Steuerung bzw. Koordination der Kette in Abhängigkeit von unterschiedlichen Machtverhältnissen zwischen den Akteuren und die Verteilung der Wertschöpfung und der hieraus resultierenden Gewinne auf die beteiligten Akteure und Regionen (Gereffi et al., 2005; Henderson, Dicken, Hess, Coe, & Yeung, 2002). Gereffi et al., (2005) entwickelten eine Typologie, nach der sich unterschiedliche Wertschöpfungsketten (Abb. 1) anhand ihrer Steuerungsart in 1. Märkte, 2. modulare Wertschöpfungsketten, 3. relationale Wertschöpfungsketten, 4. gebundene Wertschöpfungsketten und 5. hierarchische Wertschöpfungsketten unterscheiden lassen: Während auf Märkten letztendlich zahlreiche Anbieter ihre Produkte ungesteuert an zahlreiche Anbieter verkaufen, existieren in den Typen 2–4 sogenannte mächtige Leadfirms, die meist aufgrund oligoplistischer Marktstellungen, exklusivem Zugang zu Schlüsseltechnologien oder einem besonders wertvollen Markennamen ihre Zulieferer auswählen, den Zugang zur Kette kontrollieren und Vorgaben an die anderen Kettenteilnehmer geben können (etwa in Form von Prozess- und Produktionsstandards, Lieferfristen oder Preisen). Teilweise kann ein Unternehmen sogar eine Kette komplett selbst übernehmen (Hierachie; vgl. Gereffi et al. 2005 für Details zu allen fünf Ketten).

Abb. 1    Typologie unterschiedlicher Wertschöpfungsketten. (Quelle: übersetzt nach Gereffi et al., 2005)

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Die Art der Steuerung ergibt sich demnach aus: A. der Komplexität des Wissens und der Transaktionen, welche innerhalb der Ketten benötigt werden (‚einfaches Wissen‘ vs. ‚komplexes Wissen‘); B. dem Grad der Kodifizierbarkeit, mit der dieses Wissen (z. B. in Standards oder Blaupausen) vermittelt werden kann; C. den Kompetenzen und Fähigkeiten tatsächlicher und möglicher Kettenakteure im Verhältnis zu den Anforderungen des Wertschöpfungsprozesses. Auch wenn sich tatsächlich existierende Ketten oft nicht eindeutig einem der fünf Typen zuordnen lassen, bietet der Ansatz gute Möglichkeiten der Analyse und Charakterisierung unterschiedlicher Ketten. Lebensmittel wie Obst und Gemüse werden oft über überregionale und internationale Ketten vertrieben, die wesentliche Merkmale relationaler, modularer oder auch gebundener Wertschöpfungsketten besitzen. In diesen Wertschöpfungsketten müssen die Zulieferer komplexe spezifische Produktanforderungen erfüllen, um teilnehmen zu können (wobei oft auch Mischformen und alternative lokale Absatzmärkte bestehen, in denen die Integration leichter ist; siehe unten). Die Zulieferer verfügen allerdings nur über begrenzte Fähigkeiten (wie Wissen und Techniken), um diese Anforderungen umzusetzen. Sie müssen daher i. d. R. präzise Vorgaben durch kompetente Abnehmer (Systemlieferanten) erhalten. Im Obst- und Gemüseanbau sind dies z. B. Prozessstandards, die festlegen, wann und in welchen Mengen die Bauern welche Düngemittel und Pestizide verwenden, welchen Mengen sie zu welchen Terminen produzieren, wie sie ihre Produkte lagern und welche Arbeitsschutzmaßnahmen einzuhalten sind. Diese werden meist durch die Lead firms (große Einzelhandelsketten) und vor Ort durch die Systemlieferanten (z. B. große Exporteure) im Rahmen von Trainings und intensiver Betreuung an die Bauern vermittelt. Dies geschieht oft im Rahmen eines Vertragsanbaus, der die Bauern verpflichtet, ihre Waren exklusiv an die jeweiligen Exporteure zu verkaufen. Entsprechend entsteht ein Machtungleichgewicht, und die Zulieferer stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis, das weit über den Absatz hinausgeht (Dannenberg, 2008; Mithöfer, Asfaw, Elehrt, Mausch, & Waibel, 2007; Ouma, 2010). Die Ansätze zu Wertschöpfungsketten im allgemeinen, aber auch speziell zu landwirtschaftlichen Wertschöpfungsketten (Morgan & Murdoch, 2000; Ouma, 2010) unterstreichen daher die Bedeutung von unterschiedlichen Arten von Wissen und die begrenzten Möglichkeiten, dieses Wissen weiterzuvermitteln, als Schlüsselvoraussetzungen für die Möglichkeiten der Partizipation in Wertschöpfungsketten. Hierbei zeigen verschiedene Studien, dass gerade Kleinbauern im Globalen Süden meist nur begrenzte Fähigkeiten besitzen, komplexes

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P. Dannenberg und M. Krone

Wissen in angemessener Form beziehen. Dies führt dazu, dass sie in den Wertschöpfungsketten nur wenig an den Erlösen des Wertschöpfungsprozesses teilhaben und bestenfalls abhängig in die Steuerungsfunktionen der Kette eingebunden sind (Dannenberg & Nduru, 2013; Ouma, 2010).

1 Informations- und Kommunikationstechnologien im Globalen Süden Jüngere Arbeiten zum Einsatz moderner IuK-Technologien im Globalen Süden weisen darauf hin, dass sich die Situation der Kleinbauern nun verändert: Während die Organisation und Koordination wirtschaftlicher Aktivitäten im Globalen Norden schon seit Jahrzehnten in wesentlichen Bereichen auf modernen, oft sehr komplexen IuK-Technologien basiert, findet in den Ländern des Globalen Südens gerade eine Aufholjagd statt. Hierbei werden verschiedene Schritte der IKT-Entwicklung des Nordens teilweise flächenhaft übersprungen (z. B. Festnetzanschlüsse im ländlichen Raum) und eigene IKT-Lösungen, wie z. B. mobile Bezahlsysteme, entwickelt (Heeks, 2010; Unwin, 2009). Dies hat auch zu der Hoffnung geführt, dass IuK-Technologien in den nächsten Jahren zu massiver wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung beitragen können. Viele Entwicklungsprogramme, u. a. von der Weltbank, der FAO und USAID, unterstützen daher sogenannte ‚ICT for Development Programme‘ (ICT4D), bei denen die Verbreitung und Nutzung von IuK-Technologien aktiv durch Finanzierung und Ausbildungsprogramme gefördert wird (Qiang et al. 2012; United Nations Development Programme [UNDP], 2012; Unwin, 2009). Parallel hat sich eine intensive wissenschaftliche ICT4D Debatte entwickelt, die die Auswirkungen von IuK-Technologien im Globalen Süden analysiert und kritisch diskutiert (Aker & Mbiti, 2010; Graham, 2011; Graham, Andersen, & Mann, 2015; Heeks, 2010; Jagun, Heeks, & Whalley, 2008; Molony, 2008; Murphy& Carmody, 2015; Unwin, 2009). Als typische positive Effekte auch schon einfacher Mobiltelefon- und Smartphone-basierter IKT-Lösungen werden in der Literatur vor allem folgende, sich teilweise überlappende Punkte genannt (Aker & Mbiti, 2010; Hughes & Lonie, 2007; Molony, 2008): • eine generelle Verbesserung der Konnektivität sowohl bei wirtschaftlichen Akteuren als auch im sozialen Bereich (z. B. zwischen entfernt wohnenden Familienmitgliedern); • die Reduzierung von Transaktionskosten (z. B. Reisekosten);

Game Changer Handy?

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• ein verbesserter Zugang zu Wissen (z. B. wettbewerbsrelevantem Wissen über Produkte und Prozesse oder einfache Informationen z. B. zu Markpreisen) und hierbei insbesondere zu externem Wissen (also insbesondere von außerhalb der Region); • eine schnellere Vernetzung und Kommunikation bei der Linderung von Schocks (z. B. bei der Organisation von Katastrophenhilfe); • ein besserer Zugang zu staatlicher und privater Dienstleistungsinfrastruktur (z. B. in den Bereichen Finanzen, Bildung, Gesundheitsvorsorge). Gerade solche einfachen, Mobiltelefon- und Smartphone-basierte IKT-Lösungen konnten sich in den letzten Jahren im Bereich der kleinbäuerlichen Landwirtschaft in vielen Teilen Subsahara-Afrikas einschließlich Kenia und Tansania verbreiten. Hierbei zeigten sich ähnliche Vorteile insbesondere in den Bereichen Finanztransaktionen sowie Wissens- und Informationstransfer, aber auch beim Zugang zu einer größeren Zahl von Abnehmern sowie unterstützenden Organisationen wie z. B. öffentlichen Beratern (Dannenberg & Lakes, 2013; Krone & Dannenberg, 2018a; Molony, 2008; Mukhebi et al., 2007). Dies weist darauf hin, dass sich durch IuK-Technologien auch die Möglichkeiten der Einbindung in kommerzielle Wertschöpfungsketten verbessern können. Umstritten ist, inwiefern IuK-Technologien in landwirtschaftlichen, aber auch anderen Wertschöpfungsketten zu einer wirklichen Transformation der Wertschöpfungsketten führen. Dies wäre beispielsweise gegeben, wenn sich die Wertschöpfungsketten deutlich umstrukturieren würden, etwa indem Akteure ausscheiden, neue Akteure hinzukommen oder z. B. durch Onlineplattformen ganz neue Formen des Waren- und Wissensaustausch entstehen würden. Murphy und Carmody (2015) gehen hier von einer eher dünnen Veränderung („thintegration“) aus, bei der zwar ggf. der Zugang für kleine Betriebe des Globalen Südens in kommerzielle Wertschöpfungsketten verbessert wird, bisherige Wertschöpfungsstrukturen und -steuerungsmechanismen (einschließlich möglicher resultierender Abhängigkeitsverhältnisse) aber bestehen bleiben. Zudem werden auch negative Aspekte der Verbreitung von I­uK-Technologien diskutiert. So kann z. B. der Einsatz von IuK-Technologien zur Voraussetzung werden, um überhaupt an bestimmten Wertschöpfungsketten teilnehmen zu können, da gewissen Transaktionen ggf. nur noch über IuK-Technologien vorgenommen werden. Dies kann zur Ausgrenzung von Kleinbauern führen, die sich die jeweiligen IuK-Technologien nicht leisten oder aber sie nicht bedienen können (Graham, 2011; Norris, 2008). Auch können neue IuK-Technologien wie z. B. Tracking-Systeme dafür eingesetzt werden, Steuerungs- und Kontrollsysteme innerhalb der Ketten auf- bzw. auszubauen und somit problematische

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P. Dannenberg und M. Krone

Abhängigkeitsverhältnisse zum Nachteil kleinerer Zulieferbetriebe durchzusetzen (Carmody, 2012; Heeks, 2014). Schließlich sieht Carmody (2012) die Gefahr, dass die zunehmende Vernetzung und die abnehmenden Transaktionskosten auf globaler Ebene den Wettbewerbsdruck zwischen Produzenten erhöhen und somit die Betriebe unter weiteren Preisdruck setzen. Ausgehend von den Ansätzen zu Wertschöpfungsketten und I­ uK-Technologien im Globalen Süden ist von neuen Möglichkeiten, aber ggf. auch von Problembereichen des Einsatzes von IuK-Technologien für die Einbindung von afrikanischen Kleinbauern in kommerzielle Gartenbau-Wertschöpfungsketten auszugehen. Hierbei ist zu erwarten, dass diese Möglichkeiten und Problembereiche einerseits durch die Art der jeweiligen Kette (Steuerungs- bzw. Koordinationsform und Struktur) als auch durch die Art der IKT-Nutzung beeinflusst werden. Veränderungen sind insbesondere in den Bereichen Wissens- und Informationstransfer, finanzielle Transaktionen sowie Marktzugang und Verhandlungsmacht im Kontext unterschiedlich gesteuerter Ketten zu erwarten. Inwiefern in der aktuellen Entwicklung eher die Vor- oder die Nachteile der IuK-Technologien zum Tragen kommen und welche Wirkmechanismen der IuK-Technologien auf die Warenkette zu erwarten sind, wird im Folgenden am Beispiel eigener empirischer Untersuchungen von kommerziellen Gartenbauketten (frisches Obst und Gemüse) in Tansania und Kenia in den Jahren 2013 bis 2015 dargestellt.

2 Fallbeispiele im kenianischen und tansanischen Gartenbau Für die vorliegende Untersuchung wurden die Obst- und Gemüseanbauregionen Mwanza am Viktoriasee in Tansania und die Mount Kenia Region am gleichnamigen Berg in Kenia ausgewählt (vgl. Abb. 2). Die Landwirtschaft stellt in beiden Regionen den wichtigsten Sektor hinsichtlich Arbeitsplätzen und Einkommen dar (Krone & Dannenberg, 2017; Weinberger & Lumpkin, 2007). Beide Regionen zeichnen sich durch eine hohe Anzahl an Frischobst- und Frischgemüseproduzenten (u. a. grüne Bohnen, Erbsen, Tomaten, Mangos und Avocados) aus, die in unterschiedlich kommerzialisierte Wertschöpfungsketten (z. B. anspruchsvolle Exportketten und eher einfache regionale Ketten) eingebunden sind. Die Regionen wurden ausgewählt, um eine möglichst große Bandbreite typischer Wertschöpfungsketten unterschiedlichen Kommerzialisierungsgrads und unterschiedlicher Nutzung von IuK-Technologienutzung abzudecken: Die Region Mt. Kenia kann mit ihrer langen Exporterfahrung als

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Abb. 2   Untersuchungsregionen und Standorte der Befragungen. (Quelle: Dannenberg & Krone, eigene Darstellung)

Vorreiter bei der Kommerzialisierung des kleinbäuerlichen Gartenbaus gesehen werden, während in der Mwanza Region – wie in vielen andere Gartenbauregionen Afrikas – erst in den letzten Jahren verstärkt für kommerzielle Ketten im In- und Ausland produziert wird (Dijkstra, 1997; Krone, 2017). In beiden Regionen hat die Nutzung von IuK-Technologien – insbesondere von Mobiltelefonen – in den letzten Jahren rasant zugenommen. Während Festnetze aufgrund hoher Kosten kaum ausgebaut wurden, ist mittlerweile der Zugang zu Mobiltelefonnetzen in Tansania und Kenia auch in ländlichen Regionen weit verbreitet. 2016 nutzten bereits 80 % aller Kenianer und 72 % aller Tansanier Mobiltelefone (eglitis-media, 2018). Auch die Internetnutzung (zumeist über Smartphones) hat in den letzten Jahren rasant zugenommen, liegt aber noch deutlich hinter europäischen Verhältnissen zurück (26 % in Kenia und 13 % in Tansania 2016; eglitis-media, 2018). Dies liegt u. a. an den immer noch hohen Kosten für Hardware und Internetzugang (wobei letztere in den letzten Jahren deutlich gesunken sind) und an einem bisher noch relativ geringen Wissen über die Internetnutzung und deren Möglichkeiten (Graham et al., 2015; Murphy, 2013). Insgesamt gibt es in beiden Regionen somit Gruppen, die sich in der Nutzung der IuK-Technologien deutlich unterscheiden (von der Nichtnutzung über die Nutzung einfacher Mobiltelefone bis hin zur Nutzung internetbasierter

168

P. Dannenberg und M. Krone

Dienste), so dass sich durch die Betrachtung dieser Gruppen auch differenzierte Erkenntnisse über die Wirkweisen der IuK-Technologien – einschließlich einer digitalen Spaltung zwischen den Bauern – darstellen lassen. Die im Folgenden dargestellten Ergebnisse stammen aus dem DFG-Forschungsprojekt „Information and communication technology in small scale business based agricultural value chains“ (GZ: DA 1128/4-1). Die Daten hierfür wurden in einem Methodenmix (Creswell, Plano Clark, Gutmann, & Hanson, 2003; Pfaffenbach & Reuber, 2005) erhoben. Dieser beinhaltete in beiden Regionen insgesamt 61 qualitative Interviews mit Bauern, Akteuren der Wertschöpfungskette (Zulieferer, Mittelsmänner, Großhändler, Exporteure) und weiteren Beteiligten (private und staatliche Dienstleister, Mitglieder von Nichtregierungsorganisationen, Forschern), um unterschiedliche Perspektiven auf den Untersuchungsgegenstand zu bekommen. Daneben enthielt der Methodenmix eine standardisierte Befragung von insgesamt 368 Bauern (192 in der Mount Kenia Region und 176 in der Mwanza Region) auf Basis einer Zufallsstichprobe. Tab. 1 gibt einen Überblick über wesentliche Merkmale der befragten Bauern. Berücksichtigt wurden Kleinbauern (landwirtschaftliche Nutzfläche unter 5 ha), die zumindest teilweise frisches Obst und Gemüse für den Verkauf in kommerzielle Ketten (also über einen Händler und nicht für den direkten Verkauf am eigenen lokalen Stand) produzieren. Die meisten von ihnen besaßen eine einfache Schulbildung (69 %) und waren männlich, wobei letzteres für den Verkauf in kommerzielle Ketten anders als beim Direktverkauf typisch ist (Velte & Dannenberg, 2014). Aus Tab. 1 wird außerdem deutlich, dass der Anteil der Bauern, die ein Mobiltelefon geschäftlich nutzen, mit 91 % sogar noch über dem jeweiligen Landesdurchschnitt liegt. Dies unterstreicht einerseits die hohe Relevanz von IuK-Technologien und die fast völlige Durchdringung der dortigen kleinbäuerlichen Landwirtschaft mit Mobiltelefonen, andererseits ist die extrem hohe Verbreitung von Mobiltelefonen gerade im Bereich selbstständiger Kleinstunternehmer auch in anderen Sektoren typisch. Neben dem Telefonieren und Austausch von Textnachrichten mit Geschäftspartnern (v. a. Zulieferer, Abnehmer, öffentliche Landwirtschaftsberater und andere Bauern) nutzt die deutliche Mehrheit der Befragten auch mobile Bezahlsysteme wie M-Pesa, mit denen sich Geld direkt und unkompliziert per SMS auch auf einfachen Mobiltelefonen versenden und empfangen lässt.

Game Changer Handy? Tab. 1  IKT Nutzung und wesentliche Merkmale der befragten Bauern. (Quelle: Dannenberg & Krone, eigene Berechnung)

169 Merkmale der Bauern (N  = 368)

%

Aus Mt. Kenya Region

52

Aus Mwanza Region

48

IKT-Nutzer

91

– Telefonieren mit Mobiltelefon

91

– SMS

67

– Mobile Bezahlsysteme (via SMS)

64

– Internet

13

Keine IKT-Nutzer

9

50 Jahre alt

17

Grundschulbildung

69

Über Grundschulbildung

31

Weiblich

31

Männlich

69

3 Typische Wertschöpfungskettenformen mit unterschiedlichen Anforderungen Für die befragten Bauern gibt es unterschiedliche Formen, sich in kommerzielle Ketten einzubringen (vgl. Abb. 3). Insgesamt produzieren die untersuchten Bauern für vier typische Wertschöpfungskettenformen (wobei weitere Mischformen bestehen und manche Bauern auch für mehrere Ketten produzieren): exportorientierter Vertragsanbau (Form I), exportorientierter Verkauf über Mittelsmänner (Form II), regionaler Absatz über Mittelsmänner (Form III) und regionaler Absatz über Großhändler (Form IV; vgl. ähnliche Differenzierungen bei Eskola, 2005; Ouma, 2010).

3.1 Form I: exportorientierter Vertragsanbau Die Produzenten der Form I sind in der Regel in einem Vertragsanbausystem integriert, das aus einem Exporteur besteht, der selbst auch einen großen landwirtschaftlichen Betrieb besitzt, sowie aus einer gewissen Zahl von

170 Form der Wertschöpfungskee Zielmarkt

P. Dannenberg und M. Krone I Export über II Export über Vertragsanbau Mielsmänner Export

III regional über IV regional über Mielsmänner Großhändler inländisch

Wertschöpfungskeenstruktur

Verteilung

33% (n=114)

20% (n=74)

40% (n=148)

7% (n=24)

Direkte Koordinaonsform

Vertrag mit Systemlieferant

marktbasiert

marktbasiert

marktbasiert

Abb. 3   Wertschöpfungskettenformen der untersuchten Kleinbauern (vereinfacht). (Quelle: vgl. Krone & Dannenberg, 2017, eigene Darstellung)

Kleinbauern, die für den Exporteur produzieren. Die Kleinbauern verkaufen direkt und exklusiv an den Exporteur. Die Teilnahme an Form I geht mit hohen Anforderungen an die Bauern einher. Um für den Export zu produzieren, müssen die Bauern Qualitätsstandards einhalten und relativ komplexe Produktionstechniken beherrschen (siehe auch Gereffi et al., 2005). Diese Anforderungen setzen ein hohes Maß an spezifischem Wissen (z. B. zu Einsatz von Inputs, Bewässerung, Buchführung, Arbeitsschutz, Hygiene, Lagerung, Terminierung der Arbeitsschritte) voraus, dass über klassische, lokal angelernte Fähigkeiten hinausgeht. Entsprechend kann dieses Wissen in aller Regel nicht lokal erworben werden. Daher unterstützen und kontrollieren die Exporteure (vergleichbar dem Systemlieferanten in Abb. 1) die Kleinbauern regelmäßig durch professionelle technische Berater, die das spezifische Wissen z. B. in Trainings an einzelne Bauern oder organisierte Gruppen innerhalb des Vertragsanbaus vermitteln.

3.2 Form II: exportorientierter Verkauf über Mittelsmänner Eine weitere Möglichkeit, für eine Exportwertschöpfungskette zu produzieren, ist der Verkauf über Mittelsmänner (Form II). Im Gegensatz zu den Exporteuren arbeiten die Mittelsmänner unabhängig und erwerben kleinere Produktmengen von mehreren Kleinbauern, die sie dann sammeln und an verschiedene

Game Changer Handy?

171

Exporteure, Großhändler oder andere Mittelsmänner verkaufen. Mittelsmänner sind deutlich kleiner (i.  d.  R. selbstständige Einzelpersonen) und weniger professionell organisiert als Exporteure. Sie besitzen in der Regel keine eigenen Transportmittel oder Kühlungsvorrichtungen. Auch verfügen sie kaum über spezifisches landwirtschaftliches Wissen und bieten keine Beratung an. Die Beziehung zwischen Produzent und Mittelsmann ist durch marktbasierte Strukturen gekennzeichnet, d. h. es bestehen einfache preisbasierte Transaktionen, keine Verträge und nur geringe Zusammenarbeit zwischen Käufer und Produzent (Dannenberg & Nduru, 2013; Gereffi et al., 2005), wobei die Kette insgesamt in der Regel durchaus weitere Steuerungselemente (z. B. Standards) durch mächtige Käufer am Ende der Kette aufweisen kann. Mittelsmänner und Produzenten stammen meistens aus der gleichen Region und kennen sich daher oft gut persönlich, so dass meist ein guter Austausch besteht. Insbesondere für abgelegene Produzenten sind Mittelsmänner oft die einzige Marktoption; hier agieren die Mittelsmänner als Bindeglied zwischen den Bauern und ihnen unbekannten Käufern (vgl. Mithöfer, Nang’ole, & Asfaw, 2008). Je nachdem, wie streng die Abnehmer der Mittelsmänner die Ware kontrollieren, müssen die Bauern spezifisches Wissen über den Exportanbau erlernen und umsetzen. Dies erfordert den Zugang zu alternativen Wissensquellen, etwa durch öffentliche Berater (Dannenberg & Nduru, 2013).

3.3 Form III: regionaler Absatz über Mittelsmänner Auch in Form III läuft der Verkauf über Mittelsmänner mit vergleichbaren Merkmalen wie in Form II. Diese verkaufen an Großhändler, die dann wiederum weitere Großhändler oder Einzelhändler beliefern. Teilweise bieten sogar dieselben Mittelmänner Zugang in beide Formen von Wertschöpfungsketten an. Anders als in Form II liegt der Markt hier jedoch in der Region. Hier sind die Anforderungen an das Produkt und die Produktionstechniken deutlich niedriger als in der Exportkette, sodass kaum spezifisches Wissen benötigt wird, welches über den Kenntnisstand der Bauern hinausgeht. Allerdings werden oft auch entsprechend niedrigere Marktpreise als für Exportprodukte erzielt. Typische Merkmale der Form III sind ebenfalls marktbasierte Beziehungen.

172

P. Dannenberg und M. Krone

3.4 Form IV: regionaler Absatz über Großhändler Die letzte Form der Wertschöpfungskette beliefert ebenfalls regionale Märkte, allerdings besteht ein direkter Kontakt zu Großhändlern mit eigenen Fahrzeugen, die deutlich größere Mengen handeln als Mittelmänner und nicht aus der Region stammen. Persönliche Kontakte zwischen Bauern und Händlern bestehen hier kaum. Die Koordinierungsstruktur ist marktbasiert. Es gibt weder eine geregelte Koordinierung und Kontrolle, noch existieren Verkaufsvereinbarungen (vgl. auch Eskola, 2005). Insgesamt sind die Beziehungen hier sehr lose, und Bauern bringen ihre Waren oft zu sogenannten Sammelstellen (‚Collect-Points‘), wo sie ohne vorherige Absprache auf fahrende Händler treffen und die Ware direkt verkaufen. Die Darstellung der unterschiedlichen Kettenformen macht deutlich, welche unterschiedlichen Herausforderungen – gerade in Hinblick auf Wissen und Kompetenzen – für die Kleinbauern bestehen, wenn sie sich in eine solche Ketten integrieren wollen. Anders als beim Vertragsanbau gestaltet sich der Verkauf in den Ketten II bis IV freier, ist aber auch durch höhere Unsicherheit und oft niedrigere Erlöse gekennzeichnet (insbesondere in Form IV). Zudem besteht in Form II bis IV immer ein Risiko, ob die Bauern ihre verderbliche Ware tatsächlich rechtzeitig verkaufen können.

4 Nutzung von IuK-Technologien Vor dem Hintergrund der oben dargelegten Potenziale von IuK-Technologien lässt sich erwarten, dass die Nutzung selbst einfacher Kommunikationstechnologien wie Mobiltelefonen helfen kann, diese Herausforderungen zu bewältigen. Dabei ist allerdings auffällig, dass auch die Nutzung der unterschiedlichen IuK-Technologien und deren Bedeutung für die Wertschöpfungskette sich je nach Form unterscheidet (vgl. Tab. 2). Nur drei von 183 befragten Bauern, die für Exportwertschöpfungsketten (Form I und II) produzieren, gaben an, keine IuK-Technologien zu benutzen. Laut Experteninterviews ist dies nur bei sehr engen Beziehungen innerhalb des Vertragsanbaus (Form I) möglich. Auch in Form III hat sich die IKT Nutzung weitestgehend durchgesetzt. Lediglich in Form IV verwendete mit 42 % zum Zeitpunkt der Befragung noch ein erheblicher Teil der Bauern keine IuK-Technologien für ihr Geschäft. Tatsächlich konnten verschiedene Bereiche identifiziert werden, in denen die Nutzung unterschiedlicher IuK-Technologien eine erhebliche Bedeutung besitzt und in denen IuK-Technologien für alle vier Formen der Einbindung in

Game Changer Handy?

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Tab. 2   Nutzung von IKTs nach Form der Einbindung in kommerzielle Wertschöpfungsketten. (Quelle: Krone & Dannenberg 2018) Wertschöpfungskettenform

Handy und Internet

Handy

Keine IKT-Nutzung

I Export über Vertragsanbau

16 % (18) +

81 % (90) +

3 % (3) +

II Export über Mittelsmänner

24 % (17) *

76 % (55)*

0 % (0)*

III regional über Mittelsmänner 3 % (4)+

84 % (124)*

13 % (19)*

IV regional über Großhändler

4 % (1)*

54 % (13)

42 % (10)*

Gesamt

11 % (40)

80 % (282)

9 % (32)

(t-test: +α