Wandelbarkeiten des Antisemitismus: Zur Stellung des Antisemitismus in der Rassismus-, Ethnizitäts- und Nationalismusforschung 9783839462706

Der Antisemitismus ist ein gleichermaßen langlebiges wie veränderbares Phänomen der Ausgrenzung. Seine inhomogene Verbre

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus: Zur Stellung des Antisemitismus in der Rassismus-, Ethnizitäts- und Nationalismusforschung
 9783839462706

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Oliver Marusczyk Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Sozialtheorie

Für Thomas. Das, was war und immer bleibt.

Oliver Marusczyk (Dipl.-Pol.) promovierte an der BTU Cottbus-Senftenberg am Lehrstuhl für Interkulturalität. Seine Forschungsschwerpunkte sind Antisemitismus, Ungleichheitssoziologie und Kultursoziologie.

Oliver Marusczyk

Wandelbarkeiten des Antisemitismus Zur Stellung des Antisemitismus in der Rassismus-, Ethnizitätsund Nationalismusforschung

Publiziert mit freundlicher Unterstützung der FAZIT-Stiftung und der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg.

Diese Dissertation wurde unter dem Titel »(Re-)locating Antisemitism. Zur Stellung des Antisemitismus in der Rassismus-, Ethnizitäts- und Nationalismusforschung« an der BTU Cottbus-Senftenberg zur Promotion zugelassen. Gutachter: Prof. Dr. Anna Amelina, Prof. Dr. Johannes Heil

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6270-2 PDF-ISBN 978-3-8394-6270-6 https://doi.org/10.14361/9783839462706 Buchreihen-ISSN: 2703-1691 Buchreihen-eISSN: 2747-3007 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

1 1.1 1.2 1.3

1.4

1.5

Einleitung................................................................................ 11 Einordnung des Forschungsinteresses .................................................... 11 Theoretische Leerstellen und Forschungsinteresse ........................................ 14 Auf dem Weg der Konstruktion eines taxonomischen Konzeptes antisemitischer Grenzziehungsprozesse und seiner programmatischen theoretischen Elemente (Kapitel 2, 3, 4, 5, 6) .............................................. 19 Der kulturelle Bedeutungswandel antisemitischer Zuschreibungen: Eine empirische Rekonstruktion gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse soziokultureller Grenzziehungen (Kapitel 7, 8, 9, 10) ....................................... 23 Konklusion .............................................................................. 25

Teil 1: Auf dem Weg der Konstruktion eines taxonomischen Konzeptes antisemitischer Grenzziehungsprozesse 2

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

2.6

Eine intersektionale Grenzziehungsperspektive auf die Mehrdimensionalität antisemitischer Unterscheidungslinien Programmatische theoretische Grundlegung einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungsprozesse ................................ Antisemitismus als kultureller Code: Die anpassungsfähigen Stereotypisierungen der jüdischen Figur des Dritten .............. Kultur als Aushandlungsprozesse von Bedeutung: Zum Cultural Turn der Sozialwissenschaften.............................................. Grenzziehungsprozesse als soziokulturelle Mechanismen der In- und Exklusionen ......... Zur dynamischen Variabilität von Grenzziehungsprozessen: Der ethnic boundary making approach .................................................... Das mehrdimensionale Zusammenspiel antisemitischer Klassifikationsrepertoires: Eine Heuristik der intersektionalen Ungleichheitsforschung ............................................. Zwischenfazit und Implikationen für die Forschungsfrage ................................

29 30 36 40 45

52 56

3 3.1 3.2

3.3 3.4 3.5 4 4.1 4.2

4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 5 5.1 5.2

5.3 5.4 5.5

5.6 5.7

Zur Konzeptualisierung von rassialisierten Narrativen des Antisemitismus Antisemitismus und »Rasse« ............................................................ »Situating Racism« – Eine allgemeine Annäherung an den Gegenstandsbereich der Rassismusforschung................................................................. Dominante paradigmatische Perspektiven der Rassismusforschung – Eine Diskussion über ihre analytischen Potenziale für die Untersuchung antisemitischer Grenzziehungsprozesse.................................................. Rassialisierte Kontingenz in soziokulturellen Konstruktionsprozessen antisemitischer Grenzziehungen ......................................................... »Cultural stuff matters«? – Die ambivalente Stellung von Mechanismen der Kulturalisierung in Rassenkonstruktionsprozessen.................................... Zwischenfazit und Implikationen für die Forschungsfrage ................................

59 60

62 65 73 80

Zur Konzeptualisierung von ethnisierten Narrativen des Antisemitismus Antisemitismus und »Ethnizität« ........................................................ 83 »Situating Ethnicity« – Eine allgemeine Annäherung an den Gegenstandsbereich der Ethnizitätsforschung .................................... 84 Dominante paradigmatische Perspektiven der Ethnizitätsforschung – Eine Diskussion ihrer analytischen Potenziale für die Untersuchung antisemitischer Grenzziehungsprozesse.................................................. 86 Eine de-essentialisierende Perspektive auf die diskursive Positionierung des jüdischen »Fremden« .............................. 89 »Politics of Belonging« – Zugehörigkeitstheoretische Perspektiven auf ethnisierte Differenzkonstruktionen in antisemitischen Grenzziehungsprozessen ...... 97 »Säkularität«, »Antijudaismus« und »muslimischer Antisemitismus« – Ethno-religiöse Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen ............ 103 Doing Ethnicity – »Ethnizität« als Struktur- und Prozesskategorie ....................... 108 Zwischenfazit und Implikationen für die Forschungsfrage ................................ 112 Zur Konzeptualisierung von nationalisierten Narrativen des Antisemitismus Antisemitismus und »Nation«............................................................ 115 Situating Nationalism – Eine allgemeine Annäherung an den Gegenstandsbereich der Nationalismusforschung ................................. 116 Dominante paradigmatische Perspektiven der Nationalismusforschung – Eine Diskussion ihrer analytischen Potenziale für die Untersuchung antisemitischer Grenzziehungsprozesse.................................................. 118 Die soziale Konstruktion des »Nationalen« – Prozessuale Charakteristika nationaler Vergemeinschaftungen........................................................ 122 Die Stellung des jüdischen »Anderen« in nationalisierten Grenzziehungsprozessen ........126 »Staatsbürgerlich-zivile« und »primordial-ethnische« Idealtypen des »Nationalen« – Die symbolische Dimension nationaler Vergemeinschaftungsprozesse ............................................... 130 Nationale Narrative als Homogenisierungsmechanismen nationaler Vergemeinschaftungen........................................................ 137 Der jüdische »Störenfried« kollektiver Erinnerungsprozesse ............................. 141

5.8 Zwischenfazit und Implikationen für die Forschungsfrage ................................145 6

Eine systematisch synthetisierende Zusammenführung des Theorievergleiches und die deduktive Konzeptualisierung eines taxonomischen Modells antisemitischer Grenzziehungsprozesse ................................................ 149 6.1 Programmatische Merkmale einer prozessorientierten Taxonomie antisemitischer Grenzziehungen .........................................................150 6.2 Methodologische Vorüberlegungen über die Konstruktionsprinzipien einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungsprozesse................................ 163 6.3 Besondere Merkmale einer Taxonomie multidimensional verschränkter Grenzziehungen: Eine Darstellung ihrer Analyseebenen ...166 6.4 Konklusion: Abschließende Betrachtung der Vorteile einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungen ......................................................... 175 7

Ein Forschungsdesign zur empirischen Untersuchung der (Dis-)Kontinuität und Wandelbarkeit antisemitischer Grenzziehungen .............. 179 7.1 Grundlagen des Forschungsprogramms der Wissenssoziologischen Diskursanalyse ....... 180 7.2 Zur Methodischen Umsetzung der WDA – Auf dem Weg zu ihrer Operationalisierung........ 181 7.3 Der analytische »Werkzeugkasten« der Wissenssoziologischen Diskursanalyse ...........184 7.4 Korpusbildung und Analyse ............................................................. 188

Teil 2: Diskurse der Grenzziehung im Bedeutungswandel der Zeit 8

8.1 8.2 8.3

8.4 8.5 8.6

9

9.1

Das Diskursereignis der Walser-Bubis-Debatte Eine Wissenssoziologische Diskursanalyse von Konstruktionsmechanismen der antisemitischen Grenzziehung ...................................................... 203 Historische Hintergründe und politische Kontexte der Walser-Bubis-Debatte ............. 204 »Schuld«, »Schande« und »Gewissen« – Erinnerungsdiskurse als mehrdimensionale Grenzziehungsprozesse des Antisemitismus ...................... 207 »Das Weltjudentum ist eine Jroße Macht« – Antisemitische Klassifikationsrepertoires in mehrdimensionalen Grenzziehungsprozessen .......................................... 219 Taxonomie der Analyseebene von Grenzziehungsstrategien: Eine Übersicht über antisemitische Kategorien der Praxis in der Walser-Bubis-Kontroverse.................... 231 »Die Erinnerungspolitik wird mit und ohne Walser universalistischer.« – Mechanismen des boundary blurring in der Walser-Bubis-Debatte ........................ 234 Taxonomie der Analyseebenen von Mechanismen des Boundary Blurring: Strategien der Grenzverwischung in der Walser-Bubis-Kontroverse....................... 238 Das Diskursereignis der Beschneidungsdebatte Eine Wissenssoziologische Diskursanalyse von Konstruktionsmechanismen der antisemitischen Grenzziehung ....................................................... 241 »Das Zeichen des Bundes«: Das gerichtliche Verbot der »Brit Mila« in ihrem historischen und politischen Kontext............................ 242

9.2 »Man tut Kindern nicht weh, man macht ihnen keine Angst.« – Das Stereotyp »jüdischer Grausamkeit« als antisemitische Praxiskategorie in medizinischjuristischen Spezialdiskursen ........................................................... 245 9.3 »ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten« – Ethno-rassialisierte Kulturalisierungen der jüdischen Glaubenspraxis .................... 254 9.4 Taxonomie der Analyseebene von Grenzziehungsstrategien: Eine Übersicht über antisemitische Kategorien der sozialen Praxis in dem öffentlichen Diskurs der Beschneidungsdebatte.................................. 269 9.5 Boundary Blurring: Strategien der Grenzverwischung in der Beschneidungsdebatte ....... 272 9.6 Taxonomie der Analyseebene von Mechanismen des boundary blurring: Eine Übersicht über Strategien der Grenzverwischung in dem öffentlichen Diskurs der Beschneidungsdebatte...................................................... 276 10

10.1 10.2

10.3

10.4

10.5 10.6

11

Das Diskursereignis der Gaza-Demonstrationen Eine Wissenssoziologische Diskursanalyse von Konstruktionsmechanismen der antisemitischen Grenzziehung in dem öffentlichen Diskurs der Gaza-Proteste ........ 279 Historische Hintergründe und politische Kontexte des Diskursereignisses der Gaza-Demonstrationen im Sommer 2014 ..................... 280 »Jude, Jude feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein« – Antisemitische Klassifikationsstrategien muslimischer Akteur*innen im Kontext der Gaza-Proteste ...................................................................... 283 Grenzen der »Willkommenskultur – Mechanismen der Invisibilisierung antisemitischer Überzeugungen der Mehrheitsgesellschaft in Prozessen der Grenzziehung ......................................................... 290 Taxonomie der Analyseebene von Grenzziehungsstrategien: Eine Übersicht über antisemitische Kategorien der Praxis in dem öffentlichen Diskurs über die Gaza-Demonstrationen ................................................................. 309 Boundary Blurring: Strategien der Grenzverwischung in der öffentlichen Debatte über die Gaza-Demonstrationen.......................................................... 311 Taxonomie der Analyseebene von Mechanismen des boundary blurring: Eine Übersicht über Strategien der Grenzverwischung in dem öffentlichen Diskurs über die Gaza-Demonstrationen.......................................................... 317

Zusammenfassende Schlussbetrachtung Analytische Potenziale und Anschlussfähigkeiten einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungsprozesse.................................................. 319 11.1 Der Kulturelle Bedeutungswandel antisemitischer Grenzziehungen im Wandel der Zeit: Über das Zusammenspiel von Theorie und Empirie innerhalb der Taxonomie .... 320 11.2 Ein Plädoyer für Kontingenz – Warum ein reflexiv-ethischer Werkzeugkasten zur Analyse antisemitischer Grenzziehung der Komplexität des Phänomens gerecht werden kann................................... 324 11.3 Wie profitiert die Antisemitismusforschung von dem analytischen Werkzeugkasten? ..... 327 11.4 Wie profitieren die Forschungsfelder der Ethnizitäts-, Rassismus-, Nationalismus- und Antisemitismusforschung von dem analytischen Werkzeugkasten?... 328

11.5 Wie profitieren Zugänge und Modelle im Anschluss an das Grenzziehungsparadigma von dem analytischen Werkzeugkasten? ....................... 328 12

Literaturverzeichnis ................................................................... 331

13 Anhang ................................................................................. 371 13.1 Dokumentenverzeichnis: Analysierte Dokumente (Feinanalyse) ........................... 371 13.2 Tabellen- und Abbildungsverzeichnis.................................................... 373

1

1.1

Einleitung

Einordnung des Forschungsinteresses »Aber es gibt keine Antisemiten mehr.« (Adorno und Horkheimer 2008: 209)

Mit diesen apodiktischen Worten beschließen die kritischen Gesellschaftstheoretiker Theodor W. Adorno und Max Horkheimer ihren Aufsatz »Elemente des Antisemitismus«, den sie im amerikanischen Exil begonnen und nach dem zweiten Weltkrieg beendet haben. Damit rekurrieren die beiden maßgeblichen Vertreter der Frankfurter Schule jedoch weniger auf ein plötzliches Verschwinden des Antisemitismus nach Kriegsende, sondern auf die paradox anmutende Tatsache, dass sich bekennende Antisemit*innen in den öffentlichen Diskursen der (westlichen) Post-Holocaust-Gesellschaften nur noch selten identifizieren ließen. Verschwunden war nicht der Antisemitismus, sondern das bis dahin noch gesellschaftlich legitim erscheinende, ostentativ vorgetragene Bekenntnis überzeugter Antisemit*innen zum Judenhass. Die Ironie dieser Sentenz bestand nun darin, dass antisemitische Vorstellungen über eine spezifisch »jüdische« Differenz weiterhin feststellbar waren. Was sich hingegen verändert hatte, waren die Artikulationsweisen des Antisemitismus selbst. Nach Detlev Claussen beruht diese Einsicht auf einem Formwandel antisemitischer Diskurse und Sinnkonstruktionen: »Der Antisemitismus, der zu Auschwitz führte, und der Antisemitismus nach Auschwitz sind nicht identisch« (Claussen 1987: 8). Wie lässt sich das transformatorische Moment der Erscheinungsform antisemitischer Imaginationen aber erklären? Die Antisemitismusforscher Werner Bergmann und Reiner Erb untersuchten die dynamische Flexibilität symbolischer Ordnungen des Antisemitismus in einer wegweisenden Studie am Beispiel des Fortdauerns antisemitischer Ressentiments nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass die Artikulation der bis dahin gesellschaftlich vorherrschenden rassistischen, genauer rassenbiologistischen Antisemitismen nach dem Ende des Nationalsozialismus und nach der um-

12

Wandelbarkeiten des Antisemitismus

fassenden Kenntnis über den Massenmord an den europäischen Jüd*innen1 öffentlich tabuisiert, strafrechtlich sanktioniert und in einen halböffentlichen Latenzraum verschoben wurde (Bergmann und Erb 1986; 1991). Dabei führte das Kommunikationstabu für offen antisemitische Pejorationen, das auf Druck gesellschaftlicher und politischer Eliten in der Bundesrepublik Deutschland errichtet wurde, nicht zu einem Verschwinden antisemitischer Wahrnehmungsweisen, sondern zu ihrer Artikulation abseits des öffentlichen Raumes (Bergmann und Erb 1986; 1991; Beyer und Krumpal 2010: 685). Weil aber Bewusstsein, in Anlehnung an Niklas Luhmann, zur Kommunikation drängt (Bergmann und Erb 1991: 276), resultiert die delegitimierende Wirkung der Vorurteilsrepression (Heitmeyer und Bergmann 2005) in einer Themenverschiebung antisemitischer Zuschreibungen hin zu der Umwegkommunikation (Bergmann und Erb 1986) von Artikulationen in einen sagbaren Bereich des diskursiv Möglichen. Unter veränderten soziosymbolischen Kontextbedingungen lässt sich daher eine Transformation traditioneller Stereotype, Mythen und Vorstellungen beobachten, in deren Folge Jüd*innen als ungleichartig klassifiziert und abgewertet werden (Zick und Küpper 2011: 10f.). Als häufig verwendete Projektionsfläche für die Kommunikation antisemitischer Sinnzuschreibungen fungiert nach Heyder, Iser und Schmidt (2005) der jüdische Staat Israel, der in kollektiven Wissensordnungen als collective jew (Klug 2003) oder »Symbol jüdischen Lebens« (Schwarz-Friesel, Friesel und Reinarz 2010: 6) repräsentiert wird, und daher als exemplarisches Symbol für eine antisemitische Umwegkommunikation gelten kann. Daneben stellt insbesondere in den (westlichen) Post-Holocaust-Gesellschaften der sogenannte sekundäre Antisemitismus ein zentrales Deutungsrepertoire antisemitischer Umwegkommunikationen bereit. Die als »sekundärer« (Scherr und Schäuble 2007: 61; Beyer 2015: 583) und auch als »Schuldabwehr-Antisemitismus« (Stender 2010: 13; Bergmann 2010) bezeichneten Formen der Judenfeindschaft gelten als Deutungstropen, die Jüd*innen unterstellen, einen materiellen oder politischen Vorteil aufgrund des Holocaust gewinnen zu wollen. Als Zuschreibungen des sekundären Antisemitismus zählen auch Täter-Opfer-Umkehrungen, in deren Folge Jüd*innen als »Täter-Volk« imaginiert werden, wodurch zusätzlich der Massenmord an den europäischen Jüd*innen relativiert wird (Rabinovici und Sznaider 2019: 10; Bergmann 2010: 301). In weiteren assoziativen Kontexten werden Konstruktionen antisemitisch codierter Gruppendifferenzen abgerufen, um einen besonderen jüdischen Einfluss auf Politik, Massenmedien und (Finanz-)Wirtschaft hervorzuheben, sodass sich klassisch antisemitische Motive des gleichermaßen verschwörerisch wie machtvollen agierenden jüdischen »Einflüsterers« oder »Strippenziehers« re-aktualisieren. Diese soziokulturell angepassten Repertoires antisemitischer Zuschreibungen reichen als abrufbares, legitimes Wissen über die Sicht- und Teilungsprinzipien der sozialen Welt bis weit in die gesellschaftliche und politische Mitte und umfassen damit breite Bevölkerungsschichten (Schwarz-Friesel, Friesel und Reinarz 2010).

1

Diese Arbeit versucht, möglichst konsequent eine gendergerechte Sprache zu verwenden. An gewissen Stellen, die für die Argumentation notwendig sind, werden explizit weibliche oder männliche Formen verwendet. Insbesondere werden männliche Formen dann verwendet, wenn es um die Wiedergabe antisemitischer Zuschreibungen und Diskurse geht.

1 Einleitung

Dabei haben sich offen kommunizierte antisemitische Verbalinjurien und Herabsetzungen von Jüd*innen nicht vollständig in einen halböffentlichen Latenzbereich diskursiver Praxis verschoben. Ihre Äußerungsmodalitäten sind inzwischen zum größten Teil auf rechtsextremistische Kreise oder auf muslimisch-migrantische Milieus beschränkt (Glöckner und Jikeli 2019: 8; Botsch 2019). Gleichzeitig nimmt die faktische Bedrohungslage für Jüd*innen in Europa und USA weiter zu. Immer häufiger werden jüdische Institutionen Ziele islamistischer Anschläge (Rabinovici und Sznaider 2019: 12; Glöckner und Jikeli 2019: 13ff). So geschehen bei dem Angriff auf eine jüdische Religionsschule in Toulouse, bei der Tötung von vier Jüd*innen in einem koscheren Supermarkt in Paris 2015, bei dem Anschlag auf das jüdische Museum in Brüssel 2014 oder auf die Kopenhagener Synagoge 2015 (Embacher 2019: 17). Alleine in Frankreich wurden zwischen den Jahren 2006 und 2018 elf Jüd*innen von Muslim*innen aus antisemitischen Motiven ermordet (Preitschopf 2019: 76-83).2 Wird allerdings die Gewalt gegen Jüd*innen auf einen islamisierten Antisemitismus monokausal beschränkt, werden dabei Diskurse eines vermeintlich importierten Antisemitismus (Rohde 2019; Cheema 2017; Brumlik, 2016) übernommen und die evidente Gefahr für jüdisches Leben verkannt, die nach wie vor von dem völkisch-rassistischen Antisemitismus der radikalen Rechten ausgeht. Hierfür stehen emblematisch das Attentat in der Tree-of-Life Synagoge in Pittsburgh 2018 oder der versuchte Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019, bei der es zwei (nicht-jüdische) Todesopfer zu beklagen gab. Gleichwohl sind auch hier Transformationen zu erkennen, die sich etwa in Organisations- und Täterstrukturen oder auch in rechten Kommunikationskanälen bemerkbar machen, beispielsweise in Form der viralen Vernetzung rechter Antisemit*innen in Imageboards wie 4chan, 8chan oder sozialen Netzwerken wie Facebook, reddit oder Gab (Kien 2019; Zannettou und Finkelstein et al. 2020; Topor 2019). Darüber hinaus lassen sich auch aufseiten der politischen Rechten neue Schwerpunkte antisemitischer Agitation feststellen. So sind mit dem Erstarken rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen wie der Alternative für Deutschland (AfD), der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), dem Rassemblement National (RN), ehemals Front National, in Frankreich oder den Schwedendemokraten antisemitische Tendenzen zu beobachten, die sich eines veränderten Bezugsrahmens bedienen (Embacher 2019: 18f.). Obwohl innerhalb der Wählerschaft und auch des Funktionärskorpus dieser Parteien nach wie vor traditionell rechte antisemitische Vorstellungskomplexe weit verbreitet (Lenhard 2019: 46-49) sind, geben sich rechtspopulistische Politiker*innen betont israelfreundlich oder bemühen sich um jüdische Wähler*innen. So beschwören sie das Feindbild eines antisemitischen »Islams«, um die Wahrnehmung ihres eigenen antisemitischen Charakters zu irritieren. Geäußert wird der Antisemitismus rechtspopulistischer Akteur*innen vor allem durch geschichtsrevisionistische und relativierende Deutungsmuster im Kontext von Schuld- und Erinne-

2

In Großbritannien und Frankreich sind Muslim*innen bei antisemitischen Gewalttaten überproportional vertreten (Grimm und Kahmann 2018: 2). In Deutschland ist die Sachlage weniger eindeutig, allerdings liegt das eher an der unzureichenden Messung und Definitionsgrundlage. Denn diese beruht auf der statistischen Erhebung für politisch motivierte Kriminalität (PMK), die antisemitische Straftaten als primäres Phänomen politisch rechts motivierter Kriminalität begreift (ebd.: 2f.; Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus 2017: 29-34).

13

14

Wandelbarkeiten des Antisemitismus

rungsfragen (Grigat 2017; Wodak 2018). Auch in Osteuropa finden sich im rechtskonservativen bis nationalpopulistischen Milieu Parteien, die in gesellschaftliche Diskurse mit antisemitischen Deutungsangeboten intervenieren. So startete zum Beispiel die ungarische Orbán-Regierung eine antisemitische Kampagne gegen den jüdisch-amerikanischen Hedgefonds-Gründer George Soros, während die rechtskonservative Regierung in Polen Gesetze verabschiedete, die die Benennung der polnischen Mitschuld am Holocaust unter Strafe stellt und damit antisemitische Ressentiments reproduziert (Rabinovici und Sznaider 2019: 12; Kalmar 2020; Kovács und Szilágyi 2013). Ferner können auch für die linke Spielart des Antisemitismus in Form einer radikalen Israelfeindschaft, neben des beinahe schon traditionell zu nennenden Antizionismus der anti-imperialistischen Linken (Haury 2002; Ullrich 2008), Veränderungen beobachtet werden: Sie ermöglichen antisemitische Umwegkommunikationen, die den jüdischen Staat als Projektionsfläche antisemitischer Affekte unter dem Deckmantel der Semantik universaler Menschenrechte verwenden oder sich hinter der kosmopolitischen Rhetorik progressiver Diskurse des Anti-Rassismus, des Post-Kolonialismus oder der Anti-Globalisierung verstecken (Hirsh 2007; 2018). Prototypisch steht die transnationale Kampagne für Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen (BDS) gegen Israel für diese Entwicklung, die ihre antisemitische Agenda der Dämonisierung Israels und der Infragestellung jüdischer Selbstbestimmungsrechte (Salzborn 2013: 11-14; Salzborn 2018) insbesondere auf den Campussen amerikanischer und britischer Universitäten in den vergangenen zehn Jahren zunehmend rabiater versucht durchzusetzen (Marcus 2007; Rossman-Benjamin 2013; Pollack 2011). Zugleich zeigt sich am Beispiel der britischen Labour-Partei unter der Führung ihres ehemaligen Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn, wie endemisch Antisemitismen und ihr codiertes Korrelat eines Israel bezogenen Antisemitismus selbst in etablierten, gemäßigt-sozialdemokratischen Parteien diffundieren (Hirsh 2018; Lenhard 2019: 45f.). Dabei reicht die Variation antisemitischer Tropen von dem Vergleich der israelischen Palästinapolitik mit dem nationalsozialistischen Vernichtungsprogramm über die Vorstellung, dass der Islamische Staat (IS) eine israelische Erfindung ist, bis hin zu den Verschwörungstheorien über den vermeintlichen weltpolitischen Einfluss der Familie Rothschild (Rich 2017)

1.2

Theoretische Leerstellen und Forschungsinteresse

Dieser kurze Ausschnitt der Gegenwart eines globalen Antisemitismus (Salzborn 2018) verdeutlich die manifeste Bedrohungslage jüdischen Lebens und Virulenz antisemitischer Diskurse, die sich nicht zuletzt überwiegend in alltäglichen, privaten, halb-öffentlichen oder öffentlichen Situationen zeigen. Hier werden Jüd*innen diffamiert, in sozialen Medien und Netzwerken beschimpft, im Freundes- oder Kollegenkreis diskriminiert, in der Schule bedroht und auf offener Straße angegriffen (Schäuble 2017; Zick, Hövermann et al. 2017; Bernstein 2018). Diese notwendigerweise nur oberflächliche Betrachtung von Ereignissen, Kontexten, Themensetzungen und Transformationen antisemitischer Deutungsrepertoires eines gruppenlogischen Wissens über »die« Juden verdeutlicht bereits kursorisch die vielschichtige Erscheinungsvielfalt des bedeutungs-

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

rungsfragen (Grigat 2017; Wodak 2018). Auch in Osteuropa finden sich im rechtskonservativen bis nationalpopulistischen Milieu Parteien, die in gesellschaftliche Diskurse mit antisemitischen Deutungsangeboten intervenieren. So startete zum Beispiel die ungarische Orbán-Regierung eine antisemitische Kampagne gegen den jüdisch-amerikanischen Hedgefonds-Gründer George Soros, während die rechtskonservative Regierung in Polen Gesetze verabschiedete, die die Benennung der polnischen Mitschuld am Holocaust unter Strafe stellt und damit antisemitische Ressentiments reproduziert (Rabinovici und Sznaider 2019: 12; Kalmar 2020; Kovács und Szilágyi 2013). Ferner können auch für die linke Spielart des Antisemitismus in Form einer radikalen Israelfeindschaft, neben des beinahe schon traditionell zu nennenden Antizionismus der anti-imperialistischen Linken (Haury 2002; Ullrich 2008), Veränderungen beobachtet werden: Sie ermöglichen antisemitische Umwegkommunikationen, die den jüdischen Staat als Projektionsfläche antisemitischer Affekte unter dem Deckmantel der Semantik universaler Menschenrechte verwenden oder sich hinter der kosmopolitischen Rhetorik progressiver Diskurse des Anti-Rassismus, des Post-Kolonialismus oder der Anti-Globalisierung verstecken (Hirsh 2007; 2018). Prototypisch steht die transnationale Kampagne für Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen (BDS) gegen Israel für diese Entwicklung, die ihre antisemitische Agenda der Dämonisierung Israels und der Infragestellung jüdischer Selbstbestimmungsrechte (Salzborn 2013: 11-14; Salzborn 2018) insbesondere auf den Campussen amerikanischer und britischer Universitäten in den vergangenen zehn Jahren zunehmend rabiater versucht durchzusetzen (Marcus 2007; Rossman-Benjamin 2013; Pollack 2011). Zugleich zeigt sich am Beispiel der britischen Labour-Partei unter der Führung ihres ehemaligen Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn, wie endemisch Antisemitismen und ihr codiertes Korrelat eines Israel bezogenen Antisemitismus selbst in etablierten, gemäßigt-sozialdemokratischen Parteien diffundieren (Hirsh 2018; Lenhard 2019: 45f.). Dabei reicht die Variation antisemitischer Tropen von dem Vergleich der israelischen Palästinapolitik mit dem nationalsozialistischen Vernichtungsprogramm über die Vorstellung, dass der Islamische Staat (IS) eine israelische Erfindung ist, bis hin zu den Verschwörungstheorien über den vermeintlichen weltpolitischen Einfluss der Familie Rothschild (Rich 2017)

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Theoretische Leerstellen und Forschungsinteresse

Dieser kurze Ausschnitt der Gegenwart eines globalen Antisemitismus (Salzborn 2018) verdeutlich die manifeste Bedrohungslage jüdischen Lebens und Virulenz antisemitischer Diskurse, die sich nicht zuletzt überwiegend in alltäglichen, privaten, halb-öffentlichen oder öffentlichen Situationen zeigen. Hier werden Jüd*innen diffamiert, in sozialen Medien und Netzwerken beschimpft, im Freundes- oder Kollegenkreis diskriminiert, in der Schule bedroht und auf offener Straße angegriffen (Schäuble 2017; Zick, Hövermann et al. 2017; Bernstein 2018). Diese notwendigerweise nur oberflächliche Betrachtung von Ereignissen, Kontexten, Themensetzungen und Transformationen antisemitischer Deutungsrepertoires eines gruppenlogischen Wissens über »die« Juden verdeutlicht bereits kursorisch die vielschichtige Erscheinungsvielfalt des bedeutungs-

1 Einleitung

überschüssigen »beweglichen Vorurteil[s]« (Ziege 2004: 7) von sich verändernden soziokulturellen Rahmenbedingungen. Allerdings korrespondiert mit der Heterogenität antisemitischer Erscheinungsformen, die in subtilen und offenen, höherschwelligen und niedrigschwelligen sowie intentionalen und nicht-intentionalen Kommunikationsformen auftauchen können, eine machtasymmetrische Perspektivendivergenz (Weiß 2013: 241-252) zwischen der Wahrnehmung des mäandernden Phänomenkomplexes »Antisemitismus« durch die nicht-jüdische Mehrheit und die jüdische Minderheit. Während jüdische Positionen multiple Erfahrungen von Betroffenheit, Diskriminierung und Benachteiligung durch Antisemitismen reflektieren, begegnen Vertreter*innen der Mehrheitsgesellschaft der Benennung von antisemitischen Klassifikationen und Stigmatisierungen mit Skepsis und Bagatellisierung (Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus 2017: 93; Küpper, Radvan und Chernivsky 2018). Auf diese unterschiedlichen Sichtweisen des Problems machen immer mehr Studien aufmerksam, die sich explizit der jüdischen Wahrnehmung von Diskriminierung und Benachteiligung widmen und damit antisemitische Realitäten aus Sicht der Betroffenen rekonstruierbar machen (Bernstein 2018; Ben-Rafael, Sternberg und Glöckner 2010; Botsch und Kopke 2012). In diesem Sinne ist besonders eine umfassend angelegte Studie der EU-Grundrechteagentur (FRA) hervorzuheben (FRA – European Agency for fundamental Human Rights 2019), die in zwölf europäischen Staaten jüdische Erfahrungen und Perspektiven auf Antisemitismus untersucht hat und dabei unter anderem herausstellen konnte, dass 89 % der befragten Jüd*innen angaben, der Antisemitismus habe in den vergangenen fünf Jahren zugenommen, 85 % den Antisemitismus als größtes Problem des jeweiligen Landes betrachten und 38 % überlegen, aus Europa auszuwandern. Umso erstaunlicher mutet es daher an, dass die sozialwissenschaftliche Debatte über Ungleichheiten und Differenzen so merkwürdig unberührt geblieben ist von den eskalierenden Prozessen antisemitischer Formen der Abwertung, Distanzierung und Gewalt. Zwar verzeichnet die akademische Beschäftigung mit den Ungleichheitsdimensionen »Rasse«3 , »Ethnizität« und »Nation« in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen enormen Zuwachs (Brubaker 2009; Hill Collins und Solomos 2010). Doch die vielfältigen analytischen und terminologischen Konzeptualisierungen der verschiedenen Variationen von »Ethnizität«, Rassismus und Nationalismus betrachten den Antisemitismus oftmals als anachronistisch

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Das Forschungsinteresse dieser Arbeit richtet sich auf die sozialen Konstruktionsweisen von Grenzziehungen und ihren spezifischen, ausschließenden Differenzsetzungen. Insofern werden Kategorien wie »Rasse«, »Ethnizität« oder »Nation« nicht als natürliche Dinge in der Welt betrachtet (siehe Kapitel 2.3), sondern in de-essentialistischer Absicht als soziale Klassifikationen, durch die eine bestimmte Anzahl von Menschen in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen als Mitglieder einer nationalisierten, ethnisierten oder rassialisierten Gruppe hergestellt und homogenisiert werden. Um den Konstruktionscharakter dieser Kategorien zu betonen, werden diese Begriffe in der vorliegenden Arbeit in de-essenzialisierender Absicht in Anführungszeichen gesetzt. Ähnlich verfahre ich auch bei Kategorien, die aufgrund ihres naturalisierenden und substanzialisierenden Charakters gleichermaßen problematisch erscheinen oder als etwas sozial konstruiertes begriffen werden müssen, wie »Eigen-« und »Fremdgruppe«, »Wir« und die »Anderen«, »Schwarz« und »Weiß«, das »jüdische« oder die »Juden« usw. Dies gilt insbesondere für die Wiedergabe antisemitischer Klassifizierungen, um hier den Zuschreibungscharakter der entsprechenden Kategorisierungen zu betonen.

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

(Bhatt 2009), als zu separierendes Phänomen (Bell 1992), oder setzen ihn kaum in Relation zu nationalstaatlichen Transformationsprozessen (vgl. zur Übersicht: Stögner und Schmidinger 2010). Das Beispiel des aus den amerikanischen Rechtswissenschaften entstandenen interdisziplinären Zugangs der Critical Race Theories (Crenshaw, Gotanda et al. 1995; Delgado 2000) verdeutlicht diesen Zusammenhang. Als zentrale Ursache von Macht und Ungleichheitsstrukturen begreift diese Theorie die identitären Markierungen von »Schwarzsein« und »Weißsein« als Binarität und ordnet Jüd*innen allgemein der privilegierten »weißen« Mehrheitsgesellschaft zu, wodurch die Virulenz antisemitischer Ausschließungsprozesse einen »blinden« Fleck dieses dominanten Paradigmas der Rassismusforschung darstellt. Demzufolge konstatieren Robert Fine und Glynis Cousin (2012) in diesem Zusammenhang einen methodologischen Separatismus, der die Forschung zu Antisemitismen in dem multivariablen Untersuchungsfeld der Rassismusstudien oftmals ausblendet (Fine und Cousin 2012), während John Solomos und Les Back (2000) zu dem Verhältnis des Antisemitismus im Feld der Rassismusstudien gar von »one of the most noticeable gaps« (Solomos und Back 2000: 10) sprechen. Auch im Hinblick auf die Forschungsfelder der Ethnizitäts- und Nationalismusforschung können Leerstellen ausgemacht werden, die das Phänomen des »Antisemitismus« unberücksichtigt lassen. So stellen Ethnizitätsstudien den Antisemitismus als historisch überholtes Phänomen dar (Bunzl 2007), beschäftigen sich mit jüdischen Ethnisierungsprozessen in Bezug auf die nationale Mehrheitsordnung des Staates Israel (Khazzoo 2003; Mizrachi und Herzog 2012; Lamont und Mizrachi 2012) oder untersuchen symbolische Mechanismen der Selbstidentifikation von Jüd*innen in der Diaspora (Gans 1979; Kivisto und Nefzger 1993; J. A. Winter 1996). Dagegen widmen sich paradigmatische Zugänge der Nationalismusforschung der Stellung von Jüd*innen innerhalb von Prozessen der Nationalisierung und Nationalstaatsbildung, auch im Hinblick auf den Zionismus (Smith 1995b; Sternhell 1998; Goodblatt 2006), allerdings ohne die Verschränkung von Nationalismen und Antisemitismen zu reflektieren. Ähnlich sind in der Antisemitismusforschung trotz der kontingenten Vielfältigkeit und lokal-historisch spezifischen Anpassungsfähigkeit antisemitischer Klassifikationsrepertoires analytische Defizite festzustellen. Denn Dynamiken und Flexibilität antisemitischer Kategorisierungsprozesse können mit den Theorievokabularen der vorherrschenden Ansätze nicht adäquat erklärt werden. So ist mit Blick auf das Analysepotenzial dominanter Zugänge der Antisemitismusforschung dem Diktum des Antisemitismusforschers Werner Bergmann zuzustimmen, der bereits 2004 den Befund der »Entstehung und Verfestigung eines Methoden- und Theoriedefizits« (2004b: 222) gestellt hat. Auch der Soziologe Klaus Holz, der in seiner Habilitationsschrift eine Wissenssoziologie des Nationalen Antisemitismus vorlegt, konstatiert: »Die Antisemitismusforschung hat weitestgehend den Kontakt zur Soziologie verloren. Die jüngere Entwicklung soziologischer Theorien wird praktisch überhaupt nicht rezipiert« (2001: 21). Eine Problematik, die, bis auf wenige Ausnahmen,4 nach wie vor gültig ist.

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Ausnahmen stellen jene (wenigen) Arbeiten dar, die im Feld der Antisemitismusforschung mit bedeutungsorientierten Zugängen arbeiten und Antisemitismen aus einer diskurstheoretischen (Ullrich 2008; Arnold 2016; Jäger und Jäger 2003; Jäger 2005), symbolorientierten (Volkov 1978) oder an Luhmanns Systemtheorie wissenssoziologisch ausgerichteten (Holz 2001; Globisch 2013;

1 Einleitung

Wird der Gegenstandsbereich des Antisemitismus konzeptionell durchdrungen, wird häufig auf paradigmatische Erklärungen und theoretische Vokabulare zurückgegriffen, die stark der empirisch orientierten, Vorurteils- und Stereotypenforschung entlehnt sind (beispielhaft: Zick und Küpper 2011) und auf der empirisch-deskriptiven Ebene individualpsychologischer Einstellungsforschung verharren (Jensen und Schüler-Springorum 2013: 418f.). Gleichzeitig besteht eine disziplinäre Engführung vorhandener Typologien, die in der Antisemitismusforschung verwendet werden und sich überwiegend auf die Erscheinungsformen des Antisemitismus beschränken (beispielhaft: Benz 2010b). Damit richten diese Analyseschemata einen tendenziell essentialisierenden Blick auf die Trägergruppen und Erscheinungsbilder antisemitischer Denk- und Wahrnehmungsweisen. Mit diesen einleitenden Erläuterungen ist der Bezugsrahmen der vorliegenden Arbeit situiert: Ausgehend von den genannten theoretischen Leerstellen der sozialwissenschaftlichen Forschungsfelder der Ethnizitäts-, Rassismus- und Nationalismusforschung sowie den dominanten Konzepten der Antisemitismusforschung liegt das hauptsächliche Forschungsinteresse der vorliegenden Arbeit einerseits darin, einen analytischen Werkzeugkasten in Form einer Taxonomie zu entwickeln, um die Fluidität, Komplexität und Aushandelbarkeit kultureller Sinnzuschreibungen des Antisemitismus typologisch erfassen zu können. Andererseits sollen diese Mechanismen der (Dis-)Kontinuitäten und des (Form-)Wandels antisemitischer Differenzierungsprozesse durch die forschungslogisch innerhalb der Taxonomie angelegte enge Verzahnung von Theorie und Empirie analytisch fassbar gemacht und empirisch durch drei Diskursstudien rekonstruiert werden. Die Ausarbeitung eines konzeptuellen Werkzeugkastens erfolgt dabei vor dem paradigmatischen Hintergrund des Grenzziehungsansatzes der kultursoziologischen Ungleichheitsforschung (Wimmer 2013; Lamont und Molnár 2002; Neckel und Sutterlüty 2008; 2010; Jenkins 2008; Amelina 2017) und des aus der Gender-Forschung stammenden Intersektionalitätszuganges (Walby, Armstrong und Strid 2012; Hancock 2007; 2013; H. Lutz, Herrera Vivar und Supik 2010a; Anthias 2012). Damit soll ein prozessorientierter Perspektivwechsel auf das multivariable und zeitlich-räumlich wandelbare Phänomen der Judenfeindschaft instituiert werden, der sich für die dynamischen Mechanismen der soziokulturellen Herstellung antisemitischer Sinnfixierungen und gesellschaftlichen Aushandlung ihrer veränderbaren Bedeutungen interessiert. Kategoriale Zuschreibungen von Jüd*innen werden vor dem programmatischen Hintergrund des Weyand 2016a) Perspektive analysieren. Paradoxerweise stehen diesem Defizit aufseiten der Antisemitismusforschung eine Reihe von Arbeiten gegenüber, die insbesondere das Phänomen anti-israelischer Antisemitismen aus einer kulturwissenschaftlich geprägten Perspektive überwiegend in der Form eines illegitimen Vorwurfes erkennen. Diskurse über Antisemitismus dienen dieser Lesart zufolge, die vor allem von theoretischen Stichwortgebern des Poststrukturalismus und der Postcolonial Studies wiederholt wird, als Herrschaftsinstrument der politischen Rechten und sollen eine anti-rassistische Israel-Kritik durch eine fälschliche Gleichsetzung tabuisieren (unter anderem Badiou, Hazan und Segré 2013; Butler 2019; Žižek 2011: 139ff.), wobei die Geschichte des Antisemitismus als Archetypus einer rassistisch-kolonialistischen Differenzpraxis von jedem Bezug zu Jüd*innen oder jüdischen Erfahrungswelten gelöst wird (etwa: Bhabha 1998; Mbembe 2017).

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Grenzziehungsparadigmas demzufolge als soziokulturelle Prozesse der Grenzziehung konzeptualisiert, in deren Folge Wissen über vermeintlich askriptive Merkmale »der« Juden in lokal und historisch spezifischen Räumen produziert, temporär stabilisiert und transformiert wird. Die forschungsleitende Verwendung von überwiegend kultursoziologischen und sozialkonstruktivistischen Analysezugängen soll demnach Grenzziehungsstrategien und Klassifikationspraktiken sozialer Akteur*innen in das Zentrum der Betrachtung rücken. In Anlehnung an ein symbol- und bedeutungsorientiertes Kulturverständnis (Alexander 1988) werden Aushandlungsprozesse antisemitischer Grenzziehungen als Klassifikationskämpfe analysiert, in denen soziale Akteur*innen um die legitime Durchsetzung und Anerkennung einer abwertenden, rassialisierten, ethnisierten und nationalisierten Bedeutung antisemitischer Differenz streiten. Ein spezifischer Fokus wird dabei auf den simultanen Wechselwirkungen kategorialer Verknüpfungen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Klassifikationsmustern liegen, die als fundamentale Aspekte der ungleichheitsrelevanten Unterscheidung zwischen einem nicht-jüdischen »uns« und eines als jüdisch markierten »Anderen« verstanden werden. Zugleich sollen aber durch den hier verfolgten Theorieansatz auch Mechanismen der Grenzverwischung (boundary blurring)(Wimmer 2013) reflektiert werden, die dem Umstand analytisch Rechnung tragen, dass soziale Akteur*innen vorläufig stabilisierte Formen der (antisemitischen) Grenzziehung infrage stellen, re-evaluieren und offen anfechten. Die Innovation einer intersektionalen Grenzziehungsperspektive, so möchte ich im Verlauf dieser Arbeit argumentieren, soll in einer veränderten Fragestellung begründet liegen, die an den Gegenstand durch neuartige Theorieinstrumentarien und -vokabulare sowie anders gelagerte Theorieperspektiven herangetragen wird. Im Mittelpunkt steht demzufolge die Frage nach dem Vermittlungsmoment von (Dis-)Kontinuität und Bedeutungswandel antisemitischer Zuschreibungen als Mechanismen der Grenzziehung. Genauer bedeutet es, danach zu fragen, wie eine unterscheidbare Gruppe von Jüd*innen als benachteiligte (»Fremd«-)Gruppe in konkreten sozialen Prozessen, Relationen Interaktionen, Diskursen und Ereignissen überhaupt hergestellt wird und welche wandelbaren Formen der Stabilisierung sozialer Ausschlüsse von Jüd*innen unter sich verändernden kulturellen Kontextbedingungen feststellbar werden. Zusammengefasst behandelt der erste Teil dieser Arbeit die konzeptionelle Ausarbeitung einer prozessorientierten Taxonomie von Konstruktionsmechanismen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Typen der antisemitischen Grenzziehung. Im zweiten Teil steht schließlich die empirische Überprüfung und Illustration der Anwendbarkeit der Taxonomie durch drei empirische Diskursstudien im Vordergrund der Betrachtung, um vor allem Wandelbarkeiten antisemitischer Unterscheidungslinien und ihre relative(n) Bedeutung(en) rekonstruieren zu können. Durch diese enge Verzahnung von Theorie und Empirie innerhalb der Taxonomie soll sich schließlich zeigen, wie sich die Empirie antisemitischer Grenzziehungsdiskurse und die Theorie antisemitischer Grenzziehungen wechselseitig befruchten. Konkret heißt das, dass sich den Analysekategorien der konzeptuellen Taxonomie durch die gleichermaßen heterogene wie sich verändernde Erscheinungsvielfalt antisemitischer Klassifizierungen immer neue Facetten hinzufügen lassen.

1 Einleitung

Der folgende Abschnitt wird nun die einzelnen Kapitel hinsichtlich des Forschungsinteresses dieser Arbeit skizzieren.

1.3

Auf dem Weg der Konstruktion eines taxonomischen Konzeptes antisemitischer Grenzziehungsprozesse und seiner programmatischen theoretischen Elemente (Kapitel 2, 3, 4, 5, 6)

Der erste Teil dieser Arbeit vergleicht theoretische Zugänge der Ethnizitäts-, Rassismus- und Nationalismusforschung mit Konzepten der Antisemitismusforschung, um darauf aufbauend eine analytische Taxonomie der soziokulturellen Konstruktionsmechanismen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Grenzziehungen des Antisemitismus zu entwickeln, die auf einer programmatischen Synthese dieser theoretischen Prämissen beruht. Die systematische In-Beziehung-Setzung unterschiedlicher Theorieperspektiven und -vokabulare soll Analysetools bereitstellen, die damit als theoretische Elemente einer intersektionalen Grenzziehungsperspektive auf die Mehrdimensionalität antisemitischer Klassifikationsprozesse forschungsleitenden Charakter besitzen werden. Zudem wird auf diese Weise ein weiteres Forschungsziel erfüllt, das in der Re-Integration der Antisemitismusforschung in die sozialwissenschaftlichen Forschungsfelder der Ethnizitäts-, Rassismus- und Nationalismusforschung begründet liegt. Zugleich zielt die programmatische Synthese eines analytischen Werkzeugkastens zur Untersuchung mehrdimensional konstruierter Typen der antisemitischen Grenzziehung darauf ab, die theoretisch und methodologisch separierten sozialen Ungleichheitsrelationen »Rasse«, »Ethnizität« und »Nation« zu überwinden (Wimmer 2013: 213), indem sie in ihrer wechselseitigen kategorialen Verschränktheit analysiert werden. Übergeordnetes Interesse ist hierbei, einen analytischen Perspektivwechsel auf Antisemitismen als Klassifikationsprozesse zu eröffnen, der es erlauben soll, die plurale Erscheinungsvielfalt situationsabhängiger und soziohistorisch wandelbarer Antisemitismen interpretativ zu rekonstruieren, die in einem bestimmten räumlichen und zeitlichen Kontext ein vorübergehend stabilisiertes, scheinbar legitimes Verständnis des jüdischen »Anderen« hervorbringen.

1.3.1

Zentrale Theorieelemente einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungsprozesse (Kapitel 2)

In dem Kapitel über zentrale Theorieelemente werden einige programmatische, theoretische Grundlagen für eine prozessorientierte Taxonomie soziokultureller Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen herausgestellt, vor deren paradigmatischen Hintergrund die systematische Synthetisierung von Zugängen der Ethnizitäts-, Rassismus- und Nationalismusforschung erfolgt. Konkret beruhen die fundierenden theoretischen Prämissen auf wissens- und bedeutungsorientierten Zugängen der Antisemitismusforschung (Volkov 1978; Bauman 2012; Holz 2001), auf dem Grenzziehungsparadigma (Wimmer 2013; Amelina, 2017; Lamont und Molnár 2002; Neckel und Sutterlüty 2008; 2010; Barth 1969; Jenkins 2008) sowie heuristisch auf der Analyseperspektive der Intersektionalitätsforschung (Walby, Armstrong und Strid 2012; Han-

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1 Einleitung

Der folgende Abschnitt wird nun die einzelnen Kapitel hinsichtlich des Forschungsinteresses dieser Arbeit skizzieren.

1.3

Auf dem Weg der Konstruktion eines taxonomischen Konzeptes antisemitischer Grenzziehungsprozesse und seiner programmatischen theoretischen Elemente (Kapitel 2, 3, 4, 5, 6)

Der erste Teil dieser Arbeit vergleicht theoretische Zugänge der Ethnizitäts-, Rassismus- und Nationalismusforschung mit Konzepten der Antisemitismusforschung, um darauf aufbauend eine analytische Taxonomie der soziokulturellen Konstruktionsmechanismen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Grenzziehungen des Antisemitismus zu entwickeln, die auf einer programmatischen Synthese dieser theoretischen Prämissen beruht. Die systematische In-Beziehung-Setzung unterschiedlicher Theorieperspektiven und -vokabulare soll Analysetools bereitstellen, die damit als theoretische Elemente einer intersektionalen Grenzziehungsperspektive auf die Mehrdimensionalität antisemitischer Klassifikationsprozesse forschungsleitenden Charakter besitzen werden. Zudem wird auf diese Weise ein weiteres Forschungsziel erfüllt, das in der Re-Integration der Antisemitismusforschung in die sozialwissenschaftlichen Forschungsfelder der Ethnizitäts-, Rassismus- und Nationalismusforschung begründet liegt. Zugleich zielt die programmatische Synthese eines analytischen Werkzeugkastens zur Untersuchung mehrdimensional konstruierter Typen der antisemitischen Grenzziehung darauf ab, die theoretisch und methodologisch separierten sozialen Ungleichheitsrelationen »Rasse«, »Ethnizität« und »Nation« zu überwinden (Wimmer 2013: 213), indem sie in ihrer wechselseitigen kategorialen Verschränktheit analysiert werden. Übergeordnetes Interesse ist hierbei, einen analytischen Perspektivwechsel auf Antisemitismen als Klassifikationsprozesse zu eröffnen, der es erlauben soll, die plurale Erscheinungsvielfalt situationsabhängiger und soziohistorisch wandelbarer Antisemitismen interpretativ zu rekonstruieren, die in einem bestimmten räumlichen und zeitlichen Kontext ein vorübergehend stabilisiertes, scheinbar legitimes Verständnis des jüdischen »Anderen« hervorbringen.

1.3.1

Zentrale Theorieelemente einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungsprozesse (Kapitel 2)

In dem Kapitel über zentrale Theorieelemente werden einige programmatische, theoretische Grundlagen für eine prozessorientierte Taxonomie soziokultureller Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen herausgestellt, vor deren paradigmatischen Hintergrund die systematische Synthetisierung von Zugängen der Ethnizitäts-, Rassismus- und Nationalismusforschung erfolgt. Konkret beruhen die fundierenden theoretischen Prämissen auf wissens- und bedeutungsorientierten Zugängen der Antisemitismusforschung (Volkov 1978; Bauman 2012; Holz 2001), auf dem Grenzziehungsparadigma (Wimmer 2013; Amelina, 2017; Lamont und Molnár 2002; Neckel und Sutterlüty 2008; 2010; Barth 1969; Jenkins 2008) sowie heuristisch auf der Analyseperspektive der Intersektionalitätsforschung (Walby, Armstrong und Strid 2012; Han-

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

cock 2007; 2013; H. Lutz, Herrera Vivar und Supik 2010a; Anthias 2012). Zudem wird in diesem Kapitel eine wesentliche Differenzierung zwischen den Dimensionen der begrifflichen Ebene wissenschaftlicher Kategorien der Analyse und der alltagsweltlichen Verwendungsebene von Kategorien der Praxis vorgenommen (Brubaker 1996; Anthias 2012). Ziel dieses Kapitels ist es, antisemitische Abwertungsmechanismen als relationales Resultat der Aushandlung soziokultureller Grenzziehungen zwischen einer nicht-jüdischen ingroup gegenüber einer jüdischen outgroup zu begreifen. Während das Grenzziehungsparadigma zeigen soll, wie die kontingente Bedeutung antisemitischer Differenzkategorien in symbolischen Klassifikationskämpfen zwischen sozialen Akteur*innen ausgehandelt werden, wird ein intersektionales Verständnis der Kreuzungen von Achsen der Ungleichheit verdeutlichen, auf welche Art und Weise diese abwertenden Bedeutungen in einem Feld der Überlagerungen und des Zusammenspieles ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Ausschlüsse hergestellt werden. Zugleich werden auch Mechanismen der Infragestellung bestehender Typen der Grenzziehung durch Strategien des boundary blurring (Grenzverwischung) theoretisch reflektiert, im Hinblick auf die relative Stabilisierung, d.h. Beharrlichkeit und Wandelbarkeit antisemitischer Differenzkategorien.

1.3.2

Ein Vergleich dominanter paradigmatischer Zugänge der Rassismus-, Ethnizitäts- und Nationalismusforschung – Elemente der Zusammensetzung eines analytischen Werkzeugkastens (Kapitel 3, 4, 5)

Als relevante, für die multidimensionale Konstruktion antisemitischer Grenzziehungen bedeutsame Ungleichheitsrelationen werden in dieser Arbeit die Ungleichheitsdimensionen »Rasse«, »Ethnizität« und »Nation« verstanden. Ziel dieses Kapitels ist es daher, ein mehrdimensionales Verständnis rassialisierter, ethnisierter und nationalisierter Klassifikationsformen des Antisemitismus zu entwickeln, das einen analytischen Reduktionismus vermeiden soll, der Antisemitismen entweder als rassistisch oder ethnizistisch oder nationalistisch begreifbar machen will. Stattdessen wird eine Analyseperspektive entworfen, die das heterogene Zusammenspiel dieser Differenzlinien betrachtet, das sich in soziokulturell kontingenter Form entfalten kann. Damit können insbesondere die Historizität, Variabilität und Situationalität antisemitischer Klassifikationsrepertoires und ihre imprägnierten, vielfältigen Mechanismen der Selbstwahrnehmung und Fremdzuschreibung untersucht werden. So werden Theorieperspektiven und paradigmatische Erklärungen der Forschungsfelder Rassismus, »Ethnizität« und Nationalismus diskutiert und ihr Potenzial für die Zusammensetzung des analytischen Werkzeugkastens dargestellt und fruchtbar gemacht. Als heuristisches Auswahlkriterium gilt dabei, dass sich diese Zugänge für die theoretische Programmatik einer intersektionalen Grenzziehungsperspektive auf antisemitische Klassifikationsprozesse produktiv integrieren lassen. Im Ergebnis werden die Analysekategorien »Rasse«, »Ethnizität« und »Nation« als unterscheidbare Typen der Grenzziehung operationalisiert, die das multivariable Phänomen »Antisemitismus« durch einen multiparadigmatischen Zugriff erklärbar machen können.

1 Einleitung

1.3.3

Zur Konzeptualisierung rassialisierter Typen der Grenzziehung (Kapitel 3)

Zunächst erfolgt eine allgemeine Situierung des Gegenstandsbereichs der Rassismusforschung, die insbesondere mit Blick auf die Stellung des Antisemitismus innerhalb dieses Forschungsfeldes skizziert wird. Daran schließt sich die Beurteilung der dominanten paradigmatischen Perspektiven der Rassismusforschung hinsichtlich ihrer konzeptuellen Stärken und Schwächen für die Analyse antisemitischer Grenzziehungsprozesse an. Das Konzept der Rassialisierung (Miles 1989; 1993), wie es auch durch Rassismuskonzepte der Cultural Studies (Hall 1994a; 1994b; 1994e; 2004a; 2004b; 2004c) akzentuiert wird, erscheint dabei als geeignete Theorieperspektive auf die Prozessualität, Interrelationalität und Dynamik der soziokulturellen Konstruktionsmechanismen rassialisierter Grenzziehungen des Antisemitismus. Auf der Ebene der inhaltlichen Gestaltung eines analytischen Begriffes von »Rasse« wird in diesem Kapitel besonders auf die häufig diskutierte Unterscheidung zwischen Kulturalisierungen einerseits und Biologisierungen sowie Phänotypisierungen andererseits eingegangen, um analytische Distinktionsmerkmale der Rassenkonstruktion zu destillieren.

1.3.4

Zur Konzeptualisierung ethnisierter Typen der Grenzziehung (Kapitel 4)

Auch hier erfolgt zu Beginn eine allgemeine Betrachtung des Untersuchungsgegenstandes der Ethnizitätsforschung und die antisemitismussensible Definition eines analytischen Begriffes von »Ethnizität«. Daraus erfolgt eine Diskussion zentraler paradigmatischer Perspektiven, die in Bezug auf ihr theoretisches Verständnis für die sozialen Konstruktionsprozesse ethnisierter Grenzziehungen des Antisemitismus bewertet werden. Gleichzeitig machen die Perspektiven auf Defizite der Antisemitismusforschung für die Betrachtung ethnisierter Ordnungen der In- und Exklusion aufmerksam. Im Ergebnis folgt die Klärung der prozessualen Logik und des interrelationalen Charakters ethnisierter Grenzziehungsprozesse mithilfe von differenztheoretischen (Bauman 2005; 2012), zugehörigkeitstheoretischen (Mecheril 2003; Brubaker 2007; Yuval-Davis 2011; Elwert 1989; 1995) und praxeologischen (Hirschauer 2014) Ansätzen. Dabei wird der Fokus auf die ambivalente Positioniertheit der antisemitischen Figuration des jüdischen »Fremden« in Zugehörigkeitskontexten gerichtet. Insbesondere zählen allosemitische Deutungs- und Wahrnehmungsrepertoires sowie religionsbezogene Ausschließungen in ethnisierten Klassifikationsprozessen zu den Ambivalenzen ethnisierter Zuschreibungen des Antisemitismus.

1.3.5

Zur Konzeptualisierung nationalisierter Typen der Grenzziehung (Kapitel 5)

Das Kapitel über nationenbezogene Grenzziehungsprozesse leistet zunächst eine Spezifizierung des Gegenstandsbereichs und eine allgemeine Annäherung an den Begriff des »Nationalen« und weist außerdem auf die besondere Nähe zwischen Antisemitismen und nationalen Vergemeinschaftungsprozessen hin. Daran anschließend erfolgt eine paradigmatische Diskussion des analytischen Potenzials zentraler Zugänge der Nationalismusforschung für die Betrachtung soziokultureller Grenzziehungen natio-

21

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

nalisierter Antisemitismen und ihrer mehrdimensionalen kategorialen Verknüpfungen mit ethnisierten und rassialisierten Ausschlüssen. Insbesondere kultursoziologische (A. P. Cohen 1985; Wimmer 2002), sozialkonstruktivistische (Yuval-Davis 1997; Yuval-Davis und Stoetzler 2002a; 2002b; Brubaker 1996; 2007) und narrationsanalytische (Bhabha 1990; 2011; A. Assmann 1999; 2006) Zugänge der »neueren« Nationalismusforschung lassen sich fruchtbar in die theoretische Programmatik der Taxonomie integrieren, weil sie einen prozessualen Blick auf Herstellungsweisen antisemitischer Differenz ermöglichen. Darüber hinaus wird der analytischen Unterscheidung zwischen einem israelbezogenen Antisemitismus, der Jüd*innen als »Fremdgruppe« nationalisiert, und Klassifikationsrepertoires, die Jüd*innen als nationale »Fremdgruppe« im »Innern« einer Nation marginalisieren, ein besonderer Stellenwert eingeräumt.

1.3.6

Eine systematisch synthetisierende Zusammenführung des Theorievergleiches und die deduktive Konzeptualisierung eines taxonomischen Modells antisemitischer Grenzziehungsprozesse (Kapitel 6)

Die Ausarbeitung des taxonomischen Analysemodells zur Untersuchung der Herstellungsweisen antisemitischer Grenzziehungen stellt das Herzstück der vorliegenden Arbeit dar. Dabei werden zum einen die konzeptuellen Stärken der hier diskutierten Theorieperspektiven der Forschungsfelder »Ethnizität«, »Rasse« und »Nation« sowie zum anderen die theoretischen Modelle der Antisemitismusforschung in Form eines analytischen Werkzeugkastens synthetisiert. In diesem Zusammenhang werden sich durch den Theorievergleich mit den Merkmalen der Prozessualität, der kategorialen Wechselwirkungen, der Relationalität, der Situationalität, der temporären Stabilisierung und der Machtdimension sechs theoretische Elemente einer intersektionalen Grenzziehungsperspektive auf die vielschichtigen Formen der Produktion, Reproduktion und Transformation antisemitischer Codes und Symbole ergeben. Daran anschließend werden methodologische Vorüberlegungen über die Konstruktionsprinzipien von Typologien und Taxonomien, vor dem Hintergrund einer kritischen Würdigung bestehender Typologien der Antisemitismusforschung, angestellt. Dadurch tritt die Besonderheit des taxonomischen Analysemodells durch die explizite Integration des Intersektionalitätsansatzes in die deduktive Konzeptualisierung der Taxonomie sichtbar hervor. Diese Sichtbarkeit wird als Resultat der Unterscheidung von Analyseebenen, der Ebene operationslogisch distinkter Kategorien der Analyse von »Ethnizität«, »Rasse« und »Nation« sowie der kontingenten Verflechtungen dieser Kategorien auf der Ebene von Klassifikationspraktiken und Grenzziehungsstrategien sozialer Akteur*innen, vorgestellt. Diese empirische Offenheit gegenüber der heterogenen Erscheinungsvielfalt antisemitischer Klassifikationen und ihrer multivariablen kategorialen Verknüpfungen in lokal-historisch spezifische Kontexte wird den besonderen Mehrwert des taxonomischen Modells explizit deutlich machen. Zu diesem Zweck werden die im Theorievergleich gewonnenen Analysekategorien von Typen der antisemitischen Grenzziehung erörtert, die ethnisierte, rassialisierte und nationalisierte Zuschreibungsprozesse abbilden, und sich durch

1 Einleitung

Klassifikationsmuster, Klassifikationsrepertoires sowie Selbst- und Fremdzuschreibungen systematisieren lassen.

1.4

Der kulturelle Bedeutungswandel antisemitischer Zuschreibungen: Eine empirische Rekonstruktion gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse soziokultureller Grenzziehungen (Kapitel 7, 8, 9, 10)

Im ersten Teil dieser Arbeit wird eine prozessorientierte Taxonomie der Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen herausgearbeitet, die Kontinuität und besonders Wandelbarkeit antisemitischer Codes und Symbole analysierbar machen soll. Im zweiten Teil steht mithilfe des analytischen Werkzeugkastens die empirische Rekonstruktion der (Dis-)Kontinuitäten und des kulturellen Bedeutungswandels antisemitischer Differenzkonstruktionen im Zentrum der Betrachtung. Auf diese Weise soll das Zusammenspiel von Theorie und Empirie innerhalb der Taxonomie entfaltet und dabei sichtbar gemacht werden, wie der Taxonomie durch die konkreten Klassifikationspraktiken sozialer Akteur*innen in antisemitischen Grenzziehungsprozessen neue analytische Facetten hinzugefügt werden können. Dabei werden die intersubjektive Plausibilität, Konsistenz und Glaubwürdigkeit der deduktiv entwickelten, konzeptuellen Taxonomie antisemitischer Grenzziehungsprozesse in Form einer qualitativ angelegten, Wissenssoziologischen Diskursanalyse (Keller 2011a; 2011b; 2013b) öffentlicher Mediendiskurse überprüft. Für die Diskursstudie wurden drei öffentliche Debatten ausgewählt: Die Walser-Bubis-Kontroverse 1998, die Beschneidungsdebatte 2012 und die Gaza-Proteste 2014. Alle drei Diskurse berühren verschiedene Aspekte antisemitischer Themensetzungen und illustrieren damit empirische Vielfalt und Heterogenität kategorialer Verknüpfungen von unterschiedlichen Typen der antisemitischen Grenzziehung. Das Erkenntnisinteresse dieses Abschnitts ist dabei zweigeteilt: •



Zum einen wird die empirische Anwendbarkeit der Analysekategorien ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Typen der Grenzziehung, wie sie theoretisch durch die Taxonomie begründet wurde, auf der Praxisebene symbolischer Deutungskämpfe im Kontext einer qualitativen Längsschnittstudie überprüft. Die Analyse öffentlicher Diskurse erfolgt dabei speziell im Hinblick auf die vielschichtigen Formen der Kreuzung unterschiedlicher Achsen der Ungleichheit, wie sie in der Taxonomie konzeptuell durch die Differenzierungslinien »Ethnizität«, »Rasse« und »Nation« angelegt werden. Insbesondere soll hierbei herausgearbeitet werden, welche antisemitischen Klassifikationsrepertoires und Fremdzuschreibungen als kontingente Praxiskategorien der Grenzziehungen sozialer Akteur*innen hervorgebracht werden. Zum anderen werden in diesen Kapiteln Kontinuitäten und Wandelbarkeiten antisemitischer Grenzziehungen sowie die Mechanismen ihrer Grenzverwischung in einem spezifischen Zeitverlauf herausgearbeitet. Dabei wird ein spezieller Fokus auf den konfliktuellen Interaktionsdynamiken antisemitischer Grenzziehungsprozesse

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1 Einleitung

Klassifikationsmuster, Klassifikationsrepertoires sowie Selbst- und Fremdzuschreibungen systematisieren lassen.

1.4

Der kulturelle Bedeutungswandel antisemitischer Zuschreibungen: Eine empirische Rekonstruktion gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse soziokultureller Grenzziehungen (Kapitel 7, 8, 9, 10)

Im ersten Teil dieser Arbeit wird eine prozessorientierte Taxonomie der Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen herausgearbeitet, die Kontinuität und besonders Wandelbarkeit antisemitischer Codes und Symbole analysierbar machen soll. Im zweiten Teil steht mithilfe des analytischen Werkzeugkastens die empirische Rekonstruktion der (Dis-)Kontinuitäten und des kulturellen Bedeutungswandels antisemitischer Differenzkonstruktionen im Zentrum der Betrachtung. Auf diese Weise soll das Zusammenspiel von Theorie und Empirie innerhalb der Taxonomie entfaltet und dabei sichtbar gemacht werden, wie der Taxonomie durch die konkreten Klassifikationspraktiken sozialer Akteur*innen in antisemitischen Grenzziehungsprozessen neue analytische Facetten hinzugefügt werden können. Dabei werden die intersubjektive Plausibilität, Konsistenz und Glaubwürdigkeit der deduktiv entwickelten, konzeptuellen Taxonomie antisemitischer Grenzziehungsprozesse in Form einer qualitativ angelegten, Wissenssoziologischen Diskursanalyse (Keller 2011a; 2011b; 2013b) öffentlicher Mediendiskurse überprüft. Für die Diskursstudie wurden drei öffentliche Debatten ausgewählt: Die Walser-Bubis-Kontroverse 1998, die Beschneidungsdebatte 2012 und die Gaza-Proteste 2014. Alle drei Diskurse berühren verschiedene Aspekte antisemitischer Themensetzungen und illustrieren damit empirische Vielfalt und Heterogenität kategorialer Verknüpfungen von unterschiedlichen Typen der antisemitischen Grenzziehung. Das Erkenntnisinteresse dieses Abschnitts ist dabei zweigeteilt: •



Zum einen wird die empirische Anwendbarkeit der Analysekategorien ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Typen der Grenzziehung, wie sie theoretisch durch die Taxonomie begründet wurde, auf der Praxisebene symbolischer Deutungskämpfe im Kontext einer qualitativen Längsschnittstudie überprüft. Die Analyse öffentlicher Diskurse erfolgt dabei speziell im Hinblick auf die vielschichtigen Formen der Kreuzung unterschiedlicher Achsen der Ungleichheit, wie sie in der Taxonomie konzeptuell durch die Differenzierungslinien »Ethnizität«, »Rasse« und »Nation« angelegt werden. Insbesondere soll hierbei herausgearbeitet werden, welche antisemitischen Klassifikationsrepertoires und Fremdzuschreibungen als kontingente Praxiskategorien der Grenzziehungen sozialer Akteur*innen hervorgebracht werden. Zum anderen werden in diesen Kapiteln Kontinuitäten und Wandelbarkeiten antisemitischer Grenzziehungen sowie die Mechanismen ihrer Grenzverwischung in einem spezifischen Zeitverlauf herausgearbeitet. Dabei wird ein spezieller Fokus auf den konfliktuellen Interaktionsdynamiken antisemitischer Grenzziehungsprozesse

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

liegen, die es ermöglichen, Genese und Formwandel antisemitischer Bedeutungsfixierungen zu rekonstruieren. Nicht zuletzt sollen damit dem analytischen Werkzeugkasten der Taxonomie neue Prozesskategorien der antisemitischen Klassifikationspraxis hinzugefügt werden, die die Fluidität, Veränderbarkeit und kontextabhängige Wirkungsweise antisemitischer Differenzierungen aufzeigen können.

1.4.1

Forschungsdesign (Kapitel 7)

Im Hinblick auf die empirische Analyse der (Dis-)Kontinuitäten und Wandelbarkeiten antisemitischer Unterscheidungslinien wird das methodische Vorgehen in Form einer Diskursanalyse erörtert. Dabei werden zunächst die theoretischen und methodologischen Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse (WDA) nach Reiner Keller (2011a; 2011b; 2013b) erläutert und für die Medienanalyse öffentlicher Diskurse operationalisiert. Daran anschließend wird die Zusammenstellung des Datenkorpus begründet, durch Kriterien für die methodisch kontrollierte Auswahl von Datensamples für die Feinanalyse ergänzt und schließlich wird die methodische Verwendung des Kodierparadigmas der Grounded Theory (Strauss 1991; Strauss und Corbin 1996) als Instrument der feinanalytischen Interpretation präzisiert.

1.4.2

Die Walser-Bubis-Kontroverse 1998 (Kapitel 8)

Gegenstand des achten Kapitels ist die Kontroverse der Walser-Bubis-Debatte 1998, die sich an die Rede des Schriftstellers Martin Walsers zum Erhalt des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels angeschlossen hat. Sie bildet hier gewissermaßen den Ausgangspunkt, von dem ausgehend die diachrone Analyse Genauer wird die Interpretation eines schuld- und erinnerungsabwehrenden Diskurses der nationalen Selbstverständigung betrachtet, in deren Folge stigmatisierende und stereotypisierende Zuschreibungen von Jüd*innen artikuliert wurden. Zugleich lassen sich Strategien der Grenzverwischung erkennen, durch die ethnisierte, rassialisierte und nationalisierte Unterscheidungslinien der Debatte infrage gestellt werden.

1.4.3

Die Beschneidungsdebatte 2012 (Kapitel 9)

Gegenstand der zweiten Diskursstudie ist die öffentliche Debatte über ein gerichtliches Verbot ritueller Beschneidungen von Säuglingen und Jugendlichen, welche im Judentum und Islam praktiziert werden. Der Untersuchungsfokus liegt hier primär auf Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen, die damit einhergehen. Dadurch wird sichtbar, wie der jüdische Identifikationsakt der Beschneidung durch kategoriale Verknüpfungen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Typen der Grenzziehungen abgewertet und jüdisch-kulturelle Lebensweisen als »illegitim« und »fremd« markiert werden. Daneben lassen sich auch hier wieder spezifische Klassifikationsstrategien der Grenzverwischung illustrieren, durch die Differenzkonstruktionen zwischen jüdischer Minderheit und nicht-jüdischer Mehrheitsgesellschaft herausgefordert werden.

1 Einleitung

1.4.4

Die Gaza-Proteste 2014 (Kapitel 10)

Gegenstand der dritten Diskursstudie sind die politischen Demonstrationen gegen den Militäreinsatz der israelischen Streitkräfte im Gaza-Streifen 2014 sowie die daran anschließenden öffentlichen Debatten über den antisemitischen Charakter dieser Demonstrationen. Das Untersuchungsinteresse dieser Diskursanalyse wird zweigeteilt sein. Zum einen werden antisemitische Grenzziehungsstrategien von muslimisch und/oder migrantisch identifizierten Akteur*innen im Kontext der Demonstrationen interpretiert. Zum anderen werden hegemoniale Klassifikationsstrategien von Akteur*innen der Mehrheitsgesellschaft untersucht, die Bewertungen der Demonstrationen ex post vorgenommen und dabei Ausschließungen von Jüd*innen hervorgebracht haben. Auch hier werden gleichermaßen Strategien der Grenzverwischung betrachtet, die auf eine Anerkennung multipler Zugehörigkeiten von Jüd*innen zielen.

1.4.5

Finale Schlussbetrachtung – Kontinuitäten und Wandelbarkeiten antisemitischer Grenzziehungen, Vorteile einer Taxonomie, Potenziale für die weitere Forschung (Kapitel 11)

Das Abschlusskapitel leistet die Zusammenführung der konzeptionell-theoretischen Elemente (1. Teil, Kapitel 2-6) und empirischen Ergebnisse dieser Arbeit (2. Teil, Kapitel 7-10). Dabei möchte ich zunächst die übergeordnete Fragestellung nach den (Dis-)Kontinuitäten und Wandelbarkeiten antisemitischer Grenzziehungen in dem hier untersuchten Zeitraum beantworten. Damit erfolgt eine inhaltlich-systematisierende Darstellung von Mechanismen der Reproduktion und Transformation von Klassifikationsstrategien der Grenzziehung und Grenzverwischung. Daran anschließend illustrieren die empirischen Ergebnisse der Arbeit pointiert die Vorteile und Stärken der Taxonomie für die Untersuchung antisemitischer Grenzziehungsprozesse. Abschließend werden der analytische Mehrwert und die Reichweite einer prozessorientierten Taxonomie antisemitischer Grenzziehungen als normativ-ethisches Unterfangen aus einer wissenschaftssoziologischen Perspektive reflektiert und der Werkzeugkasten im Hinblick auf seine Vorteile für die weitere sozialwissenschaftliche Forschung über Antisemitismus, »Ethnizität«, Rassismus, Nationalismus und ihre theoretischen Modelle im Anschluss an das Grenzziehungsparadigma beurteilt.

1.5

Konklusion

Im Mittelpunkt dieses einleitenden Kapitels steht die generelle Situierung des Forschungsinteresses dieser Arbeit. Dabei wurde die heterogene Erscheinungsvielfalt antisemitischer Klassifikationen und die Vielzahl seiner assoziativen und empirischen Kontexte, die Jüd*innen in der politischen Gegenwart bedrohen, mit theoretischen Leerstellen der Forschungsfelder »Ethnizität«, Rassismus und Nationalismus sowie dominanten theoretischen Zugängen der Antisemitismusforschung kontrastiert. Im Hinblick auf die theoretische und empirische Arbeit dieser Dissertation wurde dafür argumentiert, einen analytischen Perspektivwechsel auf die prozessuale Logik der

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1 Einleitung

1.4.4

Die Gaza-Proteste 2014 (Kapitel 10)

Gegenstand der dritten Diskursstudie sind die politischen Demonstrationen gegen den Militäreinsatz der israelischen Streitkräfte im Gaza-Streifen 2014 sowie die daran anschließenden öffentlichen Debatten über den antisemitischen Charakter dieser Demonstrationen. Das Untersuchungsinteresse dieser Diskursanalyse wird zweigeteilt sein. Zum einen werden antisemitische Grenzziehungsstrategien von muslimisch und/oder migrantisch identifizierten Akteur*innen im Kontext der Demonstrationen interpretiert. Zum anderen werden hegemoniale Klassifikationsstrategien von Akteur*innen der Mehrheitsgesellschaft untersucht, die Bewertungen der Demonstrationen ex post vorgenommen und dabei Ausschließungen von Jüd*innen hervorgebracht haben. Auch hier werden gleichermaßen Strategien der Grenzverwischung betrachtet, die auf eine Anerkennung multipler Zugehörigkeiten von Jüd*innen zielen.

1.4.5

Finale Schlussbetrachtung – Kontinuitäten und Wandelbarkeiten antisemitischer Grenzziehungen, Vorteile einer Taxonomie, Potenziale für die weitere Forschung (Kapitel 11)

Das Abschlusskapitel leistet die Zusammenführung der konzeptionell-theoretischen Elemente (1. Teil, Kapitel 2-6) und empirischen Ergebnisse dieser Arbeit (2. Teil, Kapitel 7-10). Dabei möchte ich zunächst die übergeordnete Fragestellung nach den (Dis-)Kontinuitäten und Wandelbarkeiten antisemitischer Grenzziehungen in dem hier untersuchten Zeitraum beantworten. Damit erfolgt eine inhaltlich-systematisierende Darstellung von Mechanismen der Reproduktion und Transformation von Klassifikationsstrategien der Grenzziehung und Grenzverwischung. Daran anschließend illustrieren die empirischen Ergebnisse der Arbeit pointiert die Vorteile und Stärken der Taxonomie für die Untersuchung antisemitischer Grenzziehungsprozesse. Abschließend werden der analytische Mehrwert und die Reichweite einer prozessorientierten Taxonomie antisemitischer Grenzziehungen als normativ-ethisches Unterfangen aus einer wissenschaftssoziologischen Perspektive reflektiert und der Werkzeugkasten im Hinblick auf seine Vorteile für die weitere sozialwissenschaftliche Forschung über Antisemitismus, »Ethnizität«, Rassismus, Nationalismus und ihre theoretischen Modelle im Anschluss an das Grenzziehungsparadigma beurteilt.

1.5

Konklusion

Im Mittelpunkt dieses einleitenden Kapitels steht die generelle Situierung des Forschungsinteresses dieser Arbeit. Dabei wurde die heterogene Erscheinungsvielfalt antisemitischer Klassifikationen und die Vielzahl seiner assoziativen und empirischen Kontexte, die Jüd*innen in der politischen Gegenwart bedrohen, mit theoretischen Leerstellen der Forschungsfelder »Ethnizität«, Rassismus und Nationalismus sowie dominanten theoretischen Zugängen der Antisemitismusforschung kontrastiert. Im Hinblick auf die theoretische und empirische Arbeit dieser Dissertation wurde dafür argumentiert, einen analytischen Perspektivwechsel auf die prozessuale Logik der

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Konstruktionsmechanismen antisemitischer Gruppendifferenzen und die Vielzahl ihrer kategorialen Verknüpfungen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Unterscheidungslinien zu vollziehen. Durch die Betonung von Klassifikationspraktiken und Grenzziehungsstrategien sozialer Akteur*innen in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen verspricht die theoretische Kombination von Grenzziehungsparadigma und Intersektionalitätsansatz eine empirische Offenheit gegenüber der kontingenten Multivariabilität antisemitischer Klassifikationsprozesse.

Teil 1: Auf dem Weg der Konstruktion eines taxonomischen Konzeptes antisemitischer Grenzziehungsprozesse

2 Eine intersektionale Grenzziehungsperspektive auf die Mehrdimensionalität antisemitischer Unterscheidungslinien Programmatische theoretische Grundlegung einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungsprozesse

In diesem Kapitel stehen nun einige zentrale programmatische Grundlegungen der konzeptuellen Taxonomie antisemitischer Grenzziehungsprozesse im Mittelpunkt. Durch die Kombination des kultursoziologischen Grenzziehungsparadigmas mit intersektionalen Theorieperspektiven und Analysevokabularen – das Kernstück der theoretischen Fundierung dieser Arbeit – soll eine prozessorientierte Sichtweise auf die kulturellen Aushandlungsprozesse antisemitischer Kategorisierungen etabliert werden. Vor diesem paradigmatischen Hintergrund wird in diesem Kapitel ein relationales Verständnis antisemitischer Differenzierungen entwickelt, die als soziokulturelle Konstruktionsweisen kategorial verschränkter Typen der antisemitischen Grenzziehung konzeptualisiert werden. Demzufolge werden Antisemitismen als wandelbare Klassifikationen definiert, deren Bedeutungen von sozialen Akteur*innen in unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten verschieden interpretiert und angeeignet werden, um Grenzen zwischen einem nicht-jüdischen »Innen« gegenüber einem jüdischen »Außen« herzustellen. Wie werden durch Klassifikationen Grenzen generiert? Wie lassen sich (Dis-)Kontinuitäten und Wandelbarkeiten antisemitischer Differenzierungen erklären? Wie werden antisemitische Grenzen temporär stabilisiert und destabilisiert? Wie lassen sich die simultanen Wechselwirkungen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Differenzierungen in antisemitischen Grenzziehungsprozessen identifizieren? Um diese Fragen zu beantworten, werden zentrale programmatische Elemente dieser Taxonomie antisemitischer Grenzziehungsprozesse herangezogen. Im Folgenden sind das: •

die Aneignung von wissens-, differenz- und bedeutungsorientierten Zugängen der Antisemitismusforschung (Volkov 1978; Bauman 2012; Holz 2001), um die polykon-

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus







texturale Erscheinungsvielfalt antisemitischer Klassifizierungen als wandelbare Codes und Symbole interpretieren zu können (Kapitel 2.1). die kultursoziologische (Bourdieu 2011; 2014; 2015; Reckwitz 2004; 2008; 2012) Integration der Antisemitismusforschung in den bedeutungs- und symbolorientierten Leitfaden des cultural turn (Alexander 1988)(Kapitel 2.2). das Grenzziehungsparadigma (Amelina 2017; Lamont und Molnár 2002; Neckel und Sutterlüty 2008; 2010; Barth 1969) mit einem speziellen Fokus auf dem Ansatz des ethnic boundary making von Andreas Wimmer (2013), das die kontingente Konstruktionsdynamik lokal-historisch spezifischer, d.h. wandelbarer, Prozesse der Grenzziehungen des Antisemitismus erklärbar macht (Kapitel 2.3, Kapitel 2.4). die heuristische Aneignung des Intersektionalitätsansatzes (Walby, Armstrong und Strid 2012; Hancock 2007; 2013; H. Lutz, Herrera Vivar und Supik 2010a; Anthias 2012), um die heterogene Erscheinungsvielfalt antisemitischer Klassifikationen als kategoriale Wechselwirkungen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Typen der Grenzziehung analysieren zu können (Kapitel 2.5).

Im nächsten Abschnitt erfolgt zunächst eine allgemeine Annäherung an den Gegenstandsbereich »Antisemitismus«. Daran anschließend wird unter spezieller Bezugnahme auf Volkovs Konzept des Antisemitismus als kultureller Code (1978) und auf Holzʼ wissenssoziologischen Begriff der antisemitischen Semantik ein Theorievokabular gewonnen, das sich für die Untersuchung des Formwandels antisemitischer Differenzierungen operationalisieren lässt.

2.1

Antisemitismus als kultureller Code: Die anpassungsfähigen Stereotypisierungen der jüdischen Figur des Dritten

Weitestgehend übereinstimmend wird das Phänomen des »Antisemitismus« in der Antisemitismusforschung als Sammelbezeichnung für eine Feindschaft gegen Juden als Juden verstanden (Klug 2004; Bernstein 2018; Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus 2017) und umfasst alle »Einstellungen und Handlungen, die den als Juden geltenden Einzelpersonen oder Gruppen aufgrund dieser Zugehörigkeit negative Eigenschaften unterstellen, um damit eine Abwertung, Benachteiligung, Verfolgung oder Vernichtung ideologisch zu rechtfertigen« (Pfahl-Traughber 2002: 9). Obgleich Hass und Feindseligkeiten gegenüber Jüd*innen konstitutives Merkmal von Antisemitismen sind, beruht die Entwicklung dieser negativen Affekte auf abstufbaren Formen des antisemitischen Denkens, Wahrnehmens und Handelns, das sich bereits auf einer niedrigschwelligen Ebene in vielfältiger Gestalt von Stereotypen, Vorurteilen, Abwertungen, emotionalen Abneigungen, Distanzierungen, Schmähungen, Verallgemeinerungen oder Weltanschauungen äußern kann und sich nicht auf den nationalsozialistischen Vernichtungsantisemitismus reduzieren lässt (Bernstein 2018: 6). Gleichzeitig zielt ein weit gefasstes Verständnis antisemitischer Unterscheidungspraktiken darauf ab, die Differenzierung zwischen intentionalen und nicht-intentionalen Antisemitismen aufzuheben. In Anlehnung an Rommelspacher (2011: 31f.) versuche ich im Verlauf

2 Eine intersektionale Grenzziehungsperspektive auf antisemitische Unterscheidungslinien

der folgenden Theorieexegese auch für solche Antisemitismen zu sensibilisieren, die ihrem Effekt nach, nicht zwingend motivational als antisemitisch zu begreifen sind. Antisemitische Ausschließungen beginnen demzufolge nicht erst mit der bewussten und explizit-offenen Herabwürdigung von Jüd*innen, sondern lassen sich gleichermaßen auf einer subtileren »nicht-gewollten« Ebene identifizieren, die für Personen, die nicht-intentional antisemitisch handeln, häufig nicht nachvollziehbar erscheinen. So gilt hier, was Stuart Hall mit Bezug auf Rassismus festgestellt hat: dass »ein ideologischer Diskurs nicht von den bewußten Intentionen derjenigen ab[hängt], die innerhalb dieses Diskurses Aussagen formulieren« (Hall 1989a: 158, Hervorh. i. Orig.). Im Ergebnis soll daher mit dieser Arbeit durch die Entwicklung eines antisemitismussensiblen Analyseinstrumentariums ein Beitrag geleistet werden, der die Perspektivendivergenz zwischen der mehrheitsgesellschaftlichen Skepsis und häufig auch bagatellisierenden Haltung gegenüber dem Phänomenkomplex Antisemitismen einerseits sowie den multiplen Betroffenheitserfahrungen und antisemitischen Diskriminierungen von Jüd*innen andererseits überwinden soll (Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus 2017: 93; Küpper, Radvan und Chernivsky 2018). Von diesem allgemeinen Ausgangspunkt ausgehend wird danach gefragt, wie sich die Vorstellungs- und Bedeutungskomplexe der Gegnerschaft und von als konflikthaft verstandenen Gruppenbeziehungen zwischen Nicht-Jüd*innen gegenüber Jüd*innen als machtvolle Teilungsprinzipien der sozialen Welt durch soziale Praktiken von Akteur*innen etablieren.1 Dabei stehen hier vor allem die vielfältigen und lokal-historisch spezifizierbaren Formen der Herstellung des Gegensatzes in den Gruppenbeziehungen zwischen jüdischem »Außen« und nicht-jüdischem »Innen« und der sozial sehr weitreichenden Folgen für die abgewertete Gruppe der Jüd*innen im Zentrum.2 Wie sich an späterer Stelle zeigen wird, werden die Gruppen der Nicht-Jüd*innen und Jüd*innen nicht, wie es in der Definition tendenziell essentialisierend zum Ausdruck kommt, als unterscheidbare Gruppen vorausgesetzt. Vielmehr erscheint die fraglosselbstverständlich scheinende Bedeutung und politische Relevanz dieser mehrdimensional konstruierten Differenzierung als Resultat kultureller Aushandlungsprozesse, in denen Grenzen zwischen nicht-jüdischer ingroup gegenüber einer jüdischen outgroup gezogen und damit ungleiche Lebensverhältnisse produziert werden. Wie sich antisemitische Zuschreibungen nun als Prozesse der Differenzierung darstellen lassen, die sich als temporär stabilisierte Deutungsangebote der sozialen Welt sedimentieren, und wie sich verändernde soziale und kulturelle Kontexte anpassen können, zeigen die im Folgenden diskutierten Ansätze der Antisemitismusforschung. Mit der aus einem primär historiographischen Ansatz heraus konzipierten Studie »Antisemitism as a Cultural Code. Reflexions on the History and Historiography of Antisemitism in Imperial Germany« entwickelt Shulamit Volkov (1978) eine kulturgeschichtliche Antisemitismustheorie, die semantische und hermeneutische Prozesse in den Vordergrund rückt (Salzborn 2010a: 147). Ausgangspunkt ihrer Untersuchung ist die Frage

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Zum praxeologischen Verständnis von Kultur in dieser Arbeit siehe Kapitel 2.2. Zum theoretischen Verständnis der sozialen Konstruktionsmechanismen von Grenzziehungen siehe Kapitel 2.3, 2.4.

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

nach der kulturellen Formierung antisemitischer Wahrnehmungsweisen sowie der Verdichtung judenfeindlicher Symbole zu einem kohärenten System der Weltanschauung im wilhelminischen Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Als kulturelles Sinnschema konfiguriert der Antisemitismus, nach Volkov, Relationen zwischen menschlichen Praktiken des Denkens, Fühlens und Handelns, die in »a great symbolic unit« (Volkov 1978: 31) von Kultur sedimentiert sind. Hierbei dient der kulturelle Code als Chiffre für die Deutung der sozialen Wirklichkeit, interpretiert gesellschaftliche Entwicklungen mit intersubjektiv teilbaren Bezeichnungen und legt den Fokus auf das »Wie« der Konstruktion dieser Bedeutungen (Ziemann 2005: 309ff.): Wie werden Antisemitismen ausgehandelt, verfestigt und kulturell formiert? Auf welche Zeichen, Codes und Zuschreibungen verweisen die symbolischen Differenzsysteme des Antisemitismus in einem gegebenen Raum-Zeit-Kontinuum? Für die Bindungskraft antisemitischer Codes und ihrer legitimen Geltung zieht Volkov Clifford Geertzʼ Begriff der Metapher heran: The power of metaphor derives precisely from the interplay between the discordant meaning it symbolically coerces into a unitary conceptual framework and from the degree to which that coercion is successful in overcoming the psychic resistance such semantic tension inevitably generates in anyone in a position to perceive it. When it works, a metaphor transforms a false identification […] into an apt analogy; when it misfires it is a mere extravagance. (Geertz 1964: 59, Hervorh. i. Orig.) So folgen Individuen, die sich das antisemitische Interpretationsrepertoire zu eigen machen, dem inhärenten Sinnschema der Metaphorik, um durch den symbolischen Platzhalter der antisemitischen Codierung komplexe Phänomene der sozialen Wirklichkeit zu klassifizieren. Allerdings ist die kommunikative Verwendung antisemitischer Zeichen nicht auf einen spezifischen Zusammenhang beschränkt; vielmehr fungiert die symbolische Ordnung des Antisemitismus in verschiedenen Diskurszusammenhängen, assoziativen Kontexten und Ereignisstrukturen als Mechanismus der subjektiven Aneignung von Wirklichkeit. »It was not jew-baiting made respectable, but hatred of Jews made symbolical« (Volkov 1978: 39). Auf der praxeologischen Ebene eröffnen antisemitische Codes, Symbole und Chiffren die Möglichkeit, ohne die explizite Artikulation antisemitischer Sinngehalte – Adorno hat hierfür den Begriff des »KryptoAntisemitismus« (Adorno 2003b: 361) geprägt – judenfeindliche Klassifikationen und Zuschreibungen zu reproduzieren, die sowohl für den Sender als auch den Empfänger, bewusst oder unbewusst, dieselbe Bedeutung haben. Bestimmte Assoziationen, Bilder und Schlagworte genügen, um ein gemeinsames antisemitisches Deutungspotenzial abzurufen und die tradierten Stereotype latent zu reaktualisieren (Salzborn 2010a: 337). Ein besonders prägnantes Beispiel wäre in diesem Zusammenhang die assoziative Verknüpfung von »jüdisch« und »Macht«, wie es etwa in der Vorstellung des weltumspannenden Einflusses einer »Israel-Lobby« zum Ausdruck kommt, die dazu beitragen soll, vermeintlich israelische Verbrechen in den Palästinensergebieten zu verschleiern. Welche Codes mit welcher Bedeutung in kontingenten kulturellen Sinnzusammenhängen aufgeladen werden und wie sie in klassifikatorischen Praktiken sozialer Akteur*innen diskursiv verknüpft werden, ist dabei Resultat symbolischer Aushandlungsprozesse der antisemitischen Grenzziehung. Insbesondere soll der empirische Teil dieser Arbeit nachzeichnen, wie sich mithilfe des analytischen Werkzeugkastens einer

2 Eine intersektionale Grenzziehungsperspektive auf antisemitische Unterscheidungslinien

Taxonomie antisemitischer Grenzziehungsprozesse ein Bedeutungswandel antisemitischer Unterscheidungslinien rekonstruieren lässt. Der Antisemitismusforscher Klaus Holz kritisiert in seiner Habilitationsschrift »Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung« (2001) die begriffliche Bestimmung der kulturellen Codierung des Antisemitismus, dessen Symbolik als integrative Chiffre für soziale, politische und moralische Deutungsmuster steht (Holz 2001: 29). Problematisch sei hieran, so Holz, dass der Antisemitismus zwar, wie Volkov zurecht erkenne, Merkmale einer Weltanschauung aufweise. Er stelle aber eben kein bloßes Kürzel für eine Reihe anti-moderner Interpretationsmuster dar, sondern integriere gerade die »Idee«, im Verbund mit dem Nationalismus, diverse (aber nicht beliebige) »Ideen« zu einem »System« oder einer Weltanschauung« (ebd.). Den (nationalen) Antisemitismus definiert Holz als »weltanschauliche, politisch-soziale Semantik, die wenigstens seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in verschiedenen europäischen Ländern weit verbreitet war« (ebd.: 11). Konstitutiv für dieses klassifikatorische System ist ein typisiertes jüdisches »Fremdbild«, das in dieser Semantik untrennbar mit einem nationalen Selbstbild verbunden ist. Denn nur über die Art und Weise, wie sich das nationale Kollektiv die jüdische »Fremdgruppe« imaginiert, kann sie zugleich ein relationales Selbstbild in dem binären Gegensatzpaar (in- und outgroup) schaffen. Unter Semantik versteht Holz, in Anlehnung an Niklas Luhmann, den »kulturelle[n] Wissensvorrat einer Gesellschaft« (Holz 2001: 15), die »einen höherstufig generalisierbaren, relativ situationsunabhängig verfügbaren Sinn« (Luhmann 1998: 19) abbildet. Allerdings transzendiert der jüdische »Andere« die symmetrische Ordnung der Welt in zwar divergierende, aber trotzdem gleichberechtigte Staaten, die von Gruppen mit unterschiedlich konstruierten ethnischen oder nationalen Identitäten getragen werden. Während sich im Nationalismus die Vorstellung der »eigenen« »Nation komplementär zu dem Gegensatz der »fremden« Nation ausbildet, brechen »die« Juden aus dem Ordnungsschema nationaler Zugehörigkeitsprojekte aus und stellen damit die Negation aller Nationalstaatlichkeit dar, das »tertium non datur« (Holz 2001: 271) der nationalen Identität. Gerade weil aber das kategoriale Ordnungsmuster nationaler Gruppenbildungsprozesse instabil und zerbrechlich ist, bedarf es der Konstruktion des jüdischen »Dritten« (ebd.: 270), der als Ausgeschlossenes eine ambivalente Stellung in dem dichotomen Gebilde von in- und outgroup einnimmt: Die Grenzmarkierung zwischen »Innen« und »Außen« erfordert, idealtypisch, eine simplifizierende Eindeutigkeit, die in konkreten Prozessen der Aushandlung keinesfalls so klar strukturiert sein muss, wohingegen sich die jüdische »Fremdgruppe« nicht in diese symmetrisch konstruierten »Wir«-Gruppen-Relationen einordnen lässt. Im Gegensatz zu konventionellen Formen der Gruppenformation nehmen Jüd*innen in Grenzziehungsprozessen eine Sonderstellung ein; sie unterminieren, sabotieren und bedrohen die sozial hergestellten Grenzlinien durch ihren ambivalenten Status (Bauman 2005; 2012; Holz 2001; 2004; 2005; Weyand 2016a). Wird auch anderen »Fremdgruppen« mit diffusen Ängsten begegnet – hierfür steht das Bild der sexuellen Unersättlichkeit von »Schwarzen«3 Männern (von Braun 1994) oder der 3

Die Bezeichnung »Weiß« und »Schwarz« wird hier in dem Bewusstsein verwendet, dass sie keine »natürlichen« Differenzierungsmerkmale darstellen, sondern soziohistorisch gewachsene, ideo-

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

vermeintlich bewusst herbeigeführten Islamisierung des »christlichen Abendlandes« durch eine homogen definierte Gruppe der Muslim*innen (Fekete 2004) –, erfährt die Typisierung der jüdischen »Fremdgruppe« eine Systematisierung, die sie von anderen unterscheidet: sie verknüpft Disparitäten, Widersprüche und Ambivalenzen in der Kategorisierung zu einem multidimensionalen und inkongruenten, aber nichtdestotrotz machtvollen Bild der »universellen Viskosität« (Bauman 2012: 55). Die Juden erscheinen als heimtückische, destruktive Kraft, als Urheber von Chaos und Unruhe; als klebrige Substanz, die die Grenzlinien zwischen dem, was es zu scheiden galt, verschmierte, die die hierarchische Stufenleiter schlüpfrig machte, Festes aufweichte und alles, was heilig war, in den Strudel der Profanisierung zog. (Bauman 2012: 64) Die Ambiguität der antisemitischen Grenzziehung ergibt sich hierbei aus ihrer Struktur. Konträr zu anderen Exklusionsprozessen4 , bei denen mit dem Verschwinden der Differenz, etwa durch staatsbürgerliche Assimilation, auch die Grenzen des sozialen Ein- und Ausschlusses verschoben werden, sprich die Herstellung von Rassismen zurückgehen, nahmen antisemitische Eruptionen in Deutschland infolge der Judenemanzipation 1871 in Quantität und Qualität zu (von Braun 1994).5 Zugleich lassen sich auch Tendenzen eines »Antisemitismus ohne Antisemiten« (Marin 2000: 11) konstatieren, sodass in Staaten, in denen jüdische communities, gemessen an der Gesamtbevölkerung, einen minimalen Prozentsatz ausmachen, dennoch scharfe antisemitische Grenzen etabliert sind. Die Holz’sche Figur »des Dritten« nimmt diese ambivalente Gleichzeitigkeit von In- und Exklusion antisemitischer Kategorisierungsprozesse auf und definiert die Kategorie »Jude« gerade nicht als prototypisches Fremdbild. »Sie sind Innen nicht zugehörig und haben Außen keinen Ort im Sinne von Volk/Staat/Nation. Die ›Juden‹ personifizieren mit anderen Worten […] die nicht-identische, anti-nationale Nation« (Holz 2004: 54). Diese Arbeit weist, rückgreifend auf den analytischen Ansatz der Intersektionalitätsforschung, die Dominanz der Strukturkategorie »Nation« in der Betrachtung antisemitischer Differenzbeziehungen, unter Bezugnahme auf das fluide Zusammenspiel mehrdimensionaler Wechselwirkungen, zurück.6 Zuschreibungen des »Jüdischen« entlang dieser Semantik sind allerdings nicht als ahistorische, gleichsam übersubjektive Wissensstrukturen zu verstehen, sondern als Bedeutungsträger, die in

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logische Konstruktionen repräsentieren, die den Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen und Privilegien entlang der politischen Deutung von »Hautfarben« begrenzen oder eröffnen (H. Lutz, Herrera Vivar und Supik 2010b: 10; Walgenbach 2005). Prototypisch lassen sich hierfür etwa die »Weißwerdung« der Ir*innen und Italiener*innen in den USA anführen, die historisch als Gruppe rassifiziert und abgewertet wurden (Ignatiev 1995; Guglielmo, 2003) Christina von Braun schreibt diesbezüglich: »Nicht die orthodoxen, sondern die ›assimilierten‹ Juden – diese ›Fremden‹, denen man ihre Fremdheit nicht mehr richtig ansehen konnte, die Kaftan, Bart und Schläfenlocken abgelegt und sich mit dem ›Wirtsvolk‹ vermischt hatten – wurden als Gefährdung betrachtet« (von Braun 2000: 35). Dennoch findet die »Figur des Dritten« hier Anwendung, wenn es um die ambivalente Stellung von Jüd*innen in Gruppenbildungsprozessen geht. Zum Verständnis der Mehrdimensionalität von Strukturkategorien sozialer Ungleichheit siehe Kapitel 2.5.

2 Eine intersektionale Grenzziehungsperspektive auf antisemitische Unterscheidungslinien

der Aneignung und Interpretation der sozialen Welt durch soziale Akteur*innen wandelbare Signifikationen erfahren. In diesem Sinne muss die Kategorie »Jude« primär als bedeutungsoffenes Imaginativ eines leeren Signifikanten7 konzeptualisiert werden, in den sich eine Vielzahl unterschiedliche und wandelbare Differenzsetzungen einschreiben lassen (von Braun 1994: 23). Dennoch können einige tradierte Stigmatisierungen und Stereotypisierungen von Jüd*innen ausgemacht werden, die idealtypisch den ambivalenten sozialen Status von Jüd*innen in sozialen Ordnungen der In- und Exklusion sichtbar machen. So werden Jüd*innen in antisemitischen Klassifizierungsprozessen etwa als wurzellose Antagonisten jeder partikularen, vermeintlich organisch gewachsenen Identität kategorisiert. Sinnbildlich für die ambigue Stellung der jüdischen »Figur des Dritten« und damit auch für die machtvolle Widersprüchlichkeit der Unterscheidungszeichen steht dabei das sogenannte Welterklärungspotenzial des Antisemitismus (Rürup 1975; Salzborn 2010a). Denn einerseits reproduziert das Narrativ des »Juden« die Phantasmagorie einer jüdischen Weltverschwörung, mit dem hinter unverstandenen und abstrakten gesellschaftlichen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Prozessen der Moderne das verschwörerische Wirken von »jüdischen« Strippenzieher*innen identifiziert wird (Rensmann 2004a; Rensmann und Schoeps 2011; Bergmann 2006). Andererseits wird die Nicht-Identität von Jüd*innen in rassistischen Diskursen des Antisemitismus8 mit dazu disparaten Merkmalen körperlicher Minderwertigkeit belegt, die Jüd*innen als schwach, körperlich unterlegen, impotent, inzestuös und anfällig für Krankheiten definieren oder durch vergeschlechtlichte Symboliken des effeminierten Juden abwerten (Gilman 1993; von Braun 1992; A.G. Gender Killer 2005).9 Die Kontingenz symbolischer Ordnungen des Antisemitismus zeigt sich mithin gegenüber wandelbaren soziohistorischen Kontextbedingungen anpassungsfähig. So fügt

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Der Begriff des »leeren Signifikanten« entstammt der Hegemonie- und Diskurstheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (2000) und beschreibt den tendenziell entleerten Zeicheninhalt eines besonderen diskursiven Elementes, das als universaler Sammlungspunkt eines Diskurses fungiert. Dieser leere Signifikant ist aufgrund seiner Bedeutungsoffenheit in besonderer Weise dazu geeignet, eine Vielzahl heterogener Bedeutungen und differenzieller Zuschreibungen zu integrieren, sprich zu »sammeln«. In diesem Sinne beschreibt Laclau (2002) den »leeren Signifikanten« als einen »Signifikant ohne Signifikat« (65). Die Überschneidungen mit der beinahe infiniten Vielzahl antisemitischer Signifikationen des jüdischen »Anderen«, die sich aus der »Multi-Dimensionalität der jüdischen Unschärfe« (Bauman 2012: 55) ergeben, erscheinen offenkundig. Zu rassialisierten Klassifikationsmuster des Antisemitismus mit speziellem Fokus auf Zuschreibungen von Allmacht als vermeintlich biologische Wesensqualität von Jüd*innen siehe Kapitel 3.4. Entscheidend ist hierbei, dass die Polysemie der Bedeutungen in antisemitischen Diskursen kontradiktorische Fremdzuschreibungen der Judenfeindschaft widerspruchsfrei integrierbar macht und in einen kohärenten Sinnzusammenhang übersetzt. Adorno und Horkheimer haben diese Relationalität antisemitischer Inkonsistenz folgendermaßen beschrieben: »Das Hirngespinst von der Verschwörung lüsterner jüdischer Bankiers, die den Bolschewismus finanzieren, steht als Zeichen eingeborener Ohnmacht« (Adorno und Horkheimer 2008: 203). Mit anderen Worten werden Jüd*innen als Drahtzieher*innen hinter dem Sowjetkommunismus imaginiert und gleichzeitig als Personifikation der abstrakten Prozesse der kapitalistischen Wirtschaftsweise konstruiert – eine Contradictio in Adjecto.

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

sich auch die Gründung des Staates Israel in das Kontinuum eines sich beständig erneuernden Formwandels antisemitischer Differenzierungen ein und hebt Israel auf eine andere Ebene. Der jüdische Staat erscheint hierbei als nicht-identisches Prinzip der antisemitischen Projektion symbolisch aufgeladen (Holz 2005: 56f.). In Anlehnung an Zygmunt Bauman lässt sich die antisemitische Umdeutung des Staates Israel als Beispiel für die diffundierenden Qualitäten des Antisemitismus in kontingenten kulturellen Wissensordnungen begreifen, denn: der zeitgenössische Antisemitismus ist nicht so sehr ein Produkt kultureller Sedimentierung, sondern unterliegt vielmehr einer kulturellen Diffusion […]. Wie andere Objekte kultureller Verbreitung, erfährt der Antisemitismus, bei aller Affinität zur ursprünglichen Form, Umwandlungen […] und kann sich somit den Anforderungen im neuen kulturellen Raum anpassen. (Bauman 2012: 94) Diese Einsicht in die Wandelbarkeit des formbaren antisemitischen »Gerücht[s] über die Juden« (Adorno 2003a: 125), seine Anpassungsfähigkeit an verschiedene, lokal-historisch spezifische kulturelle Sinnzusammenhänge und situative Operationslogik ist eine zentrale Prämisse für die Analyse antisemitischer Kategorisierungsprozesse. Es erfordert demzufolge einen variablen Zugang, der die heterogene Vielfalt antisemitischer Erscheinungen und die fortlaufenden Prozesse der diskursiven Stabilisierung und Destabilisierung antisemitischer Differenzierungsprozesse erklären kann – gerade weil sich der Phänomenkomplex »Antisemitismen« nicht auf eine ahistorische, statisch gesetzte Erscheinungsform reduzieren lässt. In den folgenden Kapiteln werden nun konzeptuelle Werkzeuge bereitgestellt, die (Dis-)Kontinuitäten und Bedeutungswandel antisemitischer Codes und Symbole als soziokulturelle Konstruktionsprozesse antisemitischer Grenzziehungen analysierbar machen sollen. Zu diesem Zweck entwickelt das nächste Kapitel nun eine Kontingenzperspektive auf die symbolische Umkämpftheit kultureller Klassifikationssysteme im Sinne des cultural turn, die für die Analyse der (Dis-)Kontinuitäten und Transformationen antisemitischer Klassifikationen relevant ist.

2.2

Kultur als Aushandlungsprozesse von Bedeutung: Zum Cultural Turn der Sozialwissenschaften

Als Jeffrey Alexander (1988) einen »cultural turn« (91) in den Sozialwissenschaften bilanzierte, nahm er Bezug auf eine Entwicklung, die bereits zwanzig Jahre zuvor von dem amerikanischen Kulturanthropologen Clifford Geertz angestoßen wurde10 . Im starken

10

Der cultural turn ist dabei nicht auf »einen« Stichwortgeber zurückzuführen, sondern basiert auf einer Vielzahl von Autoren, wie dem Literaturwissenschaftler Hayden Whites, dem Neostrukturalisten Michel Foucault, dem Semiologen und Literaturtheoretiker Roland Barthes, den Soziologen Pierre Bourdieu und Jacques Derrida, den Philosophen Thomas S. Kuhn und Richard Rorty und dem Anthropologen Raymond Williams. Dennoch gilt Clifford Geertz als einflussreichster Vertreter dieser Wenden. (Orji 2015: 104; Reckwitz 2012: 15-22). Eine Übersicht zu Kulturtheorien der Gegenwart liefern Moebius und Quadflieg (2011)

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

sich auch die Gründung des Staates Israel in das Kontinuum eines sich beständig erneuernden Formwandels antisemitischer Differenzierungen ein und hebt Israel auf eine andere Ebene. Der jüdische Staat erscheint hierbei als nicht-identisches Prinzip der antisemitischen Projektion symbolisch aufgeladen (Holz 2005: 56f.). In Anlehnung an Zygmunt Bauman lässt sich die antisemitische Umdeutung des Staates Israel als Beispiel für die diffundierenden Qualitäten des Antisemitismus in kontingenten kulturellen Wissensordnungen begreifen, denn: der zeitgenössische Antisemitismus ist nicht so sehr ein Produkt kultureller Sedimentierung, sondern unterliegt vielmehr einer kulturellen Diffusion […]. Wie andere Objekte kultureller Verbreitung, erfährt der Antisemitismus, bei aller Affinität zur ursprünglichen Form, Umwandlungen […] und kann sich somit den Anforderungen im neuen kulturellen Raum anpassen. (Bauman 2012: 94) Diese Einsicht in die Wandelbarkeit des formbaren antisemitischen »Gerücht[s] über die Juden« (Adorno 2003a: 125), seine Anpassungsfähigkeit an verschiedene, lokal-historisch spezifische kulturelle Sinnzusammenhänge und situative Operationslogik ist eine zentrale Prämisse für die Analyse antisemitischer Kategorisierungsprozesse. Es erfordert demzufolge einen variablen Zugang, der die heterogene Vielfalt antisemitischer Erscheinungen und die fortlaufenden Prozesse der diskursiven Stabilisierung und Destabilisierung antisemitischer Differenzierungsprozesse erklären kann – gerade weil sich der Phänomenkomplex »Antisemitismen« nicht auf eine ahistorische, statisch gesetzte Erscheinungsform reduzieren lässt. In den folgenden Kapiteln werden nun konzeptuelle Werkzeuge bereitgestellt, die (Dis-)Kontinuitäten und Bedeutungswandel antisemitischer Codes und Symbole als soziokulturelle Konstruktionsprozesse antisemitischer Grenzziehungen analysierbar machen sollen. Zu diesem Zweck entwickelt das nächste Kapitel nun eine Kontingenzperspektive auf die symbolische Umkämpftheit kultureller Klassifikationssysteme im Sinne des cultural turn, die für die Analyse der (Dis-)Kontinuitäten und Transformationen antisemitischer Klassifikationen relevant ist.

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Kultur als Aushandlungsprozesse von Bedeutung: Zum Cultural Turn der Sozialwissenschaften

Als Jeffrey Alexander (1988) einen »cultural turn« (91) in den Sozialwissenschaften bilanzierte, nahm er Bezug auf eine Entwicklung, die bereits zwanzig Jahre zuvor von dem amerikanischen Kulturanthropologen Clifford Geertz angestoßen wurde10 . Im starken

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Der cultural turn ist dabei nicht auf »einen« Stichwortgeber zurückzuführen, sondern basiert auf einer Vielzahl von Autoren, wie dem Literaturwissenschaftler Hayden Whites, dem Neostrukturalisten Michel Foucault, dem Semiologen und Literaturtheoretiker Roland Barthes, den Soziologen Pierre Bourdieu und Jacques Derrida, den Philosophen Thomas S. Kuhn und Richard Rorty und dem Anthropologen Raymond Williams. Dennoch gilt Clifford Geertz als einflussreichster Vertreter dieser Wenden. (Orji 2015: 104; Reckwitz 2012: 15-22). Eine Übersicht zu Kulturtheorien der Gegenwart liefern Moebius und Quadflieg (2011)

2 Eine intersektionale Grenzziehungsperspektive auf antisemitische Unterscheidungslinien

Kontrast zu dem dominanten mechanistischen Kulturverständnis der klassischen Soziologie steht im Zentrum der verstehenden Soziologie (Weber 2002) nun ein semiotischer Kulturbegriff (Geertz 1983), der die Bedeutung kollektiver Sinnsysteme für die Konstitution der sozialen Wirklichkeit hervorhebt (Reckwitz 2012: 22ff.) Der Blick richtet sich hier auf »intrakulturelle Variationen, [die] Machtgebundenheit des Kulturellen, [den] kulturellen Wandel sowie [die] Konzeptualisierung individuellen Handelns« (Wimmer 1996: 401). Die prozessuale Logik des kulturorientierten Paradigmenwechsels hat sich durch fast alle Disziplinen, Forschungsfelder und Methodologien gezogen; für die Antisemitismusforschung lässt sich zwar ein interdisziplinärer Methodenpluralismus (Benz 2010a: 23), konstatieren, dennoch bleibt das Forschungsfeld von dem symbolzentrierten Leitfaden der Kulturwissenschaft merkwürdig unberührt.11 Mit der sozialkonstruktivistischen Sichtweise als Grundlage des »neuen Kulturbegriffes« lässt sich Kultur als symbolische Ordnung verstehen, die menschliches Handeln, Wahrnehmen und Sinnverstehen durch kollektiv geteilte Wissensordnungen in Form abrufbarer Interpretationsschemata (P. L. Berger und Luckmann 2013), Differenzsysteme (Bourdieu 2011; 2015) oder symbolischer Codes (Geertz 1983) strukturiert. Diese kulturellen Wissensvorräte begründen die amorphe Vielfältigkeit der sozialen Welt und ihre Handlungen und machen sie durch Zuschreibung von Bedeutung klassifizierbar und interpretierbar (Reckwitz 2012: 120). Dabei ist zunächst festzuhalten, dass nicht jede Form des Klassifizierens als symbolischer Akt der Grenzziehung zu verstehen ist. Denn allgemein sind klassifikatorische Praktiken als »universelle menschliche Phänomene« (Neckel und Sutterlüty 2010: 219) zu definieren. Klassifikationen reduzieren Komplexitäten und sorgen für Orientierung in der sozialen Wirklichkeit, die sie durch die Kategorisierungspraktiken überhaupt erst konstituieren (Mauss 1989; Durkheim und Mauss 1987). So werden Gegenstände, Ereignisse, Menschen oder Phänomene durch soziale Klassifikationssysteme unterschieden und in hierarchisch angeordneten Klassifikationsgruppen in sinnhafte Beziehung zueinander gesetzt. (Emmerich und Hormel 2013: 45f.). Im Anschluss an P. L. Berger und Luckmann ließe sich daher resümieren, dass dieses Wissen überhaupt erst »die Bedeutungs- und Sinnstruktur, ohne die es keine menschliche Gesellschaft gäbe« (P. L. Berger und Luckmann, 2013: 69) bildet. Ich möchte diesen Ausgangspunkt des wissenssoziologischen Klassifikationsbegriffes nun im Hinblick auf die ungleichheitssoziologische Analyse der Differenzierungsprozesse antisemitischer Grenzziehungen zuspitzen, um damit zu erklären, wie sich (Dis-)Kontinuitäten und Bedeutungswandel antisemitischer Klassifikationen vor dem Hintergrund des cultural turn analysieren lassen. Andreas Reckwitzʼ (2004; 2008; 2012; Moebius und Reckwitz 2013) Kontingenzperspektive des kulturwissenschaftlichen Forschungsprogramms erklärt die Historizität der veränderbaren Wissensordnungen und kulturellen Sinnschemata. So unterliegen menschliche Praktiken überwiegend unbewussten symbolischen Ordnungen, kulturellen Codes und Sinnhorizonten, die in Abhängigkeit von zeitlich und räumlich kontextualisierbaren Wissensordnungen spezifisch geprägt werden (Reckwitz 2008: 17). Im 11

Hierzu siehe insbesondere FN 4.

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Anschluss an Pierre Bourdieu sind symbolische Ordnungen Systeme von Differenz. Diese Differenzsysteme sind zum einen Resultate symbolischer Kämpfe um Bedeutungen und zum anderen bringen sie soziale (Macht-)Beziehungen zum Ausdruck (Rehbein und Fröhlich 2009: 228; Wacquant 2013: 30-40; Bourdieu 2011). Die relative Unbestimmtheit der vergegenständlichten Wirklichkeit ist »Grundlage für die symbolischen Kämpfe um die Macht zur Produktion und Durchsetzung der legitimen Weltsicht« (Bourdieu 2011: 147). Diesen symbolischen Kämpfen um legitime Muster der Weltinterpretation liegt ein prozessuales Verständnis von Kultur zugrunde, das die Wandelbarkeit und Transformationen von Bedeutungen als Resultat kultureller Aushandlungsprozesse von strategisch denkenden, aber kulturell prädisponierten Akteur*innen begreift (Wimmer 2005: 13). Der kulturelle Prozesscharakter verweist darauf, dass die divergierenden interpretativen Zuschreibungsakte des/der Einzelnen in einem praxeologischen Sinne als »Nexus von wissensabhängigen Verhaltensroutinen« (Reckwitz 2003: 291) zu verstehen sind. Dabei lassen sich die Klassifikationsoperationen nicht ohne ihren Zusammenhang mit sich verändernden kulturellen Codes und symbolischen Ordnungen reflektieren. So rekurriert der kontingente Charakter des Prozessualen auf die Historizität und Variabilität kultureller Wissensordnungen. Kulturelles Wissen sedimentiert sich demzufolge durch symbolische Kämpfe und offene Aushandlungen, die zwischen Akteur*innen im sozialen Feld über Raum und Zeit hinweg ausgetragen werden (Wimmer 2005; 2008b; Neckel und Sutterlüty 2008). Um die Sichtweise auf die soziale Wirklichkeit zu verändern, ist es daher Ziel dieser symbolischen Kämpfe, »die Kategorien der Wahrnehmung und Bewertung der sozialen Welt, die kognitiven und evaluativen Strukturen zu verändern«, insofern es die »Wahrnehmungskategorien, die Klassifikationssysteme, das heißt im wesentlichen, die Wörter und Namen« sind, »die die soziale Welt sowohl konstruieren als auch zum Ausdruck bringen« (Bourdieu 2011: 147). Haben sich spezifische Klassifikationen schließlich als legitime Sicht der sozialen Welt und ihrer Teilungsprinzipien durchgesetzt, werden sie als habituelle Dispositionen verinnerlicht, inkorporiert und schließlich als kulturelle Schemata der Weltklassifikation in Form subjektiver Wahrnehmungs-, Darstellungs- und Zuschreibungsroutinen reproduziert und handlungskonstitutiv umgesetzt (Bourdieu 2015 Kapitel 3). Entsprechend der sozialen Lage des Subjekts bringt der Habitus die Klassifikationsschemata als soziokulturell kontextualisierbaren »sense of ones place« (Bourdieu 2011: 144) hervor: Folglich produziert der Habitus Praktiken und Vorstellungen, die klassifiziert werden können, die objektiv differenziert sind; als solche sind sie jedoch unmittelbar nur für Akteure wahrnehmbar, die den Code besitzen, die zum Verständnis ihres sozialen Sinns notwendigen Klassifikationsschemata. (ebd.) Für die Analyse wandelbarer, antisemitischer Klassifizierungen wird der Mehrwert eines kultursoziologischen Verständnisses der symbolischen Umkämpftheit legitimer Formen der Weltdeutung ferner deutlich, wenn ein genauerer Blick auf die Klassifikationssysteme des Habitus gerichtet wird, die als eine relationale Ordnung von Differenzen definiert werden. Klassifikationen im Bourdieuʼschen Sinne sind demzufolge nicht bloß als Kategorien der Wahrnehmung und Bewertung zu begreifen, sondern eben auch ganz basal als solche der Differenzierung (Reckwitz 2012: 326ff.). Kulturelle Klassifikationssysteme und ihre Wahrnehmungs- und Bewertungs-

2 Eine intersektionale Grenzziehungsperspektive auf antisemitische Unterscheidungslinien

kategorien erzeugen demnach einen subjektiven Sinn der sozialen Welt, indem sie hierarchisch angeordnete symbolische Unterscheidungen hervorbringen, die Positives von Negativem, Zulässiges von Unzulässigem unterscheiden und damit als »Netzwerke miteinander verknüpfter Bedeutungen« (Wimmer 2005: 33) dazu geeignet sind, Gruppen, Personen, Gegenstände oder Praktiken auf- und abzuwerten (Lamont und Molnár 2002; Wimmer 2013). Soziale Akteur*innen aktivieren diese verinnerlichten, sprich habitualisierten, Systeme der Unterscheidung schließlich in alltäglichen Prozessen des Denkens, Wahrnehmens und Handelns (Wimmer 2005: 33). Andreas Wimmers prozesstheoretische Reformulierung des Kulturbegriffes zeigt dabei zusammenfassend, wie sich (Dis-)Kontinuitäten und Bedeutungswandel antisemitischer Klassifizierungen vor dem Hintergrund eines pragmatischen Begriffes des Kulturellen als ein bedeutungsoffener Aushandlungsprozess begreifen lassen. Denn habituelle Dispositionen stellen in diesen Aushandlungsprozessen, die veränderbare Bedeutungen antisemitischer Differenzierungen hervorbringen, eine notwendige Voraussetzung dar: [S]o wäre Kultur als ein offener und reversibler Prozess des Aushandelns von Bedeutung zu definieren, der kognitiv kompetente Akteure in unterschiedlichen Interessenlagen zueinander in Beziehung setzt und bei einer Kompromissbildung zur sozialen Abschließung und entsprechenden kulturellen Grenzziehungen führt. (Wimmer 2005: 41) Mit Blick auf die Konzeptualisierung antisemitischer Differenzierungsprozesse lässt sich auf diese Weise ein ungleichheitssoziologischer Begriff von Klassifikationen fruchtbar machen, der die »Macht der Klassifikation« als Konstruktionsbedingung sozialer Ungleichheit definiert (Bourdieu 2014: 741ff.; Neckel 2003). Indem also sozial konstruierte Gruppen von Menschen durch gesellschaftliche Differenzierungsprozesse auf- und abgewertet werden, ihre (kontingenten) Zuschreibungen als »zwingende« (Reckwitz 2008: 328) Bewertungen der sozialen Wirklichkeit erscheinen, werden durch Klassifikationsoperationen gesellschaftliche Hierarchien etabliert, die diese Gruppen im sozialen Raum ungleich positionieren (Lamont, Beljean und Clair 2014; Amelina 2017). Klassifizierungen und ihre Kategorien der Wahrnehmung und Bewertungen von vermeintlich typischem Verhalten, Eigenschaften oder (körperlichen wie kulturellen) Merkmalen »der« Jüd*innen sind also dann als Grenzziehungen zu betrachten, wenn sie als ungleichheitsrelevante Differenzierungsprozesse gesellschaftliche Hierarchien etablieren, die selektiv aktiviert werden können, um den sozialen Ein- und Ausschluss von Gruppen zu bewirken. Das im vorangegangenen Abschnitt dargestellte kontingenzbewusste Kulturverständnis führt eine grundlegende theoretische Prämisse für die hier zu entwickelnde, prozessorientierte Taxonomie des vielschichtigen Phänomens »Antisemitismen« ein. Es wird demnach als lokal-historisch spezifizierbares, d.h. (dis-)kontinuierliches und wandelbares Resultat symbolischer Klassifikationskämpfe um (delegitimierende) Bedeutungen des »Jüdischen« verstanden. Ich werde nun im nächsten Abschnitt Ansätze der Grenzziehungsforschung vorstellen, die einen besonderen Fokus auf die Verschränkung von Klassifikationsoperationen mit der ungleichheitsrelevanten Herstellung soziokultureller Grenzziehungen legen. Damit möchte ich einerseits erläutern können, wie Antisemitismen als soziokulturelle Prozesse von In- und Exklusion heu-

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

ristisch fassbar gemacht werden, um andererseits darzustellen, welche Formen der Klassifizierungen schließlich antisemitische Grenzen konstruieren.

2.3

Grenzziehungsprozesse als soziokulturelle Mechanismen der In- und Exklusionen

Im Folgenden wird darauf eingegangen, wie Klassifikationspraktiken in den Grenzziehungsansatz eingebunden sind und welche Konstruktionsdynamiken Prozessen soziokultureller Grenzziehungen unterliegen. In der Forschungsliteratur wird meist zwischen einer symbolischen und einer sozialen Dimension (Neckel und Sutterlüty 2008; 2010; Lamont und Molnár 2002; Lamont 2000; Wimmer 2013) von Grenzziehungsprozessen unterschieden. Nach Michèle Lamont und Virág Molnár (2002) können symbolische Grenzen definiert werden als: conceptual distinctions made by social actors to categorize objects, people, practices, and even time and space. They are tools by which individuals and groups struggle over and come to agree upon definitions of reality. Examining them allows us to capture the dynamic dimension of social relations, as groups compete in the production, diffusion and institutionalization of alternative systems and principles of classifications. Symbolic boundaries also separate people into groups. (168) Dabei bilden symbolische Grenzziehungen als exkludierende Praktiken der Kategorisierung eine zwingende Voraussetzung für die Herstellung sozialer Grenzen, die zu einer ungleichen Verteilung von gesellschaftlichen Ressourcen führen (Lamont, Beljean und Clair 2014; Amelina 2017). Sind soziale Grenzen zwischen »Eigen«- und »Fremdgruppe« einmal errichtet, lassen sich diese Grenzen im Anschluss an Max Webers handlungstheoretischen Ansatz (2002) als soziale Schließung definieren, die den Zugang zu Ressourcen limitieren oder eröffnen.12 Es sind also die cultural processes (Lamont, Beljean und Clair 2014), die im vorangegangenen Abschnitt als Klassifikationsprozesse beschrieben wurden, die Zugehörigkeiten und Mitgliedschaften zu sozialen Gruppen vermitteln und damit soziale Exklusionen hervorbringen. Diese kulturell sedimentierten und kollektiv geteilten, aber gleichwohl wandelbaren Klassifikationssysteme werden zur Grundlage der Produktion von sozialer Ungleichheit (Lamont, Beljean und Clair 2014: 23ff.; Amelina 2017: 44ff.). Aus diesem Grund folge ich in dieser Arbeit Anna Amelina (2017) und betrachte die relationalen Dynamiken der Konstruktion und Reproduktion antisemitischer Grenzziehungen als »sociocultural boundaries« (ebd.: 44), um den dominanten Stellenwert kultureller Signifikationsprozesse in der Analyse von Grenzziehungen hervorzuheben. Auch wenn diese Arbeit die symbolisch vermittelte Dimension soziokultureller Grenzziehungen des Antisemitismus zu ihrem empirischen Gegenstand hat, werden die sozialen Implikationen symbolischer Klassifikationen immer mitreflektiert und als

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Unter dem Begriff der sozialen Schließungen können allgemein Mechanismen verstanden werden, die Mitgliedschaft und Zugang zu sozialen Gruppen beschreiben (Mackert 2004).

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

ristisch fassbar gemacht werden, um andererseits darzustellen, welche Formen der Klassifizierungen schließlich antisemitische Grenzen konstruieren.

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Grenzziehungsprozesse als soziokulturelle Mechanismen der In- und Exklusionen

Im Folgenden wird darauf eingegangen, wie Klassifikationspraktiken in den Grenzziehungsansatz eingebunden sind und welche Konstruktionsdynamiken Prozessen soziokultureller Grenzziehungen unterliegen. In der Forschungsliteratur wird meist zwischen einer symbolischen und einer sozialen Dimension (Neckel und Sutterlüty 2008; 2010; Lamont und Molnár 2002; Lamont 2000; Wimmer 2013) von Grenzziehungsprozessen unterschieden. Nach Michèle Lamont und Virág Molnár (2002) können symbolische Grenzen definiert werden als: conceptual distinctions made by social actors to categorize objects, people, practices, and even time and space. They are tools by which individuals and groups struggle over and come to agree upon definitions of reality. Examining them allows us to capture the dynamic dimension of social relations, as groups compete in the production, diffusion and institutionalization of alternative systems and principles of classifications. Symbolic boundaries also separate people into groups. (168) Dabei bilden symbolische Grenzziehungen als exkludierende Praktiken der Kategorisierung eine zwingende Voraussetzung für die Herstellung sozialer Grenzen, die zu einer ungleichen Verteilung von gesellschaftlichen Ressourcen führen (Lamont, Beljean und Clair 2014; Amelina 2017). Sind soziale Grenzen zwischen »Eigen«- und »Fremdgruppe« einmal errichtet, lassen sich diese Grenzen im Anschluss an Max Webers handlungstheoretischen Ansatz (2002) als soziale Schließung definieren, die den Zugang zu Ressourcen limitieren oder eröffnen.12 Es sind also die cultural processes (Lamont, Beljean und Clair 2014), die im vorangegangenen Abschnitt als Klassifikationsprozesse beschrieben wurden, die Zugehörigkeiten und Mitgliedschaften zu sozialen Gruppen vermitteln und damit soziale Exklusionen hervorbringen. Diese kulturell sedimentierten und kollektiv geteilten, aber gleichwohl wandelbaren Klassifikationssysteme werden zur Grundlage der Produktion von sozialer Ungleichheit (Lamont, Beljean und Clair 2014: 23ff.; Amelina 2017: 44ff.). Aus diesem Grund folge ich in dieser Arbeit Anna Amelina (2017) und betrachte die relationalen Dynamiken der Konstruktion und Reproduktion antisemitischer Grenzziehungen als »sociocultural boundaries« (ebd.: 44), um den dominanten Stellenwert kultureller Signifikationsprozesse in der Analyse von Grenzziehungen hervorzuheben. Auch wenn diese Arbeit die symbolisch vermittelte Dimension soziokultureller Grenzziehungen des Antisemitismus zu ihrem empirischen Gegenstand hat, werden die sozialen Implikationen symbolischer Klassifikationen immer mitreflektiert und als

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Unter dem Begriff der sozialen Schließungen können allgemein Mechanismen verstanden werden, die Mitgliedschaft und Zugang zu sozialen Gruppen beschreiben (Mackert 2004).

2 Eine intersektionale Grenzziehungsperspektive auf antisemitische Unterscheidungslinien

wesentliches Merkmal einer Theorie antisemitischer Grenzziehungsprozesse betrachtet. Denn ungleichheitsrelevante Klassifikationsmuster stellen soziale Grenzen her und drücken sich in ungleich verteilten Lebensbedingungen und -chancen aus (Amelina 2014: 938; Amelina 2017). Werden ethnisierte, rassialisierte oder nationalisierte Antisemitismen in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen als kulturell legitimierte Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster durchgesetzt, resultiert die ungleichheitsrelevante Klassifikation von Jüd*innen in einer marginalisierten Positionierung von Jüd*innen in dem Geflecht gesellschaftlicher Machtbeziehungen und -hierarchien. Diese soziokulturelle Positioniertheit von Jüd*innen führt zu einer ungleichen Verteilung von sozialen, ökonomischen sowie kulturellen Privilegien und Prestige, spiegelt also auch geringere gesellschaftliche und politische Teilhabemöglichkeiten wider. Diskriminierungen von Jüd*innen können sich daher auf der Mikro-, Mesound Makroebene darstellen: als interaktionale Diskriminierung über die Mikroebene individueller Praxis oder Gruppenpraxen, als institutionelle Diskriminierung über die Mesoebene der Funktionsweise von Organisationen sowie als strukturelle Diskriminierung über die Makroebene gesellschaftlicher Strukturen (Hormel und Scherr 2004; Hormel 2007). Die Formen antisemitischer Diskriminierung sind dabei als Resultate sozialer Kategorisierungsprozesse zu lesen, in denen Jüd*innen überhaupt erst einer benachteiligten (»Fremd«-)Gruppe zugeteilt werden. Dabei sind die Klassifizierungen selbst abhängig von sich verändernden soziokulturellen und -historischen Kontexten und damit Prozessen des permanenten Wandels unterworfen. Aus diesen Gründen werden in dieser Arbeit symbolische und soziale Grenzziehungen durch die forschungsleitende Verwendung des Konzeptes der soziokulturellen Grenzziehungen als komplementäre Prozesse einander gleichgesetzt. Ausgehend von den Mechanismen der Herstellung soziokultureller Grenzziehungen, lassen sich im Anschluss an Fredrik Barths vielbeachteter Einleitung in einem Sammelband zu ethnografischen Fallstudien 1969 konzeptuelle Überlegungen für die prozessuale Aushandlung dieser Grenzen festhalten, die das Fluide, Situative und Kontingente klassifikatorischer Systeme erklären können (Barth 1969). Demzufolge entstehen die Grenzen von (ethnischen) Gruppen und kollektiven Identitäten nicht auf der Grundlage vermeintlich feststehender Unterscheidungsmerkmale, sondern sind Ergebnis eines reziproken und interaktionalen Kreislaufes (reciprocal fluxion) von Selbst- und Fremdzuschreibung: Das bedeutet einer externen Zuweisung (Für wen halten uns andere?) und eines internen Anspruches der Selbstidentifikation (Wie verstehen wir uns selbst?) (Cornell und Hartmann 2010). Dabei wird die Zugehörigkeit zu einer Gruppe weder qua Geburt fixiert noch durch kulturelle Gemeinsamkeiten determiniert, auch wenn kulturelle Praktiken die temporär fixierte Stabilität von Grenzen festigen können (Wimmer 2010). Die Gruppenzugehörigkeit wird vielmehr in relationalen Prozessen der situativen Aushandlung von gesellschaftlicher Klassifizierung konstruiert, erhalten oder neu bestimmt (Amelina 2017: 51; Brubaker 1996; 2007; Wimmer 2013). »Die Gruppen – die sozialen Klassen zum Beispiel – müssen hergestellt werden. Sie sind in der sozialen Wirklichkeit nicht schlicht gegeben« (Bourdieu 2011: 142, Hervorh. i. Orig.). Identitäten entstehen demzufolge in alltags- und lebensweltlichen Interaktionen und müssen durch andere validiert werden, sodass eine individuelle Behauptung der eigenen Identität ohne die legitimatorische Bestätigung anderer Akteur*innen folgen-

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los bleibt. Welche Zuschreibungen in den Denk- und Wahrnehmungsweisen von Individuen für die Zugehörigkeit zu einer Gruppe relevant sind, welche Merkmale für die Gruppengrenzen konstitutiv sind, ist hierbei keine »sum of ›objective‹ differences, but only those which the actors themselve regard as significant« (Barth 1969: 14). Dabei muss analytisch zwischen der sinnhaften Bildung von sozialen Einheiten, die eher auf Zusammengehörigkeitsgefühl und Selbstzuschreibungen beruhen, und den Praktiken reziproker Grenzziehungen, die verstärkt eine stigmatisierende und diskriminierende Perspektive auf die Ungleichheit des »Anderen« werfen, strikter unterschieden werden. Denn die Vorstellung des referentiellen Rahmens der eigenen Gruppe grenzt sich immer wertend davon ab, wie die Fremdgruppe von der »Wir«-Gruppe definiert wird. Dieses dialektische Verhältnis führt Richard Jenkinsʼ (2008) entwickelte begriffliche Dichotomie zwischen Kategorie und Gruppe weiter aus. Eine Gruppe wird auf das eher freiwillige Moment von Selbstidentifikation, oft mit Bezug auf eine konstruierte Ursprünglichkeit wie Sprache, Tradition, kulturelle Lebensweisen oder Praktiken13 , die Teil des habitualisierten Referenzrahmens kultureller Sinnsysteme sind, zurückgeführt. Hingegen sind Kategorien Interpretationsmuster durch »Andere« (55), die häufig diskriminierende, hierarchisierende und abwertende Deutungen enthalten. Jenkinsʼ Konzept der Distinktion von Gruppe und sozialer Kategorie ist jedoch primär auf den wissenschaftlichen Gebrauch bezogen, gerade weil in den routinisierten lebensweltlichen Interaktionen die Funktionsweisen der Begriffe dialektisch miteinander verbunden sind. Kurz: Die sinnhaften Klassifikationen einer »Wir«-Gruppe enthalten immer auch Typisierungen durch die Fremdgruppe und vice versa: [T]he production, reproduction and transformation of the »group-ness« of culturally differentiated collectivities […] is a two way process that takes place between »us« and »them«. (Jenkins 2008: 55) Entscheidend für die Analyse antisemitischer Grenzziehungen ist hierbei, dass sich diese Prozesse der Selbst- und Fremdidentifikation als wandelbar zeigen und sich die Bedeutung von Zuschreibungen in kulturellen Aushandlungen sozialer Akteur*innen fortlaufend verändern, destabilisieren und anpassen. Dass sich zugewiesene Kategorien zu Eigenschaften einer Gruppe transformieren lassen, exemplifiziert Wimmer (2010) in Bezug auf Jenkins anhand der Aufrechterhaltung der kategorialen Unterscheidung von »Schwarz« und »Weiß« in den Vereinigten Staaten. So klassifizieren sich die Kinder westindischer Arbeiter in urbanisierten amerikanischen Räumen selbst als »Schwarz«, wohingegen sich ihre Eltern der Zuschreibung »Schwarz« noch verweigerten, um dem symbolischen und sozialen Stigma der phänotypischen Markierung zu entkommen (109). P. L. Berger und Luckmann (2013) erklären dasselbe Phänomen prototypisch für die gesellschaftliche Objektivation der Kategorie/Gruppe der Jüd*innen:

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Ana Miljic (2014) zeigt diesen Zusammenhang des ethnic boundary making (Wimmer 2008a; 2008b; 2010) anhand der fragilen Identitätskonstruktion in den bosnisch-herzegowinischen Nachbürgerkriegsverhältnissen mit Bezug auf den Opferstatus der verschiedenen ethnischen Gruppen.

2 Eine intersektionale Grenzziehungsperspektive auf antisemitische Unterscheidungslinien

Eine Identifizierung als Jude kann für den Juden wie für den Antisemiten gleich verdinglichend sein, nur wird der Jude sie mit einem positiven, der Antisemit mit einem negativen Akzent versehen. Beide Varianten der Verdinglichung legen einer Typisierung, die von Menschen produziert worden ist, einen ontologischen und totalen Status zu, wobei sie, auch wenn sie internalisiert wird, doch nur einen Teil des Selbst objektiviert. (P. L. Berger und Luckmann 2013: 98) Besonders signifikant zeigt sich das relationale Moment sozialer Unterscheidungsprozesse am Beispiel des »Grundmusters« (Weyand 2016a: 222) antisemitischer Formen der Selbst- und Fremdzuschreibung, dem konstruierten Gegensatz einer ethnisch-primordialen »Gemeinschaft« und »jüdisch«-abstrakten Gesellschaft. Grundlegend für diese kontingente kulturelle Zuschreibungspraxis, auf der auch die sogenannte antisemitische Welterklärungsformel beruht, ist die Semantik der Selbstidentifikation einer primordial hergestellten »Gemeinschaft«. Erst durch die ungleichwertige Differenz einer jüdischen »Gesellschaft«, die Jüd*innen komplexitätsreduzierend mit den abstrakten Prozessen moderner Vergesellschaftung identifiziert respektive personifiziert (Holz 2005: 23-27), lässt sich die »Gemeinschaft« als ethnisch homogene Gruppe vorstellen. Allerdings ist dieses Grundmuster nicht als stabiler, d.h. unveränderlicher und quasi überzeitlicher Deutungsrahmen zu verstehen, sondern unterliegt einem Formwandel in der Verwendungspraxis sozialer Akteur*innen, der es als Bedeutungsträger in unterschiedlichen sozialen Sinnzusammenhängen mit wandelbaren Signifikationen versieht. So produzieren die vielfältigen Codes und Sinnzuschreibungen als Teil der symbolischen Ordnung der Wirklichkeit reversible Prozesse von In- und Exklusionen, markieren die Grenze nach »Außen« und sind in Form kontextuell und situativ abhängiger Klassifikationsrepertoires als legitime Weltsicht wirklichkeitskonstitutiv. Rogers Brubaker, Mara Loveman und Peter Stamatov (2007) beschreiben »Ethnizität«, »Rasse« und »Nationalität« sowie ihre Repräsentationen, Klassifikationen, Kategorisierungen und Identifikationen kognitiv14 als gesellschaftlich konstruierte und reproduzierte Wahrnehmungs- und Interpretationsschemata. Diese sozialen Kategorien sind zwar keine »Dinge in der Welt«, aber »Blickwinkel auf die Welt« und gewinnen infolge ihrer symbolischen Macht eine scheinbare objektive Faktizität (Brubaker, Loveman und Stamatov 2007: 114). Kollektive Wissensordnungen und damit auch Wissensbestände über Differenz, Ungleichheit und Stigmata des »Anderen« verfestigen sich zu einer »objektive[n] Wirklichkeit« (Müller und Zifonoun 2010: 12), die sich wandelbar an sich stetig verändernde soziokulturelle Kontextstrukturen anpassen. Diese abwertenden Kategorisierungen von Sozialgruppen, die Neckel und Sutterlüty mit dem Konzept der negativen Klassifikationen skizzieren (2008; 2010), gehören zu dem Repertoire umkämpfter Bedeutung, deren symbolische Aushandlung auch in machtvollen Diskursen15 formiert wird. Gerade negative Klassifikationen sind essentiell für die Herstellung symbolischer Grenzziehungen, indem sie diskriminierende Vorstellungen von sozialen Einheiten zu

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Zu dem kognitiven Ansatz siehe auch Brubaker (2009). Zum Verhältnis von Diskurs und Kultur siehe Wimmer (2005: 30-32).

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kollektiven, habitualisierten Wahrnehmungsmustern ontologisieren und sie zu fundamentalen Klassifikationsmustern der symbolischen Organisation der Wirklichkeit verdichten. In dem Komplex der Etablierten-Außenseiter-Figuration16 (Elias und Scotson 1990) operieren negative Klassifikationen als Bewertungsmuster, um Ungleichheiten ausdrücken zu können, Anerkennung zu vermitteln und Hierarchien zu errichten (Neckel und Sutterlüty 2010: 221). Als Gegenstand der praktischen Aushandlung wirken negative Klassifikationen als subjektive Aneignung von Sinn, die sich gar zu einer Semantik verdichten und ihrer eigenen Logik folgen, indem sie nicht auf institutionelle Klassifikationen reduzierbar sind. Insbesondere »kategoriale Klassifikationen«, die Neckel und Sutterlüty der »graduellen Klassifikation« als »konfliktvermittelter Integration« begrifflich gegenüberstellen, schließen Weltdeutungen der »Ungleichwertigkeit« und Naturalisierungen sozialer Ungleichheiten ein und sind überwiegend im Feld ethnisierter oder nationalisierter Klassifikationsmuster vorzufinden (ebd.: 225).17 Welche sinnhaften Unterscheidungen klassifikatorischen Prozessen zugrunde liegen, hängt hierbei ebenso von tradierten Interpretationsmustern wie von diskursiven Ereignissen (Foucault 2012; 2013) ab, die spezifische Deutungen rahmen und sie in sozialstrukturelle Entwicklungen einbinden. »Klassifikationen sind eben keine ›Dinge‹, sondern symbolische Formen der Wirklichkeitskonstruktion« (Neckel und Sutterlüty 2010: 228). Das Verhältnis ist jedoch kein deterministisches: Kategoriale Aushandlungen prägen ex aequo die Strukturen der symbolischen und sozialen Ordnungen der Ungleichheit. Mit Norbert Elias (2014) generiert schließlich die Komplementarität der klassifikatorischen Zuschreibungsprozesse von »Gruppencharisma« und »Gruppenschande« relationale Machtbeziehungen der Über- und Unterordnung, die Außenseiter mit negativen Qualitäten, als Menschen niederen Wertes, etikettieren, um symbolische Grenzen zu stabilisieren (Treibel 2008: 81). Das positive Selbstbild der »Eigengruppe« wird mit kollektiven Eigenschaften eines Gruppencharismas attribuiert, wohingegen dem verherrlichten »Wir«-Ideal eine dämonisierte, entindividualisierte und unmoralische »Sie-Gruppe« gegenübersteht. In der Deutung der Etablierten repräsentieren »die Besten« der »Eigengruppe« das konstruierte Gruppencharisma; ihr negatives Pendant der Gruppenschande erscheint hingegen zusammengesetzt aus den anomischen Teilen der Minorität. »Das ›Wir‹-Bild der eigenen Gruppe lesen die mächtigeren Etablierten

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Mit der Etablierten-Außenseiter-Figuration beschreiben Elias und Scotson (1990) ein aus der Empirie gewonnenes Modell, das den Glauben an die eigene Überlegenheit der »Etablierten-Gruppe« aus der symbolischen Macht spezifischer Selbstzuschreibung gewinnt, während die »AußenseiterGruppe« die ihnen zugeschriebene Fremdkategorisierung verinnerlicht. In diesen relationalen Prozessen von Anerkennung und Abwertung werden Ungleichheiten erzeugt. Eine Einführung in das Werk von Elias liefern Treibel (2008) und Baumgart und Eichener (2013). Neckel und Sutterlüty beziehen sich hierbei auf Peter A. Berger (1989), der mit Blick auf die Herstellung ungleicher Kategorien zwischen einer kategorial-exklusiven und einer graduell-quantitativen Klassifikationslogik unterscheidet. Während kategorial-exklusive Klassifikationsmuster jene Vorstellungen enthalten, »die mit dichotomisierenden, ›binären‹ Innen-Außendifferenzen arbeiten und Gruppenzugehörigkeiten und Kategorien wechselseitig exklusiv zuschreiben oder absprechen«, operieren graduell-quantitative Semantiken »mit abstrakt-quantitativen Messstandards, mit graduellen Abstufungen des ›Mehr oder Weniger‹« (607).

2 Eine intersektionale Grenzziehungsperspektive auf antisemitische Unterscheidungslinien

von der Minorität der Besten, das ›Sie‹-Bild der verachteten Außenseiter von der Minorität der Schlechtesten ab« (Elias 1990: 164). Ohne das komplementäre Gegenstück in dieser konstitutiven Polarität wäre die charismatische Aufladung der Eigengruppe »funktionslos« (Elias 2014: 16). Übertragen auf den sozialen Gegenstandsbereich »Antisemitismen« ließe sich die Fremdkategorisierung als ein komplementärer Prozess der Selbst- und Fremdidentifikation begreifen. Vermeintlich gruppenspezifische Eigenschaften von Jüd*innen, etwa ihr »geldgieriges Wesen«, werden der Selbstzuschreibung einer als sich »moralisch integer« vorgestellten ingroup gegenübergestellt. Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass Klassifizierungen antisemitische Grenzen generieren, wenn sie als Differenzsysteme in relationalen Prozessen der Selbstwahrnehmung und Fremdkategorisierung ungleichheitsrelevante Positionierungen von in- und outgroup herstellen, in deren Folge die Wahrnehmung und Bewertung von Jüd*innen durch machtvermittelte, kategoriale Abwertungen geprägt ist. Das konstruktivistische Theorievokabular des Grenzziehungsparadigmas, als programmatische Grundlegung für die Entwicklung einer Taxonomie von Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen, ermöglicht es, die prozessuale Logik der kontingenten Konstruktionsdynamik antisemitischer Differenzierungen in den Blick zu nehmen. Für die empirische Untersuchung von (Dis-)Kontinuitäten und Formwandel antisemitischer Klassifizierungen lässt sich schließlich danach fragen, wie die Gruppen der Jüd*innen und Nicht-Jüd*innen als ungleichwertige Kollektive durch situativ und kulturell kontextgebundene Praktiken der Grenzziehung hervorgebracht werden. Davon ausgehend werden in einem nächsten Schritt Grenzziehungsansätze diskutiert, die Dynamik, Fragilität, Temporalität, temporäre Stabilisierung und Spatialität antisemitischer Differenzierungsprozesse reflektieren, aber auch Mechanismen der Grenzverwischung analytisch fassbar machen sollen.

2.4

Zur dynamischen Variabilität von Grenzziehungsprozessen: Der ethnic boundary making approach

Mit dem von Andreas Wimmer entwickelten Ansatz des ethnic boundary making wird in diesem Kapitel ein analytisches Verständnis von Antisemitismen elaboriert, das es ermöglichen soll, eine prozessorientierte Perspektive auf die Konstruktionsmechanismen antisemitischer Differenzierungen zu eröffnen. Ich werde im Folgenden ausführlich auf das Konzept der Grenzziehungen nach Wimmer eingehen, insofern es einen besonderen analytischen Nutzen für die Untersuchung des Verhältnisses von (Dis-)Kontinuitäten und Bedeutungswandel antisemitischer Differenzierungsprozesse verspricht.

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von der Minorität der Besten, das ›Sie‹-Bild der verachteten Außenseiter von der Minorität der Schlechtesten ab« (Elias 1990: 164). Ohne das komplementäre Gegenstück in dieser konstitutiven Polarität wäre die charismatische Aufladung der Eigengruppe »funktionslos« (Elias 2014: 16). Übertragen auf den sozialen Gegenstandsbereich »Antisemitismen« ließe sich die Fremdkategorisierung als ein komplementärer Prozess der Selbst- und Fremdidentifikation begreifen. Vermeintlich gruppenspezifische Eigenschaften von Jüd*innen, etwa ihr »geldgieriges Wesen«, werden der Selbstzuschreibung einer als sich »moralisch integer« vorgestellten ingroup gegenübergestellt. Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass Klassifizierungen antisemitische Grenzen generieren, wenn sie als Differenzsysteme in relationalen Prozessen der Selbstwahrnehmung und Fremdkategorisierung ungleichheitsrelevante Positionierungen von in- und outgroup herstellen, in deren Folge die Wahrnehmung und Bewertung von Jüd*innen durch machtvermittelte, kategoriale Abwertungen geprägt ist. Das konstruktivistische Theorievokabular des Grenzziehungsparadigmas, als programmatische Grundlegung für die Entwicklung einer Taxonomie von Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen, ermöglicht es, die prozessuale Logik der kontingenten Konstruktionsdynamik antisemitischer Differenzierungen in den Blick zu nehmen. Für die empirische Untersuchung von (Dis-)Kontinuitäten und Formwandel antisemitischer Klassifizierungen lässt sich schließlich danach fragen, wie die Gruppen der Jüd*innen und Nicht-Jüd*innen als ungleichwertige Kollektive durch situativ und kulturell kontextgebundene Praktiken der Grenzziehung hervorgebracht werden. Davon ausgehend werden in einem nächsten Schritt Grenzziehungsansätze diskutiert, die Dynamik, Fragilität, Temporalität, temporäre Stabilisierung und Spatialität antisemitischer Differenzierungsprozesse reflektieren, aber auch Mechanismen der Grenzverwischung analytisch fassbar machen sollen.

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Zur dynamischen Variabilität von Grenzziehungsprozessen: Der ethnic boundary making approach

Mit dem von Andreas Wimmer entwickelten Ansatz des ethnic boundary making wird in diesem Kapitel ein analytisches Verständnis von Antisemitismen elaboriert, das es ermöglichen soll, eine prozessorientierte Perspektive auf die Konstruktionsmechanismen antisemitischer Differenzierungen zu eröffnen. Ich werde im Folgenden ausführlich auf das Konzept der Grenzziehungen nach Wimmer eingehen, insofern es einen besonderen analytischen Nutzen für die Untersuchung des Verhältnisses von (Dis-)Kontinuitäten und Bedeutungswandel antisemitischer Differenzierungsprozesse verspricht.

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Der Mehrwert des agency-basierten18 theoretischen Modells soziokultureller Grenzziehungen (Wimmer 2008a; Amelina 2017) liegt für die vorliegende Arbeit darin begründet, einerseits die vorläufige Stabilisierung gruppenbezogener Merkmalszuschreibungen des »Jüdischen« zu erklären. Andererseits ermöglicht es die konstruktivistische Sichtweise auf die Herstellung, Aufrechterhaltung und Transformation soziokultureller Grenzen, die kulturelle Kontextgebundenheit, Anpassungsfähigkeit und Wandelbarkeit antisemitischer Grenzziehungen interpretieren zu können: Das Konzept der Grenze impliziert nicht notwendigerweise, dass sich die Welt aus scharf abgegrenzten Gruppen zusammensetzt. […] [E]thnische Unterscheidungen und Grenzen [können] unscharf sein, mit unklaren Demarkationen und wenig sozialen Konsequenzen, so dass Individuen zu mehreren Kategorien gehören oder Identitäten je nach Situation wechseln können. Das Konzept der Grenze impliziert nicht automatisch Abgeschlossenheit und Klarheit, da diese ja je nach Gesellschaft, sozialer Situation oder institutionellem Kontext variieren. (Wimmer 2010: 104) Ausgehend von dem obigen Zitat entwirft Andreas Wimmer ein prozessuales Mehrebenenmodell der komparativen Analytik über ethnische Formen der Grenzziehung als heuristisches Werkzeug, das die Geltung von Grenzen und ihre immer nur als relativ zu verstehende Abgeschlossenheit spezifizieren, differenzieren und kontextualisieren kann. Hierauf trifft zu, was Cornell und Hartmann (2010) über die Unabgeschlossenheit reziproker Wahrnehmungsweisen von Selbst- und Fremdzuschreibung bezüglich der Kategorien »Rasse« und »Ethnizität« schreiben, dass »aufgrund der Wechselseitigkeit dieser Zuschreibungsprozesse« sich praktisch »keine feststehenden Aussagen über das Endprodukt« (61) mehr machen lassen. Die Art und Weise der Grenzziehung unterliegt einem fortlaufenden Wandel der Zuschreibungen, einem Changement der mannigfachen Verbindungen und Verknüpfungen verschiedener Kategorien der Differenz. In seinem opus magnum »Ethnic Boundary Making: Institutions, Power, Networks«19 (2013) systematisiert Andreas Wimmer vier basale Dimensionen ethnischer Variationen, die er folgendermaßen einteilt: die »politische Relevanz ethnischer Grenzen« (1), die »soziale Schließung und das Zusammengehörigkeitsgefühl (groupness)« (2) innerhalb von Grenzen, die Bedeutung der »kulturellen Differenzierung« (3) für die Grenzziehung sowie die »historische[] Stabilität« von Grenzen (4) (105-113). Inwiefern ethnische Klassifikationen politisch relevant werden oder auf die Lebenssituation einer sozialen Gruppe Einfluss nehmen (1), ergibt sich dabei aus einer Vielzahl miteinander verwobener Differenzierungsebenen von Zugehörigkeiten, aus der Situationslogik 18

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Im Anschluss an Emirbayer und Mische (1998) und ihrem an Bourdieus Praxeologie orientierten, relationalen Verständnis von subjektiver Handlungsmacht wird agency im Folgenden definiert als: »a temporally embedded process of social engagement, informed by the past (in its ›iterationalʼ or habit- ual aspect) but also oriented toward the future (as a ›projectiveʼ capacity to imagine alternative possibilities) and toward the present (as a ›practical-evaluativeʼ capacity to contextualize past habits and future projects within the contingencies of the moment)« (963). Obgleich Andreas Wimmers Grenzziehungsparadigma in dem hier genannten Hauptwerk systematisiert wird, beziehe ich mich vor allem auf den 2010 in deutscher Sprache erschienenen Aufsatztext: »Ethnische Grenzziehung. Eine prozessorientierte Mehrebenentheorie«, um den Lesefluss zu vereinfachen.

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in interaktionalen Prozessen sowie aus den sozialstrukturellen Zwängen, die eine bestimmte Identifikation notwendig machen (Wimmer 2010: 105). Mit dem Fallbeispiel eines südkalifornischen Politaktivisten, der sich je nach Situationslogik entweder als (männlicher) Blue Hmong, Vietnamese oder Amerikaner identifiziert, illustriert Wimmer die politische Bedeutung von Zugehörigkeitskriterien für situative Demarkationslinien. So wird der Aktivist seine Identität als Blue Hmong betonen, wenn er mit White Hmong über die Anerkennung des kulturellen Erbes der Hmongs durch die amerikanische Regierung streitet, und sich als Amerikaner für »seine« Regierung rechtfertigen, wenn er Europa bereist (ebd.: 105). Ähnlich inkorporiert die Protagonistin der literarischen Erzählung »L’immense fatigue des pierres« von Régine Robin die politische Relevanz multipler jüdischer Identitäten: Geboren als polnische Jüdin, immigriert Nancy Nibor kurz vor dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Polen nach Frankreich und lebt schließlich als Autorin in New York (Schlachter 2006: 124). Diese Überlagerung verschiedener Identitätsschichten einer polnischen, französischen, amerikanischen und jüdischen Identität zeigt die situative Logik von Differenzierungs- und Zugehörigkeitskriterien, die in unterschiedlichen Kontexten wirksam werden. So ist die Übernahme einer französischen Selbstidentifikation der Protagonistin Ergebnis der antisemitischen Verfolgungspraxis zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. Auch die Sichtbarkeit von rassialisierten Differenzmerkmalen, die auf phänotypischen Unterscheidungskriterien beruhen, ist Veränderungen unterworfen und kann ihre politische Relevanz beschleunigen. So galten etwa Ir*innen, Jüd*innen sowie Italiener*innen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten noch als »rassisch« ambivalent, während sie gegenwärtig als »Weiß« klassifiziert werden (Wimmer 2010: 107f.). Im Hinblick auf den multivariablen Phänomenkomplex »Antisemitismen« ermöglicht das Merkmal der Situationalität von Grenzziehungen insbesondere zu untersuchen, wie die Identitätskategorien »Ethnizität«, »Rasse« und »Nation« in unterschiedlichen sozialen Kontexten als abwertende Differenzkategorien aktiviert und wirksam werden können. Für die Analyse der Struktur sozialer Schließungsprozesse (groupness) (2) ethnischer Gruppen bezieht sich Wimmer auf das von Richard Jenkins entworfene – und hier bereits beschriebene – Modell der reziproken Selbst- und Fremdidentifikation. Demzufolge beeinflusst die Konstruktion des »Eigenen« und des »Anderen« den Grad der Schließung, d.h. die Dichte der Grenze, wesentlich mit und führt »zur Bildung von ›Gruppen‹ im soziologischen Sinn« (Wimmer 2010: 110). Diesem Aspekt möchte ich mich im Folgendem ein wenig ausführlicher widmen. Einerseits können ethnische Grenzziehungen weitestgehend undurchlässig sein, wenn ein Konsens darüber besteht, »wer zu welcher Kategorie gehört«, und zugleich ein Minimum an Zusammenhalt und »kollektiver Handlungsfähigkeit« vorhanden ist (ebd.). In anderen Kontexten können Grenzen wiederum ein hohes Maß an Durchlässigkeit aufweisen, sprich zu keiner relevanten sozialen Schließung führen, und spielen so in alltäglichen Identifikationsprozessen keine Rolle. Dieses Kontinuum der Skalierung ethnischer Schließungsprozesse verhindert einen »methodologische[n] Kollektivismus« (Wimmer 2008b: 58), der gruppistisch (Brubaker 2007) von einer symbiotischen Einheit aus Individuen und ethnischer Kategorie ausgeht – aufgrund ihrer a priori geteilten Weltdeutung sowie damit verbundenen gemeinsamen Interessen. Rogers Brubaker beschreibt den Grup-

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pismus ethnischer Kategorisierungen als »Tendenz, einzelne, abgegrenzte Gruppen als Grundkonstituenten des gesellschaftlichen Lebens […] als fundamentale Einheiten der Gesellschaftsanalyse zu betrachten, […] denen Interessen und Handeln zugeschrieben werden können« (ebd.: 17). Wird analytisch von einer unhinterfragten faktischen Gegebenheit ethnischer Kategorien und ihrer Differenzierungen ausgegangen, versperrt die gruppistische Perspektive den Blick auf die vielfältigen Mechanismen der Herstellung heterogener sozialer Kategorisierungen (Brubaker 2013) und macht, mit Loïc Wacquant (2001: 66) gesprochen, das Explanandum zum Explanans. Für die vorliegende Arbeit ist insbesondere die von Brubaker getroffene Unterscheidung zwischen den alltagsweltlichen categories of practice, die sich als essentialisierende Anwendung substanzialisierender Klassifikationen darstellen, und ihrem komplementären Gegensatz dem sozialwissenschaftlichen Begriffsvokabular der categories of analysis, hilfreich, weil Letztere analytisch distinkte Unterscheidungen von »Ethnizität«, »Rasse« und »Nation« vornehmen (Brubaker 1996; 2007). Während categories of practice als »practical use« (Brubaker 1996: 7) das alltagsweltliche Denken und Sprechen durch kategoriale und auch häufig überlagernde Formen der Selbst- und Fremdidentifikation im Sinne eines commonsense-Wissens operationalisiert, sind es categories of analysis (ebd.: 15-22), die sich auf die abgrenzbaren prozessualen Herstellungsmechanismen dieser wandelbaren Klassifikationsmuster konzentrieren. Lassen sich demzufolge auf einer abstrakteren Analyseebene Unterschiede und Gemeinsamkeiten einzelner Grenzziehungstypen aufgrund ihrer distinkten sozialontologischen Herkunft20 typologisch differenzieren und kategorial bestimmen, werden in raum-zeitlich kontextualisierbaren Praktiken der Grenzziehung Überlagerungen sichtbar, die als relationale Beziehungen analysiert werden müssen (Anthias 2012). So weisen Müller und Zifonoun (2010: 20) darauf hin, dass die »Lebenswelt des Alltags« häufig durch eine »systematische Koppelung dieser Unterscheidungen« von »Ethnizität«, »Rasse« und »Nation« charakterisiert sind. Dies wird etwa bei der Betrachtung des abwertenden Unterscheidungszeichens »Kultur« wahrnehmbar, das sich alltagsweltlich verdinglicht hat, aber analytisch in seine unterscheidbaren Herstellungsweisen differenziert werden muss, um die Konstruktionsdynamiken und Interrelationen der Aushandlung kulturalisierender Zuschreibungen reflektieren zu können. Damit werden die multiplen und bedeutungsoffenen Formen der symbolischen Bedeutungskonstitution von »Kultur«, ihre kontingenten Repräsentationen und Sinnzuschreibungen, die sich zu einem spezifischen Zeitpunkt als legitime Zuschreibungspraxen etabliert haben, zum Gegenstand der Analyse selbst; ihre Rekonstruktion im Feld antisemitischer Grenzziehungen schließlich zum Ziel dieser Arbeit. Zu fragen wäre demnach, inwiefern sich etwa kulturalisierende Kategorisierungen als rassialisiert, ethnisiert oder mehrdimensional als Zusammenspiel dieser Differenzkategorien illustrieren lassen. Im Vordergrund steht dabei eine relationale und akteurszentrierte Perspektive auf die symbolische Herstellung und Reproduktion von interferieren-

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Floya Anthias (2012) beschreibt diese ontologische Dimension einer autonomen Operationslogik der sozialen Klassifikationen von »Ethnizität«, »Rasse« oder »Nation« als Irreduzibilität, ohne sie dabei zu reifizieren. »[T]hey [die Kategorisierungen, d. Verf.] cannot be explained through […] reduction to other categories (in the sense that race, for example, cannot be understood purely in terms of class) » (8).

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den Mustern substanzialisierender Selbst- und Fremdidentifikationen, hier verstanden als Kategorien der Praxis, die kontingentes Resultat von Klassifikationskämpfen in Grenzziehungsprozessen sind. Es ist daher die konkrete Verwendungspraxis rassialisierter, ethnisierter und nationalisierter Kategorien, so meine These, die das wandelbare Fluidum antisemitischer Klassifikationen und ihre interrelationalen Wechselwirkungen hervorbringt. Damit kann die eingangs als Definition vorangestellte Bestimmung des Gegenstandes der Antisemitismusforschung, der konstruierten Gegnerschaft zwischen Jüd*innen und Nicht-Jüd*innen als Grenzziehungspraxis ausdifferenziert werden. Als Klassifikationspraktiken der Grenzziehung erscheinen kategoriale Zuordnungen und Distinktionsmerkmale von Jüd*innen, einschließlich ihrer vielfältigen Abwertungen, Stigmatisierungen und Abgrenzungen, in einem gegebenen soziohistorischen Kontext kulturell bedeutsam und politisch relevant. Richard Alba (2005) entwickelt eine anti-gruppistische Konzeptualisierung des Kontinuums sozialer Schließungsprozesse. Mithilfe seines theoretischen Entwurfes lassen sich sowohl die kontextuellen und institutionellen Bedingungen der Aushandlung, Stabilisierung und Diskontinuität soziokultureller Grenzziehungen präzisieren als auch die strategischen Initiativen einzelner Akteur*innen für die Modifikation ethnischer Klassifikationssysteme reflektieren. Nach Alba sind Grenzziehungsprozesse dependent von der Struktur einer Grenzkonstruktion in einem je gegebenen sozialen Raum, mithin ihrer pfadabhängigen kulturellen, sozialen, historischen und rechtlichen Implementierung (Alba 2005: 41): Some boundaries are »bright«– the distinction involved is unambiguous, so that individuals know at all times which side of the boundary they are on. Others are »blurry«, involving zones of self-presentation and social representation that allow for ambiguous locations with respect to the boundary. (ebd.: 22)21 Diese Distinktion zwischen »bright« und »blurred boundaries« stellt ein komparatives Instrument für die Analyse von ambivalenten Grenzverschiebungen und sich verändernder Objektivationen in der konkreten Aushandlung kategorialer Differenzierungen bereit. Mit Blick auf die Wandelbarkeit antisemitischer Differenzierungen wird Albas Konzept daher als konzeptuelle Prämisse in die theoretische Grundlegung des taxonomischen Modells soziokultureller Grenzziehungen des Antisemitismus integriert. Insbesondere wird die Analyse von Mechanismen der Grenzverwischung (boundary blurring) im Rahmen kultureller Aushandlungsprozesse virulent. Dabei geht es um die Beantwortung der Fragen, wie sich die Verwendungspraxis antisemitischer Distinktionen wandelt, welche Re-Evaluierungen hinsichtlich der Positionierung von Jüd*innen in den Grenzen der klassifikatorischen Systeme der In- und Exklusion sichtbar werden

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Ein ähnliches Konzept entwickeln Zolberg und Woon (1999). Sie unterscheiden Grenzziehungsmechanismen nach dem Prinzip des ethnic boundary crossing, blurring und shifting. Andreas Wimmer rekurriert auf diese Strategien zur Veränderung von Grenzen, systematisiert die in der Forschungsliteratur vorhandenen Vorgehensweisen und ergänzt crossing; blurring und shifting um die Transvaluationsstrategie als Form der Neuverhandlung von bestehenden Hierarchien zwischen ethnischen Kategorien (Wimmer 2008a: 1037).

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und auf welche Weise ethnisierte, rassialisierte und nationalisierte Klassifikationsmuster des Antisemitismus durch die Betonung anderer Grenzen infrage gestellt werden. Durch Strategien der Grenzverwischung (boundary blurring) stehen solche Klassifikationspraktiken im Mittelpunkt, die antisemitische Teilungsprinzipien in Zugehörigkeitskonflikten re-artikulieren. Für die Analyse antisemitischer Grenzziehungsprozesse ist ein Verständnis von Grenzverwischungsstrategien etwa dann wichtig, wenn die Bedeutung von »Ethnizität«, »Rasse« und »Nation« in den Aushandlungsprozessen soziokultureller Grenzen zwischen Nicht-Jüd*innen gegenüber Jüd*innen durch die Hervorhebung nicht-antisemitischer Distinktionsmerkmale (z.B. universaler Zugehörigkeitskriterien) angegriffen werden (Wimmer 2008a: 1041ff.). So zeigt etwa Hannerz (1994) in seiner Untersuchung der südafrikanischen, von Afrikaner*innen, Jüd*innen und Migrant*innen bewohnten Siedlung Sophiatown zur Zeit der Apartheid, wie das Klassifikationsmuster eines gleichermaßen kosmopolitischen und trans-ethnischen Lokalismus, die rassensegregierende Grenzordnung des Apartheid-Regimes verwischt und unterminiert hat. Wird die partikularistisch-exkludierende Beschränktheit ethnisierter, rassialisierter oder nationalisierter Grenzen durch universalisierende Konstruktionsformen von Zugehörigkeit überwunden, spielen häufiger equalization strategies (Lamont und Bail 2007) eine Rolle, in denen stigmatisierte Angehörige von Minderheiten auf eine Angleichung mit Mitgliedern der dominanten Mehrheitsgruppe abzielen. Nach Lamont und Bail können drei Kriterien für Angleichungsstrategien angegeben werden, in denen Akteur*innen versuchen, bestehende Stigmatisierungen anzufechten: 1) challenge stereotypes about their group; 2) transform the meanings associated with their collective identity; and 3) create, enact or demand new forms of personal interaction on a day-to-day basis. (Lamont und Bail 2007: 2) Ich gehe davon aus, dass in den gesellschaftlichen Verhandlungen über die antisemitische Bedeutung des »Jüdischen« Klassifikationsstrategien des öffentlichen Einspruches gegen antisemitische Stereotypisierungen und der diskursive Wandel abwertender Repräsentationen des »Jüdischen« eine zentrale Stellung einnehmen. Die dritte Dimension der Variabilität ethnischer Grenzziehung (3) umfasst Praktiken der kulturellen Differenzierung. Konträr zu Fredrik Barths Diktum, dass erst der Konstruktionsprozess von Grenzziehungen und nicht der »cultural stuff« (Barth 1969: 15) unterscheidbare Identifikationsformen ethnischer Gruppen hervorbringen würde, können kulturelle Praktiken und Variationen, nach Wimmer, die (relative) Stabilisierung von Grenzen festigen: So lassen kulturelle Unterschiede ethnische Grenzen quasi natürlich und selbstverständlich erscheinen, während soziale Schließung entlang ethnischer Grenzziehung die schon vorhandenen Unterschiede durch die Erfindung immer neuer kultureller Differenzmerkmale verstärken. (Wimmer 2010: 111f.) Zuletzt betont Wimmer die Dimension der vorläufigen Stabilisierung (4) für eine konstruktivistische Grenzziehungsperspektive, in der sich ethnische Grenzen und die Kriterien ihrer Zugehörigkeit partiell über einen längeren Zeitraum hinweg als unveränderlich erweisen und sich gleichzeitig, in anderen Kontexten, rapide transformieren können. Daher können ethnische Grenzen »offenbar nicht immer undefiniert und

2 Eine intersektionale Grenzziehungsperspektive auf antisemitische Unterscheidungslinien

beliebig verändert werden« (Wimmer 2010: 113). Gerade im Hinblick auf Kontinuitäten und (Dis-)Kontinuitäten tradierter antisemitischer Stereotype, ihre Langlebigkeit und Dauerhaftigkeit einerseits und ihres Wandels andererseits, ist ein Verständnis für die Mechanismen der Auflösung und Stabilisierung von Grenzziehungen besonders hilfreich. Wie kann die (temporäre) Stabilisierung exkludierender und distinktiver Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster nun vor dem theoretischen Ausgangspunkt der fortlaufenden (Dis-)Kontinuität und des Wandels symbolischer Klassifikationssysteme charakterisiert werden? Andreas Wimmer erklärt mit dem Konzept des »kulturellen Kompromisses« (Wimmer 2005 Kapitel 1, Wimmer 2002: 19-41) die partielle Stabilisierung bestimmter Typen der ethnisierten Grenzziehung. Hinsichtlich der Konzeptualisierung einer Taxonomie würde ich jedoch nicht nur von ethnischen Grenzziehungen sprechen, sondern von der partiellen kulturellen Stabilisierung ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Typen der antisemitischen Grenzziehung. Durch das Theorievokabular des kulturellen Kompromisses wird das interaktionale Moment der Aushandlung und Wandlungsfähigkeit für die immer nur vorläufige, d.h. zeitlich und räumlich, begrenzte Stabilisierung sozialer Grenzen und ihrer Legitimation durch soziale Akteur*innen betont. Wirklichkeitskonstitutiv wird ein kultureller Konsens über spezifische Klassifikationsmuster der Grenzziehung nach Wimmer erst als Produkt symbolischer Deutungskämpfe sozialer Akteur*innen um die legitime Weltsicht auf die Teilung der sozialen Wirklichkeit entlang kategorialer Distinktionen. Der kulturelle Kompromiss über die sozialen Grenzen von In- und Exklusion, der Wahrnehmung und sozialen Anerkennung priorisierter Klassifikationen durch soziale Akteur*innen, muss den strategischen Interessen und Ansprüchen der beteiligten Akteur*innen entsprechen, um infolge dieser Interaktionsdynamiken einen Konsens über die Art und Weise der Grenzziehung herzustellen (Wimmer 2010: 127ff.). Hat sich eine bestimmte kategoriale Sichtweise auf die Teilungen zwischen einem »Innen« und »Außen« der Grenze, also über den sozialen Einund Ausschluss derjenigen Personengruppen, die »zugehörig« oder »nicht-zugehörig« sind, durchgesetzt, lässt sich die Verinnerlichung, d.h. temporäre Stabilisierung dieser ungleichheitsrelevanten Differenzierungen, mit den mentalen Codes des Habitus beschreiben (siehe Kapitel 2.2). Auf diese Weise können soziale Klassifizierungen schließlich »tendenziell als natürliche und notwendige Gegebenheiten […] statt als historisch kontingente Produkte der bestehenden Machtverhältnisse zwischen den sozialen Gruppen (Klassen, Ethnien oder Geschlechtern)« erscheinen (Wacquant 2013: 33). Dabei führt die Mehrdeutigkeit symbolischer Ordnungen und ihrer Klassifikationssysteme, insbesondere auf der Ebene größerer sozialer Zusammenschlüsse wie »Nationen« oder »ethnische Gruppen«, dazu, dass konstruierte Grenzen immer wieder neu verhandelt werden. Denn die Kategorisierungen von Grenzen, die sich innerhalb des kulturellen Kompromisses über die soziale Identität dieser Gruppen manifestieren, können aufgrund ihrer notwendig diffusen Bedeutung(en) nicht letztgültig fixiert werden (Wimmer 2005: 38ff.). Auf diesen Umstand rekurriert insbesondere die Hegemonietheorie Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes (2000; Laclau 2002; 2005). Nach Laclau, Mouffes anti-essentialistischem Diskursverständnis wird das Soziale mit der Sphäre des Diskursiven gleichgesetzt, wodurch gesellschaftliche Ordnungen als Sphäre einer konstitutiven »kulturellen

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Instabilität« (Reckwitz 2006: 343) verstanden werden. Sie zeigen sich instabil, weil das Feld des Diskursiven polysemisch ist und endgültige Sinnfixierungen daher notwendig scheitern müssen (Laclau, Mouffe 2000: 127-188). Die vorübergehende Stillstellung von Sinn wird dabei durch hegemoniale Projekte vermittelt, die bestimmte Diskurse – etwa den Diskurs der Demokratie, der Zweigeschlechtlichkeit oder des Neoliberalismus – attraktiv und erstrebenswert erscheinen lassen (Reckwitz 2006: 344f.; Amelina 2014: 937ff.). Anders formuliert versuchen hegemoniale Projekte kontingente, flottierende Elemente entlang diskursiver Knotenpunkte zu einem temporär fixierten Netz von Bedeutungen zu spinnen, wodurch die, zwangsläufig scheiternde, Identität eines Diskurses als vorübergehendes Resultat von Kämpfen um gesellschaftlich-hegemoniale Deutungsweisen hergestellt wird (Demirovic 2007; Spies 2009). Diese Prämisse ist für die Ausarbeitung eines taxonomischen Modells ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Grenzziehungen des Antisemitismus besonders relevant, wenn es um die relative Stabilisierung antisemitischer Klassifizierungen geht, insofern die lokal-historisch spezifische Identität und Bedeutung antisemitischer Diskurse immer nur vorläufig fixiert werden kann. Zusammengefasst wird Andreas Wimmers Grenzziehungsmodell als grundlegende theoretische Prämisse in die Taxonomie antisemitischer Grenzziehungsprozesse integriert, weil sie als Analyseperspektive aufzeigen kann, dass die konkrete Ausgestaltung von Grenzziehungen von einer Vielzahl kontextueller Faktoren und Interaktionsdynamiken bedingt wird. Sie verweist darauf, dass politische Relevanz, soziale Schließung, kulturelle Differenzierungen und das Potenzial der temporären Stabilisierung von soziokulturellen Grenzziehungen als Analysekriterien notwendig sind, um so die Variabilität und Historizität von Grenzziehungsprozessen – die Mechanismen ihrer Hervorbringung, Aufrechterhaltung und Transformation – rekonstruieren zu können. Hiermit ist unmittelbar die Frage verbunden, welche Perspektiven sich durch diese prozessorientierten Ansätze für die Analyse der soziokulturellen Grenzziehung des Antisemitismus ergeben. Welche kategorialen Unterscheidungen werden getroffen? Welchem Wandel sind diese sozialen Differenzierungen unterworfen und welche Zeichen und symbolische Codes enthalten sie in der Aneignungspraxis durch soziale Akteur*innen? Werden Grenzen neu ausgehandelt? Welche Unterscheidungen werden in welchen sozialen Kontexten wirksam und wie interferieren, überlagern und formen sie sich wechselseitig? Um ein heuristisches Verständnis für die Beantwortung vor allem dieser letzten Frage zu gewinnen, werden im Folgenden theoretische Zugänge des Intersektionalitätsansatzes in die hier elaborierte theoretische Grundlegung einer prozessorientierten Konzeptualisierung antisemitischer Grenzziehungen integriert.

2.5

Das mehrdimensionale Zusammenspiel antisemitischer Klassifikationsrepertoires: Eine Heuristik der intersektionalen Ungleichheitsforschung

Um das multiple und simultane Zusammenspiel rassialisierter, ethnisierter und nationalisierter Exklusionen in den sozialen Konstruktionsprozessen antisemitischer Gren-

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Instabilität« (Reckwitz 2006: 343) verstanden werden. Sie zeigen sich instabil, weil das Feld des Diskursiven polysemisch ist und endgültige Sinnfixierungen daher notwendig scheitern müssen (Laclau, Mouffe 2000: 127-188). Die vorübergehende Stillstellung von Sinn wird dabei durch hegemoniale Projekte vermittelt, die bestimmte Diskurse – etwa den Diskurs der Demokratie, der Zweigeschlechtlichkeit oder des Neoliberalismus – attraktiv und erstrebenswert erscheinen lassen (Reckwitz 2006: 344f.; Amelina 2014: 937ff.). Anders formuliert versuchen hegemoniale Projekte kontingente, flottierende Elemente entlang diskursiver Knotenpunkte zu einem temporär fixierten Netz von Bedeutungen zu spinnen, wodurch die, zwangsläufig scheiternde, Identität eines Diskurses als vorübergehendes Resultat von Kämpfen um gesellschaftlich-hegemoniale Deutungsweisen hergestellt wird (Demirovic 2007; Spies 2009). Diese Prämisse ist für die Ausarbeitung eines taxonomischen Modells ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Grenzziehungen des Antisemitismus besonders relevant, wenn es um die relative Stabilisierung antisemitischer Klassifizierungen geht, insofern die lokal-historisch spezifische Identität und Bedeutung antisemitischer Diskurse immer nur vorläufig fixiert werden kann. Zusammengefasst wird Andreas Wimmers Grenzziehungsmodell als grundlegende theoretische Prämisse in die Taxonomie antisemitischer Grenzziehungsprozesse integriert, weil sie als Analyseperspektive aufzeigen kann, dass die konkrete Ausgestaltung von Grenzziehungen von einer Vielzahl kontextueller Faktoren und Interaktionsdynamiken bedingt wird. Sie verweist darauf, dass politische Relevanz, soziale Schließung, kulturelle Differenzierungen und das Potenzial der temporären Stabilisierung von soziokulturellen Grenzziehungen als Analysekriterien notwendig sind, um so die Variabilität und Historizität von Grenzziehungsprozessen – die Mechanismen ihrer Hervorbringung, Aufrechterhaltung und Transformation – rekonstruieren zu können. Hiermit ist unmittelbar die Frage verbunden, welche Perspektiven sich durch diese prozessorientierten Ansätze für die Analyse der soziokulturellen Grenzziehung des Antisemitismus ergeben. Welche kategorialen Unterscheidungen werden getroffen? Welchem Wandel sind diese sozialen Differenzierungen unterworfen und welche Zeichen und symbolische Codes enthalten sie in der Aneignungspraxis durch soziale Akteur*innen? Werden Grenzen neu ausgehandelt? Welche Unterscheidungen werden in welchen sozialen Kontexten wirksam und wie interferieren, überlagern und formen sie sich wechselseitig? Um ein heuristisches Verständnis für die Beantwortung vor allem dieser letzten Frage zu gewinnen, werden im Folgenden theoretische Zugänge des Intersektionalitätsansatzes in die hier elaborierte theoretische Grundlegung einer prozessorientierten Konzeptualisierung antisemitischer Grenzziehungen integriert.

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Das mehrdimensionale Zusammenspiel antisemitischer Klassifikationsrepertoires: Eine Heuristik der intersektionalen Ungleichheitsforschung

Um das multiple und simultane Zusammenspiel rassialisierter, ethnisierter und nationalisierter Exklusionen in den sozialen Konstruktionsprozessen antisemitischer Gren-

2 Eine intersektionale Grenzziehungsperspektive auf antisemitische Unterscheidungslinien

zen analytisch rekonstruierbar zu machen, steht im Folgenden mit dem aus der Genderforschung stammenden Konzept der Intersektionalität22 ein Zugang im Mittelpunkt, der die Mehrdimensionalität antisemitischer Diskriminierungsformen und dabei insbesondere die Überlagerungen unterschiedlicher Klassifikationen (»Ethnizität«, »Rasse«, »Nationalität«) in den Klassifikationspraktiken strategisch handelnder Akteur*innen erklären kann. Während der Grenzziehungsansatz also ein Verständnis für die symbolische Aushandlung von sozialen und kulturellen Grenzen, der Herstellung distinktiver Klassifikationsschemata, liefert, zeigt der etwa zur selben Zeit entwickelte Intersektionalitätsansatz die Interrelationalität ungleichheitsrelevanter Differenzkategorien (Amelina 2012: 4; Amelina 2017 Kapitel 3.3), womit in de-essentialistischer Absicht Wechselwirkungen der Kategorisierungen »Rasse«, »Ethnizität« und »Nation« für die Konstruktion und Auflösung antisemitischer Grenzziehungen ergebnisoffen rekonstruiert werden können, ohne dabei von einer prädeterminierten Hierarchisierung dieser Klassifikationen auszugehen (Amelina 2014).23 Diese beiden theoretischen Elemente, die kategorialen Wechselwirkungen sowie das de-essentialistische Moment, sollen als programmatische Merkmale einer prozessorientierten Perspektive auf die multiplen Konstruktionsformen antisemitischer Grenzziehungen übernommen werden, um schließlich im empirischen Teil dieser Arbeit (Dis-)Kontinuitäten und Formwandel antisemitischer Unterscheidungslinien untersuchen zu können. Der intersektionale Zugang zu der Erscheinungsvielfalt des Phänomens »Antisemitismen« soll hier gleichermaßen als theoretisches wie methodologisches Rüstzeug (H. Lutz und Davis 2009; Hancock 2013; Anthias 2012) für die empirische Anwendung wirken.24 Damit beabsichtige ich insbesondere einen Beitrag zur Sensibilisierung für die nicht-reduzierbare Vielfalt antisemitischer Klassifizierungsformen zu leisten, der letztlich zu einer Stärkung der jüdischer Betroffenenperspektiven und der Wahrnehmungen von antisemitischen Ausschließungen führen kann. Im Ergebnis soll eine intersektionale Perspektive auf die wandelbare

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Inwiefern es sich bei dem Konzept der Intersektionalität um ein neues Paradigma der Geschlechter- respektive Ungleichheitsforschung handelt oder lediglich eine spezifische Beobachtungsposition für die Analyse ungleichheitsrelevanter Klassifikationsprozesse darstellt, ist bislang innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses nicht abschließend geklärt (Hormel 2012; Emmerich und Hormel 2013: 230-237). Ich folge hier explizit Amelina (2017), die auf die Vorteile einer intersektionalen Forschungshaltung für die Analyse soziokultureller Grenzziehungsprozesse aufmerksam macht, um Dynamiken und Wandel sozialer Grenzziehungen durch das kontingente Wechselspiel heterogener Differenzzeichen erklären zu können. Diese methodologische Ausrichtung der theoretischen Analyseperspektive an dem Intersektionalitätsansatz in der vorliegenden Arbeit erklärt auch die Engführung der Analyse auf »Rasse«, »Ethnizität« und »Nationalität« als untersuchungsrelevante Klassifikationsformen. Sie erfolgt als methodologische Positionierung in dem Wissen über ihre heuristische Beschränktheit, auch weil sie sich etwa gegenüber »Geschlecht« als Ungleichheitsdimension des Antisemitismus blind zeigt. Diese Unzulänglichkeit der verwendeten Kategorien ist Resultat ihrer Operationalisierung und simplifiziert zwangsläufig die empirische Realität vielfältiger sozialer Ungleichheitsbeziehungen. Dennoch muss aus methodischen Gründen eine Auswahl getroffen werden (Budde 2013). Über das Verhältnis von Antisemitismus und Sexismus aus gesellschaftshistorischer Perspektive siehe Stögner (2014); über effeminierte Juden und maskulinisierte Jüdinnen siehe A.G. Gender-Killer (2005); Hödl (2005); zu Antisemitismus und Körper siehe Gilman (1991).

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Herstellung von antisemitischer Ungleichheit explizieren, weshalb sich Antisemitismen nicht entweder rassialisiert oder ethnisiert oder nationalistisch artikulieren, sondern in den Relationen der multiplen Formen des Zusammenspieles dieser abwertenden Klassifikationsmuster analysiert und in einem je spezifischen lokal-historischen Kontext rekonstruiert werden müssen. Wie wird Intersektionalität in der Forschung nun definiert? Welche Vorteile bietet ein intersektionales Verständnis multidimensionaler Formen sozialer Ungleichheit für die Untersuchung antisemitischer Grenzziehungsprozesse? Unter Intersektionalität wird dabei verstanden, dass soziale Kategorien wie Gender, Ethnizität, Nation oder Klasse nicht isoliert voneinander konzeptualisiert werden können, sondern in ihren »Verwobenheiten« oder »Überkreuzungen« (intersections) analysiert werden müssen. Additive Perspektiven sollen überwunden werden, indem der Fokus auf das gleichzeitige Zusammenwirken von sozialen Ungleichheiten gelegt wird. Es geht demnach nicht allein um die Berücksichtigung mehrerer sozialer Kategorien, sondern ebenfalls um die Analyse ihrer Wechselwirkungen. (Walgenbach 2012: 81, Hervorh. i. Orig.) Originär entwickelt im Kontext des Schwarzen Feminismus in den Vereinigten Staaten25 problematisiert die Juristin Kimberlé Crenshaw (1998) mit der eingängigen Metaphorik der intersection (Straßenkreuzung) die soziale Lage der durch multiple Diskriminierungsformen betroffenen Schwarzen Frauen und plädiert für einen epistemologischen Perspektivwechsel im Feld feministischer Theoriebildung. Um die besondere Konstellation der Benachteiligung Schwarzer Frauen zu reflektieren, reichen eindimensionale Ansätze, die entweder isoliert die Kategorie »Geschlecht« oder »Rasse« thematisieren, nach Crenshaw, nicht aus für die Darstellung der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ausgrenzungen Schwarzer Frauen, die Resultat vielfältiger Identitäten und mehrdimensionaler Marginalisierungsprozesse sind (H. Lutz, Herrera Vivar und Supik 2010b: 22): Consider an analogy to traffic in an intersection, coming and going in all four directions. Discrimination, like traffic through an intersection, may flow in one direction, and it may flow in another. If an accident happens in an intersection, it can be caused by cars traveling from any number of directions and, sometimes, from all of them. Similarly, if a Black woman is harmed because she is in the intersection, her injury could result from sex discrimination or race discrimination. (Crenshaw 1998: 321f.) Ange-Marie Hancock (2007; 2013) identifiziert im Feld der Forschung über »Rasse«, »Geschlecht«, »Klasse« und weiterer Differenzkategorien drei dominierende Typologien zur Erforschung von Intersektionalität. Dem unitary-Ansatz (1) liegt eine, im Vorfeld festgelegte, unabhängige und stabile Kategorie zugrunde, die isoliert bleibt und klar von anderen Differenzkategorien unterschieden werden kann. Im multiple-Ansatz (2) stehen sich mehrere gleichberechtigte Kategorien gegenüber, die statisch und in einer vorher festgelegten Position zueinanderstehen, während die Kategorien im inter25

Einen Überblick über die Entstehung des Intersektionalitätsansatzes im amerikanischen, europäischen und deutschen Diskurs siehe H. Lutz, Herrera Vivar und Supik 2010b und Walgenbach 2012.

2 Eine intersektionale Grenzziehungsperspektive auf antisemitische Unterscheidungslinien

sectional-Ansatz (3) gleichberechtigt und in einem dynamischen Verhältnis zueinander stehen: »the relationship between categories is an open empirical question« (Hancock 2007: 64). Hancock hebt dabei die wechselseitige Durchdringung der einzelnen Kategorien hervor, die sich am Punkt der Kreuzung von Differenzen zu einer neuen Kategorie konstituieren. Walby, Armstrong und Strid (2012) kritisieren mit dem Begriff des mutual shaping ein Verständnis von Intersektionalität, das den Komplex der Beziehung sozialer Ungleichheiten zueinander dichotomisiert: »Mutual shaping […] enables the retention of naming of each relevant inequality or project while simultaneously recognizing that it is affected by engagement with the others« (ebd.: 235). Mit diesem Verständnis von Intersektionalität können Ungleichheitsbeziehungen in einem gegebenen Kontext und einer empirisch variablen und wandelbaren Relation zu- und miteinander analysiert werden. Die Frage ist demzufolge weniger, inwiefern Differenzkategorien stabil oder fluide sind, sondern kreist um die Anerkennung ihrer sozialen Konstruiertheit: Intersektionalitäten sind Bestandteil unabgeschlossener symbolischer Deutungskämpfe, die, institutionalisiert, zwar eine temporäre Fixierung erreichen können, aber dennoch historischem Wandel unterliegen (ebd.: 231ff.; Walby 2009; Choo und Ferree 2010). Wegbereitend für den europäischen Diskurs sind die Arbeiten von Floya Anthias und Nira Yuval-Davis (1992), die eine Integration weiterer relationaler Differenzkategorien für die Analyse sozialer Machtbeziehungen in die feministische Theoriearchitektur fordern (H. Lutz, Herrera Vivar und Supik 2010b: 11; Walby 2012). Gerade weil Identitätskategorien per definitionem instabil (Haschemi Yekani et al. 2008: 40), d.h. »nicht als statische, sondern als flüssige und sich verschiebende« (H. Lutz und Davis 2009: 231) Phänomene zu betrachten sind, können immer neue intersektionale Konfigurationen, immer neue Kreuzungen von Differenzlinien, einem »unendliche[n] Regress« (Davis 2010: 64) gleichend, operationalisiert werden. Auf diese Weise kann die klassische Trias »Rasse«/»Klasse«/»Geschlecht« unterschiedlich etwa auf dreizehn (H. Lutz und Wenning 2001) oder fünfzehn (Leiprecht und H. Lutz 2006) Kategorien der Differenz erweitert werden, wobei nach Walby, Armstrong und Strid (2012) die potenziellen Differenzkategorien, die es im jeweiligen Kontext zu berücksichtigen gilt, nicht a priori limitiert werden sollen. Jessica Greenbaum (1999) weist zurecht darauf hin, dass die »matrix of domination« (Hill Collins 2000: 18) durch »Rasse«, »Klasse« und »Geschlecht« andere Unterdrückungsverhältnisse ausblendet und so die diskursive Ausgrenzung von Jüd*innen betreibt. »This marginalizing discourse […] is partially due to the way we construct the notions of oppression and anti-semitism as well as the categories of race, ethnicity and class« (Greenbaum 1999: 42). So verschwindet die ambivalente Stellung von Jüd*innen etwa, weil sie durch ihre relative sozioökonomische Angepasstheit an die »Weiße« Mehrheitsgesellschaft aus dem binären Differenzverhältnis entlang der relationalen phänotypischen Kategorisierungen von »Schwarz« und »Weiß« ausgeklammert, und mehr noch, unter die strukturell privilegierte Dominanzkategorie »Weißsein« subsumiert werden (Brodkin 1998). Entgegen diesem strukturellen Verständnis von Intersektionalität betont eine konstruktivistisch-dynamische Konzeptualisierung des fluiden Zusammenspieles von Differenzkategorien die Abhängigkeit des Entstehens und der Auflösung von Intersektionen durch historisch kontingent gewachsene, kollektive Wissensordnungen, die in diskursiven Prozessen symbolischer Aushandlung eingebettet

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

sind (Ferree 2010: 70f.). Inwiefern beispielsweise die Kreuzung der Differenzlinien von »Geschlecht« und »Rasse« in einem spezifischen Kontext – wie etwa dem Wohnungsund Arbeitsmarkt, der Sexualität und der Reproduktion – für Individuen oder Gruppen sozial relevant und mit Bedeutung aufgeladen wird, ist nach Myra Marx Ferree (2010) ohne ihren Zusammenhang mit etablierten Deutungsmustern und Diskursen nur unzureichend rekonstruierbar. Das dynamische Beziehungsgeflecht rassialisierter, ethnisierter und nationalisierter Antisemitismen kann aus einer intersektionalen Perspektive nicht in Form eines unveränderlichen, »ewigen Antisemitismus« verstanden werden, sondern ist in seiner relationalen Kontextbezogenheit als variables Resultat dynamischer Grenzziehungsprozesse zu begreifen. Jede Konfiguration kategorialer Zuschreibungen von Jüd*innen symbolisiert schließlich unterschiedlich kulturell geformte Prozesse der antisemitischen In- und Exklusion, die sich in Abhängigkeit von sozialen und historischen Kontexten verändern. Das mutual shaping antisemitischer Kategorisierungsprozesse zeigt sich, so meine These, gegenüber der Form ihrer Aushandlung instabil, fragil und offen, ohne jedoch ihre tradierte Bedingung, die »Feindschaft gegen Juden als Juden« (Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus 2017: 24) zu verlieren. Daraus folgt auch, dass ethnisierte, rassialisierte oder nationalisierte Klassifikationen des Antisemitismus nicht raum- und zeitübergreifend gleichermaßen als geltungswirksam prädeterminiert sind, sondern kontextabhängig eine unterschiedliche soziale Reichweite aufweisen. Mit anderen Worten stehen die Kategorien der »Rasse«, »Ethnizität« und »Nationalität«, wie eingangs bereits erwähnt, in keiner vorbestimmten, hierarchischen Beziehung zueinander, sondern müssen als relationale Mehrdimensionalitäten in konkreten sozialen Prozessen stets aufs neue dechiffriert werden (Anthias 2012: 12ff.).

2.6

Zwischenfazit und Implikationen für die Forschungsfrage

In diesem Kapitel wurden einige zentrale, programmatische, theoretische Grundlegungen für eine prozessorientierte Konzeptualisierung soziokultureller Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen entwickelt, die wesentlich für die systematische Synthese paradigmatischer Zugänge der Rassismus-, Ethnizitäts- und Nationalismusforschung erscheinen, um darauf aufbauend (Dis-)Kontinuitäten und Formwandel antisemitischer Kategorisierungen empirisch rekonstruieren zu können. Mit der Einsicht, dass menschliches Handeln durch symbolische Ordnungen strukturiert und damit die soziale Wirklichkeit zugleich klassifizier- und interpretierbar wird, erscheinen Antisemitismen als prozessuale Repertoires von Klassifizierungen. Diese Klassifikationsrepertoires stellen Differenzsysteme her, die die kognitiven Wahrnehmungsweisen des Einzelnen beeinflussen und über symbolische Codes und Repräsentationen für Orientierung in kontingenten Wissensordnungen sorgen. Antisemitische Klassifizierungen, wie sie hier konzeptualisiert werden, beruhen dabei auf Kategorien der Wahrnehmung und Bewertung, die wiederum als hierarchische Ordnungen von Differenzen ungleiche Positionierungen von Jüd*innen und Nicht-Jüd*innen sinnhaft hervorbringen. Nach Andreas Wimmer werden die legitimen Schemata der Weltinterpretationen infolge kultureller Aushandlungsprozesse und symbolischer Kämpfe

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sind (Ferree 2010: 70f.). Inwiefern beispielsweise die Kreuzung der Differenzlinien von »Geschlecht« und »Rasse« in einem spezifischen Kontext – wie etwa dem Wohnungsund Arbeitsmarkt, der Sexualität und der Reproduktion – für Individuen oder Gruppen sozial relevant und mit Bedeutung aufgeladen wird, ist nach Myra Marx Ferree (2010) ohne ihren Zusammenhang mit etablierten Deutungsmustern und Diskursen nur unzureichend rekonstruierbar. Das dynamische Beziehungsgeflecht rassialisierter, ethnisierter und nationalisierter Antisemitismen kann aus einer intersektionalen Perspektive nicht in Form eines unveränderlichen, »ewigen Antisemitismus« verstanden werden, sondern ist in seiner relationalen Kontextbezogenheit als variables Resultat dynamischer Grenzziehungsprozesse zu begreifen. Jede Konfiguration kategorialer Zuschreibungen von Jüd*innen symbolisiert schließlich unterschiedlich kulturell geformte Prozesse der antisemitischen In- und Exklusion, die sich in Abhängigkeit von sozialen und historischen Kontexten verändern. Das mutual shaping antisemitischer Kategorisierungsprozesse zeigt sich, so meine These, gegenüber der Form ihrer Aushandlung instabil, fragil und offen, ohne jedoch ihre tradierte Bedingung, die »Feindschaft gegen Juden als Juden« (Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus 2017: 24) zu verlieren. Daraus folgt auch, dass ethnisierte, rassialisierte oder nationalisierte Klassifikationen des Antisemitismus nicht raum- und zeitübergreifend gleichermaßen als geltungswirksam prädeterminiert sind, sondern kontextabhängig eine unterschiedliche soziale Reichweite aufweisen. Mit anderen Worten stehen die Kategorien der »Rasse«, »Ethnizität« und »Nationalität«, wie eingangs bereits erwähnt, in keiner vorbestimmten, hierarchischen Beziehung zueinander, sondern müssen als relationale Mehrdimensionalitäten in konkreten sozialen Prozessen stets aufs neue dechiffriert werden (Anthias 2012: 12ff.).

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Zwischenfazit und Implikationen für die Forschungsfrage

In diesem Kapitel wurden einige zentrale, programmatische, theoretische Grundlegungen für eine prozessorientierte Konzeptualisierung soziokultureller Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen entwickelt, die wesentlich für die systematische Synthese paradigmatischer Zugänge der Rassismus-, Ethnizitäts- und Nationalismusforschung erscheinen, um darauf aufbauend (Dis-)Kontinuitäten und Formwandel antisemitischer Kategorisierungen empirisch rekonstruieren zu können. Mit der Einsicht, dass menschliches Handeln durch symbolische Ordnungen strukturiert und damit die soziale Wirklichkeit zugleich klassifizier- und interpretierbar wird, erscheinen Antisemitismen als prozessuale Repertoires von Klassifizierungen. Diese Klassifikationsrepertoires stellen Differenzsysteme her, die die kognitiven Wahrnehmungsweisen des Einzelnen beeinflussen und über symbolische Codes und Repräsentationen für Orientierung in kontingenten Wissensordnungen sorgen. Antisemitische Klassifizierungen, wie sie hier konzeptualisiert werden, beruhen dabei auf Kategorien der Wahrnehmung und Bewertung, die wiederum als hierarchische Ordnungen von Differenzen ungleiche Positionierungen von Jüd*innen und Nicht-Jüd*innen sinnhaft hervorbringen. Nach Andreas Wimmer werden die legitimen Schemata der Weltinterpretationen infolge kultureller Aushandlungsprozesse und symbolischer Kämpfe

2 Eine intersektionale Grenzziehungsperspektive auf antisemitische Unterscheidungslinien

vorläufig gebildet, d.h. hegemonial im Sinne eines kulturellen Konsenses stabilisiert und transformiert. Auch die soziale Herstellung von Antisemitismen und ihrer wandelbaren kulturellen Codes werden demzufolge als interaktionaler Gegenstand der Aushandlung von soziokulturellen Grenzziehungen zwischen einer sozialen Kerngruppe gegenüber einem jüdisch markierten »Außen« verstanden und damit der prozessualen Logik definitorischer Deutungskämpfe unterworfen. Diese konstruktivistische Theorieperspektive auf die kulturellen Aushandlungsprozesse der wandelbaren Bedeutungen antisemitischer Grenzziehungen ermöglicht es also einerseits, die heterogene Erscheinungsvielfalt antisemitischer Klassifizierungen in den Blick zu nehmen und andererseits, die temporäre Stabilisierung antisemitischer Deutungsangebote als diskontinuierliche Formen eines fortlaufenden Bedeutungswandels zu analysieren. Daneben wurde der Untersuchung antisemitischer In- und Exklusionen das analytische Prinzip der relationalen Verbindung von Selbst- und Fremdidentifikation zugrunde gelegt, das antisemitische Differenzierungen als temporär fixierte Systeme des sozialen Ein- und Ausschlusses darstellbar macht. Entsprechend des kultursoziologischen Begriffsapparates basiert die Herstellung dieser Unterscheidungslinien auf einer kulturell anerkannten, legitimen Sicht auf die idealisierte »Eigengruppe« und die negativen Klassifikationen der jüdischen »Fremdgruppe«, hier verstanden als »jüdische Figur des Dritten«. Mit dem prozessualen Grenzziehungsmodell kann schließlich diese Fragilität der Aushandlung antisemitischer Grenzen analysiert werden, um etablierte Klassifikationsschemata nicht im Sinne einer starren Dichotomie der Relation von »Eigen«- und »Fremdgruppe« zu verstehen, sondern als ungleichheitsrelevantes Resultat von kontingenten Kategorisierungspraxen sozialer Akteur*innen in lokal-historisch spezifischen Wissensordnungen. Daran anschließend wäre zu fragen, ob sich also im Hinblick auf die empirische Rekonstruktion des Bedeutungswandels antisemitischer Grenzziehungen Klassifizierungen und Zuschreibungen finden lassen, die Kontinuitäten, Variabilität oder Veränderungen der dynamischen Herstellungsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen aufzeigen? Durch das Grenzziehungsparadigma kann darüber hinaus sichtbar gemacht werden, welche Differenzkategorien als categories of practice in antisemitischen Klassifikationsprozessen zusammenspielen und auf welche Art und Weise Kreuzungen rassialisierter, ethnisierter und nationalisierter Exklusionen im Feld einer multidimensionalen Konstruktion antisemitischer Ausschlüsse ausgehandelt werden. Heuristisch hat der Intersektionalitätsansatz ein relationales Verständnis für die vielfältigen kategorialen Verflechtungen, Wechselwirkungen und Überlagerungen antisemitischer Klassifikationen hervorgebracht und soll darauf aufbauendeine größtmögliche empirische Offenheit gegenüber ihren Schnittstellen und Kontexten gewährleisten. Dynamiken und Wandel soziokultureller Grenzziehungen des Antisemitismus werden daher als kontingentes Resultat von Klassifikationskämpfen interpretiert, indem die Verwendungspraxis sozialer Kategorien in den Mittelpunkt der Analyse rückt. Analytisch werden also nicht a priori abgrenzbare Erscheinungsformen antisemitischer Ausschlüsse, die sich entweder rassistisch oder nationalistisch oder ethnisiert äußern, vorausgesetzt, sondern ihre soziale sedimentiere Form wird in einem sozialkonstruktivistischen Sinne als mutual shaping wandelbarer, heterogener und situativ wirksamer Differenzkategorien des Antisemitismus erklärt. Zugleich wurden im Hinblick auf die Variabilität und Trans-

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formativität von Grenzziehungen auch Klassifikationsstrategien des boundary blurring als Merkmal der Analyseheuristik aufgenommen. Nachdem ich im vorangegangen Abschnitt grundlegende Merkmale einer prozessorientierten Theorie der Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen elaboriert habe, die insbesondere im Hinblick auf die programmatische Synthese paradigmatischer Zugänge der Rassismus-, Ethnizitäts- und Nationalismusforschung eine zentrale Rolle einnehmen, werde ich im Folgenden mit der vergleichenden Diskussion über Zugänge der Rassismusforschung beginnen.

3 Zur Konzeptualisierung von rassialisierten Narrativen des Antisemitismus Antisemitismus und »Rasse«

Im folgenden Kapitel stehen solche theoretischen Konzepte der Rassismusforschung im Mittelpunkt, die insbesondere das konstruktive und interaktionale Moment der Aushandlung und Herstellung rassialisierter Kategorisierungen betonen und die durch interpretative Akte der Zuschreibung von sozialen Akteur*innen (des-)artikuliert und verändert werden. Damit soll im Ergebnis ein kontingenzbewusstes Verständnis von rassistischen Antisemitismen entwickelt werden, das sich als soziale Konstruktionsdynamik der Rassialisierung spezifizieren lässt. Im Fokus steht dabei der Rassialisierungsansatz (Miles 1989: 1993), wie er auch von Zugängen der britischen Cultural Studies (Hall1994a; 1994b; 1994e; 2004a; 2004b; 2004c) akzentuiert wird und hier forschungsleitend prononciert werden soll. Als Rassialisierung wird dabei ein kultureller Signifikationsprozess verstanden, der bestimmte Personengruppen durch die askriptive Zuweisung von unveränderlichen und negativen Merkmalen (phänotypisierten oder biologisierten Eigenschaften) als Kollektiv in lokal-historisch spezifischen, d.h. auch veränderlichen Kontexten, rassifiziert. Dieses Theorievokabular ist schließlich mit Blick auf die Ausarbeitung einer Taxonomie soziokultureller Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen besonders dazu geeignet, Interrelationalität, Prozessualität und speziell Veränderungsdynamiken sowie Formwandel rassialisierter Typen der Grenzziehung herausstellen zu können. Gleichermaßen macht diese Theorieperspektive kategoriale Wechselwirkungen der Differenzierungslinie »Rasse« mit anderen Ungleichheitsdimensionen analysierbar. Im Ergebnis ermöglichen diese Analysezugänge eine fruchtbare Ergänzung des Forschungsfeldes Antisemitismus, insbesondere für die nur unzureichend auf die soziologische Theoriebildung und -entwicklung Bezug nehmende Antisemitismusforschung. Wie werden Jüd*innen als Gruppe rassialisiert? Wie werden rassialisierte Narrative des Antisemitismus konstituiert? Welchen Mechanismen folgen diese Klassifikationsprozesse? Welche Machteffekte rassialisierter Antisemitismen lassen sich feststellen? Sind kulturalisierende Zuschreibungen als Eigenschaften von rassialisierten Klassifikationsmustern zu verstehen?

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Nach einer allgemeinen Statusbestimmung antisemitischer Zuschreibungen im theoretischen Rahmen der Rassismusforschung (3.1) werden zentrale Paradigmen der Rassismusforschung exemplarisch vorgestellt, die ich im Hinblick auf ihre Stärken und Schwächen für die Untersuchung antisemitischer Differenzierungsprozesse diskutieren werde (3.2), um darauf aufbauend das sozialkonstruktivistische Konzept der Rassenkonstruktion heuristisch fruchtbar zu machen 3.3) und schließlich die ambivalente Stellung des Differenzmerkmals der »Kultur« als Analyse- und Praxiskategorie in rassialisierten Klassifizierungsprozessen sowie die terminologische Ausdehnung des Rassenbegriffes zu diskutieren (3.4). Im nächsten Abschnitt erfolgt nun eine allgemeine Annäherung an den Gegenstandsbereich der Rassismusforschung und die Stellung des Antisemitismus in diesem Forschungsfeld.

3.1

»Situating Racism« – Eine allgemeine Annäherung an den Gegenstandsbereich der Rassismusforschung

Einstimmig wird im Hionblick auf die analytische Bestimmung von Rassismen1 konstatiert, dass die soziologische Fachdisskusion über dieses Phänomen eine große konzeptuelle Bandbreite aufweist: »There is […] an enormous conceptual armanentarium in sociology to write and talk about issues of race and ethnicity: race, racism, raciation, racialism, racialization, ›race‹, ethnicity, ethnicism and so on« (Barot und Bird 2001: 616). Dabei führt diese Vielfältigkeit zu einem kaum eingrenzbareren, diffusen und sehr komplexen Begriff des Rassismus (Rommelspacher 2011: 25). Die Aushandlung von Rassismen ist nicht nur Gegenstand hoch politisierter Debatten und Diskurse (ebd.), die häufig zu Ausblendungen, Abwehrreaktionen und Dethematisierung führen (Mecheril und Melter 2011) – worin sie auch den Diskursmechanismen des Antisemitismus gleichen (Rensmann und Schoeps 2011). Die Aushandlung von Rassismen ist darüber hinaus ebenso aufgrund ihrer Verflechtungen mit anderen Ungleichheitsbeziehungen, wie etwa der »Ethnizität« (Anthias 1992; 1998; Hall 1994d) oder nationenbezogener Ausschlüsse (Anderson 2005; Anthias und Yuval-Davis 1992; Balibar 1992c), sowie hinsichtlich ihrer historischen Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit kaum auf eine abstrakte Begrifflichkeit zu reduzieren. Trotz aller Ambiguität (Meer 2013) betont Nichola Melanaphy (2011) folgende Übereinstimmungen in der Forschung über Rassismen: »From within the complexity of contemporary academic discourses on ›racism‹« (11). Mehr noch schreiben Miles (1993), Anthias (1992) und Gilroy (1991), dass weniger die Wirklichkeit der Kategorie »Rasse« 1

Anstelle des Begriffes Rassismus kann für den deutschsprachigen Raum eine Dominanz der Terminologien »Fremdenhass« oder »Ausländerfeindlichkeit« für die Bezeichnung rassistischer Ausschließungsprozesse beobachtet werden. Diese Signifikationen müssen aus rassismuskritischer Betrachtungsweise zurückgewiesen werden. Erstens engen die Begriffe »Ausländer« und »Fremde« Rassismuserfahrungen etwa auf Menschen nicht-deutscher Staatsbürgerschaft ein (Dittmer 2008: 16) und zweitens reduziert eine solche Begriffsverwendung rassistische Markierungen auf die Ebene individueller Pathologien oder Alltagsinteraktionen und verschleiert damit ihre Verstrickung mit gesellschaftlichen und symbolischen Machtverhältnissen (Mecheril und Melter 2011: 9).

3 Zur Konzeptualisierung von rassialisierten Narrativen des Antisemitismus

und ihrer jeweiligen Ausdrucksform in bestimmten Praktiken der Ausschließung sowie in faktischen Subordinations- und Repräsentationsverhältnissen im Zentrum wissenschaftlicher Auseinandersetzungen stehen sollen, sondern die Art und Weise ihrer Herstellung, d.h. die soziale Konstruktion kognitiver Wahrnehmungsweisen rassistischer Differenzen. »Racism is an ideology of racial domination based on (i) beliefs that a designated racial group is either biologically or culturally inferior and (ii) the use of such beliefs to rationalise or prescribe the racial group’s treatment in society, as well as to explain its social position and accomplishment« (Bulmer und Solomos 1999: 5). Ähnlich konstatieren Emirbayer und Desmond (2015): »Without a doubt, constructing the racial object is the race analyst’s most important task« (49). Sie verweisen auf den symbolischen Gehalt rassifizierter Kategorien, die sich erst im Kontext historisch eingrenzbarer und kulturell begrenzter Wissensordnungen mit Sinn und Bedeutung füllen. So lassen sich als Analysekategorien essentialisierter rassistischer Differenzsysteme phänotypische – wie Hautfarbe, Gesichtsstruktur, Knochenbau –, biologisierte – wie vererbliche, genetische oder wesenhafte Eigenschaften – oder kulturelle Merkmale2 – wie religiöse Insignien, kulturelle Praktiken, Lebens- und Verhaltensweisen – begreifen, wenn sie sich zum Beispiel symbolisch als irreduzible Bedeutungsträger darstellen, die als Grundlage des rassistischen Ausschlusses in symbolischen und sozialen Machtbeziehungen fungieren (Anthias und Yuval-Davis 1992: 1f.; Miles 1993: 99). Rassismus kann »als eine Legitimationslegende verstanden werden, die die Tatsache der Ungleichbehandlung von Menschen ›rational‹ zu erklären versucht […]« (Rommelspacher 2011: 26). In Anlehnung an Stuart Hall (1989b) ist die Notwendigkeit der Festlegung allgemeiner Spielarten des Rassismus zwar theoretisch virulent, doch ist die Betrachtung ihrer »Formen, in denen diese allgemeinen Züge durch den historisch spezifischen Kontext und die jeweilige Umwelt, in denen sie wirksam werden, modifiziert und transformiert werden« (84) weitaus relevanter. Wird auf das allgemeine Verhältnis zwischen Rassismus und Antisemitismus geblickt, fällt eine enorme Diskrepanz in der Beurteilung des Stellenwertes des Antisemitismus in der Rassismusforschung auf (Brumlik 2009; Wippermann 1997). Exemplarisch für die theoretische Desintegration von Antisemitismen steht etwa Bunzl (2007), der die Virulenz antisemitischer Exklusionen als überholtes Phänomen diskreditiert, während Balibar (2002) dem Antisemitismus zwar eine theoretische Relevanz beimisst, jedoch für eine analytische Scheidung der je besonderen historischen Ausdrucksformen von Rassismus und Antisemitismus argumentiert. Dagegen subsumieren eine Reihe von Autoren (Mecheril und Melter 2011; Melter 2006: 17; Castro Varela 2014: Geiss 1988; Back und Solomos 2000: 2) antisemitische Deutungsmuster aufgrund ihrer strukturellen Gemeinsamkeit mit den Merkmalen von Rassismen – der Hierarchisierung, der Kollektivierung oder der essentialisierenden Kategorisierung – unter die Funktionslogik rassistischer Klassifikationssysteme. Diese Arbeit entscheidet sich für einen Zwischenweg dieser Positionen, indem sie einerseits für eine Aufhebung der methodologischen Spaltung (Fine und Cousin 2012) von 2

Kulturalisierende Zuschreibungen als Elemente rassialisierter Differenzkategorien werden im Zusammenhang mit dem Kulturrassismus und seiner – nicht trennscharfen – Abgrenzung von Formen ethnischer Grenzziehungen in Kapitel 4 behandelt.

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Rassismus- und Antisemitismusforschung plädiert, ohne jedoch andererseits die Spezifik antisemitischer Kategorisierungen in einer ahistorischen, begrifflich homogenisierenden Rassismus-Definition aufzulösen zu wollen. Denn gerade die Analyse des vielschichtigen Unterscheidungssystems antisemitischer Grenzkonstruktionen erfordert ein reflektiertes Verständnis der Verwendungspraxis rassialisierter Codes und Symbole, die in ihrem mehrdimensionalen Zusammenspiel mit anderen Differenzkategorien analysiert werden müssen.

3.2

Dominante paradigmatische Perspektiven der Rassismusforschung – Eine Diskussion über ihre analytischen Potenziale für die Untersuchung antisemitischer Grenzziehungsprozesse

Nach dieser grundsätzlichen Einordnung eines sehr weitgefassten Rassismusbegriffes wird in einem nächsten Schritt auf dominante Paradigmen der Rassismusforschung eingegangen, wobei insbesondere die Erklärungsdefizite für rassialisierte Typen antisemitischer Grenzziehung im Fokus stehen. Während die europäische Rassismusforschung vor allem die veränderten Erscheinungsweisen der Ausgrenzungsmechanismen eines »Rassismus ohne Rassen« (Balibar 1992b), dem sogenannten neuen (Barker 1981) oder differenzialistischen (Taguieff 1998) Rassismus, untersucht und hier unisono die Naturalisierung kultureller Differenzmerkmale gegenüber der biologistischen Vererbbarkeit somatischer Minderwertigkeitsmerkmale hypostasiert wird, liegt der Fokus amerikanischer race-centric-Ansätze (Wimmer 2015) auf der Herstellung rassifizierter Ungleichheiten entlang der sogenannten ColourLine (Bonilla-Silva 1997; Omi und Winant 2014; Feagin 2013). In den Diskursen des »neuen« Rassismus steht nicht länger die Zuschreibung von Minderwertigkeit rassifizierter Gruppen durch phänotypisierte Rassendifferenzen im Mittelpunkt der Untersuchung, sondern das Postulat der fundamentalen Unaufhebbarkeit naturalisierter, kultureller Unterschiede zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen (Leiprecht 1999; Melanaphy 2011). »Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch« (Adorno 2003a: 277). Robert Miles (1993) führt die Tabuisierung des Rassenbegriffes auf die Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten zurück, wodurch das Phantasma biologischer Minderwertigkeit seine Funktion als legitime Ausdrucksweise rassialisierter Grenzziehungen verloren hat, weil dem Terminus »Rasse« der Geruch der Krematorien anhafte (82). Hinter den differenzialistisch argumentierenden Zuschreibungen der rassistisch begründeten kulturellen Unvereinbarkeit liegt das Moment rassialisierter Machthierarchien verborgen. Demzufolge werden hinter dem »kulturell-symbolischen Gehalt« (Weiß 2013: 30) rassifizierter Machthierarchien weiterhin Essentialisierungen sozialer Ungleichheiten reproduziert. Gerade der amorphe Kern rassistischer Sinngehalte, das Changieren zwischen soziokulturell divergierenden Wissensordnungen und Diskursstrukturen, verhindert eine trennscharfe Definition des Rassismusbegriffes, ohne analytisch den relationalen Zusammenhang von Konstruktion, Aufrechterhaltung und Wandel rassistischer Repräsentationsverhältnisse aufzugeben. Die Schwäche des

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Rassismus- und Antisemitismusforschung plädiert, ohne jedoch andererseits die Spezifik antisemitischer Kategorisierungen in einer ahistorischen, begrifflich homogenisierenden Rassismus-Definition aufzulösen zu wollen. Denn gerade die Analyse des vielschichtigen Unterscheidungssystems antisemitischer Grenzkonstruktionen erfordert ein reflektiertes Verständnis der Verwendungspraxis rassialisierter Codes und Symbole, die in ihrem mehrdimensionalen Zusammenspiel mit anderen Differenzkategorien analysiert werden müssen.

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Dominante paradigmatische Perspektiven der Rassismusforschung – Eine Diskussion über ihre analytischen Potenziale für die Untersuchung antisemitischer Grenzziehungsprozesse

Nach dieser grundsätzlichen Einordnung eines sehr weitgefassten Rassismusbegriffes wird in einem nächsten Schritt auf dominante Paradigmen der Rassismusforschung eingegangen, wobei insbesondere die Erklärungsdefizite für rassialisierte Typen antisemitischer Grenzziehung im Fokus stehen. Während die europäische Rassismusforschung vor allem die veränderten Erscheinungsweisen der Ausgrenzungsmechanismen eines »Rassismus ohne Rassen« (Balibar 1992b), dem sogenannten neuen (Barker 1981) oder differenzialistischen (Taguieff 1998) Rassismus, untersucht und hier unisono die Naturalisierung kultureller Differenzmerkmale gegenüber der biologistischen Vererbbarkeit somatischer Minderwertigkeitsmerkmale hypostasiert wird, liegt der Fokus amerikanischer race-centric-Ansätze (Wimmer 2015) auf der Herstellung rassifizierter Ungleichheiten entlang der sogenannten ColourLine (Bonilla-Silva 1997; Omi und Winant 2014; Feagin 2013). In den Diskursen des »neuen« Rassismus steht nicht länger die Zuschreibung von Minderwertigkeit rassifizierter Gruppen durch phänotypisierte Rassendifferenzen im Mittelpunkt der Untersuchung, sondern das Postulat der fundamentalen Unaufhebbarkeit naturalisierter, kultureller Unterschiede zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen (Leiprecht 1999; Melanaphy 2011). »Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch« (Adorno 2003a: 277). Robert Miles (1993) führt die Tabuisierung des Rassenbegriffes auf die Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten zurück, wodurch das Phantasma biologischer Minderwertigkeit seine Funktion als legitime Ausdrucksweise rassialisierter Grenzziehungen verloren hat, weil dem Terminus »Rasse« der Geruch der Krematorien anhafte (82). Hinter den differenzialistisch argumentierenden Zuschreibungen der rassistisch begründeten kulturellen Unvereinbarkeit liegt das Moment rassialisierter Machthierarchien verborgen. Demzufolge werden hinter dem »kulturell-symbolischen Gehalt« (Weiß 2013: 30) rassifizierter Machthierarchien weiterhin Essentialisierungen sozialer Ungleichheiten reproduziert. Gerade der amorphe Kern rassistischer Sinngehalte, das Changieren zwischen soziokulturell divergierenden Wissensordnungen und Diskursstrukturen, verhindert eine trennscharfe Definition des Rassismusbegriffes, ohne analytisch den relationalen Zusammenhang von Konstruktion, Aufrechterhaltung und Wandel rassistischer Repräsentationsverhältnisse aufzugeben. Die Schwäche des

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expansiv angelegten differenzialistischen Rassismusmodells liegt in seinem unspezifischen Definitionsgehalt begründet, denn »wenn ›Kultur‹ als Deckmantel für ›Rasse‹ angesehen wird, könnte jegliche Unterscheidung zwischen Menschen als ›Camouflage‹ von Rassismus gedeutet werden« (Weiß 2013: 27). Jedoch kann sich die Erklärungskraft eines multivariablen Modells antisemitischer Grenzziehungen nicht auf kulturalisierte Differenzmarker als Analysekategorien rassialisierter Klassifikationsmuster beschränken, gerade weil der symbolische Kanon antisemitischer Klassifikationsrepertoires auch phänotypische Bedeutungskonstruktionen (Mosse 2006) inkludiert, die als Kategorien der Praxis (categories of practice) in den Grenzziehungspraktiken sozialer Akteur*innen vielfältig anwendbar sind. Die race-centric-Ansätze der US-amerikanischen Rassismusforschung konzentrieren sich überwiegend auf das Zusammenspiel zwischen den sozialen Ausschließungsmechanismen der strukturell »racialized social systems« (Bonilla-Silva 1997: 465) und der Dynamik soziohistorisch spezifischer Rassifizierungsprozesse (Omi und Winant 2014). Terminologisch bestimmt Bonilla-Silva (1997) den Begriff der racialized social systems als sozialstrukturelles Gesellschaftsmodell, das die Ordnungen des Ökonomischen, des Politischen, des Sozialen und des Ideologischen teilweise durch die rassialisierten Kategorisierungen von Menschen strukturiert: This term refers to societies in which economic, political, social, and ideological levels are partially structured by the placement of actors in racial categories or races. Races typically are identified by their phenotype, but (as we see later) the selection of certain human traits to designate a racial group is always socially rather than biologically based. (469) In diesem Ansatz wird die Herstellung gesellschaftlicher Ungleichheit, d. i. der disparate Zugang zu ökonomischen, gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Ressourcen, die fehlende gesellschaftliche Teilhabe sowie die Formen institutioneller Diskriminierung und Exklusion, als alleiniger Ausdruck weißzentrierter Dominanzverhältnisse verstanden, die sich in Abgrenzung zu ihren binären Antipoden, den »people of colour«, ausbilden (Emirbayer und Desmond 2015: 58). Eine solche Perspektive auf rassifizierte Ungleichheit als Erklärungsmodell für antisemitische Grenzziehungen kann aus vier Gründen plausibel kritisiert werden. Den ersten Kritikpunkt formuliert Andreas Wimmer (2015), wenn er schreibt: »According to Bonilla-Silva, Feagin, and Omi and Winant, race trumps gender, class and other forms of inequality in its power to bring about unequal social relations. […] [T]hey state ›the ubiquity of race is inescapable across nearly every social domain‹ and ›pervade[s] every institutional setting‹« (2187). Auch aus intersektionaler Perspektive erscheint die Privilegierung der Kategorie »Rasse« als Strukturprinzip sozialer Machtbeziehungen unzureichend für die praxeologische Erklärung eines wechselseitigen Zusammenspieles verschiedener Differenzkategorien im Antisemitismus, wie sie die vorliegende Arbeit fruchtbar machen möchte. Zweitens zeigt sich die konzeptionelle Schwäche der race-centric-Ansätze vor allem mit Blick auf die Konstruktion des jüdischen »Anderen«, denn insofern Jüd*innen im Rahmen der »Schwarz«»Weiß«-Binarität in die Strukturen der privilegierten »Weißen« Dominanzkultur und Machthegemonie (Brodkin 1998) eingeordnet werden, bleiben die vielfältigen Formen antisemitischer Diskriminierungen unreflektiert. Darüber hinaus klammert die Fixie-

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rung der Kategorie Hautfarbe das Moment der »Un/Sichtbarkeit« (P. Cohen 1990: 86), respektive der gesellschaftlichen Konstruktion von Sichtbarkeit, aus und kann so die prototypische Zuschreibung der Signifikation des jüdischen »Anderen« im »Inneren« nicht hinreichend deuten. Drittens missdeuten soziostrukturelle Rassismus-Ansätze die spezifische Phänomenstruktur rassialisierter Antisemitismen, weil sich die soziale Ausschließung3 von Jüd*innen seltener in rassistischen Diskriminierungsformen auf dem Gebiet des Arbeits- oder Wohnungsmarktes realisiert. Vielmehr etablieren sich die Machtverhältnisse hier ebenso in Form symbolischer und physischer Gewalt wie auch in kultureller Dominanz (Eckmann 2006; Messerschmidt 2006). Viertens lässt sich für Antisemitismen ein umgekehrtes Machtparadigma präsupponieren, in dem Jüd*innen nur noch selten mit biologisierenden Zuschreibungen der Inferiorisierung belegt werden – auch wenn Klassifikationen des »parasitären Juden« in rassenbiologistisch begründeten Antisemitismen weiterhin tradiert erscheinen. Stattdessen dominieren kontextualisierbare symbolische Codes, die Jüd*innen wesenhaft mit omnipotenter Macht und Herrschaft besetzen, wodurch sie als personalisierte Chiffren für machtvermittelte gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Prozesse der als krisenhaft empfundenen Moderne fungieren (Rensmann und Schoeps 2011; Holz 2001; Salzborn 2010b; 2018). Ein weiteres, besonders im angelsächsischen Raum vorherrschendes Paradigma der Rassismusforschung ist der prozessorientierte theoretische Zugang der Rassialisierung, dessen Mittelpunkt die Analyse der Konstruktionsmechanismen von »Rasse« bildet. Nach Omi und Winant (2014) beruht Rassialisierung darauf, bislang noch nicht rassialisierten Gruppen, Praktiken und sozialen Beziehungen rassifizierte Bedeutungen zuzuweisen (111). Das Konzept der Rassialisierung selbst geht auf Robert Miles (1989; 1993) zurück, der vor allem die historische Situiertheit der ideologischen Praxis rassistischer Bedeutungskonstitution für somatische und phänotypische Merkmale betont. Definitorisch bestimmt Miles (1989) das Konzept als »a representational process whereby social significance is attached to certain biological (usually phenotypical) human features, on the basis of which those people possessing those characteristics are designated as a distinct collectivity« (74). Als übergeordnetes Prinzip des gesellschaftlichen Ein- und Ausschlusses enthält der Rassismus, nach Miles, zwei Elemente: »›racialisation‹ and the negative evaluation of the ›racialised‹ collectivity« (ebd.). Hiernach vollziehen sich in einem gegebenen Raum-Zeit-Kontinuum legitime und damit vorübergehend stabilisierte Praktiken der rassialisierten Grenzziehung über den Modus der »Signification« (ebd.: 9), die rassifizierte Körper mit scheinbar natürlichen Differenzmerkmalen markieren. Innerhalb des historischen Variantenreichtums der Rassialisierung von Gruppen und Subjektpositionen verdichten sich sowohl sichtbar-somatische oder unsichtbar-biologische Merkmale zu einem relationalen Zusammenhang negativer Kategorisierungen, um Mitglieder der konstruierten »Fremdgruppe« ökonomisch, politisch und kulturell zu exkludieren. Zentrale Prämisse rassistischer Subordination innerhalb des Miles’schen Rassialisierungsansatzes ist ihre ideologische Funktion, die

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Jüd*innen sind etwa sozioökonomisch weitestgehend angepasst und – im Vergleich zu Angehörigen anderer Minderheiten – weniger von ökonomischen oder institutionellen Diskriminierungen betroffen (Cardaun 2015; Goldstein 2006).

3 Zur Konzeptualisierung von rassialisierten Narrativen des Antisemitismus

soziale Ungleichheitsbeziehungen verschleiert, indem sie die gesellschaftlichen Beziehungen von Menschen auf verzerrende Weise darstellt (Miles 1989: 100). Meine Kritik an einer ökonomisch essentialisierenden Perspektive auf Rassialisierungsprozesse folgt Barot und Bird (2001), die darauf hinweisen, dass Milesʼ »real focus of ›raceʻ« (614) in einer Reduktion des funktionalen Kerns von Rassialisierungsprozessen auf die ideologische Überformung ökonomischer Machtbeziehungen, gesellschaftlicher Klassenverhältnisse und Ungleichheiten liegt. Aus diesem Grund wiederholt Milesʼ neomarxistisch verkürzte Ideologiekritik Fehler, die auch von funktionalistischen Antisemitismustheorien (beispielhaft: (Kautsky 1914) reproduziert werden, weil sie Diskriminierungsweisen und Ausgrenzungsformen von Jüd*innen einen zweckrationalen, sprich ökonomisch motivierten, Wesenskern unterstellen (Postone 1988; Diner 1988: Adorno und Horkheimer 2008) und diese Weisen und Formen nicht als grundsätzliche Frage sozialer Perspektivität begreifen. Zwar ist der ökonomische Reduktionismus einer klassenkämpferischen Logik von Rassismen gegenüber der Vielfältigkeit und Interrelationalität symbolischer Machtbeziehungen des Antisemitismus blind. Dennoch offeriert die Akzentuierung der prozessualen Konstruktionsdynamik im Modell der Rassialisierung relevante Anschlüsse für die Analyse der pluralen, den sozialen Ausschließungsprozessen zugrundeliegenden, symbolischen Konstruktionsmechanismen antisemitischer In- und Exklusion. Diese Einsicht in die Prozesshaftigkeit rassialisierter Antisemitismen soll im nächsten Kapitel auf der Grundlage eines erweiterten Rassismusbegriffes in der radikal deessentialistischen Spielart der Rassismustheorie Stuart Halls re-konfiguriert werden.

3.3

Rassialisierte Kontingenz in soziokulturellen Konstruktionsprozessen antisemitischer Grenzziehungen

Für die Rekonstruktion der symbolischen Herstellung antisemitischer Klassifikationsrepertoires liefert das Konzept der Rassialisierung, wie es auch Rassismuskonzepte der Cultural Studies formulieren, wertvolle Einsichten in die Pluralität antisemitischer Grenzziehungen.4 Im Folgenden werden nochmals drei forschungsleitende Prämissen vorgestellt, die zentrale Elemente rassismustheoretischer Ansätze enthalten und anschließend näher ausgeführt werden sollen. Hierfür wird der theoretische Ausgangspunkt nochmals zusammengefasst: Ich gehe davon aus, dass Akteur*innen antisemitische Grenzen aushandeln, um lokal-historisch spezifische, d.h. wandelbare, Bedeutungen antisemitischer Ausschlüsse zu konstruieren. Als Kategorien der Praxis wirken diese Differenzli-

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Ich beziehe mich im Folgenden insbesondere auf die Konzeptualisierung der Kategorie »Rasse« von Stuart Hall. Sie unterscheiden sich von seinen Überlegungen zu »Ethnizität«, auch wenn sich die Mechanismen ihrer Bedeutungskonstitution, die ich hier ins theoretische Zentrum stellen will, gleichen. Im Gegensatz zu der eher durch kulturalisierte Askriptionen definierten Kategorie »Ethnizität« begreift Hall »Rasse« als diskursive Kategorie, die phänotypische und körperliche Merkmale zur Klassifikation rassifizierter Gruppen in kulturellen Signifikationsprozessen enthält (Hall 1994e: 208; Leiprecht und H. Lutz 2015: 293ff.).

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soziale Ungleichheitsbeziehungen verschleiert, indem sie die gesellschaftlichen Beziehungen von Menschen auf verzerrende Weise darstellt (Miles 1989: 100). Meine Kritik an einer ökonomisch essentialisierenden Perspektive auf Rassialisierungsprozesse folgt Barot und Bird (2001), die darauf hinweisen, dass Milesʼ »real focus of ›raceʻ« (614) in einer Reduktion des funktionalen Kerns von Rassialisierungsprozessen auf die ideologische Überformung ökonomischer Machtbeziehungen, gesellschaftlicher Klassenverhältnisse und Ungleichheiten liegt. Aus diesem Grund wiederholt Milesʼ neomarxistisch verkürzte Ideologiekritik Fehler, die auch von funktionalistischen Antisemitismustheorien (beispielhaft: (Kautsky 1914) reproduziert werden, weil sie Diskriminierungsweisen und Ausgrenzungsformen von Jüd*innen einen zweckrationalen, sprich ökonomisch motivierten, Wesenskern unterstellen (Postone 1988; Diner 1988: Adorno und Horkheimer 2008) und diese Weisen und Formen nicht als grundsätzliche Frage sozialer Perspektivität begreifen. Zwar ist der ökonomische Reduktionismus einer klassenkämpferischen Logik von Rassismen gegenüber der Vielfältigkeit und Interrelationalität symbolischer Machtbeziehungen des Antisemitismus blind. Dennoch offeriert die Akzentuierung der prozessualen Konstruktionsdynamik im Modell der Rassialisierung relevante Anschlüsse für die Analyse der pluralen, den sozialen Ausschließungsprozessen zugrundeliegenden, symbolischen Konstruktionsmechanismen antisemitischer In- und Exklusion. Diese Einsicht in die Prozesshaftigkeit rassialisierter Antisemitismen soll im nächsten Kapitel auf der Grundlage eines erweiterten Rassismusbegriffes in der radikal deessentialistischen Spielart der Rassismustheorie Stuart Halls re-konfiguriert werden.

3.3

Rassialisierte Kontingenz in soziokulturellen Konstruktionsprozessen antisemitischer Grenzziehungen

Für die Rekonstruktion der symbolischen Herstellung antisemitischer Klassifikationsrepertoires liefert das Konzept der Rassialisierung, wie es auch Rassismuskonzepte der Cultural Studies formulieren, wertvolle Einsichten in die Pluralität antisemitischer Grenzziehungen.4 Im Folgenden werden nochmals drei forschungsleitende Prämissen vorgestellt, die zentrale Elemente rassismustheoretischer Ansätze enthalten und anschließend näher ausgeführt werden sollen. Hierfür wird der theoretische Ausgangspunkt nochmals zusammengefasst: Ich gehe davon aus, dass Akteur*innen antisemitische Grenzen aushandeln, um lokal-historisch spezifische, d.h. wandelbare, Bedeutungen antisemitischer Ausschlüsse zu konstruieren. Als Kategorien der Praxis wirken diese Differenzli-

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Ich beziehe mich im Folgenden insbesondere auf die Konzeptualisierung der Kategorie »Rasse« von Stuart Hall. Sie unterscheiden sich von seinen Überlegungen zu »Ethnizität«, auch wenn sich die Mechanismen ihrer Bedeutungskonstitution, die ich hier ins theoretische Zentrum stellen will, gleichen. Im Gegensatz zu der eher durch kulturalisierte Askriptionen definierten Kategorie »Ethnizität« begreift Hall »Rasse« als diskursive Kategorie, die phänotypische und körperliche Merkmale zur Klassifikation rassifizierter Gruppen in kulturellen Signifikationsprozessen enthält (Hall 1994e: 208; Leiprecht und H. Lutz 2015: 293ff.).

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nien in der sinnhaften Aneignung durch Akteur*innen multipel zusammen und bringen mehrdimensional verschränkte Formen der antisemitischen Grenzziehungen hervor. Erstens bilden sich die konkreten Bedeutungen des Signifikanten »Jude« sowie der inhärenten rassistischen Anrufungssysteme in Prozessen der diskursiven Aushandlungen fortwährend neu (Hall 2004a; 2004b; 2004c). In diesen Prozessen der Aushandlung konturieren sich rassifizierte Grenzen, die zweitens (legitimes) Wissen über die »Eigen«- und »Fremdgruppe« erzeugen. Dabei korrespondiert die Differenzsetzung des antithetischen und gleichermaßen amorphen Narrativ eines jüdischen »Anderen« mit idealisierenden Zuschreibungen der homogen konstruierten »Eigengruppe«, die für die »andauernd wirksamen unbewussten« Prozesse (Hall 1994b: 196) der Identifikation sinnstiftend wirken. Die soziokulturelle Produktion des gesellschaftlichen Ein- und Ausschlusses drückt sich drittens in der Ausübung von Definitionsmacht aus, die antisemitische Klassifikationsweisen überhaupt erst als machtvolle Ordnungsmuster des sozialen Raumes hervorbringt (Hall 1994a: 149-154). Um diese drei forschungsleitenden Prämissen nun näher auszuführen, werde ich zunächst versuchen, mit den von Stuart Hall im Feld der Cultural Studies entwickelten differenztheoretischen Konzeptionen von symbolischer Repräsentation und Artikulation einen flexiblen Deutungsrahmen des interrelationalen Zusammenhanges von kollektiven Identifikationsweisen sowie rassistischer Subordination zu skizzieren. Anschließend steht das Moment symbolischer Definitionsmacht in der Aushandlung von Grenzen im Vordergrund, das ich mit Anja Weiß und im Anschluss an Pierre Bourdieu als Verfügungsgewalt über rassistisches symbolisches Kapital (Weiß 2013) darzustellen versuche. Für die basale Grundlegung des allgemeinen theoretischen Analyserahmens rassialisierter Grenzziehungen und ihrer dynamischen und anpassungsfähigen symbolischen Differenzsysteme plädiere ich dafür, »Rassismus nicht als Vorurteil oder Ideologie zu begreifen, sondern als symbolisch vermittelte Dimension sozialer Ungleichheit« (Weiß 2013: 12). Wird diese Rassismusdefinition auf den sinnorientierten Kulturbegriff, wie er in Kapitel 2.1 elaboriert wurde, übertragen, erscheint das Substantivum Rassismus nun als routinierte Form der praktischen Sinnaneignung von Wirklichkeit. Demzufolge werden Individuen durch Rassismen symbolisch strukturierte Deutungs- und Klassifikationsmuster zur Wahrnehmung ihrer sozialen Umwelt bereitgestellt. Weshalb sich Subjekte rassialisierte Klassifikationsmuster aneignen, erklärt Stuart Hall (1994a; 1997; 2004a; 2004c) mit der prozessualen Logik von Repräsentationen, die als soziale Praktiken geltungswirksame Codes und Kategorisierungen der sozialen Welt in Form kontingenter Systeme von Repräsentationen herstellen. Repräsentationen produzieren spezifische Bedeutungen, durch die sich Subjekte nicht nur die symbolische Wirklichkeit erschließen, sondern in diesen bedeutungsgenerierenden Prozessen selbst mehrfach positioniert werden (Hall 2004a: 50ff; Hall 1997: 45f.). In rassistischen Differenzordnungen gelingt das »Vernähen« (Hall 2004c: 173) zwischen Subjekt und Diskurs durch die Anrufung des Subjektes in diskursiv hergestellte, rassialisierte Subjektpositionen. Indem bestimmte Repräsentationen des »Anderen« diskursiv legitimiert werden – etwa die Zuschreibung von Jüd*innen als »minderwertig« –, wird dem Einzelnen infolge dieser Anrufung eine machtvermittelte Position im Diskurs zugewiesen. Ihr Sinngehalt ist dabei jedoch einem andauernden »Kampf um Bedeutungen« unterworfen (Hall

3 Zur Konzeptualisierung von rassialisierten Narrativen des Antisemitismus

2004b: 165). So können die zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt wirksamen negativen Klassifikationsweisen des »Anderen« schließlich als »Repräsentationsregime« (Hall 2004b: 115) verstanden werden, die Zuschreibungen und Bedeutungen sozialer Gruppen legitimieren und sich in einem Feld gesellschaftlicher Kämpfe um Hegemonie, beziehungsweise um symbolische Deutungsmacht, konstituieren (R. Winter 2011: 472). Ich ordne die rassialisierten Klassifikationsmuster des Antisemitismus demzufolge als Resultat symbolischer Deutungskämpfe ein, die spezifische Repräsentationen des jüdischen »Anderen« hervorbringen. Zugleich verstehe ich ihre exkludierende Wirkung als Machteffekte einer Differenzmarkierung, die diskursiv vermittelte Subjektpositionen gesellschaftlicher Repräsentationsregime hierarchisieren. Es zeigt sich folglich, dass sich die Rassismuskonzepte der Cultural Studies auf die prozessualen Herstellungsdynamiken rassistischer Repräsentationen in politischen Diskursformationen konzentrieren statt auf die phänotypisch konstruierten Merkmale rassistischer Zuschreibungen. Sozialkonstruktivistische Ansätze der Cultural Studies fragen daher nach wandelbaren Sinnfixierungen rassialisierter Signifikanten als categories of practice, die für eine Untersuchung kultureller Aushandlungen von Grenzziehungen im Mittelpunkt stehen und sich für die Analyse des intersektionalen Zusammenspieles antisemitischer Kategorisierungspraxen öffnen. Mit Paul Gilroy (1991) wird die hier verwendete Perspektive paradigmatisch formuliert: Accepting that skin »colour«, however meaningless we know it to be, has a strictly limited material basis in biology, opens up the possibility of engaging with theories of signification which can highlight the elasticity and the emptiness of »racial« signifiers as well as the ideological work which has to be done in order to turn them into signifiers in the first place. This underscores the definition of »race« as an open political category. (38-39) Auch Ali Rattansi (2005) hebt die Fluidität rassistischer Klassifikationsprozesse hervor, die auf eine chronische Instabilität der rassistischen Zuschreibungspraxis rekurriert und, im Sinne Ernesto Laclaus (1990), als »floating signifier« (28) in unterschiedlichen Diskursen ausgehandelt und situativ wirksam wird. Die Kategorie »Rasse« ist demnach ein mehrdeutiges, formbares und ambivalentes Phänomen (Hall 1994e: 208f.; 2004c: 202-207), das in historisch kontingenten Zusammenhängen als Resultat diskursiver Prozesse der Rassialisierung eine exkludierende und symbolische Macht (Drüeke 2015) entfaltet, wobei rassialisierte Kategoriensysteme dem Individuum eine Art von Schemata wahrheitsbewährter Vorstellungen über die soziale Wirklichkeit anbieten. Gerade weil rassistische Diskurse eine bestimmte Form des Wissens über den »Anderen« produzieren, ist »Rasse« als »organisierende Kategorie der Sprechweisen, Repräsentationssysteme und sozialen Praktiken (Diskurse)« zu verstehen, »die einen lockeren, oft unspezifizierten Zusammenhang von Unterscheidungen nach physischen Charakteristiken – Hautfarbe, Haarform, physische und körperliche Eigenschaften – als symbolische Markierungen dazu benutzen, um eine Gruppe gesellschaftlich von anderen zu unterscheiden« (Hall 1994b: 208).

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Repräsentationssysteme, die (rassifizierte) Wahrheit hervorbringen, werden hier nach Hall (1994a; 1997) und in Anlehnung an Foucault5 als Ausdruck von Macht-Wissen begriffen, das wiederum in den symbolischen Kämpfen über legitime Perspektiven der kulturellen Sinnvermittlung entsteht. Zugeschriebene Eigenschaften und Merkmale des »Anderen« sind in einem poststrukturalistischen Sinne unabhängig von ihrer vermeintlich objektiven empirischen Geltung, mithin der Unterscheidung zwischen »richtig« und »falsch«, und erzeugen als Teil der Trias von Diskurs, Wissen und Macht sozial geltungswirksame Wissenscodes. Wissenscodes setzen die gesellschaftlich akzeptierten Deutungen über die ausgeschlossene »Fremdgruppe« durch und tragen zur Hierarchisierung von sozialen Gruppen bei, indem sie Handlungsmöglichkeiten des markierten »Anderen« in negativer Hinsicht beeinflussen (Hall 1994a: 152-155). Um ein Beispiel zu geben: Schließt sich an die Konstruktion einer kulturell homogenisierten Gruppe von »Arabern« eine Kette von vielfältig abwertenden orientalistischen Repräsentationen an, hier sei auf die rassialisierten Assoziationen Minderwertigkeit, zivilisatorische Rückständigkeit oder barbarische Lebensweisen verwiesen (Selod und Embrick 2013: 649), finden plurale Formen rassistischer Praxen der Diskriminierung, Unterdrückung und Ausschließung statt (Leiprecht 1999: 27). Ein solches dynamisches Verständnis der historischen Wandelbarkeit rassistischer Kategorisierungen liefert damit einen analytischen Bezugrahmen für die »Politiken der Repräsentation« (Hall 2004b: 165) samt ihrer sozialen Anerkennung in antisemitischen Grenzziehungsprozessen. Diese relationale Perspektive auf diskursive Prozesse der Repräsentationen steht daher im starken Kontrast zu funktionalistischen Konzeptionen des ideologischen Charakters rassistischer Zuschreibungspraxen sowie des darin angelegten konfliktuellen Verhältnisses von Wahrheit und »falschem Bewusstsein« (Weiß 2013: 37). Die wertvolle Einsicht in die Form- und Wandelbarkeit fügt sich nicht nur in die programmatische Grundlegung einer prozessorientierten Taxonomie antisemitischer Differenzierungen ein, sondern verspricht, im Sinne der hier verfolgten Verzahnung von Theorie und Empirie innerhalb der Taxonomie, einen besonderen Mehrwert für die empirische Untersuchung von (Dis-)Kontinuitäten und Bedeutungswandel antisemitischer Klassifizierungen im Analyseteil dieser Arbeit. Wie werden aber die konkreten Bedeutungen rassialisierter Differenzsetzung in sozialen Konstruktionsprozessen hervorgebracht? Hall beantwortet diese Frage im Anschluss an die hegemonietheoretischen Überlegungen von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (2000) mit dem nicht-reduktionistischen Begriff der Artikulation6 (2004b; 1994b; 1994e; 1997: 16ff.). Artikulationen bringen, mit Leiprecht und H. Lutz (2015: 297f.), in dem relationalen Verhältnis von Diskurs und 5

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Foucault schreibt in »Dispositive der Macht« über die gesellschaftliche Vermittlung von diskursiver Wahrheit, dass »jede Gesellschaft […] ihre eigene Ordnung der Wahrheit [hat], ihre ›allgemeine Politikʻ der Wahrheit: d.h. sie akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre Diskurse funktionieren lässt« (1978: 51). Nach Laclau und Mouffe sind die Logiken von Differenz und Äquivalenz Ordnungsmuster der Objektivierung von Diskursen. Durch die Referenz auf antagonistische Diskurspositionen erzeugen sie den inneren Bedeutungszusammenhang einer Kette von Signifikanten und reduzieren damit die Bedeutungsüberschüsse im Feld der Diskursivität. So schreiben Laclau und Mouffe (2000): »Die Praxis der Artikulation besteht deshalb in der Konstruktion von Knotenpunkten, die Bedeutun-

3 Zur Konzeptualisierung von rassialisierten Narrativen des Antisemitismus

Subjekt rassialisierte Subjektpositionen – etwa die Anrufung als »Schwarzer« – hervor, können rassistische Diskurse reartikulieren oder auch neu konfigurieren7 . Im Sinne einer radikalen Kontingenz beschreibt der Begriff der Artikulation also die diskursive Verknüpfung heterogener sprachlicher Zeichen zu einer Bedeutungskette relationaler Differenzen, die in einem spezifischen soziohistorischen Moment die leere Kategorie »Rasse« mit Sinn und Bedeutung füllen. Als wirklichkeitskonstitutive Konstruktion des markierten »Anderen« essentialisiert sich die »nicht notwendige Entsprechung« (Hall 2004c: 183) der Artikulation temporär und formiert damit die Einheit von Diskursformation, Subjektposition und Subjekt (Hipfl 2015; Krönert und Hepp 2015; Spies 2013: 159). Auch wenn die Artikulation von Unterschieden den habitualisierten Differenzsystemen, die Bourdieus Praxeologie theoretisch fundieren, entspricht, stellen diese in ihrer rassistischen Spielart Zusammenhänge grob simplifizierend (Hall 2004b: 142-45) dar, die wiederum rassialisierte Machtkonstellationen in raumzeitlich begrenzten Wissensordnungen stabilisieren. Weil aber der diskursive Entwurf der Bedeutungskonstitution von »Rasse« nicht abgeschlossen ist, die konkreten Zuweisungen an die Subjekte stetig neu verhandelbar sind, wird der differentielle Charakter rassistischer Signifikationen in einem fortlaufenden Prozess der Neu-Konfiguration von Bedeutungselementen in gesellschaftlichen Diskursen (Leiprecht und H. Lutz 2015: 297) verortet. Daraus ergibt sich folgende Konsequenz: Erst die Artikulation als Modus der Herstellung rassialisierter Subjektpositionen in diskursiven Wahrheitsregimen konstituiert die soziale Identität von Individuen (Hall 1997: 46; Spies 2013: 159). Damit ist allerdings kein Determinismus gemeint. Das dezentrierte Subjekt muss sich nicht »passgenau« (Walgenbach 2014: 14) in seine Positionierung einfügen. Die Frage, mit welchen Differenzmerkmalen die Artikulationen antisemitischer Rassismen in sozialen Klassifikationsprozessen interferieren, erscheint daher nun als Frage der Rekonstruktion hegemonialer Deutungskämpfe. Demzufolge werden die rassialisierten Subjektpositionen für Jüd*innen, den subjekttheoretischen Überlegungen Stuart Halls folgend, in dieser Arbeit als Artikulation einer solchen nicht-notwendigen-Entsprechung begriffen. Mit dem theoretischen Modell der Artikulation fokussiert sich daher die intersektionale Analyse antisemitischer Grenzziehungen auf die Verwendungspraxis rassifizierter Kategorien der sozialen Akteur*innen (categories of practice), die Verschränktheit und Wandelbarkeit kontingenter Subjektpositionen (Walgenbach 2014: 13f.) in Grenzziehungsprozessen hervorbringen. Hall (1994e) beschreibt die historisch-spezifische Geltung der rassistischen Artikulationen als eine diskursive Anrufungsstruktur 8 des minorisierten und desartikulierten

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gen teilweise fixieren. Der partielle Charakter dieser Fixierung geht aus der Offenheit des Sozialen hervor […]« (151). Im Konzept der Artikulation sind bei Hall (2004b: 198) auch Momente des Kampfes, des Widerstandes und der Subversion enthalten, die es ermöglichen, symbolisch dominante rassistische Bedeutungen anzugreifen, indem sie sinnhafte Verknüpfungen rassialisierter Askriptionen des- und reartikulieren. »Oft besteht der ideologische Kampf im Versuch, ein neues Set von Bedeutungen für einen bestehenden Begriff oder eine Kategorie zu gewinnen, sie von ihrem Platz in der Bedeutungsstruktur zu des-artikulieren« (Hall 2004a: 62/63). In kritischer Rezeption des strukturalistischen Neo-Marxismus des Philosphen Louis Althusser (1977) rekurriert Hall auf das Konzept der »Interpellation«, wonach Individuen durch Anrufungen

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»Anderen«. Dabei sind die naturalisierenden Subjektivierungsweisen dieser Anrufung, d. i. die Zuschreibung natürlich scheinender Eigenschaften der rassifizierten Subjekte, auch »innerhalb der dominierten Subjekte wirksam«. Damit werden die Individuen dazu gebracht, die Bedeutungskette der »imaginären Vorstellung der rassistischen Anrufung« anzuerkennen und »sich selbst als die ›Minderwertigenʻ, les autres, zu erfahren« (136). Nicht zuletzt aufgrund ihrer handlungspraktischen Wirksamkeit manifestieren sich die Essentialisierungen rassistischer Artikulationen im Zusammenhang mit dem Macht-Wissen-Komplex auf beiden Seiten der Grenze als wahrheitskonstitutive Sinnstruktur. Mit Durkheim kann die Wirklichkeit von rassialisierten Grenzen auch als sozialer Tatbestand formuliert werden, d.h. als »mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die die Fähigkeit besitzt, auf den Einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben« (Durkheim 1980: 114). So lässt sich für die ambivalente Konstruktion jüdischer Subjektpositionierungen diesseits und jenseits der Grenzen von in- und outgroup feststellen: Jüd*innen können in Diskursen einerseits als Teil der Etabliertengruppe eines »jüdisch-christlichen« Europas angerufen werden (Marx 2013). Sie lassen sich aber auch infolge der stereotypen Klassifikation von Jüd*innen als »wurzellose« Verschwörer gegen den Zusammenhalt einer kulturellen »Wir«-Einheit, zu einem Subjekt der »Fremdgruppe« stilisieren. Was bedeutet aber nun die Artikulation eines rassialisierten Repräsentationsregimes für das kollektive Selbstverständnis einer »Eigengruppe«? In demselben Maße, wie Wissen über »Fremdgruppen« produziert, Aussagen über homogenisierte Gruppen konstruiert und der »Andere« einer »bestimmten kulturellen Matrix« (Terkessidis 2004: 106) zugeordnet wird, stellen sich auch positive Wertbezüge in den Grenzen der »Eigengruppe« her. Gruppenidentitäten und ihre Subjektpositionen sind daher zwingend auf die relationale Artikulation von Differenzen angewiesen, gerade weil sich Subjekte in dem Machtfeld der Diskursivität nur über die binären Gegensätze (Hall 2004b: 117f.) zwischen in- und outgroup, eben über das, »was ausgelassen wird« (Hall 2004c: 169), als Teil des homogen konstruierten Kollektivs begreifen können (Knepper 2008: 508). Die kollektiven Identifikationsangebote rassialisierter Artikulation erlauben es damit, ein relationales System des symbolischen Ausschlusses sinnhaft zu vernähen (Hall 2004c: 169). Exemplarisch hierfür steht etwa die rassialisierte Artikulation des »raffenden« und »wurzellosen« »Juden« im Nationalsozialismus, deren positives Korrelat in der »schaffenden«, »organisch gewachsenen« Volksgemeinschaft kulminierte (Mosse 2006; Postone 1988; Adorno und Horkheimer 2008). Diese Differenzierung verdichtete sich schließlich zu einem machtvollen diskursiven Repräsentationsregime, das als kultureller Sinnzusammenhang des sozialen Ausschlusses, der Diskriminierung, Verfolgung und Vernichtung der europäischen Jüd*innen fungiert hat.

gesellschaftlicher Institutionen wie Familie, Schule, Kirche, Justiz oder auch Medien in soziale Positionen – etwa als Familienvater oder Schüler – ideologisch integriert werden und diese Platzanweisung als internalisierte Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster reproduzieren (Bonz und Struve 2011: 134). Herrschaft verweist demnach nicht auf äußeren Zwang, sondern stabilisiert sich ideologisch durch die aktive und freiwillige Unterwerfung der Beherrschten (Thomas 2015: 70-72).

3 Zur Konzeptualisierung von rassialisierten Narrativen des Antisemitismus

Formen der »rassischen« Zugehörigkeit sind also weniger singulärer Ausdruck von kulturellen Rahmenbedingungen oder sozialen Strukturen, sondern Ergebnis habitualisierter Praxen der kulturellen Deutungsarbeit von individuellen Akteur*innen oder sozialen Gruppen (Cornell und Hartmann 2010: 69). Mit Bezug auf Richard Jenkins können die simplifizierenden Differenzmuster rassifizierter Subjektivierung biologisierte Narrative einer auf Vererbung beruhenden, konstruierten Ursprünglichkeit – Tradition, Bräuche und kulturelle Lebensweisen – enthalten, die dem affirmativen Zusammengehörigkeitsgefühl der Gruppenbildung ethnischer, nationaler oder kultureller Identitäten, zugrunde liegen. Dazu schreibt Bonilla-Silva: »[T]he creation of a category of ›other‹ involves the creation of a category of ›same‹. If ›Indians‹ are depicted as ›savages‹, Europeans are characterized as ›civilized‹; if ›Blacks‹ are defined as natural candidates for slavery, ›Whites‹ are defined as free subjects« (1997: 471). Ähnlich exemplifiziert Stuart Hall (1994a) die identifikatorische Wirkungsmacht rassistischer Repräsentationssysteme durch die symbolischen Differenzsetzungen des postkolonialen Diskurses über den »Westen« und den »Rest«. Die Formierung einer idealisierenden Vorstellung des Westens von sich selbst, seiner Kultur und Identität, gelingt nach Hall nur über die Artikulation einer »binäre[n] Opposition« (141) einer gleichermaßen relationalen wie antagonistischen Bedeutungskette diskursiver Repräsentationen des kolonialen »Anderen«. Brubaker, Loveman und Stamatov (2007: 120ff.) heben diesen Aspekt, der auch für die vorliegende Arbeit maßgeblich sein soll, in der Betrachtung sozialer Schließungsprozesse hervor, dass die soziale Anerkennung von ethnischen, nationenbezogenen und auch rassialisierten Gruppengrenzen von reziproken Prozessen der Selbst- und Fremdzuschreibung, der Klassifikation und Kategorisierung einer sozialen Kerngruppe und eines rassialisierten »Anderen« bedingt wird. Kurz: Die Formen der sozialen Schließung hängen davon ab, »bestimmte potentielle Rivalen als Außenseiter« (ebd.: 122) zu kategorisieren und zu exkludieren. Die Überlegungen zu rassialisierten Differenzen nehmen daher eine zentrale Rolle in der Analyse antisemitischer Klassifikationsprozesse ein, weil die Anrufung als »Jude«, so meine These, bestimmte kategoriale Bedeutungen enthält, die darüber hinaus inkludierende Kriterien der Zugehörigkeit bilden und als kollektive Identifikationsangebote sinnstiftend für Mechanismen der Vergemeinschaftung wirken. Daran anschließend gilt es zu fragen, welche Konsequenzen sich für das in der Theorie vorausgesetzte Zusammenspiel von Prozessen der rassialisierten In- und Exklusion im Rahmen des Wimmer’schen Grenzziehungsparadigmas ergeben? Welche legitimen rassialisierten Klassifikationen und Repräsentationen bringen die symbolischen Kämpfe um antisemitische Perzeptionsweisen hervor? Wie wird das wandelbare Narrativ der rassialisierten jüdischen »Fremdgruppe« innerhalb eines geltenden Repräsentationsregime definiert? Um diese grundlegenden Prämissen für die Analyse rassialisierter Grenzkonstruktionen des Antisemitismus, der Geltung antisemitischer Artikulationen und ihrer Abgrenzung zu anderen ausschließenden Differenzsystemen, abschließend beantworten zu können, ist vor allem die zu Beginn aufgeworfene Frage nach der symbolischen Definitionsmacht innerhalb der Etablierten-Außenseiter-Konfiguration relevant, also die Frage nach gesellschaftlichen Machtbeziehungen, die überhaupt erst spezifisches, historisch situationalisierbares Wissen über den »Anderen« hervorbringen (Weiß 2013; Anthias und Yuval Davis 1992; Leiprecht 1999).

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Ich folge hier Anja Weiß (2013), die den zentralen theoretischen Stellenwert von »Konstruktionsmacht« betont, um so die »Debatte über die inhaltliche Abgrenzung von [rassistischen, d. Verf.] Diskursen« (30) zu verlassen. Rassistische Vorstellungen sind nicht einfach in der Welt, sie existieren nicht ausschließlich in einem übersubjektiven Sinn als wahrheitsgenerierende Klassifikationsschemata, vielmehr sind sie auch als diskursiver Ausdruck von Machtbeziehungen zu verstehen, die hegemoniale Perspektiven auf soziale Gruppen produzieren. Die Anwendung von Definitionsmacht realisiert so soziokulturelle Ausschlüsse von essentialisierten und naturalisierten »Fremdgruppen« (Anthias 1995: 294; Anthias und Yuval-Davis 1992: 16; Räthzel und Kalpaka 1990: 13). Macht verweist hierbei in einem poststrukturalistischen Begriffsverständnis auf die Macht, etwas Neues durchsetzen zu können (Reckwitz und Moebius 2008: 15). Und da sich diese Arbeit auch der symbolisch vermittelten Dimension rassialisierender Klassifikationsprozesse des Antisemitismus widmet, wird im Folgenden auf Pierre Bourdieus Begriff der »symbolischen Machtbeziehungen« (Bourdieu 1990: 11) verwiesen, um die symbolischen Bedeutungsdimensionen antisemitischer Klassifikationen als Ausdruck der Durchsetzung legitimer Definitionsmacht reflektieren zu können. Nach Bourdieu enthalten die in symbolischen Kämpfen gebildeten, und zu einem gegebenen Zeitpunkt mit Anerkennung versehenen, Perzeptionsweisen der sozialen Wirklichkeit Formen symbolischer Gewalt, die »Macht über die Klassifikations- und Ordnungssysteme« (Bourdieu 2014: 748) inkorporieren. Verteilungsprinzipien von Anerkennung und Prestige, also das, was Bourdieu als »symbolisches Kapital« (Bourdieu 1983; 2015) benennt9 , werden im sozialen Raum durch diese symbolischen Differenzsysteme hergestellt, markieren sie doch die »verinnerlichten Grenzen« (Bourdieu 2014: 748) zwischen machtvoll Dominierenden und Dominierten. In den ausgehandelten, durch symbolische Gewalt exekutierten, sozialen Zuschreibungen und Distinktionsmerkmalen werden Akteur*innen auf beiden Seiten der Grenze entweder ein- oder ausgeschlossen, auf- oder abgewertet. Wie bereits expliziert, betont auch Stuart Hall (2004b: 142-145) den Machtaspekt für die soziale Herstellung rassistischer Grenzsysteme und verweist in diesem Zusammenhang auf die Ausübung symbolischer Macht, deren Funktion in der Klassifikation, Stereotypisierung und Kategorisierung subordinierter Gruppen begründet liegt, d.h. in der Privilegierung und ihrem negativen Korrelat der Delegitimierung bestimmter Subjektpositionen. Nach Bourdieu eignen sich die Subjekte die legitimierten Klassifikationsschemata an, (re-)produzieren damit in alltagsweltlichen, habitualisierten Praktiken die Teilung der sozialen Welt entlang definitorisch festgelegter Kriterien wie »Rasse«, Herkunft oder »Kultur« und (de-)konstruieren schließlich die Identität sozialer Gruppen (Bourdieu 1991: 221). Dabei entscheidet, wer über wie viel symbolisches Kapital verfügt, über die Ausübung von Definitionsmacht und so über konkrete Praktiken des sozialen Ausschlusses und der symbolischen Subordination (Weiß 2013: 48). Mit dem Begriff des »rassistischen symbolischen Kapital[s]« (Weiß 2013: 50) transkribiert Anja Weiß Bourdieus Konzeptualisierung des symbolischen Kapitals in die temporär fixierten, rassistischen Artikulationen kontingenter Wissensordnungen. Die eigentümliche 9

Für eine konzise Darstellung des Bourdieuʼschen Anerkennungskapital siehe Balzer (2014: 533572).

3 Zur Konzeptualisierung von rassialisierten Narrativen des Antisemitismus

Logik rassialisierter Bedeutungskonstruktionen reproduziert sich demnach überwiegend durch »symbolische Delegitimierung« (57) innerhalb rassifizierter gesellschaftlicher Machtverhältnisse. »Dadurch, dass sich rassistische Klassifikationen [in, d. Verf.] Delegitimierungspraktiken übersetzen und dass diese sich zumindest teilweise in rassistischem symbolischem Kapital niederschlagen, können die stabilen und impliziten Aspekte des Rassismus mit dessen offensichtlichen Äußerungsformen verknüpft werden« (ebd.). Das rassistische symbolische Kapital reflektiert also den Zusammenhang von kontingenten und diskursiv wandelbaren Klassifikationen rassialisierter Subjekte einerseits und der damit einhergehenden sozialen Ordnung ungleich verteilter Lebenschancen und -bedingungen andererseits. Ausgehend von dieser Prämisse lässt sich für den symbolischen Ausschluss der rassialisierten Gruppe der Jüd*innen festhalten, dass die Klassifikationsschemata des rassistischen Antisemitismus zugleich die Machtdimension rassifizierter Bedeutungskonstitution reflektieren. So etablieren die in Grenzziehungsprozessen gebildeten rassistischen Ordnungssysteme kulturelle Wahrnehmungsweisen auf den »Anderen«, die wiederum symbolisch wie sozial hierarchisierende Schranken errichten. Diese sozialen Hierarchien und damit einhergehenden Ungleichheiten sind demnach Resultat gesellschaftlicher Definitionsmacht. Es wurde nun geklärt, dass die Klassifikationslogik rassialisierter Antisemitismen auf den prozesshaften Mechanismen diskursiver Repräsentationen beruht. Darauf aufbauend konnte herausgearbeitet werden, dass die konkreten Zuschreibungen rassistischer Repräsentationsregime als Resultat artikulatorischer Praktiken zu verstehen sind. Als wesentliche Merkmale rassialisierter Klassifikationssysteme wurde schließlich festgestellt, dass sie einerseits als Konstituens von Zugehörigkeit gelten können und sich andererseits über gesellschaftliche vermittelte (symbolische) Definitionsmacht reproduzieren. Das nächste Kapitel setzt sich nun kritisch mit der paradigmatischen Frage der begrifflichen Extension des Rassismusbegriffes auseinander: Sind kulturalisierende Askriptionen Bestandteil rassialisierter Klassifikationsmuster? Beruhen antisemitische Repräsentationen einzig auf phänotypischen Differenzmarkern?

3.4

»Cultural stuff matters«? – Die ambivalente Stellung von Mechanismen der Kulturalisierung in Rassenkonstruktionsprozessen

Vor dem Hintergrund des zuvor entwickelten sozialkonstruktivistischen und kultursoziologischen Analyseverständnisses von rassistischen Antisemitismen als Prozessen der Rassialisierung von Jüd*innen steht im folgenden Abschnitt, primär auf der Ebene von Analysekategorien der Taxonomie, die qualitative Reichweite antisemitischer Klassifikationsrepertoires in rassialisierten Klassifikationssystemen im Mittelpunkt. Zu diesem Zweck erläutere ich zunächst den Begriff der Stereotypisierung Stuart Halls, den er in Anlehnung an Überlegungen des Mediensoziologen Richard Dyer entwickelt. Daran anschließend werden Biologisierungen und Phänotypisierungen als Analysekategorien von antisemitischen Klassifikationsrepertoires rassialisierter Typen der Grenzziehung konzeptualisiert. Zuletzt werde ich auf den analytischen Grenzfall der Kulturalisierung

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3 Zur Konzeptualisierung von rassialisierten Narrativen des Antisemitismus

Logik rassialisierter Bedeutungskonstruktionen reproduziert sich demnach überwiegend durch »symbolische Delegitimierung« (57) innerhalb rassifizierter gesellschaftlicher Machtverhältnisse. »Dadurch, dass sich rassistische Klassifikationen [in, d. Verf.] Delegitimierungspraktiken übersetzen und dass diese sich zumindest teilweise in rassistischem symbolischem Kapital niederschlagen, können die stabilen und impliziten Aspekte des Rassismus mit dessen offensichtlichen Äußerungsformen verknüpft werden« (ebd.). Das rassistische symbolische Kapital reflektiert also den Zusammenhang von kontingenten und diskursiv wandelbaren Klassifikationen rassialisierter Subjekte einerseits und der damit einhergehenden sozialen Ordnung ungleich verteilter Lebenschancen und -bedingungen andererseits. Ausgehend von dieser Prämisse lässt sich für den symbolischen Ausschluss der rassialisierten Gruppe der Jüd*innen festhalten, dass die Klassifikationsschemata des rassistischen Antisemitismus zugleich die Machtdimension rassifizierter Bedeutungskonstitution reflektieren. So etablieren die in Grenzziehungsprozessen gebildeten rassistischen Ordnungssysteme kulturelle Wahrnehmungsweisen auf den »Anderen«, die wiederum symbolisch wie sozial hierarchisierende Schranken errichten. Diese sozialen Hierarchien und damit einhergehenden Ungleichheiten sind demnach Resultat gesellschaftlicher Definitionsmacht. Es wurde nun geklärt, dass die Klassifikationslogik rassialisierter Antisemitismen auf den prozesshaften Mechanismen diskursiver Repräsentationen beruht. Darauf aufbauend konnte herausgearbeitet werden, dass die konkreten Zuschreibungen rassistischer Repräsentationsregime als Resultat artikulatorischer Praktiken zu verstehen sind. Als wesentliche Merkmale rassialisierter Klassifikationssysteme wurde schließlich festgestellt, dass sie einerseits als Konstituens von Zugehörigkeit gelten können und sich andererseits über gesellschaftliche vermittelte (symbolische) Definitionsmacht reproduzieren. Das nächste Kapitel setzt sich nun kritisch mit der paradigmatischen Frage der begrifflichen Extension des Rassismusbegriffes auseinander: Sind kulturalisierende Askriptionen Bestandteil rassialisierter Klassifikationsmuster? Beruhen antisemitische Repräsentationen einzig auf phänotypischen Differenzmarkern?

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»Cultural stuff matters«? – Die ambivalente Stellung von Mechanismen der Kulturalisierung in Rassenkonstruktionsprozessen

Vor dem Hintergrund des zuvor entwickelten sozialkonstruktivistischen und kultursoziologischen Analyseverständnisses von rassistischen Antisemitismen als Prozessen der Rassialisierung von Jüd*innen steht im folgenden Abschnitt, primär auf der Ebene von Analysekategorien der Taxonomie, die qualitative Reichweite antisemitischer Klassifikationsrepertoires in rassialisierten Klassifikationssystemen im Mittelpunkt. Zu diesem Zweck erläutere ich zunächst den Begriff der Stereotypisierung Stuart Halls, den er in Anlehnung an Überlegungen des Mediensoziologen Richard Dyer entwickelt. Daran anschließend werden Biologisierungen und Phänotypisierungen als Analysekategorien von antisemitischen Klassifikationsrepertoires rassialisierter Typen der Grenzziehung konzeptualisiert. Zuletzt werde ich auf den analytischen Grenzfall der Kulturalisierung

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in rassialisierten Bedeutungskonstruktionen eingehen, die eine ambivalente Sonderstellung als Analyse- und Praxiskategorie einnimmt. Dabei werde ich zu dem Ergebnis kommen, dass sich »Kultur« zwar als Distinktionsmerkmal antisemitischer Sicht- und Teilungsprinzipien der sozialen Welt rassialisiert darstellen kann, aber auf der taxonomischen Ebene von Analysekategorien als epistemologisches Privileg der Strukturdimension ethnisierter Typen der Grenzziehung behandelt wird. Hall definiert den Begriff der Stereotypisierung folgendermaßen: »Stereotypisierung reduziert, essentialisiert, naturalisiert und fixiert ›Differenzʻ […]. Sie klassifiziert Menschen entsprechend einer Norm und konstruiert die Ausgeschlossenen als ›andersʻ« (Hall 2004b: 144f.; Hervorh. i. Orig.). In diesem Sinne stellen Rassenkonstruktionen in historisch kontingenten sozialen Kategorisierungsprozessen unüberwindbare Grenzen her, die einer rassifizierten Gruppe irreduzible, phänotypische oder unveränderliche, biologisch-genetische oder wesenhaft-organische Merkmale zuschreiben. Dabei imaginieren diese Zuschreibungen eine Wesenhaftigkeit, die die Vererblichkeit kollektiver Abgrenzungs- und Abstammungseigenschaften eines rassialisierten Kollektivs vorstellbar machen (Anthias und Yuval-Davis 1992: 1f.; Miles 1993: 99; Emirbayer und Desmond 2015: 52). Jedoch lassen sich am Beispiel der gesellschaftlichen Positionierung von Jüd*innen als interne »Andere« Spezifika rassialisierter Differenzkonstruktionen nachvollziehen: Während die ausgrenzende Unterscheidung zwischen dem »Westen« und dem »Rest« oder »Schwarz« und »Weiß« auf Codes, Symbolen und Sprechweisen beruht, die den rassifizierten Gegenstand außerhalb des hegemonialen Konstrukts einer überlegenen »weißen Rasse«, »europäischen Kultur« oder des »Westens« verortet, steht die jüdische Figur des Dritten gleichzeitig diesseits und jenseits der EtabliertenAußenseiter-Konfiguration.10 »This ›race‹ was signified as an alien presence that had the potential to destroy civilised society through the promotion of an international conspiracy: consequently, the Jews became the racialised enemy within« (Miles 1993: 136). Ex negativo wird hier sichtbar, dass Rassismusansätze, die lediglich phänotypische oder somatische Klassifikationsmerkmale als basale Grundlage rassistischer Diskriminierungsweisen von Jüd*innen betrachten, sich der Vielfältigkeit soziokultureller Rassenkonstruktionsprozessen und ihren multiplen Formen der Wechselwirkungen mit ethnisierten und nationalisierten Grenzziehungen versperren. Auch wenn der Soziologe Barnor Hesse (2004), dessen performativer Ansatz an späterer Stelle besprochen wird, auf die Bedeutung unveränderlicher rassialisierter Marker – wie der (»jüdischen«) Nase, Stimme, Hautfarbe und Gangart, den Füßen – für die Kategorisierungsprozesse der jüdischen »Fremdgruppe« hinweist, degradiert nach Bauman (2012) und Poliakov, Delacampagne und Girard (1984) gerade die Ununterscheidbarkeit von jüdischer Minderheits- und autochthoner Mehrheitsgesellschaft die Jüd*innen zu unerwünschten, fremdartigen, minderwertigen und feindlichen »Hassobjekten« (Räthzel 2010: 283). Durch die prinzipielle Nivellierung somatischer Unterscheidungen beruhen rassialisierte Klassifikationen von Jüd*innen auf Unterscheidungsoperationen, die

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Die Rassialisierung von Jüd*innen ähnelt der rassistischen Ausschließungspraxis von Iren, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts als »Nicht-Weiß« klassifiziert wurden, auch wenn die Rassialisierung von Jüd*innen und Ir*innen strukturell differenziert werden muss. Hierzu näher Ignatiev 1995.

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Jüd*innen dennoch unveränderliche Eigenschaften zuschreiben. Daher reproduzieren antisemitische Rassialisierungen insbesondere Klassifikationen von Jüd*innen, die ein unsichtbares, besonders bedrohliches und böses »jüdisches« Wesen imaginieren und das »Jüdischsein« als unüberwindbares biologisches Merkmal von Jüd*innen kategorisieren sowie mit negativen Bedeutungen belegen (Jaspal 2014: 21; Isaac 2010: 34). Ich werde zunächst auf phänotypisierte Differenzen eingehen, die als askriptive Bedeutungsträger jüdischer Rassenkonstruktionen fungieren. Daran anschließend werden Abwertungsrepertoires der Biologisierung organisch-unsichtbarer respektive genetisch vererbbarer Eigenschaften von Jüd*innen vorgestellt, die spezifisch für antisemitische Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien in rassialisierten Klassifikationssystemen sind. Damit soll zugleich auf der Analyseebene ein Verständnis für die Bedeutungsoffenheit der Kategorie »Rasse« gewährleistet bleiben, insofern die Aneignung dieser Kategorie durch interpretative Akte sozialer Akteur*innen lokal-historisch spezifische, d.h. veränderliche, Signifikationen von Jüd*innen hervorbringen kann, wie die empirische Analyse der (Dis-)Kontinuitäten antisemitischer Grenzziehungen an späterer Stelle zeigen wird. Phänotypische Differenzkonstruktionen gehören zu den tradierten antisemitischen Klassifikationsrepertoires rassialisierter Klassifikationsmuster, durch die Jüd*innen als vermeintlich »anders« identifiziert werden. Dabei befinden sich rassialisierte Unterscheidungszeichen oftmals an der Schnittstelle zu den Differenzierungslinien von »Sexualität« und »Geschlecht«, indem phänotypische Askriptionen des »Jüdischen« den, häufig auch widersprüchlichen, Deutungstopos einer beschädigten »jüdischen« Männlichkeit reproduzieren. So wird die Minderwertigkeit »männlicher« Juden durch ihre effeminierte Bedeutungskonstitution als »schwach« und »feige«, sprich »weiblich« artikuliert, wodurch Vorstellungen einer typisierten »jüdischen« Körperlichkeit zum Ausdruck kommen, in denen gleichsam biologisch-objektivierte Zuschreibungen eines vermeintlich »jüdischen« Wesens eingeschrieben sind (Hödl 1997; Gilman 1991; 1999; 2003; A.G.-Gender Killer 2005; Stögner 2014). Beispielhaft enthalten degenerative Askriptionen eines »jüdischen« Klumpfußes oder eines »jüdischen« Buckels abwertende Zuschreibungen »jüdischer« Devianz von dem rassialisierten Normideal einer körperlich robusten, d.h. als »natürlich« begriffenen hegemonialen Männlichkeit. Diese rassialisierten Phänotypen des jüdischen »Anderen« symbolisieren daher in Grenzziehungsprozessen den »schwächlichen« jüdischen Körper, der etwa untauglich für (produktive) körperliche Arbeit erscheint. Auch zeigen sich über rassialisierte Phänotypisierungen Zuschreibungen einer Hypersexualität männlicher Juden, die, oftmals auch über das Stigma der »jüdischen« Nase artikuliert, das sexuell unersättliche, triebhafte und perverse (biologisierte) Wesen der Juden verkörpern. Als tradiertes kulturelles Wissen über die »Juden« haben sich diese Bedeutungscodes erhalten und werden entsprechend der kontradiktorischen Repräsentationslogik antisemitischer Diskurse ergänzt durch den dazu disparaten Stereotyp »jüdischer« Impotenz (Hödl 1997; von Braun 1994: 23).Eine besondere Stellung nimmt in rassialisierten Klassifikationsprozessen antisemitischer Grenzziehungen der beschnittene jüdische Penis ein, der als prototypisches Signum des beschädigten jüdischen Körpers gilt. Der Kulturwissenschaftler Sander L. Gilman (1993; 1999; 2003) hat in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht, dass etwa in dehumanisierenden Diskursen des Antisemitismus der beschnittene jüdische Penis als

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symbolischer Bedeutungsträger für »jüdische« Krankheitserreger steht und allgemein das westliche Bild des jüdischen Körpers als »form of real or attenuated castration« (Gilman 2003: 182) prägt. Mehr noch bringt der rituelle Akt der Beschneidung ein sichtbares Unterscheidungszeichen des männlichen Juden hervor, das im Gegensatz zur Haut-, Haar- oder Augenfarbe am ehesten als ein physisches Unterscheidungszeichen inszeniert werden kann. Denn mit rassialisierter Bedeutung aufgeladen markiert der jüdische Penis eine unüberwindbare Andersartigkeit des rassialisierten (männlichen) Juden und seines »beschädigten« Körpers, wodurch er das antisemitische Bedürfnis nach Eindeutigkeit in der Unterscheidung zwischen Nicht-Jüd*innen und Jüd*innen befriedigt. Obwohl der rituelle Beschneidungsakt als Resultat einer kulturellen Praxis kein unveränderliches Merkmal des männlichen jüdischen Körpers markiert, wird das Merkmal dennoch als abwertende Zuschreibung des »Jüdischen« essentialisiert. (Gilman 1993: 52ff.). So ist »der männliche [jüdische, d. Verf.] Körper der ›wahrhaft‹ gekennzeichnete und ›wahrhaft‹ unterschiedliche« (Gilman 1999: 170). Wahrhaft unterschiedlich erscheint er vor allem deswegen, weil der beschnittene jüdische Penis das wesenhaft Negative der jüdischen Psyche verkörpert (ebd.), die als »grausam«, »rachsüchtig« und »mitleidlos« pathologisiert und abgewertet wird, insofern sich das Beschneidungsritual transgenerational tradiert und wiederholt (Glenn 1960). Das atavistische Wissen über biologisierte, unsichtbar-organische respektive genetisch vererbbare (negative) Wesensmerkmale von »Juden« folgt hingegen den Funktionsweisen der »social imaginaries« (Werbner 2013: 451f.). Das sind – ähnlich wie bei Shulamit Volkov (1978) – konstruierte, anpassungsfähige und fest in die kulturellen Wahrnehmungsmuster der Wirklichkeit eingelassene Bilder des bedrohlichen »Anderen«, die einen symbolischen Referenzrahmen aus Codes, Chiffren, Symbolen, Fantasien, Stereotypen und Mythen spannen, um das negative jüdische »Fremdbild« als mit der homogenen »Eigengruppe« unvereinbares Differenzbild zu markieren. Im Bezug auf die outgroup der jüdischen »middleman«-Minderheit werden die »folk devils« innerhalb der rassistischen Imagination als Hexenmetapher chiffriert: »The witch crystallizes fears of the hidden, disguised, malevolent stranger, of a general breakdown of trust, of a nation divided against itself« (455). Obwohl die rassifizierte allochthone Minderheit kulturell und somatisch invisibel ist, bleibt sie dennoch fremdartig, weil sie als Gefahr für den Erhalt der sozialen Ordnung oder gar der Bindungskraft kollektiver, ethnischer wie nationaler, Gemeinschaften imaginiert wird (457). Das symbolic terrain (Fine und Cousin 2012) biologisierender Antisemitismen enthält daher häufig schimärische Projektionen auf das negative Fremdbild des jüdischen »Anderen«, die mit Merkmalen der Omnipotenz, Intelligenz und Reichtum, mithin also den Repräsentationen der zivilisatorischen Moderne, einhergehen und als wesenhaft negative Eigenschaften von Jüd*innen aufgefasst werden (Rommelspacher 2011: 26f.). Gleichsam können hierunter auch weitere biologisierte Differenzmerkmale subsumiert werden, die Jüd*innen darüber hinaus als wesenhaft »bösartig«, »manipulativ«, »betrügerisch«, »verschwörerisch«, »listig« oder »heimtückisch« rassialisieren und damit als unterscheidbare Gruppe mit unveränderbaren Eigenschaften hervorbringen (Schoeps und Schlör 1999). So ist zusammenfassend Floya Anthias (1995) zuzustimmen, die darauf hinweist, dass sich die Ausschließungen von Jüd*innen weniger als Frage der Hautfarbe oder weiterer bedeutungsgenerierender Merkmalszuschreibungen darstellen, sondern vielmehr als diffe-

3 Zur Konzeptualisierung von rassialisierten Narrativen des Antisemitismus

renzierter Prozess des Othering, dem eine Vielzahl abwertender Fremdbilder zugrunde liegen.11 Eine Begrenzung der Klassifikation »Rasse« auf sichtbare Differenzmerkmale würde demzufolge in einer statischen, eher essentialisierenden Konzeptualisierung von Rassismen resultieren, die sich dem, im Kontext von Artikulation und Repräsentation bereits besprochenen, offenen Aushandlungsprozess der Zuschreibung von Bedeutung in der diskursiven Praxis der Rassialisierung versperrt. Auch Paul Gilroy hebt hervor, dass »[t]he terrain of [racial, d. Verf.] meaning is also a field of historic development through struggle« (Gilroy 1991: 17). Rassenkonstruktionsprozesse sollen daher im Geflecht von Identität und Ausschließung durch Grenzziehungen weiter gefasst werden, um eine analytische Ontologisierung phänotypischer und körperlicher Bedeutungsträger zu verhindern und die Pluralität der Herstellung antisemitischer Codes, Symbole und Chiffren als bedeutungsoffene Praxiskategorien reflektieren zu können. Auch auf der Ebene der Analysekategorien werden scheinbar biologisch vererbbare oder natürlich angeborene Differenzmerkmale als Teil der Rassifizierung des jüdischen »Anderen« begriffen, gerade weil es »den« objektiven Inhalt in der Verwendungspraxis eines Kommunikats nicht geben kann (Krotz 2009: 216). Für die Konzeptualisierung eines taxonomischen Modells von Analysekategorien ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Typen der Grenzziehung werden Phänotypisierungen und Biologisierungen irreduzibler Differenzmerkmale von Jüd*innen als Klassifikationsrepertoires rassialisierter Typen der Grenzziehung aufgenommen. Wie verhält es sich aber nun mit der Frage, ob »Kultur« als Bedeutungsträger in Rassenkonstruktionsprozessen fungieren kann? Stehen symbolische Aushandlungsprozesse rassialisierter Klassifikationsmuster im Vordergrund, rückt die Rekonstruktion des dynamischen Charakters von Sinnzuschreibungen in das Zentrum der Betrachtung, wonach die Minorisierung von Gruppen, so meine These, in ihrer interrelationalen Konnexität verschiedener Differenzkategorien analytisch fassbar wird und damit mehrdimensionale Kreuzungen antisemitischer Ausschlüsse sichtbar machen kann. Ich folge hier insbesondere Barnor Hesse (2011) und Alana Lentin (2016), die auf die performative Wirkungsweise rassistischer Kategorisierungen hinweisen. Performative Ansätze heben das variable Moment der mehrdimensionalen Kreuzungen von Grenzziehungen gegenüber der präemptiven Beschränkung kategorialer Zuordnungen oder Vorannahmen des Konstrukts »Rasse« hervor. Sie lösen durch die Akzentuierung ihrer kontingenten und zukunftsoffenen Herstellungsmechanismen die axiomatische Diskussion auf, ob kulturelle Zuschreibungen als Komponenten der Rassialisierung von Körpern gelten können oder Rassismen auf rein biologisierte Merkmale eingegrenzt werden müssen. Rassialisierte Subjektpositionen entstehen hier in fortlaufenden und kontextspezifischen Prozessen der Anrufung und Umwendung, an denen sich die Subjekte in einem praxeologischen Sinne nicht nur beteiligen, sondern die sie auch in performativen Akten permanent reproduzieren müssen (Villa 2013: 67). Hierbei werden besonders die Fragen der Aushandlung rassistischer Sinn- und Differenzsysteme und 11

Anthias (1995) spricht in diesem Zusammenhang nicht nur von Jüd*innen als von Rassismus Betroffenen, sondern erweitert den Rahmen im britischen Kontext auch auf die Gruppe der Zypriot*innen, Ir*innen, Türk*innen, Kurd*innen, Rom*nja sowie Muslim*innen.

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ihre konkrete Übersetzung in sedimentierte symbolische Deutungspotenziale betont. »Understanding race in this way […] would allow us to understand that it is significant in terms of what it does rather than in terms of what it is taken to be« (Lentin 2016: 44). So lässt sich mit Didier Fassin (2011) konstatieren, dass rassistische Vergegenständlichungen immer performativ sind, weil sie die soziale Realität von rassialisierten Bewertungs- und Unterscheidungsmustern erst hervorbringen (426). Dabei sind deutliche Überschneidungen zu Halls poststrukturalistischem Verständnis einer permanenten Re-Artikulation rassistischer Bedeutungskonstruktionen zu erkennen. Beiden Ansätzen ist die Betonung von Kontingenzen in der Aushandlung rassialisierter Repräsentationen gemeinsam. Diese Kontingenzperspektive auf Rassenkonstruktionsprozesse ermöglicht es schließlich, ein theoretisches Verständnis für die Bedeutungsoffenheit des soziohistorisch wandelbaren Signifikanten »Rasse« auf der Ebene konkreter sozialer und politischer Praktiken zu entwickeln. Wird in dieser Arbeit davon ausgegangen, dass Prozesse der Kulturalisierung auf der Ebene von Kategorien der Analyse tendenziell als Klassifikationsrepertoire ethnisierter Grenzziehungen begriffen werden (hierzu siehe ausführlich Kapitel 4.3), meint das Adjektiv »tendenziell« hierbei, dass sich »Kultur« als Wahrnehmungs- und Bewertungskategorie in der Verwendungspraxis sozialer Akteur*innen (Kategorien der Praxis) auch rassialisiert darstellen kann. Das bedeutet für die Analyse antisemitischer Klassifikationsprozesse, dass die unterschiedlichen Typen der Grenzziehung in der sozialen Wirklichkeit nicht isoliert auftauchen, sondern in wechselseitiger Verschränkung symbolisch wirksam werden. Anders formuliert können sich ethnisierte Askriptionen kultureller Lebensweisen des differenten »Anderen« in Prozessen der abwertenden Sinnfixierung auch implizit oder explizit im Zusammenspiel mit rassialisierten Vorstellungen über ein vermeintlich biologisches »Wesen« von Jüd*innen artikulieren. Damit Rassismen definitorisch allerdings auch praxeologische Grenzfälle der kontextabhängigen Signifikationen rassialisierter Kulturalisierung inkludieren können, wird hier zuletzt auf die Analysekategorie der Naturalisierung als symbolische Klammer für Kontinuität und Simultanität divergierender rassialisierter Differenzkonstruktionen verwiesen, um den Wesenskern rassistischer Repräsentationen in seiner unüberwindbaren und unveränderlichen Signifikation des markierten »Anderen« zu begreifen. Denn insofern kulturelle Aushandlungsprozesse spezifische Formen der konstruierten Differenz auf der Grundlage von körperlichen Merkmalen, aber auch kulturellen Lebensweisen oder Traditionen hervorbringen, findet eine Naturalisierung zugeschriebener negativer Klassifikationen statt, die den Ausschluss der »Ihr-Gruppe« über vermeintlich naturgegebene Kategorien betreibt. »Wenn Kultur als unveränderbar gedacht wird, sie einer Vererbung gleichkommt und als zum innersten Wesen eines Menschen gehörig gerechnet wird, erfüllt sie die gleiche Funktion wie ›Rasseʻ. Kultur wird gleichsam in eine zweite Natur transformiert« (Wolf 1997: 9). Für David Goldberg (1993) ist das Spezifikum der Kategorie »Rasse« die Abstinenz eines inhaltlichen Wesenskerns, dessen Existenz wiederum dem fluiden, transformativen und historisch-situationalisierbaren Charakter sozialer Diskurse der Rassenkonstruktion zuwiderlaufen würde (74). Naturalisierung ist in dieser Perspektive das distinktive Merkmal der Kategorie »Rasse« in ihrer Funktion der lokalen und praktischen Wirksamkeit für die Ausgrenzung einer markierten Gruppe und erinnert an den konstruktiven Aspekt der diskursi-

3 Zur Konzeptualisierung von rassialisierten Narrativen des Antisemitismus

ven Herstellung von Bedeutungsketten rassistischer Artikulation im Hall’schen Sinne. Rudolf Leiprecht (1999) schlägt daher vor, die sozialen Konstruktionsprozesse von fixen und homogenen »Rassen« als invariable und naturalisierende Determinismen oder Reduktionismen zu bestimmen. Diese Determinismen und Reduktionismen inkludieren gleichermaßen eine Unaufhebbarkeit der biologisierten und kulturell angeborenen Differenzen und machen soziale Gruppen so explizit oder implizit negativ klassifizierbar (26). Naturalisierung wird demnach auf der Ebene von Kategorien der Analyse als Klassifikationsrepertoire der Biologisierung begriffen, wenn kulturelle Askriptionen von rassifizierten Gruppen als unveränderlich, d.h. als quasi natürlich angeborene oder irreduzible Substanz erscheinen. Als antisemitische Form einer biologisierenden Kulturalisierung wäre demzufolge das verschwörungstheoretische Imaginativ der jüdischen Weltherrschaft (Wetzel 2010) zu begreifen, das kulturelle Zuschreibungen – das »jüdische« Machtstreben – als scheinbar organisch-natürliches Wesensmerkmal von Jüd*innen substantiieren kann oder sie durch ihre angeborene Abstammungszugehörigkeit zu einem globalen Gesamtkollektiv der »Juden« biologistisch konstruiert und begründet. Hiernach können soziale und symbolische Ausschlusspraktiken des Rassismus auch auf eher heterogene Gruppen – wie etwa religiöse Gemeinschaften – übertragen werden, die weder unter ethnischen noch sozioökonomischen Gesichtspunkten einer homogen rassifizierten Kategorie zu subsumieren sind, gerade weil die Mitglieder solcher Gruppierungen einer Vielzahl rassialisierter Gruppen zugehören (Brubaker 2013; Selod und Embrick 2013).12 Mit Blick auf die Rassialisierung von Religion und religiösen Praktiken lässt sich für analytische Überschneidungen der rassistischen Zuschreibung gegenüber dem Judentum und dem Islam – ohne die je unterschiedlichen Formen ihrer rassistischen Anrufung gleichsetzen zu wollen – konstatieren, dass »this conflation of the Jew-as-Muslim refers to projection of a racialized mutability of a religious state that is not only a religious practice but somehow an essential character« (Rana 2007: 158). Wird nun die intersektionale Perspektive in dieser Arbeit auf den Gegenstand »rassialisierte Grenzziehungen des Antisemitismus« übertragen, erscheint die Verflechtung von Konstruktionsprozessen rassialisierter Bedeutungskonstitutionen mit anderen Differenzkategorien wie »Ethnizität«, »Religionszugehörigkeit« oder »Nationalität« zwingend erforderlich, um die Interrelationalität rassistischer Artikulationen in Grenzziehungsprozessen reflektieren zu können.

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So wendet sich Rogers Brubaker (2013) gegen die Verwendung der Analysekategorie »Muslime«, weil sie als Identitätskategorie eine Kategorie der Praxis im Verhältnis von Selbst- und Fremdzuschreibung darstellt, wodurch die Gefahr eines methodologischen Islamismus (6) besteht, hinter dem die Pluralität von Differenzkategorien und Formen der Benachteiligungen der als »muslimisch« identifizierten Subjekte nivelliert werden. »Of course many Muslims do encounter suspicion, hostility and stigmatization as Muslims. But the dynamics of socio-economic marginality do not turn primarily on religious exclusion; […] they turn on other forms of social closure and marginalization« (5). Nichtdestotrotz impliziert die Existenz rassialisierter Bilder von Muslim*innen eine Notwendigkeit, die Kategorie »Muslim« als Gegenstand der Analyse von reziproken Prozessen der Selbst- und Fremdidentifikation zu nutzen.

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3.5

Zwischenfazit und Implikationen für die Forschungsfrage

Auf der Grundlage theoretischer Überlegungen über Rassialisierungen des jüdischen »Anderen« in Grenzziehungsprozessen können für die Entwicklung einer Taxonomie der Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen folgende Konsequenzen abgeleitet werden, die sich zugleich in die theoretische Programmatik einer intersektionalen Grenzziehungsperspektive auf antisemitische Klassifikationsprozesse integrieren lassen. Rassistische Grenzziehungen des Antisemitismus wurden im Anschluss an Stuart Hall als Prozesse der Rassialisierung konzeptualisiert, da sich ihre negativen Klassifikationsweisen in formbaren und kontingenten, d.h. historisch spezifischen und damit veränderlichen, Repräsentationen ausdrücken. Damit lege ich den analytischen Schwerpunkt in der Untersuchung rassifizierter Klassifizierungen von Jüd*innen auf den dynamischen Modus ihrer fluiden diskursiven Anrufung in rassialisierte Subjektpositionen von hierarchisierenden Repräsentationsregimen, um auf diese Weise (Dis-)Kontinuitäten und Bedeutungswandel antisemitischer Differenzierungen in den Blick nehmen zu können. Auf der Ebene von Analysekategorien wurden rassialisierte Typen antisemitischer Grenzziehungen durch Abwertungsrepertoires der Phänotypisierung körperlicher Merkmale und Biologisierung unsichtbar-organischer respektive genetisch-vererbbarer Wesensmerkmale von Jüd*innen konzeptualisiert. Die diskurstheoretisch angelegten Aspekte der performativen Wirkungsweise von Repräsentation, Artikulation und Anrufung ermöglichen es außerdem Vielschichtigkeit und Wandelbarkeit rassialisierter Klassifikationsrepertoires des Phänomenkomplexes Antisemitismen zu erklären. So erlaubt das poststrukturalistische Analysevokabular ambivalente Markierungen von Jüd*innen als Analysekategorien rassialisierter Klassifikationssysteme aufzunehmen. Die Uneindeutigkeit antisemitischer Zuschreibungen, die sich der schematischen Unterscheidung von phänotypisierenden oder kulturalisierenden Klassifikationen entziehen (etwa Jüd*innen als Personifikationen der Moderne), kann auf diese Weise dennoch als rassialisiert begriffen werden, weil sie sich analytisch als vermeintlich irreduzible, biologisch-wesenhafte Eigenschaften von Jüd*innen fassen lässt Folgende Tabelle illustriert nun auf der Ebene von Analysekategorien die Systematisierungen von Analysekategorien rassialisierter Typen der Grenzziehung:

3 Zur Konzeptualisierung von rassialisierten Narrativen des Antisemitismus

Tabelle 1: Analysekategorien rassialisierter Typen antisemitischer Grenzziehungen, Quelle: Eigene Darstellung. Rassialisierte Grenzziehungen des Antisemitismus Typus der Grenzziehung

Rassialisierte Grenzziehungen konstruieren rassialisierte Gruppen auf der Grundlage phänotypisierter oder biologisierter Differenzmerkmale.

Klassifikationsmuster

Rassismen sind binarisierte Klassifikationsmuster, die negative Askriptionen (Wesenhaftes, Genetik, Phänotypen) des rassialisierten »Anderen« als unveränderlich und irreduzibel, d.h. biologisch vererbbar oder wesenhaft angeeignet, stereotypisieren.

Antisemitische Klassifikationsrepertoires

Rassialisierte Klassifikationsmuster des Antisemitismus phänotypisieren körperliche Merkmale oder biologisieren Annahmen unsichtbar-organischer oder genetischer Dispositionen als wesenhaft negative Eigenschaften, die Über- oder Unterlegenheit des »jüdischen« Abstammungskollektivs signifizieren sollen.

(Selbst-)und Fremdzuschreibungen

Phänotypisierung: Verkörperlichte Symboliken des Parasitären, der Schwäche, der ephemeren Gestalt, der »jüdischen« Nase, des Buckels, der Klumpfüße, der »jüdischen« Impotenz, der Haare und des »jüdischen« Ganges.   Biologisierung: »Juden« besitzen eine überdurchschnittliche Intelligenz; »Juden« sind gerissen, grausam, bösartig, rachsüchtig, mitleidlos und mordlüstern, omnipotent; »Juden« streben nach Macht und Herrschaft; Weltjudentum beherrscht die Welt; »Juden« sind gierig, sexuell unersättlich.

Das de-essentialistische und nicht-reduktionistische Theorem der Artikulation macht zudem auf die Relationalität von Selbstidentifikation und Fremdwahrnehmung in Differenzkonstruktionen aufmerksam und ist deshalb besonders geeignet für die Analyse der Aushandlung soziokulturell vermittelter Gruppengrenzen, wie sie für die Ausarbeitung der Taxonomie antisemitischer Differenzierungen paradigmatisch vorausgesetzt wird. Denn einerseits erzeugen Prozesse der Rassialisierung kollektive Identifikationsangebote, die Zugehörigkeiten aufseiten der Etabliertengruppe schaffen, während die Rassialisierung andererseits den, so gedeuteten, genetisch vererbbaren oder biologisch naturalisierten Charakter der jüdischen »Fremdgruppe« mit unveränderlichen und unüberwindbaren negativen Eigenschaften belegt und so einen rigiden sozialen Ausschluss hervorbringt. Zuletzt lässt sich mit den Mechanismen der symbolischen Definitionsmacht und der Verfügungsgewalt über rassistisches symbolisches Kapital nach Bourdieu und Weiß dafür argumentieren, dass die temporär fixierten Klassifizierungen rassialisierter Antisemitismen mit der Delegitimierung von als »jüdisch« artikulierten Subjektpositionen einhergehen. Machtasymmetrien nehmen in der symbolisch vermittelten Dimension rassistischer Ungleichheit eine wesentliche Rolle ein, wenn es darum geht, die Konstruktion, Aufrechterhaltung und Transformation antisemitischer Gruppengrenzen zu reflektieren. Diese Überlegungen sind insbesondere für den analytischen Aspekt der Machtdimension der Taxonomie relevant, um den ungleichheitsrelevanten Zusammenhang von symbolischen Klassifizierungen und sozialen Grenzziehungen als Merkmal soziokultureller Grenzziehungen zu reflektieren.

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Im Gegensatz zu den hier diskutierten Ansätzen ergänzen das theoretisch vorausgesetzte Grenzziehungsparadigma und die Intersektionalitätsperspektive die Analyse rassialisierter Formen der Judenfeindschaft nun in zweierlei Hinsicht: Erstens machen sie darauf aufmerksam, wie sich rassialisierte Differenzkategorien als categories of practice in den Grenzziehungs- und Interpretationsstrategien von Akteur*innen mit anderen, nicht-rassialisierten Unterscheidungen überkreuzen, überlagern und zusammenspielen, ohne eine bestimmte soziale Klassifikation – hier »Rasse« – analytisch zu hypostasieren oder eine Hierarchie von Klassifikationsmustern sozialer Ungleichheit herzustellen. Damit setzt die intersektional ausgerichtete Grenzziehungsperspektive zweitens nicht das Ergebnis der Untersuchung, die Rassenkonstruktion, als Untersuchungseinheit voraus, indem sie empirisch offen auf die multivariablen Formen ihrer Aushandlung schaut.

4 Zur Konzeptualisierung von ethnisierten Narrativen des Antisemitismus Antisemitismus und »Ethnizität«

Um den Ausgangspunkt nochmal zu rekapitulieren, geht diese Arbeit davon aus, dass sich Prozesse der Selbst- und Fremdpositionierungen in antisemitischen Grenzziehungen relational darstellen, insofern die Mechanismen der kollektiven Identifikation einer sozialen Kerngruppe auf vielfältigen Formen negativer Klassifizierungen von Jüd*innen beruhen. Aus diesem Grund steht nun mit Ansätzen der Ethnizitätsforschung die Frage danach im Vordergrund, wie sich über ethnisierende Sinnzuschreibungen des jüdischen »Fremden« (Bauman 2005; 2012) kollektive Zugehörigkeiten in den symbolischen Deutungskämpfen des Antisemitismus ausbilden. Dabei werden vor allem solche Ansätze in die Forschungsheuristik einer Taxonomie antisemitischer Differenzierungen übernommen, die den ambivalenten Charakter antisemitischer Zuschreibungen reflektieren können, wie etwa durch die antisemitismustheoretische jüdische Figur des Dritten (Kapitel 2.1) herausgestellt wurde. Mit Blick auf die Konzeptualisierung einer Taxonomie fügen sich die hier ausgewählten, de-essentialistischen und relationalen Theoriezugänge daher zum einen in die theoretische Programmatik einer intersektionalen Grenzziehungsperspektive auf antisemitische Differenzierungen ein. Dies wird daran offenbar, wie sich die sozialkonstruktivistischen, zugehörigkeitstheoretischen und praxeologischen Analysevokabulare empirisch offen gegenüber der mehrdimensionalen Erscheinungsvielfalt antisemitischer Klassifikationsstrategien und ihren multiplen Kreuzungen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Ausschlüsse zeigen. Zum anderen soll das im Folgenden entwickelte Verständnis der prozessualen Logik ethnisierter Kategorisierungen von Jüd*innen ermöglichen, das kontingente, d.h. lokal-historisch spezifische, Vermittlungsmoment von (Dis-)Kontinuität und Bedeutungswandel in den sozialen Herstellungsweisen antisemitischer Ausschlüsse zu durchdringen. Wie lassen sich die ambivalenten Fremdheitskonstruktionen von Jüd*innen in ethnisierten Klassifizierungsprozessen verstehen? Wie können Aushandlungen von jüdischer (Nicht-)Zugehörigkeit als ungleichheitsstiftend in ethnisierten Zugehörigkeitsordnungen verstanden werden? Was bedeutet das für die Analyse ethnisierter Klassifizierungen, die in historisch und räumlich veränderlichen Zugehörigkeitspolitiken

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

gebildet werden? Welche Stellung nehmen religionsbezogene Narrative als Analysekategorien ethnisierter Differenzierungen ein? In einem ersten Schritt wird im folgenden Kapitel eine allgemeine Begriffsbestimmung von »Ethnizität« und der Stellung des Antisemitismus in diesem Forschungsfeld geleistet (Kapitel 4.1). Daran anschließend erfolgt eine Diskussion zentraler Paradigmen der Ethnizitätsforschung über ihre Stärken und Schwächen für die Analyse soziokultureller Grenzziehungen des Antisemitismus (4.2). Mit differenztheoretischen Zugängen wird darauf aufbauend eine sozialkonstruktivistische Perspektive auf die ambivalente Positioniertheit von Jüd*innen in ethnisierten Grenzordnungen entwickelt (4.3). Durch zugehörigkeitstheoretische Analysezugänge werden in einem nächsten Schritt die wandelbaren Mechanismen des sozialen Ein- und Ausschlusses von Jüd*innen untersuchbar gemacht (4.4). Ein vertiefender Blick wird in diesem Zusammenhang auf das Verhältnis von Religiosität und Antisemitismen gerichtet (4.5). Zuletzt wird ein praxeologisches und ungleichheitssoziologisches Verständnis der Kategorie »Ethnizität« entwickelt (4.6). Im folgenden Abschnitt steht nun eine definitorische Annäherung an das Forschungsfeld »Ethnizität« im Mittelpunkt.

4.1

»Situating Ethnicity« – Eine allgemeine Annäherung an den Gegenstandsbereich der Ethnizitätsforschung

Die akademische Beschäftigung mit »Ethnizität«, ethnischen Konflikten und ethnischen Gruppenbildungen findet im europäischen und insbesondere im deutschsprachigen Diskurs erst seit den 1980er Jahren statt (Groenemeyer 2003: 13f.; Scherr 2000: 400f.). Charakterisiert wird das Konzept der »Ethnizität« dabei durch eine begriffliche Vagheit (Müller und Zifonoun 2010: 9f.) und einen fehlenden kohärenten theoretischen Analyserahmen (Brubaker 2009). Diese fehlende Kohärenz lässt sich, ähnlich dem Begriff »Rasse«, teilweise auf eine unreflektierte Übernahme alltagsweltlicher Vorstellungen von ethnischen Kategorisierungen in den wissenschaftlichen Sprachgebrauch zurückführen (Müller und Zifonoun 2010: 10). Daher sind es auch die Abgrenzung und das Zusammenspiel mit den Differenzkategorien »Nation« und »Rasse«, die eine Definitionsweise von »Ethnizität« verhindern (Apitzsch und Gündüz 2011: 81; Smelser, Wilson und Mitchell 2001: 4, Bös 2005: 21ff.). Smelser, Wilson und Mitchell (2001) verdeutlichen diese Problematik mit Blick auf die Relation von »Rasse« und »Ethnizität« und konstatieren: »Because race and ethnicity contain such a complex array of sustaining mechanism and overlapping connotations, consistent definitions are hard to come by« (4). Diese Arbeit nimmt es sich nun jedoch zum Ziel, auf der Ebene von Analysekategorien, typologisch distinkte Merkmale ethnisierter und rassialisierter Klassifikationsmuster herauszuarbeiten, deren Wechselwirkungen und Überlagerungen als Kategorien der Praxis in Grenzziehungsstrategien sozialer Akteur*innen sichtbar werden. Obwohl sich die verschiedenen Disziplinen der Ethnizitätsforschung über die Definition des Gegenstandes uneinig zeigen, lässt sich ein allgemeiner Konsens über die empirische Kategorisierung von »Ethnizität« feststellen, die übergreifend als nicht statisch, nicht homogen und nicht natürlich verstanden wird (Leiprecht 1999: 46; Ghaderi

4 Zur Konzeptualisierung von ethnisierten Narrativen des Antisemitismus

2014: 88). Anders formuliert stehen soziohistorisch kontextualisierbare Analysefaktoren für die Betrachtung des weitgefassten Untersuchungsfeldes (Groenemeyer 2003: 15) ethnischer Kategorisierungen, ethno-kultureller Unterscheidungen, ethnischer Gruppenbildungen, ethnischer Identitäten oder ethnischer Bewegungen im Vordergrund, die den sozialen Konstruktionsprozess von »Ethnizität« interpretierbar machen (Eriksen 1993; Brubaker, Stamatov und Loveman 2007; Wimmer 2013; Dahinden 2014; Fearon und Laitin 2000). Insbesondere der anthropologischen Arbeit Fredrik Barths (1969) ist die mittlerweile zum wissenschaftlichen »truism« (Surak 2012: 176) gewordene Einsicht zu verdanken, dass ethnische Identifikationsweisen weniger auf reinen Selbstzuschreibungen beruhen, sondern ebenso sehr auf die Fremdkategorisierung durch andere Akteur*innen angewiesen sind.1 Auch Stuart Hall (1994d: 22) betont den sozial hergestellten Charakter von »Ethnizität«, wenn er schreibt, dass dieser Begriff sowohl »den Stellenwert von Geschichte, Sprache und Kultur für die Konstruktion von Subjektivität und Identität« als auch die »Tatsache, dass jeder Diskurs platziert, positioniert und situativ ist und jedes Wissen in einem Kontext steht« anerkennt. Kollektive Identitäten, in denen Unterscheidungen zwischen einer ethnisch identifizierten hegemonialen Kerngruppe gegenüber einem nicht-zugehörigen »Anderen« getroffen werden, können in unterschiedlicher Form kulturell bedeutsam und damit als Analysekategorien ethnischer Grenzziehungen gefasst werden. Definitorisch lassen sich diese Identifikationsprozesse auf die soziokulturell kontingente Grundlage der Vorstellung gemeinsam geteilter kultureller Lebensweisen, Traditionen, Bräuchen, des Imaginativ einer gemeinsamen Herkunft, Geschichte oder der Mitgliedschaft einer mythologisch artikulierten Schicksalsgemeinschaft zurückführen (Bös 2008: 57). Müller und Zifonoun (2010) betonen, dass sich ethnisierte Zuordnungsmerkmale (categories of practice) in der alltagsweltlichen Reproduktion als askriptiv und unveränderlich darstellen können (11), obgleich sie prinzipiell als historisierbares Produkt identifiziert werden (Leiprecht 1999: 42). Richtet sich die Perspektive auf den Zusammenhang von »Ethnizität« und Antisemitismus kann konstatiert werden, dass die kollektiven Zuschreibungen von Jüd*innen oft als extrem wandlungsfähiges Phänomen verstanden werden, deren Erscheinungsformen kulturelle, soziale und ethnische Spaltungen überwinden können (Messerschmidt 2006; 2010). Im europäischen Kontext werden Antisemitismen vor allem in Relation zu Migrationsphänomenen untersucht (J. Müller 2006; Eckmann 2005; Gebhardt, Meier und Klein 2012), wobei ein besonderer Fokus auf den sogenannten migrantischen (Jaspal 2014; Greuel und Glaser 2012; Mansel und Spaiser 2012) und islamisierten Antisemitismen (Kessel 2012; Kiefer 2002; Jikeli 2015; Wieviorka 2007) sichtbar ist. Antisemitismusforscher kritisieren diesen analytischen Schwerpunkt teilweise als »verengte Beobachtungsperspektive« (Stender 2008), da sie sich auf die Identitäten von Minderheiten fixiert und damit als Form der Grenzziehung oftmals lediglich den Antisemitismus der »Anderen« deutet (Stender 2010: 26f.). In der vorliegenden Arbeit wird daher ein sozialkonstruktivistischer Zugang zu ethnisierten Differenzmarkierungen des Antisemitismus gewählt, der sich für die soziohistorisch und raumzeit1

Zum dynamischen und prozessualen Charakter des Ansatzes der ethnischen Grenzziehung siehe ausführlich Kapitel 2.3 und 2.4.

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

lich kontextualisierbare Besonderheit ethnisierter Klassifizierungen in antisemitischen Grenzziehungsprozessen interessiert. Forschungsleitend ist dabei die Überlegung, dass Antisemitismusforschung nicht auf eine essentialistische Betrachtung antisemitischer Klassifikationen durch identitär prädeterminierte Kollektive hinarbeiten sollte, sondern die prozessuale Logik der Produktion und Reproduktion, d.h. der (Dis)-Kontinuität und des Wandels von antisemitischem Wissen in konkreten Aushandlungsprozessen durch wechselnde Trägergruppen reflektieren muss.

4.2

Dominante paradigmatische Perspektiven der Ethnizitätsforschung – Eine Diskussion ihrer analytischen Potenziale für die Untersuchung antisemitischer Grenzziehungsprozesse

Wurden im vorherigen Abschnitt allgemeine Elemente eines analytischen Begriffes von »Ethnizität« herausgearbeitet, sollen in einem nächsten Schritt zentrale Paradigmen2 der Ethnizitätsforschung hinsichtlich ihres Erklärungspotenzials für die Betrachtung antisemitischer In- und Exklusion diskutiert werden. Zugleich soll die paradigmatische Diskussion durch eine kontrastierende Darstellung auf Defizite der Antisemitismusforschung für die Untersuchung der soziokulturellen Konstruktionsmechanismen ethnisierter Grenzziehungen des Antisemitismus hinweisen. Ein mittlerweile als Randphänomen klassifizierter sozialwissenschaftlicher Zugang zu »Ethnizität« (Khan-Svik 2008: 114) stellt primordiale Konzeptualisierungen von »Ethnizität« dar. In Übersteigerung der kulturanthropologischen These von Geertz (Duemmler 2015: 64)3 ontologisieren primordiale Variationen von »Ethnizität« ethnische Gruppen, die in gewisser Weise den Handlungen sozialer Akteur*innen vorausgehen, als Resultat einer ursprünglichen Bindung, die Gemeinschaftsgefühle etwa aufgrund einer angeblichen gemeinsamen Abstammung objektiviert und determiniert (van den Berghe 1981; Dragadze 1980). Auch in der Antisemitismusforschung lässt sich eine Tendenz beobachten, judenfeindliche Kategorisierungen als Erscheinungen eines »ewigen 2

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Weil das Grenzziehungsmodell bereits den theoretischen Vorüberlegungen dieser Arbeit zugrunde gelegt wurde, spare ich diesen theoretischen Zugang für die Diskussion zentraler Paradigmen der Ethnizitätsforschung bewusst aus. Geertzʼ Begriff von Primordialität ist eingebettet in das semiotische Paradigma von »Kultur« als »selbstgesponnene[m] Bedeutungsgewebe« (Geertz 1983: 9), durch dessen historisch wandelbare Herstellungsdynamik natürlich scheinende Vorstellungen einer kollektiv geteilten – ursprünglichen – ethnischen Bindung hervorgebracht werden. »By a primordial attachment is meant one that stems from the ›givens‹ – or more precisely, as culture is inevitably involved in such matters, the assumed ›givens‹ – of social existence: immediate kin connection mainly, but beyond them the givenness that stems from being born into a particular religious community, speaking a particular language, or even a dialect of a language, and following particular social practices. These congruities of blood, speech, custom, and so on, are seen to have an ineffable, and at times overpowering, coerciveness in and of themselves« (Geertz 1973: 259). Übersteigert erscheint die These der Primordialisten deswegen, weil Geertz gerade nicht davon ausgeht, dass die Bindungspotenziale der Sprache, Lebensführung oder Abstammung natürliche oder gegebene Fakta der sozialen Wirklichkeit darstellen, sondern diese ethnischen Imaginative erst in einem spezifischen kulturellen Wissenskontext als urwüchsiges Prinzip der Kollektivierung gedeutet werden.

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lich kontextualisierbare Besonderheit ethnisierter Klassifizierungen in antisemitischen Grenzziehungsprozessen interessiert. Forschungsleitend ist dabei die Überlegung, dass Antisemitismusforschung nicht auf eine essentialistische Betrachtung antisemitischer Klassifikationen durch identitär prädeterminierte Kollektive hinarbeiten sollte, sondern die prozessuale Logik der Produktion und Reproduktion, d.h. der (Dis)-Kontinuität und des Wandels von antisemitischem Wissen in konkreten Aushandlungsprozessen durch wechselnde Trägergruppen reflektieren muss.

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Dominante paradigmatische Perspektiven der Ethnizitätsforschung – Eine Diskussion ihrer analytischen Potenziale für die Untersuchung antisemitischer Grenzziehungsprozesse

Wurden im vorherigen Abschnitt allgemeine Elemente eines analytischen Begriffes von »Ethnizität« herausgearbeitet, sollen in einem nächsten Schritt zentrale Paradigmen2 der Ethnizitätsforschung hinsichtlich ihres Erklärungspotenzials für die Betrachtung antisemitischer In- und Exklusion diskutiert werden. Zugleich soll die paradigmatische Diskussion durch eine kontrastierende Darstellung auf Defizite der Antisemitismusforschung für die Untersuchung der soziokulturellen Konstruktionsmechanismen ethnisierter Grenzziehungen des Antisemitismus hinweisen. Ein mittlerweile als Randphänomen klassifizierter sozialwissenschaftlicher Zugang zu »Ethnizität« (Khan-Svik 2008: 114) stellt primordiale Konzeptualisierungen von »Ethnizität« dar. In Übersteigerung der kulturanthropologischen These von Geertz (Duemmler 2015: 64)3 ontologisieren primordiale Variationen von »Ethnizität« ethnische Gruppen, die in gewisser Weise den Handlungen sozialer Akteur*innen vorausgehen, als Resultat einer ursprünglichen Bindung, die Gemeinschaftsgefühle etwa aufgrund einer angeblichen gemeinsamen Abstammung objektiviert und determiniert (van den Berghe 1981; Dragadze 1980). Auch in der Antisemitismusforschung lässt sich eine Tendenz beobachten, judenfeindliche Kategorisierungen als Erscheinungen eines »ewigen 2

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Weil das Grenzziehungsmodell bereits den theoretischen Vorüberlegungen dieser Arbeit zugrunde gelegt wurde, spare ich diesen theoretischen Zugang für die Diskussion zentraler Paradigmen der Ethnizitätsforschung bewusst aus. Geertzʼ Begriff von Primordialität ist eingebettet in das semiotische Paradigma von »Kultur« als »selbstgesponnene[m] Bedeutungsgewebe« (Geertz 1983: 9), durch dessen historisch wandelbare Herstellungsdynamik natürlich scheinende Vorstellungen einer kollektiv geteilten – ursprünglichen – ethnischen Bindung hervorgebracht werden. »By a primordial attachment is meant one that stems from the ›givens‹ – or more precisely, as culture is inevitably involved in such matters, the assumed ›givens‹ – of social existence: immediate kin connection mainly, but beyond them the givenness that stems from being born into a particular religious community, speaking a particular language, or even a dialect of a language, and following particular social practices. These congruities of blood, speech, custom, and so on, are seen to have an ineffable, and at times overpowering, coerciveness in and of themselves« (Geertz 1973: 259). Übersteigert erscheint die These der Primordialisten deswegen, weil Geertz gerade nicht davon ausgeht, dass die Bindungspotenziale der Sprache, Lebensführung oder Abstammung natürliche oder gegebene Fakta der sozialen Wirklichkeit darstellen, sondern diese ethnischen Imaginative erst in einem spezifischen kulturellen Wissenskontext als urwüchsiges Prinzip der Kollektivierung gedeutet werden.

4 Zur Konzeptualisierung von ethnisierten Narrativen des Antisemitismus

Antisemitismus« (Wistrich 1991; 2010) zu essentialisieren und von ihrem kulturell aushandelbaren Charakter zu lösen. Auch wenn sich de-essentialisierende Forschungsansätze mittlerweile weitestgehend durchgesetzt haben, sind primordiale Kollektivierungen ethnischer Gruppierungen in den Sozialwissenschaften dennoch weiterhin präsent (Kanchan und Wilkinson 2008; Bayar 2009). Ohne die spezifische Besonderheit antisemitischer Unterscheidungspraxen (Rensmann und Schoeps 2011; Rensmann 2004a) zu negieren, d.h. ihre komplexitätsreduzierende Funktion für die Deutung gesellschaftlicher Prozesse der (Post-)Moderne zu berücksichtigen, muss die Analyse antisemitischer Grenzziehungen eine de-essentialistische und anti-gruppistische Forschungshaltung implementieren, um die prozessuale Logik ihrer veränderlichen symbolischen Vermittlung empirisch erfassen zu können. Ein speziell im US-amerikanischen Kontext rezipierter Zugang zu »Ethnizität« und ethnisierter Gruppenidentitäten stellt das Konzept der symbolischen Ethnizität (Gans 1979; 1994; Alba 1990) dar. »Symbolic ethnicity […] is characterized by a nostalgic allegiance to the culture of the immigrant generation, or that of the old country; a love for and a pride in a tradition that can be felt without having to be incorporated in everyday behavior« (Gans 1979: 9). Ethnische Identifikationsweisen werden dabei als Option (Waters 2010), d.h. als situativ wählbare und auf freiwilliger Basis vollzogene Formen der Artikulation von Zugehörigkeit definiert, die, im Unterschied zu rassistischen Differenzmarkierungen, nicht mit »realen sozialen Kosten« (Waters 2010: 202) für die Betroffenen verbunden sind. Jüd*innen werden dabei als ethnische Gruppe konzipiert, die prototypisch für den Zusammenhang symbolischer »Ethnizität« stehen (Gans 1979). Das Konzept der symbolischen Ethnizität zeigt sich in vierfacher Hinsicht unzureichend für die Untersuchung sozialer Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen. Erstens ist die Unterscheidung zwischen freiwillig aneigenbarer »Ethnizität« und strukturell de-privilegierender »Rasse« unzureichend für eine intersektionale Analyse des multivariablen und simultanen Zusammenspieles rassialisierter, ethnisierter und nationenbezogener Antisemitismen. Darauf aufbauend lässt ein rein symbolisches Verständnis von »Ethnizität« zweitens die Machtdimension von »Ethnizität« als soziale Strukturkategorie, wie sie insbesondere für den europäischen Kontext charakteristisch ist, unreflektiert (Wimmer 2014; Mijic 2014). Drittens verkennt der sozialstrukturelle Ausgangspunkt dieser Konzeptualisierung ethnischer Gruppenidentitäten die symbolische Dimension ethnischer Ungleichheit in antisemitischen Grenzziehungsprozessen. Letztlich steht ein solches Verständnis der nur symbolischen »Ethnizität« von Jüd*innen viertens stellvertretend für die Perspektivendivergenz zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Betroffenenperspektiven und Diskriminierungswahrnehmungen von antisemitischen Ausgrenzungen. Diese Perspektivendivergenz bedient sich auch ethnisierter Klassifikationsstrategien, wie ich im nächsten Kapitel zeigen möchte. Im rational-choice oder auch instrumentalistisch genannten Paradigma werden ethnische Grenzziehungen und Gruppenformationsprozesse – trotz vorhandener analytischer Unterschiede – als politischer Mobilisierungsfaktor von Individuen und Gruppen verstanden, um politische oder ökonomische Interessen zu erreichen (Banton 1983; Hechter 1975; Fenton 1999). Nach Esser (1997) liegt etwa der »objektive und deshalb stabile Hintergrund« für die Anrufung ethno-nationaler Gemeinsamkeiten und Unterschie-

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de nicht »nur in der Kontrolle von materiellen Ressourcen«, sondern auch in der »Gefährdung des Wertes des spezifischen, insbesondere des kulturellen Kapitals« (882, Hervorh. i. Orig.). »Ethnizität« wird demzufolge handlungstheoretisch zu einem nutzenmaximierenden »sozialen Gebrauchswert« (Pott 2002: 48), der sozialen und vor allem ethnischen Konflikten strukturell zugrunde liegt. Die Reduktion von »Ethnizität« auf eine strategisch nutzbare Ressource in instrumentalistischen Ansätzen kann nicht den Konstruktionscharakter ethnischer Klassifikationsmuster erklären, durch die sich ethnische Grenzen herausbilden, um überhaupt als Mobilisierungsfaktor relevant werden zu können,. Daneben fehlt instrumentalistischen Zugängen das Deutungspotenzial für die dynamischen Mechanismen der situativen Aktivierung von »Ethnizität« in unterschiedlichen sozialen Kontexten (Wimmer 2005: 109f.). Gerade theoretische Zugänge der Antisemitismusforschung betonen zuletzt, dass sich die qualitativ spezifische Dynamik antisemitischer Klassifikationspraxen der zweckgebundenen Logik rational handelnder Akteur*innen entzieht (Salzborn 2010b; Postone 1988).4 Neuere Zugänge der Ethnic Studies beschäftigen sich unter den Bedingungen von Prozessen der Transnationalisierung in den globalisierten Gegenwartsgesellschaften vermehrt mit de-essentialistischen Konzeptionen multipler Identitäten und »neuer« Ethnizitäten (Hall 1991; 1994d; Bhabha 2011). Im Zentrum stehen Fragen nach der Kreolisierung (Hannerz 1987) oder Hybridität (Bhabha 1990; 2011) neuerer kultureller Formen ethnischer Identifikationsweisen, die sich aufgrund globaler Migrationsbewegungen jenseits der Grenzen des Nationalstaates verwirklichen (Glick Schiller, Basch und Szanton Blanc 1991; Glick Schiller, Basch und Szanton Blanc 1995), Elemente diasporischer Gruppenidentitäten aufweisen können (Hall 1994c; Gilroy 1993; Gilroy 1994) und der kulturellen Logik (Kraidy 2005) von Globalisierung folgen. Dabei wird die ethno-zentrische Abwehr des hybriden »Anderen« als Versuch verstanden, die sozial konstruierte, kulturelle »Reinheit« des »Eigenen« vor der Verwischung dieser kulturellen Differenzlinien zu schützen (Mecheril und Broden 2010; Nghi Ha 2004). Wenn Hybriditätsansätze nach der Zugehörigkeit von Jüd*innen fragen, stehen Untersuchungen der hybriden jüdischen Identität (Wohl von Haselberg 2015) im Mittelpunkt, oder Studien betrachten aus einer postkolonialen Perspektive die hybride Fremdgruppenkonstruktionen von Jüd*innen als historisierbares Spezifikum des im Kolonialismus angelegten modernen Rassismus (Bhabha 1998; Goldstein 2006). Meine Kritik an dem Konzept der Hybridität entfaltet sich entlang dreier Linien. Erstens berücksichtigen auch Konzeptualisierungen der Hybridität neuer »Ethnizitäten« häufig nicht die in kollektiven Identifikationsprozessen eingeschriebenen sozialen

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Gleichwohl agieren soziale Akteur*innen im Kontext ihrer habituellen Dispositionen immer bis zu einem gewissen Grad strategisch, indem die Aushandlung von Gruppengrenzen als Mechanismus der sozialen Schließung auch immer gesellschaftliche Machtbeziehungen zu ihrem Gegenstand hat. In der Antisemitismusforschung meint der Begriff der Zweckrationalität das Erreichen eines politischen, ökonomischen oder sozialen Nutzens, der den Ausschluss von Jüd*innen erforderlich machen würde.

4 Zur Konzeptualisierung von ethnisierten Narrativen des Antisemitismus

Macht- und Ungleichheitsbeziehungen (Anthias 2001; 2006). Zweitens trägt das unterstellte subversive, sich kulturalisierten Essentialismen widersetzende Widerstandspotenzial hybrider Identitätskonstruktionen »der basalen soziokulturellen Ordnungsfunktion von Klassifikationsprozessen zu wenig Rechnung« (Hirschauer 2014: 179). Allerdings bleibt drittens insbesondere für die Antisemitismusforschung festzustellen, dass antisemitische Klassifikationsrepertoires des hybriden jüdischen »Anderen« nicht systematisch in Relation zu Prozessen der Herstellung von »Wir«-Gruppenformationen betrachtet werden (Radvan 2010: 79; Holz 2001: 37). Das Forschungsinteresse dieser Arbeit richtet sich auf das Wie der Konstruktion multipler (Nicht-)Zugehörigkeiten von Jüd*innen in klassifikatorischen Systemen der ethnisierten In- und Exklusion. Weil diese konstruierte »Fremdgruppe« aber durch symbolische Grenzziehungen auch einen situativen Ein- und Ausschluss erfahren kann, wähle ich mit zugehörigkeitstheoretischen Ansätzen einen Zugang, der den hybriden, sprich kontingenten (Hirschauer 2014: 180) Charakter diskursiv vermittelter Subjektpositionen für Jüd*innen rekonstruieren soll. Damit soll aber auch geklärt werden, wie sich die kulturalisierte Homogenität ethnisierter Kollektivzugehörigkeiten in Abgrenzung zu dem Signifikanten »Juden« und darin enthaltenen abwertenden Signifikationen über zeitlich und räumlich wandelbare Kontexte vorläufig stabilisiert und verändert. Diese Aspekte werden im Folgenden im Zusammenhang mit antisemitismustheoretischen Überlegungen sowie praxeologischen Ansätzen der Ethnizitätsforschung diskutiert und zusammengeführt, um darauf aufbauend den dynamischen Konstruktionscharakter ethnisierter In- und Exklusion und ihrer mehrdimensionalen Wechselwirkungen mit den Differenzkategorien »Nation« und »Rasse« gegenstandsangemessen erklären zu können. Ein weiterer analytischer Mehrwert soll schließlich darin bestehen, ein Analysewerkzeug bereitzustellen, das es im Hinblick auf den empirischen Teil dieser Arbeit ermöglichen soll, die wandelbaren Unterscheidungslinien antisemitischer Differenzierungen und ihre relativen Bedeutungen rekonstruieren zu können.

4.3

Eine de-essentialisierende Perspektive auf die diskursive Positionierung des jüdischen »Fremden«

Für die Entwicklung einer taxonomischen Perspektive auf die Kontingenz der Produktion, Reproduktion und Transformation symbolischer Ordnungen ethnisierter, rassialisierter und nationenbezogener Grenzziehungen5 des Antisemitismus stehen in den nachfolgenden Ausführungen solche Forschungszugänge im Vordergrund, die sich auf die sozialen Konstruktionsprozesse von »Ethnizität« und dabei insbesondere auf ethnische Gruppenbildungsprozesse konzentrieren. Damit soll einerseits versucht werden, die Interrelation von kollektiver Zugehörigkeit und antisemitischer Ausschließung in

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Die hier diskutierten Zugänge werden vor dem Hintergrund der bereits in Kapitel 2.3 und 2.4 elaborierten und aus der Ethnizitätsforschung stammenden Ansätze des Grenzziehungsparadigmas in das theoretische Modell integriert. Diese Zugänge werden im Folgenden analytisch vorausgesetzt und wo es nötig scheint, nochmals rekapituliert.

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Macht- und Ungleichheitsbeziehungen (Anthias 2001; 2006). Zweitens trägt das unterstellte subversive, sich kulturalisierten Essentialismen widersetzende Widerstandspotenzial hybrider Identitätskonstruktionen »der basalen soziokulturellen Ordnungsfunktion von Klassifikationsprozessen zu wenig Rechnung« (Hirschauer 2014: 179). Allerdings bleibt drittens insbesondere für die Antisemitismusforschung festzustellen, dass antisemitische Klassifikationsrepertoires des hybriden jüdischen »Anderen« nicht systematisch in Relation zu Prozessen der Herstellung von »Wir«-Gruppenformationen betrachtet werden (Radvan 2010: 79; Holz 2001: 37). Das Forschungsinteresse dieser Arbeit richtet sich auf das Wie der Konstruktion multipler (Nicht-)Zugehörigkeiten von Jüd*innen in klassifikatorischen Systemen der ethnisierten In- und Exklusion. Weil diese konstruierte »Fremdgruppe« aber durch symbolische Grenzziehungen auch einen situativen Ein- und Ausschluss erfahren kann, wähle ich mit zugehörigkeitstheoretischen Ansätzen einen Zugang, der den hybriden, sprich kontingenten (Hirschauer 2014: 180) Charakter diskursiv vermittelter Subjektpositionen für Jüd*innen rekonstruieren soll. Damit soll aber auch geklärt werden, wie sich die kulturalisierte Homogenität ethnisierter Kollektivzugehörigkeiten in Abgrenzung zu dem Signifikanten »Juden« und darin enthaltenen abwertenden Signifikationen über zeitlich und räumlich wandelbare Kontexte vorläufig stabilisiert und verändert. Diese Aspekte werden im Folgenden im Zusammenhang mit antisemitismustheoretischen Überlegungen sowie praxeologischen Ansätzen der Ethnizitätsforschung diskutiert und zusammengeführt, um darauf aufbauend den dynamischen Konstruktionscharakter ethnisierter In- und Exklusion und ihrer mehrdimensionalen Wechselwirkungen mit den Differenzkategorien »Nation« und »Rasse« gegenstandsangemessen erklären zu können. Ein weiterer analytischer Mehrwert soll schließlich darin bestehen, ein Analysewerkzeug bereitzustellen, das es im Hinblick auf den empirischen Teil dieser Arbeit ermöglichen soll, die wandelbaren Unterscheidungslinien antisemitischer Differenzierungen und ihre relativen Bedeutungen rekonstruieren zu können.

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Eine de-essentialisierende Perspektive auf die diskursive Positionierung des jüdischen »Fremden«

Für die Entwicklung einer taxonomischen Perspektive auf die Kontingenz der Produktion, Reproduktion und Transformation symbolischer Ordnungen ethnisierter, rassialisierter und nationenbezogener Grenzziehungen5 des Antisemitismus stehen in den nachfolgenden Ausführungen solche Forschungszugänge im Vordergrund, die sich auf die sozialen Konstruktionsprozesse von »Ethnizität« und dabei insbesondere auf ethnische Gruppenbildungsprozesse konzentrieren. Damit soll einerseits versucht werden, die Interrelation von kollektiver Zugehörigkeit und antisemitischer Ausschließung in

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Die hier diskutierten Zugänge werden vor dem Hintergrund der bereits in Kapitel 2.3 und 2.4 elaborierten und aus der Ethnizitätsforschung stammenden Ansätze des Grenzziehungsparadigmas in das theoretische Modell integriert. Diese Zugänge werden im Folgenden analytisch vorausgesetzt und wo es nötig scheint, nochmals rekapituliert.

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der Aushandlung ethnisierter Gruppengrenzen erklärbar zu machen. Andererseits werden solche Theorieperspektiven verwendet, die eine empirische Offenheit gegenüber den kategorialen Wechselwirkungen von »Ethnizität« mit den Differenzlinien »Rasse« und »Nation« aufweisen, um die Wandelbarkeit antisemitischer Klassifikationsstrategien aufzuzeigen. Zunächst möchte ich im Anschluss an Rogers Brubaker jedoch einige – bereits annäherungsweise erörterten (siehe Kapitel 2.4) – epistemologische Prämissen einer de-essentialistischen Sichtweise auf die wirklichkeitskonstitutive Macht gruppistischer Kategorien und ihrer »machtvolle[n] Kristallisation« (Brubaker 2007: 20) in den sozialen Schließungsprozessen ethnischer Gruppen entwickeln. Darauf aufbauend will ich die spezifische Stellung des jüdischen »Fremden«6 als das »essentiell Andere […], demgegenüber Gruppenidentität artikuliert werden« kann (Bauman 1995: 59), näher bestimmen. Dem sozialkonstruktivistischen Grenzziehungsparadigma Andreas Wimmers folgend stehen hier, die kulturellen Praktiken der Artikulation eines subjektiven Gemeinschaftsglaubens vis-à-vis einer Abgrenzung nach »Außen« im Vordergrund. Sie richtet sich wiederum gegen ein primordiales Verständnis von »Ethnizität«, das von substanziell feststellbaren kulturellen Differenzen oder territorialen und historischen Unterschieden zwischen ethnischen Gruppen ausgeht. Dennoch gehe ich davon aus, dass ethnische Zugehörigkeitskriterien wie »Abstammung«, »Geschichte« oder »Kultur« auf der Ebene der Verwendungspraxis sozialer Akteur*innen als soziale Tatsachen oder »primordiale Zugehörigkeitsgefühle« (Sutterlüty 2006: 31) zu behandeln sind, insofern ihre askriptiven Zuschreibungen als unhinterfragbare Klassifikationsmuster die soziale Wirklichkeit symbolisch strukturieren (Hirschauer 2014: 171; Geertz 1973). Demzufolge fungieren die primordialen Codes als Klassifikationsinstrumente, um eine vorläufige kulturelle Stabilisierung von Grenzen zu erreichen, die, obgleich ontologisch konstruiert, als »naturally given« perzipiert werden (Eisenstadt 2002: 37). Das subjektive Zugehörigkeitsgefühl durch ethnische Identifikationen kann also im Einklang mit dem hier verwendeten bedeutungs- und symbolorientierten Kulturbegriff als gesellschaftlich legitimiertes Wissen über das »Selbst« und den »Anderen« verstanden werden. Kultursoziologisch gewendet ließe sich mit Karl Marx (Scherr 2000: 8) dafür argumentieren, dass die soziale Bedingtheit habitualisierter Denk- und Wahrnehmungsschemata ethnische Repräsentationen handlungsrelevant werden lässt, mithin also Subjekte unter »bestimmten […] von ihrer [der Subjekte, d. Verf.] Willkür unabhängigen Schranken, Voraussetzungen und Bedingungen« agieren (Marx und Engels 1978:25). Allgemein werden »Ethnizität« und ihre substanzialiserenden Klassifizierungen in der Sphäre distinkter Analysekategorien in Anlehnung an die weithin rezipierte klassische Definition von Weber (2002) zunächst folgendermaßen bestimmt: Wir wollen solche Menschengruppen, welche auf Grund von Ähnlichkeiten des äußeren Habitus oder der Sitten oder beider oder von Erinnerungen an Kolonisation

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Wie Reuter und Warrach (2015) zurecht angemerkt haben, soll es dabei nicht um die Essentialsierung der Jüd*in als »Fremden« per se gehen, sondern um die soziale Herstellung des »Juden« in Prozessen der Selbst- und Fremdkategorisierung (186).

4 Zur Konzeptualisierung von ethnisierten Narrativen des Antisemitismus

und Wanderung einen subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinschaft hegen, derart, dass dieser für die Propagierung von Vergemeinschaftungen wichtig wird, dann, wenn sie nicht »Sippen« darstellen, »ethnische« Gruppen nennen, ganz einerlei, ob eine Blutsgemeinschaft objektiv vorliegt oder nicht. (237)7 Demzufolge verstehe ich Ethnisierungen auf der Ebene der Analysekategorien antisemitischer Grenzziehungen als kulturelle Signifikationsprozesse, die im Gegensatz zu Verfahren der Rassialisierung nicht auf biologisierende oder phänotypische Askriptionen rekurrieren, sondern auf die soziale Konstruktion eines historischen Gewordenseins ethnisierter Gruppen verweisen. Diese Vorstellung eines historischen Gewordenseins solidarischer Bindungen innerhalb ethnisierter Gruppen bezeichne ich im Anschluss an Heckmann (1997) als genealogisch. Genealogisch meint hier, die Vorstellung, »von gemeinsamen Vorfahren abzustammen« (Heckmann 1997: 52). Der genealogischen Konstruktion ethnischer Gruppen liegen dabei eine Reihe von klassifikatorischen Eigenschaften zugrunde, die Ausdruck eines konstruierten Kontinuitätszusammenhanges sind, und gleichermaßen auf eine scheinbar kollektiv geteilte Geschichte bzw. Abstammung8 , Gegenwart und Zukunft dieser »Ethnie« wie auf damit verbundene soziokulturelle Gemeinsamkeiten verweisen (Heckmann 1992; 1997). Dabei stehen »sozialhistorische Kategorisierungen« (Leiprecht 1999: 46) im Zentrum, die kollektive Überlieferungen reproduzieren und Grenzen markieren. Häufig sind es imaginierte Mythen und Geschichten, ebenso wie erfundene Traditionen und Bräuche (Hobsbawm und Ranger 2013), die als »kollektives Gedächtnis« (Leiprecht 1999: 46) fungieren und von den Mitgliedern einer ethnisierten Gruppe – auch grenzübergreifend – aktiviert werden, um sich genealogisch als zugehörig zu positionieren oder positionieren zu lassen. Im Anschluss an Wimmer (2005) wird »Kultur« zum Distinktionsmerkmal von »Ethnizität« für die Konzeptualisierung einer Taxonomie der Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen und damit, wie bereits im Zusammenhang mit der Diskussion über kulturalisierende Rassismen in Kapitel 3.4 erwähnt, als epistemologisches Privileg dieser Strukturkategorie definiert. »Kultur« als ethnische Differenzierung umfasst dabei von »typischen Persönlichkeitsmerkmalen bis zur Religion alle nicht biologischen Aspekte der Lebensweise einer Gruppe« (25). Erst anhand von (veränderlichen) Grenzziehungsprozessen zwischen einem »Innen« und »Außen« wird klar, welche kulturellen Praktiken wie etwa Sprache, Verhaltensmuster und Lebensweisen, Moral, Werte, Normen, Sitten, Ernährung oder Bekleidung (Groenemeyer 2003: 16) jedoch als legitime Symbole ethnisierter Ungleichartigkeit artikuliert werden und mit welchen Achsen der rassialisierten und nationalisierten Differenz sie sich als Praxiskategorien kreuzen.

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Dieser Definitionsversuch dient lediglich dem Zweck, »Ethnizität« näherungsweise zu bestimmen. Ana Mijić (2014) hat darauf hingewiesen, dass eine sozialkonstruktivistische Perspektive auf Ethnizität »konsequenterweise jeden Versuch einer definitorischen Klärung dessen, was Ethnizität ›wirklich‹ ist«, (112) verbietet. »Abstammung« stellt – und damit folgt der Begriff der analytischen Gradualität kulturalisierter Zuschreibungen – gewissermaßen einen Grenzfall dar, indem sich »Abstammung« als biologisiertes Signifikat eines »Volkes« auch in Gestalt rassialisierter Bedeutung artikulieren kann. Im Bereich der ethnischen Identifikation repräsentiert »Abstammung« hingegen die genealogische Konstruktion einer gemeinsamen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines »Volkes«.

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Ziel ist es, zu zeigen, unter welchen Bedingungen diese constructed boundaries zwischen homogener »Eigen«- gegenüber der jüdischen »Fremdgruppe« essentialisiert werden und sich ihre Bedeutung in symbolischen Kämpfen über kollektive Zugehörigkeiten temporär stabilisieren lassen (Wimmer 2015: 838). Heuristisch folgt daraus, ähnlich wie es bereits für die Theorie der Rassialisierung dargestellt wurde, die relationalen, prozessualen und dynamischen Elemente ethnischer Kategorisierungsprozesse anhand der Art und Weise ihrer symbolischen Herstellung zu rekonstruieren (Brubaker 2007: 12). Dabei ist Zusammengehörigkeitsgefühl eine Variable und keine Konstante; ihre Geltung resultiert aus der Deutungsarbeit sozialer Akteur*innen und wird über Kategorien, Schemata, Identifikationen, Geschichten oder Ereignisse diskursiv wirksam (ebd.). Aus diesem Grund erscheint eine de-essentialisierende Forschungsperspektive erforderlich, um die multiplen und miteinander interagierenden Konstruktionsmechanismen kontextbezogener, d.h. soziohistorisch und kulturell wandelbarer, Unterscheidungen zwischen einer ethnisch identifizierten »Eigengruppe« gegenüber einer antisemitisch markierten »Fremdgruppe« zu analysieren. Bevor der Frage nach der Artikulation von Zugehörigkeit in ethnisierten Grenzziehungsprozessen des Antisemitismus nachgegangen wird, stehen mit Zygmunt Bauman (1995; 2005; 2012) zunächst einige strukturelle Überlegungen über die ambivalente Stellung von Jüd*innen in sozialen Grenzordnungen im Vordergrund. Nach Zygmunt Bauman (1995; 2005; 2012) lässt sich die symmetrische Organisation der Grenzordnung als identitätsstabilisierendes Ordnungsprinzip der Moderne begreifen, deren symbolische Repräsentationen zugleich auf einer strikten und vermeintlich eindeutigen Unterscheidung zwischen »Innen« und »Außen«, Freund und Feind beruhen. Die grundlegende kulturelle Ordnungsleistung der Moderne besteht nun darin, Kontingenzen durch die Desartikulation von Ambiguität zu reduzieren (Hirschauer 2014: 173) oder, mit Andreas Wimmer gesprochen, die kategoriale Differenzierung zwischen »Eigen«- und »Fremdgruppe« in Form eines kulturellen Kompromisses vorläufig zu stabilisieren. Dieser Kompromiss reduziert Mehrdeutigkeiten auf der Ebene ethnischer Grenzziehungen, indem er scheinbar unzweifelhaft, klar abgrenzbare ethnische Zugehörigkeiten auf der Grundlage vorgestellter Gemeinsamkeiten, wie etwa einer gemeinsamen Geschichte oder Herkunft, formuliert. Mit anderen Worten geben binäre Klassifikationsmuster der Welt ihre Struktur (Bauman 2005: 12), indem sie gesellschaftliche Organisation sedimentieren (ebd.: 97). Als relationaler Zusammenhang entwickelt sich die dichotome Konstruktion von Freund und Feind jedoch ungleich: »Es sind die Freunde, die die Klassifikation und Zuordnung kontrollieren« (ebd.: 92, Hervorh. i. Orig.). Kollektive Identifikationen bilden sich demnach durch klassifikatorische Praktiken der Abgrenzung, etwa durch die Unterscheidungen von denjenigen Gruppen, die als kulturell, sprachlich oder religiös different markiert werden, wobei sich in der Differenzsetzung der praktische und soziale Sinn ethnisierter Subjektpositionen ergibt. So entsteht ethno-nationale Homogenität etwa durch gemeinsam geteiltes Wissen über die legitime Bedeutung kontingenter Abstammungsmerkmale wie Traditionen, Geschichte, Sprache oder Narrative, die auf diese Weise Vertrautheit nach »Innen« vermitteln (Breckner 2009: 93). In Anlehnung an Simmel (1908) werden diese sinnhaft-vertrauten Orientierungspunkte des nur scheinbar symmetrischen Gegensatzes von Freund und Feind in den differenz-

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theoretischen Überlegungen Baumans allerdings durch den Rollentyp des »Fremden« bedroht und permanent dekonstruiert. Denn spiegeln sich die Konstruktionsmechanismen kulturell homogenisierter, kollektiver Identitäten auf beiden Seiten der binär hergestellten Grenze – »Innen« und »Außen« strukturieren sich nach demselben Ordnungsprinzip – unterwandert die unbestimmte Repräsentation des »Fremden« das »gesellschaftliche Leben selbst« (Bauman 2005: 95), weil sie alles sein kann und damit die »completa mappa mundi« (ebd.) der dichotomen Grenzen infrage stellt (ebd.: 100). Bauman zufolge entlarvt der klassifikatorische Status des anomalen »Fremden« als prinzipiell »Unentscheidbare[s]« (ebd., Hervorh. i. Orig.) somit die Kontingenz der naturalisierten Trennung zwischen »Innen« und »Außen«: »Fremde« nehmen Vertrautheit in Anspruch, wo das Unvertraute überwiegen sollte und vice versa (ebd.: 101). Ich werde im Folgenden Baumans von Ambivalenz durchzogenen Begriff des »Fremden« auf der Ebene der Analysekategorien als wesentliches Merkmal antisemitischer Klassifikationsrepertoires in ethnisierten Typen der Grenzziehung konzeptualisieren. Damit soll gezeigt werden, wie sich diskontinuierliche Fremdheitskonstruktionen von Jüd*innen in der interpretativen Aneignung der sozialen Welt durch Akteur*innen rekonstruieren lassen. Denn nach Bauman repräsentieren Jüd*innen als archetypische Figur des »Fremden« die Ambivalenz der Grenzziehung zwischen Freund und Feind, insofern sie »rittlings auf den Barrikaden« ethno-nationaler Kollektive sitzen9 ; sie unterminieren und sabotieren die sozial hergestellten Grenzlinien durch ihren Status von »Fremden im Inneren« (Bauman 2012: 48)10 . Mit der analytischen Positionierung der jüdischen »Anderen« als »Fremde« im Innern öffnet sich die amorphe Einschreibungsfläche »Jude«11 für offene Bedeutungskonstitutionen, die für rassialisierte Narrative des Antisemitismus bereits herausgearbeitet wurden und Kreuzungen verschiedener Ungleichheitskategorien antisemitischer Deutungsrepertoires freilegen können. Bauman übernimmt hier Überlegungen Fredrik Barths, der dem »Fremden« den Status des »Pariah« (Barth 1969: 31) in den andauernden gesellschaftlichen Definitionskämpfen über die legitime Stellung des »Selbst« und des »Anderen« zuweist. Die negativen Klassifikationen des jüdischen »Fremden« gleichen einem starren »imperative status« (ebd.), der mit Blick auf Konzeptualisierung des Kollektivs der jüdischen 9

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An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Bauman seine Erörterungen über die jüdischen »Fremden« als »nichtnationale Nation« (Bauman 2012: 66) historisch aus den gesellschaftlichen Formationsprozessen der nationalstaatlich verfassten kapitalistischen Moderne gewinnt (56-74). Demnach betrachtet Bauman die die Konstruktionsweisen des »Fremden« vor dem Hintergrund der territorialen Ordnung des Nationalstaates. Im Sine der hier entwickelten Argumentationslogik wird Baumans Ordnungsmodell von Zugehörigkeit auf ethnische Grenzziehungsprozesse übertragen, die schließlich auch in nationenbezogenen Unterscheidungen zwischen »Innen« und »Außen« integriert sind. Wie bereits in Kapitel 2.1 herausgearbeitet wurde, lässt sich der Ausschluss von Jüd*innen plausibler mit der Figur des Dritten beschreiben. Während die Konstruktion des »Fremden« auch solche Repräsentationen enthält, die für rassistische Relationierungen von »Wir«- und »Sie«-Gruppe charakteristisch sind, entzieht sich gerade die »jüdische« Ambivalenz dem Organisationsprinzip binärer Zuordnung (Holz 2004: 52ff.). Jean-Paul Sartre hat die »Erfahrungslosigkeit« des Antisemitismus einmal folgendermaßen charakterisiert: »[E]xistierte der Jude nicht, der Antisemit würde ihn erfinden« (1994: 12).

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»Fremdgruppe« eine »inescapable disability« (ebd.) markiert. Aufgrund dieser stigmatisierenden Positionierung als ethnisierte Grenzgänger wird Jüd*innen ein anerkannter gesellschaftlicher Status fortwährend verweigert. Empirisch wird sich zeigen können, mit welchen wandelbaren Zuschreibungen antisemitische Fremdheitskonstruktionen damit einhergehen. Schließlich ergibt sich die historisch gewordene, gleichwohl immer nur vorläufige Stabilisierung der ambivalenten symbolischen Grenzziehung zwischen der »Eigengruppe« gegenüber dem »Fremden« aus der Verfügungsgewalt der dominanten Mehrheitsgesellschaft über das »Ethnowissen« (Müller und Zifonoun 2010: 12), d.h.: »the boundaries of pariah groups are most strongly maintained by the excluding host population« (Barth 1969: 31). Insbesondere die differenztheoretische Perspektive der Baumanʼschen Theorie verspricht einen besonderen Nutzen für die relationale Taxonomie antisemitischer Grenzziehungsprozesse. Denn die Kategorisierung der jüdischen outgroup als ambigue »Fremde« im Innern der ethnisch homogenisierten »Eigengruppe« entspricht dabei der Funktionsweise des Stigmas (Bauman 2005: 113ff.). Als Stigma definiert Bauman »die Betonung der Differenz, einer Differenz, die im Prinzip unaufhebbar ist und infolgedessen eine permanente Ausgrenzung rechtfertigt« (ebd.: 114). Stigmatisierungen fungieren daher in undurchlässigen Grenzordnungen als Praxis der Verurteilung der nicht-identischen, marginalisierten Bevölkerungsgruppen, durch die das Tabu der Ambivalenz gebrochen wird (Bauman 1995: 51f.).12 Eine Ausdrucksform dieser Klassifikationsweise des jüdischen »Fremden« ist schließlich die Vorstellung, dass Jüd*innen ihr »wahres« Wesen verschleiern und sich hinter ihrer Ununterscheidbarkeit von Angehörigen der ethnisierten ingroup eine essentialisierte – stigmatisierende – Differenz verbirgt. Repräsentationen dieser antisemitischen Verschwörungstheorie und ihrer Artikulationsweisen aktualisieren sich etwa in wandelbaren Zuschreibungen eines scheinbaren klandestinen Zusammenhaltes der jüdischen »Fremdgruppe« oder ihrer vermeintlich fremdartigen Lebensweise. Diese Klassifizierungen sind demzufolge Erscheinungsformen der Stigmatisierung des jüdischen »Fremden« (Yuval-Davis 1997: 48). Wird in der vorliegenden Arbeit also von der Stigmatisierung der jüdischen »Fremdgruppe« gesprochen, dann ist damit die zu einem soziohistorisch wandelbaren Zeitpunkt askriptive Zuweisung abwertender Eigenschaften einer ethnisch markierten Gruppe der Jüd*innen zum Zweck der Aufrechterhaltung von Homogenität in den Vermittlungsprozessen kollektiver Zugehörigkeiten gemeint. Im Anschluss daran definiere ich antisemitische Klassifikationsrepertoires einer ethnischen »Fremdheit« von Jüd*innen als Analysekategorien ethnisierter Typen der Grenzziehung, wenn sie auf Kulturalisierungen einer angeblich besonderen jüdischen Lebensweise oder

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Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (2008; Adorno 1973) haben aus sozialpsychologischer Sicht die Notwendigkeit der Aggression gegen das nicht-identische, jüdische »Andere« betont. Im Anschluss an die Trieblehre Freuds gehen die Kritischen Theoretiker davon aus, dass sich die Subjekte in einem Akt narzisstischer Kränkung gesellschaftlichen Autoritäten und kollektiven Identitäten wie »Nation«, Volk oder »Rasse« unterwerfen. Die Triebabfuhr für gesellschaftliche Ohnmachtserfahrungen erfolgt dann im Vollzug einer »konformistischen Rebellion« (Claussen 1994: 21) gegen das stigmatisierte »Fremde«.

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exaggerierten jüdischen Werten beruhen, Klassifikationsweisen einer »Anpassungsunfähigkeit« jüdisch-religiöser Überzeugungen und Praktiken reproduzieren13 oder eine »Andersartigkeit« jüdisch-historischer Erfahrungshorizonte betonen. Diese Zuschreibungsrepertoires sind jedoch nicht als statisch zu verstehen, sondern erfahren in der Verwendungspraxis sozialer Akteur*innen unter sich verändernden kulturellen Kontextbedingungen eine wandelbare Bedeutung. Darüber hinaus ordne ich die der Stigmatisierung zugrundeliegende Unentscheidbarkeit in den klassifikatorischen Kämpfen über den ethnisierten Ein- und Ausschluss von Jüd*innen nach Bauman (1995) als Allosemitismus ein. Allosemitismus rekurriert auf die Charakterisierung von Jüd*innen als radikal Verschiedenes und verweist auf die Unbestimmtheit der Kategorisierung »Jude«, die sich auch in einer eigentümlichen Ambivalenz ausdrückt: die Gleichzeitigkeit von Anti- und Philosemitismus, d. i. Idealisierung oder Dämonisierung von Jüd*innen unter der Prämisse unaufhebbarer Differenz (ebd.: 44f.; auch Rensmann 2011: 462). Ben-Rafael (2014) schreibt dazu: »Jewishness may attract hate or love, but always feelings that are extreme and intense« (30). Ethnisierende Klassifizierungen des Philosemitismus, die als Analysekategorien in das taxonomische Modell aufgenommen werden sollen, finden sich etwa, wenn Jüd*innen eine einzigartige Affinität zu Geld, ein besonders ausgeprägter Geschäftssinn oder ein vermeintlich besonderer Zusammenhalt unterstellt wird. Ethnisierende Zuschreibungen des Antisemitismus wären demgegenüber Stigmatisierungen, die Jüd*innen etwa aufgrund religiöser Praktiken als »anders« markieren, oder wenn die ethische Selbstverpflichtung des Judentums eines »auserwählten Volkes« zur Chiffre »jüdischen Hochmuts« oder »besonderen Einflusses« der jüdischen »Fremdgruppe« auf Staat, Medien und Wirtschaft wird. Aufgrund ihres vagen Status ist antisemitischen Differenzzeichen eine Prozessualität eingeschrieben, die sie zu einem Gegenstand permanenter Aushandlung macht. Daraus lässt sich für die Analyse zweierlei resümieren: Erstens enthalten tradierte allosemitische Wissensvorräte über jüdische Fremdbilder »objektivistische« (Bauman 2005: 131) Repräsentationen, die sich als mehrdimensionale Praxiskategorien relational darstellen. Einerseits werden der zugeschriebenen kosmopolitischen Wurzellosigkeit des »künstlichen«, nicht-zugehörigen »Fremden« symbolische Klassifikationen einer konstruierten Ursprünglichkeit oder Natürlichkeit entgegengestellt (ebd.: 131). So repräsentiert die Gruppe der Jüd*innen in diesen antisemitisch fundierten »Wir«-GruppenDiskursen den ethnisierten Topos der »Künstlichkeit« und »Substanzlosigkeit« (Haury 2002). Andererseits korrespondieren damit Zuschreibungen von Jüd*innen, die sie als illegitimes »Gegenbild« (Messerschmidt 2015: 1) der eigenen – gemeinschaftlichen – Identität konstituieren. Aufgrund ihrer kategorialen Ambiguität fungieren Jüd*innen demnach als Personifikationen gesellschaftlicher Konflikte, indem sie zu symbolischen Träger*innen vielfältiger, gesellschaftlicher, politischer, sozialer und ökonomischer Antagonismen stilisiert werden (Stögner und Schmidinger 2010: 389). Diese Einsicht wurde mit Blick auf ihre rassialisierte Konstruktionsform als Analysekategorie

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Ich werde in Kapitel 4.5 noch einmal gesondert auf »Religiosität« als ethnische Differenzkonstruktion des jüdischen »Fremden« zu sprechen kommen.

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in dem Deutungsrepertoire einer wesenhaften Allmacht und Omnipotenz des biologisierten Kollektivs der »Juden« bereits in Kapitel 3.4 festgehalten. Diskursive Gestalt nimmt die antisemitische Funktion von Welterklärung (Stender 2013) etwa in personifizierenden Zuschreibungen jüdischer Strippenzieher in der Finanzwirtschaft und jüdischer Kontrolle über Massenmedien (Schwarz-Friesel und Reinharz 2013: 166) oder in Klassifikationen eines angeblichen weltpolitischen Einflusses jüdischer (Israel-)Lobbys (Harrison 2013: 33f.; Judaken 2008: 545ff.) an. Die hier entwickelte Taxonomie antisemitischer Grenzziehung betrachtet daher die weltanschaulichen Qualitäten des Antisemitismus als kontextualisierbare und anpassungsfähige Klassifikationsrepertoires ethnisierter, rassialisierter oder nationalisierter Klassifikationsmuster der Judenfeindschaft. Als kategoriale Zuschreibungen des »Jüdischen« werden auf diese Weise soziokulturelle Grenzen zwischen Nicht-Jüd*innen gegenüber Jüd*innen temporär stabilisiert. Zweitens reproduzieren antisemitische Grenzziehungen in symbolischen Ordnungen der Ungleichheit Mehrdeutigkeiten, die, so eine These dieser Arbeit, eine Gleichzeitigkeit von In- und Exklusion von Jüd*innen hervorbringen. Levine-Rasky (2008) beschreibt diese Dualität von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit der jüdischen »Fremden« als »eternal contradiction« (58), was exemplarisch in der Gegenüberstellung der sozialen Aufwärtsmobilität und relativen ökonomischen Unabhängigkeit von Jüd*innen mit ihrem Pendant der De-Privilegierung, der ethnisierten Herstellung antisemitischer Differenz, zum Ausdruck kommt. »From the view of dominant society, Jews can straddle positions as both oppressed and privileged, and have the resources to shift between them« (ebd.). Diese Gleichzeitigkeit soll in der Taxonomie der Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen als situationslogischer Ausdruck begriffen werden, d.h. kontextabhängiges Zusammenwirken historisch veränderlicher kategorialer Verknüpfungen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Grenzziehungen, durch die Jüd*innen ein- und ausgeschlossen werden können. Sichtbar werden die Ambivalenzen kategorialer Ungleichheit von Jüd*innen auch in den ethnisierten Zuschreibungen einer jüdischen Illoyalität gegenüber der Zugehörigkeitsordnung der Mehrheitsgesellschaft, die auf eine nicht-klassifizierbare (ethnische) Unsichtbarkeit der jüdischen Minderheit rekurriert, womit auch das verschwörungstheoretische Stereotyp des geheimen Agierens von Jüd*innen und ihres klandestinen Zusammenhaltes korrespondiert. Die Demarkationslinie zwischen »Innen« und »Außen« verläuft dabei zunehmend entlang einer Parteinahme für den Staat Israel, die zu einem imaginierten Gradmesser einer »akzeptablen« jüdischen Differenz wird (Scherr und Schäuble 2007; Pfahl-Traughber 2007a). Zu fragen wäre schließlich: Inwiefern diese dynamische und fluide Gleichzeitigkeit von In- und Exklusion in den Konstruktionsprozessen ethnischer Zugehörigkeit gespiegelt wird? Welche Kategorisierungen dieser überindividuell verfügbaren Sinnschemata werden in den wandelbaren Grenzziehungsprozessen produziert, reproduziert und transformiert? In welcher Wechselwirkung stehen sie mit nationalisierten oder rassialisierten Unterscheidungszeichen in multivariablen Konstruktionsweisen antisemitischer Ausschlüsse?

4 Zur Konzeptualisierung von ethnisierten Narrativen des Antisemitismus

4.4

»Politics of Belonging« – Zugehörigkeitstheoretische Perspektiven auf ethnisierte Differenzkonstruktionen in antisemitischen Grenzziehungsprozessen

Standen bislang strukturelle Überlegungen im Mittelpunkt, die den konstruktiven Charakter von »Ethnizität« und die spezifische, ungleichheitsrelevante Stellung von Jüd*innen in ethnischen Gruppenbildungsprozessen hervorgehoben haben, soll im folgenden Abschnitt die differenzlogische Herstellung von kollektiver Zugehörigkeit als soziale Praxis auf der Makroebene kultureller Aushandlungsprozesse beschrieben werden. Ich übernehme daher, entsprechend der programmatischen Ausrichtung einer intersektionalen Grenzziehungsperspektive auf die kategorialen Wechselwirkungen ethnisierter, rassialisierter und nationenbezogener Grenzziehungen des Antisemitismus, eine zugehörigkeitstheoretische Perspektive (Mecheril und Hoffarth 2009; Mecheril 2003; YuvalDavis 2011; Brubaker 2007; Anthias 2006). Eine zugehörigkeitstheoretischer Analysezugang verspricht dabei gerade deshalb einen analytischen Mehrwert, weil sich die vorliegende Untersuchung für die prozessuale Logik der historisch veränderlichen Herstellungsweisen einer nicht-jüdischen »Eigengruppe« und einer ethnisch markierten jüdischen »Fremdgruppe« interessiert. Zugleich grenzt sich die vorliegende Arbeit damit von der Verwendung eines Identitätsbegriffes ab, um dezidiert die Bedeutungszuweisung und Anerkennung der sozialen Verortung von Jüd*innen durch die diskursive Vermittlung ethnisierter Subjektpositionen betonen zu können. Während im Identitätsbegriff auf die (biographische) Verarbeitung von individueller (Zugehörigkeits-)Erfahrung verwiesen wird, in der das subjektive Gefühl von Identifikation zu einer kohärenten und konsistenten Geschichte verarbeitet wird, reflektiert die Zugehörigkeitsperspektive verstärkt die äußeren, sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontextfaktoren, die eine Positionierung als zugehörig oder nicht-zugehörig bewirken (Mecheril und Hoffarth 2009: 246f.). Ursula Apitzsch (2012) differenziert im Anschluss an Mecheril zwischen einer überwiegend fremdbestimmten, auf zugeschriebenen »inneren« Wesensmerkmalen beruhenden individuellen »Ethnizität« und einer auf subjektiver Erfahrung gründenden individuellen Zugehörigkeit (58f.). Darauf aufbauend konstatiert Apitzsch schließlich: »[E]thnic belongings are mostly not freely chosen« (64). Ähnlich argumentiert Anthias (2008), wenn sie Identität als Frage nach dem »Wer sind wir?« im Gegensatz zum Belonging konzeptualisiert, das auf den reziproken gesellschaftlichen Machtbeziehungen von In- und Exklusion fundiert. Mit anderen Worten: Ohne den kulturellen Bezugsrahmen der auch historisch bedingten sozialen Positioniertheit des »Selbst« gegenüber einem »Anderen« würde die Narrativierung der eigenen Identität – die Artikulation eines Zugehörigkeitsgefühles – lückenhaft bleiben (Huxel 2014: 55). Die Konstruktion der symbolischen Ressource des Belonging zielt darauf ab, »socially produced, situational and contextual relations« zu naturalisieren und sie in »taken for granted, absolute and fixed structures of personal and social life« zu konvertieren (Anthias 2008: 8). Das Moment der Prozessualität verweist zwar auf den kontingenten Charakter kollektiver Identifikationsweisen, deren Erscheinungsformen in symbolischen Kämpfen fortwährend neu gebildet werden, aber der Aspekt ihrer sozialen Naturalisierung zeigt, in Anlehnung an eine Sentenz Norbert Elias’, dass man Identitäten nicht wie Kleider wechseln kann (Elias 1987: 299). So verdichten naturalisierte Gruppenidentitä-

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ten die symbolisch klassifizierten Grenzen zum »Anderen« und legitimieren das Wissen über diese Grenzen als unhinterfragbares Strukturprinzip des sozialen Lebens (Anthias 2002: 277). Zusammengefasst soll mit dem Begriff der Zugehörigkeit also eine der individuellen Identität vorgelagerten Ebene konzeptualisiert werden, auf der die Intersektionen verschiedener Kategorien der Ungleichheit die strategische An- und diskursive Zuweisung von Identifikationsformen prozessual strukturieren und in unterschiedlichen Kontexten mit sich verändernden Bedeutungen belegen (Huxel 2014: 53ff.; Supik 2005: 45ff.). Fragt die vorliegende Arbeit nach Zugehörigkeit, geht es demnach um die Herstellung kollektiver Zugehörigkeiten in ethnisierten Grenzziehungsprozessen des Antisemitismus, genauer, um »die Relation zwischen einem Individuum und einem sozialen Kontext, in dem Praxen und Konzepte der Unterscheidung von ›zugehörig‹ und ›nicht- zugehörig‹ konstitutiv für den Kontext sind« (Mecheril und Hoffarth 2009: 246). Im Ergebnis soll eine variable Perspektive auf ethnisierte Grenzziehungsprozesse entwickelt werden, die aufzeigt, ob und wann »Ethnizität« als Unterscheidungszeichen von Gruppen in der Verwendungspraxis sozialer Akteur*innen »situativ aktiviert und mobilisiert« (Groenemeyer 2003: 16) wird und damit als Wahrnehmungs- und Bewertungskategorie antisemitischer Differenz fungiert. Nira Yuval-Davis (2011), deren mehrdimensionaler Analyserahmen einer »Politics of Belonging« in Ergänzung mit Paul Mecherils (2003) differenz- und machtsensiblen Konzept von Zugehörigkeit und mit Georg Elwerts (1989; 1995; 2001) Modell der »WirGruppen-Prozesse« für die Untersuchung operationalisiert werden soll, definiert Belonging als »dynamic process, not a reified fixity« (12). Die Konstruktionsprozesse von Zugehörigkeit werden dabei durch drei wesentliche Merkmale charakterisiert: 1.) soziale Verortung (social locations), 2.) emotionale Verbundenheit/Identifikation mit Kollektiven/Gruppen (emotional attachement) und 3.) ethische und politische Wertevorstellungen (ethical and political values). 1) Als soziale Verortung definiert Yuval-Davis die soziale Wirksamkeit des intersektionalen Zusammenspieles verschiedener Differenzkategorien wie »Nationalität«, »Ethnizität«, »Klasse« oder »Gender«, die zu einem soziohistorisch kontingenten Zeitpunkt als Positionierung in einer raumzeitlich begrenzten hegemonialen Form von Machtbeziehungen geltungswirksam sind. Übertragen auf das Thema dieser Arbeit lässt sich schlussfolgern, dass die Typisierung als Jüd*in zur Zeit der Jahrhundertwende zwangsläufig andere gesellschaftliche Wirkungsweisen und soziale Effekte hervorgebracht hat als ihre soziale Positionierung in der Gegenwart. Darüber hinaus verweist die soziale Verortung auf die Interrelation verschiedener Kategorien der Ungleichheit in ethnisierten, rassialisierten und nationenbezogenen Antisemitismen: »[W]e are talking about people’s social and economic locations, which at each historical moment would tend to carry with them particular weights in the grids of power relations operating in their society« (Yuval-Davis 2011: 12f.). Erst das Zusammenspiel der Intersektionalität verschiedener Differenzkategorien mit ihrer zeitlichen und räumlichen Eingrenzung konstituiert daher die spezifische Wirksamkeit inkludierender Zugehörigkeitspolitiken (Yuval-Davis, Kannabiran und

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Vieten 2006: 7).14 Ich verwende diesen Aspekt von Zugehörigkeitspolitiken, um die kulturelle Kontextgebundenheit ethnischer Klassifizierungen des Antisemitismus und ihre (dis-)kontinuierlichen Veränderungen im historischen Verlauf erklären zu können. 2) Emotionale Verbundenheit/Identifikation markiert den zweiten, eher auf der Mikroebene subjektiver Zugehörigkeit angesiedelten Aspekt, der von Yuval-Davis eingeführt wird, um die »Politics of Belonging« analysierbar zu machen. Narrative, mit denen Akteur*innen sich selbst, dem »Anderen« und seiner Umwelt Sinn vermitteln, sind immer in das dialogische Beziehungsgeflecht eines Ich im Verhältnis zu einem Nicht-Ich eingebunden (Yuval-Davis 2011: 14, 17). Die personale Identifikation erfolgt dabei häufig über den konstruierten Bezug auf eine gemeinsame Vergangenheit, kollektive Mythen der Herkunft oder eines intersubjektiv geteilten Schicksals. So eröffnen diese Narrativierungen des kollektiven Selbstverständnisses emotionale Bindungspotenziale und konstitutive Ausgrenzungsmechanismen, die in ihrer symbolischen Bedeutung aber umkämpft und wandelbar sind. Um ein Beispiel zu geben: Nach Yuval Davis vermittelt die britische Begeisterung für Cricket, der gewissermaßen als Nationalsport angesehen wird, eine emotionale Bindung an die vorgestellte Gemeinschaft (Anderson 2005) der Briten, die damit zu einem Konstruktionsmechanismus von Zugehörigkeit auf der Ebene kollektiver Identifikationen wird (Yuval-Davis 2011: 22). Dieser Zugang zu narrativen Identitätskonstruktionen eignet sich besonders für die diskursanalytische Perspektive des empirischen Teils dieser Arbeit, in der symbolische Aushandlungen von Zugehörigkeit und Ausschließung durch antisemitische Grenzziehungsprozesse in den Mittelpunkt gestellt werden. 3) Mit den ethischen und politischen Wertevorstellungen erörtert Yuval-Davis ein letztes Merkmal der Zugehörigkeitspolitik, das die Identifikation eines oder mehrerer politischer oder moralischer Wertesysteme als ethnisiertes oder nationalisiertes Zugangskriterium zu einem Kollektiv markiert. So können etwa emanzipatorische Ideologeme wie »Demokratie« oder »Menschenrechte« als Signifikate für Zugehörigkeit fungieren (Yuval-Davis 2011: 21). Diese Äquivalenzierung bestimmter politischer Überzeugungen mit dem kollektiven Selbstverständnis dominanter Gruppen werden in Zugehörigkeitsdiskursen den abwertenden Zuschreibungen von ethnisch als different markierten Gruppen gegenübergestellt, wie es etwa in der herkunftsbezogenen Verknüpfung von Muslim*innen mit Rückständigkeit sichtbar wird. Die ethnische Zugehörigkeit von Jüd*innen respektive die negative Konstruktion von Zugehörigkeitskriterien der »Eigengruppe«, die über die Ausschließung von Jüd*innen erfolgt, findet daher in politischen Prozessen der Grenzziehung statt, deren Legitimität zwischen sozialen Akteur*innen in symbolischen Kämpfen um Anerkennung in einem hegemonial strukturierten Feld ausgehandelt wird (Yuval-Davis 2011: 19f.). Im Anschluss an Elwert (1995) erkennt die vorliegende Arbeit in dem clarity imperative ethnischer Differenz-Konstruktionen, die als symbolisch akzeptierte Codes einen clear marker 14

Yuval-Davis, Kannabiran und Vieten (2006) erklären die räumliche Situiertheit der »Politics of Belonging« am Beispiel der translokal unterschiedlich verteilten Ungleichheitserfahrungen in den Globalisierungsprozessen: »[D]ifferent states and societies are affected in different ways« (7).

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zur Unterscheidung von Gruppen repräsentieren, das Potenzial, die kontingente, d.h. immer nur relative, Stabilisierung wandelbarer »Wir«-Gruppen-Prozesse in antisemitischen Grenzordnungen herzustellen (4).15 Werden ethnisierte Sinnzuschreibungen von habitualisierten sozialen Akteur*innen routinisiert reproduziert, können sie als situativ wirksame Klassifikationsschemata dazu dienen, bestehende Grenzen zu erhalten, ethnisierte Werte, Eigenschaften und Institutionen zu marginalisieren oder als Unterscheidungsmerkmale zu exponieren (ebd.). Kollektive Identitäten bilden sich hierbei im dynamischen Zusammenspiel von drei Faktoren (Elwert 1989; 1995; 2001): »Belongingness«, verstanden als Mitgliedschaft, die eine bestimmte Zahl von Menschen miteinander verbindet; »Self-Information«, ausgedrückt in der Frage danach, »what do people think characterizes themselves?« (Elwert 1995: 6) und »Self-valuation«, festgelegt als relationale Kategorie, die das Prestige und Ansehen der Eigengruppe in ein Verhältnis zu »Fremdgruppen« setzt (Elwert 1995: 5f.) und danach fragt, »was sie in den Augen anderer charakterisiert« (Elwert 2001: 128). Für die Analyse des antisemitischen Einund Ausschlusses ist dabei das Auftauchen sogenannter »polytactic identities« (ebd.; siehe auch Elwert 2001: 136) in der Sphäre von Gruppenformationen relevant, insofern sich verschiedene Subjektpositionen oder Identitäten überlagern, also Mehrdeutigkeiten aufweisen können. Im Fall der, auch als Resultat historischer Praxen systematischer Ausgrenzung zu lesenden, hybriden Identifikationsweisen von Jüd*innen in der Diaspora (Pokrzywa 2014) können diese Polysemien als diskursiver Bestandteil des wiederkehrenden antisemitischen Topos der Wurzellosigkeit und Illoyalität gegenüber ethnisch homogen konstruierten Kollektiven konstatiert und daher auch als Analysekategorien konzeptualisiert werden. Zuletzt können mit Paul Mecherils aus der Migrationssoziologie stammendem, strikt relationalem Konzept der natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnung (Mecheril 2003; Mecheril und Hoffarth 2006; Mecheril, Thomas-Olalde, et al. 2016) die vielfältigen Überlagerungen und variablen Unterscheidungsformen dieser symbolischen Differenzordnungen in den Blick genommen werden. Ich verwende das Modell der natioethno-kulturellen Zugehörigkeit als Bestandteil der Theoriesynthese der Taxonomie, insofern es sich in die intersektionale Grenzziehungsperspektive einfügt und insbesondere die Wechselwirkungen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Kategorisierungen in den interaktionalen Aushandlungen soziokultureller Grenzziehungen betont. (Mecheril, Thomas-Olalde et al. 2016) So spiegelt die Vagheit des Begriffes einerseits die in Forschung und Alltag häufig diffuse Verwendung der Konzepte von »Nation«, »Ethnizität« und »Kultur« wider. Andererseits zeigt sich diese Vagheit darüber hinaus analytisch offen für das mutual shaping von Praxiskategorien der Differenz in der gesellschaftlich anerkannten Anordnung von Zugehörigkeit, etwa durch Formen der Rassialisierung oder der Klassifikationen des religiösen »Anderen« (Mecheril, Thomas-Olalde et al. 2016: 24f.). So definieren Mecheril, Thomas-Olalde et al. (2016) die symbolische Ordnung von Zughörigkeit folgendermaßen: 15

Nach Elwert markiert das fluide Moment des switching in Gruppenformationsprozessen die Kontingenz primordialer Gewissheiten über die eigene Herkunft und Zugehörigkeit: »Groups and individuals may belong to different reference groups simultaneously« (1995: 5).

4 Zur Konzeptualisierung von ethnisierten Narrativen des Antisemitismus

Natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnungen beziehen sich auf und erzeugen hochgradig komplexe, größtenteils anonyme, historisch gewachsene, politisch verfasste, normativ strukturierte, von Kämpfen um die Inhalte und Richtungen sozialer Ordnung geprägte, symbolische und durch Kommunikation begrenzte, geographische Referenzen aufweisende, Individuen als »Ganzheit« ansprechende und deshalb hohe identitäre Relevanz besitzende, intersubjektiv hergestellte und auch imaginierter Kontexte. (26) Das Konstruktionsfeld natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit und ihrer Beglaubigung kann nach Mecheril in drei qualitativ-analytische Elemente der Realisierung von Zugehörigkeitskontexten differenziert werden. Die unterschiedlichen Elemente von Zugehörigkeitskontexten versuchen dabei annäherungsweise, idealtypische Zusammenhänge darzustellen, in denen »sich Individuen als Gleiche unter Gleichen erfahren, in denen sie Handlungsmächtigkeit entwickeln und einbringen und denen sie schließlich verbunden sein können« (Mecheril 2003: 25). Das erste Element ist die Mitgliedschaft als symbolische Festlegung von Kriterien, die das »[Z]ugehörige« der »unbestimmten Wir-Einheit« (Mecheril, Thomas-Olalde et al. 2016: 26) einer dominanten Gruppe durch die Selbst- und Fremdidentifikation von bedeutungskonstituierenden Merkmalen des Gleich- und Ungleichartigen herstellt. Sich selbst zu erkennen und von anderen Mitgliedern der »Eigengruppe« als symbolischer Teil des Kollektivs anerkannt zu werden, ermöglicht auf formeller und informeller Ebene die identifikatorische Selbstverortung des Einzelnen (Mecheril 2003: 144). Zweitens zeigt habituelle Wirksamkeit das Selbstverständliche des zwar sozial hervorgebrachten, aber internalisierten und kulturell sedimentierten Wissens über die legitime Zugehörigkeit des Einzelnen im Raum von Zugehörigkeitskontexten. Hier werden die Grenzen und Potenziale des Handelns für kulturell prädisponierte Akteur*innen in dem Handlungsraum natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit festgelegt. Seinen »alltagsweltlichen Sinn« gewinnt das Konzept fragloser Mitgliedschaft dadurch, »dass bestimmte Formen von Partizipation und Praxis zugestanden, andere verhindert werden« (Mecheril 2003: 161). Drittens stellt Verbundenheit ein biographisierendes und zeitliches Element der »Subjekt-Kontext-Relationierungen« (Schwendowius 2015: 109) dar, in denen die subjektive Lebensgeschichte mit einem spezifischen Zugehörigkeitskontext narrativ verwoben wird. »Natio-ethno-kulturelle Verbundenheit einer Person bringt zum Ausdruck, dass sie sich auf den Zugehörigkeitskontext eingelassen hat und dass sie in den Zugehörigkeitskontext gewissermaßen eingelassen wurde« (Mecheril und Hoffarth 2009: 251). Dieser Aspekt wird aufgrund seiner subjektorientierten Ausrichtung für die Untersuchung gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse von Grenzziehungen außen vorgelassen. Weil symbolische Klassifikationen der Zugehörigkeit »Ordnungen hegemonialer Differenz« (Mecheril und Hoffarth 2009: 246) hervorbringen, in denen das Gemeinsame der »Wir«-Einheit nur im Gegensatz zu der Fremdpositionierung des »Anderen« als selbstverständlich, normal und unhinterfragbar wirken kann, rekurrieren die Gruppenformationsprozesse auf Machtverhältnisse (Mecheril und Hoffarth 2009: 252ff.), die dem Einzelnen einen legitimen Platz im sozialen Raum zuweisen. Als strukturierendes und strukturiertes Prinzip operieren in Zugehörigkeitsordnungen Mechanismen der Bindung, Disziplinierung und Habitualisierung (Mecheril und Hoffarth 2009: 252;

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Mecheril, Thomas-Olalde et al. 2016: 26). Habitualisiertes Wissen über Zugehörigkeiten reproduziert daher soziale »Dominanzzusammenhänge« (Mecheril, Thomas-Olalde et al. 2016: 26) durch die symbolische Klassifikationen, die das »Eigene« von dem »Fremden« trennen, in einer hierarchischen Beziehung zueinander organsiert werden. Mit der Konstruktion von Zugehörigkeit gehen in der Folge bestimmte politische und kulturelle Privilegien einher, die ungleichheitsrelevant wirken (Mecheril und Hoffarth 2009: 252; Mecheril, Thomas-Olalde et al. 2016: 26). Zuletzt zwingen die binären Strukturen des in Zugehörigkeitsordnungen angelegten Wissens die Subjekte dazu, sich in den Grenzen dieser soziokulturellen Ordnungen von In- und Exklusion zu positionieren, zu verstehen und darzustellen (Mecheril und Hoffarth 2009: 252f.; Mecheril, Thomas-Olalde et al. 2016: 26f.). Eignen sich Subjekte, die sich der dichotomen Unterscheidungslogik von zugehörig und nicht-zugehörig widersetzen – als Prototyp dieser ambivalenten Klassifizierungen wurde die antisemitische Kategorisierung von Jüd*innen als »Fremde« dargestellt – dennoch Subjektpositionen an, die sie als zugehörigen Teil der Mehrheitsgesellschaft auszeichnen, wird die vorgenommene Positionierung aufgrund ihres hybriden Status (Hall 1994b: 218-222) als mehrfach-zugehörige16 häufig zurückgewiesen, delegitimiert und abgewertet (Schwendowius 2015: 101). Antisemitismustheoretisch lässt sich der Vorwurf einer Separation als Umkehrung von Schuld interpretieren. Demzufolge führen nicht die Praxen antisemitischer Ausschließung zur Aussonderung, sondern die ethnisierte Repräsentation eines klandestinen, grenzübergreifenden Zusammenhaltes der jüdischen »Fremdgruppe« resultiert in ihrer Separation (Zick und Küppers 2011: 12f.), die in wandelbaren kulturellen Kontexten aktualisierte und veränderte Zuschreibungen des »Jüdischen« hervorbringt. Mit dem für die Untersuchung antisemitischer Grenzziehungsprozesse relevanten multidimensionalen und -variablen zugehörigkeitstheoretischen Analyserahmen wird daher nicht nach den ethnischen Gruppenbeziehungen zwischen den hier als Repräsentant*innen einer Etablierten-Konfiguration gewählten »Deutschen« und den »Juden« gefragt. Im Zentrum der Betrachtung steht viel mehr, wie diese interrelationalen Zugehörigkeitskategorien in der Verwendungspraxis sozialer Akteur*innen (categories of practice) ausgehandelt, angeeignet und politisch relevant werden, um soziokulturelle Grenzen vorläufig zu stabilisieren oder subjektive Handlungswirksamkeit für als unhinterfragbar scheinende Sinnschemata zu erlangen. Wie werden »Wir«-Unterscheidungen im Zugehörigkeitskontext antisemitischer Grenzziehungen getroffen? Auf welchen ethnisierten Unterscheidungsmerkmalen beruht das Zugehörigkeitsgefühl der »Wir«-Gruppe? Ist es eher durchlässig oder zeigt es sich

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Mecheril und Hoffarth schreiben über die Mehrdeutigkeit von Mehrfachzugehörigkeiten: »Natio-ethno-kulturell Mehrfachzugehörige sind die im Prinzip Unentscheidbaren, sie sind doppeltes Mitglied, doppelt wirksam und doppelt verbunden, doppeltes Nicht-Mitglied, doppelt nichtwirksam und doppelt unverbunden« (2009: 256). Hierbei soll es jedoch nicht darum gehen, die pluralen Zugehörigkeitskontexte von Jüd*innen zu dechiffrieren oder auf eine widersprüchliche Art und Weise das Narrativ der »jüdischen Unbestimmtheit in den Diskurs zu re-integrieren, sondern es gilt, die diskursiven Praktiken der Fremdzuschreibung in antisemitischen Grenzziehungen in den Blick zu nehmen, durch die Jüd*innen entlang historisch wandelbarer Zugehörigkeitsordnungen als mehrfach- und damit auch nicht-zugehörig markiert wurden und werden.

4 Zur Konzeptualisierung von ethnisierten Narrativen des Antisemitismus

sozial geschlossen? Wie wird der jüdische »Fremde« in Diskursen über Zugehörigkeit positioniert? Wie artikuliert sich die Anrufung des jüdischen »Anders-sein«? Wurde im vorangegangenen Abschnitt auf die Konstruktionsweisen von Zusammengehörigkeit oder Zugehörigkeit in ethnisierten Grenzziehungsprozessen des Antisemitismus aufmerksam gemacht, die in der relationalen Ausrichtung der Taxonomie eine besondere Rolle einnehmen, steht nun mit »Religion« ein für antisemitische Klassifikationsprozesse besonderes Klassifikationsmuster ethnisierter Grenzziehungen im Mittelpunkt der Betrachtung.

4.5

»Säkularität«, »Antijudaismus« und »muslimischer Antisemitismus« – Ethno-religiöse Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen

Wie bereits zuvor erwähnt, wird Religiosität in der vorliegenden Arbeit als Analysekategorie eines spezifisches Klassifikationsrepertoires des jüdischen »Fremden« in ethnisierten Grenzziehungsprozessen verstanden. Ich möchte diesen bislang noch unberücksichtigten Zusammenhang mit Blick auf die Beziehung des Abgrenzungsmerkmals Religion zur Strukturkategorie »Ethnizität« und seiner Bedeutung für die Konstruktion kollektiver Identitäten abschließend eruieren. Nach Wimmer (2013: 8) kann »Religion« als Subtyp von »Ethnizität« verstanden werden, insofern religiöse Codes und Sinnschemata den ethnisierten Glauben an eine gemeinsam geteilte »Kultur« und »Herkunft« substantiieren.17 (Brubaker 2012) Auch Mitchell (2006: 1135) weist darauf hin, dass die religiös vermittelte Identität von Subjektpositionen als Basis kultureller und ethno-nationaler Differenzen fungieren kann. Mehr noch gelten religiöse Symbole, Rituale oder Organisationen als »fabric of ethnic identity« (Mitchell 2006: 1137), da sie dem gemeinsam geteilten ethnischen Abstammungsglauben eine sakrale Dimension vermitteln und darauf aufbauend eine machtvolle Inklusionsressource darstellen (ebd.: 1140). So kann »Religion« allgemein als Mechanismus der Herstellung kollektiver Identifikationen definiert werden, der über die Verwendung religiöser Symbole, Werte, Sprache oder Traditionen sowie Rituale und Ideen ein »Innen« und »Außen« sozialer Gruppen markiert (Lichterman 2008: 83; Mitchell 2006: 1145): »[G]roups use »Religion« to help ›map‹ their place in the civic arena« (Lichterman 2008: 84). Allerdings ist die Selbstdefinition sozialer Akteur*innen durch religiöse Repräsentationen in symbolischen Aushandlungen von Gruppengrenzen nicht mit Religiosität im engeren Sinne, d.h. praktizierter Religiosität in Form regelmäßiger Partizipation in entsprechenden Institutionen oder an rituellen Praktiken gleichzusetzen. »Religion« als Distinktionsmerkmal meint viel mehr die symbolische Identifikation mit einem religiösen Erbe (Mitchell 2006: 1139), die von Gans als symbolic religiosity (1994) und von Demerath als cultural religion (2000) beschrieben

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»Religion« ist nach Rogers Brubaker (2012: 5f.) dem generalisierbaren Phänomen der »politicized ethnicity« zuzuordnen. Als politisierte Ethnizität werden demzufolge Forderungen und Ansprüche auf politische Repräsentation und Partizipation, ökonomische Ressourcen und ihre Verteilung, institutionelle (Autonomie-)Rechte oder symbolische Anerkennung auf der Basis einer ethno-kulturellen Identifikation (»Ethnizität«, »Religion«, »Nationalität«) definiert.

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4 Zur Konzeptualisierung von ethnisierten Narrativen des Antisemitismus

sozial geschlossen? Wie wird der jüdische »Fremde« in Diskursen über Zugehörigkeit positioniert? Wie artikuliert sich die Anrufung des jüdischen »Anders-sein«? Wurde im vorangegangenen Abschnitt auf die Konstruktionsweisen von Zusammengehörigkeit oder Zugehörigkeit in ethnisierten Grenzziehungsprozessen des Antisemitismus aufmerksam gemacht, die in der relationalen Ausrichtung der Taxonomie eine besondere Rolle einnehmen, steht nun mit »Religion« ein für antisemitische Klassifikationsprozesse besonderes Klassifikationsmuster ethnisierter Grenzziehungen im Mittelpunkt der Betrachtung.

4.5

»Säkularität«, »Antijudaismus« und »muslimischer Antisemitismus« – Ethno-religiöse Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen

Wie bereits zuvor erwähnt, wird Religiosität in der vorliegenden Arbeit als Analysekategorie eines spezifisches Klassifikationsrepertoires des jüdischen »Fremden« in ethnisierten Grenzziehungsprozessen verstanden. Ich möchte diesen bislang noch unberücksichtigten Zusammenhang mit Blick auf die Beziehung des Abgrenzungsmerkmals Religion zur Strukturkategorie »Ethnizität« und seiner Bedeutung für die Konstruktion kollektiver Identitäten abschließend eruieren. Nach Wimmer (2013: 8) kann »Religion« als Subtyp von »Ethnizität« verstanden werden, insofern religiöse Codes und Sinnschemata den ethnisierten Glauben an eine gemeinsam geteilte »Kultur« und »Herkunft« substantiieren.17 (Brubaker 2012) Auch Mitchell (2006: 1135) weist darauf hin, dass die religiös vermittelte Identität von Subjektpositionen als Basis kultureller und ethno-nationaler Differenzen fungieren kann. Mehr noch gelten religiöse Symbole, Rituale oder Organisationen als »fabric of ethnic identity« (Mitchell 2006: 1137), da sie dem gemeinsam geteilten ethnischen Abstammungsglauben eine sakrale Dimension vermitteln und darauf aufbauend eine machtvolle Inklusionsressource darstellen (ebd.: 1140). So kann »Religion« allgemein als Mechanismus der Herstellung kollektiver Identifikationen definiert werden, der über die Verwendung religiöser Symbole, Werte, Sprache oder Traditionen sowie Rituale und Ideen ein »Innen« und »Außen« sozialer Gruppen markiert (Lichterman 2008: 83; Mitchell 2006: 1145): »[G]roups use »Religion« to help ›map‹ their place in the civic arena« (Lichterman 2008: 84). Allerdings ist die Selbstdefinition sozialer Akteur*innen durch religiöse Repräsentationen in symbolischen Aushandlungen von Gruppengrenzen nicht mit Religiosität im engeren Sinne, d.h. praktizierter Religiosität in Form regelmäßiger Partizipation in entsprechenden Institutionen oder an rituellen Praktiken gleichzusetzen. »Religion« als Distinktionsmerkmal meint viel mehr die symbolische Identifikation mit einem religiösen Erbe (Mitchell 2006: 1139), die von Gans als symbolic religiosity (1994) und von Demerath als cultural religion (2000) beschrieben

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»Religion« ist nach Rogers Brubaker (2012: 5f.) dem generalisierbaren Phänomen der »politicized ethnicity« zuzuordnen. Als politisierte Ethnizität werden demzufolge Forderungen und Ansprüche auf politische Repräsentation und Partizipation, ökonomische Ressourcen und ihre Verteilung, institutionelle (Autonomie-)Rechte oder symbolische Anerkennung auf der Basis einer ethno-kulturellen Identifikation (»Ethnizität«, »Religion«, »Nationalität«) definiert.

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

wird Ohne die Bezugnahme auf »Religion« als ethnisierten Differenzmarker bleibt die ethnisierte Herstellung soziokultureller Grenzen des Antisemitismus notwendig unzureichend, wirken in antisemitischen Repräsentationsregime doch häufig auch religiös stimulierte Artikulationsmuster. Im Hinblick auf »Religion« als Klassifikationsmuster ethnisierter Grenzziehungen möchte ich religiös geprägte Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien antisemitischer Klassifikationsrepertoires in dreierlei Hinsicht diskutieren: Erstens soll die Delegitimierung religiöser Praktiken vor dem kulturellen Hintergrund wirkmächtiger (westlicher) Säkularisierungsdiskurse betrachtet werden. Zweitens sollen klassische Topoi antisemitischer Differenzkonstruktion eines »christlichen Antijudaismus« reflektiert werden und drittens werden Klassifikationsstrategien eines sogenannten muslimischen Antisemitismus in das Zentrum der Betrachtung rücken. Durch die Vielfalt der im Folgenden operationalisierten Analysekategorien soll daher auch die Vielschichtigkeit antisemitischer Klassifizierungen reflektiert werden, die die lokal-historisch spezifische Legitimität ethnischer Teilungsprinzipien etwa durch antijudaistische, islamische oder säkularisierte Differenzkategorien begründen kann. In ethnisierten Grenzziehungsprozessen lassen sich Diskurse der Säkularität18 als amibivalente Modi der soziokulturellen Ausschließung religiös markierter Gruppen begreifen. Diesen Diskursen liegen als Zugehörigkeitskriterien eine Unterscheidung zwischen den Sphären legitimer religiöser Privatheit und illegitimen religiösen Ausdrucksformen im öffentlichen Raum zugrunde (Spohn 2016; Amir-Moazami 2016; 2018; Asad 2003). Inwiefern (un-/sichtbare) religiöse Zugehörigkeiten durch Säkularitätsdiskurse stigmatisiert und abgewertet werden, kann durch die analytische Unterscheidung zwischen einem Verständnis von Säkularität als Regierungsprinzip und »Säkularität« als Wertvorstellung, die ethnisierte Ungleichheiten legitimiert, herausgestellt werden. Als spezifisch (westliches) Regierungs- und Staatsprinzip stellt der Säkularismus eine normative Ordnungskategorie dar, die als zwingende Voraussetzung für die staatliche Garantie demokratischer und auch religiöser Rechte und ihrer freiheitlichen Wertprinzipien verstanden wird (Spohn 2016: 241ff.). Als Ideologie einer liberal-säkularen Matrix (Amir-Moazami 2016: 22) hingegen repräsentiert »Säkularität« eine Machttechnik der Über- und Unterordnung, die sich entlang der Frage nach zulässiger und unzulässiger Religiosität ausagiert. Ihre Widersprüchlichkeit liegt nun darin begründet, dass die Trennung zwischen den Sphären eines säkularen Staates und einer religionsneutralen politischen Öffentlichkeit einerseits sowie des Religiösen andererseits auf einem ambivalenten Akt der dynamischen Grenzziehung beruht, wodurch spezifisch religiöse Prägungen des säkularen (christlichen) Staates unmarkiert bleiben (Amir-Moazami 2016: 31ff.). Daran anschließend werden Zughörigkeitskonstruktionen einer natio-ethno-kulturellen »Wir«-Einheit sichtbar, die sich

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An dieser Stelle werden Liberalität und Säkularität nicht als Konzepte infrage gestellt, die dem Einzelnen grundlegende, auch anti-religiöse Freiheitsrechte garantieren, sondern als Praxiskategorien in Grenzziehungsprozessen betrachtet. Aufklärung, Liberalismus und Säkularität sind als weltanschauliche Systeme dialektisch durchdrungen, indem sie einerseits (individuelle und kollektive) Freiheiten legitimieren, andererseits aber auch als kulturelle Begründungsmuster für soziale Ausschließung betrachtet werden müssen. (Fine 2011; 2016; speziell mit Blick auf den Antisemitismus: Adorno und Horkheimer 2008)

4 Zur Konzeptualisierung von ethnisierten Narrativen des Antisemitismus

entlang der historisch wandelbaren Unterscheidungslinie eines säkularen »Innen« und eines als »gefährlich«, »irrational« und »rückständig« markiertes »Außen« formieren. Diese ambivalente Grenzmarkierung zwischen legitimer und illegitimer Religiosität macht die sozial strukturierende Wirkung der freiheitlich-säkularen Matrix auf der analytischen Ebene für die Untersuchung antisemitischer Grenzziehungen fruchtbar. So lassen sich schließlich öffentliche Aushandlungen über rituelle Knabenbeschneidungen oder über die Schächtung, das religiös begründete Schlachten von Tieren, als Analysekategorien ethno-religiöser Grenzziehungsprozesse ausmachen, in denen jüdisch-religiöse Praktiken, Speisevorschriften und Rituale als »archaisch« und »fremd« klassifiziert werden (Ionescu 2018; Hödl und Lamprecht 2005: 154ff.; Moerdler 2017: 1303ff.). Als tradierte Symbole und Chiffren ethno-religiöser Grenzziehungen des Antisemitismus gelten allgemein die Topoi des »christlichen Antijudaismus«, die als sedimentierte Bedeutungskomplexe tief in den imaginären Vorstellungshorizont des Antisemitismus eingelassen sind und religionsbezogene antisemitische Ausschließungen oftmals beeinflussen (Heil 1997; Kampling 2010; Benz 2004; Schoeps und Schlör 1999). Insbesondere wird der christlich geprägten Judenfeindschaft die Funktion einer »Ausgangsbasis« (Schoeps und Schlör 1999: 11) für eine Vielzahl tradierter antisemitischer Stereotype zugewiesen. So stellt dieses, auf christlich-religiösen Motiven beruhendes antisemitisches, Wissen die temporäre Fixierung der Bedeutung einer symbolischen Differenz zwischen einer nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft und Jüd*innen als das »Fremde« sowie »Andere« her. Für ihre diskursive Verarbeitung in ethnisierten Grenzziehungsprozessen stehen dabei antisemitische Mythen und Verschwörungstheorien der Ritualmordlegende (Erb 1999; Biale 2007) sowie des Hostienfrevels (von Braun 1999; Blum 2010b), der Brunnenvergiftung (Benz 2004: 75ff.) oder auch der Repräsentation jüdischer »Gottesmörder« (Grözinger 1999; Blum 2010a), die sich als anpassungsfähige Praxiskategorien in kontingenten Sinnzusammenhängen konzeptualisieren lassen.19 Gleichermaßen sind diese Stereotype der Judenfeindschaft auch im Hinblick auf historiographische Fragestellungen, etwa über die gewaltvolle Geschichte der Jüd*innen im Mittelalter, von besonderem Interesse (Benz 2004: 17-41). Einerseits haben sich die zunächst religiös begründeten Mythen über das vermeintlich »grausame« und »bösartige« Wesen von Jüd*innen dabei in vielerlei Hinsicht säkularisiert (Dittmar 1999: 52). Antijudaistische Topoi haben sich infolgedessen an veränderte soziohistorische Kontextbedingungen oder soziale Räume, hier sei etwa insbesondere an die Verbreitung antisemitischer Verschwörungstheorien und Ritualmordlegenden im Nahen und Mittleren Osten gedacht (Holz und Kiefer 2010), angepasst. 19

Gleichzeitig stellen diese Phantasmagorien eines religiös begründeten Antagonismus zwischen Christ*innen und Jüd*innen ein Deutungsreservoire mit abrufbarem Wissen über das »Wesen« von Jüd*innen dar, das Kontinuität und Langlebigkeit kultureller Codes des Antisemitismus erklären kann. So aktualisieren und reproduzieren sich traditionelle antijudaistische Stereotype als kulturelle Codes in modernisierten Erscheinungsformen des Antisemitismus. Beispielsweise bilden Tropen antijudaistischer Imaginationen jüdischer Überlegenheit, sichtbar etwa in der Positionierung von Jüd*innen als machtvolle Christusmörder, den Grundstock für Klassifikationsrepertoires des modernen (europäischen) Antisemitismus und einer seiner wesentlichen Phantasmagorien der jüdischen Weltverschwörung (Küntzel 2004: 277).

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Andererseits existiert der »christliche Antijudaismus« auch weiterhin als eigenständige Form einer ethnisierten Abwertungs- und Zuschreibungspraxis (Benz 2007: 55). Auf der anderen Seite lässt sich zunehmend die, vor allem in rechtspopulistischen Kreisen verbreitete, Artikulation eines symbolisch-inklusiven »jüdisch-christlichen« Erbes oder »jüdisch-christliche« Tradition Europas in öffentlichen Diskursen beobachten, die auf soziohistorische Diskontinuitäten in den sozialen Konstruktionsprozessen antisemitischer Grenzziehungen hindeuten (Virchow 2017: 152; Benz 2014). Darüber hinaus können zunehmend auch Konstruktionsmechanismen ethnoreligiöser Grenzziehungen beobachtet werden, die, häufig auch unter diffuser symbolischer Bezugnahme auf islamische Codes und Repräsentationen, Jüd*innen pejorativ abwerten und im Zusammenhang mit mehrheitlich muslimisch geprägten Gesellschaften oder europäischen Migrationsgesellschaften mit muslimischen Minderheiten eine bedeutende Rolle spielen. In der Forschung werden diese Artikulationsweisen als »muslimische«, »islamisierte« oder auch »islamistische« Antisemitismen bezeichnet (Salzborn 2018; Jikeli 2015; 2018; Kiefer 2010; Holz und Kiefer 2010; Wistrich 2011), weshalb sie auf der Ebene von Analysekategorien als potenzielle Grenzziehungsstrategien ethnisierter Antisemitismen reflektiert werden. So können sich Bedeutungskomplexe eines »islamischen Antisemitismus« auch in Form tradierter Vorstellungen einer religiös begründeten Judenfeindschaft und antijüdischer Lesart des Korans artikulieren (Jikeli 2018; Pfahl-Traughber 2007a: 5; Kressel 2003; Jaspal 2014: 33-37). Im Zentrum dieser Klassifikationsstrategien stehen dabei manichäische Freund-/Feind-Konstruktionen, die sich als symbolische »muslimische« Identitätskonstruktionen in Herstellungsweisen ethno-religiöser Grenzziehungen des Antisemitismus definieren lassen und von einer, typisch antisemitischen Deutungsweisen, unaufhebbaren Feindschaft zwischen Jüd*innen und Muslim*innen ausgehen. Religiös legitimierte Abwertungen von Jüd*innen gehen von einem inferioren Status der Jüd*innen aus (Schmidinger 2008: 115f.). Darauf begründen sich Zuschreibungen, die Jüd*innen vorwerfen, die heiligen Schriften des Korans zu verfälschen (Jikeli 2017: 21f.) oder sie mit symbolische Tiermetaphoriken, etwa mit »Affen« und »Schweinen« (Kressel 2012), zu verunglimpfen.20 Am Beispiel antisemitischer Grenzziehungsstrategien eines »muslimischen Antisemitismus« lässt sich gleichwohl besonders anschaulich die kontingente Funktionsweise der Chiffre »Jude« als einen bedeutungsentleerten Signifikanten zeigen (von Braun 1994: 23), dessen vieldeutige Symbolfunktion gerade in seiner kulturellen Anpassungsfähigkeit besteht und der sich in den vielschichtigen Formen seiner, häufig auch disparaten, Bedeutungszuweisung in lokal-historisch spezifischen Kontexten rekonstruieren lässt. 20

Genuin »islamisch« meint hierbei keine Gleichsetzung von Koran und Judenhass oder die ihrerseits ethnische Essentialisierung eines »muslimischen« Antisemitismus sui generis. Vielmehr wird ein »islamischer« Antisemitismus, entsprechend der theoretischen Grundlegung dieser Arbeit, als ethno-religiöse Klassifikationsstrategie verstanden, die in relationalen Prozessen der Selbstidentifikation und Fremdzuschreibung religiöse Codes, Symbole und Zugehörigkeiten verwendet, um Jüd*innen kategorial abzuwerten und auszugrenzen. Gleichwohl gilt es dabei mit zu reflektieren, dass sich Diskurse über einen »muslimischen Antisemitismus« in einem problematischen Spannungsfeld bewegen, insofern sie gleichermaßen Abwertungs- und Entlastungsdiskurse eines »Antisemitismus der Anderen« und darin enthaltene, exkludierende Zuschreibungen reproduzieren, die Muslim*innen als »fremd« und »anders« markieren (Cheema 2017; Brumlik 2016).

4 Zur Konzeptualisierung von ethnisierten Narrativen des Antisemitismus

So können sich in Klassifikationsprozessen eines »muslimischen Antisemitismus« ethno-religiös definierte Zugehörigkeitskonstruktionen, die symbolisch auf muslimischen Selbstidentifikationen, Narrativen oder traditionellen Vorstellungen beruhen, mit antimodernen Stereotypen des (europäischen) Rassenantisemitismus über räumliche Grenzen hinweg fluide verschränken. Diese, zu der primordialen Askription jüdischer Inferiorität widersprüchlichen, Mechanismen der Fremdkategorisierung von Jüd*innen verdeutlichen das variable Zusammenspiel sozialer Differenzierungslinien des Antisemitismus, insofern die Wahrnehmung einer fundamentalen Gegnerschaft zwischen einer religiös legitimierten muslimischen »Gemeinschaft« gegenüber den jüdischen »Anderen« auf dem rassialisierten Glauben an eine wesenhafte »jüdische Übermacht« beruht. Durch diese imaginierte Bedrohungsinszenierung reproduzieren sich letztlich die diffundierenden Qualitäten der stereotypen Welterklärungsfunktion des modernen (europäischen) Antisemitismus entlang kategorialer Distinktionen ethnoreligiöser Identifikationsmerkmale und Selbstbeschreibungen. Als Analysekategorien erscheinen in diesem Zusammenhang verschwörungstheoretische Personifikationen von Jüd*innen mit den als negativ empfundenen Begleiterscheinungen kultureller, ökonomischer, politischer und gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse symbolisch bedeutsam, die im muslimischen Kontext vor allem durch den »Westen« repräsentiert werden (Holz 2005; Schmidinger 2008; Marz 2014). Eine besondere Stellung lässt sich im Hinblick auf Klassifikationsstrategien eines »muslimischen Antisemitismus« für die Bezugnahme auf den »jüdischen« Staat Israel feststellen, der hier als kollektiv geteiltes (nationalisiertes) Feindbild einer homogenisierten, ethno-religiös definierten Personengruppe der »Muslime« fungiert (Rosenfeld 2013: 5ff.; Taguieff 2004; Kiefer 2002; Küntzel 2002).21 In diesen islamisierten Grenzziehungsprozessen wird die jüdische Nation als »Fremdkörper« und »Anomalie« im Nahen Osten stigmatisiert, wobei »Palästina« als »muslimischer« Boden zu einem genealogisch-territorialen Symbol ethnisiert-muslimischer Gruppenzugehörigkeit avanciert (Jaspal 2014: 241). Zudem übernehmen die Signifikanten »Zionismus« oder die »Zionisten« die Funktion eines nationalisierten Codes für die zugeschriebene, weltumspannende Macht der »Juden«. Mit dem Code »Zionismus« für »Jude« aktualisiert sich schließlich die verschwörungstheoretische Welterklärungsfunktion antisemitischer Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster durch den camouflierenden Bezug auf den jüdischen Nationalismus (J. Müller 2006; 2007; Salzborn 2013). Auch hier gilt, dass die Deutungstropen eines »muslimischen Antisemitismus«, die als Analysekategorien herausgearbeitet wurden, keine unveränderlichen oder statischen Differenzsetzungen darstellen, sondern sich in interpretativen Zuschreibungsakten der sozialen Welt durch soziale Akteur*innen in diskontinuierlicher Form an veränderliche kulturelle Kontexte anpassen und unterschiedlich gedeutet werden können. Nachdem ich zuvor ethnisierte Zugehörigkeitskonstruktionen und Unterscheidungslinien entlang religionsbezogener Distinktions- und Identifikationsmerkmale

21

Das Klassifikationsrepertoire israelbezogener Antisemitismen lässt sich freilich nicht auf seine islamisierte Artikulationsform beschränken, sondern stellt ein allgemeines gesellschaftliches Phänomen antisemitischer Klassifikationsweisen dar und wird als Analysekategorie nationenbezogener Grenzziehungen des Antisemitismus Gegenstand des Kapitels 5.3 sein.

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diskutiert habe, sollen ethnisierte Grenzziehungsprozesse vor dem Hintergrund von situationaler Aktivierung und struktureller Gebundenheit im nächsten Kapitel diskutiert werden. Im Zentrum steht dabei die ungleichheitsrelevante Funktionslogik von ethnischen Grenzziehungen und ihrer prozessualen (Re-)Produktionsmechanismen in den symbolischen Kämpfen sozialer Akteur*innen.

4.6

Doing Ethnicity – »Ethnizität« als Struktur- und Prozesskategorie

Im Folgenden wird »Ethnizität« als Struktur- und als Prozesskategorie bestimmt und als theoretische Verortung für die Ausarbeitung der Taxonomie soziokultureller Grenzziehungen des Antisemitismus verwendet. Diese geschieht vor dem Hintergrund der theoretisch elaborierten, prozessualen Ausrichtung der intersektionalen Grenzziehungsperspektive auf die hierarchisierende Herstellung sozialer Differenzlinien, die multiple Ungleichheiten herstellen. Damit soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass ethnisierte Klassifizierungen von Jüd*innen einerseits ungleichheitsstiftend wirken, ihre wandelbaren kulturellen Klassifikationen aber andererseits erst durch die interaktionalen Aushandlungen sozialer Akteur*innen vorläufige, d.h. zeitlich und räumlich begrenzte, Stabilisierungen sozialer Grenzen hervorbringen können. Die stratifizierende Wirkung ethnischer Kategorisierungen und der daraus resultierenden Strukturen der Ungleichheit lässt es sinnvoll erscheinen, ähnlich wie es bereits für das soziale Ordnungsmuster »Rasse« festgehalten wurde, »Ethnizität« als gesellschaftliche Strukturkategorie zu begreifen (Hall 1994d; H. Lutz 2008) und damit auch ethnisierte Formen der Zugehörigkeit sowie ethnisierte Grenzziehungen als institutionelle und sozialstrukturelle Ordnungsprinzipien zu definieren (Scherschel 2006; 2008; 2010, Neckel und Sutterlüty 2008; 2010). Ich bezeichne »Ethnizität« als Strukturkategorie, um im Hinblick auf die Konzeptualisierung einer Taxonomie auf die ungleichheitsrelevante Machtdimension antisemitischer Grenzziehungen aufmerksam zu machen. Um die dieser Arbeit zugrundeliegende, an Bourdieu geschulte, Perspektive noch einmal zu wiederholen: Mit ethnisierten Klassifikationsmustern werden also raumzeitlich gebundene Machtbeziehungen durch gesellschaftliche Über- und Unterordnungen produziert, die den Subjekten Orientierung im sozialen Raum vermitteln und soziale Ungleichheiten interpretier- und erklärbar machen (Neckel und Sutterlüty 2008: 16ff.; Hormel und Scherr 2003: 48).22 So finden auf der habitualisierten Basis gemeinsamer Vorstellungen des Lebensstiles, kultureller Traditionen und Bräuche oder kollektiv geteilter Werte und Normen Be- und Abwertungen ethnisierter Gruppen statt, die als symbolisch wirksame Wirklichkeitskonstruktionen soziale Positionierungen von Gruppenmitgliedern entlang gesellschaftlicher Hierarchien vornehmen. Diese machtbezogenen Relationen von Anerkennung und Abwertung werden in dem Begriff der Dominanzkultur (Rommelspacher 1995) reflektiert. Unter Dominanzkultur wird ein

22

Dieser Zusammenhang wurde bereits allgemein in dem Kapitel über Mechanismen und Funktionsweisen von Grenzziehungen besprochen (2.3) und gilt feldübergreifend für die hier im Mittelpunkt stehenden ethnisierten, rassialisierten und nationenbezogenen Grenzziehungsprozesse des Antisemitismus.

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

diskutiert habe, sollen ethnisierte Grenzziehungsprozesse vor dem Hintergrund von situationaler Aktivierung und struktureller Gebundenheit im nächsten Kapitel diskutiert werden. Im Zentrum steht dabei die ungleichheitsrelevante Funktionslogik von ethnischen Grenzziehungen und ihrer prozessualen (Re-)Produktionsmechanismen in den symbolischen Kämpfen sozialer Akteur*innen.

4.6

Doing Ethnicity – »Ethnizität« als Struktur- und Prozesskategorie

Im Folgenden wird »Ethnizität« als Struktur- und als Prozesskategorie bestimmt und als theoretische Verortung für die Ausarbeitung der Taxonomie soziokultureller Grenzziehungen des Antisemitismus verwendet. Diese geschieht vor dem Hintergrund der theoretisch elaborierten, prozessualen Ausrichtung der intersektionalen Grenzziehungsperspektive auf die hierarchisierende Herstellung sozialer Differenzlinien, die multiple Ungleichheiten herstellen. Damit soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass ethnisierte Klassifizierungen von Jüd*innen einerseits ungleichheitsstiftend wirken, ihre wandelbaren kulturellen Klassifikationen aber andererseits erst durch die interaktionalen Aushandlungen sozialer Akteur*innen vorläufige, d.h. zeitlich und räumlich begrenzte, Stabilisierungen sozialer Grenzen hervorbringen können. Die stratifizierende Wirkung ethnischer Kategorisierungen und der daraus resultierenden Strukturen der Ungleichheit lässt es sinnvoll erscheinen, ähnlich wie es bereits für das soziale Ordnungsmuster »Rasse« festgehalten wurde, »Ethnizität« als gesellschaftliche Strukturkategorie zu begreifen (Hall 1994d; H. Lutz 2008) und damit auch ethnisierte Formen der Zugehörigkeit sowie ethnisierte Grenzziehungen als institutionelle und sozialstrukturelle Ordnungsprinzipien zu definieren (Scherschel 2006; 2008; 2010, Neckel und Sutterlüty 2008; 2010). Ich bezeichne »Ethnizität« als Strukturkategorie, um im Hinblick auf die Konzeptualisierung einer Taxonomie auf die ungleichheitsrelevante Machtdimension antisemitischer Grenzziehungen aufmerksam zu machen. Um die dieser Arbeit zugrundeliegende, an Bourdieu geschulte, Perspektive noch einmal zu wiederholen: Mit ethnisierten Klassifikationsmustern werden also raumzeitlich gebundene Machtbeziehungen durch gesellschaftliche Über- und Unterordnungen produziert, die den Subjekten Orientierung im sozialen Raum vermitteln und soziale Ungleichheiten interpretier- und erklärbar machen (Neckel und Sutterlüty 2008: 16ff.; Hormel und Scherr 2003: 48).22 So finden auf der habitualisierten Basis gemeinsamer Vorstellungen des Lebensstiles, kultureller Traditionen und Bräuche oder kollektiv geteilter Werte und Normen Be- und Abwertungen ethnisierter Gruppen statt, die als symbolisch wirksame Wirklichkeitskonstruktionen soziale Positionierungen von Gruppenmitgliedern entlang gesellschaftlicher Hierarchien vornehmen. Diese machtbezogenen Relationen von Anerkennung und Abwertung werden in dem Begriff der Dominanzkultur (Rommelspacher 1995) reflektiert. Unter Dominanzkultur wird ein

22

Dieser Zusammenhang wurde bereits allgemein in dem Kapitel über Mechanismen und Funktionsweisen von Grenzziehungen besprochen (2.3) und gilt feldübergreifend für die hier im Mittelpunkt stehenden ethnisierten, rassialisierten und nationenbezogenen Grenzziehungsprozesse des Antisemitismus.

4 Zur Konzeptualisierung von ethnisierten Narrativen des Antisemitismus

ethnisiertes System der Über- und Unterordnung verstanden, die als »Begründungsund Legitimationsmuster« (Mecheril und Melter 2011: 16) die selbstverständliche »Eigen«- und »Fremdpositionierung«, mithin die gesamte Lebensweise präformiert. Im Anschluss an Scherschel lassen sich gesellschaftlich wirkmächtige Differenzkonstruktionen als »habitualisierte Wahrnehmungsoption« (Scherschel 2006: 87) und flexible symbolische Ressource (Scherschel 2006; 2010; auch Scherr 2000) verstehen. Als habitualisierte Wahrnehmungsoption liefert »Ethnizität« ein stabiles, aber nicht omnipräsentes sozial hervorgebrachtes Interpretationsschema, dessen optionaler Charakter als dynamische Sinnressource auf seine situativ abhängige Aktivierung verweist (Scherschel 2006: 79ff.; Scherschel 2010: 249). Der Vorgang der Habitualisierung zeigt dabei die historische Gewordenheit der »Verknüpfung« (Scherschel 2008: 199) von askriptiven ethnischen Merkmalen mit variablem Inhalt als Resultat vorangegangener Klassifikationskämpfe an. Die Anpassung kulturellen Wissens über den jüdischen »Anderen« an sich verändernde Diskursformationen kann als Beispiel für Flexibilität ethnisierter Sinngebung allgemein hervorgehoben werden; die selbstverständliche Integration antisemitischer Zuschreibungen in Interpretationsweisen des Israel-Palästina-Konfliktes verweist im Besonderen auf Kontinuität und Variabilität antisemitischer »Fremdheitskonstruktionen« (Scherschel 2010: 248). Klassifikatorische oder auch »identitäre Praktiken« (Eder, Rauer und Schmidtke 2004: 19) der ethnischen Differenzierung – die symbolische Macht zu benennen, zu qualifizieren und zu hierarchisieren – erlauben es schließlich, gruppenbezogene soziale Exklusion auf der gesellschaftlich legitimierten Grundlage essentialisierter kultureller Differenz zu betreiben (ebd.: 19). Dabei machen Eder, Rauer und Schmidtke (2004) auf eine besondere Form der sozialen Ausschließung aufmerksam. Soziale Exklusionsprozesse werden hier in ihrer sozialen – als Form des Ausschlusses des sozialen, kulturellen und materiellen Kapitals – und symbolischen – als Ausschluss marginalisierter Gruppen aus Diskursen – Dimension reflektiert. Symbolische Exklusion meint dabei die Ausschließung »durch symbolische Ausgrenzung, symbolische Degradierung oder symbolische Nicht-Existenz (dem ›Totschweigen‹)« (Eder, Rauer und Schmidtke 2004: 18). Diese Perspektive auf Marginalisierungsprozesse kann den symbolischen Ausschluss ethnisch identifizierter Jüd*innen aus öffentlichen Diskursen, in denen über Grenzziehungen verhandelt wird, sichtbar machen23 . Zu fragen wäre hierbei, inwiefern die Delegitimierung jüdischer Marginalisierungserfahrung Ausdruck einer ethnisierten Assoziation von Jüd*innen mit gesellschaftlicher Anerkennung, sozioökonomischer Anpassung und gesellschaftlichen Privilegien ist.24 Anders formu23

24

Wie Marginalisierungserfahrungen jüdischer Diskursteilnehmer*innen symbolisch ausgeschlossen werden, kann auch in wissenschaftlichen Publikationen beobachtet werden. So haben Kohlstruck und Ullrich (2015) in ihrer Studie »Antisemitismus als Problem und Symbol« Wahrnehmungen eines anti-israelischen Antisemitismus der von Übergriffen und Delegitimierungen betroffenen Gruppe der Jüd*innen selbst als »Dramatisierungen« ausgegeben und mutmaßen, dass sie die »Bedrohung in den Vordergrund« (Ullrich und Kohlstruck 2015: 44) rücken würde. Auf einen ähnlichen Fehlschluss wurde bereits für die Gleichsetzung einer weitestgehenden sozioökonomischen Angepasstheit von Jüd*innen und ihrer vermeintlichen Aneignung (»Weißer«) gesellschaftlicher Privilegien durch die Critical Race Theory Forschung aufmerksam gemacht (siehe Kapitel 3.2). Einen dezidiert anderen Zugang haben Zick, Hövermann et al. (2017) in einer quan-

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

liert stehen symbolische Ausschlüsse von jüdischen Diskursteilnehmer*innen also stellvertretend für die in Kapitel 2 beschriebene Perspektivendivergenz im Verhältnis von nicht-jüdischer Mehrheitsgesellschaft und jüdischer Minderheit, in deren Folge Jüd*innen die Definitionsmacht über ihre Wahrnehmung von Stereotypen, Delegitimierungen, Abwertungen und Betroffenheiten vorenthalten wird. Auf die Notwendigkeit ethnische Zugehörigkeiten zu konstituieren, weist Neckel (1995; Neckel und Körber 1997) empirisch hin, der am Beispiel der Vereinigten Staaten und Deutschland die sozialstrukturelle Relevanz ethnischer Selbst- und Fremdklassifikationen als »politische Kategorie« (Neckel und Körber 1997: 310) für die Verteilung und den Zugang von und zu materiellen Ressourcen und staatsbürgerlichen Rechten nachzeichnet. So werden ethnisierte Formen der Mitgliedschaft und ihrer Anwendung zu machtvollen Instrumenten der Aneignung von ökonomischen, politischen oder symbolischen Ressourcen durch strategisch handelnde Akteur*innen im gesellschaftlichen Konkurrenzkampf (Wimmer 2010: 123). Ihre routinierte Anwendung oder NichtBeachtung signifiziert den Grad ihrer wirklichkeitskonstitutiven Definitionsmacht über das Soziale (Wimmer 2014: 839f.). Allerdings betont Apitzsch (2012), dass sich in ethnischen Bewegungen soziale Dynamiken entfalten können, die weder rational noch ausschließlich zweckorientiert auf den Konkurrenzkampf um Ressourcen reduzierbar sind (53f.). Im Anschluss an Bourdieu lässt sich abschließend resümieren, dass: Struggles over ethnic or regional identity […] are a particular case of the different struggles over classifications, struggles over the monopoly of the power to make people see and believe, to get them to know and recognize, to impose the legitimate definition of the divisions of the social world and, thereby, to make and unmake groups. (Bourdieu 1991: 224) Spiegelte sich in der Darstellung ungleichheitsrelevanter Überlegungen die strukturbildende Logik antisemitischer Grenzziehungsprozesse, so wird »Ethnizität« nun durch den Ansatz des Doing Ethnicity (Groenemeyer 2003; H. Lutz 2007; 2008; Hirschauer 2014) als interaktionale Prozesskategorie beschrieben25 . Groenemeyer (2003) definiert »Ethnizität« in dem Raster des situativ kontextualisierbaren Doing Ethnicity nicht als »Eigenschaft von Personen, sondern von Situationen bzw. [von] eine[r] kulturelle[n] Struktur von Regeln« (33), die, mit H. Lutz (2008) gesprochen, als »Wahrnehmungs-, Darstellungs- und Zuschreibungsroutinen« (39) verstanden werden können. Mit anderen Worten geht es darum, zu zeigen, wie Differenzierungen praktiziert werden und sich über Diskurse, Interaktionen oder Biografien als Teil der sozialen Handlungswirklichkeit von Subjekten realisieren (Hirschauer 2014: 182f.). Bezogen auf die Konzeptualisierung eines taxonomischen Modells in dieser Arbeit soll darüber hinaus dargestellt

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titativen Studie im Auftrag des Expertenrates Antisemitismus gewählt und explizit nach den Diskriminierungserfahrungen von Jüd*innen gefragt. Der ursprünglich aus der Geschlechterforschung stammende, ethno-methodologische Ansatz des Doing Gender (West und Zimmerman 1987) oder Doing Difference (West und Fenstermaker 1995) wird häufig aufgrund seiner mikrosoziologischen Ausrichtung auf die situative Hervorbringung von Differenz durch Interaktionen zwischen sozialen Akteur*innen kritisiert (Kubisch 2008: 60; Hirschauer 2014: 182).

4 Zur Konzeptualisierung von ethnisierten Narrativen des Antisemitismus

werden, welche lokal-historisch spezifischen Formen der multidimensionalen soziokulturellen Grenzziehung zwischen nicht-jüdischer ingroup gegenüber einer jüdischen outgroup die multivariable Verwendungspraxis ethnisierter, rassialisierter und nationenbezogener Klassifikationsmuster hervorbringen. Das Konzept des Doing Ethnicity begreift Kultur demnach als soziale Praxis und fügt sich demzufolge als relationales, theoretisches Element fruchtbar in die prozessorientierte Programmatik einer intersektionalen Analyseperspektive auf die gesellschaftlichen Aushandlungen soziokultureller Grenzziehungen des Antisemitismus ein. Denn die politische Relevanz von ethnischen Grenzziehungen und ihr Zusammenspiel mit anderen Differenzkategorien ist auf das »boundary work« (Duemmler, Dahinden und Moret 2010: 21) sozialer Akteur*innen angewiesen, d.h. die »Konstruktionsleistung« (H. Lutz 2007: 225) symbolisch umkämpfter ethnischer Unterscheidungen sowie ihres multiplen Zusammenspieles mit anderen ungleichheitsrelevanten Klassifikationsmustern. Dabei rückt der Doing-Aspekt die Deutungsarbeit strategisch handelnder, aber kulturell prädisponierter Akteur*innen in den Mittelpunkt und rekonstruiert aktualisierbares Ethnowissen in sozialen Interaktionen auf der Akteursebene. Dieses Wissen begrenzt auch den Handlungsspielraum für beliebige Bedeutungsverschiebungen oder Grenzöffnungen durch die Akteur*innen, gerade weil sie keine »free agents« (Korteweg und Triadafilopoulos 2013: 118) darstellen, sondern ihre Klassifikationskämpfe über legitime ethnische Differenzen in den vorläufig stabilisierten, raum-zeitlich wirksamen Grenzen hegemonialer Wissensordnungen austragen. Die vorliegende Arbeit interessiert sich daher für die Situationalität antisemitischer Grenzziehungen, d.h. in welchen diskursiven Kontexten antisemitisches Wissen kulturell bedeutsam wird und wie es sich im historischen Zeitverlauf verändern kann. Vor diesem Hintergrund ist zuletzt der Konstruktionscharakter von »Ethnizität« im Zusammenhang mit (Dis-)Kontinuität und Kontingenz zu erörtern. Zwar ist »Ethnizität« als Kategorie symbolischer und sozialer Ungleichheit ein stabiles Interpretationsschema der sozialen Wirklichkeit, die Kategorisierungen müssen aber im Sinne einer Un-/Doing Difference in ihrer »Relativität« und »Temporalität« mitreflektiert werden (Hirschauer 2014: 182). Ich folge hier Hirschauer (2001, 2014), der darauf aufmerksam macht, dass differenzlogische Klassifikationen26 als Unterscheidungszeichen einerseits Omnipräsenz im sozialen Raum beanspruchen, aber andererseits keine Omnirelevanz für soziale Prozesse einfordern können, mithin also nicht in jeder Handlungssituation wirksam werden, sondern neutral bleiben. Als soziale Strukturkategorien sind Differenzen immer da, können schließlich überall relevant werden, nur folgt daraus nicht, dass »dies auch in jeder Situation geschieht« (Hirschauer 2001: 215). Ist »Ethnizität« in sozialen Interaktionen oder Prozessen – in der vorliegenden Untersuchung wären es Diskurse – unsichtbar, lässt sich mit Hirschauer von einem »Undoing ethnicity« (Hirschauer 2014: 183) sprechen, das

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Hirschauer (2001) beschreibt die Relation von Omnirelevanz und Omnipräsenz mit Blick auf die Frage, weshalb Akteur*innen die Kategorie Geschlecht in unterschiedlichen Zusammenhängen oder Diskursen von den Akteur*innen als sozial relevant erachten oder dessen situationsabhängige Neutralisierung bemühen. Hirschauer selbst erweitert sein Konzept auf die allgemeine Funktionslogik sinnhafter Unterscheidungen (2014), der ich mich hier anschließe.

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

die potenzielle »In-Differenz« (ebd.: 183) von Kategorisierungen sozialer Gruppen definiert und zugleich auf ihre kontingenten Herstellungsmechanismen rekurriert. Auch die Konstruktion mehrdimensional verschränkter Differenzierungsdynamiken mit rassialisierten oder nationalisierten Klassifikationsmustern muss in Bezug auf ihre Kontingenz in unterschiedlichen Handlungssituationen betrachtet werden, d.h. in der Stabilisierung, Produktion und in dem Zusammenspiel verschiedener kultureller Repräsentationen der Ungleichheit in der diskursiven Praxis (ebd.: 188). Der praxeologisch-konstruktivistische Ansatz Hirschauers ermöglicht einen Zugang zu den sozialen Herstellungsmechanismen ethnischer Differenzen, der graduelle Abstufungen und die situativ stärkere oder schwächere Wirkung ethnischer Klassifikationen erklärt (Hirschauer 2014: 175). So kann die Frage der Analyse zugänglich gemacht werden, weshalb die Anrufung einer ethnisierten jüdischen Subjektposition in unterschiedlichen Kontexten als relevant gesetzt wird und sich zu einer situativ wirksamen Unterscheidungsressource verdichtet.

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Zwischenfazit und Implikationen für die Forschungsfrage

Durch die Diskussion dominanter paradigmatischer Perspektiven im Feld der Ethnizitätsforschung ließen sich einige wertvolle Einsichten in Klassifikationsstrategien der Ethnisierung des jüdischen »Anderen« gewinnen. Zugleich ließen sich Konzepte, Begriffe und Theoreme als Analysevokabulare in die theoretische Programmatik einer intersektionalen Grenzziehungsperspektive auf die soziokulturellen Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen und ihrer kategorialen Wechselwirkungen einfügen. Durch den, im vorangegangenen Kapitel diskutierten, prozessual angelegten Analyserahmen kultursoziologischer und sozialkonstruktivistischer Ansätze der Ethnizitätsforschung wurde im Hinblick auf die Konzeptualisierung der Taxonomie deutlich gemacht, dass die soziokulturelle Herstellung ethnisierter Grenzziehungen als »Wir«Gruppen-Relationen verstanden werden müssen. Darauf aufbauend wurden die Konstruktionsweisen ethnischer Gruppenzugehörigkeiten auf der Ebene von Analysekategorien über die genealogische Artikulation vorgestellter, d.h. subjektiv so wahrgenommener und soziohistorisch situierbarer kultureller, geschichtlicher mythologischer oder herkunftsbezogener Gemeinsamkeiten konzeptualisiert, die sich in häufig binärer Abgrenzung zu einer als »jüdisch« markierten »Fremdgruppe« flexibel aushandeln lassen. In diesem Zusammenhang wurde »Religion« als Differenzmarker ethnisierter Grenzen innerhalb des antisemitischen Klassifikationsrepertoires eine besondere Stellung eingeräumt. Ungleichheiten auf der Grundlage ethnisierter Religionszugehörigkeit lassen sich etwa in Form der liberal-säkularen Matrix, des christlichen Antijudaismus und des muslimischen Antisemitismus rechtfertigen. Folgende Tabelle illustriert nun auf der Ebene von Analysekategorien die systematisierte Anordnung kategorialer Merkmale ethnisierter Typen der Grenzziehung:

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

die potenzielle »In-Differenz« (ebd.: 183) von Kategorisierungen sozialer Gruppen definiert und zugleich auf ihre kontingenten Herstellungsmechanismen rekurriert. Auch die Konstruktion mehrdimensional verschränkter Differenzierungsdynamiken mit rassialisierten oder nationalisierten Klassifikationsmustern muss in Bezug auf ihre Kontingenz in unterschiedlichen Handlungssituationen betrachtet werden, d.h. in der Stabilisierung, Produktion und in dem Zusammenspiel verschiedener kultureller Repräsentationen der Ungleichheit in der diskursiven Praxis (ebd.: 188). Der praxeologisch-konstruktivistische Ansatz Hirschauers ermöglicht einen Zugang zu den sozialen Herstellungsmechanismen ethnischer Differenzen, der graduelle Abstufungen und die situativ stärkere oder schwächere Wirkung ethnischer Klassifikationen erklärt (Hirschauer 2014: 175). So kann die Frage der Analyse zugänglich gemacht werden, weshalb die Anrufung einer ethnisierten jüdischen Subjektposition in unterschiedlichen Kontexten als relevant gesetzt wird und sich zu einer situativ wirksamen Unterscheidungsressource verdichtet.

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Zwischenfazit und Implikationen für die Forschungsfrage

Durch die Diskussion dominanter paradigmatischer Perspektiven im Feld der Ethnizitätsforschung ließen sich einige wertvolle Einsichten in Klassifikationsstrategien der Ethnisierung des jüdischen »Anderen« gewinnen. Zugleich ließen sich Konzepte, Begriffe und Theoreme als Analysevokabulare in die theoretische Programmatik einer intersektionalen Grenzziehungsperspektive auf die soziokulturellen Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen und ihrer kategorialen Wechselwirkungen einfügen. Durch den, im vorangegangenen Kapitel diskutierten, prozessual angelegten Analyserahmen kultursoziologischer und sozialkonstruktivistischer Ansätze der Ethnizitätsforschung wurde im Hinblick auf die Konzeptualisierung der Taxonomie deutlich gemacht, dass die soziokulturelle Herstellung ethnisierter Grenzziehungen als »Wir«Gruppen-Relationen verstanden werden müssen. Darauf aufbauend wurden die Konstruktionsweisen ethnischer Gruppenzugehörigkeiten auf der Ebene von Analysekategorien über die genealogische Artikulation vorgestellter, d.h. subjektiv so wahrgenommener und soziohistorisch situierbarer kultureller, geschichtlicher mythologischer oder herkunftsbezogener Gemeinsamkeiten konzeptualisiert, die sich in häufig binärer Abgrenzung zu einer als »jüdisch« markierten »Fremdgruppe« flexibel aushandeln lassen. In diesem Zusammenhang wurde »Religion« als Differenzmarker ethnisierter Grenzen innerhalb des antisemitischen Klassifikationsrepertoires eine besondere Stellung eingeräumt. Ungleichheiten auf der Grundlage ethnisierter Religionszugehörigkeit lassen sich etwa in Form der liberal-säkularen Matrix, des christlichen Antijudaismus und des muslimischen Antisemitismus rechtfertigen. Folgende Tabelle illustriert nun auf der Ebene von Analysekategorien die systematisierte Anordnung kategorialer Merkmale ethnisierter Typen der Grenzziehung:

4 Zur Konzeptualisierung von ethnisierten Narrativen des Antisemitismus

Tabelle 2: Analysekategorien ethnisierter Typen antisemitischer Grenzziehungen, Quelle: Eigene Darstellung. Ethnisierte Grenzziehungen des Antisemitismus Typus der Grenzziehung

Ethnisierte Grenzziehungen konstruieren soziale Gruppenzugehörigkeit auf der Grundlage des vorgestellten Kontinuitätszusammenhanges einer Schicksals-, Abstammungs- und Erinnerungsgemeinschaft.

Klassifikationsmuster

Ethnisierungen beruhen auf binarisierten Klassifikationsmustern, die Kultur, Sprache, Religion oder Geschichte als genealogische, d.h. soziohistorisch tradierte Unterscheidungszeichen ethnischer Gruppen definieren.

Antisemitische Klassifikationsrepertoires

Ethnisierte Klassifikationsmuster des AS repräsentieren Jüd*innen als »Fremde«, deren genealogisch hergestellte kulturelle Lebensweise; Rituale, Traditionen oder Wertvorstellungen und sozialer Zusammenhalt, religiöse Überzeugungen und Praktiken oder historische Erfahrungen als symbolische Codes von Fremdheit fungieren.

(Selbst-)und Fremdzuschreibungen

Lebensweise: »Juden« sind irgendwie fremd; »Juden« halten zusammen; »Juden« sind anpassungsunfähig, verschwörerisch; »Juden« besitzen machtvollen gesellschaftlichen Status (Personalisierung z.B. durch »jüdisch« kontrollierte Massenmedien, »jüdisch« kontrollierte (Finanz-)Wirtschaft); »Juden« sind illoyal/besitzen doppelte Loyalität/heimatlos; »Juden« besitzen gesellschaftliche Privilegien und Wohlstand; »jüdische« Geschäftstüchtigkeit.   Religion: »Juden« als Gottesmörder; archaische Riten; »Juden« sind feige und schwach.   Politische und moralische Wertvorstellungen: »Jüdische« Rachsucht, Wucher und Schacher; »Juden« sind arrogant und maßlos; »Juden« als auserwähltes Volk.

Für die deduktive Ausarbeitung einer Taxonomie antisemitischer Differenzierungen haben de-essentialistische Forschungsansätze heuristisch wertvolle Implikationen geliefert, weil sie die Notwendigkeit betonen, die dynamischen Konstruktionsmechanismen ethnisierter Grenzziehungen des Antisemitismus zu untersuchen. Diese Zugänge erlauben es im Hinblick auf die generische Konstruktionsdynamik ethnisierter Klassifikationsprozesse zu fragen, wie ethnisierte Unterscheidungszeichen von Jüd*innen durch soziale Akteur*innen interaktional ausgehandelt und in sich verändernden, zeitlich und räumlich begrenzten Kontexten sozial wirksam werden. In Bezug auf die Prozessualität antisemitischer Differenzierungsweisen, wie es durch die theoretische Programmatik der Taxonomie prononciert werden soll, wurde auf die differenztheoretischen Überlegungen Zygmunt Baumans zu der ambivalenten Stellung des jüdischen »Fremden« rekurriert (2005). Damit lassen sich in den binär strukturierten Grenzziehungsprozessen zwischen einem »Innen« und »Außen« der Gruppengrenze relationale Elemente mehrdeutiger antisemitischer und allosemitischer Deutungs- und Wahrnehmungsrepertoires rekonstruieren. Da ethnische Grenzziehungen des Antisemitismus in Repräsentationsregimes integriert sind, in denen Akteur*innen Fragen der Zugehörigkeit/Nicht-Zugehörigkeit von Jüd*innen verhandeln, müssen heuristisch auch zugehörigkeitstheoretische Perspektiven in die

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Betrachtung von Grenzziehungsprozessen eingebunden werden. Deshalb ist es für die Analyse antisemitischer Grenzziehungsprozesse erforderlich, darauf zu achten, wie sich essentialisierte Zugehörigkeitsordnungen (Mecheril 2003; Mecheril und Hoffarth 2009; Mecheril, Thomas-Olalde et al. 2016) und ihre konkreten Politics of belonging (Yuval-Davis 2011) in den »Wir«-Gruppen-Prozessen (Elwert 1989; 1995; 2001) der kulturellen Aushandlungen von Grenzen ausbilden, manifestieren und transformieren. Zugleich ermöglicht es diese Herangehensweise, das interrelationale Zusammenwirken unterschiedlicher Zugehörigkeits- und Differenzkategorien in der Verwendungspraxis sozialer Akteur*innen stärker in den Blick zu nehmen, um Wandlungsfähigkeiten und vorläufige Stabilisierungen soziokultureller Grenzziehungen untersuchen zu können. Zuletzt reflektiert der theoretische Zusammenhang von »Ethnizität« als ungleichheitsrelevanter Struktur- und interaktionaler Prozesskategorie das Wechselspiel von relativer Stabilisierung und Kontingenz in den dynamischen Machtkonstellationen symbolischer Ordnungen der Ungleichheit. Zum einen kann mit dieser Herangehensweise gezeigt werden, wie sich durch die Klassifizierung einer ethnischen Differenz von Jüd*innen, gesellschaftliche Hierarchien ausbilden, die Jüd*innen im sozialen Raum ungleich positionieren. Zum anderen haben insbesondere praxeologische Ansätze des Doing Ethnicity (H. Lutz 2007; 2008) oder Un-/Doing Ethnicity (Hirschauer 2014) deutlich gemacht, dass die Dynamiken des fortlaufenden und diskontinuierlichen Formwandels antisemitischer Klassifizierungen und ihrer situativen Wirksamkeit analysiert werden müssen. Die in dieser Arbeit vorgetragene Kombination aus Grenzziehungsparadigma und Intersektionalitätsansatz zur Untersuchung antisemitischer Ausschließungen ergänzt die diskutierten Ansätze der Ethnizitätsforschung jedoch nun in entscheidender Hinsicht: Sie betont – theoretisch und methodologisch – die prinzipielle Offenheit (»open outcome«, Wimmer 2013: 207) gegenüber den Wechselwirkungen und Kreuzungen ungleichheitsrelevanter Kategorisierungen und Gruppenbildungen in Grenzziehungsprozessen und rückt daher auch nicht-ethnische Formen der Grenzziehung in den Analysefokus. Damit ermöglicht es die empirische Offenheit der theoretischen Programmatik, das multiple Zusammenspiel antisemitischer Differenzkonstruktionen, die in den Grenzziehungspraktiken sozialer Akteur*innen als categories of practice sichtbar werden, erklären zu können.

5 Zur Konzeptualisierung von nationalisierten Narrativen des Antisemitismus Antisemitismus und »Nation«

Unter der Prämisse, dass antisemitische Codes und Klassifikationsrepertoires eine besondere Nähe zu nationalen Vergemeinschaftungsprozessen zeigen (Weyand 2016a) und Jüd*innen innerhalb und außerhalb der Grenzen einer nationalen Zugehörigkeitsordnung eine ambivalente Positionierung erfahren, stehen im folgenden Kapitel die Mechanismen des antisemitischen Ausschlusses von Jüd*innen aus der nationalen Selbsterzählung im Vordergrund. Im Hinblick auf die Konzeptualisierung einer Taxonomie antisemitischer Differenzierungen werden daher sozialkonstruktivistische, kultursoziologische und diskursanalytische Zugänge in die Theoriearchitektur aufgenommen, die Fragilität, Kontingenz und Situierbarkeit der wandelbaren symbolischen Bedeutungszuweisung des jüdischen »Anderen« in nationalisierten Grenzziehungsprozessen reflektieren können. Dabei liegt ein ein spezifischer Fokus auf Deutungsprozessen der kollektiven Erinnerung. Zugleich lassen sich diese Zugänge, Perspektiven und Begriffsvokabulare in die theoretische Programmatik einer intersektionalen Grenzziehungsperspektive auf die polykontexturale Vielfalt antisemitischer Grenzziehungsstrategien und ihrer kategorialen Wechselwirkungen integrieren und als Analysekategorien der taxonomischen Konzeptualisierung antisemitischer Grenzziehungsprozesse operationalisieren. Der konstruktivistische Fokus auf die Herstellungsweisen einer nationalen Unterscheidungslinie ermöglicht es schließlich im Hinblick auf die Beantwortung der Forschungsfrage, die Perspektive darauf zu richten, wie Kontinuitäten und Diskontinuitäten nationalisierter Antisemitismen in einem historisch veränderbaren Zeitverlauf analytisch erfassbar werden können. Welche Repräsentationen des »Jüdischen« markieren die Grenzen zwischen einer national identifizierten hegemonialen Kerngruppe gegenüber eines jüdischen »Anderen« und wie lassen sich dabei Mechanismen des Wandels und der Dis-Kontinuität nationalisierter Antisemitismen erklären? Wie wird eine nationale Zugehörigkeitsordnung durch den symbolischen Ausschluss der jüdischen »Fremdgruppe« homogenisiert? Welche Rolle spielen Narrative nationaler Selbsterzählung? Weshalb

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

werden Jüd*innen, die sich als zugehörig identifizieren, dennoch als »Zionist*innen« kategorisiert und ausgegrenzt? Zunächst werden ausgehend von einer allgemeinen Begriffsbestimmung des Forschungsfeldes »Nationalismus« (Kapitel 5.1) die zentralen Paradigmen der Nationalismusforschung im Hinblick auf ihr Erklärungspotenzial für das simultane Zusammenspiel ethnisierender, rassialisierender und nationalisierender Differenzen diskutiert (5.2). Daran anschließend werden mit sozialkonstruktivistischen Zugängen prozessuale Charakteristika nationaler Vergemeinschaftungsdynamiken elaboriert (5.3), um darauf aufbauend die kontingente, d.h. lokal-historisch spezifische, Positionierung des jüdischen »Anderen« in nationalisierten Grenzziehungen zu betrachten (5.4). In einem nächsten Schritt wird sich der symbolischen Dimension nationaler Vergemeinschaftungen und damit der Frage gewidmet, wie sich nationale Zusammengehörigkeiten situativ herstellen lassen (5.5). Zuletzt stehen mit narrations- und diskursanalytischen Ansätzen Mechanismen der nationalen Selbstverständigung (5.6) sowie die Stellung von Jüd*innen in Differenzierungsprozessen der kollektiven Erinnerung (5.7) im Mittelpunkt. Im nächsten Abschnitt erfolgt nun eine terminologische Annäherung an den Gegenstandsbereich der Nationalismusforschung und seiner Verflechtungen mit dem Forschungsfeld des Antisemitismus.

5.1

Situating Nationalism – Eine allgemeine Annäherung an den Gegenstandsbereich der Nationalismusforschung

Charakteristisch für die klassischen, aber auch modernen Zugänge der Nationalismusforschung ist die verkürzende und tendenziell substanzialisierende Frage danach, was eine Nation ist (Brubaker 1996: 15f.; Antonsich 2015: 298-304). In der heterogenen Beantwortung dieser Frage, die auch Ausdruck der empirischen Diversität des Phänomens »Nation« selbst ist (Calhoun 1997: 8) und im Folgenden dargestellt werden soll, liegen zum einen die multiplen theoretischen Zugänge zu dem Forschungsfeld der »Nation« und zum anderen auch ihre definitorische Ambivalenz begründet. Ein weitestgehend disziplinübergreifender Konsens besteht jedoch in der Zurückweisung der lange anhaltenden paradigmatischen Diskussion rein objektiver und subjektiver Definitionsweisen von »Nation«. Während objektivistische Definitionsweisen eine »Nation« mit unveränderlichen und statischen Wesensmerkmalen belegen (Stalin 1972; Bauer 2012; Miller 1995), betonen subjektivistische Ansätze, dass »Nation« als voluntaristischer Akt des individuellen Willensbekenntnisses, der subjektiven Gefühlsbindung und Solidarität zu begreifen ist (Kohn 1962; Renan 1993; Seton-Watson 1977: 5-11)1 . Einerseits werden objektivistische Auffassungen aufgrund ihrer essentialistischen, einer »shopping list«

1

Die Grenze zwischen den beiden Ansätzen darf jedoch nicht als undurchlässig betrachtet werden. Weder schließen objektivistische Typologien die Geltung subjektiver Kontextfaktoren aus, noch lehnen subjektivistische Zugänge die Bestimmung objektiver Bindungskriterien vollumfänglich ab (Hroch 2005: 15).

5 Zur Konzeptualisierung von nationalisierten Narrativen des Antisemitismus

(Yuval-Davis 2011: 82) gleichenden Spezifizierung von Nationen, Nationalität oder nationaler Identität ausgehend von Sprache, Kultur oder Abstammung (Özkirimli 2005: 16-19; Segal und Handler 2006: 59f.) kritisiert. Andererseits erscheinen subjektivistische Zugänge als unzureichend, insofern sie keine soziokulturellen Bedingungen dafür angeben können, warum sich eine bestimmte Anzahl von Menschen zu einer »Nation« zusammenschließt (Özkirimli 2005: 19). Stattdessen herrscht seit der »konstruktivistischen Wende« in der Nationalismusforschung ein übergreifender Konsens über den sozialen Konstruktionscharakter von Nationen und Nationalismen (Brubaker 1996: 15 FN4), wobei allerdings in zentralen Fragen Dissense sichtbar bleiben.2 Grundsätzlich werden Nationen und Nationalismen dabei einerseits als Resultat politischer, ökonomischer und sozialer Modernisierungsprozesse gedeutet (Gellner 1991; Hobsbawm 2005; Tilly 1990; Greenfeld 1992) und andererseits als soziale Konstrukte, die als machtvolle symbolische Ordnungen oder Diskurse die Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsweisen des »homo nationalis« (Balibar 1992a: 114) prägen (Anderson 2005; Calhoun 1997; Brubaker 1996; 2007; Wimmer 2002; 2005; Özkirimli 2005). Entsprechend präsentiert sich das Forschungsfeld der Nationalismusforschung extrem heterogen. Es umfasst so unterschiedliche Phänomene wie etwa Nationalstaatsbildungen, die Rolle politischer Bewegungen (Mann 1993; 1995), Mobilisierung und Praktiken nationalistischer Bewegungen und Entrepreneure (Brubaker, Feischmidt et al. 2006), die alltagsweltliche Integration nationaler Symbole, Traditionen und Rituale (Billig 1995), nationalistische Ideologien (Smith 2009) und ihre transnationalen Diffusionswege (Wimmer und GlickSchiller 2002), nationalistische Kriege und Konflikte (Wimmer 2002) oder auch die sozialgeschichtliche Entstehung von Nationen und Nationalismen (Gellner 1991; Wehler 2001) sowie ihres Äquivalents der postkolonialen Nationalismen unter den kulturellen Bedingungen der Postmoderne (Lazarus 1999). Dazu lassen sich auf der Ebene der Analysekategorien nationenbezogener Grenzziehungen folgende typisierbare allgemeine Merkmale nationaler Identifikationsmuster voraussetzen, die das symbolisch hergestellte Klassifikationssystem einer »Nation« häufig signifizieren.3 So wird in nationalisierten Prozessen der Selbst- und Fremdidentifikation die historisch kontingente vorgestellte Gemeinschaft (Anderson 2005) der »Nation« als imaginierte Schicksals-, Abstammungs- und Erinnerungsgemeinschaft defi2

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Andreas Wimmer (2006) hat diese strittigen Punkte folgendermaßen zusammengefasst: »[W]hether nations are modern inventions or rather rest on pre-modern ethnic foundations; whether state modernization and warfare are the cause or the consequence of nationalism; whether nationalism flourishes exclusively on the soil of industrial capitalism or everywhere where the model of the nation-state has been implanted; if nationalism has indeed already passed its greatest moment and we thus find ourselves at the threshold of a post-national age.« (334). Die folgende Definition ist als eine Annäherung an den Gegenstand zu verstehen und versucht keine abschließende Kategorisierung von »Nation« und Nationalismen zu leisten. Dies würde auch der hier zugrundeliegenden sozialkonstruktivistischen Forschungsperspektive auf die Verwendungspraxis sozialer Klassifikation widersprechen, die die Herstellung nationaler Identitäten als bedeutungsoffenen Prozess der symbolischen Aushandlung von machtinduzierten Grenzen zwischen einer hegemonialen Kerngruppe gegenüber ihrem Außen begreift. Dennoch werden die imaginativen Merkmale nationaler Identifikation als Elemente nationalisierter Kategorisierungsschemata begriffen, durch die ethnisierte, rassialisierte und nationenbezogene Klassifikationsmuster auf der Ebene von Analysekategorien typologisch unterschieden werden können.

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

niert, die sich als geografische Einheit auf ein bestimmtes historisches Territorium bezieht (Eriksen 1993: 6; Müller 2009: 48; Korteweg und Yurdakul 2016: 18; Wimmer 2013: 8; Jenkins 2008: 151; Gellner 1991; Donnan und Wilson 2001: 64). Im Gegensatz zu ethnisierten Gruppen sind nationalisierte Kollektive dem Selbstverständnis nach politische Gemeinschaften. Sie sind als politische Gemeinschaften zu verstehen, insofern sich Nationalisierungsprojekte auf staatliche Institutionengefüge beziehen und die politische Souveränität eines »Volkes« über ein bestimmtes Territorium beanspruchen, wobei die Grenzen der »Nation« zu einer Frage besonderer politischer Relevanz wird (Wimmer 2004: 43; Wimmer 2006: 336ff.; Hormel 2007: 207; Holz 2001: 17). Merkmale vorgestellter Gemeinsamkeiten, die als Kontinuitätsfiktionen nationaler Selbsterzählungen beanspruchen, eine Kongruenz zwischen »Volk« und Nation herstellen zu können, sind etwa Sprache, Geschichte, Traditionen, Kultur oder Abstammung (Hormel 2007: 206). Im Hinblick auf das Verhältnis von Antisemitismen und Nationalismen lässt sich feststellen, dass die Wahrnehmung nationalisierter Binaritäten zwischen einer nationalen »Wir«- gegenüber einer jüdischen »Fremdgruppe« vor allem von antisemitismustheoretischen Arbeiten sowohl aus historischer als auch aus einer gegenwartsbezogenen Perspektive untersucht werden. Dabei erhalten insbesondere die erinnerungspolitische Vergangenheitsbewältigung in den post-Shoa-Gesellschaften Europas und ihre Interaktion mit antisemitischen Delegitimierungsprozessen einen besonderen Schwerpunkt (Adorno 2003a; Brumlik und Sauerland 2010; Bergmann und Erb 1986). Daneben besteht die wohl größte Übereinstimmung zwischen den beiden Forschungsfeldern der Antisemitismus- und Nationalismusforschung in der vorrangig historischkomparativen Betrachtung des empirischen (Wyrwa 2015; Birnbaum und Katznelson 1995; Kienzl 2014) oder semantischen (Holz 2001) Zusammenhanges zwischen (europäischen) Nationalisierungsprojekten und der delegitimierenden Stellung des jüdischen »Anderen im Innern«. Schließlich definieren Zugänge der Nationalismusforschung den jüdischen Staat Israel als nationalisierte Gruppenkonstruktion von Jüd*innen (YuvalDavis 2011), während Modelle der Antisemitismusforschung in dem anti-israelischen Antisemitismus eine anpassungsfähige und modernisierte Form antisemitischer Kategorisierungspraxen erkennen (Pfahl-Traughber 2007a; Hirsh 2007). Gerade dieser Zusammenhang spielt für die Ausgangsfrage dieser Arbeit nach dem multivariablen Zusammenspiel antisemitischer Differenzkonstruktionen in gesellschaftlichen Aushandlungsverfahren eine besondere Rolle. Mithilfe von relationalen und kontextaffinen Modellen der Nationalismusforschung sollen daher Fragilität, Kontingenz und Situierbarkeit der wandelbaren symbolischen Bedeutungszuweisung des jüdischen »Anderen« in nationalisierten Grenzziehungsprozessen erklärbar gemacht werden.

5.2

Dominante paradigmatische Perspektiven der Nationalismusforschung – Eine Diskussion ihrer analytischen Potenziale für die Untersuchung antisemitischer Grenzziehungsprozesse

Stand im vorangegangen Abschnitt eine allgemeine Annäherung an den Forschungsgegenstand der Nationalismusforschung und die Akzentuierung einer extensiv angeleg-

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

niert, die sich als geografische Einheit auf ein bestimmtes historisches Territorium bezieht (Eriksen 1993: 6; Müller 2009: 48; Korteweg und Yurdakul 2016: 18; Wimmer 2013: 8; Jenkins 2008: 151; Gellner 1991; Donnan und Wilson 2001: 64). Im Gegensatz zu ethnisierten Gruppen sind nationalisierte Kollektive dem Selbstverständnis nach politische Gemeinschaften. Sie sind als politische Gemeinschaften zu verstehen, insofern sich Nationalisierungsprojekte auf staatliche Institutionengefüge beziehen und die politische Souveränität eines »Volkes« über ein bestimmtes Territorium beanspruchen, wobei die Grenzen der »Nation« zu einer Frage besonderer politischer Relevanz wird (Wimmer 2004: 43; Wimmer 2006: 336ff.; Hormel 2007: 207; Holz 2001: 17). Merkmale vorgestellter Gemeinsamkeiten, die als Kontinuitätsfiktionen nationaler Selbsterzählungen beanspruchen, eine Kongruenz zwischen »Volk« und Nation herstellen zu können, sind etwa Sprache, Geschichte, Traditionen, Kultur oder Abstammung (Hormel 2007: 206). Im Hinblick auf das Verhältnis von Antisemitismen und Nationalismen lässt sich feststellen, dass die Wahrnehmung nationalisierter Binaritäten zwischen einer nationalen »Wir«- gegenüber einer jüdischen »Fremdgruppe« vor allem von antisemitismustheoretischen Arbeiten sowohl aus historischer als auch aus einer gegenwartsbezogenen Perspektive untersucht werden. Dabei erhalten insbesondere die erinnerungspolitische Vergangenheitsbewältigung in den post-Shoa-Gesellschaften Europas und ihre Interaktion mit antisemitischen Delegitimierungsprozessen einen besonderen Schwerpunkt (Adorno 2003a; Brumlik und Sauerland 2010; Bergmann und Erb 1986). Daneben besteht die wohl größte Übereinstimmung zwischen den beiden Forschungsfeldern der Antisemitismus- und Nationalismusforschung in der vorrangig historischkomparativen Betrachtung des empirischen (Wyrwa 2015; Birnbaum und Katznelson 1995; Kienzl 2014) oder semantischen (Holz 2001) Zusammenhanges zwischen (europäischen) Nationalisierungsprojekten und der delegitimierenden Stellung des jüdischen »Anderen im Innern«. Schließlich definieren Zugänge der Nationalismusforschung den jüdischen Staat Israel als nationalisierte Gruppenkonstruktion von Jüd*innen (YuvalDavis 2011), während Modelle der Antisemitismusforschung in dem anti-israelischen Antisemitismus eine anpassungsfähige und modernisierte Form antisemitischer Kategorisierungspraxen erkennen (Pfahl-Traughber 2007a; Hirsh 2007). Gerade dieser Zusammenhang spielt für die Ausgangsfrage dieser Arbeit nach dem multivariablen Zusammenspiel antisemitischer Differenzkonstruktionen in gesellschaftlichen Aushandlungsverfahren eine besondere Rolle. Mithilfe von relationalen und kontextaffinen Modellen der Nationalismusforschung sollen daher Fragilität, Kontingenz und Situierbarkeit der wandelbaren symbolischen Bedeutungszuweisung des jüdischen »Anderen« in nationalisierten Grenzziehungsprozessen erklärbar gemacht werden.

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Dominante paradigmatische Perspektiven der Nationalismusforschung – Eine Diskussion ihrer analytischen Potenziale für die Untersuchung antisemitischer Grenzziehungsprozesse

Stand im vorangegangen Abschnitt eine allgemeine Annäherung an den Forschungsgegenstand der Nationalismusforschung und die Akzentuierung einer extensiv angeleg-

5 Zur Konzeptualisierung von nationalisierten Narrativen des Antisemitismus

ten Definition von »Nationen« und Nationalismen vor dem theoretischen Hintergrund der sozialkonstruktivistischen Nationalismusforschung im Zentrum, sollen nun zentrale Paradigmen der Nationalismusforschung einerseits und der Antisemitismusforschung andererseits im Hinblick auf ihr Erklärungspotenzial für die kulturellen Aushandlungsprozesse nationalisierter Grenzziehungen des Antisemitismus kritisch bewertet werden. Die Diskussion folgt hier grob der von Özkirimli (2005) vorgenommenen Einteilung des Forschungsfeldes in vier paradigmatische Ausrichtungen: der Primordialismus4 , der Modernismus, der Ethnosymbolismus und »neuere« Zugänge zu Nationalismen. Modernisierungstheoretische Konzeptualisierungen von »Nation« und Nationalismen betrachten »Nationen« als Resultat der Industrialisierung und als funktionales Erfordernis für die damit einhergehenden gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse. Theoretisch erfüllen Nationen hier den Zweck, einen gesellschaftlichen Verkehrsraum für die Bedürfnisse eines nationalen Marktes zu homogenisieren (Gellner 1991) und durch das »social engineering« (Hobsbawm 2005: 21) erfundener Traditionen, Symbole und Rituale eine Kontinuität mit einer politisch opportun scheinenden Epoche herzustellen (Hobsbawm und Ranger 2013: 1). Durch Nationen und Nationalismen gelingt es demnach eine heterogene Gruppe von Menschen in einen einheitlichen kulturellen Sprachraum politisch und sozial zu integrieren (Anderson 2005; Deutsch 1985) oder, entsprechend neo-marxistisch inspirierter Ansätze, die ungleiche Entwicklungsdynamik zwischen den kapitalistischen Zentren und der Peripherie auszugleichen (Nairn 1981; Hechter 1975). Die älteren Ansätze der Nationalismusforschung sind aus drei Gründen für die Analyse nationenbezogener Antisemitismen zu kritisieren: Erstens betonen modernistische Ansätze vor allem den inklusiven Charakter nationaler Vergemeinschaftung und können daher nur unzureichend die Mechanismen sozialer Schließung in nationalen Zugehörigkeitsprojekten reflektieren (Wimmer 2006). Mehr noch bleiben die für kollektive Identifikationsweisen konstitutiven Prozesse der idealisierenden Selbst- und abwertenden Fremdzuschreibung systematisch unberücksichtigt (Räthzel 1997: 14f.).5 Zweitens untersuchen funktionalistische Strömungen speziell die gesellschaftlichen Bedingungen der Nationenbildung und liefern dementsprechend keine Einsichten für die Analyse des kulturellen Prozesses der Nationalisierung, d.h. der Frage danach, wie sich ein kultureller Kompromiss nationaler Sinngebung ausbildet und stabilisiert. Drittens wird das Modernisierungsparadigma von einer tendenziell gruppistischen Perspektive geleitet, die »Nationen« als objektive Realität begreift (Yuval-Davis 2011: 84; Smutny 2004: 108ff.). Demzufolge können sie nur ungenügend die Kontingenzen der Aushandlung von Grenzen in Nationalisierungsprojekten und ihre besonderen Wechselwirkungen mit antisemitischen Grenzziehungen erklären.

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Insofern der Primordialismus als Konzept bereits in Kapitel 4.2 im Zusammenhang mit ethnisierten Grenzziehungen diskutiert wurde, verzichte ich an dieser Stelle auf eine weitere Betrachtung, um Redundanzen zu vermeiden. Darüber hinaus widerspricht epistemologisch der Primordialismus der im vorangegangen Abschnitt beschriebenen, sozialkonstruktivistischen Gegenstandsbestimmung von »Nationen« und Nationalismen. Benedict Anderson geht sogar so weit, zu behaupten, dass kein Zusammenhang zwischen Rassismen, Antisemitismen und Nationalismen bestünde (2005: 50).

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Ethno-symbolische Theorien der Nationalismusforschung erkennen Nationalismen zwar als Ausdruck der Moderne an, identifizieren sie aber als Palimpseste (Smith 1995a: 59), als etwas den Nationalismen Vorgängiges. Im ethno-symbolischen Verständnis beruhen die Mythen-Symbol-Komplexe (Armstrong 1982) nationaler Vergemeinschaftungsprozesse auf pränationalen ethnischen Komponenten und werden von nationalistischen Ideologien lediglich reaktualisiert (Smith 1991; Armstrong 1982; Hutchinson 2005): »Myths of ethnic descent, particularly myths of ›ethnic chosenness‹, lie at its core« (Conversi, 2007: 21). Erst die Reinterpretation bestehender Mythen, Symbole, Erinnerungen, Geschichten, Werte und Traditionen ethnischer Kollektive durch ethnopolitische Entrepreneure vermittelt Nationalisierungsprojekten demzufolge ihre spezifische Kontinuität, Stabilität und Dauerhaftigkeit. Wird die Stellung von Jüd*innen in der ethno-symbolischen Herstellung von »Nationen« untersucht, werden dabei häufig die ethno-nationalistische Ausschließung des jüdischen »Anderen« analysiert (Michlic 2007; Bassin 2007) oder die Kontinuität jüdischer Geschichtsmythen und religiöser Symboliken in der nationalistischen Ideologie des Zionismus (Gal 2007; Smith 1995b) rekonstruiert. Meine Zurückweisung der ethno-symbolischen Perspektive auf nationale Gruppenbildungsprozesse folgt Wimmer (2005). Er kritisiert, dass dem Begriff der Ethnie/ Nation der »Status einer grundlegenden analytischen Kategorie von transhistorischer und universeller Gültigkeit verliehen« (111) wird. Dadurch bleiben einerseits lokalhistorisch-spezifische Kontingenzen der Ausbildung nationaler Vergemeinschaftungsprozesse unberücksichtigt (Calhoun 1997: 25). Andererseits kann die Vorstellung der longue durée prämoderner Gemeinschaftsformen nicht erklären, warum bestimmten ethnisierten Gruppen der Übergang zur Nation gelingt und anderen nicht (Wimmer 2005: 111). Zuletzt zeigen ethno-symbolische Ansätze zwar an, wie sich soziale Imaginationen eines mythischen Abstammungsglaubens mit antisemitischen Klassifikationen der Nicht-Zugehörigkeit verbinden. Als »grand theory« (Özkirimli 2003: 354) können sie jedoch nicht die prozessuale Logik situativ aktivierbarer antisemitischer Codes (Volkov 1978) rekonstruieren. Mit anderen Worten fehlt es dem ethno-symbolischen Ansatz an Agency-Konzepten (Conversi 2007: 25), die es erstens erlauben, raumzeitlich kontextualisierbare Spezifika antisemitischer Denk- und Wahrnehmungsmuster in den nationalistischen symbolischen Kämpfen zu dechiffrieren und zweitens ihre Situierbarkeit in konkurrierenden Narrativen nationaler Symboliken, Geschichten und Erinnerung zu analysieren. Neuere Ansätze der Nationalismusforschung (Yuval-Davis 1997; Anthias und YuvalDavis 1992; Billig 1995; Brubaker 1996) sind epistemologisch weitestgehend von dem Bias des methodologischen Nationalismus (Wimmer, Glick-Schiller 2002) befreit und untersuchen die soziokulturellen Reproduktions- und Wirkungsbedingungen von Nationen und Nationalismen aus einer de-essentialistischen und relationalen Perspektive. Ihr Fokus liegt auf einer interdisziplinären Beschäftigung mit der kulturellen Vermittlung von gesellschaftspolitischer Makro-, institutionalistischer Meso- und subjektiver Mikroebene von »Nationen« und Nationalismen (für einen Überblick siehe: Brubaker 2009). Im Hinblick auf die soziokulturellen Konstruktionsbedingungen von Nationen stehen etwa aus feministischer Perspektive Fragen nach »Gender« und »Nation« (McClintock 1996; Yuval-Davis 1997), aus postkolonialer Sichtweise die Dilemmata postkolonialer Natio-

5 Zur Konzeptualisierung von nationalisierten Narrativen des Antisemitismus

nenbildung (Chatterjee 1993), aus diskurstheoretischer Betrachtung die diskursive Formation von »Nationalismen« als sinngebendes Schemata der Weltdeutung (Calhoun 1997; Bhabha 1990) und zuletzt unter relationalen und prozessorientierten Gesichtspunkten die Mechanismen der Herstellung ethno-nationaler Gruppen, ihr Zusammenspiel mit anderen Differenzkategorien sowie spezifischen Exklusionsweisen (Wimmer 2002; 2013; Brubaker 1996; Anthias und Yuval-Davis 1992) im Mittelpunkt. Dem entsprechen aufseiten der Antisemitismusforschung wissenssoziologische Arbeiten, die sich relationalen Aspekten einer konstitutiven Bezogenheit von nationalem Selbst- und jüdischem Feindbild widmen (Weyand 2016a; 2016b; Globisch 2013; Holz 2001). Allerdings reflektiert der primäre Fokus auf die entkontextualisierte Strukturkategorie »Nation« zu wenig das interaktionale Moment von Grenzziehungsprozessen und demzufolge ihr simultanes Zusammenspiel mit anderen Differenzkategorien. Betrachten »neuere« Ansätze der Nationalismusforschung Repräsentationen von Jüd*innen als »Nation«, beschränken sie sich überwiegend auf die nationale Selbstidentifikationen von Jüd*innen als »Zionist*innen«. Dabei betrachten diese Zugänge zwar das nationale Selbstverständnis des Staates Israel (Weinblum 2013), teilweise auch mit dem Ziel, den jüdischen Staat aus einer anti-gruppistischen Perspektive als Ethnokratie darzustellen (Attwell 2016) oder aus einer genderkritischen Perspektive zu analysieren (Yuval-Davis 1989). Allerdings beleuchten sie aber nicht die Praxis negativer Fremdkategorisierungen durch die homogenisierende Kollektivkonzeptualisierung einer jüdischen »Nation« in Form des Staates Israel. Vielmehr wird die Sichtbarkeit anti-israelischer Antisemitismen häufig negiert oder ignoriert (beispielhaft: Abdo und Yuval-Davis 1995) und damit auch die Wandelbarkeit antisemitischer Zuschreibungen in ethnisierten, rassialisierten oder nationalisierten Zugehörigkeitskontexten übergangen. Ähnlich statisch agieren auch sozialwissenschaftliche Arbeiten in Bezug auf den Zusammenhang von Judenfeindlichkeit und »Nationen« mit Blick auf die Konstruktion derselben, wenn sie der dichotomen Unterscheidung zwischen bösem »ethnischen« und gutem »zivilen« Nationalismus folgen (Salzborn 2010b). Auch wenn die »neueren« Ansätze der Nationalismusforschung mit Blick auf die Variationsbreite antisemitischer Klassifikationsrepertoires eine zu ihrer epistemologischen Haltung erstaunlich kontradiktorische Verengung aufweisen, begründet ihr konstruktivistischer Fokus auf die soziokulturelle Vermittlung nationaler Vergemeinschaftungsprozesse eine wertvolle Grundlage für die Analyse der Dynamik, Interrelationalität und Variabilität der symbolischen Herstellung antisemitischer Wahrnehmungsund Bewertungsmuster. Im Folgenden sollen daher interpretativ-analytische und rekonstruktive Zugänge der Nationalismusforschung in die taxonomische Perspektive auf die multivariablen Formen der Aushandlung antisemitischer Grenzziehungen aufgenommen werden, die ihren Fokus auf die prozessualen Konstruktionsmechanismen der kategorialen Unterscheidung eines nationalisierten »Wir« auf der einen und eines jüdischen Nicht-»Wir« auf der anderen Seite richten.

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5.3

Die soziale Konstruktion des »Nationalen« – Prozessuale Charakteristika nationaler Vergemeinschaftungen

Eine prozessorientierte Perspektive auf die symbolische Aushandlung von Antisemitismen in nationalisierten Grenzziehungen trägt dazu bei, die Variabilität und Historizität antisemitischer Bedeutungsfixierungen in nationalisierten Grenzziehungen als soziokulturell kontingente categories of practice interpretierbar zu machen. Im Folgenden möchte ich daher erstens einige kursorische Anmerkungen zur sozialen Konstruktion des Nationalen, zu dem Konzept der Nation und zu ihrer Unterscheidung von der politischen Institution des Nationalstaates machen. Darauf aufbauend sollen zweitens relationale Modelle der Nationalismus- und Antisemitismusforschung für nationenbezogene Grenzziehungen des Antisemitismus fruchtbar gemacht werden, die insbesondere die symbolische Dimension des (Dis-)Kontinuums nationaler Schließungsprozesse reflektieren. Drittens möchte ich mit dem Konzept der nationalen Narrative symbolische Formen der Homogenisierung einer nationalen »Wir«-Gruppe herausarbeiten, die speziell auf die Stellung der jüdischen »Fremdgruppe« in erinnerungspolitischen Diskursen Bezug nehmen. Analog zu der symbolischen Herstellung eines legitimen »Innen« und »Außen« nationaler Zugehörigkeitsordnungen (Jenkins 2008; Wimmer 2005; Brubaker 2007) rekurrieren auch die soziokulturellen Ausschließungsarten nationalisierter Antisemitismen auf Homogenisierungsprozesse der »Eigengruppe« durch Praktiken sozialer Klassifikation, die dabei in binärer Abgrenzung zu der essentialisierten jüdischen »Fremdgruppe« konstituiert werden (Holz 2001; Bauman 2005; 2012; Haury 2002). Auf das besondere Verhältnis von Antisemitismen und Nationalismen macht Adorno (2003) aufmerksam, wenn er schreibt: »Wirksame Abwehr des Antisemitismus ist von einer wirksamen Abwehr des Nationalismus unabtrennbar« (381). Und auch der Antisemitismusforscher Klaus Holz (2001) konstatiert mit Blick auf die analytisch unbedingte Relation dieser kategorialen Unterscheidungsressourcen: »›nationaler Antisemitismus‹ [bezeichnet] die Form der Judenfeindschaft, in der das ›nationale‹ Selbstverständnis wesentlich durch die Abgrenzung6 von denen, die als Juden vorgestellt werden, konturiert wird« (16). Insbesondere in Europa unterliegt der Ausschluss der Gruppe der Jüd*innen aus nationalen Gruppenformationsprozessen einer gewissen historischen Kontinuität, wurde der jüdische »Andere« oft als prototypischer »negative reference point« (Petersoo 2007: 123) der Identitätskonstruktion nationalisierter Kollektive markiert. Diese Einsicht wurde

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Das mehrdimensionale Zusammenspiel der Differenzkategorien »Nationalität«, »Ethnizität« und »Rasse« wurde an verschiedenen Stellen dieser Arbeit theoretisch reflektiert. Exemplarisch hierfür steht das Konzept der natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit, das im Zusammenhang mit ethnisierten Grenzziehungsprozessen des Antisemitismus diskutiert wurde (siehe Kapitel 4.4). Dabei verweist dieses Konzept auf die vielfältigen, nicht immer trennscharf voneinander zu unterscheidenden Überlagerungen verschiedener Differenzkategorien in der symbolischen Aushandlung von Zugehörigkeit. Nichtsdestotrotz ist es Ziel dieser Arbeit, typologische Unterscheidungen zu destillieren, die Interrelationen dieser delegitimierenden Wissenscodes analytisch untersuchbar machen sollen und sich auf der Ebene der Verwendungspraxis durch soziale Akteur*innen in Kreuzungen des antisemitischen Ausschlusses darstellen.

5 Zur Konzeptualisierung von nationalisierten Narrativen des Antisemitismus

in ähnlicher Form bereits für die ethnisierte Klassifikation des jüdischen »Fremden« und für die rassialisierte Signifikation des jüdischen »folk devils« herausgearbeitet. In dekonstruktiver Absicht erfolgt nun die Offenlegung jener sozialen Prozesse, durch die substanzialisierte Grenzen zwischen kategorial verdinglichten sozialen Gruppen in nationalisierten Zugehörigkeitsordnungen symbolisch hervorgebracht werden (Brubaker 2003: 554). Damit wird eine Perspektive eingenommen, die keine ontologische Verdinglichung der analytisch variablen Konstruktionsprozesse der Strukturkategorie »Nation« betreiben möchte. Denn wie bereits in Kapitel 2.4 erklärt wurde, besteht der Gruppismus in den Sozialwissenschaften, nach Rogers Brubaker, in der Betrachtung ethnisierter, nationalisierter oder rassialisierter Kollektividentitäten, denen als fundamentale Analyseeinheiten ein reales Wesen mit unveränderlichen Eigenschaften zugrunde gelegt ist. Im Feld der Nationalismusforschung drücken sich gruppistische Analysezugänge besonders als methodologischer Nationalismus aus. Der methodologische Nationalismus wird dabei als Analysehaltung definiert: »[T]he nation/state/society is the natural social and political form of the modern world« (Wimmer und Glick-Schiller 2002: 302). Aus diesem Grund soll in der vorliegenden Arbeit auf der Ebene von Kategorien der Analyse auch weniger von der »Nation« im Sinne eines objektivierbaren Verbunds einer Gruppe von Menschen die Rede sein, sondern ihr sozialer Konstruktionscharakter als symbolisch hergestelltes Schema der kulturellen Sinngebung mit dem Begriff des »Nationalen« (Smutny 2004) betont werden. Nach Andreas Wimmer (2005) lassen sich Nationalismen, entsprechend des konstruktivistischen Grenzziehungsparadigmas, in Form eines »charakteristische[n] kulturelle[n] Kompromiss[es] der modernen Gesellschaften« begreifen (116). Ausgehend von der gesellschaftlichen Legitimation der ausgehandelten Grenzen des Nationalen wird die Nationalstaatenbildung als ein »Prozess der sozialen Schließung« konstruiert (ebd.). Im Ergebnis können die vielfältigen Modi sozialer, rechtlicher, kultureller und politischer In- und Exklusionen, die in und durch die sozial stratifizierenden Strukturen des Nationalstaates institutionalisiert wurden, als »das strukturierende Prinzip der Moderne par excellence« (128, Hervorh. i. Orig.) verstanden werden, weshalb die Mitgliedschaft in der nationalen »Gemeinschaft der Gleichen« und den damit verbundenen Privilegien zu einem umkämpften Gegenstand hegemonialer Zugehörigkeiten avancieren (Wimmer 2006: 335f.). Von Bedeutung ist jedoch die analytische Unterscheidung zwischen den Grenzen des Nationalen und den Grenzen des Nationalstaates.7 Denn als Nationalisierungsprojekte rekurrieren Nationalismen auf die symbolische Dimension hegemonialer Kämpfe sozialer Akteur*innen, die um die politische Durchsetzung kollektiv formulierter Interessen von Bevölkerungsgruppen ringen und sich als Nationen begreifen. Dabei drängen diese Nationalismen entweder auf größere Partizipationsoder Autonomierechte innerhalb eines Staates, zielen auf nationale Selbstbestimmung, möchten Unabhängigkeit von einem Staat erreichen oder wollen die inneren wie äußeren Grenzen eines bestehenden Nationalstaates erweitern (Calhoun 1997: 6; YuvalDavis 1997: 7). Deshalb können Nationalisierungsprojekte auch nicht auf die Erscheinungsform einer »nation based, state-seeking activity« (Brubaker 1998: 276) reduziert 7

Im Anschluss an Gellner formuliert Hobsbawm (2005) hierzu bündig: »Nicht die Nationen sind es, die Staat und Nationalismus hervorbringen, sondern umgekehrt« (21).

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werden, d.h. sich einzig als politische Bewegungen definieren lassen, die nationale Unabhängigkeit bzw. Selbstbestimmung im Rahmen von Nationalstaatsbildung erreichen wollen. Nicht zuletzt würde das auch im Widerspruch zu der heterogenen Vielfalt ihrer Erscheinungsformen stehen (Brubaker 1998: 274-281; Brubaker 1996; Yuval-Davis 2011: 85). In diesem Sinne sind »Nationen« »much more often political projects that are in the process of becoming something more, than they are actually realized in stable political institutions and command over territory« (Walby 2003: 531). Wie können nun ausgehend von diesen Überlegungen Kontingenz, Kontinuität und Formwandel unterschiedlicher Nationalisierungsprojekte analytisch rekonstruierbar und für die Untersuchung antisemitischer Grenzziehungen fruchtbar gemacht werden? Welche Mechanismen liegen der Unterscheidung zwischen dem nationalen »Eigenen« und »Fremden« zugrunde? Wie erschließen sich Individuen ein kollektives nationales »Wir«? In einem nächsten Schritt stelle ich daher nun prozessuale und relationale Modelle der Nationalismusforschung vor, die das Zusammenspiel heterogener Narrative des Antisemitismus mit Formen nationalisierter Selbstrepräsentation und ihrer wandelbaren Bedeutungsfixierungen erklären können. Die »Nation« als Bedeutungssystem wird durch den Diskurs des Nationalen hergestellt (Bhabha 1990: 1ff.; Hall 1993: 355; 1994b: 202-205; Calhoun 1997: 4; Özkirimli 2005: 188f.). Als Diskursformation enthält das Nationale kulturelle Sinnmuster, die eine lokalhistorisch spezifische Art des Denkens und Sprechens über kollektive (Nicht-)Zugehörigkeiten oder gemeinsam geteilte Vorstellungen von nationaler Zusammengehörigkeit und sozialer Solidarität auf der Grundlage der konfigurierten Gruppenidentität hervorbringen (Calhoun 1997: 6). Nationness als analytisches Konzept definiert die Herstellung des nationalen Diskurses als dynamische Variable (category of practice), die von Akteur*innen angeeignet und des- sowie re-artikuliert wird (Brubaker 1996). Es zeigt die Komplexität der Herstellung des symbolischen Ordnungssystems einer Nation und ihrer substanzialistisch scheinenden Repräsentationen und Codes. So schreibt Brubaker über Nationness als Prozesskategorie des Nationalen: »It is to treat nation not as substance but as institutionalized form; not as collectivity but as practical category; not as entity but as contingent event.« (1996: 16).8 In diesem Sinne begreift die Konzeptualisierung von Nationness den Projektcharakter einer »Nation« als andauernden Prozess symbolischer Kämpfe um die dominanten Sicht- und Teilungsprinzipien, die der Frage nach der legitimen Definition von Zugehörigkeit zur »Nation« zugrunde liegen (YuvalDavis 2011; Yuval-Davis 1997; Anthias 2012; Walby 2006). Ähnlich beschreibt auch der Terminus des nationalizing state in de-essentialistischer Absicht die sozialen Konstruktionsdynamiken, auf denen die Aushandlung eines kulturellen Kompromisses nationa-

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Dabei können bestimmte diskursive Ereignisse oder dominante öffentliche Narrative mobilisierend für das Entstehen oder die Stabilisierung gemeinschaftlicher Solidarität und Zugehörigkeit wirken. Brubaker illustriert die de-essentialistische Ereignishaftigkeit von Nationness »as something that suddenly crystallizes rather than gradually develops, as a contingent, conjuncturally fluctuating, and precarious frame of vision and basis for individual and collective action, rather than as a relatively stable product of deep developmental trends in economy, polity, or culture » (Brubaker 1996: 19).

5 Zur Konzeptualisierung von nationalisierten Narrativen des Antisemitismus

ler Identitätspolitik basiert. Damit verweist der prozessuale Begriff auf die Klassifikationskämpfe, in denen unterschiedlich positionierte Akteur*innen um die machtvolle Durchsetzung der ungleichheitsrelevanten Unterscheidung zwischen einem nationalen »Innen« und »Außen« streiten (Brubaker 1996: 4f.; 2011: 1786). »The dynamic and processual implications of the term pointed to the unfinished and ongoing nature of nationalist projects and nationalizing processes« (Brubaker 2011: 1786). Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass der Prozess der binären Aushandlung von »Innen« und »Außen« nicht abschließend beendet werden kann und dass das »Nationale« eben niemals ein quasi-natürliches Phänomen der sozialen Wirklichkeit darstellt (Faist und Ulbricht 2015; Verdery 1993). Erst die Nationalisierungsprojekte versuchen es häufig, dabei eine Vorstellung naturalisierter Reinheit herzustellen (Walby 2006: 190). Aus einer ungleichheitstheoretischen Perspektive bilden die symbolischen Konstruktionsweisen eines homogenisierten Nationalkollektivs dabei ein variables Geflecht gesellschaftlicher (Macht-)Beziehungen ab, durch die soziale Ungleichheiten zwischen (nationalen) Gruppen produziert werden und der Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen limitiert oder privilegiert wird (Özkirimli 2005: 33). Eine prozessorientierte Analyse der Wandelbarkeit von Grenzen nationaler Zugehörigkeitsordnungen richtet daher den Blick auf gesellschaftliche Kräfteverhältnisse, in denen gesellschaftliche Definitionsmacht über die binäre Klassifikation von Zugehörigkeit zum Ausdruck kommt, und interessiert sich für nationalisierte Diskurse der Ungleichwertigkeit (Calhoun 1996: 6). So stabilisieren, transformieren oder erzeugen Klassifikationskämpfe soziale Grenzen zwischen »Innen« und »Außen«, wodurch etwa vormals ausgeschlossene Gruppen und Minoritäten nicht länger als deviante »Andere« abgewertet werden, sondern sich infolge dieser Interaktionsdynamik zu legitimen Mitgliedern einer Nation entwickeln können (Wimmer 2008b: 70ff.; Zolberg und Woon 1999). Ich stimme daher Catherine Verdery (1993) zu, die, stellvertretend für die hier eingenommene Forschungsperspektive, bezüglich der multiplen und konkurrierenden Bedeutungspotenziale einer »Nation« feststellt, dass die Nationalismusforschung: should treat nation as a symbol and any given nationalism as having multiple meanings, offered as alternatives and competed over by different groups maneuvering to capture the symbolʼs definition and its legitimating effects. (39) Diese Kontextaffinität ist gerade für die Analyse nationalisierter Antisemitismen und ihrer lokal-historisch spezifischen Klassifikationsrepertoires und Zuschreibungen von zentraler Bedeutung. Denn historisch erfolgte der gesellschaftliche Ein- und Ausschluss von Jüd*innen in nationalen Kollektiven in Abhängigkeit von sich verändernden soziokulturellen Kontextbedingungen: Galten Jüd*innen etwa nach der sogenannten Judenemanzipation – die bürgerliche und rechtliche Gleichstellung von Jüd*innen mit den Angehörigen der nationalen Mehrheitsgesellschaften – im 19. Jahrhundert zwar formal als gleichberechtigt, wurden sie aufgrund rassialisierter Askriptionen jedoch weiterhin abgewertet und ausgegrenzt (Wimmer 2013: 68; Benz 2004: 41ff.; Burleigh und Wippermann 1991: 36f.). Nachdem infolge der Shoa die Artikulation offen rassenbiologistischer Antisemitismen in der Sphäre öffentlicher Kommunikation weitestgehend tabuisiert wurde (siehe Kapitel 1), verschob sich allerdings der diskursive Möglichkeitsraum

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

für die Artikulation nationalisierter Antisemitismen und veränderte damit ihre Bedeutungskonstitution (Rensmann 2004a). Um diese Wandelbarkeit antisemitischer Codes analysierbar zu machen, ist es daher auch ein Ziel dieser Arbeit zu zeigen, inwiefern das Zusammenspiel ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Differenzkategorien als categories of practice antisemitischer Grenzziehungen unter kontingenten soziokulturellen Kontextbedingungen identifizierbar gemacht werden können. Im Folgenden stehen daher die relationalen Funktionsweisen von nationalen Gruppenbildungsprozessen im Mittelpunkt; mit ihnen soll die Frage beantwortet werden, weshalb Jüd*innen, die sich als »deutsch«, »französisch« oder »britisch« identifizieren, in nationalisierten Grenzziehungsprozessen als Angehörige des jüdischen Staates Israels fremdkategorisiert und antisemitisch stigmatisiert werden können. Zu fragen wäre darüber hinaus, auf welche Weise antisemitische Klassifikationen in nationenbezogenen Grenzziehungsprozessen politisch relevant und sozial wirksam werden können.

5.4

Die Stellung des jüdischen »Anderen« in nationalisierten Grenzziehungsprozessen

Vor dem Hintergrund der hier eingenommenen intersektionalen Grenzziehungsperspektive auf die prozessualen Logiken kultureller Aushandlungen, in denen antisemitische Bedeutungen von Grenzen der In- und Exklusion vermittelt werden, stehen im Folgenden prozessuale und relationale Ansätze der Nationalismusforschung im Zentrum, die das dynamische Moment der Wandlungsfähigkeit nationalisierter Schließungen betonen. Die soziokulturelle Herstellung nationaler Gemeinschaften beruht, ähnlich der Herstellungsweisen ethnisierter und rassialisierter Kollektividentitäten, wesentlich auf dem andauernden nation work (Surak 2012) der reziproken und interaktionalen Mechanismen einer Selbst- und Fremdidentifikation (Korteweg und Yurdakul 2016: 20). Erst die Unterscheidung von einem nationalen »Nicht-Wir« ermöglicht es, sich mit einem historisch-lokalen, spezifisch-nationalen »Wir« zu identifizieren (Yuval-Davis 2011; Triandafyllidou 1998; Bauman 1992: 678; Wimmer 2006: 336f.). Gerade weil eine Nation keine autonome, sich selbsterhaltende Einheit darstellt, sind sie zur Stabilisierung ihrer eigenen kontingenzbehafteten Identität zwingend auf die Abgrenzung von einem »significant Other« (Petersoo 2007: 118) – in Form ethnischer Gruppen, anderer »Nationen« oder vermeintlich minderwertiger »Rassen« – angewiesen. Der nationale »Andere« erscheint demzufolge als Bedrohung für die kulturelle, religiöse oder ethnische Einzigartigkeit der nationalisierten Eigengruppe (Triandafyllidou 1998: 593f.). Das heißt: Die legitimen Definitions- und Bewertungsmuster nationaler Zugehörigkeit sind in erster Linie Ausdruck der Differenzierung von dem nationalen »Anderen«, der als nicht-zugehörig markiert und zum Gegenstand abwertender Praktiken fremdheitsgenerierender Klassifikationen wird. Als grundlegende Struktur der dichotomen Unterscheidung zwischen einem nationalisierten »Innen« und »Außen« wirkt dabei die ontologische Konstante der symbolischen Herstellungsweisen von Kollektividentitäten durch die Definition von Gemeinsamkeiten oder Mitgliedschaftskriterien. Werden also Kriterien des Gemeinsamen vorläufig als hegemonial stabilisiert, lässt sich eine

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für die Artikulation nationalisierter Antisemitismen und veränderte damit ihre Bedeutungskonstitution (Rensmann 2004a). Um diese Wandelbarkeit antisemitischer Codes analysierbar zu machen, ist es daher auch ein Ziel dieser Arbeit zu zeigen, inwiefern das Zusammenspiel ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Differenzkategorien als categories of practice antisemitischer Grenzziehungen unter kontingenten soziokulturellen Kontextbedingungen identifizierbar gemacht werden können. Im Folgenden stehen daher die relationalen Funktionsweisen von nationalen Gruppenbildungsprozessen im Mittelpunkt; mit ihnen soll die Frage beantwortet werden, weshalb Jüd*innen, die sich als »deutsch«, »französisch« oder »britisch« identifizieren, in nationalisierten Grenzziehungsprozessen als Angehörige des jüdischen Staates Israels fremdkategorisiert und antisemitisch stigmatisiert werden können. Zu fragen wäre darüber hinaus, auf welche Weise antisemitische Klassifikationen in nationenbezogenen Grenzziehungsprozessen politisch relevant und sozial wirksam werden können.

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Die Stellung des jüdischen »Anderen« in nationalisierten Grenzziehungsprozessen

Vor dem Hintergrund der hier eingenommenen intersektionalen Grenzziehungsperspektive auf die prozessualen Logiken kultureller Aushandlungen, in denen antisemitische Bedeutungen von Grenzen der In- und Exklusion vermittelt werden, stehen im Folgenden prozessuale und relationale Ansätze der Nationalismusforschung im Zentrum, die das dynamische Moment der Wandlungsfähigkeit nationalisierter Schließungen betonen. Die soziokulturelle Herstellung nationaler Gemeinschaften beruht, ähnlich der Herstellungsweisen ethnisierter und rassialisierter Kollektividentitäten, wesentlich auf dem andauernden nation work (Surak 2012) der reziproken und interaktionalen Mechanismen einer Selbst- und Fremdidentifikation (Korteweg und Yurdakul 2016: 20). Erst die Unterscheidung von einem nationalen »Nicht-Wir« ermöglicht es, sich mit einem historisch-lokalen, spezifisch-nationalen »Wir« zu identifizieren (Yuval-Davis 2011; Triandafyllidou 1998; Bauman 1992: 678; Wimmer 2006: 336f.). Gerade weil eine Nation keine autonome, sich selbsterhaltende Einheit darstellt, sind sie zur Stabilisierung ihrer eigenen kontingenzbehafteten Identität zwingend auf die Abgrenzung von einem »significant Other« (Petersoo 2007: 118) – in Form ethnischer Gruppen, anderer »Nationen« oder vermeintlich minderwertiger »Rassen« – angewiesen. Der nationale »Andere« erscheint demzufolge als Bedrohung für die kulturelle, religiöse oder ethnische Einzigartigkeit der nationalisierten Eigengruppe (Triandafyllidou 1998: 593f.). Das heißt: Die legitimen Definitions- und Bewertungsmuster nationaler Zugehörigkeit sind in erster Linie Ausdruck der Differenzierung von dem nationalen »Anderen«, der als nicht-zugehörig markiert und zum Gegenstand abwertender Praktiken fremdheitsgenerierender Klassifikationen wird. Als grundlegende Struktur der dichotomen Unterscheidung zwischen einem nationalisierten »Innen« und »Außen« wirkt dabei die ontologische Konstante der symbolischen Herstellungsweisen von Kollektividentitäten durch die Definition von Gemeinsamkeiten oder Mitgliedschaftskriterien. Werden also Kriterien des Gemeinsamen vorläufig als hegemonial stabilisiert, lässt sich eine

5 Zur Konzeptualisierung von nationalisierten Narrativen des Antisemitismus

bestimmte Anzahl von Menschen als Teil einer sozialen Gruppe identifizieren und binär von den »Fremden«, die als nicht-zugehörig markiert werden, unterscheiden, insofern deren zugeschriebenen Eigenschaften mit der Selbstidentifikation der »Eigengruppe« inkompatibel erscheinen (Eisenstadt 2002: 35f.; Eisenstadt und Giesen 1995: 74; Hall 2004c: 168-175). Die Herstellung dieser Grenzen erscheint dabei als das, was John Crowley (1999) in politischen Zugehörigkeitsprojekten als Machtdimension des »›dirty work‹ of boundary maintenance« (30) beschreibt, weil sie über Inklusion von Individuen in die vorgestellte Gemeinschaft der Nation (Anderson 2005) entscheiden. Denn in der »big family of we-talks« (Bauman 1992: 678), zu der die binären Codes nationaler Zugehörigkeit gezählt werden müssen, ist es die negative Klassifikation von kategorialer Differenz, die darüber entscheidet, wer sich zu einem soziokulturell kontextualisierbaren Zeitpunkt als Mitglied einer Nation begreifen kann und wer als sozial ungleichwertig kategorisiert wird. Mit Blick auf antisemitische Klassifikationsrepertoires hat Zukier (1996) dasselbe Phänomen als »obsession with the boundaries of category membership« (1139)9 definiert. Aushandlungen von Grenzen der »akzeptable[n] Unterschiedlichkeit« können daher als Zugehörigkeitskonflikte bestimmt werden, »als Schauplätze, an denen nationale Identitäten überprüft werden, indem sie (erneut) inszeniert oder (re-)definiert werden« (Korteweg und Yurdakul 2016: 20). Entsprechend der intersektionalen Grenzziehungsperspektive werden in der vorliegenden Arbeit die kategorialen Unterscheidungen nationaler Klassifikationsmuster als kontingente Praxiskategorien konzeptualisiert, die raumzeitlich kontextualisierbare Formen des soziokulturellen Ein- und Ausschlusses hervorbringen. Auf diesen deutungsoffenen Charakter der antagonistischen Deutungs- und Anfechtungskämpfe des Nationalen macht auch Homi K. Bhabha aufmerksam, wenn er schreibt: The boundary is Janus-faced and the problem of outside/inside must always itself be a process of hybridity, incorporating new ʻpeopleʼ in relation to the body politic, generating other sites of meaning and, inevitably, in the political process, producing unmanned sites of political antagonism and unpredictable forces for political representation. (1990: 4) Gerade in antisemitischen Grenzziehungen wird die wandelbare und in variierenden kulturellen Kontexten unterschiedlich zu beantwortende Frage verhandelt, wann das Jüdischsein des »Anderen« nicht länger der Zugehörigkeit zur ingroup entgegensteht, respektive, wie viel jüdischer Partikularismus vom Standpunkt hegemonialer Zugehörigkeit aus betrachtet als akzeptable Differenz artikuliert werden kann. Die Herausforderung für eine Analyse dieser vielschichtigen Unterscheidungspraktiken liegt also 9

Zukier erläutert diesen Zusammenhang beispielhaft an dem wahnhaften Versuch nationalsozialistischer Rassenideologen, Juristen und Bürokraten, penibel genau und rechtlich scheinrational zu bestimmen, wer unter völkischen Gesichtspunkten unter die Kategorie »Jude«, d.h. eben unter anderem auch »Nicht-Arier«, subsumiert werden sollte. Insbesondere die Frage der »Mischlinge«, obwohl sie nur ein verschwindend geringen Anteil an der jüdischen Bevölkerung Deutschlands ausmachen, stellte die Klarheit der Gruppengrenze infrage und musste im Sinne der völkischen Grenzziehung des nationalsozialistischen Rassenantisemitismus gelöst werden (Zukier 1996: 1139f.; zur Gesamtdarstellung der bürokratischen Planung und Vorbereitung der Judenverfolgung in NS-Deutschland siehe Friedländer 2008; Hilberg 1990).

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

darin begründet, die prozessualen Logiken multivariabler Grenzziehungsstrategien reflektieren zu können. Demzufolge muss eine intersektionale Grenzziehungsperspektive erklären können, weshalb – je nach Situation –, mit Bezug auf den jüdischen Staat Israel, eine nationalisierte Form der Gruppenkonstruktion von Jüd*innen identifiziert werden kann, die als lokal-historisch spezifische Praxiskategorie ein inakzeptables Differenzmerkmal des »Jüdischen« markiert (Bergmann und Heitmeyer 2005; Klug 2003; Heyder, Iser und Schmidt 2005). So sind die Dechiffrierungen dieser (Gleich-)Zeitlichkeiten antisemitischer Grenzziehungen das Ziel der vorliegenden Arbeit. Als analytische Prämisse gilt hierbei, dass mit nationalisierten Klassifikationsmustern des »Jüdischen« abwertende Klassifikationsrepertoires antisemitischer Grenzziehungsprozesse gemeint sind, die sich über die diskursive Repräsentation der jüdischen »Fremdgruppe« durch den jüdischen Staat Israel vollziehen. Die Definition einer nationalisierten jüdischen »Fremdgruppe« wird auf der Ebene der Analysekategorien nationenbezogener Grenzziehungen, mit Blick auf die Konzeptualisierung eines taxonomischen Modells, als Element antisemitischer Klassifikationsrepertoires übernommen. Zugleich begreife ich Zuschreibungen, die Jüd*innen als ungleichartige »Andere« im Innern einer nationalen Zugehörigkeitsordnung klassifizieren, als Klassifikationsrepertoires, die Jüd*innen als nationale »Fremdgruppe« konstruieren. Bevor ich nun auf die symbolische Dimension nationaler Vergemeinschaftungsprozesse eingehe, möchte ich zunächst mit Überlegungen aus der Antisemitismusforschung die spezifische Qualität antisemitischer Kategorisierungspraxen in nationalisierten Grenzziehungen herausarbeiten. Um die Ausgangsfragestellungen dieser Arbeit noch einmal zu wiederholen: Wie werden antisemitische Grenzen auf der Grundlage von Prozessen der Selbstidentifikation und Fremdkategorisierung gezogen? Was geschieht nun auf der Außenseite der Grenze? Wie werden Jüd*innen als »Fremdgruppe« in nationenbezogenen Grenzziehungen klassifiziert? Die Stellung von Jüd*innen in nationalisierten »Wir«-Gruppen-Konstellationen ist von einer Widersprüchlichkeit geprägt, die in den theoretischen Grundlegungen dieser Arbeit bereits mit der Figur des Dritten gekennzeichnet wurde und die der ambivalenten Repräsentationslogik des jüdischen »Fremden« in antisemitischen Ethnisierungsprozessen folgt. Mit der Figur des Dritten werden Jüd*innen als nicht-identisches Prinzip in den binären Aushandlungsprozessen von Gruppen-Identitäten klassifiziert. Demzufolge entziehen sich Jüd*innen der eindeutigen Zuordnung in das soziale Ordnungsschema nationaler »Wir«- und »Sie«-Gruppen; mehr noch unterwandern und zersetzen sie in antisemitischen Wahrnehmungsmustern die symmetrisch errichteten Grenzen zwischen »Nationen«, »Völkern« und Ethnien. Als Unklassifizierbare verkörpern Jüd*innen in Diskursen der Ungleichwertigkeit eine Einschreibungsfläche für eine Vielzahl abwertender, delegitimierender und sich widersprechender Zuschreibungen, die sich aus der diskursiven Positionierung von Jüd*innen als »internal negative other« (Petersoo 2007: 123) ergeben (Zukier 1996: 1140-1143; siehe auch Adorno und Horkheimer 2008: 177f.). Mit dem Selbstbild einer »natürlichen«, mit »Volk« und »Territorium« verwurzelten nationalen »Wir«-Gruppe korrespondiert in der nationalen Semantik das vielseitig deutbare Stereotyp einer jüdischen »Heimatlosigkeit«. Die Klassifizierung einer jüdischen »Heimatlosigkeit« macht als binäres Distinktionsmerkmal den genalogi-

5 Zur Konzeptualisierung von nationalisierten Narrativen des Antisemitismus

schen – oder auch biologisierten – Wesenskern einer »Nation«, bestehend aus Solidarität, Loyalität und Geschichte, unterscheidbar. Der natürlich scheinenden Überlegenheit einer »deutschen Nation« wird demzufolge die »kulturelle Substanzlosigkeit« der jüdischen »Fremdgruppe« gegenübergestellt. Als zentrale Klassifikationsmerkmale für das Forschungsinteresse dieser Arbeit sind von besonderer Bedeutung die Einsichten in die widersprüchlichen Wahrnehmungs- und Bewertungsweisen des »Jüdischen« in der Verwendungspraxis sozialer Akteur*innen, reflektieren sie doch Unbestimmtheit, Situationalität und Kontingenz jeder Grenzziehung. Denn hierarchisierende und abwertende Bedeutungskonstitutionen antisemitischer Klassifikationsformen werden in Praktiken der Grenzziehung als Kategorien der Praxis situativ ausgehandelt, verändert oder neu bestimmt und können daher unter sich verändernden Kontextbedingungen wandelbare Sinnzuschreibungen erhalten. So lässt sich eine »jüdische Substanzlosigkeit« in divergierenden Kontexten nationalisierter Grenzziehungen einmal über die »Künstlichkeit« des Staates Israel und einmal über die (auch ethnisierte) Konstruktion eines klandestinen Zusammenhaltes der nationalen jüdischen »Fremdgruppe« artikulieren. Nach Haury (2002) lassen sich drei Strukturprinzipien antisemitischer Gemeinschaftskonstruktionen identifizieren, die auch der anpassungsfähigen Analysekategorie des jüdischen »Fremden« zugrunde gelegt werden können und kategorienübergreifend als Grundmuster (Weyand 2016a: 12) antisemitischer Zuschreibungen undurchlässige Grenzziehungsstrategien des Antisemitismus kennzeichnen: Personifizierung gesellschaftlicher Prozesse mit daraus resultierender Verschwörungstheorie; Konstruktion identitärer Kollektive; Manichäismus, der die Welt strikt in Gut und Böse teilt und den Feind zum existenziell bedrohlichen, wesenhaft Bösen stilisiert, dessen Vernichtung das Heil der Welt bedeutet. (Haury 2002: 158) Das Strukturmerkmal der Personifikation wird an späterer Stelle im Zusammenhang mit dem antisemitischen Teilungsprinzip von Gemeinschaft und Gesellschaft eine Rolle spielen. Daneben sind die soziokulturell kontextualisierbaren Strukturprinzipien antisemitischer Welterklärungsmodelle, die zum Teil bereits in den Kapiteln über rassialisierte und ethnisierte Typen der Grenzziehung diskutiert wurden, in zweierlei Hinsicht von zentraler Bedeutung. Erstens erklärt der Manichäismus die existenzielle Bedrohung, die in antisemitischen Grenzziehungen von der pathischen10 Figuration des omnipotenten, mit unveränderlichen Eigenschaften ausgestatteten »imaginary Jew« (Zukier 1996: 1120) ausgeht und einen radikalen Ausschluss der jüdischen »Fremdgruppe« hervorbringen kann. Im Hinblick auf Kategorisierungen israelbezogener Antisemitismen sind hierbei etwa solche Zuschreibungen relevant, die den jüdischen Staat als Ganzes als Apartheidregime, Gefahr für den Weltfrieden, ungeheuer aggressiven, kolonialistischen, staatsterroristischen und imperialistischen Staat dämonisieren, eine einseitig stereotypisieren-

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Der Begriff der pathischen Projektion wurde von Horkheimer und Adorno in der »Dialektik der Aufklärung« entwickelt und beschreibt eine gesellschaftlich induzierte, verzerrte Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit, in deren Folge Jüd*innen als Chiffren für eine Reihe unzusammenhängender sozialer Leiden fungieren. Entscheidend ist hierbei, dass der pathische Anteil an antisemitischen Invektiven von dem realen Verhalten empirischer Jüd*innen losgelöst ist (2008: 196-209).

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de Wahrnehmung des Nahostkonfliktes durch die strikte Dichotomie von (jüdischen) Täter*innen und (palästinensischen) Opfern artikulieren oder Ritualmord- und Blutlegenden im Kontext der Auseinandersetzung zwischen Israelis und Palästinenser*innen aktualisieren (Bernstein 2018: 37-39; Rensmann 2015: 97; Schwarz-Friesel und Reinharz 2013: 209-243). Zweitens ermöglicht die Interrelation der drei Dimensionen antisemitischer Sinnkonstruktion die bedeutungsoffenen, anpassungsfähigen und wandelbaren Codes nationenbezogener Antisemitismen als Kategorien der Analyse soziokultureller Grenzziehungen operationslogisch fassbar zu machen. Diese mehrdimensionale Anpassungsfähigkeit zeigt sich in den vielschichtigen Unterscheidungen, die Jüd*innen oder das »Jüdische« als bedrohliche Differenz des idealisierten »Eigenbildes« einer nationalen »Eigengruppe« markieren. Als eine solche Differenzierung lassen sich sowohl die Kategorisierung des »kollektiven Juden« Israels als auch die Klassifikation von Jüd*innen als illoyale Internationalisten oder wurzellose Kosmopoliten begreifen (Schwarz-Friesel und Reinharz 2013; Stögner und Höpoltseder 2013: 124; Holz 2001: 108). Auch lassen sich auf diese Weise mehrdimensionale Kreuzungen von Achsen der Differenz in der Verwendungspraxis sozialer Akteur*innen feststellen. Dies geschieht etwa dann, wenn Jüd*innen in der Diaspora durch das Stereotyp der »doppelten jüdischen Loyalität« als nicht-zugehörig identifiziert werden. Entsprechend dieses gruppenlogischen Wissens über »die« Jüd*innen werden Jüd*innen als Mitglieder eines grenzüberschreitenden, globalen Gesamtkollektivs der »Juden« wahrgenommen und mit dem jüdischen Staat Israel homogenisiert, wodurch ihr Loyalitätsbekenntnis zu einer gegebenen, ethno-nationalen Zugehörigkeitsordnung infrage gestellt wird (Bergmann und Erb 1991).

5.5

»Staatsbürgerlich-zivile« und »primordial-ethnische« Idealtypen des »Nationalen« – Die symbolische Dimension nationaler Vergemeinschaftungsprozesse

Es wurde aufgezeigt, wie sich die spezifische Qualität antisemitischer Repräsentationen in nationalisierten Grenzziehungsprozessen deuten lässt, mithin also die antisemitisch kategorisierte Außenseite nationaler Repräsentationsregime strukturiert wird. Im Folgenden möchte ich daher auf die symbolische Dimension nationaler Vergemeinschaftungsprozesse eingehen, genauer auf die stabilisierenden Effekte der symbolischen Codierung nationalisierter »Wir«-Gruppen, die Situierbarkeit der Bedeutungszuweisung dieser Codes und ihre dynamischen Interpellationen. Ich möchte in diesem Zusammenhang mit »primordial-ethnischen«, »staatsbürgerlich-zivilen« und biologisierten »Volksnationen« speziell auf drei Idealtypen nationaler Zugehörigkeitsprojekte aufmerksam machen, die auf der Ebene von Analysekategorien nationalisierter Typen der antisemitischen Grenzziehung eine besondere Rolle einnehmen. Zunächst bleibt im Anschluss an A. P. Cohen (1985) zu präponieren, dass die relationale Konfiguration der Grenze in Praktiken der Vergemeinschaftung die Identität einer Gemeinschaft einhegt (12). Über die abwertende Klassifizierung von NichtZugehörigkeit des jüdischen »Anderen« können demnach die idealisierten Identitätsmarker der nationalen »Eigengruppe« ausgehandelt werden. Diese exkludierende Idee

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de Wahrnehmung des Nahostkonfliktes durch die strikte Dichotomie von (jüdischen) Täter*innen und (palästinensischen) Opfern artikulieren oder Ritualmord- und Blutlegenden im Kontext der Auseinandersetzung zwischen Israelis und Palästinenser*innen aktualisieren (Bernstein 2018: 37-39; Rensmann 2015: 97; Schwarz-Friesel und Reinharz 2013: 209-243). Zweitens ermöglicht die Interrelation der drei Dimensionen antisemitischer Sinnkonstruktion die bedeutungsoffenen, anpassungsfähigen und wandelbaren Codes nationenbezogener Antisemitismen als Kategorien der Analyse soziokultureller Grenzziehungen operationslogisch fassbar zu machen. Diese mehrdimensionale Anpassungsfähigkeit zeigt sich in den vielschichtigen Unterscheidungen, die Jüd*innen oder das »Jüdische« als bedrohliche Differenz des idealisierten »Eigenbildes« einer nationalen »Eigengruppe« markieren. Als eine solche Differenzierung lassen sich sowohl die Kategorisierung des »kollektiven Juden« Israels als auch die Klassifikation von Jüd*innen als illoyale Internationalisten oder wurzellose Kosmopoliten begreifen (Schwarz-Friesel und Reinharz 2013; Stögner und Höpoltseder 2013: 124; Holz 2001: 108). Auch lassen sich auf diese Weise mehrdimensionale Kreuzungen von Achsen der Differenz in der Verwendungspraxis sozialer Akteur*innen feststellen. Dies geschieht etwa dann, wenn Jüd*innen in der Diaspora durch das Stereotyp der »doppelten jüdischen Loyalität« als nicht-zugehörig identifiziert werden. Entsprechend dieses gruppenlogischen Wissens über »die« Jüd*innen werden Jüd*innen als Mitglieder eines grenzüberschreitenden, globalen Gesamtkollektivs der »Juden« wahrgenommen und mit dem jüdischen Staat Israel homogenisiert, wodurch ihr Loyalitätsbekenntnis zu einer gegebenen, ethno-nationalen Zugehörigkeitsordnung infrage gestellt wird (Bergmann und Erb 1991).

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»Staatsbürgerlich-zivile« und »primordial-ethnische« Idealtypen des »Nationalen« – Die symbolische Dimension nationaler Vergemeinschaftungsprozesse

Es wurde aufgezeigt, wie sich die spezifische Qualität antisemitischer Repräsentationen in nationalisierten Grenzziehungsprozessen deuten lässt, mithin also die antisemitisch kategorisierte Außenseite nationaler Repräsentationsregime strukturiert wird. Im Folgenden möchte ich daher auf die symbolische Dimension nationaler Vergemeinschaftungsprozesse eingehen, genauer auf die stabilisierenden Effekte der symbolischen Codierung nationalisierter »Wir«-Gruppen, die Situierbarkeit der Bedeutungszuweisung dieser Codes und ihre dynamischen Interpellationen. Ich möchte in diesem Zusammenhang mit »primordial-ethnischen«, »staatsbürgerlich-zivilen« und biologisierten »Volksnationen« speziell auf drei Idealtypen nationaler Zugehörigkeitsprojekte aufmerksam machen, die auf der Ebene von Analysekategorien nationalisierter Typen der antisemitischen Grenzziehung eine besondere Rolle einnehmen. Zunächst bleibt im Anschluss an A. P. Cohen (1985) zu präponieren, dass die relationale Konfiguration der Grenze in Praktiken der Vergemeinschaftung die Identität einer Gemeinschaft einhegt (12). Über die abwertende Klassifizierung von NichtZugehörigkeit des jüdischen »Anderen« können demnach die idealisierten Identitätsmarker der nationalen »Eigengruppe« ausgehandelt werden. Diese exkludierende Idee

5 Zur Konzeptualisierung von nationalisierten Narrativen des Antisemitismus

von »Gemeinschaft« (»community«) lässt sich daher vice versa auch auf die Aufrechterhaltung und Aushandlung nationaler Identitäten übertragen, weshalb das dynamische Verständnis des symbolischen Gemeinschaftsbegriffes A. P. Cohens auch in die theoretische Perspektivierung nationenbezogener Grenzziehungsprozesse des Antisemitismus integriert werden soll.11 Nach A. P. Cohen stellt die (nationalisierte) Gemeinschaft ein »boundary-expressing symbol« (15) dar.12 Ein bedeutungs- und symbolorientiertes Verständnis von (nationalisierten) Gemeinschaften reflektiert daher den ambivalenten Sinngehalt des »Nationalen« als Kategorie der Praxis. Ihr Praxischarakter zeigt sich nun darin, dass die vielfältigen Deutungspotenziale kollektiver Identifikationen und Repräsentationen für die interpretative Aneignung und sinnzuweisenden Praktiken sozialer Akteur*innen geöffnet sind: The quintessential referent of community is that its members make, or believe they make, a similar sense of things either generally or with respect to specific and significant interests, and, further, that they think that that sense may differ from one made elsewhere. (16) Zwei Idealtypen13 symbolischer Gemeinschaftscodes, die nach Eisenstadt (2002) sowie Eisenstadt und Giesen (1995) für die Sinnkonstruktion von Grenzen in Prozessen der kollektiven Identifikation relevant sind, erscheinen für die vorliegende Arbeit von Interesse. Zum einen wären das primordiale Codes, die Mitgliedschaftsbedingungen anhand von Askriptionen naturalisierter Bedeutungsträger wie etwa durch die Kategorien »Ethnizität«, »Rasse«, »Geschlecht« oder Verwandtschaft festlegen. Zum anderen sind dies vor allem zivile Codes:

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Wie Richard Jenkins (2008: 138) zurecht anmerkt, enthalten A. P. Cohens interpretativer Zugang zur symbolischen Dimension von »Gemeinschaft« und das darin angelegte Verständnis von kultureller Identität mit dem Merkmal der Dauerhaftigkeit auch ein konstitutives Element nationaler Identifikationsweisen. Obgleich A. P. Cohen Grenzziehungen zwischen einem »Eigenen« und dem »Fremden« als wesentlichen Bestandteil von Gemeinschaftskonstruktionen begreift, reflektiert die Konzeption seines Gemeinschaftsbegriffes nur unzureichend die machtvolle Ausschlussdimension von Grenzziehungen, die sich in symbolischer und physischer Gewalt darstellen kann (Delanty 2013: 34). Die Aneignung des Gemeinschaftsbegriffes A. P. Cohens erfolgt in dem Wissen um diese Schwäche seines Modells. Neben primordialen und zivilen Codes skizzieren Eisenstadt und Giesen mit der Dimension sakraler Codes noch einen dritten Idealtyp symbolischer Codierungen von kollektiven Identitäten. Sakrale Codes teilen die soziale Welt in die Sphären des Erhabenen und des Profanen, wobei das Heilige Repräsentationen von Gott, des Fortschrittes oder der Rationalität sein können (Eisenstadt und Giesen 1995: 82f.). Im Ergebnis basiert die Teilhabe an dem Sakralen auf einem »privileged access to the sacred, on a divine mission, on a particular representation of universal reason and progress« (84). Insofern ich nicht davon ausgehe, dass sich in den Grenzziehungsstrategien nationenbezogener Antisemitismen utopische Momente des Sakralen identifizieren lassen, beschränke ich mich auf diese kursorische Darstellung. Grundsätzlich können aber auch Nationalismen sakrale Dimensionen reproduzieren, etwa dann, wenn eine heilige Beziehung zwischen einem Kollektiv und einem bestimmten Gebiet postuliert wird und sich darauf aufbauend ein kollektiver Gemeinschaftsglauben entwickeln kann (Yuval-Davis 2011: 83).

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Civic codes do not consider collective identity as representing an »external« reference like nature or the sacred; instead, the routines, traditions and institutional or constitutional arrangements of a community are regarded as the core of its collective. (Eisenstadt und Giesen 1995: 80) Zwar enthalten Mitgliedschaftsbedingungen ziviler Codierungen im Gegensatz zu primordialen Codierungen eher inklusive Zugangskriterien, die durchlässige Grenzen signifizieren können, sie eignen sich aber gleichermaßen für binäre Klassifikationen von Freund/Feind (Preyer 2011: 121). »Zivile« Differenzen können sich dabei über politische Wertesysteme, Ziele und Forderungen oder auch über die Anerkennung politischer Institutionen ausdrücken. Für das Untersuchungsinteresse dieser Arbeit ist insbesondere das Moment der Interrelationalität dieser Identitätscodes zentral, insofern die Homogenisierung einer Kollektividentität nicht bloß entlang eines Idealtypen gelingen kann, sondern sie sich nur in dem Zusammenspiel unterschiedlicher Unterscheidungszeichen – ziviler, primordialer und sakraler Codes – und ihrer Wechselwirkungen realisieren können (Eisenstadt 2002: 64). Ich verwende diese Idealtypen nationaler Gemeinschaftskonstruktionen im Hinblick auf die Konzeptualisierung einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungen, um die kategorialen Wechselwirkungen der bedeutungsoffenen Unterscheidungslinie »Nation« mit den Ungleichheitsdimensionen »Rasse« und »Ethnizität« in der Verwendungspraxis sozialer Akteur*innen analysieren zu können. Diese Unterscheidung zwischen zivilen und primordialen Codierungen von Gruppenidentitäten korrespondiert auf der Analyseebene nationalisierter Grenzziehungen mit der idealtypischen Unterscheidung zwischen »primordial-ethnischen Nationen« und »zivil-staatsbürgerlichen Nationen«. Während »ethnische Nationen« Zugehörigkeit auf der exklusiven Grundlage ethnisierter Abstammungskriterien wie Herkunft, »Kultur« oder Sprache vermitteln und ihr Zugang dementsprechend restriktiv gestaltet wird, beruhen »zivile Nationen« auf politischen, d.h. voluntaristisch, liberalen und universalistischen Mitgliedschaftskriterien, insofern die Mitgliedschaft in einem solchen Solidarverband lediglich ein aktives Willensbekenntnis des Einzelnen erfordert (Brubaker 2007: 191-197; Smith 1991: 134-138; Wimmer 2005: 121)14 . In der sozialen Wirklichkeit beruhen jedoch sämtliche Nationen bis zu einem gewissen Grad auf der Zuweisung von ethno-kulturellen Kriterien (Brubaker 1999). So enthält etwa auch das freiwillige Willensbekenntnis zur französischen Nation ethnisierte Mitgliedschaftsbedingungen, wenn die Aneignung der Landessprache zur Bedingung für den Erwerb der Staatsbürgerschaft wird (Kymlicka 2001: 244f.; Wimmer 2004: 41). Sinnvoller als die normativ grundierte Differenzierung zwischen einem »bösen« ethnischen und »guten« staatsbürgerlichen Nationalismus (Özkirimli 2005: 26ff.; Yuval-Davis 1997: 20f.)15 erscheint daher eine prozessorientierte Grenzziehungsperspektive, die das Zusammenspiel verschiedener Sinngebungen des »Nationalen« in gesellschaftlichen Aushandlungen und 14

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Klassischerweise werden Frankreich und die USA der Typologie einer staatsbürgerlichen Nation zugeordnet, während das deutsche ius sanguinis (Abstammungsprinzip) dem Modell einer ethnischen Nation entsprechen soll (Kymlicka 2001, zur Kritik an dieser Zuordnung: Wimmer 2004: 36; Brubaker 1999: 59-63; Spencer und Wollman 1998). Stellvertretend für diese normative Unterscheidungsperspektive stehen Kohn (1962); Ignatieff (1994) und Kristeva (1993).

5 Zur Konzeptualisierung von nationalisierten Narrativen des Antisemitismus

öffentlichen Diskursen reflektiert. Ich folge daher Nira Yuval-Davis (1997: 21), die vorschlägt, die vielfältigen, mehrdimensional verschränkten Konstruktionsweisen von Nationalisierungsprojekten in drei hegemoniale, historisch-lokal spezifizierbare Dimensionen zu unterscheiden, um damit die kontingente Aneignungspraxis nationaler Distinktionen zu verdeutlichen. Erstens die Verdichtung eher rassialisierter Vorstellungen des »Nationalen« in einer »Volksnation«, in der eine gemeinsame Abstammung auf der biologisierenden Vorstellung von geteiltem Blut bzw. geteilten Genen konstruiert wird. Zweitens eher ethnisierende Imaginationen des »Nationalen« in einer »Kulturnation«, die Zusammengehörigkeit über die symbolisch hergestellte, nicht-organische Grundlage gemeinsamer, verfügbarer kultureller Werte, wie etwa Sprache, Religion, Traditionen und Bräuche vermittelt. Drittens Konzeptualisierungen von eher liberalen »Staatsnationen«, die, eng vermittelt durch staatliche Souveränität und Territorium, Solidarität über das Prinzip der Staatsbürgerschaft betonen und zivile Codierungen reproduzieren. Die Form des kulturellen Kompromisses einer Gesellschaft zeigt schließlich an, welche Typen nationenbezogener Grenzziehungen identifizierbar sind und welches Zusammenspiel ziviler und primordial ethnisierender oder rassialisierender Codes in dem diskriminierenden Ausschluss von Jüd*innen erkennbar wird. Mit Blick auf die Konzeptualisierung eines taxonomischen Analysemodells antisemitischer Grenzziehungsprozesse werden diese Unterscheidungen zwischen »Volks«-, »Staats«- und »Kulturnation« als Analysekategorien nationalisierter Klassifikationsmuster übernommen. Der Mehrwert ergibt sich aus der hier prononcierten intersektionalen Grenzziehungsperspektive auf antisemitische Differenzierungsprozesse. Denn, um den Ausgangspunkt noch einmal zu wiederholen: Kulturelle Klassifikationssysteme des »Nationalen« generieren antisemitische Grenzen, die durch interpretative Akte der kategorialen Zuschreibung durch soziale Akteur*innen kontingente, d.h. immer nur vorläufig stabilisierte, Grenzen der In- und Exklusion von Jüd*innen herstellen. Die Idealtypen »liberal-voluntaristischer«, »ethnisch-primordialer« und »biologistisch-völkischer« Gemeinschaftscodes sollen daher auf der Analyseebene der Taxonomie auf den Umstand rekurrieren, dass sich in unterschiedlichen lokalen und historischen Kontexten veränderbare Sinngebungen des Nationalen herstellen können, in deren Folge Jüd*innen als nationale »Andere« abgewertet und ausgegrenzt werden. Welche Funktionen erfüllen diese kategorialen Zuschreibungen symbolischer Grenzen des Nationalen für die Artikulation von Zugehörigkeiten? Auf den symbolischen Codes für gemeinschaftliche Zugehörigkeiten in nationalen Solidarverbänden aufbauend können mit A. P. Cohen schließlich drei Argumente ins Feld geführt werden, die die Funktion von Symbolen für die sinnhafte Konstruktion von Gemeinschaften (»sense of us«, Jenkins 2008: 135) als wandelbare Kategorien der Praxis betonen: Erstens vermittelt ein kollektiv geteiltes Reservoir an Ritualen, Symbolen und Wissen ein gemeinsam geteiltes Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. So fungieren etwa Kriegsdenkmäler oder Sportmannschaften als symbolische Grenzmarkierungen, derer sich Individuen bedienen, um einer Gemeinschaft ihren aus subjektiver Perspektive »einzigartigen« kulturellen Sinn zu verleihen (A. P. Cohen 1985: 19). Zweitens ist die Gemeinschaft selbst eine symbolische Ressource, die von strategisch handelnden Akteur*innen für politische Repräsentationsformen angeeignet wird, um Forderungen, Ziele oder Ansprüche im Namen dieser Gemeinschaft zu artikulieren

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(A. P. Cohen 1985: 14f.; Jenkins 2008: 136). Drittens weist das kollektiv geteilte Wissen über die symbolische Ordnung einer Gemeinschaft einen diffusen, notwendig inhomogenen Sinngehalt auf, der für divergierende Interpretationsweisen der Bedeutung von »Gemeinschaft« zugänglich ist. Heterogene Akteur*innen eignen sich die soziale Wirklichkeit der »Gemeinschaft« auf unterschiedliche Weise an, entwickeln demnach je spezifische Vorstellungen von der charakteristischen Eigentümlichkeit ihrer Gemeinschaft16 und empfinden sich dennoch als zugehörig: »As a symbol, it is held in common by its members; but its meaning varies with its members’ unique orientations to it« (A. P. Cohen 1985: 15). Ähnlich skizziert auch Anderson die kulturelle Wirkungsweise der politischen Gemeinschaftsform einer »Nation«, wenn er schreibt, dass die imaginierte Gemeinschaft der »Nation« vor allem deswegen vorgestellt ist, »weil die Mitglieder selbst der kleinsten ›Nation‹, die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert« (Anderson 2005: 15). Die abstrakte Vorstellung einer simultanen Gleichzeitigkeit der Zugehörigkeit eines jeden Einzelnen zu dem Kollektiv der »Nation« ist es, die ein zentrales Merkmal der nationalen Vergemeinschaftungsprozesse darstellt und daher für die Analyse heterogener Grenzziehungsstrategien nationenbezogener Antisemitismen und ihrer Wechselwirkungen zugrunde gelegt wird. Mit dem aus der Genderforschung stammenden standpunkttheoretischen Konzept der situated imagination von Yuval-Davis und Stoetzler (Yuval-Davis und Stoetzler 2002a; 2002b) kann auf eben diese Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeiten, auf den divergierenden sinnhaften Zugang verschiedener gesellschaftlicher Gruppen zu der symbolischen Bedeutungsressource der »Nation« rekurriert werden. Als situierbar definieren die beiden Autor*innen das aufgrund intersektionaler Positionierungen im sozialen Raum unterschiedlich inkorporierte (kulturelle) Wissen über soziale Differenzkategorien wie »Geschlecht«, »Klasse«, »Rasse« oder eben auch »Nationalität« und der damit einhergehenden Variabilität ihrer symbolischen Grenzen.17 Der Begriff der »Vorstellung« wird hier erkenntnistheoretisch als aktives Konstruktionsmoment begriffen, das die Pluralität dessen abbildet, was die konkreten Subjekte, in Relation zu ihrer sozialen Verortung in gesellschaftlichen Machtverhältnissen und politischen Positionierungen, als spezifischen Inhalt der Grenze einer (nationalen) Gemeinschaft definieren und welches interrelationale Zusammenspiel von Differenzen für diese Subjekte identifizierbar ist (Yuval-Davis und Stoetzler 2002b: 330f.). Mit anderen Worten: »Imagination is situated; our imaginary horizons are affected by the positioning of our gaze« (Yuval-Davis und Stoetzler 2002a: 327). Spezifische Positionierungen, Erfahrungen, Selbstidentifikationen und Werte, mithin also der gesellschaftliche Standort des/der Einzelnen prägen 16

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Jenkins (2008: 136) erklärt diese individuell situierbare Vorstellung mit dem Symbol des Fußballklubs einer Dorfgemeinschaft. Jedes Mitglied der Gemeinschaft verbindet andere Erfahrungen mit dem Fußballverein, vermittelt dem Gemeinschaftssymbol demzufolge eine andere Bedeutung und Sinn. Gleichzeitig erkennt aber jede*r die Repräsentationsfunktion des Vereins als kollektives Symbol ihrer Gemeinschaft an, weil sie simultan an ihre subjektive Bindung zu dem Symbol der Gemeinschaft glauben. Insofern sich der vorliegende Abschnitt für die situierte Wahrnehmungsweise des »Nationalen« interessiert, werden situierbare Imaginative von Differenzen nur noch in Bezug auf nationenbezogene Grenzziehungen diskutiert.

5 Zur Konzeptualisierung von nationalisierten Narrativen des Antisemitismus

demnach die konfliktuellen Anerkennungskämpfe sozialer Akteur*innen in nationenbezogenen Grenzziehungsprozessen (Yuval-Davis 2006: 204). Am Beispiel der Stellung von Jüd*innen im Nationalsozialismus wird deutlich, welche Konsequenzen etwa differente politische Werte, Identitäten und soziale Umstände für die wandelbare Vorstellung von Zugehörigkeit in Nationalisierungsprojekten haben können. Während Jüd*innen von der politischen Gemeinschaft im Nationalsozialismus exkludiert wurden, wurden sie von Kommunist*innen als Teil des nationalen Kollektivs definiert; so wie sich auch ein Großteil der Jüd*innen selbst als Mitglieder der deutschen »Nation« identifiziert haben (Yuval-Davis und Stoetzler 2002b: 330). Das Moment der »situierbaren Vorstellung« kann also helfen, die situative Logik von nationalisierten Differenzierungsund Zugehörigkeitskriterien, die in unterschiedlichen Kontexten wirksam werden, zu analysieren. In Ergänzung zu der weiter oben bereits festgestellten Ambiguität antisemitischer Klassifikationsmuster ermöglicht es das Konzept der »situierbaren Vorstellung« darüber hinaus, auch die ambivalente Logik des gleichzeitigen Ein- und Ausschlusses von Jüd*innen in Grenzziehungsprozessen zu erklären, d.h. sowohl im Hinblick auf die taxonomisch distinkten Typen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Grenzziehungen und ihres multiplen Zusammenspieles auf der Ebene sozialer Praktiken als auch auf die damit zusammenhängenden wandelbaren Positionierungen von Jüd*innen in den Grenzen der »Eigen«- und »Fremdgruppe«. Zuletzt möchte ich für die situierbare Relationierung nationaler Selbstidentifikation und antisemitischer Fremdkategorisierung abschließend das antisemitismustheoretische Gegensatzpaar von »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« (Stoetzler 2010; Haury 2002; Rensmann 2004a) als kontextualisierbare Praxiskategorien in Klassifikationsmustern nationalisierter Grenzziehungen diskutieren. Demzufolge reproduziert die begriffliche Axiomatik dieses Gegensatzpaares in soziokulturellen Grenzziehungsprozessen wandelbare und anpassungsfähige Klassifikationen der nationalen oder nationalisierten jüdischen »Fremdgruppe«. Grundlegend für diese kulturelle Zuschreibungspraxis des »Jüdischen« ist die Semantik einer Selbstidentifikation der »Wir«-Gruppe als primordial hergestellte »Gemeinschaft« und Fremdidentifikation der jüdischen »Gesellschaft«, die Jüd*innen komplexitätsreduzierend mit den abstrakten Prozessen moderner Vergesellschaftung identifiziert respektive personifiziert (Holz 2005: 23-27). In nationenbezogenen Grenzziehungen des Antisemitismus können sich diese antagonistischen Gruppenkonstruktionen mit primordialen (rassialisierten und ethnisierten) Codes überlagern. Nationalisierte Antisemitismen reproduzieren diese Binarität durch die Konstruktion eines Gegensatzes zwischen vermeintlich »echten« und »verwurzelten« Nationen und der existenziellen Bedrohung dieser autochthonen Gemeinschaften durch die wurzellose, anationale jüdische »Fremdgruppe«. Kennzeichnend ist hierfür die antisemitisch-exkludierende Vorstellung, dass sich Jüd*innen auf keinen genealogischen Urmythos (Weyand 2016b) oder keine biologisierte Ursubstanz der Gemeinschaft einer Nation berufen kann18 . Auf

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Damit soll nicht impliziert werden, dass die symbolische Herstellung einer jüdische »Fremdgruppe« nicht auf dem Merkmal der Abstammungsgemeinschaft beruhen kann. Der Unterschied ist nur, dass in antisemitischen Stereotypisierungen Jüd*innen aufgrund ihrer Abstammung eine Un-

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der typologisch distinkten Ebene von Analysekategorien nationenbezogener Grenzziehungen lassen sich davon ausgehend antizionistische Deutungsangebote als Klassifikationsrepertoires antisemitischer Grenzziehungen des Nationalen feststellen, wenn die nationalisierte Selbstidentifikation von Jüd*innen in Form des jüdischen Staates Israel als illegitim, künstlich, ahistorisch und ohne »natürliche« Verbindung von »Volk« und Raum kategorisiert wird (Holz 2005: 79-87; Stögner 2018: 82; Schwarz-Friesel und Reinharz 2013: 240-243). Auch reproduziert sich in dem binären Gegensatzpaar von Gemeinschaft/Gesellschaft zum einen die machtparadigmatische Kategorisierung jüdischer Omnipotenz – etwa in Form rassialisierter Narrative einer jüdischen Weltherrschaft. Zum anderen lässt sich hier auch die phantasmatische Logik einer abstrakten jüdischen Verschwörung – etwa durch die ethnisierende Aneignung der Symbolik »jüdischer Strippenzieher« – wiederfinden; beides erscheint als kulturelle Codes für die Deutung abstrakter gesellschaftlicher Prozesse, Krisen und Machtverhältnisse sozial sedimentiert.19 Zwar sind die wandelbaren Sinnzuweisungen jüdischer »Gesellschaft«, die von Akteur*innen in veränderbaren kulturellen Kontexten reproduziert und angeeignet werden, Gegenstand kultureller Aushandlungsprozesse von soziokulturellen Grenzziehungen. Aber es lässt sich mit Bezug auf anti-israelische Antisemitismen als Ausdruck der »Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert« (Schwarz-Friesel und Reinharz 2013) feststellen, dass die negative Klassifikation »jüdischer« Abstraktheit in Form des Staates Israel über die Sinnkonstruktion machtvoller jüdisch-zionistischer Lobbys sichtbar wird, zum Beispiel durch die Delegitimierungen Israels als »künstlichen« Staat, den schimärischen Glauben an eine zionistische Weltherrschaft oder die Hyperbel einer Bedrohung des Weltfriedens durch den Staat Israel (Rosenfeld 2015). Im Ergebnis lassen sich der temporär stabilisierte, gleichwohl aber subjektiv dauerhaft erscheinende Zusammenhalt einer »Volks«-, »Kultur«- oder »Staatsnation«, das situierbare Gefühl von kollektiver Zusammengehörigkeit, auf der Grundlage kategorialer Identifikationen von gemeinsam geteilten Eigenschaften, Attributen, Werten oder Ritualen, als subjektive, d.h. heterogene Herstellung von »commonality« (A. P. Cohen 1985: 20) begreifen. Diese kollektive Vorstellung von Zusammengehörigkeit spannt ein Netz von Bedeutungen über das Symbol der Gemeinschaft auf. Dabei kann die je subjektiv zugewiesene Bedeutung dessen, was die Identität der Gemeinschaft auszeichnet, durchaus abweichen, ohne jedoch die unhinterfragte Grenze der Gemeinschaft zu unterlaufen, solange die Differenzierungen nach außen stärker wirken als die disparaten Positionierungen im Inneren (A. P. Cohen 1985: 20f.). Einschränkend gilt hierbei, dass die Vorstellung von (Nicht-)Zugehörigkeit erheblich variieren kann.20 Jüd*innen re-

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fähigkeit zur Nationenbildung zugesprochen wird und sie mehr noch als überwältigende Macht des kollektiven Selbst einer Nation symbolisiert werden (Weyand 2016a). Ich stimme an dieser Stelle mit Globisch (2014: 254) überein, die darauf hinweist, dass sich die von Moishe Postone getroffene Unterscheidung zwischen Konkretem und Abstraktem als Differenzmerkmal des Antisemitismus (Postone 1988) in der antisemitischen Binarität von Gemeinschaft/ Gesellschaft auflösen lässt. Letztlich folgt der antisemitische Antikapitalismus, ausgedrückt in dem Phantasma einer jüdischen Zirkulationssphäre, derselben Logik, die auch für die Personifikation von Jüd*innen mit den negativen Begleiterscheinungen der abstrakten Vergesellschaftungsprozesse der Moderne zugrunde gelegt werden kann. Zum Thema Zusammengehörigkeitsgefühl siehe groupness Kapitel 2.3.

5 Zur Konzeptualisierung von nationalisierten Narrativen des Antisemitismus

präsentieren hinsichtlich der symbolischen Gemeinschaftskonstruktion einer »Nation« häufig als nationale oder nationalisierte »Fremdgruppe« den »signifikanten Anderen«.

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Nationale Narrative als Homogenisierungsmechanismen nationaler Vergemeinschaftungen

Wurde zuvor auf die symbolische Codierung nationaler Gemeinschaften und ihrer mehrdimensionalen Herstellungsweisen als idealtypische »Volks«-, »Kultur«- und »Staatsnation« hingewiesen, macht die Situierbarkeit unterschiedlicher Vorstellungsweisen des Nationalen noch auf einen anderen Aspekt aufmerksam. Dieser geht aus der Heterogenität der Bevölkerungsgruppen einer »Nation« hervor und kann in den Fragen zusammengefasst werden: Welcher Art sind die soziokulturellen Grenzen, die im Prozess kultureller Re-Signifikation immer neue Gruppen ein- und ausschließen? Wie wird ein kultureller Raum trotz vielfältiger sozialer Differenzlinien (»Geschlecht«, »Klasse«, Bildung, »Rasse«, »Ethnizität« usw.) und gesellschaftlicher Machtkonstellationen homogenisiert? Es sind nationale Narrative, denen es gelingt, eine große Erzählung der »Nation« zu etablieren und dabei die notwendige Bemäntelung vorhandener gesellschaftlicher Pluralismen, politischer Gegensätze und sozialer Statusunterschiede zu leisten (Yurdakul und Korteweg 2016: 20f.; Yuval-Davis 2011: 97ff.), mithin also die interne Differenz, die »Andersheit des Volkes-als-dem-Einen« (Bhabha 2011: 224) zu überdecken. So werden heterogene Akteur*innen in den »kameradschaftliche[n] Verbund der Gleichen« (Anderson 2005: 17) einer »Nation« hineingerufen, weil sie als Rezipienten der einen Geschichte gelten, die »erzählt, was es heißt, zu eben dieser Nation zu gehören« (Yurdakul und Korteweg 2016: 22). Mit Duara gesprochen bildet sich ein Narrativ als »master narrative« (Duara 1996: 168) heraus, das diesen Prozess der kulturellen Signifikation bestimmter Eigenschaften, Merkmale oder Praktiken vorübergehend abschließt und als »hard borders« (ebd.: 169) der In- und Exklusion einer nationalen Gemeinschaft konstituiert. Die Dauerhaftigkeit jener Narrative kann erklärt werden, wenn sie im Sinne Armstrongs als symbolic border guards (1982) verstanden werden, die das Kontinuum kultureller Grenzziehungen stabilisieren. Sprache, »Kultur«, »Religion« oder »Gender« können daher auf der Ebene der Analysekategorien als Grenzmarkierungen nationenbezogener Grenzziehungen definiert werden, weil sie als Ausdruck pfadabhängiger Tradierungen das kollektive Wissen über die »Nation« konstituieren, d.h. ihre narrative Plausibilität erzeugen (Armstrong 1982: 6ff.; Yuval-Davis 2011: 93f.). So können nationale Narrativierungen in der Verwendungspraxis sozialer Akteur*innen bestimmte Artefakte, Ereignisse, Personen, Literatur und Kunst, Orte oder Landschaften mit einer nationalen Bedeutung belegen sowie eine Reihe kultureller Praktiken wie Dialekte, Sprache, vorgestellter gemeinsame Geschichte, Abstammung, Religion, Gebräuche, politische Werte und Einstellungen, aber auch ganz banale Alltagsphänomene wie Recycling oder Mülltrennung als konstitutive und gewissermaßen zeitlose, gleichwohl aber symbolisch hoch umkämpfte Elemente eines gemeinschaftlichen »nationalen Wir« privilegieren (Özkirimli 2005: 53; Duara 1996: 168ff.; Anthias und Yuval-Davis 1992: 23). Nationale Narrative produzieren daher Repräsentationen und Klassifikationen, die

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präsentieren hinsichtlich der symbolischen Gemeinschaftskonstruktion einer »Nation« häufig als nationale oder nationalisierte »Fremdgruppe« den »signifikanten Anderen«.

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Nationale Narrative als Homogenisierungsmechanismen nationaler Vergemeinschaftungen

Wurde zuvor auf die symbolische Codierung nationaler Gemeinschaften und ihrer mehrdimensionalen Herstellungsweisen als idealtypische »Volks«-, »Kultur«- und »Staatsnation« hingewiesen, macht die Situierbarkeit unterschiedlicher Vorstellungsweisen des Nationalen noch auf einen anderen Aspekt aufmerksam. Dieser geht aus der Heterogenität der Bevölkerungsgruppen einer »Nation« hervor und kann in den Fragen zusammengefasst werden: Welcher Art sind die soziokulturellen Grenzen, die im Prozess kultureller Re-Signifikation immer neue Gruppen ein- und ausschließen? Wie wird ein kultureller Raum trotz vielfältiger sozialer Differenzlinien (»Geschlecht«, »Klasse«, Bildung, »Rasse«, »Ethnizität« usw.) und gesellschaftlicher Machtkonstellationen homogenisiert? Es sind nationale Narrative, denen es gelingt, eine große Erzählung der »Nation« zu etablieren und dabei die notwendige Bemäntelung vorhandener gesellschaftlicher Pluralismen, politischer Gegensätze und sozialer Statusunterschiede zu leisten (Yurdakul und Korteweg 2016: 20f.; Yuval-Davis 2011: 97ff.), mithin also die interne Differenz, die »Andersheit des Volkes-als-dem-Einen« (Bhabha 2011: 224) zu überdecken. So werden heterogene Akteur*innen in den »kameradschaftliche[n] Verbund der Gleichen« (Anderson 2005: 17) einer »Nation« hineingerufen, weil sie als Rezipienten der einen Geschichte gelten, die »erzählt, was es heißt, zu eben dieser Nation zu gehören« (Yurdakul und Korteweg 2016: 22). Mit Duara gesprochen bildet sich ein Narrativ als »master narrative« (Duara 1996: 168) heraus, das diesen Prozess der kulturellen Signifikation bestimmter Eigenschaften, Merkmale oder Praktiken vorübergehend abschließt und als »hard borders« (ebd.: 169) der In- und Exklusion einer nationalen Gemeinschaft konstituiert. Die Dauerhaftigkeit jener Narrative kann erklärt werden, wenn sie im Sinne Armstrongs als symbolic border guards (1982) verstanden werden, die das Kontinuum kultureller Grenzziehungen stabilisieren. Sprache, »Kultur«, »Religion« oder »Gender« können daher auf der Ebene der Analysekategorien als Grenzmarkierungen nationenbezogener Grenzziehungen definiert werden, weil sie als Ausdruck pfadabhängiger Tradierungen das kollektive Wissen über die »Nation« konstituieren, d.h. ihre narrative Plausibilität erzeugen (Armstrong 1982: 6ff.; Yuval-Davis 2011: 93f.). So können nationale Narrativierungen in der Verwendungspraxis sozialer Akteur*innen bestimmte Artefakte, Ereignisse, Personen, Literatur und Kunst, Orte oder Landschaften mit einer nationalen Bedeutung belegen sowie eine Reihe kultureller Praktiken wie Dialekte, Sprache, vorgestellter gemeinsame Geschichte, Abstammung, Religion, Gebräuche, politische Werte und Einstellungen, aber auch ganz banale Alltagsphänomene wie Recycling oder Mülltrennung als konstitutive und gewissermaßen zeitlose, gleichwohl aber symbolisch hoch umkämpfte Elemente eines gemeinschaftlichen »nationalen Wir« privilegieren (Özkirimli 2005: 53; Duara 1996: 168ff.; Anthias und Yuval-Davis 1992: 23). Nationale Narrative produzieren daher Repräsentationen und Klassifikationen, die

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als essentialisierte Charakteristika von Zugehörigkeit geltungswirksam sind, insofern sie für eine Vielzahl von Menschen als kollektive Identifikationsangebote legitim erscheinen (Yuval-Davis 2011: 92; Yurdakul und Korteweg 2016: 20ff.; Hall 1994b: 202). Dem liegt im Umkehrschluss die Annahme zugrunde, dass mit den Bedeutungen und Symbolen nationaler Narrative auch immer sozial differenzierende Fragen der Deutungsmacht über (Nicht-)Zugehörigkeit verhandelt werden. Allerdings müssen auch die »harten Grenzen« von Nationalisierungsprojekten und ihrer narrativen Bedeutung im Hinblick auf die Gradualität von Grenzziehungen, wie sie in der mehrdimensionalen Aneignungspraxis durch soziale Akteur*innen sichtbar sind, unterschieden werden. Denn die vorläufige Stabilisierung hegemonialer Grenzen und ihrer Durchlässigkeit hängt von der Art des Zusammenspieles ziviler oder primordialer Codierungen ab. Während die Selbst- und Fremdidentifikation in starken, d.h. eher undurchlässigen, Gemeinschaften den exklusiven Mitgliedschaftskriterien von »Kultur«- oder »Volksnationen« entspricht, basiert die Zugehörigkeit in moralischen, d.h. eher durchlässigen, Gemeinschaften idealtypisch auf den staatsbürgerschaftlichen Zugangsbedingungen zu »Staatsnationen« (Peled 1992: 433f.). Im Zentrum der narrativen Gemeinschaftskonstruktion sozial geschlossener oder zugangsoffener »Nationen« steht dabei der bereits von Weber (2002) betonte Aspekt der gemeinschaftlichen Erinnerung als identitätsstiftender Konstruktionsmechanismus der symbolischen Herstellung des »Mythos der Nation« (Zifonun 2004, 99). Dieser Mythos siedelt den Ursprung des Nationalen in der Vergangenheit an und prononciert damit seine spezifische Qualität als Erinnerungsgemeinschaft: Gemeinsame politische Schicksale, d.h. in erster Linie gemeinsame politische Kämpfe auf Leben und Tod, knüpfen Erinnerungsgemeinschaften, welche oft stärker wirken als Bande der Kultur-, Sprach- oder Abstammungsgemeinschaft. (Weber 2002: 515)21 Daraus folgt, dass das positive Selbstbild der nationalen »Eigengruppe« auf dem entzeitlichten Fundament des ethno-symbolisch hergestellten Herkunftsmythos einer »Nation« gründet und diesen sozial konstruierten ethnisierten Kern einer gemeinsamen Abstammung genealogisch als natürliches Urprinzip der »Nation« definiert (Smith 1991; 2006; Leoussi und Grosby 2007).22 Am Beispiel der Imagination einer gemeinsamen Abstammung der nationalisierten Gemeinschaft lässt sich auch die

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Auf ähnliche Weise hat auch Benedict Anderson (2005) das Leben und Tod transzendierende Moment der nationalen Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft pointiert, wenn er den besonderen Zusammenhang von Totenkult und Nationalismus in der nationalen Gedenkkultur betont: »Es gibt keine fesselnderen Symbole für die moderne Kultur des Nationalismus als die Ehrenmäler und Gräber der Unbekannten Soldaten.[…] Doch so entleert von bestimmbaren menschlichen Überresten oder unsterblichen Seelen diese Gräber auch sind, so übervoll sind sie von gespenstischen nationalen Vorstellungen« (18, Hervorh. i. Orig.). Zur grundsätzlichen Problematik des Ethnosymbolismus siehe Kapitel 4.2. Gleichwohl ist eine enge Verbindung zwischen ethnisierten und auch rassialisierten Kollektivzugehörigkeiten sowie dem identitären Selbstverständnis von Nationen evident. So geht vielen Nationalisierungsprojekten die Vorstellung der kollektiven Zugehörigkeit zu einer ethnisierten Gemeinschaft voraus (Özkirimli 2005: 18).

5 Zur Konzeptualisierung von nationalisierten Narrativen des Antisemitismus

Notwendigkeit der Analyse der multiplen Kreuzungen des Zusammenspieles ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Klassifikationsprozesse des Antisemitismus verdeutlichen. So können Jüd*innen zwar das Kriterium einer gemeinsamen deutschen Staatsangehörigkeit mit den Mehrheitsangehörigen der »Nation« teilen, häufig wird ihnen aber dennoch die gesellschaftliche Anerkennung als vollwertige Mitglieder verweigert. Diese Form des antisemitischen Ausschlusses legt den Schluss nahe, dass Abstammung als Merkmal nationaler Zugehörigkeiten auf einer biologistischen, d.h. rassialisierten oder in einer ethnisiert-genealogischen, Differenzkonstruktion beruhen kann und sich dementsprechend interrelational darstellt (Yuval-Davis 2011: 90). Entsprechend lässt sich auch das antisemitische Stereotyp der »Wurzellosigkeit« als Praxiskategorie in nationenbezogenen Grenzziehungsprozessen einordnen: Weil die jüdische Minderheit der »marginal matrix of society« (Evans 1993: 6) angehört, ihnen eine unvereinbare Distanz zu bestimmten hegemonialen Mythen oder Identifikationsmerkmalen der autochthonen Mehrheitsgesellschaft zugeschrieben wird, können sie schließlich aufgrund ihrer marginalisierten Positionierung in nationenbezogenen Grenzziehungsprozessen exemplarisch als »Zionist*innen« fremdkategorisiert werden. Im Zentrum des Klassifikationsmusters nationalisierter Grenzziehungen und ihrer klassifikatorischen Unterscheidung zwischen nationaler in- und outgroup steht die kulturelle Herstellung von Geschichtsmythen. Als soziale Fiktionen betonen diese Mythen eine gemeinsame Herkunft, erfundene Bräuche, Traditionen oder Symbole (Hobsbawm und Ranger 2013), die als narrative Kategorien die Einzigartigkeit einer nationalen Schicksalsgemeinschaft und ihrer Distinktionsformen erzeugen. Es ist diese selektive Aneignung der Vergangenheit, die zur politischen Legitimationsquelle von Nationalisierungsprojekten, mithin also von nationenbezogenen Grenzziehungen wird (Walby 2006: 180). Eingebettet ist das Symbol- und Bedeutungssystem nationaler Vergangenheitserzählungen dabei in einen Kontinuitätszusammenhang, der die Artikulationen ereignisreicher Ursprünge nationaler Identitäten raum-zeitlich mit der Gegenwart verbindet. Gleichermaßen verbindet er genealogisch das nationale Symbol- und Bedeutungssystem als mythologisches Schicksal des so konstruierten Kollektivs mit den zukunftsbezogenen Zielen eines politischen Nationalisierungsprojektes (Hall 1994b: 200ff.). So schreiben Yuval-Davis und Anthias (1992) über das Identifikationsmoment eines gemeinsamen Schicksals: »This element of common destiny is of crucial importance […]. It has future, rather than just past, orientation, and can explain more than individual and communal assimilations within particular nations« (19). Im Zentrum der politischen Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in nationalen Erzählungen steht nach Homi K. Bhabha (1990; 2011) eine mythologische Geschichtlichkeit der nationalen Narration, die einen linearen, seriellen Charakter besitzt und einen teleologischen Charakter als »homogene und leere Zeit« (Benjamin 1965: 90) aufweist. Zu unterscheiden ist dabei der Historismus des nationalen Diskurses von der Zeitlichkeit der Erzählung, die den standpunktgebundenen, unvollständigen und notwendig kontingenten Herstellungscharakter nationaler Differenz betont (Bhabha 2011: 210-215). Der Zeitbezug dekonstruiert den holistischen Nationaldiskurs, insofern die symbolische Wirksamkeit nationaler Repräsentationen als Kategorien der Praxis von ihrer beständigen performativen Reproduktion abhängt, einer interaktionalen Sphäre, die Ernest Renan als »tägliches Plebiszit« (Renan 1993: 308) bezeichnet und in der Narra-

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tive angeeignet, aktualisiert und auch mit veränderter Bedeutung re-artikuliert werden (Delanty 2005: 365f.; Castro Varela und Dhawan 2015: 256ff.). Diese performative Erzählung der Nation erzeugt überhaupt erst das »Nationalvolk«, welches als geschichtliches a priori die mythologische Ursubstanz einer »sich ›aus sich‹ selbst erzeugenden Nation« (Bhabha 2011: 220) sinnhaft repräsentiert. Allerdings machen die performativen Prozesse der Signifikation von nationalisierten Grenzen noch auf einen weiteren Aspekt der Zeitlichkeit von nationaler Geschichtsschreibung aufmerksam – auf die Unmöglichkeit, extrem heterogene und ungleich positionierte Gruppen zu homogenisieren. Bhabha nennt diese Ebene der Zeitlichkeit einen Raum des »Dazwischen« (ebd.), der es Minderheiten und marginalisierten Gruppen ermöglicht, hegemoniale Narrative anzugreifen, indem sie eine andere Zeitlichkeit formulieren. So beinhaltet die subalterne Aneignung der geschichtlichen Zeitlichkeit eine andere Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus einer randständigen sowie räumlich, zeitlich und sozial kontextualisierbaren differenten Perspektive (Bhabha 1990: 3f.; Bonz und Struve 2011: 133; Struve 2013: 108f.; Castro Varela und Dhawan 2015: 255-257). »Die Grenze, die die nationale Selbstheit markiert, unterbricht die selbsterzeugende Zeit der nationalen Produktion und sprengt die Signifikation des Volkes als homogene Gruppe« (Bhabha 2011: 220). In den Grenzziehungen der narrativen »Nation« werden also immer neue Minderheiten inkludiert, andere wiederum ausgeschlossen oder nationale Narrative vom Standpunkt marginalisierter Subjektpositionen aus neu erzählt. Diese dekonstruktiven Einsichten in die kontingenten Dynamiken von Nationalisierungsprojekten erlauben es schließlich auch, auf die Selbstpositionierungen von Jüd*innen in öffentlichen Aushandlungen der legitimen Bedeutungen nationaler Kollektivsymbole, Geschichten oder Ereignisse zu blicken. Wie werden antisemitische Grenzen des Nationalen angefochten? Wie werden Bedeutungen nationaler Narrative infrage gestellt und welche alternierenden Vergangenheitsbezüge, mithin also differente Zeitlichkeiten werden in die öffentlichen Diskurse integriert? Wie versuchen also Angehörige der jüdischen Minderheit den Zuschreibungskategorien zu entkommen? Gleichzeitig werden diese hybriden Subjektpositionen als Grenzgänger des nationalen »Da-zwischen« kategorisiert, die die Homogenität, Natürlichkeit und Reinlichkeit der nationalen Identität und ihrer Unterscheidung von dem »Anderen« bedrohen, weil sie etwa durch ihre Erzählung die ungezwungene Identifikation mit den geschichtlichen Selbstbildern und ihren moralischen Qualitäten irritieren. Um diese Beziehungen zwischen nationalen Erinnerungsgemeinschaften und antisemitischen Grenzziehungen rekonstruierbar zu machen, sollen daher in einem nächsten Schritt Konzepte zu Vergangenheitsdiskursen in nationalen Erinnerungsgemeinschaften, die Funktion kollektiver Erinnerung für nationale Identifikationsweisen, ihre Verbindung mit nationalen Mythen sowie für die aus der Antisemitismusforschung stammenden Modelle der sekundärantisemitischen Schuldentlastungskommunikationen und Täter-OpferUmkehrungen elaboriert werden.

5 Zur Konzeptualisierung von nationalisierten Narrativen des Antisemitismus

5.7

Der jüdische »Störenfried« kollektiver Erinnerungsprozesse

Wie bereits an früherer Stelle erwähnt, gilt das gemeinsame Erinnern als wesentliches Merkmal der Identifikation mit einer nationalisierten Eigengruppe. Die historische Legitimations- und Loyalitätsbasis eines nationalen Solidarverbandes und seiner vorgestellten Besonderheit speist sich aus eben diesem sozialen Klassifikationsmuster der kollektiven Erinnerung an eine gemeinschaftliche Vergangenheit. Entwicklung, temporäre Stabilisierung und Anerkennung der nationalen Zugehörigkeitsordnung gründen dementsprechend auf der nationalen Selbsterzählung einer linear diskursivierten Geschichte und auf den wandelbaren, nicht selten kontradiktorischen Bewertungsmustern dieser vergangenen Ereignisse, Zusammenhänge und Traditionen, »Sorgen, Triumphe und vernichtenden Niederlagen« (Hall 1994b: 202), die zu einem gegebenen Zeitpunkt durch öffentliche Debatten, massenmediale Diskurse, ritualisierte Gedenkpraktiken oder literarische Auseinandersetzungen (re-)aktualisiert werden (A. Assmann 1999; Smith 1991; Klein 2014: 47-52). Für die moralischen Qualitäten, die von einer Nation in der legitimen Aneignung einer historisierten Vergangenheit beansprucht werden, ist ein positiver Bezug auf die Geschichte nicht zwingend erforderlich. So kann auch die Aufarbeitung von Verbrechen, die im Namen einer Nation begangen wurden, als Mechanismus kollektiver Sinnstiftung fungieren, wenn die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Geschehnissen als Erfolgsgeschichte artikuliert wird und einer Selbstidentifikation als aufgeklärtes Kollektiv zugrunde liegt (Messerschmidt 2006: 5); eine Feststellung, die insbesondere im Zusammenhang mit dem »negativen Gedenken« (Knigge 2002: 424) als Merkmal postnazistischer Kollektividentitäten eine Rolle spielt (Messerschmidt 2002; 2009). Mit der Theorie des kollektiven Gedächtnisses (A. Assmann 1999; 2006; J. Assmann 2007) lassen sich schließlich die erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen um die legitime Bedeutung des Vergangenen und ihrer Funktionalisierung für Grenzziehungsprozesse angemessen rekonstruieren. Nach Aleida Assmann (2006) wird das kollektive Gedächtnis wie folgt definiert23 : [I]m kollektiven Gedächtnis werden mentale Bilder zu Ikonen und Erzählungen zu Mythen, deren wichtigste Eigenschaft ihre Überzeugungskraft und affektive Wirkmacht ist. Solche Mythen lösen die historische Erfahrung von den konkreten Bedingungen ihres Entstehens weitestgehend ab und formen sie zu zeitenthobenen Geschichten um, die von Generation zu Generation weitervererbt werden. (40) Mythen sind demnach jene stabilisierten, auf Dauerhaftigkeit angelegten und bedeutungsoffenen Deutungsmuster und Wertperspektiven, die als kulturelles Wissensreservoir sedimentiert erscheinen und in den Prozess der kulturellen Sinngebung einer 23

Insofern die Merkmale des kulturellen Gedächtnisses bereits implizit oder explizit an anderen Stellen dieses Kapitels für die theoretische Einordnung nationalisierter Grenzziehungen beschrieben wurden, verzichte ich auf eine ausführliche Darstellung und beschränke mich hier auf eine kurze Skizzierung. Nach Jan Assmann (1988) ist das Verhältnis von Gruppe, »Kultur« und Gedächtnis durch 1. Identitätskonkretheit, das sind Gruppenbezogenheit und -grenzen, 2. Rekonstruktivität, d. i. die Gegenwartsbezogenheit des erinnerten Wissens, und 3. Raumbezogenheit, d. i. die Gemeinschaftsform, die von den Trägern eines kollektiven Gedächtnisses gedacht wird, gekennzeichnet.

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

gemeinschaftlichen Vergangenheit eingeschrieben sind (J. Assmann 2007: 75ff.). Die Tradierung des kulturellen Wissens nationaler Mythen hängt dabei von symbolischen Kämpfen strategisch handelnder Akteur*innen ab, die für die Durchsetzung, Veränderung oder Aufhebung bestimmter Leitbilder nationaler Geschichtsschreibung streiten (A. Assmann 2006: 40). Gerade in Bezug auf umstrittene historische Zusammenhänge ist die Konstruktion nationaler Geschichtsmythen ein kontroverser Vorgang, insofern dabei machtpolitische Fragen der kollektiv verbindlichen Deutung bestimmter Ereignisse durch einzelne Gruppen zum Ausdruck gebracht werden (Uhl 2010: 10). Von zentraler Bedeutung bleibt für die symbolische Durchsetzung gemeinsamer Erinnerungsweisen der Vergangenheit, dass das kollektive Gedächtnis einer nationalisierten »Wir«-Gruppe Kontinuitäten erzeugt, durch die bestimmte Erinnerungen in die idealisierende Selbstidentifikation integriert werden und die den kontingenten Charakter einer Schicksalsgemeinschaft modulieren. So ist die soziale Konstruktion von Erinnerung eine »gruppenbezogene Kontinuitätsfiktion«, die »immer von spezifischen Motiven, Erwartungen, Hoffnungen, Zielen geleitet und von den Bezugsrahmen einer Gegenwart geformt« wird (J. Assmann 2007: 88). Erweisen sich mythologische Leitbilder schließlich als dysfunktional für die nationale Selbsterzählung und repräsentieren nicht länger auf legitime Weise die Gegenwart des kollektiven nationalen »Selbst«, werden sie durch andere Mythen ersetzt, indem Akteur*innen ihren Sinngehalt und damit das Selbstverständnis einer Erinnerungsgemeinschaft verändern (A. Assmann 2006: 40). Darüber hinaus verhandeln erinnerungspolitische Auseinandersetzungen um die angemessene Repräsentation der Nationalgeschichte in Grenzziehungsprozessen auch immer Fragen der Zugehörigkeit. Denn in der Wertperspektive gemeinsamen Erinnerns, der Bewertung dessen, was in der eigenen Geschichte sichtbar gemacht und im kulturellen Gedächtnis identifikatorisch angeeignet wird, findet nicht nur eine Festlegung darüber statt, was erinnert wird, sondern auch wer Mitglied der spezifischen Erinnerungsgemeinschaft sein soll (Eder 2006: 267). Diese Feststellung spielt vor allem im Umgang mit der Vergangenheit des Holocaust und hier vor allem der marginalisierten Positionierung von Jüd*innen innerhalb des Bezugsrahmens des nationalen Gedächtnisses eine Rolle. Zu fragen wäre in diesem Zusammenhang etwa danach, wie sich diese Wertperspektiven, Nationalmythen und Geschichten in den sozialen Konstruktionsprozessen antisemitischer Ausschlüsse mit ethnisierten und rassialisierten Achsen der Differenz kreuzen, um Jüd*innen als nicht-zugehörig zu markieren. Mit Blick auf die Analysekategorien des taxonomischen Modells soziokultureller Grenzziehungen nationalisierter Antisemitismen lassen sich dabei drei dominante Mechanismen herausarbeiten, die den Ein- und Ausschluss der nationalen jüdischen »Fremdgruppe« in das Kollektiv der Erinnerungsgemeinschaft abbilden und die zugleich (Dis-)Kontinuitäten kultureller Repräsentationen des Antisemitismus und damit ihre lokal-historische Kontingenz aufzeigen: •

Erstens werden Jüd*innen in dem Prozess der Normalisierung, d.h. positiven Erinnerung der Nationalgeschichten ehemaliger Täternationen des Holocaust, als »Störenfriede« (Geisel, 2015: 386) der idealisierenden Selbsterzählung stigmatisiert. In dieser typisierbaren Form eines Schuldabwehrantisemitismus (Beyer 2015: 583f.; Schönbach 1961; Holz 2001) werden Jüd*innen außerhalb der Grenzen der natio-

5 Zur Konzeptualisierung von nationalisierten Narrativen des Antisemitismus





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nalen ingroup positioniert, weil sie dem kollektiven Erinnerungsbedürfnis nach »einer Schlussstrich ziehenden Normalität« (Salzborn 2010a: 200) im Wege stehen. Im Zentrum wirken hier symbolische Codes, die Jüd*innen zu Tätern stilisieren und/oder begangene Menschheitsverbrechen an der jüdischen Minderheit leugnen. Infolge der erinnerungspolitischen Konfrontation mit den nationalsozialistischen Verbrechen werden dabei traditionelle antisemitische Stereotypen unter veränderten Kontextbedingungen des Postnazismus re-artikuliert, indem der jüdischen »Fremdgruppe« ein klandestines Machtstreben, Rachsucht oder Geldgier unterstellt wird (Pfahl-Traughber 2007b; Bergmann 2010). Täter-Opfer-Umkehrungen finden sich etwa auch dann in nationenbezogenen Grenzziehungen des Antisemitismus, wenn Jüd*innen, repräsentiert durch den Staat Israel, als Täter*innen eines »neuen Holocaust« an den Palästinenser*innen dämonisiert werden (Wetzel 2013: 51f.). Zweitens finden sich neben der Entlastungskommunikation schuldabwehrender Antisemitismen gleichzeitig Tendenzen, die den Massenmord an den europäischen Jüd*innen nunmehr in einer universalisierten Globalgeschichte der kriegerischen Gewalt aufzulösen versuchen. Damit werden Jüd*innen der spezifisch jüdischen Opfererfahrung der Shoa und ihres partikularen Erinnerungshorizontes beraubt (Stögner 2016; Fine 2009)24 und andererseits lässt es die Subjektpositionen konkreter Täter*innen verschwinden. Mit dieser Historisierung des Holocaust geht auch eine Musealisierung antisemitischer Sprechweisen einher, die judenfeindliche Kommunikationen lediglich im Kontext rassenbiologistischer Antisemitismen identifizierbar machen will (Gidley 2011; Rensmann 2015). In antisemitischen Grenzziehungen sind negative Klassifikationen enthalten, die Holocaust-Erinnerungen als Partikularismus der jüdischen »Fremdgruppe« deuten. Diese vermeintlich partikularistische Instrumentalisierung des Holocaust durch die jüdische Opfergruppe reproduziert sich etwa in Zuschreibungen, die Jüd*innen vorwerfen, das Opfernarrativ der Shoa im Kontext des Nahostkonfliktes als machtpolitisches Mittel einzusetzen, um Kritik an den Handlungen des jüdischen Staates zu tabuisieren (Fine 2009). Gleichzeitig verweisen diese Zuschreibungen auf sich verändernde Signifikationsbedingungen antisemitischer Klassifizierungen. Drittens wird mit den Mechanismen des negativen Gedenkens ein kulturelles Wissen der Holocaust-Erinnerung artikuliert, die die Vernichtung der europäischen Jüd*innen als negativen, aber gleichsam identitätsstiftenden Bezugspunkt einer entproblematisierten nationalen Einheit definiert. Ritualisiert und institutionalisiert durch Gedenkorte, Gedenktage, Museen, Filme oder öffentliche Reden konstituiert die symbolische Aneignung der Vergangenheit des Holocaust eine nationale Gegenwart, die eine dem Selbstverständnis nach demokratische, pluralistische

Damit soll nicht der Unmöglichkeit einer universalisierenden Holocaust-Erinnerung (zum Konzept eines kosmopolitischen Holocaust-Gedächtnisses, siehe Levy und Sznaider 2002; Sznaider 2008) das Wort geredet werden, sondern die Möglichkeit reflektiert werden, den partikularen Erfahrungshorizont der Opfer als identitäres Differenzmerkmal einer nationalen Erinnerungsgemeinschaft gegen die jüdischen Opfer selbst in Stellung zu bringen.

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

und geschichtsbewusste Nation inszeniert. Diese universalisierende Übersetzung des Holocaust in das kollektive Gedächtnis einer schuldanerkennenden Täternation (Quindeau 2007: 164) erzeugt ein moralisierendes Fundament an Grundwerten, die in zweierlei Hinsicht zum Maßstab der Unterscheidung zwischen Jüd*innen, Angehörigen der gesellschaftlichen Mehrheit und anderen Minderheiten avancieren können. Zum einen können Jüd*innen in die nationale »Eigengruppe« der Mehrheitsgesellschaft inkludiert werden, ohne sie tatsächlich als Mitglieder symbolisch anzuerkennen (Messerschmidt 2017). Dabei stellt das sinnstiftende Narrativ des Holocaust eine paternalistische Erinnerungsgemeinschaft der Nachkommen von Täter*innen und Opfern her, in deren Folge das Holocaust-Gedenken als mythologisches Unterscheidungszeichen zwischen national-kulturell Zugehörigen und Angehörigen migrantischer Minderheiten fungiert. Die binäre Grenze verläuft demnach zwischen jenen Akteur*innen, die eine vermeintlich angemessene Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechensgeschichte durchlaufen haben, und den fremdpositionierten »Anderen«, häufig Migrant*innen, die nicht als Teil der gemeinschaftlichen Erzählung einer nationalen Verbrechensgeschichte definiert werden. Ein ähnlicher Mechanismus nationalisierter Grenzziehung lässt sich auch bei der Beziehung von offiziösem Anti-Antisemitismus und dem »Antisemitismus der ›muslimischen‹ Anderen« (Stender 2010: 28) erkennen. Zum anderen kann sich das negative Gedenken auch als Praxiskategorie in Form von Täter-Opfer-Umkehrungen in nationenbezogenen Grenzziehungen des Antisemitismus manifestieren. Ausgehend von dem moralischen Wertefundament der kollektiven Holocaust-Erinnerung und ihres Aufklärungsimpetus wird das Merkmal der Vergangenheitsaufarbeitung zum Gegensatz zwischen einer unbelehrbaren und kriegstreiberischen jüdischen Nation und ihrem komplementären Gegenüber der friedvollen, demokratischen und postnationalen »Täternation« (Stender 2008: 25f.; Quindeau 2007). Im Ergebnis liefern der Begriff des Mythos und die Theorie des kollektiven Gedächtnisses also wertvolle Einsichten in die wandelbaren Prozesse des soziokulturellen Ausschlusses von Jüd*innen aus dem nationalisierten Erinnerungskollektiv. Die damit korrelierenden Täter-Opfer-Umkehrungen und schuldentlastenden Kommunikationen positionieren Jüd*innen außerhalb der nationalen Selbsterzählung. Der Ausschluss erfolgt einerseits durch die Klassifizierung von Jüd*innen als ethnisierte, rassialisierte oder auch nationalisierte »Andere«, die eine Bedrohung für die Zusammengehörigkeit des nationalen Kollektivs darstellen. Andererseits werden Jüd*innen infolgedessen in Form nationaler (als nationale oder ethnische Minderheit) oder nationalisierter (über den Staat Israel) Fremdgruppenkonstruktionen als sittlich und moralisch nicht-zugehörig kategorisiert. Ziel dieser Arbeit ist es zu rekonstruieren, inwiefern schuldabwehrende Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster in nationenbezogenen Grenzziehungsprozessen des Antisemitismus zu einem Ausschluss jüdischer Opfererfahrung aus dem kollektiven Wissensreservoir nationaler Leitbilder führen können und sich die Erinnerung an die Shoa gar in antisemitischen Freund/Feind-Dichotomien auflösen lässt.

5 Zur Konzeptualisierung von nationalisierten Narrativen des Antisemitismus

5.8

Zwischenfazit und Implikationen für die Forschungsfrage

Auf der Grundlage theoretischer Überlegungen über nationenbezogene Prozesse der Grenzziehungen konnten einige konzeptionelle Perspektiven und paradigmatische Ansätze der Nationalismusforschung herausgearbeitet werden, die sich fruchtbar in die programmatische Theoriesynthese einer prozessorientierten Taxonomie soziokultureller Konstruktionsmechanismen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Grenzziehungen des Antisemitismus einfügen lassen. So konnte zunächst dargestellt werden, dass nationalisierende Grenzziehungen, auf der Ebene von Analysekategorien, als Klassifikationsmuster zu verstehen sind, in denen sich ein nationalisiertes »Wir« über die kollektiv artikulierte Zugehörigkeit zu einer politisch konstruierten Abstammungs-, Schicksals- und Erinnerungsgemeinschaft von einem nicht-nationalen »Sie« abgrenzt. Im Gegensatz zu der ähnlich artikulierten genealogischen Symbolik ethnisierter Grenzziehungen wurde darauf hingewiesen, dass sich nationalisierte Unterscheidungszeichen identitär als politische Gemeinschaft geografisch auf ein bestimmtes Flächengebiet beziehen und auf politisch-staatliche Institutionengefüge rekurrieren. Dabei wurden analytisch die Idealtypen als Analysekategorien antisemitischer Differenzierungen primordial oder zivil-codiert operationalisiert, weil sie die kontingente, d.h. lokal und historisch veränderbare, Bedeutungsgebung des Nationalen im ungleichheitsrelevanten Zusammenspiel ethnisierter und rassialisierter Differenzen reflektieren. Folgende Tabelle illustriert nun auf der Ebene von Analysekategorien die systematisierte Anordnung kategorialer Merkmale einer Taxonomie nationalisierter Typen der Grenzziehung:

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Tabelle 3: Analysekategorien nationalisierter Typen antisemitischer Grenzziehungen, Quelle: Eigene Darstellung. Nationalisierte Grenzziehungen des Antisemitismus Typus der Grenzziehung

Nationalisierte Grenzziehungen konstruieren nationale Kollektividentitäten auf der Grundlage der imaginierten Zugehörigkeit zu einer Schicksals-, Abstammungs- und Erinnerungsgemeinschaft, die sich als politische Gemeinschaft auf ein bestimmtes Territorium bezieht.

Klassifikationsmuster

Nationalisierungen beruhen auf binarisierten Klassifikationsmustern, die den Glauben an eine gemeinsame Abstammung, Geschichte, Kultur, an gemeinsame Traditionen und Mythen als legitime Unterscheidungen der politisch-territorialen Einheit einer »Volks«-, »Kultur«- oder »Staatsnation« begreifen.

Antisemitische Klassifikationsrepertoires

Nationalisierte Klassifikationsmuster des Antisemitismus enthalten exkludierende Zuschreibungen, die Jüd*innen über die nationale Zugehörigkeit zu einer jüdischen »Nation« als »Fremdgruppe« nationalisieren, oder als nationale »Fremdgruppe« in (schuldabwehrenden) Diskursen nationaler Erinnerung und Selbstverständigung als Träger*innen einer ungleichwertigen Differenz marginalisieren oder als Bedrohung hypostasieren.

(Selbst-)und Fremdzuschreibungen

Als nationale Fremdgruppe: »Juden« sind substanzlos/wurzellos; Verleugnung einer Gegenwart des Antisemitismus durch Historisierung (Marginalisierung). Im Zusammenhang von Täter-Opfer-Umkehrungen und kollektiver Erinnerung: »Juden« profitieren von der Vergangenheit (Geldgier); »Juden« wollen Rache üben (Rachsucht).   Als nationalisierte Fremdgruppe: Jüdischer Staat wirkt als neuer Nationalsozialismus (NS-Vergleich); »Juden« haben nichts aus der Geschichte gelernt (Israel als Täter-Staat); Jüdische Nation instrumentalisiert Holocaust (»jüdische« Macht); Jüdischer Staat ist künstlich, bedroht den Frieden der Welt.

Die theoretische Diskussion des Kapitels hat vor allem den analytischen Mehrwert relationaler und prozessualer Modelle der sozialkonstruktivistischen Nationalismusforschung für die Konzeptualisierung der Taxonomie herausstellen können. Diese Ansätze betonen den konfliktuellen Charakter kultureller Aushandlungsprozesse für die hegemonialisierten Konstruktionsweisen nationaler (Nicht-)Zugehörigkeiten und politischer Zugehörigkeitskontexte von Nationalisierungsprojekten. So lässt sich damit das generische Prinzip der soziokulturellen Herstellung antisemitischer In- und Exklusionen durch nationalisierte Klassifikationen adäquat mitbedenken. Nationenbezogene Antisemitismen und ihre vielfältigen Verflechtungen und Kreuzungen müssen in diesem Sinne als Praktiken der Grenzziehung begriffen werden, die sich verändernde Formen der ambivalenten Signifikation der jüdischen »Fremdgruppe« hervorbringen (etwa als jüdische Figur des Dritten oder in der kategorialen Unterscheidung von Jüd*innen als nationaler und nationalisierter »Fremdgruppe«). Ich verwende in diesem Zusammenhang das konstruktivistische Konzept des situierbaren Wissens (Yuval-Davis und Stoetzler 2002a; 2002b) über kollektive Zusammengehörigkeit, um diese Variabilität vorläufig stabilisierter Bedeutungsfixierungen nationaler Klassifikationen in der kulturellen Deutungspraxis sozialer Akteur*innen zu reflektieren.

5 Zur Konzeptualisierung von nationalisierten Narrativen des Antisemitismus

Im Hinblick auf das Wechselspiel von Kontinuität und Wandel antisemitischer Klassifizierungen, wie es durch die Taxonomie von Grenzziehungsprozessen analysierbar gemacht werden soll, wurden im Feld der Nationalismusforschung darüber hinaus diskurs- und narrationsanalytische Zugänge heuristisch fruchtbar gemacht. Diese poststrukturalistischen und sozialkonstruktivistischen Ansätze zwingen dazu, die Mechanismen der temporären Stabilisierung symbolischer Gemeinschaftskonstruktion vor dem diskontinuierlichen Hintergrund ihrer kontingenten Zeitlichkeiten zu interpretieren. Denn wie die Homogenisierung einer nationalen »Eigengruppe« gelingt, erklärt etwa das Konzept der nationalen Narrative (Bhabha 1990; 2011). Mit dem Konzept der nationalen Narrative lassen sich Grenzziehungsprozesse als (Dis-)Kontinuität einer nationalen Selbsterzählung verstehen, in denen soziale Durchlässigkeit oder Geschlossenheit eines Nationalisierungsprojektes als historisch veränderbares Resultat kultureller Praktiken der wandelbaren Signifikation von (nationalisierten) Zugehörigkeitsmerkmalen definiert werden. Diese prozessorientierte Perspektive auf die Historizität der narrativen Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft öffnet den Analyserahmen schließlich auch für ein symbolorientiertes Verständnis nationaler Vergangenheitsdiskurse (A. Assmann 1999; 2006; J. Assmann 2007), das die Klassifikationskämpfe geschichtspolitischer Erinnerungsdiskurse im Hinblick auf den antisemitischen Ausschluss von Jüd*innen aus nationalisierten Erinnerungsräumen rekonstruierbar macht. Für die hier elaborierten Zugänge der Nationalismusforschung besteht der analytische Mehrwert der theoretisch zugrunde gelegten Programmatik der Grenzziehungstheorie und Intersektionalitätsforschung nun darin, die »Nation« und damit verbundene Formen der Selbst- und Fremdidentifikation als bedeutungsoffene Praxiskategorien zu betrachten, die in kulturellen Prozessen der Aushandlung antisemitischer Grenzziehungen mit ethnisierten oder rassialisierten Repräsentationen des »Jüdischen« mehrdimensional zusammenwirken und in kontingenter Weise politisch relevant werden. Zugleich wird sich damit von Zugängen der Antisemitismusforschung abgegrenzt, die das »Nationale« als dominante Strukturkategorie der Ungleichheit in antisemitischen Unterscheidungsprozessen begreifen. Es ist diese forschungsleitende Perspektive auf die dynamischen Wechselwirkungen und gradualisierenden Überlagerungen multipel zusammenspielender Dimensionen der Ungleichheit, die den theoretischen Bezugsrahmen der Nationalismusforschung für das multivariable Zusammenspiel wandelbarer antisemitischer Klassifikationsformen in symbolischen Deutungskämpfen öffnet.

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6 Eine systematisch synthetisierende Zusammenführung des Theorievergleiches und die deduktive Konzeptualisierung eines taxonomischen Modells antisemitischer Grenzziehungsprozesse

Vor dem Hintergrund des im vorangegangenen Kapitel durchgeführten Theorievergleiches von Zugängen der Ethnizitäts-, Rassismus- und Nationalismusforschung einerseits sowie Ansätzen der Antisemitismusforschung andererseits steht nun die deduktive Konzeptualisierung einer Taxonomie der soziokulturellen Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen im Zentrum. Dabei begründet diese Systematisierung der paradigmatischen Perspektiven und Analysevokabulare der unterschiedlichen Forschungsfelder gewissermaßen das Herzstück der vorliegenden Arbeit, insofern die Entwicklung einer Taxonomie im Feld der soziologischen Theoriekonstruktion anzusiedeln ist und theoretische Leerstellen der Forschungsbereiche schließen kann. Nicht zuletzt, weil die Forschungsbereiche der Antisemitismusforschung auf der einen Seite und Ethnizitäts-, Rassismus- und Nationalismusforschung auf der anderen Seite allzu häufig analytisch separiert bleiben, soll die Konzeptualisierung der Taxonomie antisemitischer Grenzziehungsprozesse die Forschungsfelder wieder miteinander ins Gespräch bringen. Durch die Taxonomie antisemitischer Grenzziehungsprozesse wird mit Blick auf das Forschungsinteresse des Dissertationsprojektes dreierlei intendiert: Erstens ermöglicht die systematische Zusammensetzung eines analytischen Werkzeugkastens zur Erforschung antisemitischer Differenzierungsprozesse eine Re-Integration der Antisemitismusforschung in die sozialwissenschaftlichen Forschungsfelder der Ethnizitäts-, Rassismus- und Nationalismusforschung. Zweitens soll es die prozessuale Logik der Taxonomie erlauben, den Blick auf die kontingenten, d.h. historisch veränderbaren, Konstruktionsdynamiken antisemitischer Unterscheidungslinien zu richten, um (Dis-)Kontinuitäten und Formwandel antisemitischer Wahrnehmungsund Bewertungskategorien analytisch rekonstruierbar zu machen. Unter der programmatischen Prämisse der hier eingenommenen intersektionalen Grenzziehungs-

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perspektive auf antisemitische Klassifikationsprozesse wird schließlich drittens eine empirische Offenheit gegenüber der wandelbaren Erscheinungsvielfalt des sozialen Gegenstandsbereichs gewährleistet, die kontextsensibel nach den kategorialen Verschränkungen antisemitischer Typen der Grenzziehung in der Klassifikationspraxis sozialer Akteur*innen fragen lässt. Zu diesem Zweck wird das Kapitel über die Konzeptualisierung der Taxonomie folgendermaßen gegliedert: Zunächst werden ausgehend von der paradigmatischen Diskussion des Theorievergleiches sechs programmatische Merkmale einer prozessorientierten Theorie antisemitischer Grenzziehungen systematisch synthetisiert (6.1). Anschließend stelle ich methodologische Vorüberlegungen über die typologischen Konstruktionen einer deduktiven Taxonomie an (6.2), um darauf aufbauend die Analyseebenen der Taxonomie mit einem besonderen Fokus auf der Erörterung ihrer Analysekategorien darzustellen (6.3) sowie einer abschließenden Bewertung ihrer analytischen Mehrwerte vorzunehmen (6.4).

6.1

Programmatische Merkmale einer prozessorientierten Taxonomie antisemitischer Grenzziehungen

Die in den vorherigen Kapiteln vorgestellten Konzepte und Theorien bieten fruchtbare Einsichten für die soziologische Ungleichheitsforschung im Allgemeinen und die Antisemitismusforschung im Besonderen. Dabei war es das Ziel, eine veränderte Analyseperspektive auf Antisemitismen als wandelbare Prozesse der gesellschaftlichen Aushandlung soziokultureller Grenzziehungen zwischen einer sozialen Kerngruppe gegenüber einem jüdisch markierten »Außen« zu gewinnen. Ausgehend von dem aus der Ethnizitätsforschung stammenden Grenzziehungsparadigma (Wimmer 2013; Amelina 2017: Lamont und Molnár 2002; Neckel und Sutterlüty 2008; 2010; Barth 1969) und dem aus der Genderforschung stammenden Intersektionalitätsansatz (Walby, Armstrong und Strid 2012; Hancock 2007; 2013; H. Lutz, Herrera Vivar und Supik 2010a; Anthias 2012). wurden zu diesem Zweck die konzeptuellen Stärken überwiegend sozialkonstruktivistischer und kultursoziologischer Zugänge der Rassismus-, Ethnizitäts- und Nationalismusforschung sowie Ansätze der Antisemitismusforschung herausgearbeitet, die nun im Hinblick auf die Konzeptualisierung der Taxonomie antisemitischer Grenzziehungsprozesse systematisch synthetisiert werden sollen.1 Im Ergebnis soll mithilfe der Taxonomie erklärt 1

Synthese meint hierbei nicht den zwangsläufig scheiternden Versuch der Herstellung von Theorieeinheit (Reckwitz 2005), die versuchen würde, das Feld der Antisemitismusforschung theoretisch zu schließen. Scheitern muss ein Versuch der Konzeptualisierung einer Universaltheorie über Antisemitismen vor allem deswegen, weil eine solche grand theory gewissermaßen eine zeitlose Gültigkeit ihrer paradigmatischen Erklärungen, Aussagen und Vokabulare behaupten würde, die aber aufgrund der kontingenten Struktur des Sozialen notwendig kulturell kontextgebunden und daher nicht letztgültig fixierbar sind (Reckwitz 2005: 65). Stattdessen formuliere ich hier programmatische Elemente einer prozessorientierten Theorie antisemitischer Grenzziehungen, die sich der hier diskutierten Zugänge als »fruchtbaren Ideenpool« (Reckwitz 2003: 289) in systematisch-synthetisierender Form bedient. Diese deduktiven Merkmale einer Taxonomie der soziokul-

6 Konzeptualisierung einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungen

werden können, wie ethnisierte, rassialisierte und nationalisierte Differenzlinien in soziokulturellen Konstruktionsprozessen antisemitischer Grenzen als Praxiskategorien (categories of practice) multipel zusammenwirken und auf diese Weise kontingente Formen des sozialen Ausschlusses von Jüd*innen und der soziohistorisch wandlungsfähigen kategorialen Bedeutungen von antisemitischen Grenzziehungen hervorgebracht werden. Zugleich werden »Rasse«, »Ethnizität« und »Nationalität« auf der Ebene der Analysekategorien (categories of analysis) als typologisch distinkte Klassifikationsmuster kategorial bestimmt und voneinander separiert. Tabelle 4: Merkmale einer prozessorientierten Theorie antisemitischer Grenzziehungen, Quelle: Eigene Darstellung. Prozessualität

Antisemitische Grenzziehungen gehen aus kulturellen Prozessen der Aushandlung wandelbarer Bedeutungen hervor.

Wechselwirkungen

Antisemitische Grenzziehungen stellen sich durch dynamische Intersektionalitäten heterogener Differenzkategorien her.

Relationalität

Antisemitische Grenzziehungen bilden sich durch reziproke Prozesse der idealisierenden Selbst- und delegitimierenden Fremdzuschreibung aus.

Situationalität

Antisemitische Grenzziehungen enthalten lokal-historisch kontextualisierbare Unterscheidungszeichen.

Temporäre Stabilisierung

Antisemitische Grenzziehungen lassen kategoriale Distinktionen natürlich und unveränderlich erscheinen.

Machtdimension

Antisemitische Grenzziehungen manifestieren die Ausübung gesellschaftlicher Definitionsmacht.

Darauf aufbauend konnten aus der paradigmatischen Diskussion sozialwissenschaftlicher Perspektiven auf Rassismus, »Ethnizität« und Nationalismus mit den Merkmalen der Prozessualität, kategorialen Wechselwirkungen, Relationalität, Situationalität, temporären Stabilisierung und Macht insgesamt sechs Dimensionen einer prozessorientierten Theorie antisemitischer Grenzziehungen identifiziert werden, die das multivariable und mehrdimensionale Zusammenspiel antisemitischer Kategorisierungspraxen erklären können. Insofern die concept formation (Hempel 1965; 1969; Sartori 1970) am methodologischen Anfang der Konstruktion von Typologien und Taxonomien stehen kann, bilden die in Tabelle 4 benannten Merkmale einer prozessorientierten Theorie antisemitischer Grenzziehungen daher den Ausgangspunkt für meine Ausarbeitung einer konzeptuellen Taxonomie der Konstruktionsmechanismen soziokultureller Grenzziehungen des Antisemitismus. Gleichzeitig fungieren diese Prämissen als deduktiver Rahmen einer konzeptuellen Taxonomie der multiplen Konstruktionsformen soziokultureller Grenzziehungen des Antisemitismus. Insofern es sich bei diesen Elementen der Theoriearchitektur eines prozessorientierten Modells antisemitischer Grenzziehungen um eine pro-

turellen Konstruktionsweisen antisemitischer Grenzziehungen lassen sich demnach gerade nicht als Vokabulare einer abschließbaren Theorie begreifen, sondern dienen der Skizzierung basaler Grundelemente zur Erforschung antisemitischer Grenzziehungsprozesse.

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

grammatische Synthese (Reckwitz 2003: 283f.) handelt, verstehe ich die programmatische Ausrichtung des aus dem Theorievergleich gewonnenen taxonomischen Modells als Anwendung eines soziologischen Werkzeugkastens (Schimank 2000; Münch 2002), der die unterschiedlichen Theorievokabulare, Paradigmen und Perspektiven systematisch neu zusammensetzt und kombiniert. Diese Synthetisierung erfolgt dabei in der Absicht, die wandelbare und diskontinuierliche Erscheinungsvielfalt antisemitischer Klassifizierungen und Diskriminierungen analytisch erfassen und theoretisch modellieren zu können, um der Komplexität des Phänomens und daran anschließenden Fragestellungen gerecht zu werden. In Abwandlung von Kneer und Schroer (2009: 9) lässt sich daher mit Blick auf die Forschung über das Phänomen »Antisemitismus« feststellen, dass der multi-paradigmatische Zugriff auf den sozialen Gegenstandsbereich, wie er in der vorliegenden Arbeit entwickelt wurde, Produkt seiner vielschichtigen und multiplen Struktur ist, weshalb für seine Analyse eine »plurale Theorielogik« (ebd.) erforderlich geworden ist. Im Folgenden möchte ich entlang der identifizierten Theoriemerkmale und Forschungsfelder (Rassismus, »Ethnizität«, Nationalismus) die konzeptuellen Stärken der hier diskutierten sozialwissenschaftlichen Zugänge für die Analyse der soziokulturellen Herstellungsweisen antisemitischer Grenzziehungen abschließend bewerten. Da es sich um eine programmatische Synthese von Zugängen und Konzepten handelt, die Gemeinsamkeiten einzelner Theorieansätze im Sinne einer arbeitsteiligen Komplementarität betont (Kneer und Schroer 2009: 11) und nicht ihre Differenz entsprechend eines Verständnisses konkurrierender Theorieperspektiven (Reckwitz 2003: 284) herausstellt, verzichte ich in diesem Zusammenhang darauf, einzelne Abschnitte des Textes den verschiedenen Autoren zuzuordnen (Reckwitz 2003: FN 8).

6.1.1

Wie sich Kategorisierungen des »Jüdischen« als legitime Weltsicht durchsetzen: prozessuale Elemente antisemitischer Grenzziehungen

Als grundlegendes Kriterium einer Theorie soziokultureller Grenzziehungen des Antisemitismus hat sich das Merkmal der Prozessualität erwiesen, weil es ermöglicht, nach dem Wie der sozialen Konstruktionsmechanismen rassialisierter, ethnisierter und nationalisierter Antisemitismen und ihrer lokal und historisch veränderbaren Klassifizierungen zu fragen. Antisemitische Klassifikationsrepertoires wurden demzufolge als multivariables Resultat symbolischer Kämpfe um die Durchsetzung und Anerkennung abwertender, stigmatisierender oder delegitimierender Bedeutungen des jüdischen »Anderen« definiert, in deren Folge soziale Grenzen zwischen nicht-jüdischer ingroup gegenüber einer jüdischen outgroup hergestellt, vorläufig stabilisiert aber auch verändert werden. Wie deutlich geworden ist, steht die Annahme im Vordergrund, dass erst die interaktionalen und konfliktuellen gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse zwischen sozialen Akteur*innen mit verschiedenen Grenzziehungsstrategien ethnisierte, rassialisierte oder nationalisierte Gruppenrepräsentationen von Jüd*innen hervorbringen und auf diese Weise wandelbare Symbole und Sinnzuschreibungen temporär als legitime Sicht- und Teilungsprinzipien der sozialen Wirklichkeit sedimentieren. Von entscheidender Relevanz ist hierbei die Einsicht in die Kontingenz jeder symbolischen Ordnung antisemitischer Zeichen und Klassifikationen, d.h. die theoretische Reflexion

6 Konzeptualisierung einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungen

ihrer raum-zeitlichen Historizität und Variabilität als kontextualisierbare und situativ wirksame Wahrnehmungsmuster in den Grenzen des kollektiv geteilten Wissens. Mit der heuristischen Unterscheidung zwischen den gradualisierend- alltagsweltlichen categories of practice und der abstrakteren Analyseebene eines skalierenden Kontinuums der categories of analysis wird auf eben diese historisch veränderbaren Formen der symbolischen Bedeutungskonstitution in der praktischen Aneignung antisemitischer Sinngehalte und in der interrelationalen Vielfalt ihrer empirischen Verwendungsweisen Bezug genommen. Zusammengefasst ist die zu einem gegebenen Zeitpunkt vorhandene politische Relevanz antisemitischer Grenzziehungen also von dem boundary work, den konkreten Diskursstrategien sozialer Akteur*innen, abhängig, die bedeutungsoffene antisemitische Zuschreibungen in heterogene kulturelle Sinnzusammenhänge tragen und soziokulturelle Grenzziehungen des Antisemitismus erzeugen, verändern oder festigen. Ausgehend von dem epistemologischen und forschungsheuristischen Stellenwert einer sozialkonstruktivistischen Prozessorientierung für diese Arbeit richtet sich der Blick einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungen dementsprechend auch nicht auf ex ante festgelegte Klassifikationen antisemitischer Ungleichwertigkeit. Vielmehr rekonstruiert der prozessorientierte Analysefokus interpretativ die Herstellungslogik ihrer multidimensionalen Differenzierungen, der spezifischen Kontextualisierung der (Re-)Produktion antisemitischer Unterscheidungen in kontingenten Wissensordnungen. Aus dem Ansatz der Rassialisierung der britischen Cultural Studies stammt die Erkenntnis, dass »Rasse« keine a priori festgelegte Zusammenstellung bestimmter körperlicher oder »kultureller« Attribute, sondern als Resultat diskursiver Prozesse der Sinnproduktion zu verstehen ist, in dem ein bedeutungszuweisendes Verständnis von rassifizierten Gruppen ausgebildet wird. In der Aneignung des diskurstheoretischen Vokabulars der interdisziplinär ausgerichteten Cultural Studies wurde die rassialisierte Bedeutungskonstitution des inhaltsleeren Signifikanten »Jude« als kontingenter Akt der Artikulation in einem Prozess der rassistischen Grenzziehung definiert. So werden in gesellschaftlichen Diskursen Sinn und Bedeutung der umkämpften und bedeutungsoffenen Kategorie »Jude« durch die permanente Re-Artikulation heterogener sprachlicher Zeichen andauernd neu verhandelt und mit divergierenden Bedeutungen versehen, wodurch die diskursive Anrufung von Jüd*innen kontextualisierbare Repräsentationen, wandelbare Signifikationen und sich verändernde Positionierungen hervorbringt. Akteursspezifisch stellen sich diese Anrufungen von Jüd*innen in rassialisierten Subjektpositionen als performative Akte einer spezifischen Sinnfixierung dar, die durch diskursive Praktiken sozialer Akteur*innen produziert, reproduziert und transformiert werden. Ähnliches wurde auch für »Ethnizität« ermittelt, die in Form des praxeologischen Konzeptes eines Doing Ethnicity als interaktionale Prozesskategorie bestimmt wurde. Erst die Konstruktionsleistung symbolisch umkämpfter ethnischer Unterscheidungen vermittelt ethnisierten Grenzziehungen des Antisemitismus die notwendige politische Relevanz und rückt damit die Praktiken habituell dispositionierter Akteur*innen in den Mittelpunkt der Analyse, die in sozialen Interaktionen Ethnowissen über Jüd*innen aktualisieren, verändern oder mit neuen Bedeutungen konstruieren. Aus diesem Grund besteht die ethnisierte Fremdkategorisierung der jüdischen »Fremdgruppe« nicht aus

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

einem prädeterminierten Set von Merkmalen und Eigenschaften, sondern wirkt als habitualisierte Wahrnehmungs-, Darstellungs- und Zuschreibungsroutine, die von Individuen praktisch umgesetzt wird und als temporär stabilisiertes Ergebnis von Grenzziehungsprozessen zu lesen ist. Im Feld der symbolischen Kämpfe um nationale Zugehörigkeiten wurde eine Hybridität des »Nationalen« ausgemacht, deren Kontingenz sich als janusköpfiges Symbol einer permanenten Rekonfiguration der Grenzen zwischen zugehörig und nicht-zugehörig als Einschluss immer neuerer Gruppen/Minoritäten in die Gemeinschaft einer Nation gezeigt hatte. Als Resultat konnten multiple Bedeutungspotenziale der Diskurse nationaler Selbstverständigung bestimmt werden, die aufgrund der heterogenen sozialen Zusammensetzung eines nationalisierten Kollektivs eine fragile Narration der »Nation« und ihrer symbolischen Gemeinschaftsressourcen hervorbringen. In diesem konfliktuellen Prozess der Verhandlung nationaler Sinngebung finden sich ambivalente Positionierungen von Jüd*innen, indem sich die Kontinuitätsfiktion nationaler Leiterzählungen und Mythen häufig über den Gegensatz zu der nationalen oder nationalisierten »Fremdgruppe« der Jüd*innen ausbildet. Wie das Beispiel der Kommunikationslatenz in den diskursiven Formationen der Post-Shoa-Gesellschaften gezeigt hat, müssen nationenbezogene Klassifikationsformen des Antisemitismus die Unbestimmtheit und Kontingenz jeder Grenzziehung reflektieren, insofern antisemitische Codes des »Nationalen« unter sich verändernden soziohistorischen Kontextbedingungen wandelbare Sinnzuschreibungen enthalten. Insgesamt lässt sich also festhalten, dass Individuen in kulturellen Prozessen der Aushandlung von Sinn und Bedeutung soziokulturelle Grenzziehungen rassialisierter, ethnisierter und nationalisierter Antisemitismen herstellen und damit legitime Muster der negativen Klassifikation von Jüd*innen unter kontingenten kulturellen Kontextbedingungen durchsetzen.

6.1.2

Eine intersektionale Perspektive auf die kategorialen Wechselwirkungen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Klassifikationsmuster in antisemitischen Differenzierungsprozessen

Eine besondere Bedeutung für die theoretische Perspektivierung antisemitischer Grenzziehungsprozesse wurde dem aus der Genderforschung stammenden Intersektionalitätsansatz beigemessen. Intersektionale Analysen soziokultureller Grenzziehungen des Antisemitismus untersuchen demzufolge kein im Vorfeld festgelegtes, statisches Beziehungsgefüge unterschiedlicher Dimensionen sozialer Ungleichheit oder gehen von einer hierarchischen Ordnung antisemitischer Differenzkategorien aus, sondern fragen nach den prozessualen Dynamiken und Wechselwirkungen sozialer Klassifikationen, die heterogene Diskriminierungserfahrungen von Jüd*innen sichtbar machen und sich in Grenzziehungen sedimentieren. Insofern soziokulturelle Grenzziehungen immer Gradualitäten aufweisen und »Ethnizität«, »Rasse« und »Nationalität« als Praxiskategorien (categories of practice) in der sinnhaften Aneignung durch soziale Akteur*innen häufig durch wechselseitige Überlagerungen und Überkreuzungen gekennzeichnet sind, müssen antisemitische Grenzziehungsstrategien intersektional analysiert werden, um das simultane Zusammenspiel ethnisierter, ras-

6 Konzeptualisierung einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungen

sialisierter und nationenbezogener Ausschlüsse in der gesellschaftlichen Aushandlung antisemitischer Grenzen rekonstruierbar zu machen. Diese theoretische Perspektive öffnet demzufolge die Untersuchung für die Multidimensionalität antisemitischer Exklusionen und betrachtet die Differenzkategorien »Ethnizität«, »Rasse« und »Nationalität« nicht als separate, obgleich typologisch unterscheidbare Forschungsfelder. Vielmehr analysiert sie, wie das mutual shaping multipler und interrelationaler Mechanismen antisemitischer Grenzziehungen in kontingenter Weise politisch relevant werden kann und wie sich diese Mechanismen in wandelbaren gesellschaftlichen Positionierungen von Jüd*innen ausdrücken lassen. Die Kombination des Intersektionalitätsansatzes mit dem Grenzziehungsparadigma hat sich aus theoretischer wie methodologischer Sichtweise als analytisches Kernstück der theoretischen Programmatik der vorliegenden Arbeit erwiesen, weil sie die Klassifikationskämpfe sozialer Akteur*innen um die kategorialen Zuschreibungen der sozialen Grenzen von In- und Exklusion in den Mittelpunkt rückt. So wird über die Synthetisierung dieser beiden Zugänge eine größtmögliche empirische Offenheit gegenüber den relationalen Prozessen des Zusammenspieles ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Antisemitismen, ihren Schnittstellen und Kontexten gewährleistet, wodurch insbesondere Dynamiken und Wandel mehrdimensionaler Grenzziehungen durch das kontingente Wechselspiel heterogener Differenzierungen erklärbar gemacht werden. Die intersektionale Ausrichtung der Grenzziehungsperspektive betrachtet antisemitische Unterscheidungen, die von einer nicht-jüdischen ingroup gegenüber einer jüdische outgroup verwendet werden, demnach nicht als entweder rassistisch oder ethnisch oder nationalistisch, sondern als interrelationales Resultat sozialer und politischer Praktiken von Akteur*innen. Zugleich ermöglicht die theoretische Perspektive des Intersektionalitätsansatzes als Sensibilisierungsstrategie, die vielfältigen Formen der Diskriminierung von Jüd*innen offenzulegen und damit jüdische Wahrnehmungen und Erfahrungshorizonte von Marginalisierungen und Benachteiligungen zu stärken.

6.1.3

Die situative Wirksamkeit ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Identitätskategorien in antisemitischen Klassifikationsprozessen

Eng mit dem Merkmal der kategorialen Wechselwirkungen verbunden erscheint das Charakteristikum der Situationalität. Mit Blick auf die Untersuchung von (Dis-)Kontinuität und Bedeutungswandel antisemitischer Differenzierungen kann ein Verständnis der situativen Wirksamkeit ungleichheitsrelevanter Klassifizierungen die Dynamik von Grenzziehungen als situationslogische Zuschreibungsprozesse erklären, um die soziokulturelle Anpassungsfähigkeit antisemitischer Klassifikationsrepertoires reflektieren zu können. Mit dem Kriterium der Situationalität soll aufgezeigt werden, inwiefern unterschiedliche Identitätskategorien (»Rasse«, »Ethnizität«, »Nationalität«) in unterschiedlichen sozialen Handlungs- und Entscheidungssituationen und in je einem gegebenen sozialen Kontext situativ wirksam sind und von Akteur*innen aktiviert werden können, um Jüd*innen antisemitisch zu markieren. Über das Element der Situationalität kann demzufolge illustriert werden, wie Jüd*innen in Abhängigkeit von der jeweiligen Situationslogik mit unterschiedlichen antisemitischen Identitätskategorien klassifiziert werden. Mit anderen Worten geht es darum zu deuten, warum es keinen

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Widerspruch darstellen muss, dass eine Selbstpositionierung als antirassistischer AntiAntisemit die Artikulation nationalisierter Antisemitismen, etwa über den Bezug zum Staat Israel, in einem anderen Handlungskontext prinzipiell nicht ausschließen muss. Zudem reflektiert die Situationslogik antisemitischer Grenzziehungen, dass Jüd*innen, je nach sozialem oder politischem Kontext aufgrund der situationsabhängigen Bedeutsamkeit differierender Zugehörigkeits- oder Ausschließungskriterien gleichermaßen inkludiert wie exkludiert werden können. Dabei konnte die theoretische Diskussion unterstreichen, dass die Situationalität antisemitischer Prozesse der Selbstidentifikation und Fremdkategorisierung unterschiedliche Dimensionen der Verschränkung ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Grenzziehungen besitzt. Aus der Rassismusforschung stammt die radikalkonstruktivistische Einsicht, dass die Fluidität rassialisierter Klassifikationsweisen eine chronische Instabilität und Unbestimmtheit rassistischer Zuschreibungspraxen bedingt. Demzufolge ist die konstruierte »Rasse« der jüdischen »Fremdgruppe« als frei flottierender Signifikant organisiert, die aus diesem Grund in heterogenen Diskurszusammenhängen situationsspezifisch wirksam wird. So kann erklärt werden, weshalb die ambivalente Anrufung jüdischer Subjektpositionen Jüd*innen gleichermaßen als Teil der Etabliertengruppe eines »jüdisch-christlichen Europas« integriert und sie zur selben Zeit als machtvoller Verschwörer gegen eben diesen Zusammenhalt der ingroup imaginiert und exkludiert. Ansätze der Ethnizitätsforschung haben eine variable Perspektivierung der situationsgebundenen Aktivierung von ethnisierten Unterscheidungszeichen, die von Nicht-Jüd*innen gegenüber Jüd*innen verwendet werden, ermöglicht. Die ambivalente Positionierung des jüdischen Fremden innerhalb und außerhalb von Zugehörigkeitsordnungen sowie sein hybrider gesellschaftlicher Status wurde dementsprechend als Mehrfach-Zugehörigkeit und polytactic identities in ethnischen »Wir«-GruppenProzessen diskutiert. Die wechselseitige Überlagerung verschiedener Identifikationsformen von Jüd*innen in den häufig binären Strukturen ethnisierter Zugehörigkeitsordnungen wurden in diesem Sinne als Bedeutungspolysemie definiert, in deren Folge die archetypische Figuration des jüdischen Fremden über diskursive Praktiken der Fremdzuschreibung als kontextabhängig mehrfach- und damit nicht-zugehörig markiert werden kann. Zugleich habe ich die situative Wirksamkeit von ethnisierten Differenzsystemen aus praxeologisch-konstruktivistischer Perspektive entlang des Dualismus von Omnipräsenz/Omnirelevanz betrachtet. Als flexible Wahrnehmungsressource sind »Ethnizität« und auch ethnisierte Klassifikationen von Jüd*innen zwar im sozialen Raum omnipräsent, aber als sinnhafte Unterscheidungen erscheinen sie nicht zu jedem Zeitpunkt als omnirelevant und können daher als Option der Wahrnehmung definiert werden, die ethnisierte Grenzziehungen des Antisemitismus in ihrer Relativität und Temporalität, d.h. kontextualisierbar und situierbar denkt. Auf ähnliche Weise haben auch standpunkttheoretische Konzeptionen nationaler Vergemeinschaftungsprozesse die soziale und politische Situierbarkeit der heterogenen Zugehörigkeitsvorstellungen von Jüd*innen in nationenbezogenen Grenzziehungsprozessen sichtbar gemacht. Darüber hinaus lässt sich über die Situierbarkeit nationalisierter Grenzziehungen des Antisemitismus der amorphe kulturelle Code des Antisemitismus, der eine Vielzahl abwertender und auch widersprüchlicher Fremdkategorisierungen enthält, als situierbare Praxis der Identifikation durch sozial ungleich

6 Konzeptualisierung einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungen

positionierte Akteur*innen begreifen, die diese vielschichtigen Zuschreibungen (re)produzieren. Das Merkmal der Situierbarkeit schafft folglich Voraussetzungen, die ambivalenten Grenzziehungen zwischen nationaler »Eigengruppe« gegenüber der jüdischen »Fremdgruppe« interpretativ zu dechiffrieren, indem sie durch die situationsund positionsgebundene Kontextualisierung spezifischer Zugehörigkeitskriterien Aufschluss über Kontingenzen und Herstellungsdynamiken von Grenzziehungsstrategien und Grenzverwischungen im Zusammenhang mit der Zeitlichkeit nationaler Narrationen gibt. Es konnte insgesamt gezeigt werden, wie in antisemitischen Grenzziehungsprozessen rassialisierte, ethnisierte und nationalisierte Anrufungen von Jüd*innen situativ aktiviert werden können, dabei unsichtbar bleiben und entsprechend unterschiedlichen sozialen Positionen situierbar sind, womit die ambivalenten Mechanismen der In- und Exklusion von Jüd*innen sowie die Situationslogik antisemitischer Unterscheidungen gleichermaßen rekonstruierbar gemacht werden können.

6.1.4

»Wir« und die »Juden« – Relationale Prozesse der Selbstund Fremdzuschreibungen als Dynamiken antisemitischer Grenzziehungen

Ausgehend von dem Kriterium der Relationalität werden die Dynamiken soziokultureller Grenzziehungen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Antisemitismen als reziproke Prozesse der Selbst- und Fremdzuschreibung begriffen. Relationale Differenzsetzungen wurden dabei als notwendige Voraussetzung für die wandelbare Herstellung kollektiver Zugehörigkeiten und sozialer Ausschlüsse definiert. Die exkludierende Positionierung von Jüd*innen beruhen demnach auf abwertenden Anrufungen des »Juden« in antisemitischen Klassifikationsprozessen, durch die sich kategoriale Bedeutungen des »Jüdischen« entfalten, die darüber hinaus Vorstellungen von Zugehörigkeit artikulieren und damit als kollektive Identifikationsangebote sinnstiftend für Mechanismen der Gruppenbildung wirken. Mit anderen Worten enthält die Perspektive auf den relationalen Aushandlungscharakter von »Innen« und »Außen« ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Einheiten in antisemitischen Grenzziehungen eine dezidiert zugehörigkeitstheoretische Komponente, deren Reflexion für eine Analyse antisemitischer Klassifikationsrepertoires erforderlich ist. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Subjekte in binär strukturierten Zugehörigkeitsordnungen häufig gezwungen sind, sich in den Grenzen von »zugehörig« und »nicht-zugehörig« zu positionieren, zu verstehen und darzustellen, wobei antisemitische Bedeutungszuweisungen als Differenzmarkierung das kollektive Selbstverständnis des »Eigenen« gegenüber dem jüdischen »Fremden« ermöglichen. In diesem Wechselspiel von Selbst- und Fremdidentifikation wurde mit Blick auf die ambivalente Stellung von Jüd*innen eine Besonderheit der Konstruktionsweisen antisemitischer Gruppengrenzen ausgemacht. Denn die relationalen Spezifika antisemitischer Ein- und Ausschlüsse bestehen nun darin, dass sich Jüd*innen der eindeutigen Zuordnung von »Innen« und »Außen« entziehen, dem prototypischen Narrativ des »Fremden« jedoch nicht entsprechen, sondern als »Fremde im Inneren« die dichotome Unterscheidungslogik zwischen »Eigenem« und »Fremdem« herausfordern. Auf dieser Einsicht aufbauend wurde herausgearbeitet, dass aus der stigmatisierenden

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Klassifikation einer amorphen jüdischen »Unbestimmtheit« in Diskursen der Ungleichwertigkeit eine Vielzahl abwertender, disparater und sich widersprechender Zuschreibungen folgen. So können Antisemitismen die Phantasmagorie einer jüdischen Weltverschwörung ebenso reproduzieren, wie sie Jüd*innen analog als Träger einer parasitären Minderwertigkeit imaginieren. Auch lassen sich Gleichzeitigkeiten hinsichtlich der In- und Exklusion von Jüd*innen konstatieren, die Jüd*innen gleichermaßen als »zugehörig« wie »nicht-zugehörig« klassifizierbar machen. Aus einer intersektionalen Perspektive stellt sich diese Simultanität als situationslogischer Ausdruck des interrelationalen Zusammenwirkens ethnisierter, rassialisierter oder nationalisierter Differenzkategorien in einem gegebenen sozialen oder politischen Kontext dar, weil auf diese Weise die Zugehörigkeit von Jüd*innen unter der Prämisse einer temporären Verknüpfung mehrdimensional verschränkter Grenzziehungen betrachtet wird. Eine relationale Taxonomie der Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen versucht daher einerseits, diese Dynamiken der multivariablen Herstellung ungleichheitsrelevanter Ein- und Ausschließungsformen analytisch zu dechiffrieren. Andererseits ermöglicht dieses Verständnis der relationalen Konstruktionsdynamik von Grenzziehungen, nach der soziohistorischen Wandlungsfähigkeit antisemitischer Klassifizierungen in den symbolischen Klassifikationskämpfen sozialer Akteur*innen zu fragen. Die diskurstheoretischen Rassismusanalysen der Cultural Studies haben die Bedeutung differenzorientierter Relationen rassifizierter Grenzen für den andauernden und nicht abschließbaren Prozess der Identifikation des Subjektes hervorgehoben. Die (Re)Produktion rassialisierten Wissens über den jüdischen »Anderen« und seine negative Bedeutungskonstitution korrespondiert mit positiven Wertbezügen der homogenisierten ingroup. Subjekttheoretisch wurde dabei herausgearbeitet, dass die relationale Artikulation von Differenzen als zwingende Voraussetzung für die soziale Konstruktion von Gruppenidentitäten und ihre Subjektrepräsentationen in gesellschaftlichen Diskursen erscheint. Wie die Diskussion gezeigt hat, weist die amorphe und antithetische Klassifikation von Jüd*innen in Prozessen der Rassialisierung jedoch auf ein Spezifikum der antisemitischen Rassenkonstruktion hin. Die Ununterscheidbarkeit von nichtjüdischer Mehrheit und jüdischer Minderheit positioniert Jüd*innen aufgrund ihrer kulturell wie somatisch unsichtbaren und sozioökonomisch angepassten Stellung als bedrohliche »Feinde im Innern«, die den Erhalt der sozialen Ordnung fundamental gefährden. Ähnliche Ergebnisse konnten auch für migrationssoziologische Ansätze der Ethnizitätsforschung festgehalten werden, in denen die dichotome Konstruktion von »Innen« und »Außen« als grundsätzliches Ordnungsprinzip ethnischer Gruppenbildung betont wird, indem sie die Kontingenzen und Ambiguitäten der kulturellen Weltwahrnehmung reduziert. Haben theoretische Konzepte der Rassismusforschung vor allem auf Klassifikationsformen der Fremdzuschreibung abgezielt, so stellen Zugänge der Ethnizitätsforschung insbesondere Zugehörigkeitskonstruktionen einer hegemonialen Kerngruppe heraus. In diesen Prozessen der relationalen Abgrenzung gegenüber einer so markierten »Fremdgruppe« bilden sich kollektive Identifikationen der »Eigengruppe« in den Grenzen einer ethnisierten Zugehörigkeitsordnung aus, deren Bindungspotenziale und Ausgrenzungsmechanismen allerdings hochgradig umkämpft sind. Gerade mit Blick auf den hybriden Status von Jüd*innen konnten Ambivalenzen sichtbar

6 Konzeptualisierung einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungen

gemacht werden. Demzufolge wurde herausgearbeitet, dass Jüd*innen durch anpassungsfähige Praxen der antisemitischen Ausschließung mit einem Stigma unaufhebbarer Differenz identifiziert werden. Diese Bedeutungszuweisung einer essentialisierten Differenz wurde dabei als »Allosemitismus« definiert, der eine jüdische »Andersartigkeit« sowohl über antisemitische als auch philosemitische Klassifikationen in ethnisierten Zugehörigkeitskontexten politisch relevant werden lässt. Die hier synthetisierten sozialkonstruktivistischen Zugänge der Nationalismusforschung bekräftigen gleichermaßen das korrelative Zusammenspiel von Selbst- und Fremdidentifikation für die Stabilisierung einer nationalisierten Kollektividentität. So konnte gezeigt werden, dass in Diskursen nationaler Selbstverständigung die kontingenzbehaftete Unterscheidung eines »Nicht-Wir« der Identifikation mit einem lokal-historisch spezifischen nationalen »Wir« vorausgeht, wobei die Positionierung von Jüd*innen in diesen relationalen Praktiken nationenbezogener Grenzziehungen der widersprüchlichen Repräsentationslogik einer jüdischen Figur des Dritten folgt. Als »interne negative Andere« wird die Nicht-Zugehörigkeit von Jüd*innen durch eine Vielzahl disparater antisemitischer Klassifikationen hergestellt, die eine Besonderheit der kategorialen (jüdischen) Differenz zum Ausdruck bringen und als wandelbare Konstruktionen antisemitischer Differenzrelationen analysiert werden müssen. Diese Vielfältigkeit zeigt sich etwa in Klassifikationsrepertoires, in denen Jüd*innen als »Fremdgruppe« über die negative Gruppenrepräsentation des jüdischen Staates Israel nationalisiert werden. Im Zentrum der Untersuchung nationenbezogener Prozesse der relationalen In- und Exklusion von Jüd*innen stehen zuletzt gesellschaftliche Diskurse nationaler Erinnerungen, in denen die jüdische (Nicht-)Mitgliedschaft in der nationalen Erinnerungsgemeinschaft über die Wertperspektive des kollektiven Gedächtnisses verhandelt wird. Zusammengefasst konnte hervorgehoben werden, dass rassialisierte, ethnisierte und nationalisierte Grenzziehungen des Antisemitismus in reziproken Prozessen der Selbstidentifikation und Fremdkategorisierung in vielfältig kontextualisierbarer, ambivalenter und wandlungsfähiger Form symbolisch hergestellt werden.

6.1.5

Die temporäre Stabilisierung der Bedeutung antisemitischer Grenzen und ihre konstitutive Instabilität

Mit dem Merkmal der temporären Stabilisierung soll die Analyse symbolischer Grenzziehungsprozesse des Antisemitismus dem Umstand Rechnung tragen, dass die Klassifikationsschemata einmal etablierter soziokultureller Grenzen zwischen sozialen Gruppen nicht beliebig wandelbar sind. Vielmehr lassen sich ihre Bedeutungen infolge der Interaktionsdynamik kultureller Aushandlungsprozesse vorläufig, d.h. in einem räumlich und zeitlich eingrenzbaren Kontext temporär fixieren. Diese stabilisierten negativen Klassifikationen von Jüd*innen wurden als wandelbarer Ausdruck eines kulturellen Kompromisses für die Grenzen sozialer In- und Exklusion definiert. Dabei wird dieser Konsens als ungleichheitsrelevantes Ergebnis symbolischer Kämpfe strategisch handelnder, aber ungleich positionierter Akteur*innen und ihrer je spezifischen Grenzziehungsstrategien verstanden. Durch diesen fragilen Konsens wird eine bestimmte, rassialisierte, ethnisierte oder nationenbezogene Perspektive auf die jüdische »Fremd-

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

gruppe« als gesellschaftlich legitimiertes, sprich hegemoniales Klassifikationssystem hervorgebracht. Die kontingente, d.h. historisch fortlaufend veränderbare, Stabilität eines sozial anerkannten kulturellen Kompromisses antisemitischer Grenzziehungen gibt demnach Aufschluss darüber, wieso sich manche Kriterien der Mitgliedschaft und symbolische Formen antisemitischer Ausschließung als relativ langlebig erweisen und durch soziale Akteur*innen aufrechterhalten werden, sich aber in anderen kulturellen Kontexten und unter divergierenden institutionellen Rahmenbedingungen rasant verändern können. Die paradigmatische Diskussion betonte dementsprechend stabilisierende Faktoren kultureller Sinngebung, durch die sich die unhinterfragbar scheinende Geltung der antisemitischen Teilung der sozialen Wirklichkeit in eine jüdische »Fremd«- und nicht-jüdische »Eigengruppe« sedimentiert. Darüber verweist das Adjektiv »relativ« einerseits auf die Mechanismen des boundary blurring, durch die bestehende Grenzen infrage gestellt werden, und andererseits auf die konstitutive Instabilität hegemonialer Bedeutungsfixierungen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Klassifikationssysteme. Durch die Grenzziehungsstrategien des boundary blurring stehen dabei solche Klassifikationspraktiken im Mittelpunkt, die antisemitische Teilungsprinzipien in Zugehörigkeitskonflikten re-artikulieren, etwa indem sie die Bedeutung soziokultureller Grenzen zwischen Nicht-Jüd*innen und Jüd*innen durch die Hervorhebung nicht-antisemitischer Distinktionsmerkmale (z.B. universaler Zugehörigkeitskriterien) angreifen. Die poststrukturalistischen Rassialisierungsansätze der Cultural Studies haben dabei macht- und diskurstheoretische Überlegungen Foucaults kombiniert und rassistische Repräsentationssysteme als Ausdruck von Macht-Wissen bestimmt. In rassialisierten Grenzziehungen des Antisemitismus werden demzufolge askriptive Eigenschaften und Merkmale von Jüd*innen als gesellschaftlich akzeptierte Deutung der Identität des »Anderen«, mithin als diskursive Konstruktion gesellschaftlicher Wahrheit über die auszuschließende outgroup verstanden. So wurde herausgestellt, dass antisemitische Wissenscodes im triadischen Rahmen von Diskurs-Macht-Wissen die rassialisierten Differenzmerkmale von Jüd*innen essentialisieren und damit eine soziale Ungleichstellung zwischen »Eigen«- und »Fremdgruppe« wirklichkeitskonstitutiv stabilisieren. Zugleich bewegen sich diese hegemonialen Deutungsweisen des rassialisierten jüdischen »Anderen« in einem Feld der symbolischen Umkämpftheit, wodurch einmal stabilisierte Signifikationen durch die Interaktionsdynamiken von Klassifikationskämpfen re-artikuliert und verändert werden können. Zugehörigkeitstheoretische Konzeptualisierungen der Ethnizitätsforschung haben in gleichem Maße gezeigt, dass ethnisierte Mitgliedschaftskriterien wie Abstammung, Geschichte oder »Kultur« in veränderbaren, lokal-historischen spezifischen Kontexten als soziale Tatsachen oder primordiale Zugehörigkeitsgefühle wirksam werden können. Wirksam werden sie deshalb, weil sie als natürlich scheinende Klassifikationsmuster den sozialen Raum symbolisch strukturieren, obgleich ihre konkreten Bedeutungszuweisungen wandelbares Resultat interaktionaler Klassifikationsdynamiken sozialer Akteur*innen sind. So wird die ethnisierte (Nicht-)Zugehörigkeit von Jüd*innen als Ausdruck einer scheinbaren Naturalisierung sozialer (Macht-)Beziehungen bewertet, die den soziokulturellen Ein- und Ausschluss von Jüd*innen regulieren und diese ethnische Teilung der sozialen Welt als unhinterfragbar scheinendes Strukturprinzip des

6 Konzeptualisierung einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungen

sozialen Lebens zementieren. Diese habitualisierte Wirksamkeit des historisch kontingenten Wissens über die legitime An- und Zuweisung von jüdischen Subjektpositionen in ethnischen Zugehörigkeitsordnungen lässt sich unter das Merkmal der temporären Stabilisierung subsumieren, weil sie den Handlungsspielraum für beliebige Diskursstrategien der Grenzziehungen beschränkt. Diskurstheoretisch orientierte Zugänge der Nationalismusforschung haben deutlich gemacht, dass die »Nation« als Diskursformation zu begreifen ist, die eine lokalhistorisch spezifische Art des Denkens und Sprechens über nationale Gruppenidentitäten, Zugehörigkeit und soziale Solidarität generiert. Die Pfadabhängigkeit der symbolischen Ordnung einer »Nation« und ihrer Grenzziehung zwischen »Innen« und »Außen« entwickelt sich entlang der Ausbildung sogenannter master narratives, die als symbolische Grenzmarkierungen die Dauerhaftigkeit und Kontinuität bestimmter Deutungsmuster des »Nationalen« bekräftigen. Sie festigen die soziokulturellen Grenzen einer »Nation«, ohne jedoch ihren prinzipiell umkämpften Deutungsgehalt, d.i. der zugrundeliegende gesellschaftliche Konflikt und Wandel in den Prozessen nationaler Selbstverständigung, infrage zu stellen. Die stabilisierende Kontinuitätsfiktion nationaler Erinnerungspolitiken wurde dabei mit der Funktionsweise des kollektiven Gedächtnisses erklärt. Insbesondere konnte für antisemitische Grenzziehungen festgehalten werden, dass die vorübergehende Stabilisierung bestimmter Formen sozialer Ausschließungen von Jüd*innen über ihre Positionierung in erinnerungs- und vergangenheitspolitischen Diskursen erfolgt. Gerade nationale Mythen sind es, die Wertperspektiven auf das kollektive Selbstverständnis einer »Nation« über die vermeintliche Differenz zur jüdischen »Fremdgruppe« artikulieren und gleichzeitig einen narrativen Deutungsrahmen für nationalisierte Grenzziehungen stabilisieren. Insgesamt kann für das Kriterium der temporären Stabilisierung antisemitischer Grenzziehungen konstatiert werden, dass der kulturell ausgehandelte Kompromiss über legitime Sicht- und Teilungsprinzipien der sozialen Welt hegemoniales, d.h. vorläufig fixiertes, ethnisiertes, rassialisiertes und nationalisiertes, Wissen über die »Juden« und die Grenzen ihrer sozialen In- und Exklusion (re-)produziert.

6.1.6

Klassifikationsmacht – die ungleichheitsstiftende Macht zu benennen und auszuschließen

Zuletzt verweist das Element der Macht in soziokulturellen Grenzziehungsprozessen des Antisemitismus auf eine ungleichheitsstrukturelle Dimension der Taxonomie, insofern die klassifikatorischen Praktiken sozialer Akteur*innen als ungleichheitsrelevant betrachtet werden. Demzufolge wurden ethnisierte, rassialisierte und nationalisierte Antisemitismen als symbolisch hergestellte Dimensionen sozialer Ungleichheit charakterisiert, die sich in einer Ungleichheit der Lebenschancen ausdrücken lassen. So wird in den Klassifikationskämpfen sozialer Akteur*innen um die Ausübung gesellschaftlicher Definitionsmacht gerungen, die in den symbolischen Kämpfen um antisemitische Grenzen als symbolische Gewalt zur Durchsetzung einer legitimen Weltsicht erscheint und gesellschaftliche Hierarchien errichtet. Davon ausgehend avanciert die ungleichheitsrelevante Klassifikation von Jüd*innen zu einer Frage der gesellschaftlichen Benachteiligung der jüdischen »Fremdgruppe«, weil sie Handlungspotenziale der mar-

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

kierten »Anderen« negativ beeinflusst. Durch die symbolische Vermittlung antisemitischer Distinktionsmerkmale werden also gesellschaftliche Machtbeziehungen etabliert. Durch diese symbolischen Kämpfe um Deutungsmacht werden demzufolge über die dominanzkulturelle Aushandlung von Anerkennung und Abwertung hierarchische Systeme der sozialen Über- und Unterordnung als selbstverständlich und fraglos scheinender Ausdruck naturalisierter, sozialer Grenzen zwischen den als zugehörig akzeptierten Gesellschaftsmitgliedern einer ingroup gegenüber nicht-zugehörigen Angehörigen einer als »jüdisch« definierten outgroup hervorgebracht. Sind ethnisierte, rassialisierte oder nationalisierte Antisemitismen als sozial anerkannte Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster hergestellt, werden damit Diskriminierungen und Subordination hervorgebracht sowie der Zugang zu ökonomischen und politischen Ressourcen limitiert oder eröffnet. Kurzum resultiert die deprivierte Positionierung in dem gesellschaftlichen Geflecht hegemonialer Machtbeziehungen in einer unterschiedlichen Verteilung von sozialen/m und kulturellen/m Privilegien oder Prestige und kann im gesellschaftlichen Konkurrenzkampf zu einer Benachteiligungen durch geringere Teilhabemöglichkeiten führen. Als Besonderheit machtvermittelter Ausschlussmechanismen antisemitischer Grenzziehungen lässt sich zuletzt der diskursive Ausschluss hervorheben. Diskursive Ausschlüsse marginalisieren die Positionen der exkludierten »Fremdgruppe« in hegemonialen Diskursformationen, indem sie die Diskriminierungserfahrungen von Jüd*innen delegitimieren oder tabuisieren und damit symbolisch degradieren. Die an Foucault geschulten interdisziplinären Zugänge der Cultural Studies haben in diesem Zusammenhang auf den besonderen Nexus von Diskurs, Macht und Wissen aufmerksam gemacht. Das diskursiv zirkulierende Wissen über die rassialisierte jüdische »Fremdgruppe« erscheint demzufolge als sozial folgenreiche Produktion gesellschaftlicher Wahrheit, an die sich eine Vielzahl rassistischer Praxen der Diskriminierung, Marginalisierung und Exklusion anschließen können. Dabei wurde unter Bezugnahme auf Bourdieus Kapitalbegriff die Ausübung symbolischer Definitionsmacht mit der Anerkennung und dem Prestige von rassistischem symbolischem Kapital in einen dynamischen Zusammenhang gebracht, wodurch die Wirkungsmacht rassialisierter Hierarchien betont wird. Insofern sich die rassistisch delegitimierenden Repräsentationen von Jüd*innen in sozial ungleich verteilte Lebenschancen und Handlungspotenziale mit materieller Bedeutung übersetzen lassen, wurde also auf ihre Rückbindung an gesellschaftliche Machtverhältnisse hingewiesen. Machtsensible Analysen der Ethnizitätsforschung diskutieren ethnisierte Klassifikationsmuster gleichermaßen als Legitimationslegende für Benachteiligung und Marginalisierung, die in hierarchisierende Ordnungen einer ethnisierten »Dominanzkultur« eingelassen sind. Dabei konnte insbesondere das Konzept machtvoller natio-ethnokultureller Zugehörigkeitsordnungen wertvolle Einsichten in die Funktionslogik subordinierender Strukturen hegemonialer Differenzen liefern. So wird in diesen relationalen Beziehungen der Über- und Unterordnung die in symbolischen Kämpfen hergestellte, bedeutungsgenerierende Unterscheidung zwischen ethnisch »Eigenem« und »Fremdem« zu einer Bedingung für den Erhalt bestimmter politischer und kultureller Privilegien, die Handlungspotenziale von ethnisierten Subjekten reglementieren oder eröffnen. Die soziale Wirksamkeit der konstruierten (Nicht-)Zugehörigkeit von Jüd*innen wurde hierbei immanent als raumzeitlich kontextualisierbarer Ausdruck der sozialen

6 Konzeptualisierung einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungen

Verortung von Jüd*innen in einem Geflecht reziproker gesellschaftlicher Machtbeziehungen von Ein- und Ausschluss verstanden. Aus der Nationalismusforschung entstammt die Einsicht, dass es vor allem die institutionalisierten Strukturen des Nationalstaates sind, die die rechtliche, politische, kulturelle und soziale Teilhabe von Gruppen ermöglichen oder begrenzen, weshalb Fragen der nationalen Zugehörigkeit und damit verbundener Privilegien für die Untersuchung soziokultureller Grenzziehungen von besonderer Bedeutung sind. Die legitime Positionierung von Jüd*innen innerhalb der Kontexte von »zugehörig« und »nicht-zugehörig« wird hierbei im Kontext gesellschaftlicher Machtbeziehungen reflektiert, in denen die Ausübung gesellschaftlicher Definitionsmacht über binäre und nicht-binäre Klassifikationen des nationalen Ein- und Ausschlusses entscheidet. Kurzum, der gesellschaftlichen Konsensbildung nationaler Vergemeinschaftung wird ein dezisionistisches Moment hegemonialer Sinnfixierung der legitimen Grenzen einer »Nation« zugrunde gelegt. Durch das Merkmal der Macht konnte für die Analyse soziokultureller Grenzziehungen des Antisemitismus insgesamt festgehalten werden, dass die sozialen Schließungsprozesse antisemitischer Grenzen auf einem Konnex von Definitions- und Benennungsmacht einerseits und auf der Herstellung sozialer Ungleichheiten andererseits beruhen.

6.2

Methodologische Vorüberlegungen über die Konstruktionsprinzipien einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungsprozesse

Wurden im vorangegangenen Abschnitt eine synthetisierende Diskussion und Systematisierung von sechs deduktiven Prämissen einer prozessorientierten Konzeptualisierung mehrdimensionaler Typen antisemitischer Grenzziehungen geleistet, steht darauf aufbauend im Folgenden die Ausarbeitung einer konzeptuellen Taxonomie der Konstruktionsmechanismen soziokultureller Grenzziehungen des Antisemitismus unter Bezugnahme auf methodologische wie inhaltliche Aspekte im Mittelpunkt. Obgleich in den Sozialwissenschaften eine theoretische Reflexion der Konstruktionsprinzipien von Typologien und Taxonomien selten verfolgt wird (Wimmer 2013: 45) und der Aufbau von Kategoriensystemen in der Forschungspraxis nur ungenügend reflektiert ist (Kuckartz 2007: 199), besteht dennoch ein disziplinärer Konsens darübr, wie »gute« Typologien oder Taxonomien aussehen sollen. Taxonomien werden demzufolge als multidimensionale und systematische Ordnung von Klassifikationen und Begriffen theoretisiert (Collier, LaPorte und Seawright 2012; Bailey 1994; Tiryakian 1968), in denen die einzelnen Klassen hierarchisch angeordnet sind, wobei alle Klassen und Subklassen auf denselben Unterscheidungsgrund (fundamentum divisionis) verweisen. Ein fundamentum divisionis »is a property of any classification in its entirety« (Marradi 1990: 133). Übertragen auf die taxonomische Übung der vorliegenden Arbeit verweisen alle Typen der Taxonomie (hier: rassialisierte Grenzziehungen des Antisemitismus, ethnisierte Grenzziehungen des Antisemitismus und nationalisierte Grenzziehungen des Antisemitismus) und ihre Untergliederungen in Sub-Kategorien auf die formalen Eigenschaften des übergeordneten Konzeptes der soziokulturellen Grenzziehungen des An-

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Verortung von Jüd*innen in einem Geflecht reziproker gesellschaftlicher Machtbeziehungen von Ein- und Ausschluss verstanden. Aus der Nationalismusforschung entstammt die Einsicht, dass es vor allem die institutionalisierten Strukturen des Nationalstaates sind, die die rechtliche, politische, kulturelle und soziale Teilhabe von Gruppen ermöglichen oder begrenzen, weshalb Fragen der nationalen Zugehörigkeit und damit verbundener Privilegien für die Untersuchung soziokultureller Grenzziehungen von besonderer Bedeutung sind. Die legitime Positionierung von Jüd*innen innerhalb der Kontexte von »zugehörig« und »nicht-zugehörig« wird hierbei im Kontext gesellschaftlicher Machtbeziehungen reflektiert, in denen die Ausübung gesellschaftlicher Definitionsmacht über binäre und nicht-binäre Klassifikationen des nationalen Ein- und Ausschlusses entscheidet. Kurzum, der gesellschaftlichen Konsensbildung nationaler Vergemeinschaftung wird ein dezisionistisches Moment hegemonialer Sinnfixierung der legitimen Grenzen einer »Nation« zugrunde gelegt. Durch das Merkmal der Macht konnte für die Analyse soziokultureller Grenzziehungen des Antisemitismus insgesamt festgehalten werden, dass die sozialen Schließungsprozesse antisemitischer Grenzen auf einem Konnex von Definitions- und Benennungsmacht einerseits und auf der Herstellung sozialer Ungleichheiten andererseits beruhen.

6.2

Methodologische Vorüberlegungen über die Konstruktionsprinzipien einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungsprozesse

Wurden im vorangegangenen Abschnitt eine synthetisierende Diskussion und Systematisierung von sechs deduktiven Prämissen einer prozessorientierten Konzeptualisierung mehrdimensionaler Typen antisemitischer Grenzziehungen geleistet, steht darauf aufbauend im Folgenden die Ausarbeitung einer konzeptuellen Taxonomie der Konstruktionsmechanismen soziokultureller Grenzziehungen des Antisemitismus unter Bezugnahme auf methodologische wie inhaltliche Aspekte im Mittelpunkt. Obgleich in den Sozialwissenschaften eine theoretische Reflexion der Konstruktionsprinzipien von Typologien und Taxonomien selten verfolgt wird (Wimmer 2013: 45) und der Aufbau von Kategoriensystemen in der Forschungspraxis nur ungenügend reflektiert ist (Kuckartz 2007: 199), besteht dennoch ein disziplinärer Konsens darübr, wie »gute« Typologien oder Taxonomien aussehen sollen. Taxonomien werden demzufolge als multidimensionale und systematische Ordnung von Klassifikationen und Begriffen theoretisiert (Collier, LaPorte und Seawright 2012; Bailey 1994; Tiryakian 1968), in denen die einzelnen Klassen hierarchisch angeordnet sind, wobei alle Klassen und Subklassen auf denselben Unterscheidungsgrund (fundamentum divisionis) verweisen. Ein fundamentum divisionis »is a property of any classification in its entirety« (Marradi 1990: 133). Übertragen auf die taxonomische Übung der vorliegenden Arbeit verweisen alle Typen der Taxonomie (hier: rassialisierte Grenzziehungen des Antisemitismus, ethnisierte Grenzziehungen des Antisemitismus und nationalisierte Grenzziehungen des Antisemitismus) und ihre Untergliederungen in Sub-Kategorien auf die formalen Eigenschaften des übergeordneten Konzeptes der soziokulturellen Grenzziehungen des An-

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tisemitismus und ihres Unterscheidungsgrunds der Konstruktionsformen, als dessen Spezifizierungen die Grenzziehungstypen in gewisser Weise erscheinen (Sartori 1970). Die klassifikatorischen Operationen (Marradi 1990) der hierarchisierenden Gliederung von Klassifikationsmustern und ihrer Klassifikationen lassen sich im Anschluss an Sartori (1970: 1040f.) als Abstraktionsleiter verstehen, die das deduktive Verhältnis einander überund untergeordneter Klassen von Gruppen und Subgruppen beschreiben. In dieser theoriegeleiteten Abstraktionsleiter, dem »Entpacken« (Sartori 1970: 1038) der Konzeptualisierung unterschiedlicher Typen antisemitischer Grenzziehungen, entfaltet sich die taxonomische Rangfolge in einem Prozess der intensionalen Klassifikation (Marradi 1990: 131ff.)2 , die nach der aristotelischen Logik des genus proximum et differentia specifica erfolgt. Die taxonomische Operation verfährt gemäß der Definitionslehre von Aristoteles nach dem scholastischen Prinzip, dass jede Begriffs- oder Klassenbildung unter Angabe der nächsthöheren Gattung und ihrer spezifischen Differenz erfolgt (K. Lorenz 2005: 242f.), wodurch die Angabe artbildender Unterschiede eine sequenzielle Rangfolge der verschiedenen Dimensionen einer Taxonomie ermöglicht. Beispielsweise können die antisemitischen Klassifikationsrepertoires der Phänotypisierung und Biologisierung als je artbildende Unterschiede des Gattungsbegriffes rassialisierter Grenzziehungen des Antisemitismus verstanden werden, die zwar unisono die formalen Eigenschaften von Rassialisierung aufweisen, allerdings durch ihren Bezug auf den »Körper« oder die »Gene« Differenzen markieren, die sie voneinander unterscheiden lassen. Für diese klassifikatorischen Operationen werden dabei methodologisch zwei Grundregeln ins Feld geführt (Bailey 1994: 3; Marradi 1990: 132f.), die einzelne Taxa einer Taxonomie zu erfüllen haben: •



Erstens müssen sich die Elemente einer Taxonomie wechselseitig ausschließen (»mutually exclusive«), d.h. ein Merkmal darf nicht gleichzeitig zwei verschiedenen Klassen zugeordnet werden. Zweitens müssen Taxonomien erschöpfend (»exhaustive«) sein, d.h. die Typen der Grenzziehungen müssen empirisch alle möglichen Variationen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Grenzziehungen abbilden können.

Bevor in einem nächsten Schritt die Ausarbeitung einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungen dargestellt werden soll, möchte ich zunächst kursorisch dominante Typenbildungen der Antisemitismusforschung diskutieren, um zu verdeutlichen, welchen theoretischen und analytischen Mehrwert eine Taxonomie der Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen für die wissenschaftliche Diskussion über Antisemitismen verspricht. Ihre Beschränkung auf Erscheinungsformen des Antisemitismus ist eine Engführung, die die meisten der hier vorgestellten Typologien teilen. So

2

Marradi schreibt über intensionale Klassifikationen: »Intensional cl. can be performed, so to say, in chain. After dividing the extension of a concept in classes by applying a fundamentum divisionis, one, several, or all the classes can further be divided by applying other fundamenta. This splitting of classes can be repeated over and over again« (199: 134, Hervorh. i. Orig.).

6 Konzeptualisierung einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungen

beschäftigen sich Typenbildungen3 im Feld der Antisemitismusforschung im Gegensatz zu einer prozessorientierten Taxonomie von Konstruktionsweisen des Antisemitismus, vielfach nur mit unterschiedlichen Erscheinungsformen des Antisemitismus. Weitestgehend durchgesetzt hat sich diesbezüglich die Einteilung von Antisemitismen in einen religiös motivierten christlich-antijudaistischen, einen modernen, einen nach dem Holocaust auftretenden sekundären und in einen gegen Israel gerichteten anti-zionistischen Antisemitismus (Benz 2004: 19f.; Pfahl-Traughber 2007b; Bergmann 2006). Ergänzt werden diese typologischen Variationen antisemitischer Erscheinungsweisen durch weitere Klassifikationstypen, wie etwa eines islamistischen oder arabischislamischen Antisemitismus (Salzborn 2011; Wistrich 2013; Rosenfeld 2013; Marcus 2015; kritisch dazu: Kiefer 2007), ökonomischen oder, durch eine historisch interessierte Reduktion wie auf das Gegensatzpaar, eines vormodernen Antijudaismus und modernen Antisemitismus (Metzger 2006). Dagegen unterscheidet Pfahl-Traughber (2017) typologisch zwischen ideologischen Erscheinungsformen eines religiösen, politischen, sozialen, nationalistischen, rassistischen, sekundären und antizionistischen Antisemitismus. Noch ausdifferenzierter erscheint die Trennung zwischen dem Phänomen eines Antijudaismus, Antizionismus, Erlösungsantisemitismus, islamisierten Antisemitismus, einer Judeophobie, eines Radauantisemitismus, literarischen Antisemitismus, Rassenantisemitismus, sekundären Antisemitismus, linken Antisemitismus, völkischen Antisemitismus, Überfremdungsantisemitismus oder modernen Antisemitismus (Benz 2010b). Gemeinsam ist diesen Typologien ein Verständnis von Kontinuität und Wandel des Antisemitismus, das auch aktualisierte, sich an veränderte politische Bedingungen angepasste Klassifikationsweisen des Antisemitismus, wie etwa der sekundäre Post-Holocaust-Antisemitismus, als Erscheinungsformen des immer selben tradierten Bedeutungskomplexes jahrhundertealter antisemitischer Imaginative betrachtet (Bergmann 2004a: 116; Ziege 2004). Gewandelt hat sich allerdings in der wissenschaftlichen Diskussion dieser Kategoriensysteme die Bezeichnung derselben (Thurn 2015: 39-42). Während Hortzitz (2005) noch religiös, wirtschaftlich, völkisch-national und biologisch-anthropologisch argumentierende Formen des Antisemitismus unterscheidet, spricht Gubser (1998), um sich von Tendenzen der Essentialisierung abzugrenzen, von religiösen, wirtschaftlichen, nationalistischen und biologistischen Begründungsmustern des Antisemitismus, wohingegen Thun (2015) zuletzt durch die Klassifikation der Biologisierung und Nationalisierung auf den performativen Konstruktionscharakter der Kategorisierungen hinweist. Postkoloniale Ansätze hingegen versuchen, welthistorische Variationen des Antisemitismus aus einer global-dekolonialen Perspektive zu historisieren durch die Einführung einer Dreier-Typologie des anti-Jewish antisemitism, anti-Arab-Muslim anti-semitism und Anti-Afro-Arab/Muslim anti-semitism (Mielants, Gordon und Grosfoguel 2009; Grosfoguel 2009; Mignolo 2009) ähnlich auch als Vierer-Typologie unter Hinzufügung eines (intra-)semitic anti-semitism (Tamdgidi 2009).

3

Auffällig erscheint in diesem Zusammenhang, dass theoretische Konzeptualisierungen unterschiedlicher »Typen« des Antisemitismus zwar für sich in Anspruch nehmen, Typologien zu entwerfen, eine Darstellung ihrer kriteriengeleiteten Entwicklung aus theoretischer wie methodologischer Perspektive weitestgehend aber ausbleibt. Eine der wenigen Ausnahmen bildet hierbei Weyand (2016a).

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Innovativ erscheint die historisch fundierte Typologie Jan Weyands (2016a), in der wissenssoziologisch mit dem christlich-nationalen, nationalen, nationalrassistischen und national-religiösen Antisemitismus genealogisch vier Typen von »Wissensformationen« (Weyand 2016a: 284) klassifiziert werden, die auf einem semantischen Grundmuster von gemeinschaftlicher (Volks-)Zugehörigkeit und den Zuschreibungen des gemeinschaftszerstörenden jüdischen Feindbildes beruhen. Obgleich es das Verdienst der typologischen Anordnung Weyands ist, auf wandelbare Muster der Herstellung von antisemitischen »Wir«-/»Sie«-Differenzierungen hinzuweisen, kann sie nicht als exhaustiv und umfassend gelten. So reduziert Weyand die antisemitische Semantik, unter der Voraussetzung der analytisch privilegierten Strukturkategorie »Nation«, auf die dichotome Konstruktion von (ethnischer) Gemeinschaft und (jüdischer) Gesellschaft, womit Antisemitismen, die sich dieser symbolischen Differenzlogik entziehen, nicht erfasst werden können.4 Stattdessen versucht die vorliegende Arbeit, eine Taxonomie der Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen zu präsentieren, die Antisemitismen als multivariable und kontingente, d.h. zeitlich und räumlich eingrenzbare, Grenzziehungsstrategien begreifbar machen soll und sich gegenüber dem Kontext, in denen sie ausgehandelt werden, empirisch offen zeigt. Auf diese Weise wird der tendenziell essentialisierende Blick auf spezifische Erscheinungsformen oder Trägergruppen antisemitischer Denk- und Wahrnehmungsmuster abgewendet, um artikulatorische Praktiken heterogener sozialer Akteur*innen zu untersuchen, die sich in flexibler Abhängigkeit von der eigenen gesellschaftlichen Positioniertheit, dem politischen, religiösen oder soziokulturellen Hintergrund wie von den wandelbaren sozialen Kontextbedingungen ethnisiert, rassialisiert oder nationenbezogen äußern kann.

6.3

Besondere Merkmale einer Taxonomie multidimensional verschränkter Grenzziehungen: Eine Darstellung ihrer Analyseebenen

Durch die explizite Integration des Intersektionalitätsansatzes in die deduktive Konzeptualisierung von Herstellungsweisen antisemitischer Grenzziehungen besteht die Besonderheit des taxonomischen Modells nun darin, nicht nur ethnisierte, rassialisierte oder nationalisierte Grenzziehungstypen abbilden zu können, sondern auch Prozesse der multiplen Überlagerungen und des Zusammenspieles unterschiedlicher Formen der Grenzziehungen interpretativ rekonstruierbar zu machen. Diese bislang noch wenig entwickelte Ausrichtung der Grenzziehungsforschung auf das interrelationale

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Es sei hier noch auf eine gänzlich unterschiedliche Form der Typenbildung verwiesen, die Klaus Holz (2001) vorlegt. Holz verfolgt eine theoretische Systematisierung unterschiedlicher Analysezugänge der Antisemitismusforschung, die entlang ihres Bezugs zu der Unterscheidung von Semantik und Kontext, gewissermaßen das fundamentum divisionis seiner Typologie, geordnet werden und sich als Typen funktionalistischer Theorien, Korrespondenztheorien, kausale Theorien und Differenztheorien darstellen.

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Innovativ erscheint die historisch fundierte Typologie Jan Weyands (2016a), in der wissenssoziologisch mit dem christlich-nationalen, nationalen, nationalrassistischen und national-religiösen Antisemitismus genealogisch vier Typen von »Wissensformationen« (Weyand 2016a: 284) klassifiziert werden, die auf einem semantischen Grundmuster von gemeinschaftlicher (Volks-)Zugehörigkeit und den Zuschreibungen des gemeinschaftszerstörenden jüdischen Feindbildes beruhen. Obgleich es das Verdienst der typologischen Anordnung Weyands ist, auf wandelbare Muster der Herstellung von antisemitischen »Wir«-/»Sie«-Differenzierungen hinzuweisen, kann sie nicht als exhaustiv und umfassend gelten. So reduziert Weyand die antisemitische Semantik, unter der Voraussetzung der analytisch privilegierten Strukturkategorie »Nation«, auf die dichotome Konstruktion von (ethnischer) Gemeinschaft und (jüdischer) Gesellschaft, womit Antisemitismen, die sich dieser symbolischen Differenzlogik entziehen, nicht erfasst werden können.4 Stattdessen versucht die vorliegende Arbeit, eine Taxonomie der Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen zu präsentieren, die Antisemitismen als multivariable und kontingente, d.h. zeitlich und räumlich eingrenzbare, Grenzziehungsstrategien begreifbar machen soll und sich gegenüber dem Kontext, in denen sie ausgehandelt werden, empirisch offen zeigt. Auf diese Weise wird der tendenziell essentialisierende Blick auf spezifische Erscheinungsformen oder Trägergruppen antisemitischer Denk- und Wahrnehmungsmuster abgewendet, um artikulatorische Praktiken heterogener sozialer Akteur*innen zu untersuchen, die sich in flexibler Abhängigkeit von der eigenen gesellschaftlichen Positioniertheit, dem politischen, religiösen oder soziokulturellen Hintergrund wie von den wandelbaren sozialen Kontextbedingungen ethnisiert, rassialisiert oder nationenbezogen äußern kann.

6.3

Besondere Merkmale einer Taxonomie multidimensional verschränkter Grenzziehungen: Eine Darstellung ihrer Analyseebenen

Durch die explizite Integration des Intersektionalitätsansatzes in die deduktive Konzeptualisierung von Herstellungsweisen antisemitischer Grenzziehungen besteht die Besonderheit des taxonomischen Modells nun darin, nicht nur ethnisierte, rassialisierte oder nationalisierte Grenzziehungstypen abbilden zu können, sondern auch Prozesse der multiplen Überlagerungen und des Zusammenspieles unterschiedlicher Formen der Grenzziehungen interpretativ rekonstruierbar zu machen. Diese bislang noch wenig entwickelte Ausrichtung der Grenzziehungsforschung auf das interrelationale

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Es sei hier noch auf eine gänzlich unterschiedliche Form der Typenbildung verwiesen, die Klaus Holz (2001) vorlegt. Holz verfolgt eine theoretische Systematisierung unterschiedlicher Analysezugänge der Antisemitismusforschung, die entlang ihres Bezugs zu der Unterscheidung von Semantik und Kontext, gewissermaßen das fundamentum divisionis seiner Typologie, geordnet werden und sich als Typen funktionalistischer Theorien, Korrespondenztheorien, kausale Theorien und Differenztheorien darstellen.

6 Konzeptualisierung einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungen

Moment des Zusammenwirkens sozialer Klassifikationen folgt dabei explizit der epistemologischen Logik des Grenzziehungsansatzes oder, wie es Andreas Wimmer (2011: 213) formuliert: »This analytical move is, in a way, already part of the theoretical agenda that underlies the boundary-making paradigm«.

Abbildung 1: Taxonomisches Modell der Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen, Quelle: Eigene Darstellung.

Die Intersektionalitätsforschung betont, dass Differenzkategorien, wie »Geschlecht«, »Rasse«, »Ethnizität«, »Nation«, »Alter« usw. als dynamische Relationen zu verstehen sind, die sich in sozialen Prozessen wechselseitig beeinflussen und formen und sich daher nicht mutually exclusive zueinander verhalten (Hill-Collins 2015; Walby, Armstrong und Strid 2012). Im Gegensatz dazu erfordern taxonomische Operationen zwingend, dass sich Klassen und Kategorien einer Taxonomie gegenseitig ausschließen. Aufgrund dieser Problematik möchte ich im Anschluss an Rogers Brubaker (1996) und Floya Anthias (2012) mit der Dimension der Analysekategorien und der Dimension der Praxiskategorien zwischen zwei Analyseebenen differenzieren, in denen eine Unterscheidung zwischen antisemitischen Klassifikationen als Kategorien der Analyse und ihrer Verwendung als sozialer Praxis getroffen wird: •

Ebene der Analysekategorien: Als Grenzziehungstypen erscheinen Rassialisierung, Ethnisierung und Nationalisierung irreduzibel, d.h. weisen eine divergierende sozialontologische Herkunft auf und verfügen über eine autonome Operationslogik. Rassialisierte, ethnisierte oder nationalisierte Klassifikationsmuster und dementsprechende antisemitische Klassifikationsrepertoires verweisen auf ihre Strukturiertheit durch den sie hervorbringenden Grenzziehungstyp. Dementsprechend erscheinen die Klassifikationsmuster ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Antisemitismen auf dieser Ebene der Analyse mutually exclusive und sind daher als taxonomisch distinkte Typen der Grenzziehung charakterisierbar. Mit anderen

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Worten kann »Rasse« nicht durch »Ethnizität« und Nationalität erklärt werden und vice versa. Ebene der Praxiskategorien: Auf der empirischen Ebene sozialer und politischer Praktiken sowie auf der Ebene von Diskursen und Ereignissen finden sich variable und multidimensionale Verknüpfungen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Klassifikationen. In kulturellen Aushandlungsprozessen werden mehrdimensionale Grenzziehungen in kontingenten sozialen wie lokal-historisch spezifischen Kontexten durch Akteur*innen artikuliert und dynamisch miteinander relationiert. Hier finden sich Wechselwirkungen unterschiedlicher Dimensionen der Ungleichheit respektive das mutual shaping heterogener Differenzkategorien des Antisemitismus. Das Beispiel der Beschneidungsdebatte verdeutlicht das multiple Zusammenspiel antisemitischer Grenzziehungsprozesse: Als religiöser Ritus rekurriert die Beschneidung auf Klassifikationsweisen ethnisierter Grenzziehungen; durch den Bezug auf den »jüdischen« Körper sind Mechanismen der Rassialisierung identifizierbar und zuletzt reproduziert die Forderung nach einem staatlich verordneten Verbot ritueller Beschneidungen nationalisierte Mechanismen der Grenzziehung.

Mithilfe dieser Unterscheidung soll es also gelingen, »Rasse«, »Ethnizität« und »Nationalität« als Kontinuum von Grenzziehungstypen auf der Ebene empirisch operationalisierbarer Analysebegriffe zu konzeptualisieren und gleichzeitig eine möglichst große empirische Offenheit gegenüber der gradualisierenden Ebene antisemitischer Praxisbegriffe, die in konkrete soziale Prozesse, Relationen und Interaktionen eingebettet und reproduziert werden, zu gewährleisten. Nicht zuletzt wird damit ein Analyserahmen bereitgestellt, der es erlaubt, Mechanismen der (Dis-)Kontinuitäten und des Bedeutungswandels antisemitischer Klassifizierungen empirisch rekonstruieren zu können. Tabelle 5 erörtert nun, was die sequenzielle Anordnung der taxonomischen Abstraktionsleiter soziokultureller Grenzziehungen des Antisemitismus auf der Ebene von Analysekategorien rassialisierter, ethnisierter und nationalisierter Grenzziehungen zeigen: Sichtbar werden in dieser taxonomischen Anordnung von Analysekategorien unterschiedlicher Typen der Grenzziehungen die konzeptuellen Definitionen rassialisierter, ethnisierter und nationalisierter Grenzziehungen. Gruppenzugehörigkeit und ihre antisemitische Differenz werden in diesen Grenzziehungstypen auf der Grundlage unveränderlicher und irreduzibler Ungleichheitsmerkmale (»Rasse«), genealogischer Abstammungsvorstellungen (»Ethnizität«) oder der Imagination einer politisch-territorialen Schicksalsgemeinschaft (»Nation«) hergestellt. Diese kategorialen Unterscheidungen bringen je spezifische, binarisierte und nicht-binarisierte Klassifikationsmuster hervor, die charakteristisch für die symbolische Herstellungsweise des infrage stehenden Grenzziehungstyps sind. Im Fall der Rassialisierung wären das die Klassifikationsmuster der Biologisierung und Phänotypisierung, die vermeintlich wesenhaft negative und irreduzible Merkmale jüdischer Gruppenzugehörigkeit zum Ausdruck bringen. Ethnisierte Typen der Grenzziehung hingegen beruhen auf Klassifikationsmustern, in denen sozialer Ein- und Ausschluss auf der Grundlage genealogisch definierter Zugehörigkeiten produziert wird und soziohistorisch überlieferte Tradierungen einer gemein-

6 Konzeptualisierung einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungen

Tabelle 5: Taxonomie der Analysekategorien ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Typen antisemitischer Grenzziehungen, Quelle: Eigene Darstellung.

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samen »Geschichte«, »Kultur«, »Religion« und »Sprache« als Unterscheidungszeichen kulturell bedeutsam werden. Während sich also ethnisierte Klassifikationsmuster primär auf eine genealogisch begründete Kontinuitätsfiktion von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einer ethnisch identifizierten Kerngruppe stützen, verallgemeinern nationalisierende Klassifikationsmuster Leiterzählungen von gemeinsamer »Abstammung«, »Mythen«, »Kultur«, »Geschichten«, »Werten« oder »Traditionen«. Als kollektive Selbstbeschreibungen beziehen sich nationalisierte Klassifikationsmuster auf das politisch-territoriale Institutionengefüge einer »Nation« und stellen sich als »Volks-«, »Kultur-« oder »Staatsnation« dar. Dabei lassen sich bereits auf der Ebene von Analysekategorien nationenbezogener Typen der Grenzziehung Kreuzungen von Differenzkategorien ausmachen. So sind in Nationalisierungsprojekten einer »Volksnation« rassialisierende Vorstellungen einer gemeinsamen biologischen Abstammung enthalten. In »Kulturnationen« werden ethnisierende Konstruktionen einer nationalen Zusammengehörigkeit sichtbar, die sich durch primordial gedachte, d.h. nicht-organisch definierte, kulturelle, Werte einer »Nation« genealogisch begründen, wohingegen schließlich in »Staatsnationen« nationale Solidaritäten und Zugehörigkeiten idealtypisch durch die Institution der »Staatsbürgerschaft« und durch die zivilen Codes gemeinschaftlicher politischer Werte vermittelt werden. In diese unterschiedlichen Typen der Grenzziehung werden antisemitische Bewertungs- und Unterscheidungskategorien schließlich entsprechend der sequenziellen Rangfolge der taxonomischen Abstraktionsleiter in Form von klassifikatorischen Repertoires abwertender, stigmatisierender und delegitimierender Annahmen über »jüdische« Ungleichwertigkeit als Subklassen des jeweiligen Klassifikationsmusters integriert. Damit werden spezifisch antisemitische Klassifikationsweisen den untersuchungsrelevanten Differenzierungslinien »Ethnizität«, »Rasse« und »Nation« als Strukturkategorien sozialer Ungleichheit zugeordnet, wodurch sie sich als Analysekategorien typologisch distinkter Konstruktionsformen soziokultureller Grenzziehungen in die Taxonomie einordnen lassen. •



In rassialisierten Klassifikationsmustern werden antisemitische Klassifikationsrepertoires reproduziert, die Jüd*innen irreduzible und unveränderlich negative Eigenschaften der Über- und/oder Unterlegenheit zuschreiben. Klassifikationsrepertoires der Phänotypisierung markieren Phänotypen von Jüd*innen häufig als askriptive Bedeutungsträger jüdischer Gruppenzugehörigkeit, die als verkörperlichte Symboliken ihrer rassialisierten »Minderwertigkeit« erscheinen. Zuletzt werden durch Abwertungsrepertoires der Biologisierung bestimmte, vermeintlich objektivierbare Eigenschaften des »Jüdischen« als wesenhaft oder genetisch vererbbar betrachtet, mit pejorativer Bedeutung belegt, wozu auch die Deutungsweisen einer wesenhaft verstandenen jüdischen Überlegenheit gehören. Antisemitische Klassifikationsrepertoires ethnisierter Typen der Grenzziehungen kategorisieren Jüd*innen als primordiale »Fremde«. Dabei werden durch kulturalisierende Bewertungsrepertoires die gesellschaftliche Lebensweise, der soziale Zusammenhalt, jüdische Traditionen und Werte als genealogisch artikulierter Ausdruck ihrer ethnischen Fremdheit klassifiziert. Religionsbezogene Klassifikationsrepertoires signifizieren Institutionen jüdischen Lebens in Form religiöser Rituale,

6 Konzeptualisierung einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungen



Überzeugungen und Praktiken mit abwertenden Bedeutungen. Zuletzt repräsentieren Klassifikationsrepertoires ethnisierter Antisemitismen historische Erfahrungshorizonte von Jüd*innen – etwa die partikulare Opfererfahrung des Holocaust – als ethnisierte Klassifikationsmerkmale einer jüdischen »Andersartigkeit« oder delegitimieren gesellschaftliche Diskriminierungs- und Marginalisierungserfahrungen von Jüd*innen als nicht repräsentierbares »Außen« einer ethnisierten Zugehörigkeitsordnung. In nationenbezogenen Typen der Grenzziehung werden Repertoires der antisemitischen Deutung und Bedeutung reproduziert, in denen Jüd*innen entweder als Träger*innen einer ungleichwertigen Differenz marginalisiert oder als machtvolle Bedrohung hypostasiert werden. Als Analysekategorien nationalisierter Grenzziehungsprozesse lassen sich dabei Klassifikationsrepertoires differenzieren, die Jüd*innen einerseits als »Fremdgruppe« nationalisieren und andererseits als nationale »Fremdgruppe« konstruieren. Nationalisiert werden Jüd*innen durch ihre unterstellte oder tatsächliche Zugehörigkeit zu der jüdischen Nation Israel, während sie als »nationale Fremdgruppe« in – häufig – schuldabwehrenden Diskursen nationaler Selbstverständigung und Erinnerung erscheinen.

Zuletzt reflektiert die Ebene der (Selbst-)und Fremdzuschreibungen die im Verlauf des Theorievergleiches gewonnenen inhaltlichen Merkmale der verschiedenen Grenzziehungstypen und der darin eingeschriebenen, rassialisierten, ethnisierten oder nationalisierten Bedeutungsrepertoires antisemitischen Wissens über den jüdischen »Anderen«. Ich werde im Folgenden einzelne Fremdzuschreibungen entlang der heuristisch gebildeten Klassifikationsrepertoires, wie sie als artbildende Unterschiede des Gattungsbegriffes eines jeweiligen Typen der Grenzziehung herausgearbeitet wurden, kursorisch nachzeichnen, ohne jedoch für alle möglichen Zuschreibungen Vollständigkeit beanspruchen zu können. Damit soll verdeutlicht werden, wie sich über rassialisierte, ethnisierte oder nationalisierte Antisemitismen gruppenlogisches Wissen über »die« Jüd*innen in Form von Zuschreibungen artikulieren lässt, um Grenzen zwischen einer nicht-jüdischen ingroup gegenüber einer jüdischen outgroup symbolisch herzustellen. •



Fremdzuschreibungen, die durch das Repertoire der Phänotpyisierung abgebildet werden, können sich als Bedeutungszuweisung darstellen, in denen sich das scheinbar »Parasitäre« oder »Schwächliche« der »Juden« durch rassialisierte Signifikationen bestimmter körperlicher Merkmale (etwa der »jüdischen Nase« oder des »jüdischen Buckels«) antisemitisch begründen lässt. Klassifikationsrepertoires der Biologisierungen enthalten Zuschreibungen negativer Wesensqualitäten von Jüd*innen, die den bedrohlichen, zersetzenden und unveränderlich »bösartigen« Charakter der substantiierenden Abstammungsmerkmale des rassialisierten Abstammungskollektivs repräsentieren. Diese biologisierenden Zuschreibungen können auch tradierte Vorstellungen einer jüdischen »Allmacht«, des jüdischen »Machtstrebens« oder der jüdischen »Weltherrschaft« reproduzieren. Ethnisierte Klassifikationsrepertoires antisemitischer Grenzziehungen enthalten Zuschreibungen, die kulturelle Lebensweisen von Jüd*innen als symbolische Codes

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus



einer kulturalisierten Homogenität der jüdischen »Fremdgruppe« verwenden. Diese Codes beruhen auf Bedeutungsgebungen, die eine Unvereinbarkeit »jüdischer Kultur« und ihres anpassungsunfähigen »Partikularismus« mit den Werten, Traditionen und der Moral einer ethnisch definierten nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft klassifizieren. Fremdzuschreibungen, die sich auf jüdische Formen der Religionsausübung beziehen, folgen einer ähnlichen Repräsentationslogik des ethnisch-jüdischen »Fremden«. Dabei werden religiöse Praktiken (z.B. Schächtung), Traditionen und Rituale (z.B. Beschneidung) etwa als Zeichen und Codes einer »archaischen Kultur« und »Rückschrittlichkeit« kategorisiert, wobei sich auch hier religionsspezifische, islamische oder christlich-antijudaistische Klassifizierungen finden lassen. Als Letztes stellen ethnisierte Fremdzuschreibungen von angeblichen politischen und moralischen Wertvorstellungen der jüdischen outgroup antisemitische Grenzen her, indem sie vermeintlich kulturelle Werte als gruppenspezifische, negative Eigenschaften von Jüd*innen essentialisieren und gruppistisch homogenisieren. Nationalisierte Klassifikationsrepertoires beruhen auf antisemitischen Fremdzuschreibungen, die Jüd*innen als »innere« Bedrohung der politischen Solidar- und Loyalitätsgemeinschaft einer »Nation« klassifizieren oder sich des Staates Israel als nationalisiertes Abwertungssymbol für das »Jüdische« bedienen. Zuschreibungen, die Jüd*innen als »nationale Fremdgruppe« exkludieren, artikulieren etwa eine jüdische »Illoyalität« gegenüber nationalen Zugehörigkeitsordnungen oder reproduzieren häufig Sinngebungen der Schuld- und Erinnerungsabwehr. Dabei werden antisemitische Differenzen durch Täter-Opfer-Umkehrungen klassifiziert. Erscheinen Jüd*innen durch die kollektive Gruppenrepräsentation »Israel« als »nationalisierte Fremdgruppe«, finden sich hyperbolische Überzeichnungen, die antisemitische Stereotype über den Umweg des jüdischen Staates artikulierbar machen. Dabei werden vielfach dämonisierende und delegitimierende Zuschreibungen verwendet, die etwa einen jüdischen Genozid an den Palästinenser*innen imaginieren, Israel als »Apartheidstaat« klassifizieren oder Israel als »größte Bedrohung für den Weltfrieden« wahrnehmen.

Mit Blick auf die Antisemitismusforschung bietet das hier dargestellte Vorgehen einen signifikanten Vorteil durch die Konzeptualisierung von Antisemitismen als Analysekategorien ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Typen der Grenzziehung. So können traditionelle Stereotype und judenfeindliche Klischees als Kategorien der Analyse entsprechend ihrer Artikulationsweise als ethnisiert, rassialisiert oder nationalisiert kontextualisiert und differenziert werden. Im Ergebnis findet damit bereits auf der Ebene der Analysekategorien eine Annäherung an die fluide Wirkungsweise antisemitischer Grenzziehungen statt, indem sie nach der autonomen Operationslogik des Stereotyps in einem je gegebenen Kommunikations- und Bedeutungskontext fragt. Beispielhaft lässt sich dieser Zusammenhang am traditionellen antisemitischen Stereotyp der »jüdischen Wurzellosigkeit« veranschaulichen, das in ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Form einen unterschiedlichen Bedeutungszusammenhang eröffnet:

6 Konzeptualisierung einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungen

Tabelle 6: Beispiel Stereotyp der »jüdischen Wurzellosigkeit«, Quelle: Eigene Darstellung. Grenzziehungstyp

Traditionelles Stereotyp

Nationalisierte Grenzziehung Ethnisierte Grenzziehung Rassialisierte Grenzziehung

Negative Klassifikation Israel als »anationale Nation«

»jüdische Wurzellosigkeit«

»jüdische Doppelloyalität« »jüdische Weltherrschaft«

Als Klassifikation in nationalisierten Grenzziehungen kann das Klischee der »Wurzellosigkeit« hinsichtlich abwertender Zuschreibungen des Staates Israel sichtbar gemacht werden, indem Israel als »anationale« oder »künstliche Nation« kategorisiert wird, die als komplementäres Fremdbild zu »authentischen«, mit »Volk« und »Territorium« verwurzelten »Nationen« fungiert. Als Klassifikation in ethnisierten Grenzziehungen wird das Stereotyp der »Wurzellosigkeit« durch die Fremdzuschreibung einer »jüdischen Doppelloyalität« symbolisch wirksam, demzufolge Jüd*innen sich als ethnisierte Minderheiten eher einem globalen Gesamtkollektiv der »Juden« zugehörig und verpflichtet fühlen. Entsprechend des Klassifikationsrepertoires der vermeintlich besonderen Lebensweise von Jüd*innen wird der Vorwurf der »Doppelloyalität« als Ausdruck eines separierenden gesellschaftlichen und sozialen Lebens der Jüd*innen gefasst. Mit Blick auf die Klassifikationsmechanismen der Rassialisierung lässt sich »jüdische Wurzellosigkeit« in dem essentialisierenden Phantasma einer »jüdischen Weltverschwörung und Weltbeherrschung« widerspiegeln. Wenn die als Abstammungskollektiv biologisierte Gruppe der »Juden« nirgends zugehörig ist, als heimat- und substanzlos signifiziert wird, erscheint die rassifizierende Vorstellung anschlussfähig, dass die Welt durch eine konspirative Verschwörung eines geheimnisvoll agierenden und unsichtbaren Kollektivs der »Juden« beherrscht wird, verschwörerische Allmacht also mithin als angeblich organische Eigenschaft von Jüd*innen in rassialisierten Typen der Grenzziehung artikuliert wird. Dieses Vorgehen ließe sich beliebig für eine Reihe weiterer antisemitischer Stereotype (z.B. »Ritualmordlegende«, »jüdische Grausamkeit«) fortsetzen und im Hinblick auf ihre Verortung in den Typen antisemitischer Grenzziehungen rekonstruieren. Topoi des christlichen Antijudaismus (z.B. »Ritualmordlegende« oder »Rachsucht«) lassen sich ebenso wie Motive des modernen Antisemitismus (»jüdische Raffgier«) als negative Klassifikationen in Konstruktionsformen spezifischer Grenzziehungen interpretieren. Wie spielen diese Typen der Grenzziehung nun aber im boundary work sozialer Akteur*innen in kulturellen Aushandlungsprozessen von Grenzen zusammen? Welchen analytischen Mehrwert verspricht ein Verständnis von antisemitischen Differenzierungen als Praxiskategorien soziokultureller Grenzziehungsprozesse? Nachdem ich nun die sequenzielle Anordnung der taxonomischen Abstraktionsleiter von Analysekategorien der soziokulturellen Konstruktionsformen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Grenzziehungen des Antisemitismus dargestellt habe, möchte ich davon ausgehend den besonderen analytischen Mehrwert dieses taxonomischen Modells für die Erforschung antisemitischer Klassifikationsprozesse durch Beispiele abschließend verdeutlichen. Damit soll sichtbar werden, wie sich ethnisierte, nationalisierte und rassialisierte Differenzierungslinien als categories of practice ver-

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

schränken, wodurch auch gezeigt werden kann, wie sich in der lokal-historisch spezifischen Grenzziehungspraxis sozialer Akteur*innen Zuschreibungen des »Jüdischen« verändern und an unterschiedliche Kontexte anpassen können. Als Praxiskategorien in Grenzziehungsprozessen können antisemitische Wahrnehmungen und Bewertungen als Resultat kontingenter Kategorisierungspraxen verstanden werden, die sich in wandelbarer Abhängigkeit von Zeit, Raum, Akteur*innen, sozialen Positionen und sozialen Feldern unterschiedlich artikulieren lassen. Im Ergebnis steht dabei eine Annäherung an die fluide Wirkungsweise antisemitischer Grenzziehungen und ihrer multiplen kategorialen Verknüpfungen, die in einem dekonstruktivistischen Sinne davon ausgeht, dass es »den« Antisemitismus nicht geben kann, sondern nur eine Reihe kontextualisierbarer und sich wechselseitig überlagernder Diskurse der Judenfeindschaft. So kann auch eine analytische Engführung vermieden werden, die jedes unreflektierte Sprechen über die »Juden« als Ausdruck eines geschlossen antisemitischen Weltbildes messen möchte.5 Dabei steht die Überlegung im Vordergrund, dass rassialisierte, ethnisierte und nationalisierte Unterscheidungslinien auf der Ebene der Kategorien der Praxis selten isoliert auftreten, sondern überwiegend als Kreuzungen der Differenz analysiert werden müssen. Ich werde nun an zwei Beispielen antisemitischer categories of practice mit groben Linien nachzeichnen, wie durch eine Grenzziehungsperspektive nach den soziokulturell spezifischen Wechselwirkungen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Unterscheidungslinien und ihres dynamischen Zusammenspieles in den sozialen Konstruktionsprozessen antisemitischer Grenzen empirisch offen gefragt werden kann. •

Fallbeispiel »jüdische Weltherrschaft«: Als Grenzfall der typologischen Unterscheidung lässt sich das rassialisierte Phantasma »jüdischer Weltherrschaft« anführen, das bereits als Analysekategorie Überschneidungen mit anderen Grenzziehungstypen aufweist. Artikuliert wird hierbei die rassialisierte Vorstellung einer »jüdischen« Allmacht, die auf einem als wesenhaft-biologisierten jüdischen Machtstreben und einer anorganischen »Wurzellosigkeit« eines jüdischen Abstammungskollektivs beruht. Ihre Bedeutung als Deutungstopos »jüdischer Weltherrschaft« gewinnt sie hingegen erst im Zusammenspiel mit ethnisierten Zuschreibungsrepertoires eines privilegierten gesellschaftlichen und sozialen Status von Jüd*innen. Werden etwa bestimmte Berufsgruppen oder Industriefelder (z.B. Finanzwirtschaft, Massenmedien oder Wissenschaft) als typisch »jüdisch« konstruiert, d.h. als Merkmalszuweisungen einer »jüdischen Kultur« begriffen, können Jüd*innen überhaupt in einem rassistischen Sinne als Personifikationen von Antagonismen produzierenden Sphären des (modernen) gesellschaftlichen, ökonomischen oder kulturellen Lebens wahrgenommen werden. Diese Personifikationen sind schließlich charakteristische Ausdrucksformen für die Phantasmagorien jüdischer Allmacht und Omnipotenz.

5

Nichtsdestotrotz liegt in der Welterklärungsfunktion des Antisemitismus, wie in Kapitel 2.1 beschrieben, die differentia specifica antisemitischer Bewertungs- und Unterscheidungskategorien gegenüber anderen kulturellen Systemen der Ausschließung.

6 Konzeptualisierung einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungen



6.4

Fallbeispiel »Israel-Lobby«: Die antisemitische Deutung der »Israel-Lobby« geht von dem machtvollen weltpolitischen Einfluss von Jüd*innen oder jüdischen Organisationen aus, die die amerikanische Außenpolitik kontrollieren. Die Annahme einer »Israel-Lobby« als Bedeutungsfixierung drückt die Wandlungsfähigkeit antisemitischer Differenzierungen aus, wie sie durch die Taxonomie sichtbar gemacht werden soll. So ist die Zuschreibung einer verschwörerisch agierenden »Israel-Lobby« zum einen an den zeitlichen Kontext der Gründung des jüdischen Staates gebunden. Zum anderen begründete sich die Funktion dieser Zuschreibung als eine antisemitische Umwegkommunikation infolge des Kommunikationstabus offen antisemitischer Diskurse nach dem Holocaust. Die Transformation besteht nun darin, dass sich »jüdische Macht« als stereotypes Merkmal antisemitischer Klassifikationen an den veränderten Bezugshorizont des jüdischen Staates anpasst. Jüd*innen werden in dieser Differenzierung daher durch eine spezifische Form der Kulturalisierung ihrer Lebensweise/ihres Zusammenhaltes als Gruppe ethnisiert und als »Fremde im Innern« eines nationalen Solidaritäts- und Loyalitätsverbunds gar durch ihre vermeintliche Zugehörigkeit zu einer »jüdischen Nation« als nationale Bedrohung (hier der politischen Gemeinschaft der amerikanischen Nation) hypostasiert.

Konklusion: Abschließende Betrachtung der Vorteile einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungen

Das Vorhaben des vorangegangenen Kapitels bestand in der Ausarbeitung einer deduktiv konzeptualisierten Taxonomie der soziokulturellen Konstruktionsmechanismen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Grenzziehungen des Antisemitismus. Als deduktive Prämissen einer konzeptuellen Taxonomie von Konstruktionsformen antisemitischer Grenzziehungen wurden dabei die programmatischen Merkmale der Prozessualität, kategorialen Wechselwirkungen, Relationalität, Situationalität, temporären Stabilisierung und der Machtdimension antisemitischer Grenzziehungen herausgestellt. Davon ausgehend wurden einerseits überwiegend sozialkonstruktivistische und kultursoziologische Zugänge der Ethnizitäts- Rassismus- und Nationalismusforschung sowie andererseits theoretische Modelle der Antisemitismusforschung vor dem paradigmatischen Hintergrund der Grenzziehungsperspektive und des Intersektionalitätsansatzes im Sinne der theoretischen Programmatik synthetisiert und systematisiert. Das angestrebte Ziel dieser Theoriesynthese war es, ein prozessorientiertes Verständnis der kontingenten Herstellungsdynamik antisemitischer Ausschlüsse zu ermöglichen. Damit dieses heuristische Ziel erreicht werden kann, erschien es insbesondere erforderlich, dass die taxonomische Abstraktionsleiter ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Typen der Grenzziehung auch das mehrdimensionale und interrelationale Zusammenwirken sozialer Klassifikationen in der Aneignungs- und Verwendungspraxis sozialer Akteur*innen abbilden kann. Daher wurde methodologisch zwischen antisemitischen Klassifizierungen auf der Ebene von Kategorien der Analyse und auf der Ebene von Kategorien der Praxis unterschieden. Auf der skalierenden Ebene von Analysekategorien werden »Rasse«, »Ethnizität« und »Nationalität« als distinkte Typen der Grenzziehung für die empirische Operationalisierung konzeptualisiert, während die

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6 Konzeptualisierung einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungen



6.4

Fallbeispiel »Israel-Lobby«: Die antisemitische Deutung der »Israel-Lobby« geht von dem machtvollen weltpolitischen Einfluss von Jüd*innen oder jüdischen Organisationen aus, die die amerikanische Außenpolitik kontrollieren. Die Annahme einer »Israel-Lobby« als Bedeutungsfixierung drückt die Wandlungsfähigkeit antisemitischer Differenzierungen aus, wie sie durch die Taxonomie sichtbar gemacht werden soll. So ist die Zuschreibung einer verschwörerisch agierenden »Israel-Lobby« zum einen an den zeitlichen Kontext der Gründung des jüdischen Staates gebunden. Zum anderen begründete sich die Funktion dieser Zuschreibung als eine antisemitische Umwegkommunikation infolge des Kommunikationstabus offen antisemitischer Diskurse nach dem Holocaust. Die Transformation besteht nun darin, dass sich »jüdische Macht« als stereotypes Merkmal antisemitischer Klassifikationen an den veränderten Bezugshorizont des jüdischen Staates anpasst. Jüd*innen werden in dieser Differenzierung daher durch eine spezifische Form der Kulturalisierung ihrer Lebensweise/ihres Zusammenhaltes als Gruppe ethnisiert und als »Fremde im Innern« eines nationalen Solidaritäts- und Loyalitätsverbunds gar durch ihre vermeintliche Zugehörigkeit zu einer »jüdischen Nation« als nationale Bedrohung (hier der politischen Gemeinschaft der amerikanischen Nation) hypostasiert.

Konklusion: Abschließende Betrachtung der Vorteile einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungen

Das Vorhaben des vorangegangenen Kapitels bestand in der Ausarbeitung einer deduktiv konzeptualisierten Taxonomie der soziokulturellen Konstruktionsmechanismen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Grenzziehungen des Antisemitismus. Als deduktive Prämissen einer konzeptuellen Taxonomie von Konstruktionsformen antisemitischer Grenzziehungen wurden dabei die programmatischen Merkmale der Prozessualität, kategorialen Wechselwirkungen, Relationalität, Situationalität, temporären Stabilisierung und der Machtdimension antisemitischer Grenzziehungen herausgestellt. Davon ausgehend wurden einerseits überwiegend sozialkonstruktivistische und kultursoziologische Zugänge der Ethnizitäts- Rassismus- und Nationalismusforschung sowie andererseits theoretische Modelle der Antisemitismusforschung vor dem paradigmatischen Hintergrund der Grenzziehungsperspektive und des Intersektionalitätsansatzes im Sinne der theoretischen Programmatik synthetisiert und systematisiert. Das angestrebte Ziel dieser Theoriesynthese war es, ein prozessorientiertes Verständnis der kontingenten Herstellungsdynamik antisemitischer Ausschlüsse zu ermöglichen. Damit dieses heuristische Ziel erreicht werden kann, erschien es insbesondere erforderlich, dass die taxonomische Abstraktionsleiter ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Typen der Grenzziehung auch das mehrdimensionale und interrelationale Zusammenwirken sozialer Klassifikationen in der Aneignungs- und Verwendungspraxis sozialer Akteur*innen abbilden kann. Daher wurde methodologisch zwischen antisemitischen Klassifizierungen auf der Ebene von Kategorien der Analyse und auf der Ebene von Kategorien der Praxis unterschieden. Auf der skalierenden Ebene von Analysekategorien werden »Rasse«, »Ethnizität« und »Nationalität« als distinkte Typen der Grenzziehung für die empirische Operationalisierung konzeptualisiert, während die

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Ebene antisemitischer Kategorien der Praxis ihre multiplen Formen der Überlagerung in konkreten sozialen Prozessen, Ereignissen, Diskursen und Praktiken reflektiert. Welche Vorteile bietet nun eine Taxonomie der soziokulturellen Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen zusammengefasst für die Erforschung des vielfältigen Phänomenbereichs antisemitischer Codes und Zeichen? •







Zunächst ermöglicht die Synthetisierung analytischer Zugänge der Ethnizitäts-, Rassismus- und Nationalismusforschung mit theoretischen Modellen der Antisemitismusforschung in einer konzeptuellen Taxonomie antisemitischer Grenzziehungen eine Reintegration der Antisemitismusforschung in diese sozialwissenschaftlichen Forschungsfelder. Das taxonomische Modell der Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehung ermöglicht einen analytischen Perspektivwechsel, der sich von der Untersuchung antisemitischer Erscheinungsformen abwendet. Stattdessen richtet eine intersektionale Grenzziehungsperspektive den Blick auf die soziale Herstellungsdynamik antisemitischer Dimensionen der Ungleichheit und fragt danach, wie Jüd*innen überhaupt als benachteiligte ethnisierte, rassialisierte oder nationalisierte (»Fremd-«)Gruppe wirklichkeitskonstitutiv konstruiert werden. Damit lassen sich schließlich Kontinuität und Wandel des Antisemitismus, d.h. die Mechanismen der Produktion, Reproduktion und Transformation soziokultureller Grenzziehungen des Antisemitismus, die in einem bestimmten räumlichen und zeitlichen Kontext ein vorübergehend stabilisiertes, scheinbar legitimes Verständnis des jüdischen »Anderen« hervorbringen, interpretativ rekonstruieren. Durch die empirische Offenheit des Theorieansatzes wird einerseits ein relationales Verständnis für die vielfältigen kategorialen Verflechtungen, Wechselwirkungen und Überlagerungen antisemitischer Typen der Grenzziehung bereitgestellt. Andererseits wird die Analyse antisemitischer Grenzziehungen für die kulturellen, historischen und räumlichen Kontexte, in denen sie bedeutungsoffen ausgehandelt werden, sensibilisiert. Eine intersektionale Sichtweise auf multidimensionale Kreuzungen unterschiedlicher Achsen der Ungleichheit in antisemitischen Grenzziehungsprozessen vermeidet demnach einen analytischen Reduktionismus, der antisemitische Deutungsrepertoires als entweder rassistisch, ethnizistisch oder nationalistisch interpretiert. Ein symbol- und bedeutungsorientiertes Verständnis der kulturellen Aushandlungen antisemitischer Unterscheidungslinien ermöglicht eine De-Essentialisierung des Forschungsfeldes »Antisemitismus«, indem es nicht vermeintliche Trägergruppen des Antisemitismus in das Zentrum der Betrachtung rückt, sondern klassifikatorische Praktiken sozialer Akteur*innen und ihre lokal-historisch kontextualisierbaren Grenzziehungsstrategien. So lassen sich auf diese Weise schließlich die situationsspezifische Anpassungsfähigkeit und wandelbare Vielfalt antisemitischer Zeichen und Codes erklären.

Mit der Ausarbeitung eines taxonomischen Modells der soziokulturellen Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen ist das erste Forschungsziel dieser Arbeit, das auf der Ebene der Theoriekonstruktion angesiedelt war, abgeschlossen. In

6 Konzeptualisierung einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungen

einem nächsten Schritt sollen nun einerseits Plausibilität, Glaubwürdigkeit und Konsistenz der Taxonomie am empirischen Material öffentlicher Diskurse überprüft werden und andererseits Wandelbarkeiten antisemitischer Differenzierungsprozesse rekonstruiert werden. Zu diesem Zweck wird zunächst das methodische Vorgehen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse näher vorgestellt.

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7 Ein Forschungsdesign zur empirischen Untersuchung der (Dis-)Kontinuität und Wandelbarkeit antisemitischer Grenzziehungen

Das Forschungsinteresse dieser Arbeit ist zweigeteilt: Einerseits steht die Ausarbeitung und deduktive Konzeptualisierung einer prozessorientierten Taxonomie antisemitischer Grenzziehungsmechanismen im Fokus der vorliegenden Studie. Andererseits sollen nicht nur intersubjektive Plausibilität, Glaubwürdigkeit und Konsistenz des Konzeptes einer Taxonomie am empirischen Material diskursanalytisch überprüft werden, sondern auch Kontinuitäten und Wandelbarkeiten antisemitischer Klassifikationsformen herausgearbeitet werden, die letztlich weitere Facetten der Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen sichtbar machen sollen. Zu diesem Zweck stehen zunächst die methodologischen und theoretischen Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse (WDA) nach Reiner Keller (2011a; 2011b; 2013) im Zentrum der Betrachtung (Kapitel 7.1, 7.2, 7.3). Darauf aufbauend soll das konkrete empirische Vorgehen im Rahmen einer Medienanalyse öffentlicher Diskurse erläutert werden (Kapitel 7.4). Zwei allgemeine Forschungsziele wird die empirische Längsschnittstudie dabei verfolgen: •



Das diskursanalytische Vorgehen soll die Plausibilität und Konsistenz der Analysekategorien ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Typen der antisemitischen Grenzziehung speziell auf der Praxisebene ihrer mehrdimensionalen kategorialen Verknüpfungen als categories of practice in symbolischen Deutungskämpfen sozialer Akteur*innen rekonstruieren und nachweisen. Durch die Anlage einer diskursiven Längsschnittstudie sollen Kontinuitäten und Wandelbarkeiten antisemitischer Klassifikationspraktiken anhand ausgewählter öffentlicher Debatten nachgezeichnet und diachron verglichen werden. Auf diese Weise können einerseits die theoretisch elaborierten Mechanismen der Konstruktion, (temporären) Stabilisierung und Transformation antisemitischer Typen der Grenzziehung empirisch rekonstruiert werden. Andererseits wird eine Verzahnung von Theorie und Empirie innerhalb der Taxonomie gewährleistet, die der Theorieanlage der Taxonomie neue analytische Facetten hinzufügen kann.

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

7.1

Grundlagen des Forschungsprogramms der Wissenssoziologischen Diskursanalyse

Warum Diskursanalysen das geeignete methodische Instrumentarium für die Untersuchung kultureller Aushandlungsprozesse antisemitischer Grenzziehungen bereitstellen, geht aus der theoretischen Grundlegung einer prozessorientierten Taxonomie des multiplen Zusammenspieles antisemitischer Differenzkonstruktionen hervor. Um den theoretischen Ausgangspunkt nochmals zu verdeutlichen: Es sollen Antisemitismen als klassifikatorische Prozesse der soziokulturellen Grenzziehung entlang mehrdimensional verschränkter ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Unterscheidungslinien konzipiert werden. Indem Individuen als substanzialisierte Träger*innen von ethnisierten, rassialisierten und nationalisierten Differenzmerkmalen in gesellschaftlichen Diskursen positioniert werden, organisieren diese relationalen Mechanismen der Selbstidentifikation und Fremdzuschreibungen einerseits Zugehörigkeiten und produzieren andererseits auch soziale Ausschlüsse. Entsprechend des hier analytisch vorausgesetzten symbol- und bedeutungsorientierten Kulturbegriffes wird die politische Relevanz kontingenter Zeichen und Codes antisemitischer Repräsentationen daher als kulturell vermitteltes Resultat vorübergehend abgeschlossener gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse zwischen habitualisierten sozialen Akteur*innen begriffen. Eine Grenzziehungsperspektive betrachtet die bedeutungsgenerierenden Klassifikationsstrategien der antisemitischen Anrufung einer jüdischen »Fremdgruppe« demnach als diskursive Praktiken mit inhärenten Realitätseffekten (ausführlich hierzu siehe Kapitel 2). Um diese wandelbaren Prozesse der Kategorisierung zu analysieren, soll die diskursiv-symbolische Vermittlung antisemitischer Grenzziehungen mit qualitativen Methoden der WDA in einer diachronen Längsschnittstudie untersucht werden. Was ist nun die programmatische Grundlage der WDA und warum kommt sie für die empirische Operationalisierung des Forschungsdesigns infrage? Reiner Keller beschreibt den Ansatz der WDA als Versuch eines »Brückenschlag[s] zwischen handlungs- und strukturtheoretischen Traditionen der Wissenssoziologie« (2011a: 10) und bemüht sich dabei um eine Vermittlung zwischen der hermeneutischen Wissenssoziologie nach P. L. Berger und Luckmann sowie der Diskurstheorie Foucaults. Während die WDA von der Foucault’schen Diskurstheorie die Überlegung adaptiert, dass soziale Realität diskursiv konstruiert ist, und sich Wissen im und durch den Diskurs verbreitet (Keller 2011a; 2011b; 2013), destilliert sie von der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie die Einsicht, dass soziale Akteur*innen sich bestehende Wissensordnungen interpretativ aneignen, situativ auslegen, sie einen Sinn in alltäglichen Interaktionen (re-)produzieren und damit Vorstellungsweisen über einen Gegenstand prozessual hervorbringen und verändern (P. L. Berger und Luckmann 2013). Entsprechend definiert die WDA den Diskurs nicht als »abgehoben semiotisch prozessierendes System, […] sondern als soziale Praxis« (Keller 2013b: 27) und wirft einen Blick auf die konfliktträchtigen Konstruktionsmechanismen symbolischer Ordnungen oder genauer auf die Herstellung der für spezifische Diskursfelder geltenden Wissensbestände. Die artikulatorischen Praktiken individueller wie kollektiver Akteur*innen sind hierbei einerseits in den diskursiv vorstrukturierten Raum von kommunikativen Handlungen eingebettet, die andererseits durch die interpretative Aneignung bestehender Zeichen-

7 Empirisches Forschungsdesign

systeme Einfluss auf die Wandlung von Diskursen (Keller 2013a: 91) nehmen. An dieser Stelle wird deutlich, dass die WDA die Diskursproduktion auf der Akteursebene in den Fokus rückt und das Feld der Diskursformation in das Handeln konkurrierender gesellschaftlicher Akteur*innen, die durch den Einsatz kommunikativer Strategien auf die »Konstruktion symbolischer Wirklichkeit« (Knoblauch 1995: 297) einwirken, eingliedert. Im Einklang mit dem im Theorieteil explizierten symbol- und bedeutungsorientierten Kulturbegriff eignet sich der akteurszentrierte Fokus der WDA besonders für die Analyse symbolischer Deutungskämpfe um die legitimen Sicht- und Teilungsprinzipien der sozialen Wirklichkeit und ihrer soziokulturellen Mechanismen der antisemitischen Grenzziehungen zwischen einer nicht-jüdischen Kerngruppe gegenüber der jüdischer Minderheit. Der Vorteil besteht nun auch darin, die soziokulturellen Konstruktionsprozesse antisemitischer Grenzziehungen, ihre multidimensionalen kategorialen Verknüpfungen sowie die Strategien des boundary blurring in der diskursiven Praxis sozialer Akteur*innen methodisch dechiffrierbar zu machen. Der Mehrwert der WDA tritt durch ihre integrative Orientierung an der »interpretative[n] Wende« (Keller 2011b: 66) der sozialphänomenologischen Wissenssoziologie noch expliziter zutage, die einen Zugang auf kollektiv und individuell prozessierte Aushandlungen der kontingenten sozialen Wirklichkeit eröffnet.1 Diese Orientierung an dem »interpretativen Paradigma« (Keller 2013b: 33) überwindet die mikroanalytische Bias der Wissenssoziologie, weil sie nicht Sinnstrukturen der einzelnen Diskursfragmente, sondern Aussagen auf der Ebene gesellschaftlicher Diskurse rekonstruiert. Damit rückt die WDA die Relationalität der »Materialität« (ebd.: 31) von Diskursen und ebenso die inhaltliche Ausgestaltung symbolischer Ordnung des sozialen Raumes in den Fokus der Analyse. Dabei werden Diskurse durch den Praxisvollzug sozialer Akteur*innen produziert und durch Dispositive institutionalisiert, während ihre inhaltliche Ausgestaltung etwa durch Aussagerelationen und Weltbezüge bestimmt wird. Weil sich die WDA der Analyse von Kämpfen um legitime Definitionsmacht, Wirklichkeitskonstruktionen und ihrer Unterscheidungsund Bewertungsmuster widmet (Keller und Truschkat 2013: 12f.) und damit die genealogische Untersuchung der Wandelbarkeit antisemitischer Grenzziehungen zugänglich macht, stehen nun zentrale, für die empirische Operationalisierung bedeutsame Konzepte des diskursanalytischen Vorgehens im Vordergrund des nächsten Abschnitts.

7.2

Zur Methodischen Umsetzung der WDA – Auf dem Weg zu ihrer Operationalisierung

Nach Foucault erklärt der Begriff der diskursiven Formation, warum sich eine legitimierte Sprechweise über Gegenstandsbereiche der sozialen Wirklichkeit institutionalisieren und eine kollektiv geteilte Wahrnehmungsweise eines bestimmten Themenfeldes hervorgebracht wird:

1

Für ein tieferes Verständnis der interpretativen Analysehaltung siehe Keller 2007.

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7 Empirisches Forschungsdesign

systeme Einfluss auf die Wandlung von Diskursen (Keller 2013a: 91) nehmen. An dieser Stelle wird deutlich, dass die WDA die Diskursproduktion auf der Akteursebene in den Fokus rückt und das Feld der Diskursformation in das Handeln konkurrierender gesellschaftlicher Akteur*innen, die durch den Einsatz kommunikativer Strategien auf die »Konstruktion symbolischer Wirklichkeit« (Knoblauch 1995: 297) einwirken, eingliedert. Im Einklang mit dem im Theorieteil explizierten symbol- und bedeutungsorientierten Kulturbegriff eignet sich der akteurszentrierte Fokus der WDA besonders für die Analyse symbolischer Deutungskämpfe um die legitimen Sicht- und Teilungsprinzipien der sozialen Wirklichkeit und ihrer soziokulturellen Mechanismen der antisemitischen Grenzziehungen zwischen einer nicht-jüdischen Kerngruppe gegenüber der jüdischer Minderheit. Der Vorteil besteht nun auch darin, die soziokulturellen Konstruktionsprozesse antisemitischer Grenzziehungen, ihre multidimensionalen kategorialen Verknüpfungen sowie die Strategien des boundary blurring in der diskursiven Praxis sozialer Akteur*innen methodisch dechiffrierbar zu machen. Der Mehrwert der WDA tritt durch ihre integrative Orientierung an der »interpretative[n] Wende« (Keller 2011b: 66) der sozialphänomenologischen Wissenssoziologie noch expliziter zutage, die einen Zugang auf kollektiv und individuell prozessierte Aushandlungen der kontingenten sozialen Wirklichkeit eröffnet.1 Diese Orientierung an dem »interpretativen Paradigma« (Keller 2013b: 33) überwindet die mikroanalytische Bias der Wissenssoziologie, weil sie nicht Sinnstrukturen der einzelnen Diskursfragmente, sondern Aussagen auf der Ebene gesellschaftlicher Diskurse rekonstruiert. Damit rückt die WDA die Relationalität der »Materialität« (ebd.: 31) von Diskursen und ebenso die inhaltliche Ausgestaltung symbolischer Ordnung des sozialen Raumes in den Fokus der Analyse. Dabei werden Diskurse durch den Praxisvollzug sozialer Akteur*innen produziert und durch Dispositive institutionalisiert, während ihre inhaltliche Ausgestaltung etwa durch Aussagerelationen und Weltbezüge bestimmt wird. Weil sich die WDA der Analyse von Kämpfen um legitime Definitionsmacht, Wirklichkeitskonstruktionen und ihrer Unterscheidungsund Bewertungsmuster widmet (Keller und Truschkat 2013: 12f.) und damit die genealogische Untersuchung der Wandelbarkeit antisemitischer Grenzziehungen zugänglich macht, stehen nun zentrale, für die empirische Operationalisierung bedeutsame Konzepte des diskursanalytischen Vorgehens im Vordergrund des nächsten Abschnitts.

7.2

Zur Methodischen Umsetzung der WDA – Auf dem Weg zu ihrer Operationalisierung

Nach Foucault erklärt der Begriff der diskursiven Formation, warum sich eine legitimierte Sprechweise über Gegenstandsbereiche der sozialen Wirklichkeit institutionalisieren und eine kollektiv geteilte Wahrnehmungsweise eines bestimmten Themenfeldes hervorgebracht wird:

1

Für ein tieferes Verständnis der interpretativen Analysehaltung siehe Keller 2007.

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

In dem Fall, wo man in einer bestimmten Zahl von Aussagen ein ähnliches System der Streuung beschreiben könnte, in dem Fall, in dem man bei den Objekten, den Typen der Äußerung, den Begriffen, den thematischen Entscheidungen eine Regelmäßigkeit […] definieren könnte, wird man übereinstimmend sagen, dass man es mit einer diskursiven Formation zu tun hat. […] Man wird Formationsregeln die Bedingungen nennen, denen die Elemente dieser Verteilung unterworfen sind (Gegenstände, Äußerungsmodalität, Begriffe, thematische Wahl). Die Formationsregeln sind Existenzbedingungen […] in einer gegebenen diskursiven Verteilung. (Foucault 2013: 58) Daher definiert die WDA, in Anlehnung an Foucault, Diskurse als »(vorwiegend und institutionell-organisatorisch) regulierte, strukturierte Praktiken des Zeichengebrauchs« (Keller 2010: 243). Dabei aktivieren sich Diskurse auf verschiedenen, miteinander verwobenen Ebenen, in denen Aussagen über einen Gegenstand getroffen werden, von denen aus »jeweils ›gesprochen‹ wird« (Jäger 2012: 84). Solchen Diskursebenen lassen sich etwa Medien- oder Alltagsdiskurse, politische oder wissenschaftliche Diskurse subsumieren, die ineinander übergreifen und nicht als singuläres Diskursfeld voneinander isoliert werden können. In der vorliegenden Arbeit steht das Diskursfeld öffentlicher Diskurse, wie sie hier in Form der massenmedialen Verbreitung und Verarbeitung betrachtet werden, aus mehrfacher Hinsicht im Vordergrund (Keller 2009: 51ff.; Keller 2011a). Erstens sind massenmediale Diskurse der »öffentlichen Konfliktaustragung« (Keller 2003: 208) mit »allgemeiner Publikumserwartung« (Keller 2011a: 68) als Diskursarena ein zentraler Ort der kulturellen Aushandlungsprozesse von Bedeutungen und den symbolischen Kämpfen um die legitimen Wahrnehmungs- und Bewertungsprinzipien des sozialen Raumes (Keller 2009: 51f.; Gamson und Modigliani 1989; Gerhards, Neidhardt und Rucht 1998; Gerhards und Neidhardt 1991; Ferree, Gamson et al. 2002). Nach Gamson und Modigliani (1989) besteht in diesem Sinne ein Verhältnis der Wechselwirkung zwischen Mediendiskursen und öffentlicher Meinung: »[M]edia discourse is part of the process by which individuals construct meaning, and public opinion is part of the process by which journalists and other cultural entrepreneurs develop and crystallize meaning in public discourse« (2). Ähnlich betont auch Niklas Luhmann den Stellenwert der Massenmedien für die Konstruktion und Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Wissensordnungen, wenn er sagt: »was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien« (Luhmann 1995: 9). Dabei lassen sich Medien zweitens einerseits als Bühne für gesellschaftliche Aushandlungsprozesse öffentlicher Diskursthemen, d.h. als privilegierten Ort, in dem die Kommunikationen von Akteur*innen aufeinander bezogen werden, begreifen. Andererseits agieren Massenmedien auch als eigenständige Akteure, die sowohl durch spezifische Selektions- und Filtermechanismen in der Nachrichtenproduktion und -kommentierung Einfluss auf die Art und Weise der Wahrnehmung dieser gesellschaftlichen Kommunikationen nehmen können als auch selbst durch Kommentierung und Berichterstattung Diskursbeiträge und Standpunkte in öffentlichen Debatten formulieren (Keller 2009: 52). In diesem Sinne bilden Mediendiskurse schließlich drittens einen diskursiven Ort der Repräsentation des gesellschaftlich Denk- und Sagbaren ab, insofern bestimmte Wirklichkeitskonstruktionen erst durch ihre mediale Vermittlung

7 Empirisches Forschungsdesign

als »kulturelle Code[s] des Politischen« (Keller 2009: 52) stabilisiert und bedeutsam werden. Damit werden schließlich auch thematische Referenzialisierungen von Diskursen sichtbar, die ihren Herstellungsort nicht in den Medien selbst haben, aber über Medien verbreitet werden und daher diskursive Strategien sozialer Akteur*innen abbilden, die bestimmte soziale und politische Themen verhandeln. Auf den Gegenstand dieser Arbeit übertragen können die zu untersuchenden öffentlichen Diskurse als Raum für die »Erscheinungs- und Zirkulationsformen des Wissens« (Keller 2011b: 97) gelten, in dem kollektives Wissen über Jüd*innen oder das als »jüdisch« Signifizierte aktiviert und re-aktualisiert, umkämpft und verhandelt, differenziert und äquivalenziert wird. Öffentliche (Medien-)Diskurse lassen sich demnach als diskursive Orte der bedeutungsoffenen Aushandlung von Grenzziehungen begreifen, in denen sich einerseits die vorläufige Stabilisierung antisemitischer Grenzziehungen zeigt. Andererseits rekonstruieren sich die situierbaren Klassifikationskämpfe sozialer Akteur*innen, in denen legitimes Wissen über den jüdischen »Anderen« produziert wird, in einem lokal-historisch spezifischen Kontext. Aus diesem Grund bildet das Feld öffentlicher Diskurse den diskursiven Raum des legitim Sagbaren ab. Damit werden analytische Rückschlüsse auf Tendenzen der Erosion des Kommunikationstabus eines öffentlich wahrnehmbaren Antisemitismus zugelassen und zugleich der Möglichkeitsraum des antisemitisch Kommunizierbaren rekonstruierbar gemacht, der auch indirekte Formen antisemitischer Bedeutungsgenerierung als Grenzziehungspraktiken in den Blick nimmt. Zuletzt wird auf den Begriff des diskursiven Ereignisses eingegangen, der diskursanalytisch verdeutlichen kann, wie synchrone Schnitte innerhalb des diachronen, d.h. des historischen Gewordenseins eines Diskurses und der zu untersuchenden Zeitspanne eines Diskursverlaufes, getätigt werden. Dabei muss vorangestellt werden, dass Diskursanalysen, selbst wenn sie einen spezifischen Zeitverlauf zum Untersuchungsgegenstand haben, immer in gewisser Weise synchron und diachron zugleich sind, insofern die Auswahl eines bestimmten Zeitverlaufes bereits einen synchronen Schnitt in das mäandernde Fließen des Diskurses bedeutet. Die vorliegende Arbeit versteht sich als diachron angelegte Diskursanalyse, die, methodisch kontrolliert (Keller 2011a), innerhalb eines bestimmten historischen Zeitverlaufes synchrone Ereignisse analysieren will. Das hiermit verfolgte Ziel ist es, lokal-historisch spezifische Klassifikationsstrategien antisemitischer Grenzziehungen sowie ihre mehrdimensionalen Verschränkungen in einem bestimmten sozio-kulturellen Kontext offenzulegen und diese Grenzziehungspraktiken innerhalb eines diachronen Längsschnitts auf Kontinuitäten und Wandelbarkeiten hin zu überprüfen und zu vergleichen. Ich werde im nächsten Abschnitt die Auswahl der Diskursereignisse – der sogenannten Walser-Bubis-Kontroverse (Kapitel 8), der Beschneidungsdebatte (Kapitel 9) und der Gaza-Demonstrationen (Kapitel 10) – sowie des Untersuchungsmaterials begründen. An dieser Stelle soll zunächst methodologisch die Festlegung konkreter öffentlicher Debatten, in denen Akteur*innen antisemitische Grenzziehungen aushandeln, als diskursive Ereignisse begründet werden. Während Reiner Keller »diskursive Ereignisse« in Anlehnung an Foucault lediglich als typisierbare Summe von Kommunikationserzeugnissen beschreibt (Keller 2011b: 205f.), in denen ein Diskurs in Erscheinung tritt, besitzen »diskursive Ereignisse« bei Siegfried Jäger (2001: 98) eine besonde-

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re Qualität. So sind als Diskursereignisse jene Ereignisse zu verstehen, die die Qualität und Richtung eines spezifischen Diskurses mehr oder weniger stark beeinflussen (ebd.). Ich werde mich in der empirischen Analyse auf das letztere Verständnis von diskursiven Ereignissen beziehen, die ich im Anschluss an Schwab-Trapp (2002) jedoch um eine wesentliche qualitative Charakterisierung ergänze. Demzufolge werden »Diskursereignisse« als thematische Referenzialisierungen von Vorgängen und Geschehnissen mit einem besonderen öffentlichen und medialen Interesse begriffen: Aus der unüberschaubaren Menge diskursiver Repräsentationen ragen vereinzelte Stellungnahmen oder Ereignisse hervor, die »heiße Zonen« der Diskursproduktion erzeugen. Solche Zonen des Diskurses bezeichne ich als »diskursive Ereignisse« […]. Diskursive Ereignisse zeichnen sich durch eine erhöhte Konflikthaftigkeit aus, weil sie zum einen häufig Fragestellungen behandeln, die fundamental für das Selbstverständnis einer Gesellschaft sind, und zum anderen eine Wegkreuzung markieren, die dem zukünftigen Handeln alternative Routen eröffnet. (62) Dieser Argumentation folgend werden in der vorliegenden Arbeit als diskursive Ereignisse solche Ereignisse verstanden, die besonders geeignet sind, um auf umkämpften gesellschaftlichen Deutungsfeldern zu polarisieren oder öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen und daher zur Produktion, Aktualisierung oder Transformation gesellschaftlicher Wissens- und Deutungsbestände eines Diskurses wesentlich beitragen. Aus diesem Grund werden in Form besonderer diskursiver Ereignisse synchrone Schnitte in das analysierbare Material des temporal-historischen Diskursverlaufes gemacht, um in diesen Bereichen der diskursiven Verdichtung soziokulturelle Grenzziehungsprozesse untersuchen zu können und damit Kontinuitäten und Wandelbarkeiten antisemitischer Zeichen und Codes zu identifizieren. Im folgenden Kapitel werde ich methodische Werkzeuge der WDA beleuchten, durch die sich die symbolische Dimension von Diskursen inhaltlich erfassen lässt.

7.3

Der analytische »Werkzeugkasten« der Wissenssoziologischen Diskursanalyse

Für die Rekonstruktion der inhaltlich-symbolischen Struktur von Diskursen lassen sich im Anschluss an die interpretative Analytik der WDA vier zentrale Konzepte der wissenssoziologischen Tradition angeben, die von Keller als »heuristische Werkzeuge« (Keller 2007: 10) verstanden werden, um die Genese, die Stabilisierung und die Dauerhaftigkeit von Diskursen zu betrachten: (1) Phänomenstruktur, (2) Klassifikation, (3) Deutungsmuster, (4) narrative Strukturen. Für die Analyse von Aushandlungsprozessen antisemitischer Grenzziehungen sowie von den Strategien der Grenzverwischung werden jedoch nur die Untersuchungswerkzeuge der Klassifikation, Deutungsmuster und narrative Strukturen eine Rolle spielen. Deutungsmuster werden in der WDA als allgemeine »kognitive Gebilde« (ebd.) verstanden, die bedeutungsgenerierende Interpretationsmuster für soziale Erscheinungen oder Phänomene, Gegebenheiten und Ereignisse im Rahmen ihres soziohistorischen Kontextes und unter den Bedingungen abrufbarer Strukturen gesellschaftlich

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re Qualität. So sind als Diskursereignisse jene Ereignisse zu verstehen, die die Qualität und Richtung eines spezifischen Diskurses mehr oder weniger stark beeinflussen (ebd.). Ich werde mich in der empirischen Analyse auf das letztere Verständnis von diskursiven Ereignissen beziehen, die ich im Anschluss an Schwab-Trapp (2002) jedoch um eine wesentliche qualitative Charakterisierung ergänze. Demzufolge werden »Diskursereignisse« als thematische Referenzialisierungen von Vorgängen und Geschehnissen mit einem besonderen öffentlichen und medialen Interesse begriffen: Aus der unüberschaubaren Menge diskursiver Repräsentationen ragen vereinzelte Stellungnahmen oder Ereignisse hervor, die »heiße Zonen« der Diskursproduktion erzeugen. Solche Zonen des Diskurses bezeichne ich als »diskursive Ereignisse« […]. Diskursive Ereignisse zeichnen sich durch eine erhöhte Konflikthaftigkeit aus, weil sie zum einen häufig Fragestellungen behandeln, die fundamental für das Selbstverständnis einer Gesellschaft sind, und zum anderen eine Wegkreuzung markieren, die dem zukünftigen Handeln alternative Routen eröffnet. (62) Dieser Argumentation folgend werden in der vorliegenden Arbeit als diskursive Ereignisse solche Ereignisse verstanden, die besonders geeignet sind, um auf umkämpften gesellschaftlichen Deutungsfeldern zu polarisieren oder öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen und daher zur Produktion, Aktualisierung oder Transformation gesellschaftlicher Wissens- und Deutungsbestände eines Diskurses wesentlich beitragen. Aus diesem Grund werden in Form besonderer diskursiver Ereignisse synchrone Schnitte in das analysierbare Material des temporal-historischen Diskursverlaufes gemacht, um in diesen Bereichen der diskursiven Verdichtung soziokulturelle Grenzziehungsprozesse untersuchen zu können und damit Kontinuitäten und Wandelbarkeiten antisemitischer Zeichen und Codes zu identifizieren. Im folgenden Kapitel werde ich methodische Werkzeuge der WDA beleuchten, durch die sich die symbolische Dimension von Diskursen inhaltlich erfassen lässt.

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Der analytische »Werkzeugkasten« der Wissenssoziologischen Diskursanalyse

Für die Rekonstruktion der inhaltlich-symbolischen Struktur von Diskursen lassen sich im Anschluss an die interpretative Analytik der WDA vier zentrale Konzepte der wissenssoziologischen Tradition angeben, die von Keller als »heuristische Werkzeuge« (Keller 2007: 10) verstanden werden, um die Genese, die Stabilisierung und die Dauerhaftigkeit von Diskursen zu betrachten: (1) Phänomenstruktur, (2) Klassifikation, (3) Deutungsmuster, (4) narrative Strukturen. Für die Analyse von Aushandlungsprozessen antisemitischer Grenzziehungen sowie von den Strategien der Grenzverwischung werden jedoch nur die Untersuchungswerkzeuge der Klassifikation, Deutungsmuster und narrative Strukturen eine Rolle spielen. Deutungsmuster werden in der WDA als allgemeine »kognitive Gebilde« (ebd.) verstanden, die bedeutungsgenerierende Interpretationsmuster für soziale Erscheinungen oder Phänomene, Gegebenheiten und Ereignisse im Rahmen ihres soziohistorischen Kontextes und unter den Bedingungen abrufbarer Strukturen gesellschaftlich

7 Empirisches Forschungsdesign

legitimes Wissen verdichten. Sie sind daher: »ein Ergebnis der ›sozialen Konstruktion von Wirklichkeit‹, d.h. ein historisch-interaktiv entstandenes, mehr oder weniger komplexes Interpretationsmuster für weltliche Phänomene, in dem Interpretamente mit Handlungsorientierungen, Regeln u.a. verbunden werden« (ebd.: 12). Da sich Deutungsmuster infolge von Definitionskämpfen zwischen gesellschaftlichen Akteur*innen manifestieren, sind sie per definitionem unabgeschlossen, umkämpft und verhandelbar. Erst die interpretatorische Leistung von sozialen Akteur*innen aktivieren und reproduzieren diskursive Praktiken als Muster. Die Analyse vorhandener Deutungsmuster eines Diskurses ermöglicht es, unterschiedliche Praxistypen von Grenzziehungsstrategien, Klassifikationsmustern und Zuschreibungsrepertoires in den Blick zu nehmen, die innerhalb einer diskursiven Phänomenstruktur vorhanden sind und von Akteur*innen angeeignet und reproduziert werden. Entsprechend der theoretischen Grundlegung dieser Arbeit werden Deutungsmuster daher als binäre und nicht-binäre Klassifikationsmuster operationalisiert, die von habitualisierten Akteur*innen angeeignet werden, um die soziale Welt zu strukturieren und zu interpretieren. Klassifikationsmuster spielen demzufolge eine Rolle, wenn es darum geht herauszuarbeiten, wie »Ethnizität«, »Rasse« oder »Nation« zusammenwirken und damit als bedeutungsgenerierende Ordnungsmuster des sozialen Raumes erscheinen. Als Analysewerkzeuge können Klassifikationsmuster etwa sichtbar machen, wie eine spezifisch antisemitische Wahrnehmung eines Phänomens oder Problems hervorgebracht wird (boundary making) oder wenn bestimmte Wahrnehmungsweisen infrage gestellt werden (boundary blurring). Entsprechend der taxonomischen Konzeption ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Typen der Grenzziehung lässt sich auf diese Weise analysieren, wie rassialisierte, ethnisierte oder nationalisierte Klassifikationsmuster in der Verwendungspraxis sozialer Akteur*innen zusammenspielen und damit kontingente Formen der antisemitischen Ausschließung hervorbringen. Als rassialisiertes Klassifikationsmuster wurde in der Taxonomie etwa die Biologisierung wesenhaft negativer »jüdischer« Eigenschaften definiert, während »Geschichte« als Klassifikationsmuster nationalisierter Zugehörigkeiten oder die Kulturalisierung einer ungleichwertigen jüdischen Lebensweise als ethnisiertes Klassifikationsmuster ausgemacht wurden. Ein Beispiel aus der Forschungspraxis verdeutlicht diesen Zusammenhang: So wird für die Beschneidungsdebatte in Kapitel 9 herausgearbeitet, wie der jüdische Initiationsritus der Beschneidung durch das mehrdimensional verschränkte Klassifikationsmuster einer »liberal-säkularen Leitkultur« als (ethnisch) »anders« markiert wird, indem es die vermeintliche moralische Überlegenheit liberaler und säkularer (nationaler) Grundwerte als legitimes Wissen in der Beschneidungsdebatte hegemonialisiert. Eng mit dem Konzept des Deutungsmusters ist das der Klassifikationen verbunden. Sie sind sprachlich »mehr oder weniger ausgearbeitete, formalisierte und institutionell stabilisierte Formen sozialer Typisierungsprozesse« (Keller 2013b: 47), die, als kategoriale Zuschreibungen von Phänomenen oder Gegenständen, Bedeutungen generieren und damit eine basal-schematische Ordnung zur Erfahrung der Wirklichkeit konstruieren: Wie jeder Sprachgebrauch klassifiziert also auch die Sprachverwendung in Diskursen die Welt, teilt sie in bestimmte Kategorien auf, die ihrer Erfahrung, Deutung

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und Behandlung zugrunde liegen. Zwischen Diskursen finden Wettstreite um solche Klassifikationen statt, bspw. darüber, wie (potenzielle) technische Katastrophen zu interpretieren sind, welche Identitätsangebote als legitim gelten können, was korrektes und verwerfliches Verhalten ist, welche Trennungen des Mülls vorzunehmen sind usw. (Keller 2013b: ebd.) Erlangt die Klassifikation in Form von Dispositiven, institutionalisierte Wirksamkeit kann sie auch handlungspraktische Konsequenzen zeitigen (ebd.). Ich verwende den Begriff der Klassifikation entsprechend der in Kapitel 2.2 entwickelten Definition als Praktiken, die in der sozialen Wirklichkeit durch Akte der Sinnzuschreibung von Bedeutung, basierend auf Repräsentationen von Differenz, für Orientierung sorgen und Komplexitäten sozialer Ordnungen reduzieren. Auch der Klassifikationsbegriff der WDA typisiert Phänomene durch die Vermittlung von Bedeutung der Differenz entlang binärer Gegensätze. Insofern sich diese Arbeit insbesondere für symbolische Kämpfe um die legitimen Teilungsprinzipien des sozialen Raumes sowie für ihre spezifisch antisemitischen Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien interessiert, nimmt die Analyse dieser klassifikatorischen Zuschreibungspraxen eine zentrale Stellung ein. Zuschreibungsakte stehen deswegen im Fokus, weil sie ungleichheitsrelevante Formen der Ein- und Ausschließung herstellen. Als Analysewerkzeug sind Klassifikationen also insbesondere relevant, weil sie es entsprechend der Taxonomie der Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen ermöglichen, die für (antisemitische) Gruppenbildungsund Grenzziehungsprozesse konstitutiven Relationen der idealisierenden Selbstidentifikationen und delegitimierenden Fremdzuschreibungen von Gemeinsamkeiten und Differenzen in den Blick zu nehmen. Somit werden etwa Fragen der Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit, des »Innen« und »Außen« oder antisemitischer Klassifikationen rassialisierter, ethnisierter oder nationalisierter Differenzen diskursanalytisch als Klassifikationsprozesse rekonstruierbar. Wie werden also jüdische (Nicht-)Zugehörigkeiten klassifiziert? Welche Repertoires von Zuschreibungen des »Jüdischen« werden von Akteur*innen in den gesellschaftlichen Debatten aktualisiert und angeeignet? Narrative Strukturen setzen die disparaten Zeichen und Aussagen, die Elemente von Deutungsmustern, Klassifikationen und Phänomenstrukturen sein können, schließlich in einen kohärenten Zusammenhang und etablieren sie damit als explanative Form der Weltdeutung. Narrative sind dabei in kontingente kulturelle Wissensordnungen eingebettet und werden als Erzählung in verschiedene Diskurse getragen, die es sozialen und individuellen Akteur*innen erlaubt, soziale Wirklichkeit symbolisch anzueignen (Viehöver 2001; Knaut 2014). Auf diese Weise bilden Narrative schließlich den »roten Faden« (Viehöver 2001: 133) eines Diskurses ab, der besondere Bedeutungen und Verknüpfungen zu einer diskursstrukturierenden Narration verdichtet (Keller 2011a: 110f.). Strukturierend wirken die story lines von Narrativen, weil sie dazu beitragen, bestimmte Klassifikationen, Deutungen und Interpretationen gegenüber anderen zu legitimieren (Knoll 2018: 211), weshalb sie in öffentlichen Debatten als Strategien der Klassifikation eine besondere Funktion in kulturellen Aushandlungsprozessen von Grenzziehungen erfüllen. Insbesondere können sie rekonstruieren, wie »[k]ollektive Akteure aus unterschiedlichen Kontexten (z.B. aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft) […] bei der Auseinandersetzung um öffentliche Problemdefinitionen durch die Benutzung einer gemein-

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samen Grunderzählung, in der spezifische Vorstellungen von kausaler und politischer Verantwortung, Problemdringlichkeit, Problemlösung, Opfern und Schuldigen formuliert werden« koalieren (Keller 2011b: 252). Auf diese Weise erlaubt es die Analyse durch story lines nach den Grundstrukturen von Diskursen antisemitischer Grenzziehungen und den spezifischen Klassifikationsstrategien von Akteur*innen zu fragen, die sich entlang der narrativ identifizierten Kernkategorien einer diskursiven Formation entfalten. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass sich die Klassifikationspraktiken sozialer Akteur*innen in den diskursiven Aushandlungsprozessen entlang zwei dominanter story lines ordnen lassen, die entweder als Narration der Grenzziehung oder als Narration des boundary blurring begriffen werden können. Auch hier verdeutlicht ein Beispiel aus der Forschungspraxis diesen Zusammenhang. So kann in der Walser-BubisKontroverse in Kapitel 8 eine übergeordnete Leiterzählung rekonstruiert werden, in der die deutsche Holocaust-Schuld als dominantes Normalisierungsnarrativ einer kollektiv geteilten (nationalen) Verbrechensgeschichte diskursiv eingebunden wurde, und auf dessen Grundlage schließlich unterschiedliche Klassifikationsstrategien der antisemitischen Grenzziehung rekonstruiert werden. Für die Untersuchung der Frage nach Mechanismen antisemitischer Grenzziehung und ihres interrelationalen Zusammenspieles mit ethnisierten, rassialisierten und nationenbezogenen Kategorisierungen ist die Wissenssoziologische Diskursanalyse aus vier Gründen besonders geeignet. Erstens nimmt sie die Analysedimension antisemitischer Kategorien der Praxis auf der empirischen Ebene sozialer und politischer Praktiken, Diskurse und Ereignisse in den Blick. Damit kann die WDA zweitens die Stellung und das Handeln von sozialen Akteur*innen in den symbolischen Kämpfen über die legitime Wirklichkeitskonstruktion des »jüdischen Anderen« pointieren. Drittens rückt sie die prozessualen Konstruktionsweisen von Grenzziehung, ihren vielfältigen Wechselwirkungen und den Mechanismen ihrer Infragestellung, in den Fokus und kann viertens veränderte Deutungsmuster und Klassifikationsweisen in einer diachronen Perspektive rekonstruierbar machen. Ausgehend von diesen konzeptuellen Werkzeugen der inhaltlich symbolischen Rekonstruktion von Diskursen lassen sich folgende analyseleitende Fragen der empirischen Untersuchung antisemitischer Grenzziehungen formulieren: • • •

• • •

Wie werden durch Klassifikationen soziokulturelle Grenzen generiert? Auf welchen Typen der Grenzziehung, Klassifikationsrepertoires und Klassifikationsweisen beruhen die Grenzziehungsstrategien sozialer Akteur*innen? Wie sind ethnisierte, rassialisierte oder nationalisierte Anrufungen in antisemitischen Klassifikationsprozessen innerhalb der spezifischen Problemstruktur des Diskursereignisses miteinander verwoben? Welche komplexen Wechselwirkungen dieser Klassifikationsmuster können rekonstruiert werden? Welche Subjektpositionen sind für die Eigengruppe enthalten? Auf welchen Klassifikationen und Identifikationsangeboten beruhen sie? Welche Regelmäßigkeiten oder Veränderungen sind innerhalb der diskursiven Formation zu beobachten? Durch welche Strategien der Grenzverwischung werden antisemitische Bewertungsund Wahrnehmungsrepertoires infrage gestellt?

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Nachdem bislang Ausführungen zu dem analytischen Vorgehen der WDA im Mittelpunkt standen, werden im nächsten Abschnitt zunächst die konkreten Schritte zur Auswahl des zu untersuchenden Datenmaterials, d.h. die Auswahl der Ereignisse für die diskursanalytische Untersuchung und die Ausbildung eines Datenkorpus sowie die Zusammenstellung textförmiger Daten eines Mediensamples, erläutert. Darauf aufbauend wird die konkrete empirische Vorgehensweise näher erklärt, um den feinanalytischen Forschungsprozess transparent gestalten zu können.

7.4

Korpusbildung und Analyse

Die analytische Fokussierung der diachron angelegten Diskursanalyse auf diskursive Ereignisse erscheint, wie weiter oben dargestellt, sinnvoll, um »heiße Zonen« der Diskursproduktion in den Blick zu nehmen. Auf diese Weise lässt sich das zu untersuchende Datenmaterial heuristisch sinnvoll eingrenzen. Im Folgenden werden sowohl die Eingrenzung des Untersuchungszeitraumes von 1998-2014 als auch die Auswahl der analysierten Debatten, die Walser-Bubis-Kontroverse 1998, die Beschneidungsdebatte 2012 und die Gaza-Demonstrationen 2014, näher begründet. Die Auswahl der Ereignisse für die diskursanalytische Auswertung erfolgte vor dem Hintergrund des empirischen Erkenntnisinteresses. Zunächst sollen die öffentlichen Diskurse als gesellschaftliche Debatten wahrgenommen werden, in denen Antisemitismen eine besondere Rolle gespielt haben. Zum einen sollten die Debatten einen möglichst breiten Überblick über die Vielfalt und Heterogenität kategorialer Verknüpfungen von unterschiedlichen Typen der Grenzziehung in lokal-historisch spezifischem Kontext liefern. Zum anderen soll die Auswahl der diskursiven Ereignisse Kontinuitäten und Wandelbarkeiten antisemitischer Klassifikationsformen genealogisch rekonstruierbar machen, die in dem hier untersuchten Zeitablauf verglichen werden. Ich habe mich für den Zeitraum zwischen dem Jahr 1998 und 2014 entschieden, weil ich davon ausgehe, dass ein zeithistorischer Einschnitt im öffentlichen Diskurs Deutschlands zu Beginn des Untersuchungszeitraumes stattgefunden hat. So fällt die Kontroverse um die Rede des Schriftstellers Martin Walser anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im letzten Quartal des Jahres 1998 mit dem kurz zuvor absolvierten Umzug der Bundesregierung von Bonn nach Berlin sowie dem Regierungswechsel von der schwarz-gelben Kohl-Regierung hin zu der rotgrünen Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder zusammen. Mit dem Umzug in die ehemalige Reichshauptstadt Berlin wird allgemein auch ein verändertes politisches Selbstverständnis der »deutschen« Nation assoziiert, dessen, zumindest für das politisch-kulturelle Bewusstsein der Öffentlichkeit, zäsuraler Charakter durch die veränderte Bezeichnung einer »Berliner Republik« im Gegensatz zu einer »Bonner Republik« zum Ausdruck kommt (Brunssen 2005; Caborn 2006; Becker 2013). Das Jahr 2014 als Ende des Untersuchungszeitraumes markiert den Beginn des Forschungsvorhabens und erfolgte daher aus pragmatischen Gründen, was dementsprechend nicht gleichbedeutend mit einem Ende des Diskurses als solchen zu verstehen ist. Die Auswahl des ersten Diskursereignisses der Walser-Bubis-Kontroverse hat sich aus diesem Grund besonders gut für die Analyse geeignet, weil sie zeitlich in

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Nachdem bislang Ausführungen zu dem analytischen Vorgehen der WDA im Mittelpunkt standen, werden im nächsten Abschnitt zunächst die konkreten Schritte zur Auswahl des zu untersuchenden Datenmaterials, d.h. die Auswahl der Ereignisse für die diskursanalytische Untersuchung und die Ausbildung eines Datenkorpus sowie die Zusammenstellung textförmiger Daten eines Mediensamples, erläutert. Darauf aufbauend wird die konkrete empirische Vorgehensweise näher erklärt, um den feinanalytischen Forschungsprozess transparent gestalten zu können.

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Korpusbildung und Analyse

Die analytische Fokussierung der diachron angelegten Diskursanalyse auf diskursive Ereignisse erscheint, wie weiter oben dargestellt, sinnvoll, um »heiße Zonen« der Diskursproduktion in den Blick zu nehmen. Auf diese Weise lässt sich das zu untersuchende Datenmaterial heuristisch sinnvoll eingrenzen. Im Folgenden werden sowohl die Eingrenzung des Untersuchungszeitraumes von 1998-2014 als auch die Auswahl der analysierten Debatten, die Walser-Bubis-Kontroverse 1998, die Beschneidungsdebatte 2012 und die Gaza-Demonstrationen 2014, näher begründet. Die Auswahl der Ereignisse für die diskursanalytische Auswertung erfolgte vor dem Hintergrund des empirischen Erkenntnisinteresses. Zunächst sollen die öffentlichen Diskurse als gesellschaftliche Debatten wahrgenommen werden, in denen Antisemitismen eine besondere Rolle gespielt haben. Zum einen sollten die Debatten einen möglichst breiten Überblick über die Vielfalt und Heterogenität kategorialer Verknüpfungen von unterschiedlichen Typen der Grenzziehung in lokal-historisch spezifischem Kontext liefern. Zum anderen soll die Auswahl der diskursiven Ereignisse Kontinuitäten und Wandelbarkeiten antisemitischer Klassifikationsformen genealogisch rekonstruierbar machen, die in dem hier untersuchten Zeitablauf verglichen werden. Ich habe mich für den Zeitraum zwischen dem Jahr 1998 und 2014 entschieden, weil ich davon ausgehe, dass ein zeithistorischer Einschnitt im öffentlichen Diskurs Deutschlands zu Beginn des Untersuchungszeitraumes stattgefunden hat. So fällt die Kontroverse um die Rede des Schriftstellers Martin Walser anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im letzten Quartal des Jahres 1998 mit dem kurz zuvor absolvierten Umzug der Bundesregierung von Bonn nach Berlin sowie dem Regierungswechsel von der schwarz-gelben Kohl-Regierung hin zu der rotgrünen Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder zusammen. Mit dem Umzug in die ehemalige Reichshauptstadt Berlin wird allgemein auch ein verändertes politisches Selbstverständnis der »deutschen« Nation assoziiert, dessen, zumindest für das politisch-kulturelle Bewusstsein der Öffentlichkeit, zäsuraler Charakter durch die veränderte Bezeichnung einer »Berliner Republik« im Gegensatz zu einer »Bonner Republik« zum Ausdruck kommt (Brunssen 2005; Caborn 2006; Becker 2013). Das Jahr 2014 als Ende des Untersuchungszeitraumes markiert den Beginn des Forschungsvorhabens und erfolgte daher aus pragmatischen Gründen, was dementsprechend nicht gleichbedeutend mit einem Ende des Diskurses als solchen zu verstehen ist. Die Auswahl des ersten Diskursereignisses der Walser-Bubis-Kontroverse hat sich aus diesem Grund besonders gut für die Analyse geeignet, weil sie zeitlich in

7 Empirisches Forschungsdesign

die Schnittstelle des Übergangs von dem »alten« Selbstverständnis der »Bonner Republik« zu den sich seit der Wiedervereinigung 1989/90 schleichend vollziehenden, gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen im politisch-normativen Gefüge der Bundesrepublik Deutschland passt. Als diskursives Ereignis reflektiert die intensiv geführte Debatte, die nach den beiden Hauptprotagonisten, dem Schriftsteller Martin Walser und dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden Ignatz Bubis, benannt wurde, eine heiße Zone antisemitischer Diskursproduktion. So vermengten sich in der Debatte Fragen der kollektiven Erinnerung sowie des angemessenen Umganges mit der nationalsozialistischen Vergangenheit mit prototypischen Elementen eines schuldabwehrenden »Post-Holocaust-Antisemitismus« (Jäger, Martin und Schobert 1999; Brumlik, Funke und Rensmann 2004a; M. N. Lorenz 2015). Lars Rensmann (2004) bringt die Relevanz der Kontroverse als analysierbares Diskursereignis zum Ausdruck, indem er die kulturelle Bedeutung der Debatte folgendermaßen beschreibt: Es ist hingegen überdies zu vermuten, dass die »Walser-Debatte«, […] zugleich einen spezifischen (indes nicht widerspruchslosen) Bruch in der deutschen politischen Kultur markiert: namentlich, dass sich strukturell, latent und manifest antisemitische Abwehraggressionen gegenüber der Erinnerung an die NS-Verbrechen und gegenüber der mit dieser Erinnerung einhergehenden Infragestellung deutscher Normalität öffentlich-politisch entfalten, modernisieren und etablieren konnten. (358) Als Nächstes, dazu möglichst verschiedenes Diskursereignis, habe ich die Beschneidungsdebatte 2012 ausgewählt, um die Heterogenität antisemitischer Grenzziehungsstrategien abbilden zu können, ohne die Analyse zu sehr auf die Verschränkung antisemitischer Differenzierungslinien mit erinnerungspolitischen Fragen des angemessenen Umganges mit der NS-Vergangenheit und damit eng verbundenen nationalisierten Identifikationsmechanismen zu begrenzen. Obgleich offen antisemitische Artikulationen und eine Stereotypisierung im Verlauf der öffentlichen Debatte, die sich an das gerichtliche Verbot nicht-medizinisch induzierter Beschneidungen angeschlossen hat, weitestgehend ausgeblieben sind und sich in virulenter, d.h. eindeutiger, Form überwiegend im digitalen Raum geäußert haben (Wetzel 2012), ist der Diskurs über rituelle Beschneidungspraktiken dennoch von besonderem Forschungsinteresse. Zum einen wäre hierbei die »notorische Intensität der öffentlichen Debatte« (Heil und Kramer 2012: 9) zu nennen, in der sich auch »antijüdische Aversionen« mit einem »weiterreichenden antireligiösen Affekt« vermengt haben (ebd.: 11). Das Beschneidungsritual erfüllte eine Trigger-Funktion für die Aktualisierung und Reproduktion von abwertenden Unterscheidungszeichen, die von Nich-Jüd*innen gegenüber Jüd*innen verwendet werden, was sich anhand der öffentlichen Betrachtung des Gerichtsurteils und ihrer affektvermittelten emotionalen Überzeichnungen nachvollziehen lässt (Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus 2017: 251). Aus diesem Grund erscheint die Beschneidungsdebatte als Diskursereignis für die Untersuchung der Aushandlung antisemitischer Grenzziehungen geeignet (zur Bedeutung der Beschneidungsdebatte siehe auch Ionescu 2018; Blumenberg und Hegener 2013). Zum anderen steht das Diskursereignis der Beschneidungsdebatte auch analyseleitend für den Facettenreichtum antisemitischer Klassifikationsstrategien, die »als Ausprägungen eines gegenwärtigen Antisemitismus« (Ionescu 2018: 13) zu verstehen sind, weil sie sich

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»gegenüber den schon fast klassischen Zuschreibungen des Nahostkonfliktes« (Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus 2017, 252) – ergänzend ließe sich auch hinzufügen gegenüber den im bundesdeutschen Kontext typischen Zuschreibungen in der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit – als veränderter diskursiver Bezugshorizont darstellen. So lässt sich die thematische Referenzialisierung des Beschneidungsrituals, die soziokulturelle Mechanismen der In- und Exklusion einer (religiösen) Minderheit sichtbar gemacht hat (Yurdakul 2016), im Kontext von Säkularismus und Antisemitismus (Rau 2014) betrachten. Als letztes Diskursereignis, das für die diskursanalytische Auswertung ausgewählt wurde und als ein diskursiver Höhepunkt der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Themensetzungen des Antisemitismus gelten kann, ist die Debatte über die GazaProteste 2014 in die Analyse miteinbezogen worden. Diese Auswahl erschien aus dreierlei Gründen sinnvoll: Erstens konnten hier mit einem »muslimischen Antisemitismus« Klassifikationspraktiken »muslimisch« identifizierter Akteur*innen in den Blick genommen werden, die, von einer minoritären Subjektposition ausgehend, in dem gesellschaftlichen Diskurs interveniert und diesen explizit religiös aufgeladen haben (Edthofer 2016; Rybak 2015; Biskamp 2016: 13ff.). Zweitens ereignete sich das Diskursereignis der Gaza-Demonstrationen in einem gesamteuropäischen Kontext anti-israelischer Proteste, die mit einem massiven Anstieg antisemitischer Vorfälle verbunden waren (Edthofer 2016: 3ff., Wistrich 2014; Embacher 2015), was den Protesten eine signifikante Bedeutung als Manifestationen antisemitischer Aktivitäten im Zusammenhang mit einem israelbezogenen Antisemitismus zukommen lässt. Drittens konnte im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Verhandlungen der Gaza-Proteste Positionierungen von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft identifiziert werden, in denen nationale Identitätskonstruktionen vorgetragen wurden, die auf einer Auslagerung des Antisemitismus als vermeintlich spezifisches Minderheitenproblem muslimischer communities beruhen (Rybak 2015; Embacher 2015). Zusammenfassend soll die Auswahl der drei sehr unterschiedlich strukturierten Diskursereignisse der Walser-Bubis-Kontroverse, der Beschneidungsdebatte und der Gaza-Proteste die Plausibilität, Glaubwürdigkeit und Konsistenz der konzeptuellen Taxonomie der Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen und ihrer Analysekategorien begründen können. Dies soll gelingen, indem die diskursiven Ereignisse verschiedene Diskurse über das »Jüdische« behandeln und daher die empirische Vielfalt und Heterogenität kategorialer Verknüpfungen von unterschiedlichen Typen der Grenzziehung in der Verwendungspraxis sozialer Akteur*innen abbilden können. Daneben markieren die Debatten relativ überschaubare Ereignisse, die über eine kompakte Struktur und zeitlich eingrenzbaren Verlauf verfügen. Diese Abgrenzbarkeit lässt das Datenmaterial einerseits aus forschungspragmatischen Gründen leicht handhaben und ermöglicht es andererseits, diese Debatten als punktuelle Wegmarken zu analysieren, in denen sich Kontinuität und Wandel antisemitischer Formen der Selbst- und Fremdkategorisierung interpretieren lassen. In einem nächsten Schritt sollen nun methodische Kriterien für die Zusammenstellung des Datenkorpus und die Auswahl eines Mediensamples aus diesem Korpus dargestellt werden.

7 Empirisches Forschungsdesign

7.4.1

Die Konstruktion eines Datenkorpus

Um die Grenzen des legitim Sagbaren innerhalb des Diskurses erfassen zu können, wurden für die Zusammenstellung der Textkorpora für das jeweilige Diskursereignis Tages- und Wochenzeitungen als Materialgrundlage herangezogen, die als Leitmedien gelten und das politische Spektrum weitestgehend abdecken. Zu diesem Zweck wurden mit der Tageszeitung (TAZ), dem SPIEGEL und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) drei Publikationen ausgesucht und als empirisches Material verwendet, die überregional erscheinen, eine gewisse Auflagenstärke besitzen und als (meinungsbildende) Qualitätsmedien gelten, d.h. informationsorientiert und nicht unterhaltungsorientiert sind (Volkmann 2006: 30). Während die TAZ eine eher linksalternative Haltung einnimmt und eine entsprechende Leserschaft bedient, vertritt die FAZ bürgerlich-konservative Positionen und der SPIEGEL liberale Positionen der politischen Mitte (Keller 2009: 56; Huhnke 1993). Als relevante Daten wurden hierfür Zeitungsartikel ausgewählt, die sich den Textgattungen der Titelgeschichte, des Hintergrundberichtes, des Gastbeitrages, des Interviews und des Kommentars zuordnen ließen und die sowohl Printals auch, wo vorhanden, Online-Publikationen des jeweiligen Mediums enthalten. Von der Analyse ausgeschlossen wurden die Textgattungen des Leserbriefes und der Kurzmeldung. Für die Erhebung von Daten für die Datenkorpora der jeweiligen Diskursereignisse wurde auf elektronische Datenbanken zurückgegriffen. Dies war im Fall von SPIEGEL und TAZ die Datenbank LexisNexis, wohingegen bei der FAZ die Online Ressource des Frankfurter-Allgemeine-Archivs herangezogen wurde. Dabei erfolgte bereits die Zusammenstellung der Daten auf einer reflektierten und kriteriengeleiteten Grundlage, indem die Konstruktion eines beweglichen Datenkorpus unter forschungsrelevanten und theoriegeleiteten Aspekten ermöglicht werden soll. Aus diesen Gründen wurde die Zusammenstellung der Daten an den methodologischen Prinzipien des theoretical sampling (Strauss und Corbin 1996; Glaser und Strauss 1998; Strauss 1994: 70ff.) der Grounded Theory orientiert, das als Verfahren zu verstehen ist, »bei dem sich der Forscher auf einer analytischen Basis entscheidet, welche Daten als nächstes zu erheben sind und wo er diese finden kann« (Strauss 1994: 70). Demzufolge stellt bereits der Ein- und Ausschluss bestimmter Texte in den Datenkorpus einen theoriegeleiteten Interpretationsakt dar, insofern er eine »Orientierung an Ausschlusskriterien, also an begründeten Maßstäben dafür« erforderlich macht, die darüber entscheiden »welche Texte schließlich zu einem Sample gehören sollen, und welche nicht« (Keller 2011a: 90). Mit Blick auf den empirischen Forschungsprozess wurden daher nur solche Texte in den Korpus aufgenommen, die eine Relevanz für die analyseleitenden Fragestellungen besitzen und deren Art der Argumentation einen thematischen Bezug zu dem öffentlich verhandelten Gegenstand des Diskursereignisses herstellen, etwa durch Bezugnahme auf Aspekte jüdischen Lebens oder durch die Behandlung von Themenstellungen, die Grenzziehungen repräsentieren. Diese theoretisch fundierten Auswahlkriterien wurden demnach auch durch die Analysekategorien des taxonomischen Modells antisemitischer Grenzziehungen und ihrer prozessorientierten theoretischen Grundlegung begründet. Die deduktiven Vorannahmen der Taxonomie erlauben es, Dokumente im Hinblick auf ihr Analysepotenzial für die Untersuchung von Grenzziehungs- und Grenzverwischungsstrategien auszuwählen und zu bewerten. Zu-

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dem ist auch ein durch die Sekundärliteratur vermitteltes Kontextwissen über die zeithistorischen Perioden der ausgewählten Diskursereignisse in den Prozess der Datenerhebung eingeflossen. So wurden etwa in der Beschneidungsdebatte all jene Texte ausgeschlossen, die das Phänomen der Beschneidung überwiegend im Hinblick auf die Beschneidungspraxis innerhalb der muslimischen community diskutiert haben und daher als Aussageereignisse kein Erklärungspotenzial für die Produktion und Transformationen antisemitischen Wissens besitzen.2 Entsprechend der zirkulären Verschränkung von Datenerhebung und Datenauswertung im diskursanalytischen Vorgehen (Keller 2011a; Schwab-Trapp 2003) begleiteten den Prozess der Datenerhebung auch bereits erste analytische Schritte,3 die »im einfachen Lesen und ›Auswerten‹ der als wichtig erachteten Informationen« (Keller 2011a: 87) bestanden haben und auf das gesamte Datenmaterial ausgeweitet wurden. Auf Basis dieser oberflächlichen Durchsicht der Diskursfragmente konnten erste Erkenntnisse über die Struktur des Diskurses, Zusammenhänge und Regelhaftigkeiten der Aussageproduktion gewonnen werden, die mit Blick auf die Auswahl von Texten für die Feinanalyse sortiert und verwendet wurden. Dieser Analyseschritt wurde zu diesem Zweck abermals an den Prinzipien des Forschungsansatzes der Grounded Theory orientiert und hier speziell an die Samplingstrategie der »maximalen Kontrastierung« (Strauss und Corbin 1996: 69f.) angelehnt, die eine grobe thematische Gruppierung der Dokumente entlang der verschiedenen Formen gesellschaftlicher Aushandlungen antisemitischer Grenzziehungen ermöglicht hat, etwa im Hinblick auf die Frage, ob ein Text eher Grenzen zwischen Nicht-Jüd*innen gegenüber Jüd*innen konstruiert oder diese Grenzen infrage stellt. Gruppiert wurden demnach Vergleichsfälle von Aussagen, die sich hinsichtlich ihrer Argumentation stark voneinander unterscheiden und erhebliche Differenzen aufweisen. Die Beurteilung von Vergleichsfällen und ihrer Unterscheidbarkeiten erfolgte unter Bezugnahme auf die »theoretische Sensibilität« (Strauss und Corbin 1996: 25ff.; Strübing 2014a: 466), indem theoretisches Vorwissen der Konzeptualisierung von antisemitischen Grenzziehungen in die Bewertung eingeflossen ist. Die Charakteristika dieser Vergleichsgruppen habe ich wiederum in Form von Notizen bzw. Memos festgehalten.

7.4.2

Die Auswahl von Fragmenten zur Feinanalyse

Im Anschluss an das spiralförmige Verfahren der analytischen Informationsgewinnung über das Diskursfeld und der damit verbundenen Eingrenzung des Datenkorpus stand schließlich die Ausbildung eines Samples für die Feinanalyse der Daten im Mittelpunkt.

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3

An dieser Stelle soll es um das methodengestützte Verfahren der Datenerhebung im Rahmen der hier durchgeführten Wissenssoziologischen Diskursanalysen gehen. Jedem Analysekapitel der empirischen Auswertung des jeweiligen Diskursereignisses wird eine Beschreibung von Umfang und Größe des Datenkorpus vorangestellt. Insofern sich der Forschungsprozess im Rahmen der WDA an der offenen Forschungslogik der qualitativen Sozialforschung (Flick 2002) orientiert, werden Datenerhebung und -auswertung als »spiralförmig« verstanden, um eine größtmögliche empirische Offenheit gegenüber dem Untersuchungsgegenstand gewährleisten zu können (Truschkat 2013; Keller 2011a).

7 Empirisches Forschungsdesign

Dabei wurde methodisch kontrolliert, d.h. kriteriengeleitet, eine begründete Teilauswahl von Texten für eine interpretative Tiefenanalyse getroffen, von denen anzunehmen war, dass sie Ergebnisse respektive Antworten für die verfolgten Forschungsfragen hervorbringen würden (Keller 2013b: 54ff.; Keller 2011a: 91ff.). Offenheit meint auch in diesem Analyseschritt keine im Vorfeld festgelegte Auswahl von Diskursfragmenten, die untersucht werden sollen, sondern ein Vorgehen, »dass sukzessive die Bandbreite des gesamten Datenmaterials durchschreitet und erfasst« (Keller 2013b: 54), um durch diesen Wechsel von Datenerhebung und -auswertung legitime analytische Aussagen über die Strukturiertheit des Gesamtdiskurses treffen zu können. Die Vorgehensweise bei der Zusammenstellung des Feinanalysesamples erfolgt auch hier wieder in Anlehnung an die Prinzipien des theoretical sampling und der minimalen sowie primär der maximalen Kontrastierung (Glaser und Strauss 1998: 62f.). Reiner Keller (2013a) beschreibt die Komposition eines Feinanalysekorpus daran anschließend folgendermaßen: Dabei geht es darum, die Auswahl der für die Feinanalyse heranzuziehenden Dokumente aus dem Forschungsprozess selbst heraus zu begründen: Man beginnt zunächst mit einem »bedeutsam« erscheinenden Dokument und sucht dann innerhalb des Datenkorpus nach einem dazu stark unterschiedlichen (maximale Kontrastierung) oder vergleichsweise ähnlichen (minimale Kontrastierung) Aussageereignis. Die Orientierung an der maximalen Kontrastierung ermöglicht es, nach und nach das Gesamtspektrum des oder der Diskurse innerhalb eines Korpus zu erfassen und dadurch mehrere Diskurse zu einem Thema oder innerhalb eines Diskurses seine heterogenen Bestandteile herauszuarbeiten. (54/55) Insofern die Auswahl dessen, was im Hinblick auf die spezifische Fragestellung nach den mehrdimensionalen Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen als »bedeutsam« erscheint, eine interpretative Handlung des Forschenden darstellt, macht sich ein »Selektionsproblem« (Brosziewski und Knoll 2018: 29) bemerkbar, das sich aus dem letztlich subjektiven, wenn auch kriteriengeleiteten Akt der Zuschreibung von Relevanz eines Textdokumentes vor dem Hintergrund des theoretischen und empirischen Erkenntnisinteresses ergibt.4 Allerdings gehe ich davon aus, durch die erste Sichtung und oberflächliche Interpretation provisorisch Aussagen und Argumentationsweisen identifizieren zu können, die als »typisch« für den Diskurs gelten. So ließ sich zum Beispiel für die Walser-Bubis-Debatte relativ schnell feststellen, dass es sich bei dem Diskurselement der »NS-Schuld« um ein solches strukturierendes, d.h. typisches, Ordnungsmuster des Diskurses handelt, das für die Zusammenstellung des Feinanalysesamples eine zentrale Rolle einnimmt. Aus forschungspragmatischen Gründen, die sich auch aus dem erheblichen zeitlichen Aufwand von Diskursanalysen ergeben, habe ich die Feinanalysesamples der einzelnen Textkorpora auf neun Texte beschränkt, wobei jeweils drei Artikel aus den jeweiligen Publikationsorganen SPIEGEL, TAZ und FAZ entnommen wurden.

4

Zudem verhindert der abduktive Analyseprozess ein vorschnelles Generalisieren oder unsystematisches Urteilen über die Regelhaftigkeit des Diskurses und somit eine Beliebigkeit der Interpretation.

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Diese Reduktion des gesamten Textkorpus auf einige (wenige) Dokumente erfolgte durch die Identifikation von Schlüsseltexten (Waldschmidt 2003; Schwab-Trapp 2003), die hinsichtlich der analyseleitenden Fragestellung und vor dem theoretisch sensibilisierenden Hintergrund der Taxonomie antisemitischer Grenzziehungsprozesse einen besonderen Stellenwert für die interpretative Rekonstruktion öffentlicher Diskurse und ihrer kulturellen Aushandlungsprozesse besitzen. Solche Schlüsseltexte ermöglichen es, einen tiefenanalytischen Zugang zu dem Gesamtdiskurs zu erhalten, indem richtungsweisende Diskursfragmente für die empirische Analyse ausgewählt werden. Schlüsseltexte lassen sich nach Waldschmidt (2003) folgendermaßen definieren: Einzelne Quellen erhielten somit eine besonders herausgehobene Position und fungierten als Orientierungspunkte im Labyrinth der diskursiven Äußerungen. Auf diese Weise konnte die Textlandschaft weiter strukturiert und geordnet werden. Als Schlüsseltext konnte ein Text allerdings immer erst in Retrospektive und mit Hilfe der Kenntnis anderer Quellen bestimmt werden, deren Bedeutung wiederum durch ihn besser erschlossen werden konnte. (161) Die Zuweisung der Bedeutung einer Schlüsselfunktion eines Textes kann immer nur retrospektiv erfolgen und stellt demzufolge auch in gewisser Weise einen »Interpretationszirkel« (Schmied-Knittel 2013: 173, FN6) dar. Allerdings lässt sich die Bedeutung eines Textes nur in Relation zu der Struktur des gesamten Textkorpus eines Diskurses bewerten, die, entsprechend der abduktiven Verfahrensweise des forschungsleitenden theoretical sampling, im Vergleich zu anderen Texten und zu der sukzessiven Erfassung der gesamten Breite des Diskurses erfolgt (Schmied-Knittel 2013: 173; Waldschmidt 2003: 161). Dementsprechend wurden Schlüsseldokumente in der vorliegenden Untersuchung als solche identifiziert, wenn sie, ausgehend von der Grobanalyse und den ersten herausgearbeiteten Argumentationsmustern, in symptomatischer Form inhaltlich besonders häufig wiederkehrende Aussagen, Motive und Themenstellungen repräsentieren (Schmied-Knittel 2013: 173). Zudem war die Suchstrategie nach Schlüsseltexten expressis verbis durch theoretisches Vorwissen geprägt und sensibilisiert, indem sich ihre Relevanz auch durch das konzeptionelle Modell antisemitischer Grenzziehungen und der Mechanismen ihrer Grenzverwischung begründet hat. Daneben kann als weiteres Charakteristikum für die Identifikation eines analyserelevanten Schlüsseltextes, einer Bezeichnung dort genannter Schlüsselakteur*innen oder Schlüsselpassagen, auch die öffentliche Wahrnehmung eines Textes als zentrales Dokument für den Gesamtdiskurs gelten, etwa, indem es häufig zitiert oder oftmals Gegenstand von Verweisen und Referenzen ist. Beispielsweise kann in der Walser-Bubis-Debatte die Rede von Martin Walser in der Paulskirche anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, in der FAZ publiziert, als ein Schlüsseltext angesehen werden, weil er den Diskursverlauf maßgeblich beeinflusst hat. Dennoch soll im Rahmen der Auswertung keine hermeneutische Sequenzanalyse solcher Schlüsseltexte betrieben werden, sondern es wird versucht, die einzelnen Dokumente als typisierbares antisemitisches Wissen zu rekonstruieren, wobei die einzelnen Aussagen der Texte als Fragmente gesellschaftlich verallgemeinerbarer Diskurse gelten. Demzufolge stehen die Äußerungen Martin Walsers stellvertretend für einen Diskurs der nationalen Selbstverständigung, die etwa zum Ausdruck bringen, welche gesellschaftliche Bedeu-

7 Empirisches Forschungsdesign

tung der kollektiven Verbrechensgeschichte des Nationalsozialismus durch diese Zuschreibungsprozesse beigemessen wird. Zum Abschluss möchte ich nun das Kodierparadigma der Grounded Theory im Hinblick auf ihre methodische Verwendung als Instrument der feinanalytischen Interpretation von Diskursfragmenten in der vorliegenden Studie darstellen.

7.4.3

Das Kodierparadigma der Grounded Theory

Für die feinanalytische Auswertung der Daten kam das Kodierparadigma der Grounded Theory (Strauss 1991; Strauss und Corbin 1996) in modifizierter Form methodisch zum Tragen, weil es eine größtmögliche empirische Offenheit gegenüber dem Datenmaterial garantiert. Die geht gegenstandsnah vor, weil ihr »prozessuales Verständnis von Theorie« dem Ziel dient, »einen Theoriebildungsprozess auf empirischer Grundlage zu gestalten« (Strübing 2014a: 469). Diese Offenheit erscheint daher mit der heuristisch zugrunde gelegten, intersektionalen Forschungsperspektive auf die relationalen Prozesse des Zusammenspieles ethnisierter, rassialisierter und nationalistischer Antisemitismen, ihren Schnittstellen und Kontexten kompatibel, um die kulturellen Dynamiken mehrdimensionaler Grenzziehungen dechiffrieren zu können. Wie ich im Folgenden darstellen möchte, erlaubt es das abduktive Auswertungsverfahren der Grounded Theory insbesondere die Analyseebene antisemitischer Kategorien der Praxis zu untersuchen. Ziel ist es dabei, die inhaltliche Struktur des Diskurses mit Blick auf das mutual shaping heterogener Differenzkategorien analysierbar zu machen und damit lokalhistorisch spezifische Konstruktionsweisen antisemitischer Grenzziehungen in einem kontingenten diskursiven Kontext zu rekonstruieren, die sich gegenstandsbezogen aus dem empirischen Datenmaterial gewinnen lassen. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass die empirischen Daten gerade nicht den deduktiv entwickelten Analysekategorien antisemitischer Grenzziehungen subsumiert werden, sondern sich ihr prozessuales Zusammenspiel und ihre mehrdimensionalen Verschränkungen von der (zunächst) induktiven Durchdringung des Materials ausgehend entfalten soll, um antisemitische Kategorien der Praxis identifizieren zu können. Nach Strauss und Corbin (1996) gliedert sich das Analyseverfahren der Codierung in drei Schritte: das offene, das axiale und das selektive Kodieren. Das offene Kodieren dient dem Aufbrechen der Diskursfragmente und zerlegt diese in ihre analytischen Einzelteile. Dabei werden empirische Codes gebildet und damit inhaltliche Eigenschaften, Konzepte und Kategorien herausgearbeitet sowie nach strukturellen Gemeinsamkeiten im Material gesucht (Strauss und Corbin 1996: 43-56; Strübing 2014b: 17). Mit dem axialen Kodieren geht ein Abstraktionsvorgang einher, der Verbindungen zwischen den Kategorien und Konzepten herstellt (Strauss und Corbin: 75-93). »Axiales Kodieren zielt also auf erklärende Bedeutungsnetzwerke, die die jeweils fokussierte Kategorie möglichst umfassend erklären« (Strübing 2014a, 467). Zuletzt wurde in einem dritten Schritt selektiv kodiert und dabei wurden Kernkategorien herausgearbeitet, die in systematischer Form die entwickelten Codes zueinander in Beziehung setzen sollen (Strauss und Corbin 1996: 94-117). Als eine Art roter Faden erscheint/erscheinen diese Schlüsselkategorie(n) am besten dazu geeignet, im Hinblick auf das empirische Erkenntnisinteresse und den problematisierten Forschungsgegenstand Antworten zu liefern und

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

die herausgearbeiteten Codes im Sinne einer einheitlichen Analyseperspektive (Strübing 2014a: 468f.; 2014b: 16ff.) zu ordnen. Wie stellte sich der Auswertungsprozess für die feinanalytische Interpretation öffentlicher Diskurse vor dem theoretischen Hintergrund des taxonomischen Modells soziokultureller Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen dar? Die interpretative Rekonstruktion von Kreuzungen antisemitischer Typen der Grenzziehung, ihren Klassifikationsmustern und Klassifikationen und den Strategien der Grenzverwischung wurde computergestützt mithilfe der qualitativen Analysesoftware MaxQda durchgeführt (Keller 2011a: 103). Durch die erste Phase des offenen Kodierens der Schlüsseldokumente wurde nach Artikulationen, Bezeichnungen, Bewertungen und Unterscheidungen im Text gesucht, die im Hinblick auf die Interpretation von Grenzziehungsprozessen als empirische Codes identifiziert werden konnten. Insbesondere die Intersektionalitätsperspektive auf Grenzziehungsprozesse erfüllte in diesem Analyseschritt die Funktion eines theoretisch für die Auswertung sensibilisierenden Konzeptes, das die empirischen Codes für daran anschließende Fragen nach dem bedeutungsoffenen Zusammenspiel unterschiedlicher Typen der Grenzziehung in den diskursiven Aushandlungen sozialer Akteur*innen ordnet. Die empirischen Codes wurden schließlich ausgehend von der konzeptionellen Heuristik des taxonomischen Modells axial zueinander in Beziehung gesetzt. Der theoretisch entwickelte kategoriale Bezugsrahmen von Analysekategorien ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Typen der Grenzziehung hat in diesem Untersuchungsschritt dem Zweck gedient, Klassifikationsmuster und Repertoires von Zuschreibungen herauszuarbeiten, die sich aus dem mutual shaping der lokal-historisch spezifischen Verschränkung ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Unterscheidungslinien ergeben haben. Die Analysekategorien haben hierfür die Stellung von theoretischen Codes eingenommen, die zur Rekonstruktion der dominanten Grenzziehungsstrategien in den öffentlichen Debatten verwendet wurden und im Sinne der abduktiven Forschungslogik der Grounded Theory als Kodierparadigma operationalisiert wurden. Ließen sich im Prozess des offenen Kodierens also empirische Kodes für Textstellen feststellen, wurden diese Kodes und darin enthaltenen begrifflichen Zuordnungen im Abgleich mit den Kategorien der Analyse (ethnisierte, rassialisierte und nationalisierte Typen der Grenzziehung) antisemitischer Grenzziehungen neu gruppiert. Gemäß der theoretischen Heuristik des taxonomischen Modells und ihrer konzeptionellen Unterscheidung zwischen einer Analysedimension antisemitischer Kategorien der Praxis und einem Verständnis von »Rasse«, »Ethnizität« und »Nation« als typologisch distinkte Klassifikationsmuster auf der Ebene von Kategorien der Analyse antisemitischer Grenzziehungen wurden die empirischen Codes nicht einfach nur den Analysekategorien zugeordnet, sondern entsprechend des Intersektionalitätsverständnisses antisemitischer Grenzziehungen als Kreuzungen unterschiedlicher Differenzkategorien (axial) zueinander in Beziehung gesetzt. Diese gegenstandsbezogene Strukturierung der Klassifikationspraktiken sozialer Akteur*innen konnte daher sichtbar machen, wie »Ethnizität«, »Rasse« und »Nation« in einem kontingenten kulturellen Kontext als Praxistypen der Grenzziehung zusammenwirken, wodurch die prozessuale Herstellung des soziokulturellen Ausschlusses von Jüd*innen und die ihnen zugrunde liegenden Klassifikationsrepertoires sowie Klassifikationen rekonstruierbar wurden. Zuletzt bestand der Anspruch des

7 Empirisches Forschungsdesign

selektiven Kodierens darin, den roten Faden des Diskursereignisses und seine narrative Struktur herauszuarbeiten, die als Kernkategorien die übergeordnete story line eines Diskurses angeben und damit die unterschiedlichen Klassifikationsrepertoires und Klassifikationen in einen kohärenten Sinnzusammenhang stellen. Beispielsweise erfüllte das erinnerungspolitische Normalisierungsnarrativ einer »Holocaust-Schuld und -Schande« die Funktion einer solchen story line in der Walser-Bubis-Debatte, von der ausgehend sich die verschiedenen Klassifikationsstrategien der Grenzziehung artikulieren ließen. Im vorangegangenen Kapitel wurde das empirische Forschungsdesign dargestellt und expliziert, wie mit dem taxonomischen Modell der Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehung empirisch, d.h. in diesem Fall diskursanalytisch, gearbeitet werden kann. Um nun seine intersubjektive Plausibilität, Glaubwürdigkeit und Konsistenz als Werkzeug der Untersuchung soziokultureller Prozesse der Ausschließung von Jüd*innen empirisch zu überprüfen, steht im folgenden Kapitel die empirische Auswertung der Analyse im Zentrum.

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Teil 2: Diskurse der Grenzziehung im Bedeutungswandel der Zeit

Im folgenden empirischen Teil steht nun die Präsentation der Resultate der Wissenssoziologischen Diskursanalyse (WDA) im Zentrum der Betrachtung. Dabei sollen die bedeutungsoffenen gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse antisemitischer Grenzziehungen im kulturellen Kontext von öffentlichen Diskursen herausgearbeitet werden, um die Fragestellungen, wie sie in Kapitel 1.2 aufgeworfen wurden, beantworten zu können. Diese analyseleitenden Fragen wurden wie folgt benannt: • •



• • •

Wie werden durch Klassifikationen soziokulturelle Grenzen generiert? Auf welchen Typen der Grenzziehung und der darin enthaltenen Klassifikationsrepertoires und Klassifikationsweisen beruhen die Grenzziehungsstrategien sozialer Akteur*innen? Wie sind ethnisierte, rassialisierte oder nationalisierte Anrufungen in antisemitischen Klassifikationsprozessen innerhalb der spezifischen Problemstruktur des Diskursereignisses miteinander verwoben? Welche komplexen Wechselwirkungen dieser Klassifikationsmuster können rekonstruiert werden? Welche Subjektpositionen sind für die Eigengruppe enthalten? Auf welchen Klassifikationen und Identifikationsangeboten beruhen sie? Durch welche Strategien der Grenzverwischung werden antisemitische Wahrnehmungsund Bewertungsrepertoires infrage gestellt? Welche Regelmäßigkeiten oder Veränderungen sind innerhalb der diskursiven Formation zu beobachten?

Im Ergebnis wird ein zweigeteiltes Erkenntnisinteresse mit der diskursanalytischen Untersuchung verfolgt. Da wäre zum einen die empirische Überprüfung der intersubjektiven Plausibilität, Glaubwürdigkeit und Konsistenz der konzeptuellen Taxonomie von Analysekategorien der soziokulturellen Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen. Zum anderen soll aus einer prozessorientierten Perspektive die Wandelbarkeit antisemitischen Wissens in einem diachronen Zeitverlauf rekonstruiert und bewertet werden. Diese Vorgehen soll aufzeigen, wie sich Theorie und empirische Untersuchung von Diskursen der Grenzziehung innerhalb der Taxonomie wechselseitig befruchten und dem Gegenstandsbereich antisemitischer Differenzierungen damit neue analytische Facetten hinzufügen. Die wissenssoziologische Feinanalyse der öffentlichen Diskurse und die Darstellung ihrer zentralen Befunde erfolgt schließlich für jedes der drei Diskursereignisse, der Walser-Bubis-Debatte (Kapitel 8), der Beschneidungsdebatte (Kapitel 9) sowie den Diskussionen über die Gaza-Proteste 2014 (Kapitel 10), nach demselben Muster. Auf eine Darstellung des diskursiven Ereigniskontextes folgt ein Überblick über Strategien der antisemitischen Grenzziehung, ihrer Klassifikationsmuster, Klassifikationsrepertoires und Fremdzuschreibungen. Dabei soll sich zeigen, wie diese Klassifikationsstrategien in den öffentlichen Debatten und ihrer medialen Thematisierungen sichtbar werden. Zuletzt werden auch Prozesse des boundary blurring und seiner Mechanismen der Infragestellung von Grenzen systematisiert und herausgestellt.

8 Das Diskursereignis der Walser-Bubis-Debatte Eine Wissenssoziologische Diskursanalyse von Konstruktionsmechanismen der antisemitischen Grenzziehung

Auf der methodischen Grundlage der Wissenssoziologischen Diskuranalyse wird in der folgenden Fallstudie eine interpretative Analyse der soziokulturellen Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen am Beispiel der sogenannten Walser-Bubis-Kontroverse durchgeführt. Dabei erfolgt die empirische Auswertung auf Grundlage der konzeptualisierten Taxonomie von Konstruktionsmechanismen soziokultureller Grenzziehungen des Antisemitismus, durch die die Interpretation und Einordnung der antisemitischen Kategorien der sozialen Praxis in dem erinnerungspolitischen Diskurs ermöglicht werden soll. Mit Blick auf die übergeordnete Fragestellung dieser Arbeit nach dem Bedeutungswandel und der Kontinuität antisemitischer Differenzierungen ist das Erkenntnisinteresse der diskursanalytischen Untersuchung dreigeteilt: Erstens möchte ich durch die empirische Auswertung intersubjektive Plausibilität, Glaubwürdigkeit und Konsistenz der taxonomischen Abstraktionsleiter von Analysekategorien der Grenzziehung aufzeigen. Darauf aufbauend soll zweitens empirisch offen nach den vielschichtigen Relationen und Wechselwirkungen der Ungleichheitskategorien »Ethnizität«, »Rasse« und »Nation« gefragt werden. Mit Blick auf den Bedeutungs- und Formwandel antisemitischer Klassifikationen werden drittens der Analyse antisemitischer Grenzziehungen durch die empirische Rekonstruktion einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungsstrategien neue Facetten hinzugefügt. Der Textkorpus für die Auswertung wurde aus 52 Zeitungsartikeln, Hintergrundberichten und Kommentaren aus drei verschiedenen, informationsorientierten und überregionalen Tages- bzw. Wochenzeitungen (TAZ, SPIEGEL, FAZ) und, wo vorhanden, ihrer Online-Ausgaben gebildet. Durch die Quellenauswahl sollte das politische Spektrum in Deutschland möglichst weitgehend abgedeckt werden, wobei von diesen Zeitungen jeweils drei Artikel für die Detailanalyse ausgewählt wurden. Als Auswahlkriterium für die einzelnen Texte wurde festgelegt, dass sie zeitlich vor der Aussprache zwischen Martin Walser und Ignatz Bubis am 13.12.1998 erschienen sind und thematisch

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

das erinnerungspolitische Thema der »Paulskirchenrede« Martin Walsers behandeln. Bevor allerdings die spezifischen Grenzziehungsstrategien in dem öffentlichen Diskurs der Walser-Bubis-Kontroverse beleuchtet werden, erfolgt im nächsten Abschnitt eine Kontextualisierung der zeithistorischen und politischen Zusammenhänge, in deren Rahmen sich die Debatte um das erinnerungspolitische Verhältnis zur deutschen Geschichte des Nationalsozialismus im Jahr 1998 entfaltet hat.

8.1

Historische Hintergründe und politische Kontexte der Walser-Bubis-Debatte

Bevor eine analytische Rekonstruktion des Diskursereignisses der Walser-BubisDebatte geleistet werden soll1 , erfolgt zunächst eine Kontextualisierung der zeithistorischen und politischen Zusammenhänge, in deren Rahmen sich die Debatte um das erinnerungspolitische Verhältnis zur deutschen Geschichte des Nationalsozialismus und zu der im deutschen Namen begangenen Verbrechen im Jahr 1998 entfaltet hat. In ihrer politisch-kulturellen Bedeutung wird die Debatte um Vergangenheitsbewältigung in der historisierenden, wissenschaftlichen Aufarbeitung wie der zeitgenössischen, medialen Begleitung gleichermaßen als »Einschnitt« (Funke, Brumlik und Rensmann 2004: 9) als »eine der heftigsten Debatten um den Umgang mit der NS-Vergangenheit« (M. N. Lorenz 2015: 321), als Aufkündigung eines erinnerungspolitischen »Konsens« (Funke 2004: 15), als »wohl prominenteste[s] Beispiel« (Breuer 2015: 49) für die Mechanismen der Erinnerungsabwehr oder »als Eklat von nachhaltiger Wirkung für das deutsche Geschichtsbewusstsein« (Sack 2016: 60) bezeichnet. Aus diesem Grund erscheint es relevant, die Debatte als maßgeblich strukturierendes Diskursereignis über antisemitische Grenzziehungen einzuordnen. Der historische Kontext wird dabei häufig vor dem Hintergrund einer Reihe zeitgeschichtlicher und für das nationale Identifikationsbedürfnis der deutschen Gesellschaft maßgeblicher Wendepunkte der nationalen Geschichtserzählung betrachtet. Hierzu zählen insbesondere die deutsche Wiedervereinigung 1990 und der damit einhergehende Beschluss, einen Umzug der Hauptstadt des »neuen« Deutschlands von Bonn in die »alte« Hauptstadt nach Berlin vorzunehmen. Dadurch wurden Fragen positiver Identitätsvorstellungen in Anbetracht einer nationalen Verbrechensgeschichte im Diskurs des »Nationalen« relevant (Haber-

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An dieser Stelle soll es nicht darum gehen, eine präzise Kartierung des Diskursverlaufes zu leisten; das wurde bereits an anderer Stelle sehr ausführlich getan (Brumlik, Funke und Rensmann 2004, Rensmann 2004a, Piwoni 2012). So ist es auch weniger die Erkenntnis, dass es sich bei der Walser-Bubis-Kontroverse um einen schuld- und erinnerungsabwehrenden Schlussstrichdiskurs nationaler Normalisierung, die im Zentrum der Auswertung steht, handelt. Vielmehr dient hier die Analyse der Paulskirchenrede Martin Walsers und der daran anschließenden Debatte um historische Schuld und eine neue »deutsche« Normalität nationaler Identifikation einem zweigeteilten empirischen Erkenntnisinteresse: Erstens die Illustration des taxonomischen Analysemodells antisemitischer Grenzziehung und die Rekonstruktion ihrer Verwendungspraxis in einem spezifischen kulturellen Kontext. Zweitens die genealogische Untersuchung der Wandelbarkeit antisemitischer Klassifikationsweisen in einer diachron angelegten Längsschnittstudie.

8 Das Diskursereignis der Walser-Bubis-Debatte

mas 1995; Kreft, Uske und Jäger 1999; C. Lutz 2002; Caborn 2006).2 Im unmittelbaren Zusammenhang mit der Rede des Bestsellerautors Martin Walser stand der Streit um den Bau des Holocaustmahnmals, d.h. um die Errichtung eines zentralen Erinnerungsortes für die durch die deutsche Nation begangene Ermordung der europäischen Jüd*innen, und die gleichermaßen öffentliche, wie erheblich antisemitisch aufgeladene Kontroverse um Entschädigungszahlungen der deutschen Industrie und des deutschen Staates an ehemalige NS-Zwangsarbeiter. Diese, das kollektive Gedächtnis, berührenden Debatten repräsentieren in den symbolischen Kämpfen über die legitime Bedeutung des Nationalen Konflikte um das nationale Selbstverständnis der »Berliner Republik« und ihres wiederhergestellten, nationalen wie machtpolitischen Selbstbewusstseins (Becker 2013). Dabei ist insbesondere hervorzuheben, dass die Restauration des nationalen Selbstbildes und seiner sinngebenden Symboliken nicht durch eine konservative Regierung getragen und durchgeführt wurde, sondern durch eine ihrem politischen Selbstverständnis nach Mitte-Links-Regierung, bestehend aus einer Koalition von Sozialdemokraten (SPD) und Bündnis 90/Die Grünen. Stellvertretend hierfür steht eine Aussage des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD), der in einer programmatischen Regierungserklärung zum Amtsantritt der rot-grünen Bundesregierung 1998 das »Selbstbewußtsein einer erwachsen gewordenen Nation« (zit.n.: Rensmann 2004b: 67) beanspruchte und damit die narrativen Leitlinien des Normalisierungsdiskurses der post-nazistischen Täter-Nation skizzierte. Ausgangspunkt der bundesdeutschen Kontroverse um die Bewertung und Bedeutung der NS-Vergangenheit war die Dankesrede des Schriftstellers Martin Walser, die der Autor am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels vor einem stehend applaudierenden Publikum aus gesellschaftlichen und kulturellen Eliten sowie politischen Funktionsträger*innen hielt. Dabei lässt sich der Debattenverlauf im Wesentlichen in zwei Phasen unterteilen3 : Zunächst wäre da die Rede Walsers selbst, in der der Schriftsteller »die Instrumentalisierung unserer Schande [der Shoa, d. Verf.] zu gegenwärtigen Zwecken« (FAZ 1998a) beklagt. Zu dieser ersten Phase gehört auch eine erste kritische Replik des bei der Preisverleihung anwesenden Ignatz Bubis, dem Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, in der er den Vorwurf einer »geistigen Brandstiftung« an Walser richtete. War die mediale Rezeption zu diesem Zeitpunkt noch durch einen verhältnismäßig geringen Grad der Emotionalisierung charakterisiert, änderte sich die Vehemenz, mit der die Debatte geführt wurde, im Anschluss an die Rede von Bubis anlässlich des Jahrestages der Reichspogromnacht am 9. November 1998. In dieser Rede nahm Bubis detailliert auf die Preisrede Walsers Bezug und wiederholte seinen Vorwurf der »geistigen Brandstiftung«. Diese zweite Phase, die in Leserbriefen oder in den Feuilletons großer Tages- und Wochenzeitungen durch zahlreiche Diskursinterventionen von Personen des öffentlichen Lebens begleitet wurde, endete am 13.12.1998 in den Redaktionsräumen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit einem als »Aussprache«

2 3

Eine konzise Gesamtdarstellung dieses diskursiven Wandels und der damit einhergehenden Deutungskonflikte liefert Becker (2013). Die Einteilung und Einordnung folgt hier und im weiteren Verlauf der Strukturierung von Piwoni (2012).

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

apostrophierten Gespräch zwischen den beiden Kontrahenten Walser und Bubis sowie Frank Schirrmacher (FAZ) einerseits und Salomon Korn vom Zentralrat der Juden andererseits. Vor diesem historischen Hintergrund soll die interpretative Rekonstruktion des Diskursereignisses der Walser-Bubis-Kontroverse nun mehrdimensionale Konstruktionsweisen antisemitischer Grenzen in einem diskursiven Feld der nationalen Selbstverständigung und Erinnerung sichtbar machen. Dabei soll empirisch offen danach gefragt werden, wie situativ wirksame Konstruktionsprozesse antisemitischer Grenzziehungen hergestellt werden, die »Jüd*innen« und »Deutsche« entlang des Zusammenspieles ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Unterscheidungszeichen als unterscheidbare und ungleichartige Gruppen einteilen. Welches prozessuale Zusammenspiel heterogener Differenzlinien lässt sich in der Verwendungspraxis sozialer Akteur*innen feststellen? Gibt es eine dominante Achse der Ungleichheit, die sich an den kategorialen Kreuzungen herauskristallisiert? In der Walser-Bubis-Kontroverse werden Formen des kollektiven Gedenkens und Erinnerns durch die Anwendung ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Unterscheidungszeichen als fragloser Ausdruck mehrdimensional verschränkter Gruppendifferenzen gedeutet, in denen eine klare Grenzziehung von »Deutschen« gegenüber Jüd*innen politisch relevant wird. Dabei hat die Analyse der symbolischen Deutungskämpfe um die Bedeutung der Erinnerung zentrale Ergebnisse der Interpretation hervorgebracht, die wiederum das prozessuale Ineinandergreifen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Klassifikationsmuster des Antisemitismus als Praxistypen der Grenzziehung sichtbar machen: Nationale Gruppenzugehörigkeiten zu einer vorgestellten, politischen Schicksalsund Erinnerungsgemeinschaft werden in schuld- und erinnerungsabwehrenden Diskursen der nationalen Selbstverständigung auf der Grundlage des Klassifikationsmusters der kollektiven Erinnerung an den Holocaust hergestellt. a) Im Zusammenspiel mit ethnisierten Klassifikationsmustern wird die historische »Schuld« des Holocaust als exkludierendes nationales Unterscheidungszeichen des genealogischen Mythos einer kollektiv geteilten »Schande« der ethnisierten »Kulturnation« und ihres »Nationalgewissens« konstruiert, um Jüd*innen durch kulturalisierende Fremdheitskonstruktionen auszuschließen. b) Im Zusammenspiel mit rassialisierten Klassifikationsmustern wird die historische »Schuld« des Holocaust als nationales Unterscheidungszeichen einer biologisch definierten »Volksnation« und ihres »Nationalgewissens« angeeignet, um biologisierte oder naturalisierte Ungleichheiten von Jüd*innen zu begründen.

Daneben konnte auch die nur temporäre Stabilisierung der etablierten Grenzordnung durch Mechanismen des boundary blurring rekonstruiert werden, in denen Akteur*innen die antisemitischen Unterscheidungsmuster in der Bewertung der kollektiv geteilten Vergangenheit infrage stellen und/oder nicht-antisemitische Formen der Grenzziehung ins Zentrum der Aushandlung rücken. Dabei wurden im Rahmen der Analyse der symbolischen Deutungskämpfe über die legitimen Formen des Holocaust-Gedenkens auch zwei dominante Repertoires eines Typus der Grenzverwischung rekonstruiert:

8 Das Diskursereignis der Walser-Bubis-Debatte

Grenzverwischungstypen der Angleichung begegnen Stigmatisierung und Ausgrenzungen, die während der erinnerungspolitischen Walser-Bubis-Kontroverse aufkamen, durch die Betonung inklusiverer Zugehörigkeitskonstruktionen. c) Das Grenzverwischungsrepertoire des »linksliberalen Republikanismus« zielt auf Prozesse der Inklusion von Jüd*innen und betont staatsbürgerlich-politische Zugehörigkeitskriterien des »Nationalen«. d) Das Grenzverwischungsrepertoire des »Anti-Antisemitismus« zielt auf Prozesse der Exklusion und betont die partikulare Beschränktheit ethnisierter und nationalisierter Differenzkonstruktionen, die von einer nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft gegenüber der jüdischer Minderheit hergestellt werden.

8.2

»Schuld«, »Schande« und »Gewissen« – Erinnerungsdiskurse als mehrdimensionale Grenzziehungsprozesse des Antisemitismus »Aber in welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein normales Volk, eine gewöhnliche Gesellschaft?« (FAZ 1998a)

Im folgenden Kapitel stehen Grenzziehungsprozesse in kulturellen Aushandlungen über legitime Formen der Erinnerung an den Nationalsozialismus im Mittelpunkt der Betrachtung, um am Fallbeispiel der vergangenheitspolitischen Walser-BubisKontroverse die Plausibilität und Konsistenz der taxonomischen Analysekategorien soziokultureller Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen zu überprüfen. Dabei soll dargestellt werden, wie durch den prädominant nationalisierten »Schuld«- und »Schande«-Diskurs ein simultanes Zusammenspiel mit ethnisierten und/oder rassialisierten Differenzkategorien in den antisemitischen Klassifikationsstrategien sozialer Akteur*innen sichtbar wird, um Unterscheidungen, die von der »deutschen« Mehrheit gegenüber der jüdischen Minderheit artikuliert werden, zu legitimieren. Ausgehend von den taxonomischen Analysekategorien antisemitischer Grenzziehungen lässt sich zunächst feststellen, dass nationalisierte Formen der Zugehörigkeit über den Glauben an eine kollektiv geteilte Vergangenheit der politisch-territorialen Gemeinschaft einer »Nation« hergestellt werden (siehe Kapitel 6.1). Prozesse der Ethnisierungen enthalten Klassifikationsrepertoires, die genealogische Zusammengehörigkeit durch die sozialhistorisch überlieferte Tradierung einer gemeinsamen Geschichte konstruieren. Prozesse der Rassialisierung biologisieren irreduzible Merkmale oder wesenhaft negative Eigenschaften von Jüd*innen. Dabei können über die Konstruktion einer nationalen »Fremdgruppe« der Jüd*innen in Diskursen der nationalen Selbstverständigung antisemitische Klassifikationsrepertoires reproduziert werden, deren kontingente Erscheinungsform Resultat mehrdimensionaler Klassifikationspraxen ist. Im Anschluss an Weber (2002) liegt das symbolische Fundament von Nationalisierungsprojekten in ihrer Funktion als Erinnerungsgemeinschaft begründet, weil der Mythos

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8 Das Diskursereignis der Walser-Bubis-Debatte

Grenzverwischungstypen der Angleichung begegnen Stigmatisierung und Ausgrenzungen, die während der erinnerungspolitischen Walser-Bubis-Kontroverse aufkamen, durch die Betonung inklusiverer Zugehörigkeitskonstruktionen. c) Das Grenzverwischungsrepertoire des »linksliberalen Republikanismus« zielt auf Prozesse der Inklusion von Jüd*innen und betont staatsbürgerlich-politische Zugehörigkeitskriterien des »Nationalen«. d) Das Grenzverwischungsrepertoire des »Anti-Antisemitismus« zielt auf Prozesse der Exklusion und betont die partikulare Beschränktheit ethnisierter und nationalisierter Differenzkonstruktionen, die von einer nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft gegenüber der jüdischer Minderheit hergestellt werden.

8.2

»Schuld«, »Schande« und »Gewissen« – Erinnerungsdiskurse als mehrdimensionale Grenzziehungsprozesse des Antisemitismus »Aber in welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein normales Volk, eine gewöhnliche Gesellschaft?« (FAZ 1998a)

Im folgenden Kapitel stehen Grenzziehungsprozesse in kulturellen Aushandlungen über legitime Formen der Erinnerung an den Nationalsozialismus im Mittelpunkt der Betrachtung, um am Fallbeispiel der vergangenheitspolitischen Walser-BubisKontroverse die Plausibilität und Konsistenz der taxonomischen Analysekategorien soziokultureller Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen zu überprüfen. Dabei soll dargestellt werden, wie durch den prädominant nationalisierten »Schuld«- und »Schande«-Diskurs ein simultanes Zusammenspiel mit ethnisierten und/oder rassialisierten Differenzkategorien in den antisemitischen Klassifikationsstrategien sozialer Akteur*innen sichtbar wird, um Unterscheidungen, die von der »deutschen« Mehrheit gegenüber der jüdischen Minderheit artikuliert werden, zu legitimieren. Ausgehend von den taxonomischen Analysekategorien antisemitischer Grenzziehungen lässt sich zunächst feststellen, dass nationalisierte Formen der Zugehörigkeit über den Glauben an eine kollektiv geteilte Vergangenheit der politisch-territorialen Gemeinschaft einer »Nation« hergestellt werden (siehe Kapitel 6.1). Prozesse der Ethnisierungen enthalten Klassifikationsrepertoires, die genealogische Zusammengehörigkeit durch die sozialhistorisch überlieferte Tradierung einer gemeinsamen Geschichte konstruieren. Prozesse der Rassialisierung biologisieren irreduzible Merkmale oder wesenhaft negative Eigenschaften von Jüd*innen. Dabei können über die Konstruktion einer nationalen »Fremdgruppe« der Jüd*innen in Diskursen der nationalen Selbstverständigung antisemitische Klassifikationsrepertoires reproduziert werden, deren kontingente Erscheinungsform Resultat mehrdimensionaler Klassifikationspraxen ist. Im Anschluss an Weber (2002) liegt das symbolische Fundament von Nationalisierungsprojekten in ihrer Funktion als Erinnerungsgemeinschaft begründet, weil der Mythos

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

einer Nation und ihre je spezifische Zugehörigkeitsordnung durch die Legitimationsquelle historischer Ereignisse, Symbole und Geschichten konstruiert wird. Mit Blick auf die nationalsozialistische Vergangenheit der deutschen Nation und das Menschheitsverbrechen des Holocaust stellen – häufig schuldentlastende – Fragen des legitimen Gedenkens und kollektiven Erinnerns, wie sie in den symbolischen Kämpfen der WalserBubis-Debatte gestellt wurden, einen wirkmächtigen Referenzpunkt antisemitischer Grenzziehungen dar. Im Zentrum steht dabei das Bedürfnis nach Normalisierung der nationalen Kollektividentität durch eine positive Wiederaneignung der schuldbehafteten Vergangenheit mit dem Ziel, die gebrochene Kontinuitätsfiktion der nationalen Selbsterzählung zu überwinden. Dies gelingt durch interrelationale Aktualisierungen sekundärantisemitischer Täter-Opfer-Umkehrungen, die besonders kennzeichnend für nationalisierte Grenzziehungen des Antisemitismus sind. In der sogenannten Walser-Bubis-Debatte, als deren Ausgangspunkt Martin Walsers Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels gilt, wird Nationalisierung als kontingente Klassifikationspraxis des »Nationalen« durch Prozesskategorien nationaler Selbstidentifikation wahrnehmbar, die in den erinnerungspolitischen Aushandlungen über die kategoriale Trias »Schuld«, »Schande« »und »Gewissen« hergestellt wird. In Anlehnung an Rogers Brubaker können diese Bedeutungsträger als gruppistische, d.h. substanzialisierende, Kategorien der Praxis interpretiert werden, weil sie über das Zusammenspiel mit ethnisierten und auch rassialisierten Gemeinschaftscodes eine genealogisch-ethnische oder biologisierend-rassialisierte Abstammungs- und Schicksalsgemeinschaft der »deutschen Nation« im Sinne eines Doing Nation begründen. In einem ersten Schritt wird daher zunächst das nationalisierende Klassifikationsmuster der kollektiven Erinnerung an die »Holocaust-Schuld« als mehrdimensionaler Konstruktionsmechanismus der Artikulation eines nationalen »Wir« der politischen Erinnerungs- und Schicksalsgemeinschaft diskutiert. Ich werde dabei im Folgenden zeigen, wie sich die Klassifikationen von »Schuld«, »Schande« und »Gewissen« als Repertoires von legitimen Annahmen der nationalisierenden Selbstidentifikation darstellen. Damit werden dominante Bewertungsmuster der nationalsozialistischen Vergangenheit als Kategorien der Praxis rekonstruiert (categories of practice) rekonstruiert, die einerseits das umkämpfte Selbstverständnis der post-nazistischen Erinnerungsgemeinschaft zu normalisieren versuchen und damit andererseits antisemitische Klassifikationsrepertoires reproduzieren, die jüdische (Opfer-)Erinnerung en passant als das ungleichwertige »Andere« der nationalen Narration abwertend markieren. Prototypisch für die erinnerungs- und schuldabwehrende Deutung des Holocaust als eine der konkreten Zeitlichkeit begrifflich enthobenen »Schande«, die zudem wie eine nationale Erniedrigung oder kollektives Stigma der ingroup codiert wird,4 steht die folgende Äußerung Martin Walsers:

4

Der Begriff der »Schande« spielt auf der etymologischen Ebene bewusst mit zwei Bedeutungen des Terms: Einmal »Schande« als Form der Erniedrigung, die von außen an das nationale Kollektiv herangetragen wird. Daneben steht sie für einen empörenswerten Zustand, der den Holocaust in Form einer kategorialen Selbststigmatisierung identifikatorisch wahrnehmbar macht.

8 Das Diskursereignis der Walser-Bubis-Debatte

Jeder kennt unsere geschichtliche Last [nationale Zugehörigkeit: Geschichte], die unvergängliche Schande [genealogisch: Schicksal], kein Tag, an dem sie uns nicht vorgehalten wird. (FAZ 1998a)5 Am Beispiel der symbolischen Bedeutung des Identifikationsträgers der nationalen »Schande« zeigt sich hier das interrelationale Zusammenwirken ethnisierter und nationalisierter Klassifikationsmuster in der Aneignung der Praxiskategorie »Nation«. Durch den Bezug auf die politische Gemeinschaft der »Nation« – als deren Signifikat das nationale Ereignis der Shoa gilt – und durch die Repräsentation einer »unvergänglichen Schande« für die Verbrechen des Holocaust, die als Kontinuitätsfiktion einer gemeinschaftlichen Vergangenheit von ethnisiert »Deutschen« gelesen werden kann, erscheint hier die Selbstidentifikation einer »deutschen« Schuld als genealogisches Abstammungsmerkmal der nationalisierten Kerngruppe. Von entscheidender Relevanz ist hierbei die diskursive Gegenstandsformierung der »Schande« als Art symbolische Verknüpfung von Vergangenheit und Zukunft der politischen Erinnerungsund Schicksalsgemeinschaft. Als negativer Identifikationspol konstituiert sich der Holocaust demzufolge symbolisch zu einem essentialisierten Identitätsmerkmal der »Nation«. Entsprechend artikuliert sich die mit einer schicksalhaften Bedeutung versehene »Last« der nationalsozialistischen Vergangenheit als Quelle der Legitimation eines explizit ethnisierten Selbstverständnisses der deutschen (Täter-)Nation, etwa wenn es unter nationalisiertem Ausschluss der erinnerungsfremden Gruppe der Jüd*innen heißt: Wir – die Nachgeborenen [ethnisiert: genealogische Abstammung] – müssen dieses deutsche Schicksal [ethno-national: belastete Zukunft der Nation] annehmen. Und: Wir können unseren Nachbarn und der Welt dann wieder aufrecht und stolz begegnen, wenn wir unserer Geschichte in den Nazi-Jahren ins Auge sehen; wahrhaftig, demütig und ohne uns abzuwenden [national: negative Legitimation]. So müssen wir als nichtjüdische Deutsche handeln [ethno-nationale Erinnerungsgrenze: jüdische NichtZugehörigkeit]. (FAZ 1998b) In einem weiteren Diskursfragment wird der quasi ontologische Charakter eines transzendentalen und beinahe sakralisierten Schicksalszusammenhanges der »deutschen« Schuld, die als symbolische Gemeinschaftsressource eine temporale Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herstellt, noch deutlicher. So widerspricht hier eine Sprecher*in der These des damaligen Zentralratsvorsitzenden, dass sich Walser der erinnerungspolitischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust verweigert, und betont: Er [Bubis, d. Verf.] verkennt, dass Walser das Gedenken als eine religiöse Grösse retten will [ethno-religiös: sakralisiertes Gedenken], als innerste Angelegenheit jedes Deutschen, vor der es qua Geburt [rassialisiert: Abstammung] und nationaler Geschichte [ethno-nationalisiert: »deutsche« Geschichte] kein Entrinnen gibt. (Taz 1998b)

5

In den folgenden Diskursanalysen werden antisemitische Kategorien der Praxis durch eckige Klammern innerhalb von Blockzitaten markiert.

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Ganz ähnlich kategorisiert auch folgende Sequenz die schuldhafte Verstrickung der deutschen Nation als Überlagerung ethnisierter – über die sozialhistorische Überlieferung einer gemeinsamen Geschichte – und rassialisierter – über ein biologisiertes Abstammungsverhältnis zwischen Täter*innen und ihren Nachkommen – Zugehörigkeitsmerkmale, die entsprechend der taxonomischen Analysekategorien als sich überlagernde Gemeinschaftscodes einer ethnisierten »Kultur«- und rassialisierten »Volksnation« eingeordnet werden können: Die deutsche Identität, von der jetzt so oft und leider auch oft so unpräzise die Rede ist, diese deutsche Identität wird heute eben durch nichts deutlicher definiert als durch unsere gemeinsame Abkunft aus dieser schändlichen Zeit [ethnisiert: gemeinsame Geschichte]; als durch die gemeinsame Abkunft von denen, die es taten, die es begrüßten oder die es doch mindestens zuließen [rassialisiert: biologische Abstammung]. (FAZ 1998b) Die Verwendung der Praxiskategorie einer deutschen »Schande« als primordiale Kategorie der kollektiven Sinnstiftung erzeugt demzufolge im Prozess ihrer Aktivierung Zugehörigkeit, weil sie als Narrativ »erzählt, was es heißt[,] zu dieser Nation zu gehören« (Yurdakul und Korteweg 2016: 22). Als mythologische Leiterzählung ruft sie ethnisch zugehörige Mitglieder der deutschen Nation in den nationalen Diskurs hinein; so auch in dem folgenden Beispiel, das mit religiöser Symbolik versucht, die mythologische Leiterzählung des vermeintlichen Stigmas einer kollektiven »Schuld« als nationalen Urmythos zu reproduzieren: Deutschland ist gezeichnet, und wir Deutsche tragen dieses Kainsmal [ethno-national: Urmythos]. Nichts prägt folglich auch das deutsche Bewußtsein heute tiefer, als dies zu wissen – und zu erfahren [ethno-national: Genealogie]. (FAZ 1998b) Die Konstruktionslogik dieser gewissermaßen mythologisierten Narration des Holocaust lässt sich mit Bhabha (1990; 2011) als Vorstellung einer spezifischen nationalen Zeitlichkeit interpretieren. So stellt sich die performative Aneignung der Vergangenheit als kontingente Herstellungspraxis nationaler Sinngebung dar, in deren Folge die nationalhistorische Repräsentation des Nationalsozialismus ihres konkreten zeitlichen und sozialen Kontextes enthoben und von konkreten handelnden Subjekten und Ereignissen gelöst wird. Stattdessen wird der Massenmord an den europäischen Jüd*innen zu einem Symbol ohne konkreten Gegenwartsbezug, das es ermöglicht, eine andere Linearität der Geschichte zu erzählen. Dies gelingt etwa, wenn von einem »Schrecken« die Sprache ist, der sich »hinter der Hieroglyphe Auschwitz« verbirgt (Spiegel 1998b), Auschwitz also als rein zeichenhaftes Symbol einer weit zurückliegenden Vergangenheit klassifiziert wird. Eine ähnliche diskursive Wirkung entfalten auch Sequenzen, in denen die zeitliche Verbindung von nazistischer Vergangenheit und postnazistischer Gegenwart durch erinnerungsabwehrende Formulierungen wie den Taten der deutschen »Vorfahren« (FAZ 1998c) oder den »Verbrechen vorangegangener Generationen« (FAZ 1998b) entkoppelt wird. Wurde durch das Klassifikationsmuster von »Holocaust-Schuld und -Schande« bislang ein Repertoire von Merkmalen der nationalen Gruppenidentifikation herausgearbeitet, die sich als lokal-historisch spezifische Zugehörigkeitskriterien in schuldab-

8 Das Diskursereignis der Walser-Bubis-Debatte

wehrenden Bewertungs- und Zuschreibungsprozessen der kollektiven Erinnerung gleichermaßen rassialisiert wie ethnisiert artikulieren, berührt die Frage des »Gewissens« symbolische Deutungskonflikte über legitime Formen der kommemorativen Erinnerung der Shoa und ihrer Stellung im öffentlichen Raum.

8.2.1

»Mit seinem Gewissen ist jeder alleine« – Das Täter-Wissen um den Holocaust als nationale Legitimationsressource

In dem Diskurs über die angemessene Repräsentation von Holocaust und Nationalsozialismus als Wissensreservoir der deutschen Nationalgeschichte wird das »Gewissen« als erinnerungsabwehrende Praxiskategorie eingeführt, um eine Rehabilitation des schuldbelasteten nationalen »Selbst« zu ermöglichen. Zunächst wird dabei an prominenter Stelle durch Martin Walser selbst zwischen den als künstlich, nicht authentisch und ungenügend wahrgenommenen öffentlichen Gedenkritualen einerseits und der vermeintlich einzig natürlichen, über das Gewissen vermittelten, Form der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus andererseits unterschieden: Mit seinem Gewissen ist jeder allein. Öffentliche Gewissensakte sind deshalb in der Gefahr, symbolisch zu werden. Und nichts ist dem Gewissen fremder als Symbolik, wie gut sie auch gemeint sei [nationale Erinnerung: öffentlich vs. privat]. Diese »durchgängige Zurückgezogenheit in sich selbst« ist nicht repräsentierbar. Sie muß »innerliche Einsamkeit« bleiben. (FAZ 1998a) Die Ablehnung jeder Form des öffentlichen Gedenkens des Holocaust erfolgt dabei über die Ontologisierung einer Sphäre gewissenhafter Innerlichkeit, die Schuld und Verantwortung« der deutschen Nation für den Holocaust als Aufarbeitungsauftrag an das individuelle Gewissen begreift: Doch es geht ihm [Walser, d. Verf.] […] um eine Abkehr vom öffentlichen Gedenken insgesamt – um eine Art Ontologisierung des individuellen Gewissens als einzig möglicher Ort der Erinnerung. Der politische, symbolische Raum erscheint so als ein per se untaugliches Terrain authentischer Erinnerung [national: nicht-öffentliches Gedenken]. (Taz 1998c) Entsprechend der dichotomen Gegenüberstellung von legitimer »innerlicher«, d.h. »menschliche[r] Form des Gedenkens« (FAZ 1998b) und illegitimem öffentlichem Erinnern werden die ritualisierten Gedenkpraktiken und institutionalisierten Erinnerungsrituale des Holocaust abwertend als »bloße Lippenbekentnisse« (Taz 1998b) oder von der »Qualität Lippengebet« (FAZ 1998a) bezeichnet. Mehr noch werden sie als durch die »Niederungen der Tagespolitik« korrumpierte »Gedenkinszenierungen« (ebd.), in denen »Worte zu Floskeln werden können, zu Betroffenheitschiffren« (Taz 1998c), als »routinierte Reue« (Spiegel 1998b), »Pflichtübung« (FAZ 1998a), zur »bequemen Routine« (FAZ 1998b) oder »Drohroutine« (ebd.) delegitimiert, die insgesamt »mit denen des Eingedenkens wenig zu tun haben« (FAZ 1998c). Die Folgen beschreibt eine Sprecher*in daher folgendermaßen: »Das Gedenken als eine moralische Kategorie und Frage des persönlichen Gewissens […], droht dabei verlorenzugehen« (Taz 1998b).

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Markiert die ethnisierende Kategorisierung einer »Schande« des Holocaust die kollektive Sinnstiftung einer mythologischen Leiterzählung, fungiert das »Gewissen« in den symbolischen Kämpfen über die legitimen Formen der Erinnerung als symbolischer Code für die »Nation« selbst, indem es als »natürliches« Zugehörigkeitsmerkmal eines ethnisiert »Deutschen« definiert wird. So heißt es: Denn Walsers Rede war die Klage eines Deutschen [ethnisiert: Zugehörigkeit] – allerdings eines nichtjüdischen Deutschen – über den allzu häufigen Versuch anderer, aus unserem Gewissen [ethno-national: Nationalbewusstsein] eigene Vorteile zu schlagen.« (FAZ 1998b) Ich werde in Abschnitt 8.3 auf die Implikationen des Vorwurfes der HolocaustInstrumentalisierung für die soziokulturelle Konstruktionslogik nationalisierter Grenzziehungen des Antisemitismus eingehen. An dieser Stelle erscheint die ethnisierte Chiffrierung der »Nation« als manichäisches Gebilde eines romantisierten »Nationalbewusstseins« bedeutsam. Die Psychologisierung eines »Nationalbewusstseins« zeigt sich demzufolge als mehrdimensionale Praxiskategorie, die den ethnisierten Schicksalszusammenhang als Legitimationsprinzip der deutschen Identität weiter begründet und die Metapher des »Gewissens« als Zugehörigkeitskriterium konstituiert. Das Verbrechen der jüdischen Massenvernichtung wird auf diese Weise zu einem exklusiven, d.h. Leiden verursachenden, Problem der postnazistischen Tätergesellschaft. Folgende Sequenz veranschaulicht, wie die Katachrese des »Gewissens« das hegemoniale Narrativ der ethno-national definierten Schicksals- und Abstammungsgemeinschaft stabilisiert: Martin Walser ist […] ein vom Gewissen bedrängter Deutscher [ethno-national: Nationalbewusstsein]. Seine Rede war die Klage eines persönlich unschuldigen Deutschen [ethno-national: Schuldentlastung], der sich in der historischen Haft weiß [national: Holocaust-Schicksal], in einer Schande für die Verbrechen vorangegangener Generationen [ethno-national: Schicksalsgemeinschaft] […]. Es war die verständliche, ja notwendige Klage eines gewissenhaften nichtjüdischen Deutschen [ethnisiert: jüdischer Erinnerungsausschluss] über das schwierige Schicksal, heute ein solcher Deutscher zu sein [ethno-national: schicksalhafte Last]. (FAZ 1998b) Nach Assmann (2006) werden kommemorative Formen des ritualisierten öffentlichen Erinnerns und die damit einhergehende Durchsetzung bestimmter geschichtlicher Leitbilder als zentraler Austragungsort für die Aushandlung des nationalen Selbstverständnisses und seiner moralischen Qualitäten verstanden. Demzufolge muss die hier reproduzierte Unterscheidungspraxis eines erinnerungspolitischen Primats des Gewissens entsprechend der taxonomischen Analysekategorien als eine Reproduktion schuld- und erinnerungsabwehrender Klassifikationsrepertoires nationalisierter Grenzziehungen interpretiert werden. So lässt sich die Verinnerlichung des Schuldund Erinnerungsdiskurses als Code der Schuldentlastung verständlich machen. Die Zurückweisung von Schuld gelingt dabei durch die diskursive Externalisierung des Holocaust als etwas der nationalen Narration Fremdes, dem jedes Verständigungspotenzial als eine symbolische Gemeinschaftsressource abgesprochen wird. Prägnant wird die sekundärantisemitische Konstruktionsweise nationalisierter Schuldent-

8 Das Diskursereignis der Walser-Bubis-Debatte

lastung auf die folgende Formel gebracht: »Gewissen ist nicht delegierbar« (FAZ 1998a). Mit anderen Worten: »Vergessen kann man sowenig dekretieren wie Erinnerung« (Spiegel 1998b). Das Dogma der nicht-öffentlichen Erinnerung, hier codiert als Gewissensfreiheit, repräsentiert in der symbolischen Ordnung der »Nation« die Bedeutungsträger nationaler Souveränität, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Als Signifikationen nationaler Sinngebung bringen sie daher erinnerungspolitische Deutungsmacht über die Frage zum Ausdruck, welchen Ereignissen, Geschichten und Personen(gruppen) in den ethnonational hergestellten Grenzen der nationalen Erinnerungsgemeinschaft gedacht werden soll. So wird die Problemlage der (nationalen) Gewissensfreiheit auch nur vor dem Hintergrund eines so interpretierten Erinnerungszwangs verständlich: »Er [Martin Walser, d. Verf.] sprach zur Verteidigung einer partikularen Lebensgeschichte und ihrer Erinnerung gegen die Zumutungen eines generellen Gedächtnisgebots.« (FAZ 1998c). Dementsprechend ergibt sich die Forderung nach nationaler Selbstbestimmung nicht trotz, sondern gerade wegen der schuldverstrickten Geschichte, die es jede*r einzelnen, ethnisch zugehörigen Deutschen offen hält, sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen: Walser befaßt sich mit der Schande ebendeswegen, weil seine Rede […] der Verteidigung seines persönlichen Gewissens dienen sollte: weil er eben in der deutschen Schande für die Verbrechen vorangegangener Generationen seine eigene Verantwortung, sein selbstbestimmtes Gewissen bewahren will [ethno-national: selbstbestimmte nationale Erinnerung]. (FAZ 1998b) Wird sich der Aushandlung über einen angemessenen Ort der Erinnerung im öffentlichen Raum entzogen, ist damit unzweifelhaft das Verlangen nach Normalisierung einer von Schuld befreiten nationalen Identität verbunden. Im Zentrum der Normalisierung steht das positive Identifikationsbedürfnis mit der nationalen Geschichte, d.h. die schuldentlastete Wiederaneignung der nationalen Vergangenheit, um den ethnisierten, aber gleichwohl beschädigten Kern der nationalen Abstammungsgemeinschaft bewahren zu können. Aus diesem Grund, der symbolischen Gleichsetzung von »Gewissen« und Nationalbewusstsein, erscheinen die Tendenzen zur Verinnerlichung, die hier als eine ethno-nationale Verwendungspraxis der sekundärantisemitischen Forderungen nach einem Schlussstrich auftaucht, als Ausdruck der Erinnerungsabwehr, die eine schuldbefreite nationale Identifikation (wieder) ermöglichen soll. Deutlich wird dieses Bedürfnis durch den, von Walser selbst artikulierten Wunsch danach, »Geschichte« als Legitimationsbasis nationaler Selbstidentifikation wiederherzustellen: »Ich halte es für unerträglich, die deutsche Geschichte – so schlimm sie zuletzt verlief – in einem Katastrophenprodukt enden zu lassen.« (FAZ 1998a). Die semantische Nähe von nationaler Wiederbesinnung der postnazistischen Täter-Gesellschaft und Schuldbefreiung wird in folgender Beobachtung des SPIEGELS über die Reaktionen auf die Walser-Rede illustriert, in der das Subjekt der Befreiung mit dem Identifikationsbedürfnis der nationalen ingroup zusammenfällt: Sie [die Rede Walsers, d. Verf.] wurde, »das ist unübersehbar, befreiend empfunden – das Gewissen befreiend«, wie Martin Walser in seiner Duisburger Rechtfertigungsrede selbst formulierte [ethno-national: schuldentlastend]. Doch wenn laut Walser und

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Dohnanyi jeder einzelne sich immer wieder aufs neue selbst und ganz alleine befragen muß, wie ist dann diese spontane, zustimmende Kollektivreaktion zu verstehen […]? (Spiegel 1998a) Durch das »nationale Gewissen« wurde eine schuld- und erinnerungsabwehrende Kategorie der ethnonationalen Selbstidentifikation sichtbar gemacht, die Mitglieder der ethnisch definierten Kerngruppe eine normalisierende Wiederaneignung der nationalen Vergangenheit ermöglichen soll, indem die Verbrechensgeschichte des Holocaust aus dem Kanon der nationalen Selbsterzählung ausgeschlossen wird. Davon ausgehend wird nun in einem nächsten Schritt durch das Klassifikationsrepertoire der »jüdischen Erinnerungsfremdheit« gezeigt, wie Jüd*innen als ethnisch ungleichwertige Träger*innen einer Erinnerungsdifferenz innerhalb eines symbolischen Kontextes nationaler Selbstverständigung kategorisiert und als »Fremde im Innern« positioniert werden.

8.2.2

»Der Schleier ist zerrissen«: jüdische Erinnerungsdifferenz

Bislang konnten durch das vergangenheitspolitische Klassifikationsmuster von »Schuld und Schande des Holocaust« prozessuale Mechanismen der Selbstidentifikation der nationalisierten Erinnerungsgemeinschaft sichtbar gemacht werden, die über die Verwendungspraxis ethnisierter, zum Teil auch rassialisierter, Gemeinschaftscodes einer nationalen »Schuld« und »Schande« sowie einer Metapher des nationalen »Gewissens« hegemoniale Zugehörigkeitskriterien der deutschen »Nation« artikuliert haben. Erinnerung und die konfliktuelle Verständigung über legitime Formen der ritualisierten öffentlichen Erinnerung werden hierbei fraglos als selbstverständlicher Ausdruck ethnischer Gruppenbeziehungen zwischen Jüd*innen und »Deutschen« gedeutet. Gemäß den theoretischen Grundlegungen des Grenzziehungsparadigmas werden antisemitische Grenzziehungen in relationalen Prozessen der Selbstidentifikation und Fremdkategorisierung gebildet. Antisemitische Klassifikationsrepertoires zeigen sich auf der Ebene der Analysekategorien soziokultureller Grenzziehungen des Antisemitismus als rassialisierte, ethnisierte oder nationalisierte Klassifikationsmuster des Antisemitismus, die auf der Ebene konkreter sozialer und kultureller Praktiken als kategoriale Verknüpfungen in einem lokal-historisch spezifischen Kontext artikuliert werden. So produziert der Diskurs nationaler Erinnerung fremdheitsgenerierende Klassifikationen, die in ihrer subjektiven Aneignung gesellschaftlich abrufbaren Wissens mehrdimensional verschränkte, hier ethnisierte und rassialisierte, Grenzen der Erinnerungsgemeinschaft herstellen. Als Grenzziehungsstrategie lässt das Klassifikationsmuster nationaler Erinnerung demnach Unterscheidungen zwischen dem ethnisch »Deutschen« gegenüber dem jüdischen »Fremden« sozial wirksam werden. Denn die hegemoniale Geschichtserzählung einer schicksalhaften Last der schuldverstrickten Vergangenheit erzeugt täterzentrierte Subjektpositionen der homogenisierten nationalen Erinnerungsgemeinschaft, die als nationaler Geschichtsmythos eo ipso das jüdische Opfernarrativ aus dem Diskurs nationaler Selbstverständigung ausschließt. Mit Blick auf den schuldabwehrenden Selbstverständigungsdiskurs des kollektiven Gedenkens der Shoa wird daher nun das antisemitische Klassifikationsrepertoire einer

8 Das Diskursereignis der Walser-Bubis-Debatte

»jüdischen Erinnerungsfremdheit« sichtbar gemacht, das jüdische Opfererinnerungen als das ethnisch »Andere« der »nationalen« Selbsterzählung kulturalisiert und damit Fremdzuschreibungen eines gruppenlogischen Deutungswissens über eine vermeintliche jüdische »Anpassungsunfähigkeit« und einen jüdischen »Opferpartikularismus« reproduziert. Beispielhaft beschreibt folgende Sequenz die prekäre Stellung jüdischer Erinnerung im nationalen Gedächtnisraum, als eine Zustandsbeschreibung: Seit gestern [dem Tag der Rede Walsers, d. Verf.] ist der Schleier zerrissen, den eine trügerische Vorstellung von »Gedächtniskultur« vor der Tatsache aufgespannt hatte, daß das Gedächtnis alles andere als einheitlich ist [ethno-nationale Differenz: ungleichwertige Erinnerung]. (FAZ 1998c) Sichtbar wird hier, dass die Aushandlung der gesellschaftlichen Bedeutung einer gemeinsamen Erinnerungskultur und ihrer hegemonialen Leitbilder aufgrund einer ethnisiert konstruierten Gruppendifferenz – »deutsche« und »jüdische« Erinnerung – abgelehnt wird. Im Anschluss an die Taxonomie der Analysekategorien antisemitischer Grenzziehungen sprechen wir hier von einem Zusammenspiel ethnisierter und nationalisierter Grenzziehungen. Durch die interrelationale Verwendungspraxis des Klassifikationsrepertoires der »jüdischen Erinnerungsfremdheit« stellen Akteur*innen eine symbolische Grenze zwischen dem »Innen« gegenüber dem »Außen« der nationalen Erinnerungsgemeinschaft her, die entlang der Dichotomie von national-zugehörigen »deutschen« Täter*innen und ethnisch nicht-zugehörigen »jüdischen« Opfern verläuft, wie folgendes Zitat zeigt: Noch nie seit Kriegsende gab es eine derart unmittelbare, öffentliche und folgenreiche Konfrontation zwischen prominenten Juden und Nichtjuden über den Gegenstand, der sie zutiefst entzweit, entzweien muß [ethno-national: unüberwindbare Erinnerungsdifferenz]: über den Holocaust und die Art und Weise, heute mit ihm umzugehen [ethno-national: Täter-Opfer-Wissen]. (Spiegel 1998a) In einem weiteren Diskursfragment begründet sich die ethno-national konstruierte Grenzziehung zwischen der hegemonialen nationalen »Wir«-Gruppe gegenüber der erinnerungsfremden Gruppe der Jüd*innen durch das genealogische Abstammungsmerkmal einer »deutschen Schande«. Insofern die Sinnzuweisung einer »jüdischen« Erinnerungsdifferenz in binärer Weise die Unvereinbarkeit von Täter- und OpferGedenken herausstellt, verkörpert das jüdische Leidensnarrativ ein ethno-nationales Unterscheidungszeichen und damit eine Abweichung von der symbolischen Zugehörigkeitsordnung des Nationalisierungsprojektes: Könnte es sein, daß die Intellektuellen, die sie [die Schande, d. Verf.] uns vorhalten, dadurch, daß sie uns die Schande [ethno-national: kollektive Geschichte] vorhalten, eine Sekunde lang der Illusion verfallen [ethno-national: unüberwindbare TäterOpfer-Grenze], sie hätten sich, weil sie wieder im grausamen Erinnerungsdienst [national: Erinnerung als Unterwerfungsritual] gearbeitet haben, ein wenig entschuldigt, seien für einen Augenblick sogar näher bei den Opfern als bei den Tätern? Eine momentane Milderung der unerbittlichen Entgegengesetztheit von Tätern und Opfern.

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Ich habe es nie für möglich gehalten, die Seite der Beschuldigten zu verlassen [ethnonational: genealogische Schicksalsgemeinschaft]. (FAZ 1998a) Entsprechend der taxonomischen Analysekategorien antisemitischer Grenzziehungen zeigt sich also über die Frage des legitimen Gedenkens, wie Jüd*innen durch das nationalisierte Klassifikationsmuster der kollektiven Erinnerung diskursiv als Träger*innen einer ungleichwertigen – das jüdische Erinnerungsbedürfnis irritiert das nationale Normalisierungsnarrativ – Differenz positioniert und damit als nationale »Fremdgruppe« konstituiert werden. Das (Ge-)Wissen um den Holocaust lässt sich nun im Sinne Armstrongs (1982) als symbolische Grenzmarkierung interpretieren, die mehr noch als hard border (Duara 1996) zwischen einem homogenisierten nationalen »Innen« gegenüber einem jüdischen »Außen« begriffen werden kann, weil sie eine unüberwindbare Differenz zwischen der ethno-national narrativierten mythologischen Leiterzählung des »Schuld«- und »Schanddiskurses« und dem kulturalisierten Opfernarrativ der jüdischen Minderheit markiert. Nationale Grenzen zwischen nicht-jüdischer Mehrheit gegenüber einer jüdischen Minderheit werden daher in ethnisierter Form durch zwei unvereinbare, »jüdische« und »deutsche« Erinnerungskulturen hergestellt. Als symbolisches Prinzip, das den Ausschluss der jüdischen »Fremdgruppe« aus der Zugehörigkeitsordnung des nationalen Erinnerungskollektivs strukturiert, fungiert darüber hinaus das negative Identifikationsmerkmal einer »deutschen Schuld«, das in der Unterscheidung zwischen jüdischem Opfernarrativ (Unschuld) und deutschem Täterwissen (Schuld) sichtbar wird. Ein Beitrag thematisiert die differenzlogische Binarität von Schuld/Unschuld am biographischen Beispiel des Holocaust-Überlebenden Ignatz Bubis: Ignatz Bubis ist als deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens – wie er sich selbst bezeichnet – selbstverständlich frei von diesem zentralen deutschen Erbe [ethno-national: hegemoniales Geschichtsbild]. Er ist ein Deutscher ohne schuldige Geschichte [nationale Nicht-Zugehörigkeit: jüdische Unschuld]. Seine Familie wurde von den Nazis ermordet, und er selbst konnte nur knapp entkommen. (FAZ 1998b) Eine Sprecher*in in der FAZ zeigt, wie das Bewertungs- und Unterscheidungsmuster kollektiver Erinnerung in nationalisierten Grenzziehungsprozessen als Kategorie der Praxis fungiert und durch das Zusammenspiel ethnisierter und nationalisierter Grenzziehungen Jüd*innen als nicht integrierbare nationale »Fremdgruppe« hervorbringt: Es existiert keine gemeinsame, alle unterschiedlichen Leidenserfahrungen dieses Jahrhunderts überwölbende Gedächtniskultur [ethno-national: Erinnerungsdifferenz]. Man kann des Holocaust nicht gedenken, wie man des Ersten Weltkrieges gedenken kann, Feinde von einst, heute versöhnt [ethno-nationale Grenze: unüberwindbare Vergangenheit]. (FAZ 1998c) Das ethnisierte Verständnis von Erinnerung folgt dabei der Logik antisemitischer Kollektivkonzeptualisierungen, indem das Handeln und Sprechen einzelner Jüd*innen als pars pro toto für die gesamte jüdische Gemeinschaft fungiert. Der Kritik Ignatz Bubisʼ an der revisionistischen Klagerede Martin Walsers wird dementsprechend nicht inhaltlich begegnet, sondern Bubis Sprecher*innenposition entlang des gruppistischen Sche-

8 Das Diskursereignis der Walser-Bubis-Debatte

mas ethnisierter »jüdischer« und »deutscher« Subjektpositionen gedeutet und damit als kategorialer Ausdruck seiner »jüdischen« Identität, d.h. einer homogenen »jüdischen« Weltauffassung bewertet: Walser hat recht. Bubis hat ihn nicht verstanden. Vielleicht auch gar nicht verstehen können [ethnisiert: Erinnerungsdifferenz]. Denn Walsers Rede war die Klage eines Deutschen – allerdings eines nichtjüdischen Deutschen [ethno-national: nicht-jüdische Vergangenheit] –[…]. (FAZ 1998b) Indem die abstrakt-ideelle »Verantwortung« für die »deutschen« Verbrechen des Zweiten Weltkrieges als negatives Legitimationsmerkmal und damit dominantes Mitgliedschaftskriterium der nationalen Gruppenidentität wirksam wird, erfolgt der dominanzkulturelle Ausschluss der erinnerungsfremden Gruppe der Jüd*innen durch die ungleiche Positionierung einer »jüdischen« und »deutschen« Verantwortung für die Geschichte des Nationalsozialismus. Folgende Sequenz zeigt, wiederum auf einer gruppistischen Gleichsetzung von Individuum und ethnisiert-jüdischer Gruppenposition aufbauend, wie das ethnisch-kulturalisierte Narrativ einer schicksalhaften Last der »Schuld« zu einer erinnerungspolitischen Fremdpositionierung des jüdischen »Anderen« führt. Hier stabilisiert sich die genealogische Gemeinsamkeit der nationalen ingroup durch die Differenzierung zwischen »Staatsbürgerschaft« und »Nationalität«: Bubis ist Jude [ethnisiert: Gruppismus], für ihn als Deutschen beginnt die Verantwortung erst nach dem Holocaust [ethno-national: Erinnerungsdifferenz]. Er ist deutscher Staatsbürger, aber er kann niemals – und wer würde das von ihm auch verlangen wollen! – sagen: Wir haben den Holocaust verschuldet [ethno-national: »Schuld« als Unterscheidungszeichen]. (FAZ 1998b) Zusammengefasst lässt sich am Beispiel der (nationalisierten) Erinnerungsdifferenz die ambivalente Repräsentationslogik des jüdischen »Fremden« respektive der jüdischen Figur des Dritten als mehrdimensionaler Modus ethno-nationaler Grenzziehungen sichtbar machen. Als Staatsbürger sind Jüd*innen zwar formaler Teil der »Nation«, ihre »jüdische« Mehrfachzugehörigkeit verhindert aber eine volle Integration in die Abstammungs- und Schicksalsgemeinschaft der deutschen »Kultur«- und »Volksnation«. Es zeigt sich hier, was Yuval-Davis (2011) für die Aushandlung von (nationalen) Zugehörigkeitsprojekten insgesamt festgestellt hat: Die affektive Ebene intersubjektiv geteilter Gemeinschaftsvorstellungen transzendiert die Grenze der rein rechtlichen Inklusion qua Staatsbürgerschaft. Ein Zusammenhang, für den die widerspruchsreiche Geschichte der jüdischen Integration in die nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaften Europas charakteristisch steht (Benz 2004). Die soziale Klassifikation einer ambivalenten Mehrfach-Zugehörigkeit des jüdischen »Fremden« muss in den symbolischen Kämpfen über den legitimen Inhalt des nationalen Erinnerungskanons als Resultat einer mehrdimensionalen Verwendungspraxis der Kategorisierung einer wurzellosen, jüdischen »Erinnerungsdifferenz« interpretiert werden. So wird der Ausschluss des hybriden »Fremden« durch die kontingente Re-Artikulation des tradierten antisemitischen Stereotyps eines anpassungsunfähigen jüdischen »Partikularismus« begründet. Dieses ethnisierte Klassifikationsrepertoire einer Andersartigkeit jüdischer Wertvorstellungen und Geschichtserfahrungen lässt sich

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

in der Walser-Bubis-Debatte durch die Fremdzuschreibung des Beharrens auf einem »besonderen«, spezifisch »jüdischen« Opferpartikularismus als schuldabwehrende Kategorie der Praxis in nationalisierten Grenzziehungsprozessen kontextualisieren. Die traumatische Verfolgungsgeschichte der jüdischen Gemeinschaft wird durch diese antisemitische Fremdzuschreibung als Hindernis für die Sinnstiftung einer gemeinsamen (jüdischen und nicht-jüdischen) Erinnerungsgemeinschaft kategorisiert. Eine von jüdischen Sprecher*innen im Verlauf der Debatte aufrechterhaltene Unterscheidung von Täter*innen und Opfern, die zwangsläufiger Teil der spezifisch jüdischen Geschichtserfahrung des Holocaust ist, wird zu der stigmatisierenden Anklage eines fehlenden Integrationswillens der jüdischen Minderheit: Die Einstellung, daß alle Menschen gleich sind und sich erst durch ihre Handlungen unterscheiden, wurde mir von meinen Eltern durch ihre Erziehung vermittelt. Dann aber, Hilda, Mark und Igor [jüdische Sprecher*innen, d. Verf.], seid Ihr [Gruppendifferenz: Jüd*innen/Nicht-Jüd*innen] entweder auch Täter oder ich auch Opfer [Schuldentlastung: Täter-Opfer-Umkehrung], oder wir sollten endlich von diesem Schubladendenken Abstand nehmen. (Spiegel 1998c) Die Abwehr des nationalen Schuldzusammenhanges wird hier durch die »Unschuld« der homogenisierten Gruppe der Jüd*innen sogar zu einem nationalen Differenzbild. Dabei wird »Unschuld« nicht als Resultat der historisch begründeten Zuweisung von Täter- und Opferrolle im Kontext des Nationalsozialismus begriffen, sondern zu einem ungleichheitslegitimierenden Ausdruck der fremd ethnisierten jüdischen »Besonderheit«. So drückt sich die Eigenschaft einer jüdischen »Unschuld« in dem Diskurs über die delegitimierende Klassifikation einer »jüdischen« Arroganz und Anmaßung aus. Dabei reproduziert die Klassifikation als situativ wirksame Zuschreibungn die Tropen christlicher Anti-Judaismen. Anmaßend deswegen, weil sich die nationale Kerngruppe scheinbar ostentativ vorgetragener (Kollektiv-)Schuldzuweisungen durch Jüd*innen ausgesetzt sehen: Wenn niemand mehr sich erhebt und für sich wegen seiner Religion Unschuld proklamiert [ethno-national: Täter-Opfer-Umkehrung] und mich gleichzeitig zum Schuldigen stempelt [ethno-national: Bedrohung durch Kollektivschuld], erst dann wird Antisemitismus sich von selbst erledigen [ethno-religiös: Jüd*innen sind schuld an Antisemitismus]. Akzeptiert, daß der jüdische Glaube in unserer Generation lediglich eine Religion unter vielen ist [ethno-religiös: »Juden« als auserwähltes Volk]. (Spiegel 1998c) In übersteigerter Form zeigen sich daher sekundärantisemitische Täter-OpferUmkehrungen in der Verwendungspraxis ethno-nationaler Grenzziehungen durch die Imagination einer möglichen jüdischen Täter-Rolle, wodurch die Schuld der ethnisch definierten Kerngruppe der Nation entlastet werden würde. Das Symbol des »jüdischen Täters« korreliert dabei eng mit der symbolischen Fiktion des jüdischen »Opferpartikularismus«. Muss das abweichende partikular-jüdische Opfernarrativ aus dem nationalen Diskurs ausgeschlossen werden, weil es die Dysfunktionalität der idealisierten Selbsterzählung der »Nation« sichtbar macht, stabilisiert die Vorstellung einer jüdischen Täter-Rolle das Normalisierungsbedürfnis der nationalen

8 Das Diskursereignis der Walser-Bubis-Debatte

Kerngruppe. Folgendes Diskursfragment zeigt die ethno-nationalisierte Aneignung der Täter-Opfer-Umkehrung in Form einer rhetorischen Frage, die eine moralische Überheblichkeit der jüdischen »Fremdgruppe« suggeriert: Allerdings müßten sich natürlich auch die jüdischen Bürger in Deutschland fragen, ob sie sich so sehr viel tapferer als die meisten anderen Deutschen verhalten hätten, wenn nach 1933 »nur« die Behinderten, die Homosexuellen oder die Roma in die Vernichtungslager geschleppt worden wären [ethno-national: Täter-Opfer-Umkehrung]. Ein jeder sollte versuchen, diese Frage für sich selbst ehrlich zu beantworten.(FAZ 1998b) Abschließend lässt sich feststellen, dass die negative Klassifikation eines jüdischen Opferpartikularismus zu einem Inklusionsangebot in die nationale Erinnerungs- und Schicksalsgemeinschaft führt, das charakteristisch ist für antisemitische Assimilationsprozesse von Jüd*innen in mehrheitlich nicht-jüdische Zugehörigkeitsordnungen: Wollen Jüd*innen zugehörig sein, müssen sie ihre jüdische Identität verlieren, sich in diesem konkreten Fall also von ihrem scheinbar anmaßenden Opferpartikularismus lösen. »Für mich sind wir gleichberechtigte Menschen. Du teilst uns beide in Jüdin und Deutsche und hältst Lager aufrecht, die keine sein sollten [ethno-national: jüdische Inklusionsverweigerung]« (Spiegel 1998c). In Anlehnung an die Taxonomie der Analysekategorien antisemitischer Grenzziehungen sprechen wir hier von einem ethnisierten Bewertungsrepertoire einer besonderen Lebensweise des jüdischen »Fremden«, das Zuschreibungen einer »jüdischen Inklusionsverweigerung« in einem symbolischen Kontext der nationalen Selbstverständigung reproduziert. Insgesamt konnten mit dem Klassifikationsrepertoire der »jüdischen Erinnerungsdifferenz« ethnisch-kulturalisierende Klassifikationsstrategien in reziproken Prozessen der nationalen Selbst- und Fremdidentifikation herausgearbeitet werden. Diese Differenzierungen konnten in einem kontingenten Diskurs der kollektiven Erinnerung relationale Grenzen zwischen einer nicht-jüdischen nationalen Kerngruppe gegenüber der jüdischen Minderheit wahrnehmbar machen. Bevor ich am Beispiel der Diskussion über den Bau des Holocaustmahnmals signifikante Konstruktionsmechanismen mehrdimensionaler Grenzziehungen des Antisemitismus illustrieren möchte, werde ich im Folgenden zunächst zeigen, wie sich über die hier entfaltete Verwendungspraxis des ethno-nationalen Klassifikationsmusters der kollektiven »Holocaust-Erinnerung« eine vielfältige Aneignung multivariabler antisemitischer Klassifikationsrepertoires rekonstruieren lässt.

8.3

»Das Weltjudentum ist eine Jroße Macht« – Antisemitische Klassifikationsrepertoires in mehrdimensionalen Grenzziehungsprozessen

In antisemitischen Grenzziehungen hängen temporäre Fixierung und politische Relevanz konstruierter Grenzen von dem kontingenten boundary work sozialer Akteur*innen ab. Grenzziehungspraktiken produzieren in relationalen Prozessen der Selbstidentifikation und Fremdklassifikation situativ geltungswirksames, delegitimierendes und abwerten-

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8 Das Diskursereignis der Walser-Bubis-Debatte

Kerngruppe. Folgendes Diskursfragment zeigt die ethno-nationalisierte Aneignung der Täter-Opfer-Umkehrung in Form einer rhetorischen Frage, die eine moralische Überheblichkeit der jüdischen »Fremdgruppe« suggeriert: Allerdings müßten sich natürlich auch die jüdischen Bürger in Deutschland fragen, ob sie sich so sehr viel tapferer als die meisten anderen Deutschen verhalten hätten, wenn nach 1933 »nur« die Behinderten, die Homosexuellen oder die Roma in die Vernichtungslager geschleppt worden wären [ethno-national: Täter-Opfer-Umkehrung]. Ein jeder sollte versuchen, diese Frage für sich selbst ehrlich zu beantworten.(FAZ 1998b) Abschließend lässt sich feststellen, dass die negative Klassifikation eines jüdischen Opferpartikularismus zu einem Inklusionsangebot in die nationale Erinnerungs- und Schicksalsgemeinschaft führt, das charakteristisch ist für antisemitische Assimilationsprozesse von Jüd*innen in mehrheitlich nicht-jüdische Zugehörigkeitsordnungen: Wollen Jüd*innen zugehörig sein, müssen sie ihre jüdische Identität verlieren, sich in diesem konkreten Fall also von ihrem scheinbar anmaßenden Opferpartikularismus lösen. »Für mich sind wir gleichberechtigte Menschen. Du teilst uns beide in Jüdin und Deutsche und hältst Lager aufrecht, die keine sein sollten [ethno-national: jüdische Inklusionsverweigerung]« (Spiegel 1998c). In Anlehnung an die Taxonomie der Analysekategorien antisemitischer Grenzziehungen sprechen wir hier von einem ethnisierten Bewertungsrepertoire einer besonderen Lebensweise des jüdischen »Fremden«, das Zuschreibungen einer »jüdischen Inklusionsverweigerung« in einem symbolischen Kontext der nationalen Selbstverständigung reproduziert. Insgesamt konnten mit dem Klassifikationsrepertoire der »jüdischen Erinnerungsdifferenz« ethnisch-kulturalisierende Klassifikationsstrategien in reziproken Prozessen der nationalen Selbst- und Fremdidentifikation herausgearbeitet werden. Diese Differenzierungen konnten in einem kontingenten Diskurs der kollektiven Erinnerung relationale Grenzen zwischen einer nicht-jüdischen nationalen Kerngruppe gegenüber der jüdischen Minderheit wahrnehmbar machen. Bevor ich am Beispiel der Diskussion über den Bau des Holocaustmahnmals signifikante Konstruktionsmechanismen mehrdimensionaler Grenzziehungen des Antisemitismus illustrieren möchte, werde ich im Folgenden zunächst zeigen, wie sich über die hier entfaltete Verwendungspraxis des ethno-nationalen Klassifikationsmusters der kollektiven »Holocaust-Erinnerung« eine vielfältige Aneignung multivariabler antisemitischer Klassifikationsrepertoires rekonstruieren lässt.

8.3

»Das Weltjudentum ist eine Jroße Macht« – Antisemitische Klassifikationsrepertoires in mehrdimensionalen Grenzziehungsprozessen

In antisemitischen Grenzziehungen hängen temporäre Fixierung und politische Relevanz konstruierter Grenzen von dem kontingenten boundary work sozialer Akteur*innen ab. Grenzziehungspraktiken produzieren in relationalen Prozessen der Selbstidentifikation und Fremdklassifikation situativ geltungswirksames, delegitimierendes und abwerten-

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

des Wissen über den jüdischen »Anderen«. Das vielschichtige Zusammenspiel rassialisierter, ethnisierter und nationalisierter Antisemitismen über die kulturellen Aushandlungen des schuldentlastenden nationalen Erinnerungsdiskurses wird Gegenstand des nächsten Abschnitts sein. Durch die Verwendungspraxis des primär nationalisierenden Klassifikationsmusters der kollektiven Erinnerung an die »Holocaust-Schuld« werden in dem Diskurs der Walser-Bubis-Debatte sekundärantisemitische Grenzziehungsstrategien sichtbar. Dabei reproduzieren diese Klassifikationsstrategien das Klassifikationsrepertoire jüdischer Wertvorstellung einer manipulativen »Holocaust-Instrumentalisierung«, das zum einen auf der Biologisierung eines wesenhaft negativen »jüdischen Leidensgedächtnisses« beruht und zum anderen Zuschreibungen einer nationalen Bedrohung durch eine »jüdische Erinnerungsmacht« enthält. Bislang konnte deutlich gemacht werden, dass Jüd*innen eine ambivalente Positionierung innerhalb der politischen Grenzen einer nationalen Schicksals- und Erinnerungsgemeinschaft erfahren haben. Der jüdische »Erinnerungsfremde« wurde durch das Klassifikationsrepertoire der »Erinnerungsdifferenz« als mehrfach-zugehörig markiert, damit als ethnisch nicht-zugehörige »Fremdgruppe« konstituiert und infolgedessen symbolisch ausgeschlossen. Darauf aufbauend begründet sich aus der exkludierenden Kategorisierung von Jüd*innen als Träger*innen einer ungleichwertigen Erinnerungsdifferenz eine Vielzahl negativer Klassifikationen (Neckel und Sutterlüty 2010). Diese Grenzziehung ist insofern von Bedeutung, als dass die temporäre Stabilisierung der kontingenzbehafteten Identität einer nationalen vorgestellten Gemeinschaft (Anderson 2005) auf der eindeutigen Unterscheidung von einem Nicht-»Wir« beruht, das eine fundamentale Bedrohung der homogenisierten, ethnisch, kulturell oder religiös begründeten Einheit der Nation darstellt (Hall 1994b; Triandafyllidou 1998). Jüd*innen als interne »Andere« der Nation (Petersoo 2007) erfüllen dabei in prototypischer Form die Funktion einer nationalen Bedrohung (Holz 2001). Welche Stereotypisierungen von Jüd*innen lassen sich in dem Erinnerungsdiskurs der Walser-Bubis-Debatte feststellen? Ausgangspunkt der imaginierten jüdischen Bedrohung ist das gruppenlogisch artikulierte, rassialisierte Wissen um das negative Wesen der »unnachgiebigen« und »rachsüchtigen« Jüd*innen, denen mehr noch unterstellt wird, aus der missbräuchlichen Aneignung der Vergangenheit gruppenspezifische Vorteile zu ziehen. Demgegenüber steht die identitätsstiftende Metapher des nationalen (historischen) Gewissens, das die »unschuldige« Reinheit der Nation symbolisiert und durch das »jüdische« Handeln bedroht wird. Die binäre Grenze verläuft also im Hinblick auf die kollektiv geteilte geschichtliche Erfahrung des Nationalsozialismus und markiert den jüdischen »Fremden« daher als gefährlichen Störenfried (Geisel 2015) der nationalen Wiederbesinnung im Post-Nazismus. Mit anderen Worten wird die positive Wiederaneignung der beschädigten »Nation« durch Unterwerfungsgesten und rituale gegenüber »jüdischen« Schuldvorhaltungen und Demütigungen gefährdet. Dabei wird die sekundärantisemitisch codierte »Unnachgiebigkeit« der jüdischen »Fremdgruppe« als natürlich scheinende Bewertungskategorie eines jüdischen »Leidensgedächtnisses« interpretiert, das als mehrdimensionale Kategorie der Praxis eine stigmatisierende Form der Rassialisierung von Jüd*innen in nationalisierten Grenzziehungsprozessen hervorbringt.

8 Das Diskursereignis der Walser-Bubis-Debatte

So wie es ein Gedächtnis der Leiden gibt, das sich mit dem Wiederholungszwang des Traumatisierten [rassialisiert: biologisierte Psychopathologie] immer wieder gegen die Angebote der Rückkehr in eine gemeinsame Gegenwart sträubt [national: Jüd*innen sind schuld an Exklusion] […]. (FAZ 1998c) Die jüdische Opfererfahrung und -erinnerung an das Menschheitsverbrechen des Holocaust wird hier als krankhaft pathologisiert und erscheint als biologisiertes, d.h. wesenhaftes, Merkmal des »Jüdischen«. Damit aktualisiert sich in der Verwendungspraxis sozialer Akteur*innen das antisemitische Stereotyp des jüdischen »Störenfriedes« in der Debatte um »Schuld« und Erinnerung durch Klassifikationsrepertoires rassialisierter Grenzziehungen des Antisemitismus. Der Bezug auf einen »Wiederholungszwang des Traumatisierten« legt die Deutung einer scheinbar biologischen jüdischen Wesensqualität nahe, dass Jüd*innen im Hinblick auf die Holocaust-Vergangenheit aufgrund ihrer zugeschriebenen determinierten Charakterdisposition nicht anders als durch das unnachgiebige jüdische »Strafbedürfnis« gegenüber den deutschen Täter*innen handeln können. Demnach stellt die jüdische Erinnerungspraxis ein nicht zu überwindendes Merkmal der jüdischen »(Erinnerungs-)Kultur« dar, die mit den Werten der nationalen ingroup nicht vereinbar ist. Indem Jüd*innen zugleich vorgeworfen wird, sich aufgrund ihrer partikularen Wertvorstellungen – hier der Opfererfahrung des Holocaust – einem gemeinsamen, nationalen Erinnerungsrahmen zu widersetzen, reproduziert sich gleichermaßen eine Kreuzung dieser nationalen Klassifikation mit dem für ethnisierte Grenzziehungen charakteristischen antisemitischen Klassifikationsrepertoire einer anpassungsunfähigen jüdischen Fremdheit. Diese essentialisierenden Zuschreibungen einer »jüdischen« Rachsucht und Unnachgiebigkeit bringen als Praxiskategorien antisemitischer Grenzziehung in den öffentlichen Aushandlungen der Walser-BubisKontroverse sekundärantisemitische Mechanismen der Täter-Opfer-Umkehrung hervor, die ich im Folgenden durch die ethno-nationalen Klassifikationsrepertoires der »jüdischen Holocaust-Instrumentalisierung« und der »jüdischen Erinnerungsmacht« beschreiben möchte.

8.3.1

»Auschwitz wird instrumentalisiert.« – Ethno-nationalisierte Täter-Opfer-Umkehrungen in der Walser-Bubis-Kontroverse

Wie zuvor bereits beschrieben beruht das sekundärantisemitische Klassifikationsrepertoire der »Holocaust-Instrumentalisierung« auf dem Zusammenspiel ethnisierter Klassifikationsmuster – durch den Bezug auf eine jüdische »Kultur« und »Geschichte« – und nationalisierter Klassifikationsmuster – durch den kollektiven Bezug auf einen hegemonialen Erinnerungsrahmen nationaler Geschichte. Als Signifikant bedeutungsgenerierender Differenz artikulieren Akteur*innen in diesem Zusammenhang Zuschreibungen vermeintlicher »jüdischer Kollektivschuldvorwürfe«, eines »jüdischen Strafbedürfnisses«, »Erinnerungsdiktates« oder einer gruppenspezifischen »Vorteilsnahme«, um Grenzen zwischen einer nicht-jüdischen ingroup gegenüber einer jüdischen outgroup zu ziehen. Im Zusammenspiel mit dem ethnisierten Klassifikationsrepertoire der besonderen Lebensweise eines »separierenden Zusammenhaltes« wird dabei nicht nur

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

eine gefährliche »jüdische« Irritation bezüglich der nationalen Wiederaneignung deutscher Geschichte vorgestellt, sondern auch eine nationale »jüdische« Bedrohung durch die »jüdische Erinnerungsmacht« konstruiert. Entsprechend der hier kontextualisierten Herstellungsdynamik des Klassifikationsmusters nationaler Erinnerung, d. i. die souveräne Setzung hegemonialer Leitlinien der nationalen Narration, wird der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Geschehenen ein instrumenteller Charakter unterstellt. Die Delegitimierung kommemorativer Formen des öffentlichen Erinnerns wird daher als Unterwerfungsritual inszeniert, das auf eine Beschädigung der nationalen Identifikation abzielt, wie Walser selbst betont: Wenn ich merke, daß sich in mir etwas dagegen wehrt, versuche ich, die Vorhaltung unserer Schande auf Motive hin abzuhören, und bin fast froh, wenn ich glaube, entdecken zu können, daß öfter nicht mehr das Gedenken, das Nichtvergessen dürfen das Motiv ist [nationale Erinnerung: öffentlich/privat], sondern die Instrumentalisierung unserer Schande [ethno-national: Schicksalsgemeinschaft] zu gegenwärtigen Zwecken [nationale Bedrohung: Instrumentalisierung der Vergangenheit]. (FAZ 1998a) In schuldabwehrender Form zeigt sich die Semantik des individuellen – selbstbestimmten – Gewissensbekenntnisses zur NS-Vergangenheit in dem sekundärantisemitischen Code der »Auschwitzkeule«, dessen Thematisierung von Walser selbst als mutiger Tabubruch dargestellt wird, um der Durchsetzung des Normalisierungsbedürfnis der ethnonational definierten Kerngruppe zu seiner Durchsetzung zu verhelfen: Das fällt mir ein, weil ich jetzt wieder vor Kühnheit zittere [sekundärantisemitisch: Tabubruch], wenn ich sage: Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule [national: Bedrohung durch Instrumentalisierung] oder auch nur Pflichtübung [national: illegitime öffentliche Erinnerung]. (FAZ 1998a) Anders formuliert besteht die Instrumentalisierung der Vergangenheit aus dem »eilfertige[n], kostenlose[n] Gebrauch einer rhetorischen Figur namens ›Auschwitz‹« (FAZ 1998c). Dabei sind es vor allem Jüd*innen, denen diese missbräuchliche und manipulative Aneignung der Vergangenheit respektive die Ausübung der symbolischen Gewalt einer »Auschwitzkeule« unterstellt wird. Gemäß den Analysekategorien ethnisierter Grenzziehungen werden jüdische Wertvorstellungen, Lebensweise und Geschichtserfahrungen in antisemitischen Repräsentationsregimen als gruppenlogischer Ausdruck einer fremdartigen, ihr zugewiesenen Stellung als wurzel- und substanzlose Gruppe von hybriden »Fremden im Inneren« mit einer korrespondierenden »kulturellen Mentalität« der Jüd*innen bewertet. Dieses essentialisierte Stigma einer kategorialen Unbestimmtheit von Jüd*innen in nationalen oder ethnischen Zugehörigkeitskontexten ermöglicht eine relationale Differenzsetzung zwischen dem machtvollen, äußeren Feindbild des homogenisierten und im In- und Ausland grenzüberschreitend agierenden Kollektivs der »Juden« einerseits und der ethnisch homogenisierten, nationalen »Wir«-Gruppe andererseits. Sichtbar wird die identitäre Repräsentationslogik von Jüd*innen als ethnisch separierende Gesamtheit eines globalen Gesamtkollektivs der »Juden«, wenn im Ausland lebenden jüdischen Holocaust-Opfern vorgeworfen wird, finanzielle Vorteile durch Entschädigungszahlungen erpressen zu wollen. Unter den

8 Das Diskursereignis der Walser-Bubis-Debatte

Bedingungen der Kommunikationslatenz (Bergmann und Erb 1986) fungiert der Code »New Yorker Anwälte« und anderer »jüdischer Hintermänner« dabei als Symbol des antisemitischen Topos der jüdisch kontrollierten Ost-Küste der USA: Was Walser im Oktober sagte, mag er bei falscher Gelegenheit gesagt haben, es bleibt trotzdem richtig. Es bestätigt sich, was wir erst jüngst von einigen New Yorker Anwälten [ethnisiert: jüdischer Einfluss] erlebten und was selbst Bubis, wenngleich in anderer Form, kritisierte: Auschwitz wird instrumentalisiert [ethnisiert: jüdische Vorteilsnahme]. (Spiegel 1998b) Es ist diese Klassifikationspraxis der Täter-Opfer-Umkehrung, die ein dominantes Repertoire der Abwertungen von Jüd*innen in dem Diskurs der Walser-Bubis-Debatte reproduziert. Dabei werden »Deutsche« einerseits als »Opfer« angeblicher jüdischer Machenschaften, genauer der manipulativen Instrumentalisierung »deutscher« Holocaust-Schuld, imaginiert und andererseits werden Zuschreibungen eines bedrohlichen machtvollen gesellschaftlichen Status des jüdischen »Fremden«, genauer der Ausübung einer »jüdischen Erinnerungsmacht«, sichtbar. So wird als eine besondere »jüdische« Bedrohung des inneren Zusammenhaltes der »Nation« ein vermeintlich »jüdisches« Erinnerungsdiktat ausgemacht, dass das feindliche Wirken der jüdischen »Fremdgruppe« repräsentiert. Als Ziel der erinnerungspolitischen jüdischen Subordinationsmacht wird dabei eine schicksalhafte Unterwerfung der deutschen Abstammungs- und Erinnerungsgemeinschaft aufgrund der nationalsozialistischen Verbrechen ausgemacht. Im Zusammenspiel mit dem nationalisierten Klassifikationsmuster kollektiver Erinnerung reproduziert sich damit das ethnisierte Stereotyp eines herausragenden »Einflusses«, den Jüd*innen, hier über die machtvolle Instrumentalisierung des Opfernarrativs, für ihre partikularen Gruppen- und Herrschaftsinteressen, gesellschaftlich ausüben. Die Analysekategorie der Zuschreibung einer signifikanten gesellschaftlichen Autorität der jüdischen Gemeinschaft lässt sich daher mit Blick auf den Schuld- und Erinnerungsdiskurs als ethno-nationalisierte Kategorie der Praxis antisemitischer Grenzziehungen interpretieren. Besonders anschaulich illustriert folgende Sequenz aus der Stellungnahme einer nicht-jüdischen Sprecher*in, wie die jüdische Identität einer Sprecher*in als individueller Ausdruck einer kollektiv »jüdischen« Weltauffassung stereotypisiert wird: Viele, stellvertretend dafür Igor [jüdischer Sprecher, d. Verf.], scheinen jeden, der nicht jüdischen Glaubens ist, für grundsätzlich schlecht zu halten und maßen sich an, alleingültig die Erinnerung verwalten und dosieren zu dürfen [ethno-national: jüdisches Erinnerungsdiktat] (»Die Holocaust-Gedenktage sind … dazu da, der nichtjüdischen Gesellschaft die Geschichte nahezubringen. Ich als Jude denke daran jeden Tag.«) (Spiegel 1998c) Als Kategorie der Praxis eignen sich soziale Akteur*innen, um den sekundärantisemitischen Code der jüdischen »Unnachgiebigkeit« durch das nationalisierte Phantasma eines »Kollektivschuldvorwurfes« an. Diese erinnerungspolitische Differenzierung soll als symbolische Wahrnehmungsressource im Zusammenspiel mit der ethnisierten Differenzkategorie einer jüdischen »Meinungsmacht« jeden öffentlichen Thematisierungsanlass des Holocaust als Vorwurf einer Kollektivschuld gegenüber den »Deut-

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

schen« insgesamt interpretierbar machen. Die vermeintliche Anklage einer auch für die nachfolgenden Generationen prägenden deutschen Kollektivschuld wird entsprechend des Klassifikationsrepertoires der »jüdischen Holocaust-Instrumentalisierung« als »jüdisches« Manipulationsinstrument klassifiziert. So ermöglicht die substanzialisierende Anwendung des ethnisierten Klassifikationsrepertoires eines angeblich machtvollen sozialen Status – signifiziert durch die Unterscheidungszeichen eines privilegierten gesellschaftlichen Einflusses – und einer vermeintlich besonderen, separierenden Lebensweise – Jüd*innen handeln als identitäres Kollektiv – in nationalisierten Klassifikationsprozessen die kollektive Zuschreibung eines machtvollen »jüdischen Strafbedürfnisses«. Diese gruppistische Wahrnehmung auf das von Jüd*innen artikulierte Unbehagen gegenüber dem schuldentlastenden Impetus der Paulskirchenrede Martin Walsers artikuliert sich in einem Debattenbeitrag einer nicht-jüdischen Sprecher*in, der sich auf Aussagen von Jüd*innen in einem Interview mit dem SPIEGEL bezieht und dabei den ethno-nationalen Code jüdischer Kollektivschuldvorhaltungen reproduziert: Igor [jüdischer Sprecher, d. Verf.], wofür soll ich mich schuldig fühlen? Dafür, daß viele Deutsche (verschiedener und auch keiner Religion) zusammen mit Österreichern, Niederländern oder Franzosen in unterschiedlicher Form an dem Massenmord an vielen Juden, Homosexuellen, Christen, Kommunisten beteiligt waren [national: Schuldrelativierung]? Merkwürdig, daß ich noch von keinem Christen, Kommunisten oder Homosexuellen dazu aufgefordert wurde, schuldig zu sein, woran auch immer [ethno-nationale Wertvorstellung: Kollektivschuldvorwurf]. (Spiegel 1998c) Wie anschlussfähig sich die negative Klassifikationsweise eines »jüdischen Erinnerungsdiktates« innerhalb des nationalen Schuldentlastungsdiskurses der Walser-Rede auch für offen rassistische Antisemitismen zeigt, kann über die Kategorisierung einer omnipotenten »jüdischen Meinungsmacht« rekonstruiert werden. Eine Kategorisierung, die auch von dem Rechtsextremisten Horst Mahler als Interpretationsrepertoire zur Deutung der Debatte verwendet wird. In dieser rassialisierten Variation einer nationalisierten Grenzziehung amalgamiert sich das antisemitische Grundmuster der nicht-identischen jüdischen Figur des Dritten mit rassistischen Vorstellungen einer »natürlichen« Feindschaft zwischen den »Juden« einerseits und den biologistisch als Abstammungsgemeinschaften konstruierten »Völkern« der Welt andererseits. Folgende Sequenz gibt das mehrdimensionale Zusammenspiel der Differenzkategorien »Rasse«, »Ethnizität« und »Nationalität« wieder: Horst Mahler[…] fordert gar in einem […] »offenen Brief« an Bubis: »Sir, geben Sie Gedankenfreiheit [ethnisiert: jüdische Meinungsmacht]!« Mahler meint, der »über das Grauen« des Holocaust empfundene »Schock« habe »nicht die im christlichen Abendland tief verwurzelten antijüdischen Ressentiments zum Verschwinden gebracht [ethno-religiös: Jüd*innen vs. Christ*innen]. Dieser Schock hat uns nur den Mund verschlossen und uns zu Heuchlern gemacht«. Und weiter: »Schon der Anspruch der Juden, das von Gott auserwählte Volk zu sein, ist notwendig begleitet von Ablehnung der Juden durch die anderen Völker, die sich nach der jüdischen Lehre als ›nicht auserwählte‹[sic!] begreifen müssen [rassialisiert: nicht-identische Jüd*innen]. Dar-

8 Das Diskursereignis der Walser-Bubis-Debatte

über muß man frei reden dürfen [national: Befreiung von jüdischer Diskurskontrolle].« (Spiegel 1998a) Anstelle einer nationalen Verantwortung der nachkommenden Generationen werden durch das »Kollektivschuld-Phantasma« im Ergebnis diskursive Subjektpositionen eingerichtet, in deren Folge die ethno-national definierte Kerngruppe der »Deutschen« als machtlose »Opfer« jüdischen Handelns im Diskurs identifizierbar wird. Die Zuweisung machtvoller jüdischer »Täter*innen« und machtloser deutscher »Opfer« folgt dabei der machtparadigmatischen Logik nationenbezogener Grenzziehungsprozesse des Antisemitismus – im Anschluss an die taxonomischen Analysekategorien antisemitischer Grenzziehungstypen sprechen wir von einer sinnhaften Aneignung des nationalisierten Klassifikationsrepertoires der Täter-Opfer-Umkehrung. In einer übersteigerten Variation stellt sich die Erscheinungsform der Täter-Opfer-Umkehrung innerhalb dieser diskursiven Konstellation als Vorwurf eines »jüdischen« Rassismus gegenüber Individuen mit deutscher Gruppenzugehörigkeit dar. Besonders deutlich zeigt sich diese Klassifikationsstrategie in folgender Sequenz, die eine Replik auf ein SPIEGEL-Interview mit jüdischen Interviewpartner*innen ist: Die Gefahren, denen jeder sich und seine Nachwelt aussetzt, wenn er die Menschheit in Täter und Opfer einteilt, scheinen leider keine Rolle zu spielen? Wer spricht denn immer noch von »den Deutschen« als Gegensatz zu »den Juden«? Igor [jüdischer Sprecher, d. Verf.], damit sind nicht »die Deutschen« antisemitisch, sondern Du bist rassistisch [ethnisiert: jüdische Wertvorstellung]. (Spiegel 1998c) In diesem Kontext kann eine häufig vorzufindende, dominanzkulturelle Reaktion auf jüdische Marginalisierungs- und Diskriminierungserfahrungen festgestellt werden, die in der ethnisierenden Klassifikation eines »jüdischen Alarmismus« sichtbar wird und die Problematisierung von Antisemitismen durch jüdische Akteur*innen abwerten soll. Als kontingenter Klassifikationsprozess zielt die Reproduktion der ethnisierten Grenzziehungsstrategie eines »jüdischen Alarmismus« in einem nationalen Erinnerungsdiskurs darauf ab, Jüd*innen aus den öffentlichen Aushandlungen auszuschließen und damit symbolische Gewalt gegenüber der marginalisierten Gruppe der Jüd*innen auszuüben. Die Mechanismen der Delegitimierung können anhand der im Diskurs vorgetragenen Reaktionen auf die vehemente Kritik von Ignatz Bubis an der Walser-Rede nachgezeichnet werden. So wird dem Vorsitzenden des Zentralrates der Juden vorgeworfen, »programmgemäß« (Taz 1998b) zu handeln, »nicht in der Lage« zu sein, »zwischen Kritik an den Formen des Gedenkens und Kritik an den Inhalten zu unterscheiden« (ebd.), sich »ins gesellschaftliche Abseits« zu stellen und einen »gehörigen Mangel an Urteilsvermögen« erkennen zu lassen (Spiegel 1998b). Ganz allgemein wird ihm dabei vorgehalten, sich »immer noch an einem schlichten, dichotomischen Weltbild« (Taz 1998b), d.h. an der Binarität »schuldiger« deutscher Täter*innen und »unschuldiger« jüdischer Opfer, zu orientieren. Benennen als »jüdisch« markierte Individuen das Auftreten antisemitischer Denkmuster wird die Legitimität ihrer Sprecher*innenposition infrage gestellt, was auch Aufschluss gibt über ihre fehlende symbolische Anerkennung als vollwertige Mitglieder der Gemeinschaft. Wird die Wahrnehmung von Antisemitismen aufgrund ethnischer Bewertungskategorien als »jüdischer Alarmismus« delegiti-

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miert oder als Form der Exaggeration betrachtet, dann erscheint die Schlussfolgerung zwingend zu schlussfolgern, dass hinter dem so chiffrierten »Antisemitismusvorwurf«, entsprechend des Deutungsrepertoires einer »jüdischen Erinnerungsmacht«, das Bestreben einer jüdischen Diskursmanipulation identifiziert werden kann. Diese Diskursmanipulation, so die Argumentation, dient dabei dem Zweck, das Aussprechen unbequemer Wahrheiten für Jüd*innen zu verhindern – ein tradierter Topos des modernen Antisemitismus: Nur den Argumenten Deutscher nicht-jüdischen Glaubens wird an dieser Stelle dann gern und oft entgegengeschleudert, Rassisten, Antisemiten, Verbrecher zu sein, und damit ist jede Auseinandersetzung im Keim erstickt [ethnisiert: jüdisches Diskurstabu]. Auch Herr Bubis scheint sich lieber darauf zurückzuziehen, alle ihm unangenehmen Äußerungen seien zwangsläufig antisemitisch [ethnisiert: jüdischer Antisemitismusvorwurf]. Damit ist dann die Sache erledigt, und wir bleiben weiterhin in zwei Lager gespalten [ethno-national: »Juden« verweigern Inklusion]. (Spiegel 1998c) In letzter Konsequenz folgt das Imago der jüdischen Diskursmanipulation (Antisemitismusvorwürfe als jüdisches Herrschaftsinstrument) dem sekundärantisemitischen Bedürfnis, schuldentlastende Kritik an den jüdischen Opfern üben zu dürfen und sich gegen als »jüdisch« identifizierte Denk- und Sprechverbote zur Wehr zu setzen. Nicht die manifeste oder latente Artikulation von antisemitischen Einstellungen laden Diskurse antisemitisch auf, sondern die scheinbar »jüdisch« kontrollierte Aufrechterhaltung von Diskurstabus produziert dieser Klassifikationslogik zufolge Antisemitismen. Somit ist in symbolischen Kämpfen über legitime Formen der kollektiven Erinnerung die kontingente Re-Formulierung eines tradierten antisemitischen Stereotyps zu finden, nach dem das scheinbar unangemessene Verhalten von Jüd*innen selbst ursächlich für die Judenfeindschaft ist. Beispielhaft heißt es hierzu: Dieses sogenannte antisemitische Gedankengut, diese Vorurteile gegen »die Juden«, die waren mir unbekannt. Erfahren habe ich dadurch erst durch die immerwährenden Beteuerungen vieler Menschen jüdischen Glaubens.« (Spiegel 1998c) Insgesamt hat der vorangegangene Abschnitt zeigen können, wie in den Klassifikationsrepertoires des »jüdischen Leidensgedächtnisses«, der jüdischen »HolocaustInstrumentalisierung«, der »jüdischen Erinnerungsmacht« und ihrer »separierenden Lebensweise« sich wechselseitig überlagernde Kreuzungen der Differenzkategorien »Rasse«, »Ethnizität« und »Nation« in den Aushandlungsprozessen antisemitischer Grenzziehungen sichtbar werden. Im nächsten Abschnitt soll nun rekonstruiert werden, wie sich Akteur*innen dem Kontext der Diskussion über den Bau des Holocaustmahnmals in Berlin durch das Repertoire der »nationalen jüdischen Unterwerfungsmacht« überwiegend rassialisierte Grenzziehungsstrategien in einem nationalen Erinnerungsdiskurs aneignen.

8 Das Diskursereignis der Walser-Bubis-Debatte

8.3.2

»Die Monumentalisierung der Schande« – Das Holocaustmahnmal und die jüdische Bedrohung nationaler Unabhängigkeit

Wie herausgearbeitet wurde, markiert die Dichotomie legitimer Innerlichkeit der Erinnerung und illegitimer Öffentlichkeit des Holocaustgedenkens jede Form des öffentlichen Sprechens oder der öffentlichen Thematisierungsanlässe des Holocaust als Angriff auf das nationale »Gewissen« und die neue deutsche »Normalität«. Solcher Art öffentliche Debatten werden im hegemonialen Diskurs als Angriffe auf die nationale Erinnerungssouveränität und ihrer erinnerungspolitischen Deutungsmacht über die Sonderstellung des Nationalsozialismus im Kanon des kollektiven Gedächtnisses bewertet. Folgender Auszug aus Martin Walsers Paulskirchenrede zeigt, welche diskursiven Abwehrmechanismen diese öffentlichen Aushandlungen reproduzieren: Wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird [national: Unterwerfungsritual], merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt [ethno-national: Angriff auf Identität]. Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande [ethno-national: Schicksal], fange ich an wegzuschauen. (FAZ 1998a) In Verbindung mit dem sinnstiftenden Code einer kollektiven Selbststigmatisierung, wie sie in der Verwendungspraxis einer ethnisierten Deutung nationaler »Schande« sichtbar wurde, wird die exaggerierte Form einer beinahe schicksalhaften »Dauerpräsentation« eben jener »Schande« zu einem Symbol einer fehlgeleiteten Erinnerungspolitik, die das kulturelle Wissen über »Schuld« und »Verantwortung« für den Holocaust im öffentlichen Raum bewahren will. Dagegen wird hier die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der deutschen Verbrechensgeschichte aus einer täterzentrierten Perspektive als nationales Unterwerfungsszenario gegenüber fremden Mächten signifiziert, das eine Normalisierung der nationalen Kollektividentität symbolisch verhindert. Ich werde dieses Klassifikationsrepertoire der »nationalen jüdischen Unterwerfungsmacht« im Anschluss an die taxonomische Abstraktionsleiter der Analysekategorien antisemitischer Grenzziehungsmechanismen als prädominantes Zusammenspiel rassialisierter Klassifikationsmuster – durch die Askription einer wesenhaften Macht der »Juden« – und nationenbezogener Klassifikationsmuster – durch die Referenzialisierung einer politischen Erinnerungssouveränität – interpretieren. So kulminiert am Beispiel des Holocaustmahnmals nun die mehrdimensionale Verwendungspraxis des nationalisierten Klassifikationsmusters der »HolocaustErinnerung«, weil sich hier die Frage nach legitimen Formen der Erinnerung mit der schuldabwehrenden Frage nach äußeren Feindbildern, die das positive Identifikationsbedürfnis der nationalen Gemeinschaft bedrohen, kreuzt. Martin Walser selbst hat die diskursprägende Sprechweise über das Holocaustmahnmal hervorgebracht, das nicht als zentraler Gedenk- und Erinnerungsort für massenhaftes Verbrechen gedeutet wird, sondern als räumlich institutionalisierter Ort nationaler Selbsterniedrigung und Unterwerfung erscheint, was über das Zusammenspiel der ethno-nationalen Gemeinschaftscodes von »Schande« und »Gewissen« zum Ausdruck kommt:

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

In der Diskussion um das Holocaustdenkmal in Berlin kann die Nachwelt einmal nachlesen, was Leute anrichteten, die sich für das Gewissen von anderen verantwortlich fühlten [national: unabhängiges Gewissen]. Die Betonierung des Zentrums der Hauptstadt mit einem fußballfeldgroßen Albtraum […]. Die Monumentalisierung der Schande [national: Unterwerfung]. (FAZ 1998a) Die symbolische Präsenz des Mahnmals in der neuen Hauptstadt Berlin wird als Monstrosität übersteigert: Die »Betonierung des Zentrums der Hauptstadt (Hervorh. d. Verf.).« (Anders auch als: »steinernes Brandmal« bezeichnet [Spiegel 1998b].) Dabei zeigt sich in signifikanter Weise, dass der Bau des Mahnmals als bedrohlicher Angriff auf die nationale Souveränität der deutschen Erinnerungsgemeinschaft bewertet wird. Jedoch gelingt die symbolische Repräsentation des Mahnmals als etwas dem deutschen Nationalkollektiv äußerlichen, fremden und aufoktroyierten erst unter der antisemitischen Prämisse der ethno-nationalen Grenzziehung einer »wurzellosen« jüdischen Erinnerungsdifferenz. Wird die nationale Geschichte des Nationalsozialismus unter Ausschluss des jüdischen Narrativs erzählt, kann sich die diskursive Logik des nationalen Normalisierungsbedürfnisses entfalten, als deren »albtraumhaftes« Hindernis das nationale Monument des Gedenkens für die ermordeten Jüd*innen Europas kategorisiert wird. Wie der Plan zur Errichtung eines nationalen Mahnmals als symbolischer Platzhalter für die Frage nach einer neuen »nationalen« Souveränität und Normalität der »Berliner Republik« eingesetzt wird, veranschaulicht folgendes Diskursfragment: Der als Mahnmal deklarierte ästhetische Entwurf des amerikanischen Architekten Peter Eisenman ist eine Verhöhnung des entsetzlichen Grauens und eine Absage an die allmählich wiedergewonnene Souveränität unseres Landes [national: prekäre Identität]. Man kann uns nicht von außen diktieren, wie wir unsere neue Hauptstadt in Erinnerung an die Vergangenheit gestalten [national: äußere Bedrohung]. (Spiegel 1998b) Dabei ist es die »anti-nationale Nation« der »Juden«, die in nationalisierten Grenzziehungsprozessen als äußeres, häufig auch namenloses Feindbild die Unabhängigkeit der politischen Gemeinschaft unterminiert. Dementsprechend reproduziert sich durch die Grenzziehungsstrategie einer äußeren Feindbildkonstruktion das im Kapitel zuvor bereits beschriebene ethnisierte Klassifikationsrepertoire einer »separierenden jüdischen Lebensweise«. Gemäß dieser ethnisierenden Klassifikationslogik erscheint die Vorstellung eines grenzüberschreitenden Zusammenhaltes der jüdischen »Fremdgruppe« als legitime Wahrnehmungsressource, um das Handeln von Jüd*innen zu beurteilen. Entsprechend dieser Bewertungskategorien werden Jüd*innen als homogenes und wurzelloses Kollektiv klassifiziert und räumlich entgrenzt. Kurzum: »die« Juden bedrohen als (globale) Gesamtheit den Erhalt der nationalen Schicksalsgemeinschaft. Dieses Klassifikationsrepertoire artikuliert sich in dem nationalen Diskurs kollektiver Erinnerung auch im Zusammenspiel mit rassialisierten Codes der Biologisierung. Als Biologisierung erscheint hierbei die symbolische Repräsentation der »jüdischen Allmacht« eines als anorganisch-wurzellos verstandenen Abstammungskollektivs des »Weltjudentums«, die als Zuschreibung eine undurchlässige Grenzziehung stabilisiert.

8 Das Diskursereignis der Walser-Bubis-Debatte

In den kulturellen Aushandlungen der Bedeutung antisemitischer Grenzziehungen in der Walser-Bubis-Debatte wird der Kampf gegen die »Monumentalisierung der Schande« als Selbstbehauptungskampf gegen die überwältigende Macht des »Weltjudentums« plausibel gemacht. Auf eine Formel gebracht formuliert der damalige SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein die Sinnzuweisung einer rassialisierten Grenzziehung von »Deutschen« gegenüber Jüd*innen: Kohl fürchtete eine Stimmungsmache, der schon Konrad Adenauer Anfang der fünfziger Jahre mit den Worten Ausdruck gegeben hatte: »Das Weltjudentum ist eine jroße [sic!] Macht [rassialisiert: globale jüdische Allmacht].« (Spiegel 1998b) Es ist auch hier wieder eine diffuse und formlos konstruierte Gruppe der »Juden«, deren unterwerfende Macht als fundamentale Bedrohung der sittlichen Existenzgrundlage einer ungezwungen nationalen Selbstverständigung erscheint. Mit der Einbindung rassialisierter und auch ethnisierter Klassifikationsrepertoires in Kategorisierungsprozessen nationalisierter Grenzziehungen werden hier die abstrakten parlamentarischen Entscheidungsprozesse, die den demokratischen Aushandlungen über Art und Gestalt eines zentralen Erinnerungsortes zugrunde lagen, durch das heimliche Wirken machtaffiner jüdischer »Drahtzieher« und »Hintermänner« personifiziert. Nun soll in der Mitte der wiedergewonnenen Hauptstadt Berlin ein Mahnmal an unsere fort-währende Schande [ethno-national: genealogische Schicksalsgemeinschaft] erinnern. Anderen Nationen wäre ein solcher Umgang mit ihrer Vergangenheit fremd [national: deutsche Aussonderung]. Man ahnt, daß dieses Schandmal gegen die Hauptstadt und das in Berlin sich neu formierende Deutschland gerichtet ist [national: Bedrohung neuer Normalität]. Man wird es aber nicht wagen, so sehr die Muskeln auch schwellen [biologisiert: Nation als Organismus], mit Rücksicht auf die New Yorker Presse [ethnisiert: jüdischer Einfluss] und die Haifische im Anwaltsgewand [ethno-rassialisiert: »Juden« verheimlichen ihr wahres Wesen], die Mitte Berlins freizuhalten von solch einer Monstrosität [rassia-national: jüdische Allmacht]. (Spiegel 1998b) Neben der rassialisierten Anrufung des nationalen »Wir« einer »Volksnation«, das in der Symbolisierung des »Volkskörpers« als eines biologisierten Organismus sichtbar wird, sind Argumentationen augenscheinlich, die das Handeln und Sprechen von jüdischen Akteur*innen entlang eines gruppistischen Deutungsschemas als zweckgebundenen Ausdruck einer (antisemitisch) artikulierten »jüdischen« Identität ansehen. So wird zum einen mit dem Symbol der »New Yorker Presse« ein überliefertes Stereotyp des Deutungsrepertoires der Kulturalisierung von Jüd*innen artikuliert, insofern »jüdisch kontrollierte Massenmedien« eine Form der ethnischen Personalisierung gesellschaftlicher Machtverhältnisse darstellt. Zum anderen wird mit der antisemitischen Repräsentation der »Haifische im Anwaltsgewand« ein äußeres Feindbild der nationalen Gemeinschaft geschaffen, das sich durch ein substanzialisierendes Zusammenspiel ethnisierter und rassialisierter Fremdzuschreibungen manifestiert und antisemitische Gruppendifferenzen enthält. Während das ethnisierte Stereotyp des »jüdischen Anwalts« eine typisch »jüdische« Berufsgruppe bezeichnen soll, die mit Gerissenheit und unlauterem Geschäftsgebaren assoziiert wird, verkörpert der rassialisierte Signi-

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fikant »Haifisch« das »wahre« – negative – Wesen des »Juden«, das sich als Anwalt unter der Oberfläche seiner bürgerlichen Berufsexistenz verbirgt. Die Vorstellung einer jüdischen »Wesenhaftigkeit« reproduziert damit die Mechanismen rassialisierter Zuschreibungen unveränderlicher Eigenschaften von Jüd*innen. Antisemitisches Wissen folgt einer gewissen Entlarvungslogik, die das »Jüdischsein« der Jüd*innen dechiffrieren soll; hier durch die biologisierenden Signifikationen von »Gier« und »Amoralität« als vermeintlich jüdische Eigenschaften. Auf welche Art und Weise die homogene Gesamtheit eines grenzübergreifenden jüdischen (Feind-)Kollektivs in antisemitischen Grenzziehungsprozessen kontextualisiert und hergestellt wird, kann in dem Erinnerungsdiskurs durch die öffentliche Diskussion über die politische Motivation, die hinter der Entscheidung für den Bau eines Mahnmals gestanden hat, rekonstruiert werden. »Ethnizität« und »Nationalität« als interferierende Wahrnehmungsressourcen der Deutung sozialer Ereignisse legen hier den Fokus auf die jüdische Identität von Akteur*innen, die den Beschluss implizit oder explizit vorangetrieben haben sollen. Im Anschluss an die Abstraktionsleiter taxonomischer Analysekategorien antisemitischer Grenzziehungen lässt sich die genealogische Vorstellung eines separierenden, globalen Gesamtkollektivs der »Juden« als ethnisiertes Klassifikationsrepertoire einer besonderen »jüdischen Lebensweise« verstehen. In diesem Sinne erklärt der damalige SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein (Spiegel 1998b) den »Ursprung« der entstandenen politischen Dynamik mit einem missglückten Israel-Besuch – Israel ist eine nationalisierte Gruppenrepräsentation von Jüd*innen – des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl. Die Konsequenz daraus, so beschreibt es Augstein, war, dass sich Kohl »widerstrebend« mit dem Vorsitzenden des Zentralrates der Juden über den Bau eines Mahnmals verständige (ebd.). Zugleich wirft er Bubis aufgrund seiner jüdischen Identität vor, »für solch ein diffiziles Vorhaben zu befangen[en]« (ebd.) zu sein, was gemäß der Analysekategorien ethnisierter Grenzziehungen des Antisemitismus als antisemitische Fremdzuschreibung einer ambivalenten doppelten Loyalität zu interpretieren ist, die eine derartige Befangenheit überhaupt erst begründen kann. Die Kategorisierung einer »doppelten Loyalität« stellt in ethnisierten Grenzziehungsstrategien des Antisemitismus das jüdische Loyalitätsbekenntnis gegenüber einer gegebenen natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnung (Mecheril 2003; Mecheril und Hoffarth 2009; Mecheril, Thomas-Olalde, et al. 2016) infrage und ist Klassifikationsmerkmal des Zuschreibungsrepertoires einer besonderen, »separierenden jüdischen Lebensweise«. Zuletzt werden in dem Diskurs über den Bau des Mahnmals abermals von Augstein im SPIEGEL rassialisierte Klassifikationsmuster des Antisemitismus verwendet, die den Streit um den geplanten Platz des Gedenkens und Erinnerns als symbolischen Austragungsort eines eschatologischen Kampfes zwischen einem nationalen »Wir« und dem auf Unterwerfung zielenden manichäischen Kollektiv der »Juden« markieren: Ließen wir den von Eisenman vorgelegten Entwurf fallen, wie es vernünftig wäre, so kriegten wir nur einmal Prügel in der Weltpresse [ethnisiert: »jüdische« Weltpresse]. Verwirklichen wir ihn, wie zu fürchten ist, so schaffen wir Antisemiten, die vielleicht sonst keine wären, und beziehen Prügel in der Weltpresse jedes Jahr und lebenslang

8 Das Diskursereignis der Walser-Bubis-Debatte

[rassialisiert: jüdische Macht], und das bis ins siebte Glied [ethno-national: schicksalhafte Unterwerfung]. (Spiegel 1998a) »Weltpresse« steht hierbei als machtparadigmatischer Code für Prozesse der antisemitischen Ethnisierung. Gemäß der Analysekategorien antisemitischer Grenzziehungen sind sie als Klassifikationsmechanismus der Kulturalisierung eines askriptiv zugeschriebenen, machtvollen gesellschaftlichen Status von Jüd*innen zu verstehen und kommen in dem tradierten Stereotyp der jüdisch kontrollierten Weltöffentlichkeit zum Ausdruck. Gegenüber der nationalen Gemeinschaft enthält die überwältigende Unterwerfungsmacht der »Juden« rassialisierte Zuschreibungen einer wesenhaften »jüdischen Macht«, die sich besonders martialisch als Schicksal einer lebenslangen, körperlichen Bestrafung (»Prügel«) perspektiviert. Zugleich reproduzieren sich in dieser Sequenz lokal-historisch spezifische Klassifikationsstrategien, die den Diskurs der veröffentlichten Meinung internationaler Presseerzeugnisse sinnhaft als Manifestationen einer jüdischen »Rachsucht« und »Unnachgiebigkeit« sowie eines jüdischen »Strafbedürfnisses« interpretativ dechiffrierbar machen, wodurch ungleichheitsrelevante Unterscheidungen zwischen nicht-jüdischer »Eigengruppe« und jüdischer »Fremdgruppe« situativ wirksam werden. Insgesamt konnte mit dem Klassifikationsrepertoire der »nationalen jüdischen Unterwerfungsmacht« insbesondere ein Typus der rassialisierten Grenzziehung innerhalb eines nationalen Erinnerungsdiskurses sichtbar gemacht werden, dessen Bedeutung am Beispiel des erinnerungspolitischen Diskurses über den Bau des Holocaustmahnmals rekonstruiert wurde.

8.4

Taxonomie der Analyseebene von Grenzziehungsstrategien: Eine Übersicht über antisemitische Kategorien der Praxis in der Walser-Bubis-Kontroverse

Die diskursive Rekonstruktion der erinnerungspolitischen Walser-Bubis-Debatte konnte wertvolle Einsichten in die mehrdimensionalen Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen geben. Durch die diskursanalytische Interpretation konnten fruchtbare Erkenntnisse für die Plausibilität und Konsistenz der Taxonomie von Analysekategorien soziokultureller Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen gesammelt werden. Abschließend möchte ich daher zentrale Ergebnisse der Auswertung illustrieren und damit folgende Fragen eruieren: Wie lassen sich die kulturellen Aushandlungen über legitime Formen der Erinnerung an den Nationalsozialismus zusammenfassend als Prozesse der Grenzziehungen interpretieren? In welcher Form werden die taxonomischen Analysekategorien antisemitischer Grenzziehungen als Kategorien der Praxis im Kontext des nationalen Selbstverständigungsdiskurses der Walser-Bubis-Debatte sichtbar? Entsprechend der theoretischen Grundlegung einer Taxonomie der soziokulturellen Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen wurde der soziale Ausschluss von Jüd*innen in den öffentlichen Aushandlungen der Walser-Bubis-Debatte als prozesslogisches Resultat symbolischer Kämpfe um die Durchsetzung und Anerken-

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8 Das Diskursereignis der Walser-Bubis-Debatte

[rassialisiert: jüdische Macht], und das bis ins siebte Glied [ethno-national: schicksalhafte Unterwerfung]. (Spiegel 1998a) »Weltpresse« steht hierbei als machtparadigmatischer Code für Prozesse der antisemitischen Ethnisierung. Gemäß der Analysekategorien antisemitischer Grenzziehungen sind sie als Klassifikationsmechanismus der Kulturalisierung eines askriptiv zugeschriebenen, machtvollen gesellschaftlichen Status von Jüd*innen zu verstehen und kommen in dem tradierten Stereotyp der jüdisch kontrollierten Weltöffentlichkeit zum Ausdruck. Gegenüber der nationalen Gemeinschaft enthält die überwältigende Unterwerfungsmacht der »Juden« rassialisierte Zuschreibungen einer wesenhaften »jüdischen Macht«, die sich besonders martialisch als Schicksal einer lebenslangen, körperlichen Bestrafung (»Prügel«) perspektiviert. Zugleich reproduzieren sich in dieser Sequenz lokal-historisch spezifische Klassifikationsstrategien, die den Diskurs der veröffentlichten Meinung internationaler Presseerzeugnisse sinnhaft als Manifestationen einer jüdischen »Rachsucht« und »Unnachgiebigkeit« sowie eines jüdischen »Strafbedürfnisses« interpretativ dechiffrierbar machen, wodurch ungleichheitsrelevante Unterscheidungen zwischen nicht-jüdischer »Eigengruppe« und jüdischer »Fremdgruppe« situativ wirksam werden. Insgesamt konnte mit dem Klassifikationsrepertoire der »nationalen jüdischen Unterwerfungsmacht« insbesondere ein Typus der rassialisierten Grenzziehung innerhalb eines nationalen Erinnerungsdiskurses sichtbar gemacht werden, dessen Bedeutung am Beispiel des erinnerungspolitischen Diskurses über den Bau des Holocaustmahnmals rekonstruiert wurde.

8.4

Taxonomie der Analyseebene von Grenzziehungsstrategien: Eine Übersicht über antisemitische Kategorien der Praxis in der Walser-Bubis-Kontroverse

Die diskursive Rekonstruktion der erinnerungspolitischen Walser-Bubis-Debatte konnte wertvolle Einsichten in die mehrdimensionalen Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen geben. Durch die diskursanalytische Interpretation konnten fruchtbare Erkenntnisse für die Plausibilität und Konsistenz der Taxonomie von Analysekategorien soziokultureller Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen gesammelt werden. Abschließend möchte ich daher zentrale Ergebnisse der Auswertung illustrieren und damit folgende Fragen eruieren: Wie lassen sich die kulturellen Aushandlungen über legitime Formen der Erinnerung an den Nationalsozialismus zusammenfassend als Prozesse der Grenzziehungen interpretieren? In welcher Form werden die taxonomischen Analysekategorien antisemitischer Grenzziehungen als Kategorien der Praxis im Kontext des nationalen Selbstverständigungsdiskurses der Walser-Bubis-Debatte sichtbar? Entsprechend der theoretischen Grundlegung einer Taxonomie der soziokulturellen Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen wurde der soziale Ausschluss von Jüd*innen in den öffentlichen Aushandlungen der Walser-Bubis-Debatte als prozesslogisches Resultat symbolischer Kämpfe um die Durchsetzung und Anerken-

231

232

Wandelbarkeiten des Antisemitismus

nung wandelbarer Bedeutungen des »Jüdischen« analysiert. Diese wandelbaren Bedeutungen wurden in der sozialen und politischen Praxis von Akteur*innen als relationales Zusammenspiel kategorialer Wechselwirkungen der Differenzkategorien »Nation«, »Ethnizität« und »Rasse« identifiziert. Ausgehend von der analytischen Ausrichtung an dem Paradigma der Intersektionalitätsforschung wurde in der erinnerungspolitischen Kontroverse mit dem Typus der nationalisierten Grenzziehung eine dominante Achse der Ungleichheit festgestellt. Diese hierarchische Anordnung begründet sich durch die diskursive Struktur eines prädominant nationalen Aushandlungsprozesses der gemeinschaftlichen Erinnerung an eine schuldbehaftete Verbrechensgeschichte und ihrer positiven Wiederaneignung. Im Zentrum stand dabei das kontingente Zusammenspiel mit Prozessen der Ethnisierung und Rassialisierung des nationalen Erinnerungsdiskurses, die als Grenzziehungsstrategien deutlich machen konnten, wie Jüd*innen einerseits und »Deutsche« andererseits in kulturellen Aushandlungsprozessen über legitime Formen des Erinnerns an die Verbrechen des Nationalsozialismus als unterscheidbare Gruppen hervorgebracht werden. Konkret wurden mit dem schuldentlastenden Klassifikationsmuster der kollektiven Erinnerung an die »Holocaust-Schuld und -Schande« Normalisierungsnarrative eines nationalen »Schlussstrichdiskurses« sichtbar gemacht, die das politische Schicksal der ethnisch, z.T. auch rassistisch, definierten Erinnerungsgemeinschaft als mythologische Leiterzählung einer Kontinuitätsfiktion nationaler Selbsterzählung begründen und überwiegend auf sekundärantisemitischen Täter-Opfer-Umkehrungen beruhen. Durch die Verschränkung mit Prozessen der Ethnisierung konnten antisemitische Klassifikationsrepertoires als categories of practice herausgearbeitet werden, die Jüd*innen als wurzellose Träger*innen einer »Erinnerungsfremdheit« kulturalisieren, jüdische Wertvorstellungen einer subordinierenden »manipulativen Holocaust-Instrumentalisierung« artikulieren, die besondere Lebensweise eines »separierenden Zusammenhaltes der Juden« unterstellen und zuletzt eine nationale Bedrohung durch Personalisierungen einer vermeintlichen »jüdischen Erinnerungsmacht« imaginieren. Daneben wurden im Zusammenspiel mit Prozessen der Rassialisierung antisemitische Klassifikationsrepertoires rekonstruiert, die ein »unnachgiebiges jüdisches Leidensgedächtnis« biologisieren und eine »nationale Unterwerfungsmacht« als wesenhafte Eigenschaft der Allmacht des globalen Gesamtkollektivs der »Juden« naturalisieren. Folgende Tabelle illustriert auf der taxonomischen Analyseebene von Kategorien der sozialen Praxis, wie die kulturelle Sinngebungspraxis des Doing Nation das Zusammenspiel unterschiedlicher Grenzziehungstypen zum Vorschein bringt und politisch relevant werden lässt: Für die Interpretation der Anordnung antisemitischer Prozesskategorien möchte ich auf einen zentralen Aspekt hinweisen: Die taxonomisch differenzierten Grenzziehungsprozesse der Ethnisierung und Rassialisierung des nationalisierten nationalen Selbstverständigungs- und Erinnerungsdiskurses können nicht als typologisch abgrenzbare Klassifikationsmuster verstanden werden, sondern sind im Sinne des intersektionalen mutual shaping als durchlässige, sich wechselseitig beeinflussende soziale Differenzkategorien zu reflektieren. Demzufolge bringen diese kategorialen Verknüpfungen in den hier untersuchten Aushandlungsprozessen der kollektiven Erinnerung wechselseitig verschränkte Formen der Diskriminierung hervor. Beispielsweise interferiert die ethnisierte Kategorisierung einer hybriden Mehrfachzugehörigkeit des jüdi-

Kategoriale Verknüpfungen rassialisierter und nationalisierter Grenzziehungen konstruieren die historische »Schuld« des Holocaust als exkludierendes nationales Unterscheidungszeichen einer kollektiv geteilten »Schande« der biologisch definierten »Volksnation« und ihres »Nationalgewissens«.

Rassia-nationalisierte Klassifikationsmuster biologisieren ein negatives »jüdisches« Leidensgedächtnis und naturalisieren eine wesenhafte nationale Unterwerfungsmacht der »Juden« durch die Instrumentalisierung der Vergangenheit.

Biologisierende Täter-Opfer-Umkehrungen: »Juden« sind rachsüchtig; »Juden« sind unnachgiebig; »Juden« verschleiern ihr wahres Wesen/täuschen Nicht-Juden über ihre Identität. Naturalisierende Täter-Opfer-Umkehrungen: globale Macht des »Weltjudentums«; »Juden« streben nach Unterwerfung.

Typen der Grenzziehung

Antisemitische Klassifikationsrepertoires

(Selbst-)und Fremdzuschreibungen

Erinnerungskultur: »Juden« besitzen anpassungsunfähige Erinnerungsfremdheit; »Juden« beharren auf ihrem Opferpartikularismus   Täter-Opfer-Umkehrungen: »Juden« instrumentalisieren die Vergangenheit für persönlichen Vorteil (z.B. Entschädigungszahlungen); »Juden« üben ein Erinnerungsdiktat aus; »Juden« besitzen Strafbedürfnis gegenüber der »Täter-Nation«; »Juden« reproduzieren Kollektivschuldvorwürfe; »Juden« übertreiben Antisemitismus   Lebensweise/sozialer Status: »Juden« besitzen doppelte Loyalität, verweigern Inklusion, sind anpassungsunfähig, sind schuld am Antisemitismus; »Juden« verfügen über großen gesellschaftlichen Einfluss, kontrollieren die Presse; »Juden« üben Meinungsmacht aus und errichten Diskurstabus.

Ethno-nationale Klassifikationsmuster kulturalisieren die jüdische »Fremdgruppe« als wurzellose Träger*innen einer ungleichwertigen Erinnerungsdifferenz, marginalisieren ihre Wertvorstellungen als gefährliche Irritation der nationalen Normalisierung oder signifizieren Vorstellungen einer »jüdischen« Lebensweise oder eines besonderen sozialen Status als nationale Bedrohung.

Ethno-nationale Grenzziehungen konstruieren die historische »Schuld« des Holocaust als exkludierendes nationales Unterscheidungszeichen des genealogischen Mythos einer kollektiv geteilten »Schande« der ethnisierten »Kulturnation« und ihres »Nationalgewissens«.

Ethnische Gruppenzugehörigkeiten in Diskursen der nationalen Sinngebung werden auf der genealogischen Grundlage einer vorgestellten Schicksals- und Erinnerungsgemeinschaft hergestellt. Als rassialisiertes Identifikationsmerkmal nationaler Zugehörigkeit fungiert kollektive Erinnerung durch die Konstruktion einer biologischen Abstammungsgemeinschaft.

Kategorien der Analyse

Kategorien der sozialen Praxis

Tabelle 7: Taxonomie der Analyseebene antisemitischer Grenzziehungsstrategien in der Walser-Bubis-Debatte, Quelle: Eigene Darstellung.

8 Das Diskursereignis der Walser-Bubis-Debatte 233

234

Wandelbarkeiten des Antisemitismus

schen »Fremden« mit rassialisierten Vorstellungen einer weltumspannenden Allmacht des homogenisierten jüdischen Kollektivs, die als »natürliche« Eigenschaft des rassialisierten jüdischen »Anderen« imaginiert wird. Nachdem ich nun die Praxisebene der symbolischen Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen am Beispiel des Diskursereignisses der Walser-BubisDebatte kurz illustriert habe, möchte ich im Folgenden rekonstruieren, inwiefern die erinnerungspolitischen Aushandlungen über legitime Bedeutungen des kollektiven Gedächtnisses Formen des boundary blurring hervorgebracht haben. Wie stellen Akteur*innen antisemitische Grenzziehungen in erinnerungs- und schuldabwehrenden Diskursen infrage?

8.5

»Die Erinnerungspolitik wird mit und ohne Walser universalistischer.« – Mechanismen des boundary blurring in der Walser-Bubis-Debatte

Die antisemitischen Grenzziehungen einer nationalisierten Unterscheidung zwischen Jüd*innen und Nicht-Jüd*innen, wie sie charakteristisch für die in der Walser-BubisDebatte vorgebrachten Teilungs- und Bewertungsprinzipien sind, werden auch in den symbolischen Kämpfen um die legitime Deutung der NS-Vergangenheit der politisch konstruierten Erinnerungsgemeinschaft infrage gestellt. Dabei erfolgt das boundary blurring (Wimmer 2008a; 2008b; 2013) durch Re-Artikulationen sozialer Akteur*innen, in denen der erinnerungspolitische Zugehörigkeitskonflikt nicht als Frage der ethnisierten, rassialisierten oder nationalisierten Differenz der jüdischen »Fremdgruppe« interpretiert wird. Insgesamt wurden hier zwei Repertoires von Klassifikationsstrategien der equalization (Lamont und Bail 2007) analysiert, die zum einen versuchen, exkludierende Formen der Erinnerungsabwehr durch andere, tendenziell universalisierendere Kriterien der Grenzziehung zu ersetzen und zum anderen Prozesse der antisemitischen Exklusion innerhalb dieses öffentlichen Diskurses anfechten.

8.5.1

Ziviler Republikanismus oder ethnischer Kulturalismus – Inklusive versus exkludierende Modelle nationaler Zugehörigkeit

Eine Form der Interpretationsstrategie des boundary blurring zwischen Jüd*innen und nicht-jüdischer Mehrheitsgesellschaft konnte in dem öffentlichen Diskurs über den angemessenen Umgang mit dem Holocaust identifiziert werden, die ich die »Linksliberal-republikanische« nennen möchte. Diese Grenzverwischungsstrategie wird dem normalisierenden Deutungsrepertoire der Schuld und Erinnerungsabwehr gegenüber den vielfältigen Arten der Schuldverstrickung und Kollaboration gegenübergestellt, die im kulturellen Gedächtnis der postnazistischen Täternation als Teil des kollektiv-imaginären Wissensreservoir sedimentiert sind. Dabei wird die Debatte um das öffentliche Gedenken des Holocaust als politischer Deutungsstreit um das zukunftswirksame Selbstverständnis einer »Nation« im Umbruch verstanden, als deren Symbol der Übergang von »Bonner« zu »Berliner« Republik gilt. So stellen Protagonisten des linksliberal-republikanischen Lagers, die überwiegend in der linken TAZ Position bezogen haben, zwei Konstruktionsweisen eines symbolischen Gemeinschaftsbegriffes gegen-

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

schen »Fremden« mit rassialisierten Vorstellungen einer weltumspannenden Allmacht des homogenisierten jüdischen Kollektivs, die als »natürliche« Eigenschaft des rassialisierten jüdischen »Anderen« imaginiert wird. Nachdem ich nun die Praxisebene der symbolischen Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen am Beispiel des Diskursereignisses der Walser-BubisDebatte kurz illustriert habe, möchte ich im Folgenden rekonstruieren, inwiefern die erinnerungspolitischen Aushandlungen über legitime Bedeutungen des kollektiven Gedächtnisses Formen des boundary blurring hervorgebracht haben. Wie stellen Akteur*innen antisemitische Grenzziehungen in erinnerungs- und schuldabwehrenden Diskursen infrage?

8.5

»Die Erinnerungspolitik wird mit und ohne Walser universalistischer.« – Mechanismen des boundary blurring in der Walser-Bubis-Debatte

Die antisemitischen Grenzziehungen einer nationalisierten Unterscheidung zwischen Jüd*innen und Nicht-Jüd*innen, wie sie charakteristisch für die in der Walser-BubisDebatte vorgebrachten Teilungs- und Bewertungsprinzipien sind, werden auch in den symbolischen Kämpfen um die legitime Deutung der NS-Vergangenheit der politisch konstruierten Erinnerungsgemeinschaft infrage gestellt. Dabei erfolgt das boundary blurring (Wimmer 2008a; 2008b; 2013) durch Re-Artikulationen sozialer Akteur*innen, in denen der erinnerungspolitische Zugehörigkeitskonflikt nicht als Frage der ethnisierten, rassialisierten oder nationalisierten Differenz der jüdischen »Fremdgruppe« interpretiert wird. Insgesamt wurden hier zwei Repertoires von Klassifikationsstrategien der equalization (Lamont und Bail 2007) analysiert, die zum einen versuchen, exkludierende Formen der Erinnerungsabwehr durch andere, tendenziell universalisierendere Kriterien der Grenzziehung zu ersetzen und zum anderen Prozesse der antisemitischen Exklusion innerhalb dieses öffentlichen Diskurses anfechten.

8.5.1

Ziviler Republikanismus oder ethnischer Kulturalismus – Inklusive versus exkludierende Modelle nationaler Zugehörigkeit

Eine Form der Interpretationsstrategie des boundary blurring zwischen Jüd*innen und nicht-jüdischer Mehrheitsgesellschaft konnte in dem öffentlichen Diskurs über den angemessenen Umgang mit dem Holocaust identifiziert werden, die ich die »Linksliberal-republikanische« nennen möchte. Diese Grenzverwischungsstrategie wird dem normalisierenden Deutungsrepertoire der Schuld und Erinnerungsabwehr gegenüber den vielfältigen Arten der Schuldverstrickung und Kollaboration gegenübergestellt, die im kulturellen Gedächtnis der postnazistischen Täternation als Teil des kollektiv-imaginären Wissensreservoir sedimentiert sind. Dabei wird die Debatte um das öffentliche Gedenken des Holocaust als politischer Deutungsstreit um das zukunftswirksame Selbstverständnis einer »Nation« im Umbruch verstanden, als deren Symbol der Übergang von »Bonner« zu »Berliner« Republik gilt. So stellen Protagonisten des linksliberal-republikanischen Lagers, die überwiegend in der linken TAZ Position bezogen haben, zwei Konstruktionsweisen eines symbolischen Gemeinschaftsbegriffes gegen-

8 Das Diskursereignis der Walser-Bubis-Debatte

über, in denen ein inklusives, pluralistisches und demokratisches Nationenverständnis einem primordial-ethnischen Gemeinschaftscode entgegengesetzt wird. Beispielhaft zeigt folgende Sequenz, mit Bezug auf die Diskussion um den Bau des Holocaustmahnmals, wie die Debatte apodiktisch als Richtungsstreit um eine neue nationale Leiterzählung interpretiert wird: »Es wird diese – und keine andere – Debatte sein, in der die ›Berliner Republik‹ und ihre Nationalidee geboren werden wird.« (Taz 1998a). Inwiefern Äußerungsmodalitäten der Schuldentlastungsnarration als rechts bzw. reaktionär, anti-liberal und damit antagonistisch wahrgenommen werden, lässt sich an Diskurssequenzen nachvollziehen, die einen »aggressiven Nationalismus« (ebd.) unterstellen, von dem »national gestimmte[n] Schriftsteller Martin Walser« (ebd.) sprechen, durch die Rede einen »kulturellen Flächenbrand entfacht« (ebd.) sehen, das »semantische Feld eines neuen Nationalismus bereitet« (ebd.) erkennen, einen revisionistischen »Generalangriff auf die Erinnerungspolitik« (Taz 1998c) und eine »Entsorgung der Geschichte« (ebd.) vermuten. Letztlich wird angenommen, dass der geschichtsrevisionistische Schulddiskurs den durch Kommunikationslatenzen unterdrückten Glauben an eine »selbstbewusste Nation mit Großmachtanspruch« (ebd.) wiederherstellen soll. Diese Annahme wird in Äußerungen von Ignatz Bubis deutlich, der als Vertreter der jüdischen Minderheit den chauvinistischen Duktus der Auseinandersetzung beklagt, indem er Walser »geistige Brandstiftung« (Spiegel 1998a) vorwirft. Welche Ausrichtung die Delegitimierung der ethnisch-primordialen Positionen im Diskurs einnimmt, zeigt sich in einem Kommentar der TAZ, der symbolisch die Narration der integrativen und inklusiven Nation erzählt: Wichtiger ist es, eine offene Erinnerungspolitik zu modellieren, die zukünftig auch Deutschen türkischer, kurdischer oder bosnischer Herkunft etwas zu sagen hat [blurring: pluraler Zugehörigkeitskontext]. Die Erinnerungspolitik wird, mit und ohne Walser, universalistischer [blurring: kosmopolitische Erinnerung]. Sie wird in dem Maße, in dem Täter und Opfer verschwinden, mediatisiert. Die Nazizeit rückt in die Ferne, sie wird, biologischer Logik folgend, historisiert, sie wird an Prägekraft für die politischen und nationalen Selbstdefinitionen verlieren. (Taz 1998c) Von Bedeutung ist hierfür die Anerkennung einer öffentlichen Erinnerungskultur, die sich ihrer Mittelbarkeit bewusst ist, und diese Mittelbarkeit nicht als Ausdruck einer unrechtmäßigen Instrumentalisierung begreift, sondern im Gegenteil in einem politischen Sinne als Form der nationalen Selbstvergewisserung, die ihrem Wesen nach ritualisiert ist. Kollektive Erinnerung, in der Gesellschaften sich ihrer Geschichte und Legitimation vergewissern, ist stets kanonisiert [national: legitime öffentliche Erinnerung]. Das Wesen öffentlicher Erinnerung ist das Über-Individuelle, das Mittelbare, die rhetorische Pathos-Formel, die durch kein aktuelles Gefühl, durch keine Subjektivität gedeckt sein muss. Sie darf »Lippengebet« sein. (Taz 1998c) Ähnlich weist auch ein anderer Autor der Tageszeitung darauf hin, dass »Rituale und symbolische Setzungen […] dazu geeignet sind, Politik zu machen« (Taz 1998b). Letztlich zielt eine linksliberale Konstruktion nationaler Erinnerungskulturen auf die Inklusion der jüdischen Minderheit ab, die in die Grenzen der politischen Erinne-

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

rungsgemeinschaft integriert werden soll, und wodurch ethnisierte und nationalisierte Differenzen infrage gestellt werden. Explizit ist damit eine Anerkennung des jüdischen Erinnerungsnarrativs verbunden, die auch als ethische Pflicht begriffen wird, das von Deutschen an Jüd*innen begangene Verbrechen des Holocaust im öffentlichen Raum sichtbar zu machen. Intentional lässt sich das im folgenden Diskursfragment nachvollziehen, das die Sorge Ignatz Bubis über ein offiziell angeleitetes »Vergessen« des Nazismus teilt: Wenn Gedenken nur als private Gewissensbefragung möglich ist – heißt das nicht, so Bubis, dass die öffentliche Erinnerung an den Holocaust zu einer Privatsache der Juden wird, die den Rest nichts mehr angeht? Ja, das heißt es. (Taz 1998c) Im Gegensatz dazu wird explizit die besondere Rolle der Medien als deliberativer Austragungsort gesellschaftlicher Aushandlungen, die in Demokratien legitime Öffentlichkeit herstellen und einen pluralistischen Meinungsaustausch zulassen, hervorgehoben. Damit markieren Sprecher*innen, die von dieser Position aus in den Diskurs intervenieren, einen Gegensatz zu der von Walser vorgetragenen, autoritären und latent antisemitischen Medienkritik an einer Erinnerungspolitik, die von »Meinungssoldaten« (FAZ 1998a) getragen werde. Aus der Debatte voller Mißverständnisse ist vor allem […] zu lernen: Die »Medien«, nicht nur von Walser gescholtenes Instrument der »Meinungssoldaten«, sind offenbar genau der richtige Ort, um Argumente öffentlich auszutauschen und wenigstens ein paar Wahrheiten heraus-zufinden [blurring: demokratischer Wert von Mediendiskursen]. (Spiegel 1998a) Durch die Herstellung einer auf politischen Wertvorstellungen beruhenden Grenze zwischen links-liberalem gegenüber dem rechts-nationalem Lager wird im Ergebnis der Grenzverlauf des erinnerungspolitischen Diskurses um jüdische (Nicht-)Zugehörigkeit umgedeutet. Diese Diskursstrategie kann als eine Strategie der Gleichstellung identifiziert werden, die, jenseits ethnischer oder rassialisierter Grenzziehungen, eine neu bestimmte »Wir-Gruppe« im Nationalisierungsprojekt zu etablieren versucht. Dementsprechend versuchen Akteur*innen unterschiedlicher gesellschaftlicher Lager und ethnischer Gruppen eine universalisierende, den Partikularismus ethnisch-primordialer Beschränkungen überschreitende und soziale Heterogenitäten anerkennende Narration des »Nationalen« zu legitimieren. In einem nächsten Schritt möchte ich das Grenzverwischungsrepertoire des Anti-Antisemitismus darstellen, das auf Prozesse der Exklusion zielt und die Anerkennung jüdischer Diskriminierungserfahrungen beabsichtigt.

8.5.2

Anti-Antisemitismus als Angleichungsstrategie der Grenzverwischung

Ein zweites Grenzverwischungsrepertoire, das in dem Diskurs der Walser-BubisDebatte rekonstruiert werden konnte, lässt sich als Angleichungsstrategie (equalization strategy) des »Anti-Antisemitismus« begreifen. Anti-Antisemitische Grenzverwischungen betonen den exkludierenden Charakter der Debatte und zielen auf diese Weise auf eine universalistische Überwindung der partikularistisch-exkludierenden Grenz-

8 Das Diskursereignis der Walser-Bubis-Debatte

ziehung von Nicht-Jüd*innen gegenüber Jüd*innen ab. Kritisch wird dabei ein Verständnis von Antisemitismen betrachtet, das die Judenfeindschaft einzig in der Form eines Vernichtungsantisemitismus als real folgenreiche Handlung anerkennt. Vielmehr wird von Sprecher*innen auf den Facettenreichtum antisemitischer Zuschreibungen aufmerksam gemacht, was auch als impliziter Hinweis verstanden werden kann, für die häufig subtilen Äußerungsmodalitäten antisemitischer Sprechweisen unter den kulturellen Bedingungen des Postnazismus, wie sie etwa auch charakteristisch für den erinnerungs- und schuldabwehrenden Antisemitismus der Walser-Bubis-Debatte sind, zu sensibilisieren: Kein Mensch käme auf die Idee, frauenfeindliches Verhalten erst bei einer Vergewaltigung anfangen zu lassen. Doch solange Juden nicht in Viehwaggons auf die Reise geschickt werden, haben sie offenbar keinen Grund, sich zu beschweren [blurring: Kritik an unzureichendem Antisemitismusbegriff]. Und wer Juden nicht auf die Reise schickt, sondern sie, wie Dohnanyi es mit Bubis tat, nur auffordert, nichtjüdische Bürger nicht zu verletzen, suggeriert zweierlei: daß die jüdischen Bürger ihren Status mißbrauchen und daß die Nichtjuden sich gegen diesen Mißbrauch zur Wehr setzen müssen [blurring: Kritik an sekundärem Antisemitismus]. (Spiegel 1998a) Dass eine solche Perspektive auf die Wirklichkeit des Antisemitismus verkürzend ist, wird durch eine Analogie verdeutlicht, die das Unsagbare offen antisemitischer Äußerungen und ihrer durch öffentliche Kommunikationsverbote in einen Latenzbereich verschobenen traditionellen, d.h. expliziten, Sinnzuweisungen mit der Charakterstruktur eines Alkoholikers vergleicht: Wer sich heute als Antisemit outen würde, müßte damit rechnen, sofort rückwirkend für Auschwitz mitverantwortlich gemacht zu werden. Das möchte sich niemand antun, und deswegen fristen Antisemiten eine Existenz wie Alkoholiker zur Zeit der Prohibition: Sie berauschen sich heimlich, im Schutz der Dunkelheit oder in den eigenen vier Wänden [blurring: anonymer Antisemitismus]. (Spiegel 1998a) Dass der Selbstverständigungsdiskurs in Teilen antisemitische Züge besitzt, steht in den anti-antisemitischen Interpretationsstrategien außer Frage (Taz 1998a, Spiegel 1998a). Exemplarisch wird dies daran festgemacht, dass hinter dem demokratischen Prozess, der zu der Entscheidung für den Bau eines zentralen Erinnerungsortes für den Holocaust geführt hat, »in bester Manier, eine Intervention anonymer, auswärtiger Mächte« (Taz 1998a) erkannt wird. Die Delegitimierung jüdischer Sprecher*innenpositionen in dem Diskurs wird daher als Menetekel für die gesellschaftliche Stellung von Jüd*innen betrachtet, die entgegen der offiziellen Verlautbarungen und einer stereotypen Wahrnehmung von Jüd*innen als einflussreiche Träger*innen gesellschaftlicher Macht nach wie vor eine abhängige und machtlose ist. Folgende Sequenz weist auf die prekäre jüdische Stellung im gesellschaftlichen Leben der Bundesrepublik hin: Ignatz Bubis, der lange nicht einsehen konnte, dass Juden als Juden in Deutschland aus eigener Kraft nicht den mindesten Einfluss haben und auch nicht –wie gerne behauptet – als moralische Autoritäten gelten können, spielte eine Weile mit. (Taz 1998a)

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Zwar lässt sich die Problematisierung des antisemitischen Sinngehaltes der sekundärantisemitischen Walser-Bubis-Debatte als Grenzverwischungsstrategie des boundary blurring feststellen, jedoch nehmen diese im Diskurs eine marginalisierte Rolle ein. Dennoch zielt die Interpretationsstrategie eines Anti-Antisemitismus darauf ab, bestehende Grenzen, die eine nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaft gegenüber Jüd*innen herstellt, zu verwischen, indem die dominanten Teilungsprinzipien und Modi der Grenzziehung selbst als unzulässige Mechanismen des soziokulturellen Ausschlusses von Jüd*innen markiert werden. Die Benennung des antisemitischen Charakters des hegemonialen Erinnerungsdiskurses lässt sich schließlich als universalisierende Subversion der partikular-exkludierenden Beschränktheit antisemitischer Unterscheidungscodes deuten.

8.6

Taxonomie der Analyseebenen von Mechanismen des Boundary Blurring: Strategien der Grenzverwischung in der Walser-Bubis-Kontroverse

Das vorhergehende Kapitel konnte sichtbar machen, wie soziale Akteur*innen in den erinnerungspolitischen Aushandlungsprozessen über legitime Formen des Gedenkens der nazistischen Vergangenheit Deutschlands erinnerungs- und schuldabwehrende Konstruktionsweisen antisemitischer Grenzen durch die Verwendung von Interpretationsstrategien der Grenzverwischung infrage stellen. Dabei haben sich zwei dominante Argumentationsweisen des subversiven boundary blurring hervorgetan, die insbesondere ethnisierte Unterscheidungslinien als kulturelle Ordnungsmuster der nationalen Zugehörigkeitsordnung einer politischen Erinnerungsgemeinschaft untergraben. Folgende Tabelle illustriert die lokal-historisch kontextualisierbaren Praktiken des boundary blurring antisemitischer Grenzziehungen:

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Zwar lässt sich die Problematisierung des antisemitischen Sinngehaltes der sekundärantisemitischen Walser-Bubis-Debatte als Grenzverwischungsstrategie des boundary blurring feststellen, jedoch nehmen diese im Diskurs eine marginalisierte Rolle ein. Dennoch zielt die Interpretationsstrategie eines Anti-Antisemitismus darauf ab, bestehende Grenzen, die eine nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaft gegenüber Jüd*innen herstellt, zu verwischen, indem die dominanten Teilungsprinzipien und Modi der Grenzziehung selbst als unzulässige Mechanismen des soziokulturellen Ausschlusses von Jüd*innen markiert werden. Die Benennung des antisemitischen Charakters des hegemonialen Erinnerungsdiskurses lässt sich schließlich als universalisierende Subversion der partikular-exkludierenden Beschränktheit antisemitischer Unterscheidungscodes deuten.

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Taxonomie der Analyseebenen von Mechanismen des Boundary Blurring: Strategien der Grenzverwischung in der Walser-Bubis-Kontroverse

Das vorhergehende Kapitel konnte sichtbar machen, wie soziale Akteur*innen in den erinnerungspolitischen Aushandlungsprozessen über legitime Formen des Gedenkens der nazistischen Vergangenheit Deutschlands erinnerungs- und schuldabwehrende Konstruktionsweisen antisemitischer Grenzen durch die Verwendung von Interpretationsstrategien der Grenzverwischung infrage stellen. Dabei haben sich zwei dominante Argumentationsweisen des subversiven boundary blurring hervorgetan, die insbesondere ethnisierte Unterscheidungslinien als kulturelle Ordnungsmuster der nationalen Zugehörigkeitsordnung einer politischen Erinnerungsgemeinschaft untergraben. Folgende Tabelle illustriert die lokal-historisch kontextualisierbaren Praktiken des boundary blurring antisemitischer Grenzziehungen:

8 Das Diskursereignis der Walser-Bubis-Debatte

Tabelle 8: Taxonomie der Analyseebene von Grenzverwischungsstrategien in der Walser-BubisDebatte, Quelle: Eigene Darstellung. Kategorien der sozialen Praxis Typus der Grenzverwischung

Interpretationsstrategien der Angleichung können inklusivere Kriterien der Zugehörigkeit betonen oder begegnen als Typus der Grenzverwischung exkludierenden Stigmatisierungen durch Strategien der Infragestellung.

Klassifikationsrepertoires

Angleichungsstrategien eines links-liberalen Republikanismus zielen tendenziell auf Prozesse der Inklusion und betonen politische Gemeinschaftswerte einer nationalen Zugehörigkeitsordnung.

Grenzverwischungsrepertoires anti-antisemitischer Strategien der Angleichung zielen tendenziell auf Prozesse der Exklusion und verweisen auf die partikulare Beschränktheit antisemitischer Differenzkonstruktionen.

Klassifikationen

Differenz: demokratisches, inklusives, pluralistisches und heterogenes nationales Selbstverständnis vs. primordiales, ethnisches, nationalistisches und revisionistisches Nationenverständnis.

Zum Antisemitismusverständnis: anti-antisemitische Reflexion judenfeindlicher Diskurstabus und Kommunikationsverbote, Anerkennung der Vielfalt antisemitischer Zuschreibungen. Zum sozialen Status: Jüd*innen fehlt es an gesellschaftlicher Anerkennung, besitzen marginalisierten sozialen Status.

Im Ergebnis wird den Konstruktionsformen der ethno-nationalen Grenzziehung zwischen deutscher Mehrheitsgesellschaft gegenüber Jüd*innen durch Grenzverwischungsrepertoires der Angleichung begegnet, die Mechanismen universalisierender Zugehörigkeitskonstruktionen betonen. Dabei zielen sowohl der Anti-Antisemitismus als auch links-liberal republikanische Gemeinschaftsvorstellungen auf die universalistische Überwindung partikularer und primordial beschränkter Konstruktionsweisen des politischen Zugehörigkeitsprojektes der Nation ab. Abschließend lässt sich im Hinblick auf die diskursanalytische Fallstudie über die Walser-Bubis-Kontroverse erkennen, wie Akteur*innen soziokulturelle Grenzziehungen in den kollektiven Deutungskämpfen über Fragen der kollektiven Erinnerung und des legitimen Gedenkens an die schuldbehaftete Vergangenheit des Nationalsozialismus (re-)produziert haben und damit jüdische Minderheit und nicht-jüdische Mehrheit als unterscheidbare Gruppen hervorbringen konnten. Dabei wurde die Herstellungsdynamik von Grenzziehungen durch das multiple Zusammenwirken ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Differenzlinien in den hegemonialen Klassifikationsstrategien von Akteur*innen herausgearbeitet, wobei sich mit der Differenzkategorie »Nation« eine dominante Achse der sozialen Ungleichheit in dem schuld- und erinnerungsabwehrenden Diskurs der nationalen Selbsterzählung herausgebildet hat. Darauf aufbauend wurden Praxistypen der Grenzziehungen rekonstruiert, die Jüd*innen in vielfältiger und mehrdimensional verschränkter Form als das »Andere« der politischen Erinnerungs- und Schicksalsgemeinschaft der »deutschen« Nation abgewertet

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

und ausgeschlossen haben. Zuletzt konnten Strategien der Grenzverwischung rekonstruiert werden, in denen Akteur*innen durch Klassifikationsrepertoires der Angleichung ethnisierte und nationalisierte Formen der Grenzziehung infrage gestellt haben. Nachdem mit der Walser-Bubis-Kontroverse eine erinnerungspolitische Debatte über die legitime Bedeutung der kollektiven Verbrechensgeschichte Gegenstand der Betrachtung war, wird die nächste Fallstudie Konstruktionsweisen antisemitischer Grenzziehung in der öffentlichen Debatte über die (Il-)Legitimität der rituellen Beschneidung von Säuglingen im Judentum analysieren.

9 Das Diskursereignis der Beschneidungsdebatte Eine Wissenssoziologische Diskursanalyse von Konstruktionsmechanismen der antisemitischen Grenzziehung

Die Zielsetzung der vorliegenden Fallstudie ist es, auf der methodischen Grundlage der Wissenssoziologischen Diskursanalyse, soziokulturelle Konstruktionsmechanismen der antisemitischen Grenzziehung in der öffentlichen Debatte über das Verbot ritueller Beschneidungen von Säuglingen und Jugendlichen in Judentum und Islam offenzulegen. Auf diese Weise möchte ich die theoretisch konzipierten Analysekategorien der Taxonomie soziokultureller Grenzziehungen des Antisemitismus auf ihre empirische Plausibilität, Glaubwürdigkeit und Konsistenz hin überprüfen. Zugleich soll die diskursanalytische Betrachtung einerseits die heterogene Erscheinungsvielfalt antisemitischer Klassifikationen sichtbar machen und dient andererseits der übergeordneten Fragestellung nach den prozessualen Wandelbarkeiten von Antisemitismen im diachronen Zeitverlauf. Dieses empirische Erkenntnisinteresse folgt dabei der forschungslogisch angelegten Verzahnung von Theorie und Empirie innerhalb der Taxonomie, die davon ausgeht, dass die Rekonstruktion antisemitischer Kategorien der sozialen Praxis neue analytische Facetten der Taxonomie antisemitischer Differenzierungen hinzufügen kann. Als Textkorpus fungieren 119 Zeitungsartikel, Hintergrundberichte und Kommentare aus drei verschiedenen, seriösen und überregionalen Tages- bzw. Wochenzeitungen (TAZ, SPIEGEL, FAZ) und wo vorhanden, ihrer Online-Ausgaben, die das politische Spektrum in Deutschland möglichst weitgehend abdecken und von denen letztlich jeweils drei Artikel für die Detailanalyse ausgewählt wurden. Für die Auswahl der Texte war die Frage relevant, ob sie das Thema der jüdischen Säuglingsbeschneidung behandeln und ob sie zeitlich nach dem Urteil des Landgerichtes Köln vom 07.05. 2012, das als Beginn der Debatte betrachtet werden kann, publiziert wurden. Bevor ich nun aber konkrete Grenzziehungsstrategien innerhalb des Beschneidungsdiskurses in den Blick nehme, möchte ich zunächst die kulturreligiöse Bedeutung des jüdischen Beschneidungsrituals und den Verlauf der De-

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

batte kursorisch darstellen, um die exkludierende Konstitution des Diskursereignisses nachvollziehbar machen zu können.

9.1

»Das Zeichen des Bundes«: Das gerichtliche Verbot der »Brit Mila« in ihrem historischen und politischen Kontext

Unter dem Begriff der »Brit Mila« wird im Judentum das Ritual der partiellen Vorhautentfernung des Gliedes männlicher Säuglinge verstanden. Durchgeführt wird der religiöse Brauch der Beschneidung am achten Lebenstag nach der Geburt von einem Mohel ausgeführt, d. i. ein ausgebildeter Fachmann jüdischen Glaubens der dazu religiös autorisiert ist, Beschneidungen zu vollziehen. Neben dem Grundsatz der Matrilinearität, dem Prinzip der Abstammung durch die weibliche Vorfahrenlinie, besitzt der Ritus der Beschneidung eine herausragende religiöse Bedeutung für die Judenheit, weil er entsprechend der biblischen Überlieferung als göttliche Weisung den »abrahamitischen Bund« zementiert (Schwarz 2012; Heil 2012: 23).1 Als abrahamitischer Bund versteht die jüdische Lehre den Eintritt Abrahams und seiner männlichen Nachkommen in den Bund mit Gott, der als geschlechtsspezifischer Brauch durch die Einkerbung in den Körper »als Zeichen des Bundes« (Heil 2012: 23) besiegelt wird (Fonrobert 2011). So avanciert der beschnittene Penis »zu dem Symbol des Bundes zwischen Gott und dem Volk Israel« (von Braun 2018: 37, Hervorh. i. Orig.). Aus diesem Grund kann die rituelle Säuglingsbeschneidung auch nicht als diskussionswürdiges Ritual unter vielen anderen jüdischen Traditionen zur Disposition gestellt werden, sondern muss vielmehr in seiner symbolischen Dimension als konstitutiver Identifikationsakt Berücksichtigung finden, der ein entscheidendes Mitgliedschaftskriterium, das die jüdische Religionszugehörigkeit vermittelt (Heil und Kramer 2012), repräsentiert. Insofern die Beschneidung es einem männlichen Juden überhaupt erst ermöglicht, eine jüdische Identität im Verlauf des weiteren biographischen Werdegangs annehmen und aktualisieren zu können, stellt die körperliche Einschreibung des Ritus eine der zentralen Voraussetzungen dar, um als Jude am religiösen Leben der Judenheit partizipieren zu können (Schwarz 2012: 101f.). Dass es sich bei der Beschneidung auch um einen für die ethnische Selbstidentifikation bedeutsamen Vorgang handelt, lässt sich darüber hinaus an der Tatsache bemessen, dass selbst säkulare Jüd*innen in überwältigender Mehrheit die Praxis der Beschneidung vollziehen (Fonrobert 2012; B. E. Klein 2012). Neben dem kulturell-religiösen Stellenwert, den die Beschneidung in der jahrtausendealten Geschichte des Judentums einnimmt, besitzen auch Diskurse über die Alterität der Beschneidung und die vermeintliche Notwendigkeit von Verboten eine lange Tradition. So wurden Beschneidungen bereits in der römischen Antike unter Kaiser Hadrian (120 v. Chr.) verboten, im Spätmittelalter als Zeichen der jüdischen Gottesfeindschaft abgewertet (Heil 2012), im 19. Jahrhundert durch medizinische Hygienedis-

1

In der Bibel heißt es hierzu: »Das aber ist mein Bund, den ihr halten sollt zwischen mir und euch und deinem Geschlecht nach dir: Alles, was männlich ist unter euch, soll beschnitten werden. Eure Vorhaut sollt ihr beschneiden. Das soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und euch.« (Gen. 17,10-11, zit.n. Heil 2012: 23).

9 Das Diskursereignis der Beschneidungsdebatte

kurse als körperlich different markiert (Brämer 2012; Gilman 1991) und schließlich als Identifikationsmerkmal männlicher Juden zur Zeit der Judenverfolgung im Nationalsozialismus verwendet (Krochmalnik 2012). Abwertende Zuschreibungen der jüdischen Beschneidung müssen also auch als tradierte, im Kanon des antisemitischen Denkens und Wahrnehmens fest verankerte Bedeutungskomplexe verstanden werden. In diesem Sinne lässt sich die Debatte um das Verbotsurteil des Landgerichtes Köln im Mai 2012 als kontingente Aktualisierung und Kontextualisierung eines sedimentierten antisemitischen Wissensreservoirs interpretieren.2 Wie lässt sich der Verlauf der Debatte nun zeitlich eingrenzen?3 Ausgangspunkt der Debatte war das sogenannte Beschneidungsurteil des LG Köln vom 7. Mai 2012, das den Arzt, der einen vierjährigen Jungen muslimischer Eltern beschnitten hat, dafür verurteilte, die körperliche Unversehrtheit des Jungen verletzt zu haben (Widmann 2012). Im Fall der Beschneidung sahen die Richter eine Kollision von Grundrechten gegeben und mussten, nach Angaben des Gerichtes, zwischen dem Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und des Kindeswohles4 einerseits sowie der Erziehungs- und Religionsfreiheit der Eltern andererseits abwägen. Dabei entschieden sich die Richter zugunsten der körperlichen Unversehrtheit des Kindes zu urteilen, aber sprachen den Arzt vom Vorwurf der Körperverletzung frei, da für ihn die Rechtswidrigkeit seiner Handlung nicht erkennbar war (Widmann 2012: 219). Öffentliche Aufmerksamkeit erregte das Urteil allerdings erst einen Monat später, am 25. Juni, durch einen Bericht der Financial Times Deutschland, der ein großes Medienecho hervorrief und zu einer breiten gesellschaftlichen Debatte über die Legitimität des

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3 4

In der häufig nach dem Prinzip der »Opferolympiade« unfruchtbar geführten akademischen Diskussion über die Vergleichbarkeit von anti-muslimischen Rassismen und Antisemitismen stellt sich die Diskussion um das Beschneidungsritual als ein diskursives Feld dar, in dem Übereinstimmungen zwischen den beiden differenten Typen abwertender Klassifikationsrepertoires konstatiert werden können. So liegt der spezifischen Wahrnehmung auf die »fremd« scheinende religiöse Lebensweise von Jüd*innen ein ethnisierender Deutungsrahmen zugrunde, der sich auch in der Kategorisierung von Muslim*innen als Angehörige einer Kultur »archaischer Rückständigkeit« wiederfinden lässt. Trotz ihrer unterschiedlichen Tradierungen können demzufolge Schnittstellen zwischen diesen Ausschließungsdiskursen punktuell beobachtet werden, wenn sie auf ähnlichen symbolischen Formen der Exklusion beruhen, ohne damit die spezifische Konstruktionsweise der je unterschiedlichen Ausschließungssysteme nivellieren zu müssen. Der Verlauf der Debatte folgt im Wesentlichen der Einordnung durch Widmann (2012). Argumentativ wird hier eine Kindeswohlgefährdung mit der Irreversibilität des Eingriffes begründet, die das Kind wesentlicher Lebenschancen, sowohl hinsichtlich seiner Gesundheit und sexuellen Autonomie als auch in Bezug auf seine Religionsfreiheit, berauben würde. Im Anschluss an Wapler möchte ich das Kindeswohl definieren als »Recht des Kindes auf eine offene Zukunft« (Wapler 2015: 543). Gegen die Beurteilung einer durch das LG Köln geleisteten diskriminierenden Bestimmung der Kindeswohlbeeinträchtigung durch die Entfernung der Vorhaut wird in der vorliegenden Fallstudie dafür argumentiert, dass nach derzeitigem medizinischen Kenntnisstand derartige, der weiblichen Genitalverstümmelung vergleichbare negative Konsequenzen nicht nachweisbar sind (ebd.: 543f.). Darüber hinaus ist speziell mit Blick auf die Einschränkung der kindlichen Religionsfreiheit festzustellen, dass »[d]er Umstand beschnitten zu sein, […] den religionsmündigen Jungen nicht daran [hindert,] sich von der Religion seiner Eltern abzuwenden, einer anderen Religion beizutreten oder künftig als Atheist durchs Leben zu gehen« (ebd.: 544).

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Beschneidungsrituals in Judentum und Islam führte. Damit ging auch eine Diskussion über die gesellschaftlich anerkannten Grenzen religiöser Praktiken in einem, dem Selbstverständnis nach säkularen Staat einher. Dabei lassen sich nach Yurdakul (2016: 80) folgende gegensätzliche Positionen innerhalb der öffentlichen Auseinandersetzung feststellen: Beschneidungsgegner*innen fordern ein Verbot, weil Beschneidungen in das kindliche Selbstbestimmungsrecht eingreifen, einen irreversiblen Eingriff darstellen, gefährliche Operationen sind und nur dann legitim sind, wenn ihnen eine medizinische Indikation zugrunde liegt. Beschneidungsbefürworter*innen hingegen plädieren dafür, die Rechte der Eltern in der Beschneidungsfrage zu stärken, weil die Beschneidung dem kindlichen Wohlbefinden nutzt, denn »excluding a child from the religious group is against the child’s well-being« (ebd.). Aufgrund der entstandenen Rechtsunsicherheit und den starken, auch internationalen Protesten gegen das Beschneidungsurteil, die zum Teil die Frage nach einer fehlgeschlagenen historischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus aufgeworfen hatten, forderte eine Mehrheit des Deutschen Bundestages die Bundesregierung dazu auf, einen Gesetzesentwurf vorzulegen, der die Knabenbeschneidung aus religiösen Motiven rechtswirksam erlauben sollte. Nachdem auch der deutsche Ethikrat rituelle Beschneidungen im August 2018 unter gewissen Bedingungen, wie etwa ihrer fachgerechten medizinischen Ausführung, für zulässig befunden hat, wurde schließlich ein Gesetz verabschiedet, das die Beschneidung aus religiösen Gründen legitimiert, wenn sie nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt wird. Dieser Gesetzesbeschluss lässt sich auch als Schlusspunkt des Diskursverlaufes um die rituelle Beschneidungspraxis der jüdischen (und muslimischen) Minderheit begreifen, indem er den Religionsgemeinschaften abschließend Rechtssicherheit zugesichert hat. Ausgehend von diesen kursorischen Darstellungen möchte ich nun die interpretative Analyse des Diskursereignisses beginnen und die mehrdimensionalen Kreuzungen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Ausschlüsse in antisemitischen Grenzziehungsprozessen in diesem Feld der Aushandlung zulässiger Religiosität in den Blick nehmen. Dabei stehen folgende Fragen im Zentrum: Wie wird soziale und kulturelle Distanz zwischen einem nicht-jüdischen »Uns« gegenüber einem jüdischen »Ihnen« durch die interrelationale Aushandlung abwertender, ethnisierter, nationalisierter und rassialisierter Bedeutungen der Säuglingsbeschneidung im Judentum hergestellt? Wie werden soziale Gruppen – »jüdische« Minderheit einerseits und »deutsche« Mehrheit andererseits – in dem öffentlichen Diskurs über das Beschneidungsverbot als klar unterscheidbare Kollektive konstruiert? Welche kontingenten Praxiskategorien antisemitischer Grenzziehungen lassen sich dabei identifizieren? Dabei werden in der Untersuchung des Diskursereignisses der Beschneidungsdebatte mit Blick auf die Spezifika der lokal-historischen Aushandlung antisemitischer Grenzziehungsprozesse folgende Ergebnisse sichtbar gemacht: 1) Mehrdimensional verknüpfte ethnisierte, rassialisierte und nationalisierte Grenzziehungen des Antisemitismus schreiben dem jüdisch-religiösen Identifikationsakt der Beschneidung eine abwertende Bedeutung als Symbol jüdischer Nicht-Zugehörigkeit zu. a) Durch die ethnisierte Klassifikation der Beschneidung als Abweichung von den hegemonialen Wertvorstellungen einer »liberal-säkularen Leitkultur« wer-

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b)

den ausgrenzende Gemeinschaftscodes politischer Solidaritäten einer republikanischen »Staatsnation« identifizierbar. Der rassialisierte Phänotyp des jüdischen Penis wird zum ethnisierten Stigma einer unveränderlichen »Andersartigkeit« der kriminalisierten kulturellen Lebensweise von Jüd*innen.

Daneben wurden auch hier deutliche Mechanismen des boundary blurring erkannt, durch die Akteur*innen die Unterscheidungslinien, die eine nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaft gegenüber der jüdischen Minderheit gezogen hat, infrage stellen: 2) Klassifikationsstrategien der Gleichstellung begegnen Stigmatisierungen und Ausgrenzungen von Jüd*innen durch tendenziell universalisierende Zugehörigkeitskonstruktionen. a) Das Repertoire der »Anti-Diskriminierung« macht asymmetrische Positionierungen von Jüd*innen in Grenzziehungsprozessen sichtbar und betont gemeinsame kulturell-historische Werte von Jüd*innen und Nicht-Jüd*innen. b) Das Repertoire der »Religionsfreiheit« betont Prozesse der Inklusion und fordert Gleichberechtigung aufgrund universeller Mitgliedschafskriterien der Menschenrechte.

9.2

»Man tut Kindern nicht weh, man macht ihnen keine Angst.« – Das Stereotyp »jüdischer Grausamkeit« als antisemitische Praxiskategorie in medizinisch-juristischen Spezialdiskursen »Als Kinder der Aufklärung müssen wir endlich die Augen aufmachen: Man tut Kindern nicht weh!« (Spiegel 2012a)

Im Verlauf des folgenden Abschnitts möchte ich anhand der taxonomischen Analysekategorien die Dynamiken relationaler Typen antisemitischer Grenzziehungen nachzeichnen und erklären, wie das situativ wirksame Zusammenspiel nationalisierter, rassialisierter und ethnisierter Klassifikationsmuster des Antisemitismus, die rituelle Beschneidung männlicher Juden als illegitime, von einem gegebenen symbolischen Zugehörigkeitskontext abweichende, Praxis kategorisierbar macht. Zunächst bleibt festzuhalten, dass ethnisierte Grenzziehungen auf Klassifikationsmustern beruhen, in denen homogenisierende Vorstellungen von Religion oder »Kultur« bedeutsam sind. Darauf aufbauend wirken antisemitische Klassifikationsrepertoires als symbolische Codes von Fremdheit, die eine vermeintliche Andersartigkeit religiöser Traditionen, Bräuche oder kultureller Wertvorstellungen und Lebensweisen von Jüd*innen betonen. Rassialisierte Klassifikationsmuster des Antisemitismus markieren phänotypische oder biologisierte Askriptionen der jüdischen outgroup als irreduzible Bedeutungsträger des »Jüdischen«. Differenzierungen der Biologisierung und Phänotypisierung gründen sich auf Imaginative, die scheinbar unveränderlich-vererbbare Eigenschaften der »Juden« klassifizieren oder körperliche Merkmale von Jüd*in-

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den ausgrenzende Gemeinschaftscodes politischer Solidaritäten einer republikanischen »Staatsnation« identifizierbar. Der rassialisierte Phänotyp des jüdischen Penis wird zum ethnisierten Stigma einer unveränderlichen »Andersartigkeit« der kriminalisierten kulturellen Lebensweise von Jüd*innen.

Daneben wurden auch hier deutliche Mechanismen des boundary blurring erkannt, durch die Akteur*innen die Unterscheidungslinien, die eine nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaft gegenüber der jüdischen Minderheit gezogen hat, infrage stellen: 2) Klassifikationsstrategien der Gleichstellung begegnen Stigmatisierungen und Ausgrenzungen von Jüd*innen durch tendenziell universalisierende Zugehörigkeitskonstruktionen. a) Das Repertoire der »Anti-Diskriminierung« macht asymmetrische Positionierungen von Jüd*innen in Grenzziehungsprozessen sichtbar und betont gemeinsame kulturell-historische Werte von Jüd*innen und Nicht-Jüd*innen. b) Das Repertoire der »Religionsfreiheit« betont Prozesse der Inklusion und fordert Gleichberechtigung aufgrund universeller Mitgliedschafskriterien der Menschenrechte.

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»Man tut Kindern nicht weh, man macht ihnen keine Angst.« – Das Stereotyp »jüdischer Grausamkeit« als antisemitische Praxiskategorie in medizinisch-juristischen Spezialdiskursen »Als Kinder der Aufklärung müssen wir endlich die Augen aufmachen: Man tut Kindern nicht weh!« (Spiegel 2012a)

Im Verlauf des folgenden Abschnitts möchte ich anhand der taxonomischen Analysekategorien die Dynamiken relationaler Typen antisemitischer Grenzziehungen nachzeichnen und erklären, wie das situativ wirksame Zusammenspiel nationalisierter, rassialisierter und ethnisierter Klassifikationsmuster des Antisemitismus, die rituelle Beschneidung männlicher Juden als illegitime, von einem gegebenen symbolischen Zugehörigkeitskontext abweichende, Praxis kategorisierbar macht. Zunächst bleibt festzuhalten, dass ethnisierte Grenzziehungen auf Klassifikationsmustern beruhen, in denen homogenisierende Vorstellungen von Religion oder »Kultur« bedeutsam sind. Darauf aufbauend wirken antisemitische Klassifikationsrepertoires als symbolische Codes von Fremdheit, die eine vermeintliche Andersartigkeit religiöser Traditionen, Bräuche oder kultureller Wertvorstellungen und Lebensweisen von Jüd*innen betonen. Rassialisierte Klassifikationsmuster des Antisemitismus markieren phänotypische oder biologisierte Askriptionen der jüdischen outgroup als irreduzible Bedeutungsträger des »Jüdischen«. Differenzierungen der Biologisierung und Phänotypisierung gründen sich auf Imaginative, die scheinbar unveränderlich-vererbbare Eigenschaften der »Juden« klassifizieren oder körperliche Merkmale von Jüd*in-

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

nen biologisieren, indem sie wesenhaft negative Eigenschaften der jüdischen »Fremdgruppe« signifizieren sollen. In Kapitel 3.4 wurde herausgearbeitet, dass der beschnittene, männliche Penis als legitimes Differenzmerkmal rassialisierter Ungleichartigkeit in antisemitischen Klassifikationsprozessen fungiert, insofern er ein sichtbares und unveränderliches Unterscheidungszeichen des (männlichen) jüdischen Körpers markiert.5 Dieser Konstruktionslogik rassialisierter Typen der Grenzziehung liegt ein Verständnis von Rassialisierungsprozessen zugrunde, das »Rasse«, wie im vorliegenden Fall der phänotypischen Askription des beschnittenen »jüdischen« Penis, als frei flottierenden Signifikanten begreift (Gilroy 1992; Rattansi 2006). Im Anschluss an Gilman (1997) wird hier zudem eine Lesart stark gemacht, die das jüdische Geschlechtsorgan als verkörperlichte Einschreibungsfläche des scheinbar negativen Wesens der jüdischen Psyche deutbar macht. Am Beispiel der Verwendungspraxis ethnisierter Klassifikationsrepertoires in der Beschneidungsdebatte lässt sich darauf aufbauend zeigen, wie religiöse Traditionen, Rituale und Riten in ethnisierten Ordnungen hegemonialer Differenzen diese stabilisierende Funktion von clear marker (Elwert 1995) in Grenzziehungsprozessen übernehmen können. Ich möchte im Verlauf des folgenden Kapitels daher Kategorien der Taxonomie antisemitischer Grenzziehungen anhand der kontingenten Klassifikationspraxis sozialer Akteur*innen in einer überwiegend medizinisch-juristischen Diskursformation sichtbar machen. Dabei steht das lokal-historisch spezifische Klassifikationsmuster einer phänotypisch begründeten, unveränderlichen Andersartigkeit der jüdischen »Kultur« im Mittelpunkt. In der Aneignung dieses Praxistypen der Grenzziehung wird durch die Referenzialisierung der Rechts- und Verfassungsordnung zudem ein Zusammenspiel mit nationalisierten Bewertungskategorien sichtbar, die antisemitische Klassifikationsrepertoires einer unveränderlichen »jüdischen Grausamkeit«, einer kulturalisierten »Archaik« der jüdischen Lebensweise und einer biologisierten jüdischen »Mitleidlosigkeit« hervorbringen. Antisemitische Fremdkategorisierungen, die sich aus diesen dynamisch, in symbolischen Deutungskämpfen sozialer Akteur*innen, hervorgebrachten Repertoires von Ungleichwertigkeitszuschreibungen gruppieren lassen, sind etwa Vorwürfe, dass Jüd*innen wehrlose Kinder quälen, ethische Grundsätze missachten, eine verrohte, empathielose und pathologische Psyche besitzen oder unaufgeklärt, unzivilisiert, vormodern und brutal seien. Zuletzt deuten diese Zuschreibungen nicht nur auf die Vielfalt antisemitischer Klassifikationsmechanismen der Ausgrenzung hin, sondern markieren auch einen Wandel antisemitischer Bedeutungskomplexe, insofern die hier sichtbare Aneignung und Reproduktion primordialer Kulturalisierungen der religiösen Lebensweise von Jüd*innen auf subtileren Formen der Abwertung beruhen als etwa die zum Teil offen rassistische Artikulation antisemitischer Allmachtsphantasien in der Walser-Bubis-Kontroverse. Warum der medizinisch-juristische Spezialdiskurs zunächst im Zentrum der Aushandlung eines jüdischen Zugehörigkeitskonfliktes steht, erklärt sich damit, dass die

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Obgleich Konstruktionsmechanismen vergeschlechtlichter Differenzlinien in der hier konzipierten Taxonomie antisemitischer Grenzziehungen nicht reflektiert werden, berührt das männliche Gemeinschaftsritual der Beschneidung auch Genderaspekte antisemitischer Bewertungskategorien.

9 Das Diskursereignis der Beschneidungsdebatte

Debatte ihren Ausgangspunkt an einem Urteil des Landesgerichtes Köln nahm, infolgedessen das (männliche) jüdische Gemeinschaftsritual der Beschneidung als strafbar definiert wurde. Folgende Sequenz zeigt, wie medizinische und rechtliche Normendiskurse als ethno-nationalisiertes Repertoire der Bedeutung hegemonialer Wertvorstellung in Grenzziehungsprozessen fungieren, indem sie durch die staatlich sanktionierte Kriminalisierung der religiösen Lebensweise von Jüd*innen soziokulturelle Grenzen zwischen einem »Innen« gegenüber einem jüdisch identifizierten »Außen« herstellen: »Wer einen Minderjährigen, ohne medizinische Indikation zirkumzidiert [ethnisiert: hegemoniale Wertvorstellung], wenn etwa allein hygienische, ästhetische oder religiöse Gründe vorliegen, macht sich strafbar nach § 223 StGB [ethno-national: kriminelles Ritual].« Diese Sichtweise wurde durch ein aktuelles Urteil des Kölner Landgerichts im Juni 2012 bestätigt.« (FAZ 2012a) Der als Zitat im Zitat markierte Teil ist einem Aufsatz des Rechtswissenschaftlers Holm Putzke entnommen, auf dessen juristische Auslegung der Beschneidungspraxis sich das Urteil des Kölner Landgerichtes bezogen hat. Hier wird ethnisiertes Wissen über die »Juden« und ihre »fremdartige Lebensweise« sowie »fremden« Traditionen und Rituale produziert, indem die Beschneidung – der konstitutive wie ambivalente Initiationsritus einer männlich-jüdischen Gruppenzugehörigkeit – in der abstrakten Formelsprache des medizinisch-juristischen Aufklärungsdiskurses als »illegal« negativ klassifiziert wird. Insofern das Strafrecht mit erheblicher Sanktionsandrohung bei Missachtung rechtlicher Ge- und Verbote verbunden ist, markieren die Aneignung und Durchsetzung strafrechtlicher Normen eine scharfe und uneingeschränkte nationalisierte Grenze zwischen dem, was gesellschaftlich legitim und dem, was als Praxis partikularer (ethnischer) Gruppen kulturell inakzeptabel erscheint. Im Sinne dieser Delegitimierungslogik positioniert sich auch ein Sprecher in einem Interview mit der Tageszeitung, der imperativ eine klare Grenze zwischen jüdischem Leben und den hegemonialen Wertvorstellungen der ethno-nationalen Mehrheitsgesellschaft ziehen möchte: taz: Herr Sharma, der Bundestag will Beschneidungen aus religiösen Gründen erlauben. Was spricht dagegen? Raju Sharma: Es gibt eine klare gesetzliche Regelung: das Verbot der Körperverletzung [ethno-national: hegemoniale Wertvorstellung]. Und danach hat auch das Kölner Gericht entschieden. (Taz 2012a) Die negative Klassifikation der jüdisch-religiösen Identifikationsrituale folgt dabei der ethnisierten Repräsentationslogik des Stigmas. Als Stigma wurden in Kapitel 4.3 Klassifikationspraxen in ethnisierten Grenzziehungen definiert, die eine unaufhebbare Differenz des jüdischen »Fremden« betonen (Bauman 2005; 2012). Um die Beschneidung jüdischer Säuglinge als Körperverletzung zu stigmatisieren, eignen sich Akteur*innen demzufolge das scheinbar unzweifelhafte und weltanschaulich neutrale Klassifikationsmuster des Rechtes an. Ausgehend von dem nationalisierten Identifikationsmerkmal der »Rechtstreue« wird schließlich eine antisemitische Kriminalisierung der jüdischen Lebensweise geleistet. In Anlehnung an Beschneidungsdebatten, die in Österreich zu derselben Zeit geführt werden, setzt eine Sprecher*in die Strafbarkeit der

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Handlung voraus und diskutiert lediglich die Frage, »ob das Merkmal der Wehrlosigkeit erfüllt ist« (FAZ 2012b). Dabei fungiert die Zuschreibung der »Körperverletzung« von Kindern durch jüdische Eltern als ein symbolischer Code in kontingenten Klassifikationsprozessen, der tradierte antisemitische Stereotype der jüdischen »Grausamkeit« und »Blutbeschuldigung« innerhalb des medizinisch-juristischen Spezialdiskurses kontextualisiert. Aktualisiert wird das Stereotyp der »jüdischen Grausamkeit« durch die diskursive Gegenstandsformierung der Beschneidung im Zusammenspiel ethnisierter und rassialisierter Typen der Grenzziehung. Denn als Praxiskategorie bezieht sich die zugeschriebene »Grausamkeit« der jüdischen »Fremdgruppe« auf den jüdischen Penis als phänotypischen Bedeutungsträger einer unveränderlichen »Andersartigkeit« der (männlichen) Juden, die sich aus der ethno-religiösen Stigmatisierung der konstitutiven jüdischen Glaubenspraxis ergibt und somit zu einem Differenzmerkmal jüdischer Gruppenzugehörigkeit avanciert. Dementsprechend äußert sich eine Sprecher*in in der Debatte unmissverständlich über die Zuschreibung einer mutwilligen Verletzung schutzlos ausgelieferter Kinder durch »jüdische« Eltern: »Und das irreversible Entfernen der Vorhaut eines Jungen ist prima facie eine Verletzung [ethno-rassialisiert: Grausamkeit], wie klein sie auch gern geredet wird« (Spiegel 2012b). Die Vorstellung, dass Jüd*innen rituelle Misshandlungen von Kindern vornehmen, beruht auf einem tradierten, in antisemitischen Bedeutungskomplexen tief sedimentierten Wissen, welches sich in Form der anti-judaistischen Ritualmordlegende als relativ stabiles Klassifikationsrepertoire in lokal-historisch spezifischen Kontexten dynamisch anpassen und reproduzieren kann. Obgleich es sich im Fall des Beschneidungsrituals um die Aufnahme von Kindern jüdischer Eltern in die jüdische Gemeinschaft handelt, lässt sich die emotive Drastik der kulturalisierenden Debatte nicht ohne diese von Repräsentant*innen der Mehrheitsgesellschaft mit rassialisierten Klassifikationsrepertoires der biologistischen Naturalisierung re-artikulierten, stereotypen Narrative des »jüdischen« Wesens erklären. Die, in diesen Bewertungsrepertoires enthaltenen Zuschreibungen von unveränderlichen jüdischen Gruppeneigenschaften der Brutalität, Rohheit und Unmenschlichkeit verstärken affektiv den als bedrohlich empfunden Charakter dieser religiösen Praxis. Wie sich die temporäre Stabilisierung dieses Reservoirs judenfeindlicher Klischees in kontingenten Grenzziehungsstrategien des Beschneidungsdiskurses durch die symbolische Klassifikation des religiösen Rituals als einer körperlichen Kindesmisshandlung reproduziert, macht eine Sequenz der medizinischen Diskursformation sichtbar: Die Beschneidung fügt den Knaben auch mit Narkose oder regionaler Betäubung unzumutbare Schmerzen [ethno-rassialisiert: Grausamkeit] zu. Aus ärztlich-ethischer Sicht [ethnisiert: aufgeklärtes Selbstbild] ist dieser Eingriff daher abzulehnen. (Spiegel 2012c) Werden Jüd*innen in symbolischen Ordnungen antisemitischer Zeichen und Codes durch Grenzziehungsstrategien sozialer Akteur*innen als »grausam« klassifiziert, wird die Artikulation einer ungleichartigen Differenz sichtbar, die eine soziokulturelle Grenze zwischen einer homogenisierten ingroup gegenüber der jüdischen »Fremdgruppe« herstellt. Beruhend auf einer gruppistischen Wahrnehmung des vermeintlich kollekti-

9 Das Diskursereignis der Beschneidungsdebatte

ven Denkens und Handelns von Jüd*innen, etwa von spezifischen Ritualen und Bräuchen des Judentums, werden diese Traditionen als mehrdimensionale Praxiskategorien in ethno-rassialisierten Grenzziehungsprozessen konstruiert und mit abwertenden Bedeutungen belegt. »Der« Jude und seine »grausamen Rituale« stellen demzufolge als Repertoire der Fremdzuschreibungen ein abrufbares Reservoir an gruppenlogischem Wissen über »die« Jüd*innen als »fremdartiges« Kollektiv bereit. Dazu heißt es an anderer Stelle des Diskurses mit Blick auf die Leiden verursachende und daher unheimlich scheinende religiöse Beschneidungspraxis: »Man tut Kindern nicht weh, man macht ihnen keine Angst [ethnisiert: jüdische Kindesmisshandlung]« (FAZ 2012a). Verstärkt wird diese Konstruktionslogik antisemitischer Grenzen durch metaphorische Analogien, die das Beschneidungsritual mit Formen der Gewalteinwirkung auf Kinder, der Verstümmelung und hier speziell der Genitalverstümmelung von Mädchen gleichsetzen. Durch diese Gleichsetzungen erscheint die Beschneidung als gesellschaftlich besonders geächtete kulturelle Praxis und steht für »harte« ethnisierte Grenzen zwischen nicht-jüdischer ingroup gegenüber der jüdischen outgroup. Allgemein fasst ein Artikel im SPIEGEL den Tenor dieser Diskussion zusammen und gibt mehrere Statements unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Akteur*innen wieder, die das Beschneidungsritual durch die Zuschreibung der Kindermisshandlung abwerten: Marlene Rupprecht, Kinderbeauftragte der SPD-Fraktion, sagt, die Beschneidung von Jungen sei eine »Form der Verstümmelung« [ethnisiert: Misshandlung]. Der Schriftsteller Ralf Bönt stellt den Zusammenhang zwischen der Beschneidung und den »schlimmen spiegelbildlichen Genitalpraktiken an Frauen« [ethnisiert: Analogie Misshandlung] her, und selbst Ärzte nennen beides in einem Atemzug [ethnisiert: Analogie Misshandlung]. (Spiegel 2012a) Eine ähnliche Bedeutungszuweisung der Beschneidung als einen illegitimen Gewaltakt von »jüdisch« markierten Eltern lässt sich auch durch Analogien herstellen, die Beschneidungen mit anderen Formen der Gewalteinwirkung gegenüber wehrlosen Schutzbefohlenen gleichsetzen oder sie justiziabel mit dem Rechtsstatus der Abtreibung von Föten vergleichbar machen sollen. Kurz nach dem Urteil des Kölner Landgerichtes urteilt ein Kommentar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über die an den Richterspruch anschließenden Fragen der Rechts(un)sicherheit von Beschneidungen. Dabei degradiert die Sprecher*in den konstitutiven jüdischen Identifikationsakt zu einem dominanzkulturellen Gegenstand der willkürlichen Legitimierung durch die Mehrheitsgesellschaft: Am Ende könnte eine weitere Anwendung der Kompromissformel »rechtswidrig aber straffrei« [ethno-national: illegales Ritual] stehen. Doch im Unterschied zu abgetriebenen Föten [ethnisiert: Analogie Gewalt] können die nach ihrer Geburt beschnittenen Kinder mit guten Gründen gegen den Staat klagen, der die Verletzung ihrer kleinen Körper geduldet hat. Die Verjährungsfrist einer solchen Tat wird genauso lang sein müssen wie bei Kindesmissbrauch [ethnisiert: Analogie Misshandlung]. (FAZ 2012c) Im vorangegangen Abschnitt wurden Deutungsprozesse von Beschneidungsgegner*innen durch die kategoriale Verknüpfung ethnisierter – bezogen auf die religiöse Le-

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

bensweise von Jüd*innen – rassialisierter – bezogen auf den Phänotypen des »jüdisch« markierten Penis – und nationalisierter – bezogen auf das Unterscheidungszeichen der »Rechtstreue« – Grenzziehungstypen in Form des antisemitisch kulturalisierenden Klassifikationsrepertoires einer quasi-organischen jüdischen »Grausamkeit« sichtbar gemacht. Im Folgenden möchte ich nun die Deutung einer Biologisierung einer »verrohten jüdischen Psyche« als ethno-rassialisierte Grenzziehungspraxis in der Beschneidungsdebatte analysieren.

9.2.1

Die »verrohte« jüdische Psyche – Prozesse der biologisierenden Deutung kultureller Praktiken von Jüd*innen

Insofern die Praxiskategorie der »Misshandlung« nicht nur als ethnisiert, d.h. genealogisch-erworbener Ausdruck einer gewalttätigen »jüdischen Kultur« und ihrer grausamen religiösen Rituale und Lebensweise, interpretiert wird, sondern auch rassialisierte Mechanismen der Zuschreibung unveränderlicher Eigenschaften reproduziert, wird die Beschneidung zudem als wesenhaft negativer Ausdruck der jüdischen Psyche biologisiert. Biologisierungen fungieren in rassialisierten Typen der antisemitischen Grenzziehungen als Klassifikationsrepertoire, das Jüd*innen irreduzible negative Eigenschaften zuschreibt. Dies wird hier durch die Verwendungspraxis des natürlich-unveränderlich scheinenden Bewertungsrepertoires eines jüdischen »Empathieverlustes« gegenüber dem Leiden der beschnittenen Säuglinge hergestellt. Die organisch-wesenhaft scheinende Mitleidlosigkeit von Jüd*innen wird hier durch das Zusammenspiel mit ethnisch-kulturalisierenden Klassifikationen als stigmatisierendes Unterscheidungszeichen einer unveränderlichen Eigenschaft hervorgebracht: Die Forschung zeigt, dass die Erfahrung elterlicher Gewalt während der Kindheit Brüche in der emotionalen Wahrnehmung und Empathiefähigkeit des später erwachsenen Kindes bewirken kann. Kindheitlich erfahrene Traumata können verinnerlicht und später auch selber wiederholt werden [rassialisiert: kulturalisierte Psychopathologie]. Kollektiv rituell vermittelte traumatische kindliche Erfahrungen können daher zu Empathiebrüchen führen und zu gruppalen Überzeugungen mit Abwehrfunktion organisiert werden [ethno-rassialisiert: Empathieverlust]. Dadurch kann die Einfühlung in das Erleben der nächsten Opfer des Rituals beeinträchtigt werden [ethnorassialisiert: Empathieverlust]. (FAZ 2012a) An dieser Stelle wird ein essentialisierender Gruppismus sichtbar, der Jüd*innen durch die Aneignung rassialisierter Klassifikationsrepertoires antisemitischer Grenzziehungen ein kollektives Denken und Handeln unterstellt. Das negative Wesen der jüdischen Psyche, hier artikuliert durch die biologisierende Zuschreibung eines unausweichlichen Verlustes der Empathie und des Mitgefühles, kann dementsprechend die Grausamkeit des jüdischen »Fremden« erklären. So misshandeln (männliche) Juden ihre Kinder aufgrund der eigenen Selbsterfahrung traumatischer Gewalt, die damit die kollektive Überlieferung des Rituals durch die jüdische Gemeinschaft als »jüdische« Psychopathologie bewertbar macht. Im Anschluss an Glenn (1960) lässt sich der antisemitische Kern dieser pathologischen Kulturalisierung des Beschneidungsrituals als Zuschreibung einer Rache für die kollektive Gewalterfahrung jüdischer Männer interpretieren.

9 Das Diskursereignis der Beschneidungsdebatte

Akteur*innen eignen sich den Signifikanten der Beschneidung demzufolge durch rassialisierte Klassifikationspraxen als symbolischen Bedeutungsträger eines jüdischen »Empathieverlustes« und jüdischer »Gefühllosigkeit« an. Im Zusammenspiel mit diesen Klassifizierungen sind in der kontingenten Klassifikationspraxis sozialer Akteur*innen innerhalb des Beschneidungsdiskurses auch Prozesse der Ethnisierung sichtbar, wenn religiöse Rituale und Traditionen des Judentums als essentialisierter Ausdruck einer mitleidlosen jüdischen »Kultur der Gewalt« stigmatisiert werden. Prägnant veranschaulicht folgendes Statement eines Beschneidungsgegners in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wie das ethno-rassialisierte Wissensrepertoire eines mitleidlosen jüdischen Wesens mit einer ethnisierten Repräsentationslogik, d.h. als genealogischen Ausdruck einer besonderen jüdischen Lebensweise, verschränkt wird und die vermeintliche Misshandlung von Säuglingen somit als gruppenlogischen Handlungsdeterminismus interpretierbar macht: Ein solcher traumatisch bedingter Empathieabbruch [ethno-rassialisiert: Empathieverlust] kann aufgrund hoher Eigenbetroffenheit auch die Ängste der eigenen Kinder (zum Beispiel vor der Beschneidung) betreffen und so zu einer Fortsetzung der rituellen Praxis führen [ethno-rassialisiert: pathologisierendes Ritual], insbesondere wenn diese für Kohäsion und Identität der sozialen Bezugsgruppe wichtig ist [ethnisiert: traumatischer Initiationsritus]. (FAZ 2012a) Mit anderen Worten handeln Jüd*innen so, weil sie aufgrund ihrer verinnerlichten kulturellen Prägung so handeln müssen; kurzum wird hier ein Zusammenspiel der primordialistisch-kulturalisierenden Deutung ethnischer Differenz mit rassialisierten Mechanismen der Biologisierung wesenhafter Eigenschaften sichtbar, die negative Zuschreibungen der religiösen Praxis von Jüd*innen als unhintergehbare und kollektive Eigenschaften der jüdischen »Fremdgruppe« naturalisieren. Dem homogenisierten »jüdischen« Kollektiv, so die Argumentation der Beschneidungsgegner*innen, fehlt es daher an emotionalen Ressourcen, um sich »angesichts drohender Verletzungen des Intimbereichs in die Erlebniswelt des Kindes einzufühlen« (FAZ 2012a). Eine andere Sequenz verdeutlicht nochmals, wie Fremdheitskonstruktionen in der Beschneidungsdebatte durch die kategoriale Verknüpfung von ethnisierten – die Klassifikation einer jüdisch-religiösen Praxis als Ausdruck einer mitleidlosen und traumatisierenden »jüdischen Kultur« – und rassialisierten – das Beschneidungsritual als biologisierter, wesenhaft negativer Ausdruck der jüdischen Psyche – Typen der Grenzziehung hergestellt werden. Es zeigt sich hier, wie sich durch die Verwendungspraxis abwertender Klassifikationsmuster eine spezifische Deutung der sozialen Wirklichkeit etabliert und damit legitimes Wissen über die auszuschließende jüdische outgroup produziert: Kollektive Überzeugungen und Rituale werden gruppal also besonders dann unreflektierbar tradiert, wenn der elterliche Gewaltaspekt des betreffenden Rituals [ethnisiert: Kultur der Gewalt] aus eigenen Abwehrbedürfnissen heraus verleugnet werden muss. Dann kann das emotionale Erleben von Angst und Schmerz des kindlichen Opfers von den handelnden Erwachsenen nicht mehr empathisch erfasst werden, und eine Täter-Opfer-Kette kann sich transgenerational über längere Zeiträume hinweg etablieren [ethno-rassialisiert: kulturalisierte Grausamkeit]. (FAZ 2012a)

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Die ethno-rassialisierte Vorstellung, dass Jüd*innen auf der Misshandlung von Kindern der nächsten Generation bestehen, signifiziert zusammengefasst eine besondere »Verrohung« der »jüdischen Kultur«, eine unüberwindbare »Andersartigkeit« ihrer partikularen Traditionen.6 Ich werde in einem nächsten Schritt nun primär der Frage nachgehen, wie der Topos der Wissenschaftlichkeit ethnisierte Mechanismen der Fremdkategorisierung in antisemitischen Gruppenbildungsprozessen in medizinischjuristischen Spezialdiskursen sichtbar macht.

9.2.2

Rationale Wissenschaft und »unethisches« Judentum

Ausgehend von den deduktiv konzipierten Merkmalen einer Taxonomie der soziokulturellen Konstruktionsformen antisemitischer Grenzziehungen werden Grenzziehungsprozesse der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft gegenüber der jüdischen Minderheit durch das relationale Moment von Selbstidentifikation und Fremdkategorisierung in den symbolischen Aushandlungen antisemitischer Grenzen legitimiert und stabilisiert. Als kategoriales Unterscheidungszeichen, das die kulturelle Leitsemantik eines positiven Wertbezuges der »Eigengruppe« von den als »gewaltsam« und »irrational« klassifizierten religiösen Traditionen der jüdischen »Fremdgruppe« differenzieren soll, fungiert in diesem Zusammenhang die scheinbar objektiv vorzunehmende Bewertung einer »medizinischen Begründbarkeit« des operativen Eingriffes. So argumentiert eine Beschneidungsgegner*in mit dem Kriterium der »medizinischen Begründbarkeit«, das als ethnisierte Praxiskategorie erscheint, um jüdische Zugehörigkeitskonstruktionen und -erfahrungen unter Anwendung von, so gedeuteten, unzweifelhaften wissenschaftlichen Maßstäben zu delegitimieren: Ärzte wägen mögliche Risiken und möglichen Nutzen ab. Bei Beschneidungen aus religiösen Gründen gibt es keinen medizinischen Nutzen [ethnisiert: aufgeklärtes Selbstverständnis]. Darum wiegt umso schwerer, dass es ein ernsthafter, mit Risiken und Komplikationen behafteter Eingriff ist. (Spiegel 2012c) Weiter wird festgehalten, dass aus »medizinischer Sicht keinerlei wissenschaftliche evidenzbasierte Vorteile für den Knaben [ethnisiert: aufgeklärte Wertvorstellungen]« durch die Beschneidung bestehen würden, sodass »die medizinisch nicht begründete Beschneidung auch nicht dem Kindeswohl« entsprechen könne (Spiegel 2012c). Im Ergebnis wird daher deklarativ konstatiert, dass die Beschneidung von jüdischen Säuglingen »aus ärztlich-ethischer Sicht [ethnisiert: Wertvorstellung]« abzulehnen sei (Spiegel 2012c). Insofern die kulturelle Perspektivgebundenheit der Wissenschaft und damit auch die Positioniertheit medizinischer Werturteile innerhalb des Beschneidungsdiskurses unreflektiert bleiben, wird der Wissenschaft eine neutrale, sachgebundene und positivistische Stellung zugeschrieben, die alternativlos gültige und zweifelsfreie Wahrheiten

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Ich werde in Abschnitt 9.3 näher darauf eingehen, inwiefern die Beschneidung im Kontext der Aushandlung ethno-nationaler Grenzziehungen als Symbol einer »archaischen« Kultur der Gewalt zum Differenzzeichen einer jüdischen »Anpassungsunfähigkeit« an die hegemonialen Wertvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft avanciert.

9 Das Diskursereignis der Beschneidungsdebatte

formuliert. Es ist diese postulierte Neutralität medizinischer Bewertungen, die als Klassifikationsrepertoire einer ethnisierten Grenzziehungsstrategie charakterisiert werden kann. Denn ausgehend von der Vorstellung evidenzbasierter Wissenschaftlichkeit werden Zugehörigkeitskriterien artikuliert, die Jüd*innen und ihre »grausamen« Rituale als normwidrig und deviant abwerten. Wie Medizin und Wissenschaft als ethnisierte Bewertungs- und Unterscheidungsmuster von Akteur*innen praktisch angeeignet werden, um soziokulturelle Distanzen zwischen jüdischer outgroup gegenüber der nichtjüdischen ingroup herzustellen, illustriert anschaulich nachfolgendes Zitat: Ärztliches Handeln ist auf wissenschaftlicher Grundlage allein dem Wohl des individuellen Patienten verpflichtet und muss zuallererst Schaden von diesem abwenden [ethnisiert: ethische Wertvorstellung]. Rituell geforderte körperlich invasive Eingriffe, insbesondere gegenüber nicht einwilligungsfähigen Personen, und ärztliches Handeln schließen sich per se aus [ethno-religiös: jüdische Kindesmisshandlung]. (FAZ 2012a) Wird Jüd*innen also vorgeworfen mutwillig ihren Kindern zu schaden, erzeugt die Verwendungspraxis medizinischer Kategoriensysteme eine fraglose Normalität ethnisierter Wahrnehmungsmuster, die konstitutive religiöse Traditionen von Jüd*innen negativ klassifizierbar machen. So werden Jüd*innen durch das unhinterfragbare, kulturell sedimentierte Wissen der medizinischen Heilkunde als Träger*innen einer ungleichwertigen Differenz marginalisiert. In dem folgenden Zitat wird die Herstellungsdynamik dieser Unterscheidungslinie sichtbar, da der wissenschaftlich begründbare Schutz vor (jüdischer) Misshandlung als ethischer Standard festgelegt wird: Im Gegensatz dazu ist der Schutzanspruch des Kindes vor jeglicher Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung sowie die Achtung seiner Würde und körperlichen Integrität als ethischer Standard juristisch und wissenschaftlich heute gut begründbar [ethnisiert: hegemoniale Wertvorstellung]. (FAZ 2012a) Die ethnisierte Grenzziehung zwischen der jüdischen »Fremdgruppe« gegenüber der nicht-jüdischen ingroup wird schließlich durch solche Sinnkonstruktionen stabilisiert, die medizinische Risiken des jüdischen Beschneidungsrituals artikulieren, um die spezifischen Zuschreibungen einer »jüdischen Kindesmisshandlung« als legitimes Wissen über die »grausame« Praxis »der« Jüd*innen zu stabilisieren. Insbesondere die Hypostasierung tödlicher Gefahren (Spiegel 2012c; FAZ 2012a), vermeintlich unzumutbarer Schmerzen (Taz 2012a; Spiegel 2012c; FAZ 2012a), eines sexualisierten Lustdefizits (Spiegel 2012c) und psychisch beeinträchtigender Folgeerscheinungen (Taz 2012a; FAZ 2012a), die durch die Beschneidungen von Säuglingen hervorgerufen werden, erzeugt innerhalb dieser diskursiven Kette von Bedeutungen den praktischen Sinn einer grausamen religiösen Praxis. Entscheidend ist hierbei die symbolische Konstruktionslogik erheblicher Gefahren, denen jüdische Kinder ausgesetzt werden. Dabei sollen die konkreten Zuschreibungen Schmerzen, Qual und Angst signifizieren und als Aktivierung des klassifikatorischen Deutungsrahmens einer grausamen religiösen Praxis interpretiert werden können. Insgesamt konnten mit den Klassifikationsrepertoires der »jüdischen Empathielosigkeit« und der »jüdischen Grausamkeit« mehrdimensionale Kategorien der Praxis in

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Aushandlungsprozessen antisemitischer Grenzziehungen herausgearbeitet werden, die sich aus dem Zusammenspiel ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Typen der Grenzziehung ergeben haben. So wurde das ethno-rassialisierte Repertoire von gruppistischem Wissen um die unüberwindbare »Andersartigkeit« religiöser Lebensweisen der jüdischen »Fremdgruppe« durch die phänotypische Bedeutungskonstitution des beschnittenen »jüdischen« Penis und eines als askriptiv negativ kulturalisierten Wesens der »Juden« konstruiert. In einem nächsten Schritt möchte ich auf Überlagerungen ethnisierter und rassialisierter Prozesse der Kulturalisierung aufmerksam machen, die das Beschneidungsritual als »archaische Kultur der Gewalt« der jüdischen »Fremdgruppe« abwerten.

9.3

»ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten« – Ethno-rassialisierte Kulturalisierungen der jüdischen Glaubenspraxis

Die symbolischen Kämpfe um die legitime Bedeutung des Beschneidungsrituals in kulturellen Prozessen der Aushandlung jüdischer (Nicht-)Zugehörigkeit zeigen, wie das ethnisierte Klassifikationsmuster der »fremden« jüdischen Religion und der primordialistischen Kulturalisierung ihrer gesellschaftlichen Lebensweise mit den rassialisierten Klassifikationsmuster der naturalisierenden Kulturalisierung und Phänotypisierung ineinandergreifen. Durch das Zusammenspiel dieser beiden Typen der Grenzziehung wird ein kontingentes antisemitisches Klassifikationsrepertoire sichtbar, das religiöse Rituale und soziale Lebensweisen von Jüd*innen als ungleichheitsrelevanten Ausdruck einer askriptiv zugewiesenen, unveränderlichen »archaischen Kultur der Gewalt« marginalisiert. Als antisemitische Kategorien der Praxis problematisieren darauf aufbauende Fremdzuschreibungen den Vollzug des Rituals als »primitive und barbarische Gewaltpraxis«. Zudem erfährt die intendierte Eingliederung männlicher Säuglinge in die jüdische Gemeinschaft eine Zuschreibung als »Zwangsbekehrung«, um eine soziokulturelle Ungleichwertigkeit der jüdischen »Fremdgruppe« zum Ausdruck zu bringen. In den kulturellen Aushandlungen antisemitischer Grenzziehungen im Rahmen der Beschneidungsdebatte wird der beschnittene »jüdische« Penis als Praxiskategorie zu einem rassialisierten Symbol für die »kulturelle Primitivität« der Jüd*innen, die aufgrund dieser religiösen Praxis »atavistisch«, »archaisch« und »fremd« wirken sollen. Eine Beschneidungsgegner*in bringt diese gruppistische Wahrnehmung des Beschneidungsrituals, die Jüd*innen als rückständige »Fremdgruppe« mit substanzialisierter Identität konstruiert, zum Vorschein. Dabei delegitimiert sie die religiöse Beschneidung, indem sie den, auch für Muslim*innen als konstitutiv bezeichneten, Beschneidungsakt durch zugeschriebene Bedeutungen einer überkommenen, unzeitgemäßen Lebensform abwertet: Das Kölner Urteil ist aufsehenerregend, weil es nicht irgendeine, sondern eine der zentralen religiösen Praktiken sowohl des Judentums als auch des Islams in ihrem archaischen Kern verbietet [ethno-religiös: unzeitgemäße Tradition]. Die Richter ha-

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Aushandlungsprozessen antisemitischer Grenzziehungen herausgearbeitet werden, die sich aus dem Zusammenspiel ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Typen der Grenzziehung ergeben haben. So wurde das ethno-rassialisierte Repertoire von gruppistischem Wissen um die unüberwindbare »Andersartigkeit« religiöser Lebensweisen der jüdischen »Fremdgruppe« durch die phänotypische Bedeutungskonstitution des beschnittenen »jüdischen« Penis und eines als askriptiv negativ kulturalisierten Wesens der »Juden« konstruiert. In einem nächsten Schritt möchte ich auf Überlagerungen ethnisierter und rassialisierter Prozesse der Kulturalisierung aufmerksam machen, die das Beschneidungsritual als »archaische Kultur der Gewalt« der jüdischen »Fremdgruppe« abwerten.

9.3

»ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten« – Ethno-rassialisierte Kulturalisierungen der jüdischen Glaubenspraxis

Die symbolischen Kämpfe um die legitime Bedeutung des Beschneidungsrituals in kulturellen Prozessen der Aushandlung jüdischer (Nicht-)Zugehörigkeit zeigen, wie das ethnisierte Klassifikationsmuster der »fremden« jüdischen Religion und der primordialistischen Kulturalisierung ihrer gesellschaftlichen Lebensweise mit den rassialisierten Klassifikationsmuster der naturalisierenden Kulturalisierung und Phänotypisierung ineinandergreifen. Durch das Zusammenspiel dieser beiden Typen der Grenzziehung wird ein kontingentes antisemitisches Klassifikationsrepertoire sichtbar, das religiöse Rituale und soziale Lebensweisen von Jüd*innen als ungleichheitsrelevanten Ausdruck einer askriptiv zugewiesenen, unveränderlichen »archaischen Kultur der Gewalt« marginalisiert. Als antisemitische Kategorien der Praxis problematisieren darauf aufbauende Fremdzuschreibungen den Vollzug des Rituals als »primitive und barbarische Gewaltpraxis«. Zudem erfährt die intendierte Eingliederung männlicher Säuglinge in die jüdische Gemeinschaft eine Zuschreibung als »Zwangsbekehrung«, um eine soziokulturelle Ungleichwertigkeit der jüdischen »Fremdgruppe« zum Ausdruck zu bringen. In den kulturellen Aushandlungen antisemitischer Grenzziehungen im Rahmen der Beschneidungsdebatte wird der beschnittene »jüdische« Penis als Praxiskategorie zu einem rassialisierten Symbol für die »kulturelle Primitivität« der Jüd*innen, die aufgrund dieser religiösen Praxis »atavistisch«, »archaisch« und »fremd« wirken sollen. Eine Beschneidungsgegner*in bringt diese gruppistische Wahrnehmung des Beschneidungsrituals, die Jüd*innen als rückständige »Fremdgruppe« mit substanzialisierter Identität konstruiert, zum Vorschein. Dabei delegitimiert sie die religiöse Beschneidung, indem sie den, auch für Muslim*innen als konstitutiv bezeichneten, Beschneidungsakt durch zugeschriebene Bedeutungen einer überkommenen, unzeitgemäßen Lebensform abwertet: Das Kölner Urteil ist aufsehenerregend, weil es nicht irgendeine, sondern eine der zentralen religiösen Praktiken sowohl des Judentums als auch des Islams in ihrem archaischen Kern verbietet [ethno-religiös: unzeitgemäße Tradition]. Die Richter ha-

9 Das Diskursereignis der Beschneidungsdebatte

ben das sehr genau verstanden, wie man an ihrer nun veröffentlichten Entscheidung ersehen kann. (Taz 2012b) An vorheriger Stelle wurde die kategoriale Verknüpfung des jüdischen Identifikationsritus als ethno-rassialisiertes Klassifikationsrepertoire eines »grausamen« und »mitleidlosen« jüdischen »Wesens« bestimmt. Nun zeigt sich, wie der rituelle Vollzug der Beschneidung durch die Aneignung des ethnisierten Klassifikationsmusters der »Kultur« und »Religion« als »barbarischer Gewaltakt« kategorisierbar gemacht wird. Lebensweise und Traditionen der jüdischen Minderheit werden infolgedessen als ungleichartig »fremd« markiert. Jüd*innen werden entsprechend antisemitischer Mechanismen der Kollektivkonzeptualisierung als einheitliche Gruppe von Menschen mit homogener »Kultur« und »Religion« verstanden, die »eine regelmäßige Körperverletzung von Minderjährigen, insbesondere von zur persönlichen Abwehr Unfähigen, im Programm [ethnisiert: genealogische Gewalt] hat« (FAZ 2012c). Demzufolge wird die negative Klassifikation einer Archaik der zeremoniellen Zirkumzision als Differenzmerkmal einer Grenzziehungspraxis dadurch signifiziert, dass einzig die Deutung des traditionellen Gemeinschaftsbrauches als eines Gewaltaktes gegenüber wehrlosen Kindern legitim erscheint. Diese tradierte Gewaltsamkeit der »jüdischen« Gemeinschaftsbildung wird als symbolischer Code eines genealogischen, sprich: ethnisch-unverwechselbaren, Wesenskernes des homogenisierten Ganzen der »jüdischen Kultur« ausgemacht. Anders formuliert: Jüd*innen wird vorgeworfen, das Blut ihrer Kinder für den Zweck einer atavistischen Gemeinschaftsbindung zu opfern, die als privilegiertes Symbol der religiösen Identitätsbildung auf »Gewalt« beruht. Eine Sprecher*in betont diese Gleichsetzung von Religion und Gewalt, die für »Judentum« und »Islam« gleichermaßen charakteristisch sei, wenn sie sagt, dass »die Beschneidung […] aus der Sicht der jeweiligen Religionen eine Auszeichnung« (FAZ 2012c) ist. Zugleich wird der religiösen Gruppe ein überkommenes Geschlechterverständnis unterstellt, das Jüd*innen als patriarchale Gruppe abwerten soll. Hierzu zählt das Aushalten von Schmerz, das als hegemoniale Männlichkeitsnorm dem Judentum zugeschrieben wird: »Darüber hinaus erscheint das klaglose Eingehen und Ertragen von Gesundheitsrisiken bis heute als ein konsensfähiger Kernaspekt männlichen Rollenverhaltens [ethnisiert: patriarchale Kultur]« (FAZ 2012a). Über die Verwendungspraxis der ethnisierten Attribuierung einer genealogisch essentialisierten Rückständigkeit der »jüdischen« Lebensweise und ihrer »gewalttätigen Kultur« lässt sich daher nachvollziehen, wie Gruppenzugehörigkeiten in relationalen Prozessen der Aushandlung gesellschaftlicher Klassifikationen hervorgebracht werden. Denn als Unterscheidungszeichen stellt die Fremdzuschreibung der Beschneidung als ein »Relikt längst vergangener Zeiten« (Spiegel 2012a) eine Ausübung von Definitionsmacht durch Angehörige der Mehrheitsgesellschaft dar, die in ethnisierten Repräsentationsregimen legitimes Wissen über Jüd*innen produziert. Durch die ungleichheitsrelevante Klassifikation kultureller jüdischer Praktiken als »barbarische« und »brutale« Rituale wird daher eine ethnisierte Perspektive auf das Judentum legitimiert, die es generalisierend ermöglicht, Jüd*innen kollektiv als »rückständig« zu beschreiben. Ethnisierte clear marker (Elwert 1995) stabilisieren daher in antisemitischen Klassifikationsprozessen Grenzen zwischen einer kulturellen »Wir-Einheit« gegenüber dem jü-

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

dischen »Fremden« mit seinen antiquierten und unheimlich wirkenden Ritualen und Bräuchen. Die Anrufung von Jüd*innen als »unheimliche Fremde« in Zugehörigkeitsordnungen erfolgt dabei auch durch die emotiven Beschreibungen des Zeremoniells selbst, die wiederum Befremden auslösen sollen: Aber sehen Sie sich die Berichte der Mütter an: Das eigene Kind, das man neun Monate in sich trägt und vor allem schützt, wird einem wildfremden Menschen [ethnisiert: unheimliches Ritual] ausgesetzt. Der nimmt ein scharfes Messer und schneidet da an einer sehr empfindlichen Stelle etwas weg [ethnisiert: archaischer Gewaltakt]. (Taz 2012a) Durch das Deutungsrepertoire einer »archaischen Gewaltkultur« wird in dem Konflikt um die Legitimität der Beschneidung lokal-historisch spezifisches Wissen über ethnisch »fremde« Jüd*innen in einem kontingenten Zugehörigkeitskontext produziert. Verstärkt werden diese diskriminierenden Prozesse der ethnisierten Stigmatisierung des jüdischen »Fremden im Innern« – die Ambivalenz jüdischer (Nicht-)Zugehörigkeit ergibt sich aus der hybriden Positionierung von Jüd*innen diesseits und jenseits der soziokulturellen Grenzen ethnisierter Zugehörigkeitsordnungen – durch bildreiche Beschreibungen über den Ablauf der rituellen Vorhautentfernung. Drastisch kommt die vermeintliche Barbarei der Beschneidung zum Ausdruck, wenn die Arbeit des Mohels, d. i. der ausgebildete Fachmann für Beschneidungen nach jüdischer Sitte, mit der eines Metzgers verglichen wird. Eine solche Abwertung findet statt, wenn eine Sprecher*in versucht, die bedrohlichen Konsequenzen eines Beschneidungsverbotes zu skizzieren: Statt mit einer Lokalanästhesie werden die Babys wieder mit drei Tropfen Rotwein betäubt, und statt eines Arztes werden wieder jene die Beschneidungen durchführen, die das früher auch schon getan haben: die Fleischhauer [ethnisiert: archaisches Ritual]. (Taz 2012b) Mit der Fremdzuschreibung einer »barbarischen und primitiven Gewaltpraxis« wurden prädominant ethnisierte Kategorisierungen im ethno-rassialisierten Klassifikationsrepertoire der »jüdischen Kultur archaischer Gewalt« rekonstruiert. In einem nächsten Schritt möchte ich die rassialisierte Naturalisierung der jüdisch-religiösen Identität durch die kulturalisierende Fremdkategorisierung einer »Zwangsbekehrung« der Säuglinge im Beschneidungsdiskurs analysieren.

9.3.1

Jüdische »Zwangsbekehrungen« als ethno-rassialisierte Fremdkategorisierung einer jüdischen Identität

In Rassenkonstruktionsprozessen lassen sich kulturelle Askriptionen als Grenzfälle der Rassialisierung verstehen, wenn sie sich als vermeintlich unveränderliche Eigenschaften einer Gruppe von Menschen darstellen (Hall 2004b; Miles 1993). Im Zusammenspiel mit ethnisierten Bewertungs- und Unterscheidungskategorien werden diese Prozesse der antisemitischen Rassialisierung in den Grenzziehungsprozessen des Beschneidungsdiskurses durch solche Essentialisierungen sichtbar gemacht, die den ambivalenten Identifikationsakt der Brit Mila als Akt einer schicksalhaften »Zwangsbekehrung« klassifizieren. In der Klassifikationspraxis sozialer Akteur*innen repräsentiert

9 Das Diskursereignis der Beschneidungsdebatte

das Beschneidungsritual ein biologisiertes Merkmal der rassialisierten Religion, das den Beschnittenen durch das phänotypische Zugehörigkeitsmerkmal in die als religiöse Zwangsgemeinschaft negativ bewertete Gruppe der Jüd*innen unhintergehbar integriert. In folgender Sequenz zeigt sich anhand der indirekten Wiedergabe des Kölner Urteilsspruches, wie die Beschneidung durch die Praxiskategorie einer »Zwangsbekehrung« zu einem unumkehrbaren Stigma der essentialisierten Zugehörigkeit des männlichen Juden artikuliert wird: Sie begründen ihr Urteil damit, dass der Körper durch die Beschneidung irreparabel verändert [rassialisiert: phänotypische Markierung] werde und damit dem Interesse des Kindes zuwiderlaufe, später selbst über seine Religionszugehörigkeit (zu) entscheiden [ethno-rassialisiert: unumkehrbare Zugehörigkeit]. (Taz 2012b) Mit anderen Worten wird in der Betrachtung des Beschneidungsakts Eindeutigkeit produziert, wo Ambivalenzen vorherrschen sollten, insofern die Zirkumzision selbst keine Prognose darüber zulässt, ob die Einschreibung einer jüdischen Gruppenzugehörigkeit im weiteren Sozialisationsverlauf überhaupt als »Identität« fortlaufend aktualisiert wird. Die Übertreibungen der Debatte, die die Frage nach der Entfernung der männlichen Vorhaut zu einer schicksalhaften Entscheidung über (jüdische) Zugehörigkeit übersteigert, lässt sich also einzig im Sinne der symbolischen Wirksamkeit dieses ethno-rassialisierten Wissens über den essentialisierenden Beschneidungsakt begreifen: Das Ritual der Beschneidung markiert den Körper des Knaben unwiderruflich als »jüdisch«, bindet den nicht-jüdischen Säugling damit gewaltsam in das gleichermaßen biologisch wie phänotypisch definierte jüdische Kollektiv ein. Derselbe Artikel aus der Tageszeitung reproduziert entsprechend dieser ethno-rassialisierten Konstruktionslogik antisemitischer Grenzziehungen die Vorstellung einer erzwungenen Einbindung nicht-jüdischer Säuglinge in die jüdische Glaubensgemeinschaft als essentialisierende Klassifikation einer unaufhebbaren Differenz des jüdischen »Fremden«: Die Beschneidung ist der archaische Kern dieser zwei Monotheismen [Judentum und Islam, d. Verf.]: nicht nur wegen des Offensichtlichen der Praxis, männlichen Kleinkindern die Vorhaut abzuschneiden [ethnisiert: barbarischer Gewaltakt], sondern auch wegen der Art der Eingliederung in die religiöse Gemeinschaft, die dabei ins Werk gesetzt wird [ethnisiert: gewaltsame Zwangsintegration]. (Taz 2012b) Die Gleichsetzung von Zwang und religiösem Bekenntnis weist dem Initiationsritus eine Bedeutung zu, die von dem kollektiven Selbstverständnis der jüdischen Minderheit abweicht. Begreifen Jüd*innen die Beschneidung als ambivalenten Identifikationsakt, der eine zukunftsoffene Identifikation darstellt, wird die jahrtausendealte Geschichte des Rituals in den sozialen Klassifikationsprozessen antisemitischer Grenzziehungen der Beschneidungsdebatte als ethnisch-genealogisches Merkmal einer fundamentalistischen Rückständigkeit definiert. Eine Beschneidungsgegner*in versucht in der FAZ die Genealogie der Beschneidung als rituelle Kastrationsdrohung zu begründen, wodurch männliche Juden als Repräsentanten vorzivilisatorischer Jäger- und SammlerKulturen erscheinen, deren Gemeinschaftsidentität auf Zwang, Unterordnung, Angst und Schmerz beruht:

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Die vorgeschichtlichen Hintergründe der männlichen Genitalbeschneidung sind Gegenstand anthropologischer und kulturgeschichtlicher Forschung. […] Das an Jungen oder jugendlichen Männern vollzogene Beschneidungsritual könnte in Jägerkulturen als männlicher Initiationsritus der sozialen Aggressionskontrolle gedient haben [ethnisiert: vormoderne Genealogie]. […] Die Kontrolle aggressiver (und sexueller) Impulse innerhalb der Gruppe könnte durch die rituelle Kastrationsdrohung erleichtert worden sein, wenn sich die kindlich erlittenen Ängste und Schmerzen an das Verbot von Grenzüberschreitungen gegenüber Gruppenmitgliedern knüpften [ethnisiert: gewaltsame Zwangsintegration]. (FAZ 2012a) Mithin lässt sich analytisch nachvollziehen, wie das »Beschneidungsritual« als Signifikant eines symbolischen Definitionskampfes erscheint, in dessen Folge eine gruppenbezogene Unterscheidung zwischen einer selbstdefinierten, kulturellen »Wir-Einheit« gegenüber dem jüdischen »Anderen« wirksam wird. »Ethnizität« als flexible Wahrnehmungsressource (Scherschel 2006; 2010) konstruiert eine homogenisierte jüdische Gruppenzugehörigkeit, die, neben der rassialisierten Essentialisierung einer jüdischen »Zwangsbekehrung«, auch auf der ethnisierten Vorstellung einer genealogischen Tradierung des vormodernen Initiationsritus beruht. Diese Einbindungsmechanismen werden daher in dem Diskurs über das jüdische Beschneidungsritual als fundamentalistischer Ausdruck der kollektiven Rückständigkeit der jüdischen »Fremdgruppe« definiert, wodurch die religiösen Riten und Traditionen des Judentums zu einem symbolischen Repertoire ungleichheitsrelevanter Unterscheidungszeichen in Grenzziehungsprozessen avancieren. Folgende Sequenz illustriert, wie es gelingt, durch diskriminierende Zuschreibungen einer »fundamentalistischen« jüdischen »Unterwerfungskultur«, den ethno-rassialisierten Beschneidungsdiskurs mit einer prekarisierten »jüdischen« Subjektposition zu vernähen, die ihre Zugehörigkeit erst noch beweisen muss: Eine Beschneidung ist ja auch eine Art Drohung: Ich kann dir weh tun, wenn du mir nicht folgst [ethnisiert: Unterwerfungskultur]. Brauchen jüdische Gemeinden das noch im Jahr 2012 [ethnisiert: prekäre Zugehörigkeit]? (Taz 2012a) An einer anderen Stelle legitimiert sich die Markierung von Jüd*innen als ethnisch »anders«, indem die antisemitische Zuschreibung bestimmter Wertvorstellungen von Jüd*innen eine unaufhebbare Differenz einer klar abgrenzbaren jüdischen outgroup behauptet. Infolgedessen wird den Jüd*innen eine gesellschaftliche Anerkennung durch ihren ambivalenten Status als »Fremde im Innern« verweigert. Diese gruppistische Konstruktion einer vermeintlich andersartigen »kulturellen Mentalität« von Jüd*innen hebt die kontingente Unentscheidbarkeit sozialer Positionierungen in gesellschaftlichen Klassifikationskämpfen durch die essentialisierende Zuweisung ethnischer Merkmale als clear marker der soziokulturell konstruierten Unterscheidung ethnischer Gruppen auf. Damit wird die Vorstellung eines »primitiven Kollektivismus«, der die »unfreie« Gemeinschaft der Jüd*innen gewaltsam konstituiert, als auszuschließendes »Fremdbild« dem homogen vorgestellten ethno-nationalen Selbstbild und seiner sinngebenden Symbolik des »mündigen Bürgers« als unvereinbar gegenübergestellt:

9 Das Diskursereignis der Beschneidungsdebatte

Aber Entscheidung ist nicht der Modus, in dem diese Religionen [gemeint sind hier Judentum und Islam, d. Verf.] ihre Zugehörigkeiten regeln. Aus religiöser Sicht ist der Gläubige kein mündiger Bürger [ethno-national: aufgeklärtes Selbstbild], der seine Religion frei wählt [ethnisiert: unfreie Religion]. Denn in der religiösen Innenperspektive gibt es keine Wahl des Glaubens. Das würde ja voraussetzen, dass der spätere Gläubige vorher schon jemand war [ethnisiert: primitiver Kollektivismus]. (Taz 2012b) Ich werde im nächsten Kapitel auf die damit einhergehenden Mechanismen der Aushandlung kollektiver Zugehörigkeiten, die darüber hinaus Hinweise auf die Wandelbarkeiten von Zugehörigkeitsordnungen und Grenzziehungen liefern, noch weiter eingehen. Insgesamt sollte dieser Abschnitt zunächst nachzeichnen, wie durch die Überlagerung rassialisierter und ethnisierter Typen der Grenzziehung kontingentes Wissen über das »Jüdische«, genauer das Klassifikationsrepertoire einer »jüdischen Gewaltkultur« und ihren essentialisierenden Zuschreibungen eines »barbarischen Ritus« und einer »fundamentalistischen Zwangsbekehrung«, hervorgebracht wird, um antisemitische Grenzziehungen zu stabilisieren. Im Folgenden möchte ich davon ausgehend den Blick auf die Aushandlungen kollektiver Identifikationen der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft richten. Die Bedeutungen dieser Aushandlungen lassen sich innerhalb der Beschneidungsdebatte als Klassifikationsmuster einer »liberal-säkularen Leitkultur« erkennen.

9.3.2

»In einem säkularen Rechtsstaat dürfen nicht die Religionen die universellen Menschenrechte bestimmen.« – Prozesse der Ethnisierung eines »nationalen« Zugehörigkeitskonfliktes

Im Verlauf des folgenden Kapitels möchte ich ausgehend von der Taxonomie der soziokulturellen Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen mehrdimensionale Herstellungsdynamiken von Grenzziehungen in das Zentrum der Analyse rücken, die sich überwiegend als Prozesse der Ethnisierung in nationalen Zugehörigkeitskontexten interpretieren lassen. Im Mittelpunkt steht dabei die Überlegung, dass sich symbolische Zugehörigkeitskontexte in natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnungen (Mecheril 2003) durch relationale Mechanismen der Fremdheitskonstruktion herstellen, in denen das Gemeinsame einer homogenisierten, kulturellen »Wir-Einheit« erst infolge der Unterscheidung von einem devianten »Anderen« unhinterfragbar wirksam werden kann. Darauf aufbauend kann der diskursive Konfliktverlauf um die rituelle Knabenbeschneidung männlicher Säuglinge als exkludierende gesellschaftliche Aushandlung eines angeblichen jüdischen Loyalitäts- und Zugehörigkeitskonfliktes interpretiert werden, der über den Bedeutungsträger des »Kindeswohles« als eines symbolic border guards (Armstrong 1982) in antisemitischen Grenzziehungsprozessen vermittelt wird. Im Folgenden wird also nachgezeichnet, wie sich, vermittelt über das Zusammenspiel ethnisierter und nationalisierter Typen der antisemitischen Grenzziehung, Politiken der Zugehörigkeit (Yuval-Davis 2011), d.h. Zugehörigkeitsvorstellungen, Gesellschaftsmitgliedschaften und Ausschlüsse, rekonstruieren lassen. Diese Politiken der Zugehörigkeit werden in der Beschneidungsdebatte durch Praxiskategorien eines ethno-nationalen Klassifikationsmusters der »liberal-säkularen Leitkultur« identifizierbar,

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die eine Überlegenheit »deutscher« Werte und Normen zum Ausdruck bringen sollen. Eingelassen in das Klassifikationsmuster »liberal-säkulare Leitkultur« sind die abwertenden Klassifikationsrepertoires einer jüdischen Bedrohung der liberalen »Nation«, einer säkularen Marginalisierung jüdischer Religiosität und einer prekären gesellschaftlichen Stellung einer »kulturell anpassungsunfähigen« Gruppe jüdischer »Fremde im Innern«. Aus diesen klassifikatorischen Gruppen multipel verschränkter Ungleichwertigkeitszuschreibungen haben sich kursorisch benannte Fremdkategorisierungen einer »jüdischen Illoyalität«, einer jüdischen Menschenrechts- und Verfassungsfeindlichkeit, einer anpassungsunfähigen Lebensweise, einer jüdischen Unterwanderung der nationalen Ordnung sowie einer jüdischen »Übertreibung« und »Hysterie« ergeben. Im Kern folgt die Debatte über die Problematisierung der Beschneidung von männlichen Säuglingen durch das jüdische Ritual der Brit Mila der, in Kapitel 5.3 beschriebenen, Konstruktionslogik nationalisierter Grenzziehungen, die einen dominanzkulturellen (Rommelspacher 1995) Modus der Selbstidentifikation einer ethnisierten Kerngruppe sichtbar macht. So hängt die temporäre Stabilisierung von Nationalisierungsprojekten von den in die nationalisierte Wahrnehmung der Wirklichkeit eingelassenen Codes und Symbolen eines »bedrohlichen Anderen« ab, der als Gefährdung des Zusammenhaltes eines nationalen Kollektivs betrachtet wird (Triandafyllidou 1998). Wie bereits für die Walser-Bubis-Debatte nachgewiesen wurde, übernehmen Jüd*innen häufig die ambivalente Funktion eines solchen significant other (Petersoo 2007). Allerdings wird sich im Folgenden zeigen, wie sich am Beispiel des lokal-historisch spezifischen Denkens und Sprechens über das »Nationale« (Dis-)Kontinuitäten antisemitischer Grenzziehungen rekonstruieren lassen. Um eine legitime Unterscheidung zwischen einem »Innen« und »Außen« herstellen zu können, wird die Ausübung jüdischer Traditionen und Rituale daher als »verfassungsrechtliche und gesellschaftliche Kardinalfrage« (Spiegel 2012b) überzeichnet, die »die Bundesrepublik vor eine grundsätzliche konstitutionelle Frage stellt« (ebd.) An einer anderen Stelle ist die binäre Klassifikationslogik einer »nationalen Bedrohung« beobachtbar, wenn eine unüberbrückbare Grenze zwischen dem grundlegenden Wertefundament der »säkularen Leitkultur« und der vermeintlich verfassungsfeindlichen jüdischen Lebensweise ausgemacht wird. So stehe die jüdische »Kultur« »in einem Dauerkonflikt mit wesentlichen Zielen der Verfassung [nationale Bedrohung: jüdische Lebensweise] – und zwar umso tiefgreifender, je freiheitlicher und säkularer der Staat [national: liberal-säkulares Selbstverständnis] ist« (FAZ 2012c). Die Problembestimmung jüdischer Religionsausübung als Gefahr für die nationale Lebensweise der »Deutschen« wird von den Beschneidungsgegner*innen in zweierlei Hinsicht geleistet und soll im Folgenden rekonstruiert werden. Erstens werden dem jüdischen »Fremden« eine Illoyalität gegenüber der Zugehörigkeitsordnung der Mehrheitsgesellschaft und eine kulturelle Anpassungsunfähigkeit an ihre hegemonialen Wertvorstellungen unterstellt. Zweitens fungiert das »Kindeswohl« als symbolic border guard, die die nationale Signifikation einer leitkulturellen Semantik von »Liberalität« und »Säkularität« stabilisiert und den »jüdischen« Zugehörigkeitskonflikt vermittelt. Warum dem jüdischen Beschneidungsritual also in den Aushandlungsprozessen nationalisierter Grenzziehungen des Antisemitismus ein unauflösbares gesellschaftliches Konfliktpotenzial zugesprochen wird, erklärt sich zunächst durch tradierte

9 Das Diskursereignis der Beschneidungsdebatte

Klassifikationsrepertoires antisemitischer Fremdzuschreibungen, die Jüd*innen Illoyalität und kulturelle Anpassungsfähigkeit ihrer partikularen Lebensweise vorwerfen. Die kollektive Fremdzuschreibung der doppelten Loyalität markiert eine jüdische Nicht-Zugehörigkeit, indem sie die stereotype Vorstellung reproduziert, dass Jüd*innen ein homogenes und wurzelloses Kollektiv bilden, das, unabhängig von ihrer jeweiligen nationalen Herkunft, auf besondere Art und Weise zusammenhält. Als lokal-historisch spezifische Klassifikationspraxis im Kontext der Beschneidungsdebatte aktualisiert sich das Phantasma der jüdischen »Blutsbande« durch die nationalisierte Zuschreibung, dass Jüd*innen als ethnisierte Gruppe, ähnlich wie Muslim*innen, eher den Gesetzen ihrer Religion folgen, als dass sie die Verfassung als Symbol einer leitgebenden Wertperspektive der nationalen Gemeinschaft anerkennen: Man beschneidet aber, sowohl im Judentum als auch im Islam, gerade kleine Jungs, damit die religiöse Identität die grundlegende, die bestimmende, die selbstverständliche Identität wird, aus der heraus man später agiert. (Taz 2012c) Diese ethnisierte Zuschreibung eines besonderen Zusammenhaltes der Jüd*innen markiert die Ambivalenz ihrer prekären Stellung als gesellschaftlich ungleich positionierte »Fremde im Inneren« klassifikatorischer Ordnungen der In- und Exklusion, weil sie als klandestin und heimatlos imaginiertes Kollektiv die binäre Logik der eindeutigen Unterscheidung zwischen »Innen« und »Außen« unterlaufen (Holz 2001; Weyand 2016a). Der beschnittene jüdische Penis steht dabei phänotypisch für diese kulturalisierte Askription einer unveränderlichen »Anpassungsunfähigkeit« der hybriden jüdischen »Fremdgruppe«. Demzufolge kann die Klassifizierung einer »Anpassungsunfähigkeit« auch als Überlagerung ethnisierter und rassialisierter Klassifikationsmuster in antisemitischen Grenzziehungsprozessen verstanden werden, um angeblich »primäre« Zugehörigkeiten von Jüd*innen zu definieren: Als ethnisch exklusives Zeichen göttlicher Verbundenheit und Opferbereitschaft dient die Beschneidung neugeborener Jungen im Judentum als transgenerational [ethnisiert: genealogisch] festlich tradierte, verletzende und bleibende Körpereinschreibung [rassialisiert: primäre Zugehörigkeit] auch der verpflichtenden Festigung der gruppal-religiösen Identität [ethnisiert: jüdische Loyalität]. (FAZ 2012a) Wird der exklusive Initiationsritus der Beschneidung also als, auch ethnisch-genealogisches, Merkmal einer primären jüdischen Loyalität gegenüber ihrer eigenen Gruppe verstanden, dann stellen Akteur*innen im diskursiven Kontext der Beschneidungsdebatte klare Grenzen zwischen nicht-jüdischer Mehrheitsgesellschaft gegenüber jüdischer Minderheit her. Jüd*innen sehen sich demnach dem Vorwurf eines »Loyalitätskonfliktes« ausgesetzt, der darin besteht, den Geboten ihrer Religion einen kompromisslosen Vorrang vor den weltlichen Geboten der staatlich institutionalisierten, »säkularen Leitkultur« einzuräumen. Folgende Sequenz verdeutlicht die Unterstellung eines jüdischen Beharrens auf partikularen Traditionen und Lebensweisen: Der abrahamitische Bund zwischen dem acht Tage alten Säugling und Gott durch den Akt der Beschneidung ist ein konstitutiver Bestandteil der Religion, der für die aller-

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meisten Juden nicht verhandelbar ist [ethnisiert: Anpassungsunfähigkeit]. (Spiegel 2012b) Mit dem kontingenten Klassifikationsrepertoire der Abwertung einer anpassungsunfähigen »jüdischen Kultur« und ihres »prekären gesellschaftlichen Status« wurden zusammengefasst ethno-nationalisierte Mechanismen der Ausschließung in den Grenzziehungsstrategien von Beschneidungsgegner*innen sichtbar gemacht. In einem nächsten Schritt stehen nun mit der Verwendungspraxis des Klassifikationsmusters der »liberal-säkularen Leitkultur« überwiegend ethnisch differenzierende Selbstzuschreibungen einer republikanischen »Staatsnation« im Mittelpunkt der Interpretation, die als kollektive Selbstidentifikation eine Grenzmarkierung darstellt, um eine nationale »jüdische« Bedrohung zu begründen.

9.3.3

»Das Wohl des Kindes geht vor.«: »Säkularität« und »Liberalität« als Klassifikationsrepertoires ethno-nationalisierter Formen antisemitischer Grenzziehungen

In Abgrenzung von den bedrohlich »anders« wirkenden religiösen Praktiken der jüdischen »Fremdgruppe« stabilisiert sich schließlich die kollektive Selbstbeschreibung einer »liberal-säkularen Leitkultur«, die von den Beschneidungsgegner*innen als Narrativ des homogenisierten nationalen kulturellen Raumes einer ethnisch »deutschen« Kerngruppe angeführt wird. Entsprechend der Taxonomie von Analysekategorien antisemitischer Grenzziehungen kann dieses nationalisierte Klassifikationsrepertoire ethischer und politischer Wertvorstellungen als ziviler Gemeinschaftscode einer »Staatsnation« interpretiert werden, die auf dem Klassifikationsmuster der politischen Solidarität beruht. Von Bedeutung ist hierbei, dass der tendenziell inklusive Charakter von Staatsnationen, d. i. die kollektive Identifikation mit der politisch-territorialen Verfasstheit einer »Nation«, gleichermaßen als soziokultureller Klassifikationsmechanismus der antisemitischen Grenzziehung wirksam wird. Als bedeutungsoffenes Symbol des im Abschnitt zuvor beschriebenen »jüdischen« Loyalitätskonfliktes gilt in dem Diskurs der Beschneidungsdebatte die politisch aushandelbare Frage nach dem »Kindeswohl«, an das sich als Zugehörigkeitskategorie idealtypisch eine Reihe von Eigenschaftszuweisungen anschließen, die charakteristisch für das »liberale« Selbstverständnis einer sich säkular definierenden »nationalen« Gemeinschaft sein sollen. Mit anderen Worten wird mit der Kategorie des »Kindeswohles« ein symbolischer Grenzposten (Armstrong 1982) artikuliert, der als nationalisierter Bedeutungsträger die leitkulturelle Semantik von Menschenrechten und die Säkularität in Grenzziehungsprozessen inkorporiert. Wie sich durch divergierende Vorstellungen über das Wohlergehen des Kindes und seine geistig-körperliche Entwicklung Mechanismen der symbolischen Klassifikation von jüdischer Nicht-Zugehörigkeit reproduzieren lassen, zeigt symptomatisch ein Diskursausschnitt, indem der Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur legalen Regelung ritueller Beschneidungspraktiken für ein vermeintliches Übermaß an Kultursensibilität gerügt wird: Das Kindeswohl als universell geltendes Menschenrecht [ethno-national: Leitkultur Menschenrechte] sowie das Verhältnis des säkularen Staates zu den Religionsgemein-

9 Das Diskursereignis der Beschneidungsdebatte

schaften [ethno-national: Leitkultur Säkularität] finden dagegen nicht ausreichend Berücksichtigung. (FAZ 2012 b) Im Kern bedeutet die Aussage, dass eine Erlaubnis der rituellen Vorhautentfernung grundlegende Werte missachten würde. Es werden die in dem symbolischen Bedeutungsträger des »Kindeswohles« eingeschrieben leitkulturellen Semantiken von Menschenrechten und Säkularität vermisst, die als konstitutive Bestandteile des gesellschaftlichen Zusammenlebens betrachtet werden. An anderer Stelle wird die Kategorie des »Kindeswohles« als konfliktueller Gradmesser für die Beurteilung einer akzeptablen Differenz marginalisierter Gruppen und ihrer religiösen Zugehörigkeiten weiter zugespitzt, indem im Hinblick auf die Grenzen gesellschaftlich legitimer Ausübung von Religiosität schlichtweg gefordert wird: »Das Wohl des Kindes geht vor« (Spiegel 2012b). Unter dieser Prämisse unterstellen Akteur*innen schließlich dem ethnisch homogenisierten Kollektiv der »Juden«, das gesellschaftliche Wertefundament der liberal-säkularen Verfassungsordnung vorsätzlich zu unterwandern, wodurch »jüdisches Leben« also mithin als eine nationale Bedrohung repräsentiert wird: Und diejenigen, die für das grundgesetzlich geschützte Kindeswohl in Deutschland eintreten, wollen ebenso wenig die jüdische Religion beeinflussen, wie umgekehrt die Juden die Verfassung ansonsten antasten wollen [nationale Bedrohung: jüdische Lebensweise]. (Spiegel 2012b) Gewinnt das Kindeswohl als Zugehörigkeitskategorie seine Bedeutung durch die kollektiv geteilte Vorstellung einer säkularen und liberalen »Leitkultur«, gewinnt dieses ethno-nationalisierte Klassifikationsmuster seinen relationalen Sinn erst durch die symbolische Abgrenzung gegenüber den Traditionen, Bräuchen und Lebensweisen ethnisch nicht-zugehöriger »Fremder«, die diese Werte scheinbar infrage stellen. In einem Kommentar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wird das Zusammenspiel ethnisierter und nationalisierter Differenzlinien im Anschluss an eine Sentenz des bekannten Staatsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde im Hinblick auf das Gerichtsurteil des Kölner LGs pointiert sichtbar gemacht. Demzufolge wird der zivile Verfassungsnationalismus als Modus der nationalen Selbstbehauptung gegenüber einem diffus bleibenden bedrohlichen »Anderen« reformuliert: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.« Ernst-Wolfgang Böckenfördes konstitutiver Satz muss neu gelesen werden, denn das Kölner Landgericht hat der Justiz wie der Politik einiges zum Nachdenken gegeben. Im 63. Jahr des Grundgesetzes [national: genealogische Vergangenheit] wird gerichtlich manifest, dass es verschiedene Arten des »Nicht-garantierenKönnens« gibt: Der Staat lebt von Voraussetzungen, die er nicht garantieren kann im Sinne von nicht zu garantieren vermag [national: transzendente Zusammengehörigkeit], aber er lebt auch von solchen, die er nicht garantieren wollen kann, vielleicht sogar überhaupt nicht garantieren darf [national: Wertmaßstab]. (FAZ 2012c) In den kulturellen Aushandlungen der Beschneidungsdebatte betonen Akteur*innen, die sich des ethno-nationalen Bewertungs- und Unterscheidungsmusters einer »sä-

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kular-liberalen Leitkultur« bedienen, daher den hohen identifikatorischen Wert, den die freiheitlich-liberale Grundordnung als nationales Symbol eines sozial konstruierten Zusammengehörigkeitsgefühles genießt. Im Hinblick auf das genealogische Forschungsinteresse nach den kulturellen Wandelbarkeiten von Grenzziehungen lässt sich an dieser Stelle bereits kursorisch auf einen Deutungswandel des »Nationalen« hinweisen. So wurde für die Walser-Bubis-Debatte eine ethnisch-primordiale Konzeption nationaler Zugehörigkeit herausgestellt, deren exkludierende Semantiken von Akteur*innen durch inklusive Werte eines zivilen »Republikanismus« infrage gestellt wurden. Dagegen zeigen sich diese Gemeinschaftscodes einer liberal-säkularen-Matrix (Amir-Mouazami 2016) in der Beschneidungsdebatte als hegemoniale Konzeption des »Nationalen« und ihres nationalen Artikulationsmodus der Unterscheidung von nichtjüdischer ingroup gegenüber einer jüdischen outgroup. Diese symbolische Herstellung nationaler Vergemeinschaftung gelingt durch die genealogische Verknüpfung einer kollektiv geteilten Vergangenheit und eines gemeinsamen politischen Schicksals der vorgestellten Gemeinschaft einer »deutschen Nation«. In dem nationalen Narrativ der »liberal-säkularen Leitkultur« legitimiert und begründet das Grundgesetz diesen genealogischen Schicksalszusammenhang der republikanischen »Staatsnation«. Eine Diskurssequenz zeigt die kategoriale Verknüpfung von Vergangenheit und Zukunft der »Staatsnation« am Beispiel des Verfassungsnationalismus. So wird dem Grundgesetz und den garantierten (Kinder-)Rechten hier ein symbolischer Stellenwert als genealogische Grundlage der politischen Solidaritätsbindung der »deutschen« Nation eingeräumt: Genauso verständlich ist es, dass eine Verfassung, die beste, die es auf deutschem Boden je gegeben hat [Genealogie: nationale Vergangenheit], auf ihre Essentials [national: hegemoniale Wertperspektive], zu der die Unversehrbarkeit des Menschen und erst recht die des Kindes gehört, nicht verzichten kann [genealogisch: nationales Schicksal]. (Spiegel 2012b) Zentral erscheint in dem öffentlichen Diskurs der Beschneidungsdebatte, wie Zugehörigkeiten über die Subjektposition des »säkularen Staatsbürgers« vermittelt und eine legitime Verortung als Angehöriger der nationalen ingroup ermöglicht werden. Das Gerichtsurteil des LGs Köln wird demzufolge als notwendige Grenzziehung re-artikuliert, die den ethno-religiös markierten jüdischen »Fremden« als konstitutives »Außen« des aufgeklärten citoyen der deutschen »Staatsnation« gegenüberstellt. Im Ergebnis erfolgt in dem Zugehörigkeitskonflikt eine Polarisierung scheinbar unvereinbarer Identitäten, die Jüd*innen dazu zwingen, ihr »Jüdischsein« aufzugeben, um als legitime Staatsbürger*innen anerkannt zu werden. Die Gerichte als institutionalisierte Träger dieser staatsbürgerlichen Werte handeln demzufolge in einer so betrachteten zivilisatorischen Mission: Damit stützen sich die Richter auf ein säkulares Menschenbild, das den Gläubigen zum ebenso mündigen Subjekt machen möchte [ethnisiert: Zivilisierungsauftrag], wie es der Staatsbürger ist [ethno-national: säkular-staatsbürgerliches Selbstbild]. (Taz 2012b)

9 Das Diskursereignis der Beschneidungsdebatte

Wie in Kapitel 4.5 dargestellt wurde, lassen sich Säkularisierungsdiskurse als wirkmächtige Diskurse der soziokulturellen Ausschließung verstehen, die Resultat kontingenter Grenzziehungsprozesse sind, in denen zwischen den Sphären des »Religiösen« und des »Politischen« differenziert wird. Als ambivalente Ordnungskategorie invisibilisiert das normative Konzept der Säkularität den gesellschaftsdynamischen Akt der Grenzziehung zwischen legitimer (säkularer) politischer Öffentlichkeit und religiöser Privatheit, wodurch spezifisch religiöse Prägungen des säkularen (christlichen) Staates unmarkiert bleiben. In antisemitischen Grenzziehungsprozessen stellt »Säkularität« daher ein nationalisiertes Klassifikationsrepertoire hegemonialer Leitvorstellungen bereit, die eine soziokulturelle Ausschließung ethnisch nicht-zugehöriger religiöser Gruppen zur Folge hat. Warum die symbolischen Kämpfe um die (Il-)Legitimität der rituellen Säuglingsbeschneidung eine solche, relativ stabile, Grenzziehung zwischen säkularer ingroup gegenüber einer »fundamentalistischen« religiösen outgroup und hervorbringen, zeigt die rhetorische Frage einer Beschneidungsgegner*in: Bestimmen nicht die Grundfreiheiten und Grundrechte die Regeln für das Zusammenleben in unserer heterogenen Gesellschaft [ethno-national: freiheitliches Selbstverständnis] anstatt Traditionen und Bräuche [ethno-national: differente Lebensweise]? (FAZ 2012b) Auch wenn Jüd*innen als Gruppe nicht explizit benannt werden, geht aus dem Kontext der diskursiven Aushandlungen der Beschneidungsdebatte hervor, dass sich die Differenzsetzung zwischen »säkularer« Nation und der ethno-religiösen Fremdheit auf die Riten der Gruppe der Jüd*innen bezieht. Entsprechend dieser Unterscheidungslogik wird daher eine klare Unterordnung der Religionsgemeinschaften unter die kulturell sedimentierten Imperative der säkularen Rechtsordnung gefordert: Die Wertentscheidung des (an völkerrechtliche Normen gebundenen) Staates hat Vorrang vor den Wertentscheidungen von Glaubensgemeinschaften [ethno-national: differente Wertvorstellungen] und ist im Falle eines Wertekonfliktes keinerlei transzendenten Überordnungen unterworfen [national: staatliche Souveränität]. (FAZ 2012c) Als substanzialisierende Praxiskategorien formieren Leitkulturdiskurse der »Säkularität« daher relationale Systeme der Über- und Unterlegenheit, die der Ausübung jüdischer Religiosität die exkludierende Bedeutung einer verfassungsfeindlichen Unterwanderung der säkularen Rechtsordnung zuweisen. So bewerten soziale Akteur*innen religiöse Praktiken und Traditionen entsprechend der säkularisierten Konzeptionen von Staat, »Nation« und Religion. Normativ heißt es im Sinne dieser diskriminierenden Differenzsetzung zwischen unvereinbaren kulturellen Lebensweisen der jüdischen Minderheit und der als »säkular« identifizierten Mehrheit: »In einem säkularen Rechtsstaat dürfen nicht die Religionen die universell gültigen Menschenrechte bestimmen« (FAZ 2012b). Staatliche Autorität, als deren identifikatorische Fixpunkt der Verfassungsnationalismus fungiert, wird in dieser Aneignung nationalisierter Klassifikationsmuster die materielle Rolle zugeschrieben, die »säkulare Leitkultur«, sprich den homogenisierten kulturellen Raum einer ethnisch definierten Kerngruppe, zu schützen. Im Fall der Be-

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schneidungsdebatte wird die Autorität des Staates daher symbolisch angerufen, das soziale Konstrukt eines kollektiv geteilten, säkularen Wertesystems, repräsentiert in der symbolischen Grenzmarkierung durch die Zugehörigkeitskategorie des »Kindeswohles«, vor einer gefährlichen religiösen Einflussnahme zu bewahren. So soll der Staat »als Hüter der Verfassung« (Spiegel 2012b) das Kindeswohl aktiv schützen oder dafür Sorge tragen, »dass die allgemeinen Spielregeln von allen eingehalten werden«, d.h., dass jüdische Eltern ihren Kindern keinen »Schaden zufügen sollen« (Taz 2012a), um letztlich sicherzustellen, dass die säkulare »Ablösung [des Staates, d. Verf.] von allerlei Gottesstaatsvorstellungen« (FAZ 2012c) weiterhin garantiert bleibt. Der marginalisierende Machteffekt dieser soziokulturellen Exklusion besteht nun darin, Kinder jüdischer Eltern als Opfer grausamer Rituale zu begreifen, die vor dem gewaltsamen Zugriff ihrer Erziehungsberechtigten gerettet werden müssen, wodurch eine spezifische abwertende Perspektive auf die als gesellschaftliche »Bedrohung« übersteigerte »jüdische« Lebensweise gerichtet wird. Mit anderen Worten müssen die Säuglinge, entsprechend der antisemitischen Repräsentationslogik der Debatte, vor einer jüdischen Zwangsbekehrung und dem Missbrauch ihrer Menschenrechte bewahrt werden. Der Diskurs um jüdische Kinderrechte wird dabei zum einen durch die Berufung auf die körperliche Unversehrtheit der Säuglinge (Spiegel 2012b; FAZ 2012b; FAZ 2012c) geführt, die als Bewertung durch die fraglos selbstverständliche Aneignung des rassialisierten Klassifikationsrepertoires einer jüdischen »Grausamkeit« stabilisiert wird. Zum anderen werden der Gleichbehandlungsgrundsatz der Religionen (Spiegel 2012b) und die kindliche Selbstbestimmung (Spiegel 2012b; Taz 2012a) als schützenswerte Rechtsgüter im öffentlichen Legitimationskonflikt um jüdische Religiosität und um die Frage jüdischer »Loyalität« von Akteur*innen betont. Insbesondere die kindliche Selbstbestimmung, hier verstanden als Freiheit der Kinder, über ihre religiöse Zugehörigkeit autonom entscheiden zu können, wird von Beschneidungsgegner*innen als hegemoniale Wertperspektive der Mehrheitsgesellschaft und damit als ethno-nationalisierte Praxiskategorie antisemitischer Grenzziehungen artikuliert. Dieser Argumentation folgend gefährdet die Beschneidung irreversibel die Lebenschancen des Kindes in einer offenen Zukunft, indem sie die Säuglinge einer zukünftigen freien Entscheidung beraubt. Insgesamt wurde durch die diskursive Problemkonstruktion der Beschneidung ein jüdischer Zugehörigkeits- und Loyalitätskonflikt zum Ausdruckt gebracht, der die ungleichwertige Differenz auf der Grundlage des exkludierenden, ethnisch und national konstruierten Klassifikationsrepertoires der »liberal-säkularen Leitkultur« deutbar gemacht hat. Ausgehend von der symbolischen Grenzmarkierung des »Kindeswohles« wurden interrelational verschränkte Unterscheidungslinien von antisemitischen Fremdzuschreibungen einer »jüdischen« Bedrohung der republikanischen »Staatsnation« sichtbar, die darüber hinaus erste Einsichten in die (Dis-)Kontinuitäten und Wandelbarkeit von Grenzziehungen geliefert haben. Zuletzt möchte ich nun den Blick auf Prozesse der Delegitimierung richten, die sich als Deutungsrepertoires auf den prekären gesellschaftlichen Status von Jüd*innen beziehen und auf Fremdzuschreibungen des »Anpassungszwanges« und des jüdischen »Alarmismus« beruhen.

9 Das Diskursereignis der Beschneidungsdebatte

9.3.4

»Freiheit ist wichtiger als Tradition.« – Unterordnung durch Anpassung des jüdischen »Fremden«

In einem letzten Schritt lässt sich die Debatte nun mit Blick auf die Auflösung dieses ethnisch markierten Loyalitäts- und Zugehörigkeitskonfliktes zwischen vermeintlich unvereinbaren Wertvorstellungen und Lebensweisen rekonstruieren. Denn Anerkennung als gleichberechtigte Mitglieder der staatsbürgerlichen »Nation« ist für die jüdische »Fremdgruppe« an Assimilation geknüpft, die Jüd*innen zu einem nationalen Loyalitätsbekenntnis zwingen soll, indem sie ihre als »rückständig« klassifizierte, »jüdische« Identität aufgeben. In diesem Sinne interpretieren Akteur*innen das Kölner Urteil gleichermaßen als Auftrag des Gerichtes für die Gruppe der Jüd*innen und Muslim*innen, sich zu modernisieren, d.h. der säkularen Leitkultur unterzuordnen: »Das Urteil verlangt Judentum und Islam nichts weniger als ein säkularisiertes Verständnis ihrer Religionen [ethno-national: Anpassungszwang] ab« (Taz 2012b). Damit werden Jüd*innen als »Fremde« eines natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitskontextes positioniert, deren Werte und Normen mit den Überzeugungen der Mehrheitsgesellschaft nicht übereinstimmen und die daher durch Rechtsprechung und Gesetzgebung zur kulturellen Anpassung an die hegemonialen Wertvorstellungen der »liberal-säkularen Leitkultur« gezwungen werden müssen. Wie dargestellt wurde, drückt sich die prekäre Stellung von Jüd*innen als hybride »Fremde im Innern« durch den Generalverdacht einer vermeintlichen doppelten Loyalität im Kontext der Beschneidungsdebatte aus. Die jüdische Minderheit wird demnach fortlaufend dazu gezwungen, ihr nationales Loyalitätsbekenntnis unter Beweis zu stellen, um ihre Zugehörigkeit durch politische Solidarität mit dem republikanischen Wertesystem der »Staatsnation« zum Ausdruck zu bringen. An dieser Stelle wird der Anpassungszwang durch das Gebot der Modernisierung überkommener Traditionen artikuliert: Sollte es den Religionsgemeinschaften in einem modernen und säkularen Staat nicht zumutbar sein, ihre Traditionen zu überdenken und gegebenenfalls unserer verfassungsmäßigen Ordnung anzupassen [ethno-national: Anpassungszwang]? (FAZ 2012b) Es zeigt sich hier, wie sich Anerkennung und Abwertung gesellschaftlicher Gruppen entlang der kulturellen Hegemonie spezifischer ethnisierter Begründungs- und Legitimationsmuster ausbilden. Die Unvereinbarkeit einer ethnisch und national »deutschen« Identität, die sich säkular und liberal definiert, und ihrem »Außen« der »fremden« jüdischen Tradition und ihres Brauchtums weist auf eben diese symbolische Herstellung ungleicher Positionen hin. Zwar sind Jüd*innen formal legitimierte Staatsbürger*innen mit gleichen Rechten und Pflichten, als »Andere« werden sie jedoch weiterhin abgewertet und ausgegrenzt. Dies lässt sich innerhalb des Beschneidungsdiskurses daran erkennen, dass Jüd*innen zur subordinierenden Anpassung ihrer »rückständigen« Lebensweise an die hegemonialen Werte und Normen der Mehrheitsgesellschaft gezwungen werden. In diesem Sinne lässt sich die hierarchisierende Unterscheidungslinie zwischen säkular/religiös und liberal/rückständig auch als Aufforderung zur Anpassung verstehen, wenn eine Beschneidungsgegner*in postuliert: »Freiheit ist wichtiger als Tradition« (FAZ 2012b). Dabei wird der erwünschte Zwang zur Zivilisierung des

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jüdischen »Anderen« verschleiert, indem die durch das Beschneidungsurteil vorgetragene, autoritäre Geste der Unterordnung als deliberatives Inklusionsangebot euphemisiert wird: Das Kölner Urteil hätte eine Möglichkeit geboten, gemeinsam mit den Religionsgemeinschaften über das Recht auf körperliche Unversehrtheit und das Recht auf Religionsfreiheit nachzudenken. (Spiegel 2012c) In diesem Kontext erscheint mit der ethnisierten Fremdzuschreibung eines »jüdischen Alarmismus« eine lokal-historisch aktualisierbare Grenzziehungsstrategie bedeutsam, die auch schon in der Walser-Bubis-Debatte eine Rolle gespielt hat und den exkludierenden Diskurs gegenüber Irritationen abschließen soll. Ausgehend von dem ethnisierten Klassifikationsrepertoire eines privilegierten sozialen Status der jüdischen Gemeinschaft, der Jüd*innen als anerkennenswerte Opfer diskriminierender Praktiken unsichtbar macht, zeigt sich die Fremdzuschreibung eines »Alarmismus« durch die dominanzkulturelle Marginalisierung und Delegitimierung jüdischer Wahrnehmungen, Sichtweisen und Bewertungen des Antisemitismus. Entsprechend dieser Bewertungskategorie wird der Debatte eine »religiös begründete Hysterie« (Taz 2012c) unterstellt, die insbesondere durch Übertreibungen »jüdischer« Sprecher*innenpositionen charakterisiert wird: Grotesk waren Äußerungen wie die des niedersächsischen Verbandsvorsitzenden des Zentralrats der Juden: Selbst im Dritten Reich gab es kein Verbot der Beschneidung [ethnisiert: Alarmismus]. (Taz 2012c) Mit der Fremdzuschreibung des »Alarmismus« ist daher ein symbolischer Ausschluss von jüdischen Sprecher*innenpositionen aus öffentlichen Diskursen verbunden, die in Kapitel 4.6 als Konstruktionsmechanismus ethnisierter Grenzziehungen des Antisemitismus definiert wurden. Werden also die antisemitischen Klassifikationspraktiken in der Diskussion der (il-)legitimen Beschneidung negiert, dann bleibt als einziger Schluss zulässig, dass Jüd*innen die Gefahren des Antisemitismus aus persönlichen Motiven übertreiben, d.h. den Vorwurf instrumentalisieren. So beklagt eine Sprecher*in im SPIEGEL den manipulativen Einsatz eines vermeintlichen Antisemitismusvorwurfes, der die berechtigte Kritik an dem Ritus diskreditieren und tabuisieren soll: Entscheidend für die Beurteilung einer Tat ist allerdings das Motiv. Was die Nazis gegen die Juden getan haben, war auf die Vernichtung der Menschen gerichtet. Denjenigen dagegen, die sich um das Kindeswohl sorgen, ein unlauteres, heimliches, zweites, antisemitisches Motiv zu unterstellen, wie es inzwischen in der öffentlichen Diskussion geschehen ist, ist unredlich [ethnisiert: jüdischer Antisemitismusvorwurf]. (Spiegel 2012b) Insgesamt konnte mit den mehrdimensional verknüpften Fremdzuschreibungen des jüdischen »Alarmismus« und des jüdischen »Anpassungszwanges« gezeigt werden, dass die Fremdheitskonstruktion der religiösen Lebensweise von Jüd*innen einen gesellschaftlich prekären Status der »ethnisch« markierten Gruppe innerhalb eines nationalen Zugehörigkeitskontextes begründet.

9 Das Diskursereignis der Beschneidungsdebatte

9.4

Taxonomie der Analyseebene von Grenzziehungsstrategien: Eine Übersicht über antisemitische Kategorien der sozialen Praxis in dem öffentlichen Diskurs der Beschneidungsdebatte

Die Wissenssoziologische Diskursanalyse der öffentlichen Debatte über die (Il-)Legitimität der rituellen Beschneidung männlicher, jüdischer Säuglinge hat wertvolle empirische Einsichten in intersubjektive Plausibilität, Glaubwürdigkeit und Konsistenz des deduktiv entwickelten, taxonomischen Analysemodells antisemitischer Grenzziehungen geliefert. Dabei wurde entsprechend der methodologischen Ausrichtung des Forschungsdesigns an den theoretischen Prinzipien der Intersektionalitätsforschung empirisch offen nach den mehrdimensionalen Verknüpfungen und Wechselwirkungen der Ungleichheitskategorien »Ethnizität«, »Rasse« und »Nation« in antisemitischen Klassifikationsprozessen der Beschneidungsdebatte gefragt. Davon ausgehend konnte die kontingente Konstruktionsdynamik antisemitischer Grenzziehungen und ihrer kategorialen Verschränkungen in dem Diskurs über die (Il-)Legitimität der rituellen Säuglingsbeschneidung im Judentum als relationale Aushandlung von jüdischer (Nicht)Zugehörigkeit herausgearbeitet werden. Im Gegensatz zu der analysierten Hierarchie eines prädominant nationalen Schuld- und Erinnerungsdiskurses in den öffentlichen Auslassungen der Walser-Bubis-Debatte ließ sich für die öffentliche Wahrnehmung der Beschneidung jüdischer Kinder keine Dominanz einer bestimmten Achse der Ungleichheit feststellen. Vielmehr wurde in der Klassifikationspraxis der Beschneidungsgegner*innen ein gleichwertiges Zusammenspiel nationalisierter, ethnisierter und rassialisierter Typen der soziokulturellen Grenzziehung evident, die eine exkludierende und hierarchisierende Unterscheidung von einem »uns« gegenüber einem »ihnen« situativ wirksam werden lässt. Das Zusammenwirken ungleichheitsrelevanter Kategorisierungen ließ sich zunächst durch die ethnisierte Differenzierung der »fremden« kulturellreligiösen Lebensweise einer durch den rassialisierten Phänotypen des männlichen Penis als »jüdisch« markierten Gruppe deutlich machen. Dabei wurde dem Konstrukt einer ethno-rassialisierten jüdischen »Fremdgruppe« die Selbstidentifikation einer durch spezifische Wert- und Normenvorstellungen abgrenzbaren, nationalen Kerngruppe gegenübergestellt. Erst diese kategorialen Wechselwirkungen haben es ermöglicht, die Frage nach der Zulässigkeit religiös motivierter Beschneidungen diskursiv als Problemkonstruktion eines jüdischen Loyalitäts- und Zugehörigkeitskonfliktes zu artikulieren. Konkret konnten durch das Klassifikationsmuster der »liberal-säkularen Leitkultur« und darin eingeschriebener antisemitischer Klassifikationsrepertoires der Marginalisierung, Prekarisierung und Feindbildkonstruktion jüdischen Lebens vielfältig interferierende Formen abwertender Fremdzuschreibungen rekonstruiert werden. Diese Sinnfixierungen des »Nationalen« beruhen jedoch auf Bedeutungselementen, die in der Walser-Bubis-Debatte als Klassifikationsstrategien des boundary blurring ausgemacht wurden, wodurch kulturelle Wandelbarkeiten von Grenzziehungen im historischen Zeitverlauf bestimmbar werden. Durch das Klassifikationsmuster der »liberal-säkularen Leitkultur« konnte die symbolische Grenzmarkierung des »Kindeswohles« sichtbar machen, dass Angehörige einer ethnisch homogenisierten »Wir«-Einheit in dem Beschneidungsdiskurs eine vermeintliche Überlegenheit liberaler und säkularer, d.h. »nationaler«, Grundwerte gegenüber der als bedrohlich »anders« markier-

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

ten ethno-religiösen Lebensweise des jüdischen »Fremden« bestätigen. Dagegen wurden durch das Klassifikationsmuster einer »unveränderlichen Andersartigkeit der jüdischen Kultur« symbolische Repertoires der kategorialen Ungleichwertigkeit von Jüd*innen als wesenhaft und organisch »grausam« gewachsen, als biologisiert »mitleidlos« und kulturalisiert »archaisch« hervorgebracht, die etwa antisemitische Zuschreibungen der jüdischen Kindesmisshandlung, der psychischen Verrohung und der gewaltsamen Zwangsbekehrungen enthalten. Mehrdimensionale Prozesse der Verschränkung von Ungleichheitskategorien konnten dabei durch die Verwendungspraxis strafrechtlicher Bewertungskategorien (Klassifikationstyp der Nationalisierung) zur stigmatisierenden Kulturalisierung einer religiösen Praxis der jüdischen Minderheit (Klassifikationstyp der Ethnisierung) durch das bedeutungsgenerierende Differenzsymbol des beschnittenen jüdischen Penis (Klassifikationstyp der Rassialisierung) herausgearbeitet werden. Die folgende Tabelle illustriert, wie in den kulturellen Aushandlungen einer abwertenden Bedeutung des jüdischen Beschneidungsrituals der Brit Mila »jüdische« Minderheit einerseits und »deutsche« Mehrheit andererseits durch lokal-historisch spezifische Grenzziehungspraktiken als klar unterscheidbare Kollektive konstruiert werden: Entscheidend für ein Verständnis dieser taxonomisch ausdifferenzierten Grenzziehungsprozesse und ihrer spezifischen Klassifikationsmuster ist die Einsicht in ihre gradualisierende, d.h. durchlässige, Struktur. Denn als Praxistypen der Grenzziehung liegen diesen Klassifikationsmustern sich wechselseitig beeinflussende Kategorisierungsprozesse zugrunde, die in dem Diskurs über die religiösen Traditionen des Judentums besondere Formen des soziokulturellen Ausschlusses hervorgebracht haben. Beispielsweise erlaubt es das vorgestellte Ideal nationaler Zusammengehörigkeit, das in dem Beschneidungsdiskurs als politische Solidaritäts- und Loyalitätsbindung gegenüber den Institutionen der demokratisch-rechtsstaatlichen »Staatsnation« ausgemacht wurde, eine delegitimierende Kriminalisierung der ethnisch markierten religiösen Lebensweise von Jüd*innen vorzunehmen. Anders formuliert ermöglicht erst das Identifikationsmerkmal der »Rechtstreue« als Mitgliedschaftskriterium einer staatsbürgerlichen Zugehörigkeitskonstruktion von »Nation« es, von einer unüberwindbaren, rassialisierten Andersartigkeit der ethnisch-primordialistisch definierten »grausamen« jüdischen »Kultur« auszugehen. Eine Besonderheit der soziokulturellen Grenzziehung zwischen nicht-jüdischer ingroup und jüdischer outgroup liegt daher darin begründet, dass kulturelle Deutungsrepertoires vermeintlich inklusiver politischer Werte (Säkularität, Menschenrechte, Liberalismus) an der Schnittstelle von »Ethnizität« und »Nationalität« zur Konstruktion einer scharfen Trennung zwischen »deutscher« Mehrheit und jüdischer Minderheit verwendet werden. Standen im Kapitel über die Aushandlung antisemitischer Bewertungs- und Unterscheidungsrepertoires in der Beschneidungsdebatte Grenzziehungspraktiken sozialer Akteur*innen im Zentrum der Analyse, möchte ich abschließend auf Mechanismen der Grenzverwischung aufmerksam machen, die als boundary blurring des abwertenden Diskurses über den jüdischen Identifikationsakt der Brit Mila zu verstehen sind.

Ethno-nationalisierte Klassifikationsmuster markieren jüdische Mehrfachzugehörigkeiten als Bedrohung der nationalen Verfassungsordnung, marginalisieren religiöse Traditionen und Rituale als das »Andere« der »säkularen Leitkultur« und begründen den prekären gesellschaftlichen Status des wurzellosen jüdischen »Fremden« mit der anpassungsunfähigen jüdischen »Kultur«.

Religiöse Traditionen und Lebensweise: »Juden« missachten Selbstbestimmung der Kinder, gefährden das Kindeswohl, verweigern Menschenrechte, sind menschenrechtsfeindlich, bedrohen Säkularität, unterwandern Verfassungsordnung, widersprechen politischen Wertvorstellungen, jüdische Kinder müssen gerettet werden.   Prekärer gesellschaftlicher Status und religiöse Lebensweise: »Juden« folgen primären Zugehörigkeiten zu ihrer eigenen Gruppe, sind anpassungsunfähig, fehlt es an Loyalität gegenüber »nationalem Wertekanon«, beharren auf ihrer »besonderen Lebensweise«, verfügen über speziellen Zusammenhalt, beanspruchen Sonderrechte; »Juden« sind hysterisch, übertreiben/instrumentalisieren Antisemitismus, »Juden« müssen sich anpassen/modernisieren.

Antisemitische Klassifikationsrepertoires

(Selbst-)und bungen

Fremdzuschrei-

Ethno-nationalisierte Grenzziehungen klassifizieren das »Kindeswohl« als ausgrenzenden Gemeinschaftscode der »säkular-liberalen Leitkultur« einer ethnisch definierten Kerngruppe in der politischen Schicksalsgemeinschaft einer »Staatsnation«.

Typen der Grenzziehung

»Grausame« Traditionen und Rituale: »Juden« begehen Körperverletzungen, misshandeln und traumatisieren wehrlose Kinder; »Juden« fügen Kindern unerträgliche Schmerzen zu, setzen Kinder medizinisch unbegründeten Risiken aus, verursachen ein Lustdefizit, missachten medizinisch-ethische Standards.   Negative Psyche: »Juden« sind mitleidlos, empathielos, gewalttätig, rachsüchtig, verroht.   Archaische Gewaltkultur: »Juden« sind unaufgeklärt, unzivilisiert, handeln irrational, missachten medizinisch ethische Standards; »Juden« sind vormodern, irgendwie fremd, fundamentalistisch, üben gewaltsame Zwangsbekehrungen aus.

Ethno-rassialisierte Klassifikationsmuster biologisieren den Gewaltaspekt des religiösen Beschneidungsrituals als Symbol einer wesenhaft negativen »jüdischen« Psyche, naturalisieren den jüdischen Penis als phänotypischen Bedeutungsträger einer unveränderlichen »Grausamkeit« der jüdischen Religion und kulturalisieren die jüdische Lebensweise primordialistisch als deviante »Archaik«.

Kategorial verknüpfte ethnisierte, nationalisierte und rassialisierte Typen der Grenzziehungen markieren den Phänotypen des beschnittenen »jüdischen« Penis als ungleichheitsrelevantes Differenzmerkmal einer unveränderlichen Andersartigkeit der kriminellen jüdischen »Kultur«.

In der Beschneidungsdebatte werden durch ethnisierte Grenzziehungen jüdisch-religiöse Praktiken abgewertet, durch nationalisierte Klassifikationen jüdische Loyalitäts- und Zugehörigkeitskonflikte konstruiert und durch rassialisierte Klassifikationsmuster phänotypische Merkmale als Symbole negativer Wesensqualitäten von Jüd*innen signifiziert.

Kategorien der Analyse

Kategorien der sozialen Praxis

Tabelle 9: Taxonomie der Analyseebene antisemitischer Grenzziehungsstrategien in der Beschneidungsdebatte, Quelle: Eigene Darstellung.

9 Das Diskursereignis der Beschneidungsdebatte 271

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

9.5

Boundary Blurring: Strategien der Grenzverwischung in der Beschneidungsdebatte

Ähnlich den gesellschaftlichen Aushandlungen von kollektiver Schuld und Erinnerung in der Walser-Bubis-Kontroverse werden antisemitische Grenzen auch in den Prozessen kultureller Selbstverständigung in der öffentlichen Debatte über die Rechtmäßigkeit der rituellen Beschneidung von Säuglingen im Judentum infrage gestellt. Bestehende, delegitimierende Bedeutungen werden dabei von sozialen Akteur*innen, auch jenen, die sich als »jüdisch« identifizieren, durch Grenzverwischungsstrategien (boundary blurring) der Angleichung oder Gleichstellung (equalization strategies) angefochten. Insgesamt wurden hier wieder zwei Klassifikationsrepertoires dieses Typus der Grenzverwischung unterschieden, die tendenziell universalistische Zugehörigkeitskriterien hervorbringen und auf Prozesse der Inklusion von Jüd*innen zielen.

9.5.1

»Plötzlich hören wir, dass wir uns hier integrieren müssen«: Grenzverwischungsrepertoires der »Anti-Diskriminierung«

Mit dem Klassifikationsrepertoire einer anti-antisemitischen Grenzverwischungsstrategie ist eine Form der Angleichung von jüdischer outgroup und nicht-jüdischer ingroup identifizierbar, die versucht, unsichtbare, in der Beschneidungsdebatte als legitime Teilungsprinzipien der sozialen Welt etablierte, ausgrenzende Stereotypisierungen und Stigmatisierungen sichtbar zu machen, um auf Prozesse der Exklusion im Beschneidungsdiskurs hinzuweisen. Damit soll gleichzeitig eine Angleichung an die Angehörigen der dominanten Mehrheitsgesellschaft durch die Berufung auf gemeinsam geteilte kulturelle Werte und Lebensweisen hergestellt werden. Auf diese Weise werden asymmetrische Positionierungen zwischen Nicht-Jüd*innen und Jüd*innen innerhalb der Zugehörigkeitsordnung infrage gestellt. Im Zentrum dieser Anfechtungsstrategie steht daher die Fremdheitskonstruktion von Jüd*innen als rückständige Gruppe orthodoxer Gläubiger, die aufgrund der Beschneidungspraxis als »rückwärtsgewandt« stigmatisiert werden und vermeintlich zivilisiert werden müssen. In einem Interview mit der Tageszeitung nimmt ein als jüdisch identifizierter Sprecher ausführlich zu den Zuschreibungen der Debatte Stellung und kritisiert den fehlenden Bezug zu dem realen Leben von Jüd*innen in Deutschland: Was haben Sie für ein Bild von jüdischen Menschen in Deutschland? Das sind keine verstockten Orthodoxen, denen die deutschen Ärzte erst mal die Zivilisation beibringen müssen [blurring: Fremdheitsstigma]. Viele der Eltern sind selbst Ärzte [blurring: jüdische Statusgleichheit]. Plötzlich hören wir, dass wir uns hier integrieren müssen: Eine Gemeinschaft, die in diesem Land schon sehr viel länger als das Grundgesetz existiert mit einer traurigen Pause [blurring: gemeinsame Geschichte]. Diese Diskussion wird paternalistisch geführt. (Taz 2012a) Es werden hier Kriterien der Angleichung formuliert, die auf eine (kulturelle) Statusgleichheit von Mehrheitsgesellschaft und jüdischer Minderheit abzielen, um Jüd*innen als Mitglieder der »aufgeklärten« Mehrheitsgesellschaft positionieren zu können. Demzufolge wissen Jüd*innen um die zivilisatorischen Werte der »liberal-säkularen Leitkul-

9 Das Diskursereignis der Beschneidungsdebatte

tur«, repräsentieren habituell anerkannte Berufsgruppen wie jene der Ärzteschaft und berufen sich auf eine mit der nationalen Kerngruppe geteilten primordial-historischen, d.h. genealogischen, Verbundenheit mit dem Territorium. Auf diese Weise wird politische Solidarität als sinnstiftender Mechanismus nationaler Identifikation durch den Glauben an eine gemeinsame Abstammung ersetzt. Zu diesem Deutungsrepertoire einer kollektiv geteilten, sogenannten deutsch-jüdischen Geschichte wird von Beschneidungsbefürworter*innen auch der Holocaust als mahnendes Beispiel für eine gegen jüdisches Leben gerichtete, staatliche Gewalt- und Exklusionspolitik angeführt, um die Auflösung antisemitischer Grenzen infolge der Stigmatisierung des Beschneidungsrituals zu rechtfertigen: Auch Regelungen, die vor allem Juden treffen, etwa das Verbot von Beschneidungen durch nichtärztliche Mohel, stünden Deutschland nicht gut an. Nach allem, was Juden von Deutschen angetan wurde, sollte sich der Einsatz für jüdische Säuglinge nicht gerade gegen jüdische Eltern richten [blurring: Gefahr des Antisemitismus]. (Taz 2012c) Zudem sollen die ethnisch partikularisierten Grenzen, die Nicht-Jüd*innen gegenüber Jüd*innen herstellen, durch universalisierende Zugehörigkeitskonstruktionen überwunden werden, die den Pluralismus und die Heterogenität der Gesellschaft reflektieren. Dazu gehört, nach Ansicht eines jüdischen Sprechers im Interview mit der Tageszeitung, eben auch, die Pluralität gesellschaftlich vorhandener Wertvorstellungen und Lebensweisen anzuerkennen. So soll die jüdische Gemeinschaft autonom darüber diskutieren können, ob ihre Regeln und Rituale zeitgemäß oder unzeitgemäß sind, ohne eine diskriminierende Herabwürdigung durch staatliche Bevormundungen und Verbote erfahren zu müssen: Lagodinsky: Das ist eine unauflösbare Spannung: Sie sagen, das ist nicht akzeptabel, ich sage, es ist hinnehmbar. Wie lösen wir das auf, ohne dass ich im Gefängnis lande? Indem wir die Spannung akzeptieren und eine Diskussion innerhalb der Gemeinschaften, nicht selbstgerecht von außen, führen [blurring: Autonomie der Religionsgemeinschaft]. Ich bin nachdenklich geworden, andere sind nachdenklich geworden. Das ist ein guter Weg. (Taz 2012a) Schließlich wird sich der paternalistischen Unterscheidung zwischen moderner »Wir«Gruppe und rückständiger jüdischer »Sie«-Gruppe durch die Grenzverwischungsstrategie der Angleichung widersetzt, wenn eine jüdische Sprecherin das dominante Bewertungsmuster einer vormodernen, »archaischen Gewaltkultur« des Judentums dekonstruiert und die Geschichte einer lesbischen Rabbinerin erzählt, die einen »modernen« Lebensstil vertritt und gleichzeitig Beschneidungen befürwortet: Wie wäre es mit einem Bild unserer Rabbinerin im Tempel Emanu El in San Francisco, einer der größten Synagogen an der Westküste der Vereinigten Staaten? Sie ist bekennende Lesbe und hat mit ihrer Frau zwei Jungen [blurring: moderne Jüd*innen]. Als im letzten Jahr versucht wurde, die Beschneidung in San Francisco per Volksabstimmung zu verbieten, stand sie in vorderster Reihe, um das zu verhindern. […] Doch Menschen wie sie tauchen kaum auf. In diesen Beiträgen wirken Juden und ihre Religion fremd, anders [blurring: Fremdheitsstigma]. (Spiegel 2012a)

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274

Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Jüd*innen, so die Argumentation, sind in ihrer Mehrheit liberal, weshalb die stereotype Gleichsetzung von Beschneidungen mit einer archaischen, illiberalen Religiosität irreführend ist und die Majorität der jüdischen Gemeinschaft unsichtbar macht. Insgesamt versucht das Repertoire einer »Anti-Diskriminierung« die Konstruktion von asymmetrischer Statusungleichheit zwischen jüdischer Minderheit und nichtjüdischer Mehrheit in den Grenzziehungsprozessen der Beschneidungsdebatte zu verwischen, indem anstelle der kulturalisierten Differenz kulturell-historische Gemeinsamkeiten von Jüd*innen und Nicht-Jüd*innen hervorgehoben werden.

9.5.2

Religionsfreiheit als Freiheit der religiösen Erziehung

Standen bislang Angleichungsstrategien der Grenzverwischung im Fokus der Analyse, die als Anfechtung von Prozessen der Exklusion einer jüdischen Minderheit zu verstehen sind, werden mit dem Repertoire der »Religionsfreiheit« Interpretationsstrategien der Gleichstellung betrachtet, die unter Berufung auf den Korpus gleicher Menschenrechte tendenziell universalistische Zugehörigkeitskriterien artikulieren. So heben Beschneidungsbefürworter*innen die Legitimität der Beschneidung aufgrund des Grundrechtes auf Religionsfreiheit hervor, um der exkludierenden Stigmatisierung des Initiationsritus zu begegnen: Die Begründung der rituellen Jungenbeschneidung wird aber auch beherrscht von offensiv formulierten hygienisch-medizinischen und religiösen Vorstellungen. Herangezogen wird auch das Grundrecht auf freie Religionsausübung [blurring: gleiche Rechte]. (FAZ 2012a) In diesem Sinne wird die gesellschaftliche Anerkennung der multireligiösen Lebenswirklichkeit sozialer Gruppen betont, um durch die Geltungswirksamkeit der Religionsfreiheit ein Recht auf (partikulare) kulturelle Differenz einzufordern. So stellt ein jüdischer Sprecher in der Tageszeitung fest, dass die Stärkung der Religionsfreiheit viel eher den Mehrfachzugehörigkeiten von Mitgliedern einer Gesellschaft Rechnung trägt und daher zu einem Surplus an Gleichberechtigung diskriminierter Gruppen führt: Wenn man die neue religiöse Vielfalt in diesem Land betrachtet, wäre die Frage, ob man die Religionsfreiheit stärkt [blurring: gleiche Rechte]. Auch das elterliche Sorgerecht sollte berücksichtigen: Kinder sind eben nicht nur Teil einer Gesellschaft, sondern sind auch Teil einer religiösen oder kulturellen Gemeinschaft. (Taz 2012a) Indem Akteur*innen also die Gleichberechtigung religiöser Gemeinschaftsformen mit denen einer (nationalen) Gesellschaft einfordern, bestreiten sie die Legitimität bestehender ethnisierter, nationalisierter und rassialisierter Grenzziehungen. Wurde in Kapitel 9.3.3 herausgearbeitet, dass die symbolische Gemeinschaftskonstruktion einer »Staatsnation« in dem Diskurs der Beschneidungsdebatte auf der Anpassung und Unterordnung unter die Normen der »säkular-liberalen Leitkultur« beruht, öffnet das Repertoire der »Religionsfreiheit«, das hier als Recht auf religiöse Erziehung gedeutet wird, die Grenzen der bestehenden Zugehörigkeitsordnung für (nicht-christliche) religiöse Identifikationsformen. Diese Erweiterung von ethno-religiös markierten Grenzen zwischen nicht-jüdischer Mehrheit gegenüber der jüdischen Minderheit wird

9 Das Diskursereignis der Beschneidungsdebatte

sogar, aufgrund der jahrzehntelangen Praxis stillschweigender Duldung, als impliziter gesellschaftlicher Konsens über die Legitimität der religiös motivierten Beschneidung betrachtet: Der Staat hat doch jahrelang weggeguckt und keiner hat sich beschwert. Nicht nur das: Die meisten Verfassungsrechtler sagen, im Urteil des Landgerichts Köln wurden Grundrechte nicht richtig gegeneinander abgewogen [blurring: gleiche Rechte]. Ich bin auch der Meinung, dass bei der Abwägung schlampig gearbeitet wurde. (Taz 2012a) Das Recht auf gleichberechtigte Anerkennung einer partikularen Differenz wird von jüdischen Sprecher*innen insbesondere mit Bezug auf den kulturellen Stellenwert des Beschneidungsrituals als konstitutiver Identifikationsakt der jüdischen Gemeinschaft, der ein »jüdisches« Leben für männliche Juden überhaupt erst ermöglicht, eingefordert. Dabei wird Wert auf die Feststellung gelegt, dass die Bedeutung der Brit Mila ein strömungsübergreifender Konsens innerhalb der jüdischen Gemeinschaft ist, wie folgende Sequenz deutlich macht: Weil es in den Religionsgemeinschaften gewisse Rituale und Bräuche gibt, die für diese Gemeinschaft konstituierend sind [blurring: universalisierende Zugehörigkeit]. Alle jüdischen Gruppen – die Orthodoxen, die Konservativen, die Liberalen, die Progressiven, die schwulen Rabbiner und die Rabbinerinnen – sind sich einig, dass die Beschneidung am achten Tage ein grundlegendes Prinzip dieser Religion ist. Auch für säkulare Juden wie mich ist es identitätsstiftend: ein Zeichen, dass wir eine jahrtausendelange Geschichte der Verfolgung überlebt haben. (Taz 2012a). Zuletzt werden als bekräftigende Faktoren für eine Gleichstellung jüdisch-religiöser und nicht-jüdischer Wertvorstellungen Gründe der Versachlichung in den Diskurs eingeführt, um die vermeintlich klare Grenzziehung zwischen scheinbar unversöhnlichen Wertesystemen – Religiosität einerseits und Säkularität andererseits – infrage zu stellen. In diesem Sinne versuchen Akteur*innen das Beschneidungsritual in den säkularen Referenzrahmen moderner Gesellschaften zu übersetzen. So wird auf Erkenntnisse der US-Vereinigung der Kinderärzte verwiesen, die erklärten, »dass die medizinischen Vorteile der Beschneidung […] die Risiken überwiegen« (Taz 2012c) würden, ein grundsätzlicher hygienischer Nutzen bestehe (Taz 2012c), »[e]in Drittel aller Männer weltweit« beschnitten sei (Taz 2012c), sexueller Missbrauch und Gewalt gegen Kinder eine gesellschaftlich weitaus größere Gefahr für das Kindeswohl darstelle (Spiegel 2012a), Operationen in der Regel unbedenklich verlaufen würden (Taz 2012a)und bei diesen grundsätzlich immer Komplikationen auftreten könnten (Taz 2012a) und dass letztlich niemand Hausgeburten verbieten wolle, obwohl dort das »Sterberisiko für Kinder nicht unerheblich steigt« (Taz 2012a). Durch die Verwendungspraxis des Gleichstellungsrepertoires der »Religionsfreiheit« wurden zusammengefasst Mechanismen einer strategischen Grenzverwischung sichtbar gemacht, die versuchen, bestehende ethnisierte, rassialisierte und nationalisierte Grenzziehungen durch tendenziell universalisierende Zugehörigkeitskonstruktionen aufzulösen.

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

9.6

Taxonomie der Analyseebene von Mechanismen des boundary blurring: Eine Übersicht über Strategien der Grenzverwischung in dem öffentlichen Diskurs der Beschneidungsdebatte

Das vorhergehende Kapitel konnte rekonstruieren, wie soziale Akteur*innen den Zuschreibungen und Stigmatisierungen des Beschneidungsdiskurses begegnen und die soziokulturellen Grenzziehungen zwischen nicht-jüdischer ingroup gegenüber der jüdischen outgroup durch Grenzverwischungsstrategien der »Gleichstellung« herausfordern. Dabei wurden insbesondere solche Interpretationsstrategien erkennbar, in denen Klassifikationsrepertoires Verwendung gefunden haben, die sowohl auf Prozesse der Inklusion als auch auf Prozesse der Exklusion von Jüd*innen zielen, aber gleichermaßen eine veränderte Bedeutung der hegemonialen Grenzziehung signifizieren. Es konnten mit dem Repertoire der »Anti-Diskriminierung« und dem Repertoire der »Religionsfreiheit« zwei kontingente Konstruktionsformen der Angleichung identifiziert werden, die Praxistypen der Grenzverwischung im diskursiven Kontext der öffentlichen Debatte über die Legitimität des Beschneidungsrituals reproduziert haben. Erstere macht die stereotype Wahrnehmung einer asymmetrischen Positionierung von Jüd*innen sichtbar und stellt die ethno-nationalen Grenzen zwischen Nicht-Jüd*innen gegenüber Jüd*innen durch die genealogische Betonung gemeinsamer geteilter kultureller Werte infrage. Letztere destabilisiert die nationalisierten, ethnisierten und rassialisierten Unterscheidungslinien des Antisemitismus durch universelle Zugehörigkeiten, die durch das System der Menschenrechte und den Säkularisierungsdiskurs eröffnet werden. Folgende Tabelle illustriert die Kategorisierungspraktiken des boundary blurring in der Beschneidungsdebatte:

9 Das Diskursereignis der Beschneidungsdebatte

Tabelle 10: Taxonomie der Analyseebene von Grenzverwischungsstrategien in der Beschneidungsdebatte, Quelle: Eigene Darstellung. Kategorien der sozialen Praxis Typus der Grenzverwischung

Klassifikationsstrategien der Gleichstellung können Stigmatisierungen und Ausgrenzungen durch die integrativere Re-Artikulation der Bedeutung soziokultureller Grenzen begegnen.

Klassifikationsrepertoires

Klassifikationsmuster der Gleichstellung zielen auf Prozesse der Exklusion, machen asymmetrische Positionierungen von Jüd*innen sichtbar und betonen kollektive Werte zwischen Jüd*innen und Nicht-Jüd*innen.

Klassifikationsmuster der Gleichstellung zielen auf Prozesse der Inklusion, heben die Menschlichkeit/Menschenrechte als relevantes gesellschaftliches Mitgliedschaftskriterium hervor und kontextualisieren säkulare Deutungsrepertoires.

Klassifikationen

Diskurs ist ausgrenzend, Jüd*innen sind angepasst, verfügen über gleichen sozialen Status, teilen mit der Mehrheitsgesellschaft gemeinsame Werte und Geschichte, sind mehrheitlich modern und liberal.

Religionsfreiheit: Jüd*innen verfügen über gleiche Rechte; Jüd*innen dürfen in der religiösen Ausübung von Zugehörigkeitsritualen nicht beschränkt werden, Religion frei auszuüben und Kinder religiös zu erziehen. Säkulare Übersetzung: Beschneidung besitzt medizinische/hygienische Vorteile, Beschneidungen werden weltweit durchgeführt, Operationsrisiko ist minimal.

Abschließend lässt sich resümieren, dass die Analyse von soziokulturellen Prozessen der Grenzziehung in symbolischen Deutungskämpfen über die Legitimität der rituellen Säuglingsbeschneidung im Judentum lokal-historisch spezifische Abwertungsrepertoires und Fremdzuschreibungen von Jüd*innen rekonstruiert hat, in denen gruppenbezogene Unterscheidungen, die die nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaft gegenüber der jüdischen Minderheit verwendet hat, produziert und stabilisiert wurden. Dabei konnten in den kontingenten Grenzziehungsstrategien sozialer Akteur*innen kategoriale Wechselwirkungen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Typen der Grenzziehung herausgearbeitet werden, ohne dass sich dabei eine spezifische Unterscheidungslinie als hierarchisch dominante Achse der Ungleichheit erwiesen hat. Durch diese mehrdimensionalen Verschränkungen wurden Praxistypen der Grenzziehung sichtbar gemacht, die den jüdischen Identifikationsakt des Beschneidungsritus als Symbol eines jüdischen Zugehörigkeitskonfliktes konstruiert haben. Zugleich wurden Strategien des boundary blurring demonstriert, die zeigen konnten, wie (jüdische) Akteur*innen Abwertungen und Stigmatisierungen in der gesellschaftlichen Debatte über die Zulässigkeit bestimmter kultureller oder religiöser Praktiken durch Grenzverwischungsrepertoires der Gleichstellung begegnet sind. Im nächsten Kapitel möchte ich nun die gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse von Grenzziehungen untersuchen, die das Diskursereignis der Proteste zum Gaza-Konflikt 2014 begleitet haben.

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10 Das Diskursereignis der Gaza-Demonstrationen Eine Wissenssoziologische Diskursanalyse von Konstruktionsmechanismen der antisemitischen Grenzziehung in dem öffentlichen Diskurs der Gaza-Proteste

Einen gegenüber den beiden vorherigen Fallstudien anders gelagerten thematischen Fokus weist der öffentliche Diskurs über die Proteste gegen den Gaza-Feldzug der israelischen Armee im Sommer 2014 auf. Während in der Walser-Bubis-Debatte Fragen der legitimen Erinnerung an den Holocaust und der Auseinandersetzung mit kollektiver Schuld im Mittelpunkt standen, wurde mit der rituellen Säuglingsbeschneidung eine religiöse Praxis von Jüd*innen verhandelt. Dagegen wird mit den Gaza-Protesten nun ein diskursives Ereignis untersucht, das durch den Israel-Bezug die heterogene Vielfalt antisemitischer Klassifizierungen sichtbar machen soll. Mithilfe der konzipierten intersektionalen Grenzziehungsperspektive auf antisemitische Differenzierungsprozesse und beruhend auf der methodischen Grundlage der Wissenssoziologischen Diskursanalyse möchte ich daher nach den mehrdimensionalen Wechselwirkungen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Typen der Grenzziehungen in den Klassifikationsstrategien sozialer Akteur*innen in diesem Diskurs fragen. Damit soll der analytische Werkzeugkasten der von mir entwickelten Taxonomie auf seine Plausibilität und Glaubwürdigkeit hin überprüft werden. Die rekonstruierten Kategorien der sozialen Praxis antisemitischer Grenzziehungen, die als temporär stabilisierte Bedeutung der Grenzen von In- und Exklusion zu betrachten sind, werden zudem in den größeren Zusammenhang des theoretischen wie empirischen Untersuchungsinteresses dieser Arbeit eingeordnet. Als übergeordnete Fragestellung wurde hierbei der relationale, historisch wie räumlich veränderbare Konnex von Kontinuität und Formwandel antisemitischer Differenzierungen formuliert. Zu dem Zweck der feinanalytischen Untersuchung wurde ein Textkorpus aus 91 Zeitungsartikeln, Hintergrundberichten und Kommentaren aus drei überregional erscheinenden Tages- oder Wochenzeitungen gebildet (TAZ, SPIEGEL, FAZ), die das Spektrum legitim sagbarer politischer Äußerungen im gesellschaftlichen Raum möglichst weitest-

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

gehend abdecken. Die Untersuchungsrelevanz der jeweiligen medialen Thematisierung des Diskursphänomens begründet sich danach, ob sie die Proteste oder daran anschließende gesellschaftliche Konfliktlagen des Antisemitismus behandelt haben und zeitlich nicht nach der Großkundgebung gegen Antisemitismus, die von der jüdischen Gemeinde am 14. September 2014 organisiert wurde, erschienen sind. Bevor die interpretative Rekonstruktion der spezifischen Grenzziehungsstrategien im öffentlichen Diskurs der Gaza-Proteste erfolgt, möchte ich zunächst den diskursiven Kontext der Demonstrationen etwas näher beleuchten, der für ein Verständnis dieser Aushandlungsprozesse antisemitischer Grenzen relevant erscheint.

10.1

Historische Hintergründe und politische Kontexte des Diskursereignisses der Gaza-Demonstrationen im Sommer 2014

Bevor die Detailanalyse des Diskurses über die Gaza-Demonstrationen im Zentrum der Betrachtung steht, möchte ich den historischen und politischen Kontext der propalästinensischen Demonstrationen gegen den israelischen Militäreinsatz im GazaStreifen kursorisch darstellen und eine grobe Chronologie der Ereignisse im Sommer 2014 liefern. Diese Kartierung des Diskursverlaufes soll schließlich ein vertiefendes Verständnis der Klassifikationsprozesse antisemitischer Grenzziehungen in dem symbolisch umkämpften Kontext der Gaza-Proteste ermöglichen. Diskursiver Bezugshorizont der Demonstrationen war der Feldzug der israelischen Armee gegen die andauernde Bedrohung durch den Raketen- und Mörserbeschuss von israelischen Städten durch die im Gaza-Streifen herrschende, islamistische Terrororganisation Hamas und andere dort ansässige militante Gruppen. Der israelischen Militäroffensive waren die Entführung und Ermordung von drei jüdischen Talmud-Schülern durch ein Hamas-Kommando in der Westbank vorausgegangen, in deren Folge israelische Sicherheitskräfte in der Westbank hunderte, mit der Hamas assoziierte Kämpfer*innen festnahmen. Daraufhin intensivierten die Hamas und andere militante Palästinensergruppen den Raketen- und Mörserbeschuss ziviler Ziele in Israel, worauf die israelische Armee mit Lufteinsätzen gegen militärische Stellungen der militanten Bewegungen reagierte. Nachdem die Hamas zusätzlich versuchte, unterirdische, in israelisches Staatsgebiet übergreifende Tunnelsysteme zu nutzen, um Anschläge in Israel durchzuführen, begannen die israelischen Verteidigungskräfte eine Bodenoffensive im Gaza-Streifen, die eine Zerstörung der sogenannten Angriffstunnel zum Ziel hatte (Shamir und Hecht 2015). Im Verlauf des Militäreinsatzes, der am 8. Juli 2014 begann und durch eine unbefristete Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas am 26. August 2014 beendet wurde, sind insgesamt 2200 Palästinenser*innen und 81 Israelis getötet worden. Insbesondere der Anteil von Opfern in der palästinensischen Zivilbevölkerung ist in dem »propaganda contest« (Shamir und Hecht 2014: 87) zwischen den Konfliktparteien von zentraler Bedeutung. Demzufolge besitzen palästinensische Opferzahlen einen wesentlichen Einfluss auf den ohnehin schon von überwiegender Ablehnung geprägten Grad der globalen öffentlichen Erregung gegenüber der israelischen Außen- und Sicherheitspolitik (Hirsh 2007; Salzborn 2018; Edthofer 2016). Weltweit begleiteten Demonstrationen und speziell in Europa massive Proteste, in denen

10 Das Diskursereignis der Gaza-Demonstrationen

primär Israel als Verantwortlicher für den Ausbruch des Konfliktes identifiziert wurde, die israelische Militäroperation gegen Stellungen der Hamas. Im zeitlichen und räumlichen Rahmen dieser Demonstrationen konnten antisemitische Eskalationen beobachtet werden, die sich in judenfeindlichen Parolen, Slogans und auch Angriffen gegenüber Jüd*innen oder jüdischen Einrichtungen ausgedrückt haben (Wistrich 2014).1 Im Zusammenhang mit den antiisraelischen Demonstrationen war ein länderübergreifender Trend zu beobachten, dass die Protestbewegung überwiegend durch Teilnehmer*innen geprägt wurde, die einen muslimischen und/oder migrantischen Hintergrund besitzen (Wistrich 2014; Jikeli 2015: 2; Tausch 2014).2 Insofern sich die vorliegende Fallstudie für das diskursive Ereignis der Gaza-Proteste im deutschen Kontext interessiert, werde ich im Folgenden den Verlauf des öffentlichen Diskurses skizzieren, als dessen Ausgangspunkt die antisemitischen Manifestationen der Demonstrationen selbst fungieren. Die von jüdischen Betroffenen als »summer of hate« (Zick, Hövermann et al. 2017: 70) beschriebene Zeit der anti-israelischen Demonstrationen im Jahr 2014 lässt sich in ihrem diskursiven Verlauf grob in zwei Etappen unterteilen (Rybak 2015). Die ersten größeren Proteste gegen das israelische Agieren im Gaza-Konflikt haben im Zeitraum vom 10. bis zum 17. Juli stattgefunden, wurden weitestgehend spontan über soziale Netzwerke organisiert und verliefen oftmals unangemeldet. Charakteristisch für diese informellen Proteste waren zum einen die erhebliche Diskrepanz zwischen den erwarteten und tatsächlichen Teilnehmerzahlen. Während etwa in Frankfurt a.M. am 12. Juli 50 Demonstrierende erwartet wurden und schätzungsweise 2500 Menschen kamen, sind es in Dortmund am gleichen Tag 1500 Protestierende statt der prognostizierten 100 Teilnehmer*innen gewesen. Zum anderen kam es insbesondere bei diesen Demonstrationen zu massiven antisemitischen Vorfällen. So wurde etwa in Gelsenkirchen »Hamas, Hamas Juden ins Gas« skandiert; auf der Berliner Demo, die von palästinensischen, türkischen und libanesischen Flaggen dominiert wurde, gab es unter anderem die Parole »Jude, Jude feiges Schwein! Komm heraus und kämpf allein!« zu hören und explizit

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Besonders blieben in diesem Zusammenhang Geschehnisse in Erinnerung, die sich in Frankreich ereignet haben. So wurden nicht nur innerhalb von einer Woche acht französische Synagogen attackiert (Tausch 2014: 46), sondern es kam darüber hinaus zu massiven Ausschreitungen im jüdischen Viertel des Pariser Vorortes Sarcelles. Dabei verwüsteten eine Gruppe propalästinensischer Demonstrant*innen jüdische Geschäfte und versuchten, die örtliche Synagoge zu entzünden, während sie Parolen wie »Tod den Juden« riefen (Wistrich 2014). Die Proteste wurden von vielfältigen Trägergruppen getragen, aber besonders sichtbar durch Akteur*innen mit muslimischem und/oder migrantischem Hintergrund (Biskamp 2016: 14). Allerdings lässt sich aus diesem Umstand heraus kein Automatismus der Gleichsetzung von religiöser/ethnischer Zugehörigkeit und Antisemitismus herleiten. Einem solchen Befund widersprechen die geringen Teilnehmerzahlen der Demonstrationen selbst, gemessen an der muslimischen Gesamtbevölkerung der jeweiligen Städte. Lassen sich also schon durch die Teilnahmeaktivitäten muslimischer Demonstrant*innen keine Rückschlüsse auf mehrheitlich antisemitische Muslim*innen ziehen, so erscheint die offenkundige Essentialisierung im Sprechen über einen genuin antisemitischen »Islam« noch weniger geeignet, eine solche Diagnose zu stellen. Neben den bereits genannten Gruppen oder Einzelpersonen, die sich als muslimisch und/oder migrantisch identifizieren ließen, wurden die Proteste vor allem von Organisationen aus dem Umfeld der Partei »Die Linke«, der palästinasolidarischen Friedensbewegung, linken Splittergruppen oder in geringerem Umfang von rechten Gruppen getragen (Rybak 2015: 156).

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islamisch-religiöse Formeln wie das Takbir (»Allahu Akbar«) oder das islamische Glaubensbekenntnis (»Es gibt keinen Gott außer Gott«) gehörten auf vielen dieser, wie auch auf späteren, Demonstrationen zum Standard-Repertoire (Rybak 2015: 164f.; Biskamp 2016: 14). Die zweite Phase der Proteste wurde schließlich zunehmend von Akteur*innen der Zivilgesellschaft, Gruppierungen und Vorfeldorganisationen der politischen Linken vorbereitet und durchgeführt, wobei hier speziell örtliche palästinensische und türkische Gemeinden eine größere Rolle spielten. Trotz der zahlreichen offiziellen Aufrufe zur Mäßigung seitens der Demonstrationsleitungen kam es unter anderem auf Demonstrationen in Essen, Hannover, Göttingen, Mannheim, Berlin oder Köln zu massiven antisemitischen Vorfällen.3 Nachdem sich die öffentliche Debatte zunehmend und in extrem polarisierender Form auf die antisemitischen Manifestationen und Gewalttaten im Kontext dieser Demonstrationen und Kundgebungen bezogen hatte, wurde zuletzt den sogenannten Al-Quds-Demonstrationen, die am 07.08.2014 stattgefunden haben, große mediale Beachtung geschenkt.4 Obwohl offen antisemitische Feindseligkeiten nur vereinzelt festzustellen waren, kam es zu vielen, nur unzureichend camouflierten, antisemitischen Umwegkommunikationen, in denen der Begriff »Jude« durch »Zionist« ersetzt wurde (Rybak 2015: 174ff.). Obgleich der Gaza-Konflikt erst am 26.8.2014 offiziell beendet wurde, konnte im Anschluss an die Al-Quds-Demonstrationen ein allgemeiner Rückgang der Demonstrationen und ihrer Mobilisierung festgestellt werden (Rybak 2015: 176). Den Schlusspunkt der öffentlichen Debatte über die pro-palästinensischen Gaza-Proteste und ihren sichtbar antisemitischen Charakter bildete schließlich eine von den jüdischen Gemeinden organisierte Kundgebung gegen Antisemitismus. Obwohl auf dieser Demonstration die Bundeskanzlerin und zahlreiche weitere Politiker*innen und gesellschaftliche Eliten erschienen sind, konnte die Kundgebung nach offiziellen Angaben allerdings nicht mehr als 4000 Menschen mobilisieren (ebd.: 192). Nach dieser groben Skizzierung des Diskursverlaufes der anti-israelischen Demonstrationen und ihres Ereignishorizontes des Geschehens im Nahen Osten soll nun im Folgenden die interpretative Analyse der gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse über die soziokulturell anerkannten Klassifikationen des »Jüdischen« im lokal-historisch spezifischen Kontext der Gaza-Proteste geleistet werden. Dabei soll insbesondere danach gefragt werden, wie Akteur*innen durch Kreuzungen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Differenzkategorien mehrdimensionale Grenzen zwischen einer jüdischen outgroup gegenüber einer nicht-jüdischen ingroup herstellen und stabilisieren. Die vorliegende Analyse der Konstruktionsweisen antisemitischer Grenzziehungen unterscheidet aufgrund der umkämpften Bedeutungsoffenheit des Diskurses 3

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Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang, neben tätlichen Angriffen auf Jüd*innen oder einem Brandanschlag auf eine Synagoge in Wuppertal, die drastischen Vorkommnisse in Essen: Eine Gruppe von arabisch- und türkisch-muslimischen Demonstrant*innen hat im Anschluss an eine von der Partei »Die Linke« organisierten Kundgebung versucht, eine pro-israelische Kundgebung anzugreifen. Dabei wurden Gegendemonstranten mit Gegenständen beworfen, eingekesselt und Parolen wie »Tod den Juden« und »Adolf Hitler« vorgetragen (Rybak 2015: 171). Bei den jährlichen Demonstrationen zum Al-Quds-Tag am 25. Juli handelt es sich um ein globales, durch die islamische Republik Iran initiiertes Ereignis während des Fastenmonats Ramadan, das Muslim*innen weltweit dazu aufruft, Jerusalem (Al-Quds) von den »zionistischen Besatzern« zu befreien (Wistrich 2014: 39f.).

10 Das Diskursereignis der Gaza-Demonstrationen

schließlich zwischen den minoritären Klassifikationsstrategien muslimisch und/oder migrantisch identifizierter Akteur*innen im Rahmen der Demonstrationen und den hegemonialen Klassifikationsstrategien von Akteur*innen der Mehrheitsgesellschaft, die ex post Bewertungen der antisemitischen Demonstrationen vornahmen. Darauf aufbauend soll die Untersuchung antisemitischer Typen der Grenzziehung im Diskurs über die Gaza-Demonstration folgende Ergebnisse sichtbar machen: 1) In Diskursen der kulturellen Aushandlung über die legitime Bedeutung des Nahostkonfliktes und ihrer diskursiven Grenzen finden sich ambivalente Gleichzeitigkeiten der symbolischen In- und Exklusion von Jüd*innen in einem nationalen Selbstverständigungskontext. a) Relational verschränkte, ethnisierte, rassialisierte und nationalisierte Grenzziehungen eines »muslimischen Antisemitismus« biologisieren ein »jüdisches« Kollektiv, das, repräsentiert durch den Staat Israel, als nationalisiertes Feindbild einer ethno-religiös definierten Kerngruppe fungiert. b) Ethno-nationale Klassifikationsmuster begründen Wertvorstellungen eines »Anti-Antisemitismus« als politische Selbstlegitimation einer nationalen Erinnerungs- und Schicksalsgemeinschaft durch die Exzeptionalisierung jüdischer Geschichtserfahrung.

Daneben wurde auch hier ein dominanter Typus des boundary blurring identifiziert, der ethnisierte, rassialisierte und nationalisierte Grenzziehungen zwischen einem nichtjüdischen »Innen« und einem jüdischen »Außen« verwischen soll. 2) Grenzverwischungstypen der Angleichung begegnen symbolischen Ausgrenzungen in der öffentlichen Debatte über die Gaza-Demonstrationen durch die Anerkennung multipler Zugehörigkeiten. a) Jüdische Sprecher*innen zielen auf Prozesse der Exklusion und fordern eine gleichberechtigte Anerkennung jüdischer Diskriminierungswahrnehmungen. b) Angehörige der Mehrheitsgesellschaft zielen auf ambivalente Prozesse der Inklusion und konstruieren gesellschaftliche Zugehörigkeiten von Jüd*innen qua ihrer machtvollen Sprecher*innenposition als »gesellschaftliche Eliten«.

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»Jude, Jude feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein« – Antisemitische Klassifikationsstrategien muslimischer Akteur*innen im Kontext der Gaza-Proteste »In Berlin skandierten Demonstranten »Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein« (Spiegel 2014b)

Gegenstand des nächsten Abschnitts wird eine Überprüfung der taxonomischen Analysekategorien der soziokulturellen Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen am Fallbeispiel des Diskurses über die antisemitischen Ausschreitungen

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schließlich zwischen den minoritären Klassifikationsstrategien muslimisch und/oder migrantisch identifizierter Akteur*innen im Rahmen der Demonstrationen und den hegemonialen Klassifikationsstrategien von Akteur*innen der Mehrheitsgesellschaft, die ex post Bewertungen der antisemitischen Demonstrationen vornahmen. Darauf aufbauend soll die Untersuchung antisemitischer Typen der Grenzziehung im Diskurs über die Gaza-Demonstration folgende Ergebnisse sichtbar machen: 1) In Diskursen der kulturellen Aushandlung über die legitime Bedeutung des Nahostkonfliktes und ihrer diskursiven Grenzen finden sich ambivalente Gleichzeitigkeiten der symbolischen In- und Exklusion von Jüd*innen in einem nationalen Selbstverständigungskontext. a) Relational verschränkte, ethnisierte, rassialisierte und nationalisierte Grenzziehungen eines »muslimischen Antisemitismus« biologisieren ein »jüdisches« Kollektiv, das, repräsentiert durch den Staat Israel, als nationalisiertes Feindbild einer ethno-religiös definierten Kerngruppe fungiert. b) Ethno-nationale Klassifikationsmuster begründen Wertvorstellungen eines »Anti-Antisemitismus« als politische Selbstlegitimation einer nationalen Erinnerungs- und Schicksalsgemeinschaft durch die Exzeptionalisierung jüdischer Geschichtserfahrung.

Daneben wurde auch hier ein dominanter Typus des boundary blurring identifiziert, der ethnisierte, rassialisierte und nationalisierte Grenzziehungen zwischen einem nichtjüdischen »Innen« und einem jüdischen »Außen« verwischen soll. 2) Grenzverwischungstypen der Angleichung begegnen symbolischen Ausgrenzungen in der öffentlichen Debatte über die Gaza-Demonstrationen durch die Anerkennung multipler Zugehörigkeiten. a) Jüdische Sprecher*innen zielen auf Prozesse der Exklusion und fordern eine gleichberechtigte Anerkennung jüdischer Diskriminierungswahrnehmungen. b) Angehörige der Mehrheitsgesellschaft zielen auf ambivalente Prozesse der Inklusion und konstruieren gesellschaftliche Zugehörigkeiten von Jüd*innen qua ihrer machtvollen Sprecher*innenposition als »gesellschaftliche Eliten«.

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»Jude, Jude feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein« – Antisemitische Klassifikationsstrategien muslimischer Akteur*innen im Kontext der Gaza-Proteste »In Berlin skandierten Demonstranten »Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein« (Spiegel 2014b)

Gegenstand des nächsten Abschnitts wird eine Überprüfung der taxonomischen Analysekategorien der soziokulturellen Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen am Fallbeispiel des Diskurses über die antisemitischen Ausschreitungen

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der Gaza-Demonstrationen sein. Grenzziehungsstrategien sozialer Akteur*innen sollen dabei einerseits das kontingente Zusammenspiel ethnisierter und nationalisierter Klassifikationsmuster in der schuldabwehrenden öffentlichen Debatte über einen sogenannten Antisemitismus der Anderen rekonstruieren. Dabei werden auch die minoritären Klassifikationspraktiken »muslimisch« markierter Sprecher*innen in den Blick genommen, die als Teil der offenen gesellschaftlichen Aushandlung kultureller Bedeutungen des »Jüdischen« zu begreifen sind und im Kontext der Demonstrationen artikuliert wurden. Dies geschieht in dem Wissen darüber, dass die diskursiv vermittelte Identifikation als »Muslim« in massenmedialen Diskursen als kulturell vorgeprägte Wahrnehmung von muslimischen Sprecher*innenpositionen zu verstehen ist, weil ihre Positionierung in gesellschaftlich dominante Diskurse der Alterität und Fremdheit eingebunden ist. Insofern Medien daher einerseits als Akteure*innen in Diskursen auftreten, die Wissen produzieren, aber andererseits auch als Bühne für aufeinander bezogene Kommunikationen von sozialen Akteur*innen fungieren (siehe Kapitel 7.4), möchte ich unter dieser Prämisse die abwertenden Klassifikationspraktiken »muslimisch« identifizierter Sprecher*innen als minoritäre Positionierung innerhalb dieser hegemonialen Anrufungsstruktur kritisch analysieren. Die praktische Aneignung dieser Sprecher*innenpositionen lässt sich demnach, von einer marginalisierten Position aus agierend, als Versuch der Erweiterung und der Veränderung des gesellschaftlich legitimen Wissens über das »Jüdische« interpretieren, ohne diese diskursiven Interventionen durch muslimische Akteur*innen jedoch als scheinbar natürliches Merkmal einer »muslimischen« Identität zu essentialisieren. Dabei stehen hier klassifikatorische Praktiken der Bedeutungszuweisung und damit eben in erster Linie relationale Prozesse der Herstellung antisemitischer Grenzziehungen durch Mechanismen der Selbst- und Fremdidentifikation im Fokus der Analyse, die de-essentialistisch nach der heterogenen Vielfalt lokalhistorisch spezifischer Formen der antisemitischen Weltausdeutung fragen. Allerdings kann nur eine diskursanalytische Bewertung der Inhalte muslimisch-antisemitischer Klassifikationsprozesse erfolgen und keine Aussage über die Breitenwirkung dieser antisemitischen Invektiven innerhalb der muslimischen communities getroffen werden. Denn die Ambivalenz des Diskurses über muslimisch-migrantische Antisemitismen besteht nun darin, dass die »Antisemitismusabwehr«, wie sie hier gegenüber einer marginalisierten Bevölkerungsgruppe durchgesetzt wird, zugleich Zugehörigkeiten vermittelt, indem sie eine wesentliche Symbolfunktion für das nationale Selbstverständnis der postnazistischen Erinnerungsgemeinschaft besitzt. Natio-ethno-kulturell Zugehörige eignen sich demzufolge den offiziell institutionalisierten »Anti-Antisemitismus« und seine Kommunikationsverbote als Klassifikationsrepertoire der Differenzierung an, um auf diese Weise die nicht-Zugehörigkeit migrantischer Subjekte zu markieren. Auch werden damit einhergehende Fragen der nationalen Narration des negativen Erbes der kollektiven Verbrechensgeschichte des Holocaust berührt. Bevor ihre sinnhaften Verästelungen in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken, gilt es demnach im Folgenden zwei Analyseebenen auseinanderzuhalten: Zum einen das majoritäre Sprechen, als stabilisierter, hegemonialer Modus der soziokulturellen Grenzziehung, über (muslimische) Antisemitismen. Zum anderen die minoritäre Aneignung ethnisierter, nationalisierter oder rassialisierter Bewertungs- und Unterscheidungsmuster von »muslimisch« identifizierten Akteur*innen im Kontext der Demonstrationen gegen den Gaza-Einsatz des

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israelischen Militärs 2014.Die analytische Differenzierung erfolgt im Sinne der heuristischen Ausrichtung der Taxonomie an den Prinzipien der Intersektionalitätsforschung. Kurzum unterscheide ich einerseits zwischen einem »muslimischen Antisemitismus« als Analysekategorie zur Betrachtung relationaler Mechanismen der Grenzziehung und andererseits einem »muslimischen Antisemitismus« als Praxiskategorie der soziokulturellen Ausschließung von muslimisch markierten Subjekten. Wie lässt sich nun das situative Zusammenspiel ethnisierter, nationalisierter aber auch offen rassistisch-biologisierender Antisemitismen im Rahmen dieser Demonstrationen interpretieren, wenn man von der Taxonomie von Analysekategorien antisemitischer Grenzziehungen ausgeht? Zunächst bleibt festzuhalten, dass die antisemitischen Ausschreitungen und die teilweise dechiffrierte und unvermittelte Äußerung antisemitischer Codes und Zeichen als Durchbrechung des auch strafrechtlich sanktionierten Kommunikationstabus antisemitischer Aussagen im öffentlichen Raum zu begreifen sind (Bergmann und Erb). Durch den symbolischen Bezug auf den Nahost-Konflikt werden Prozesse der Nationalisierung in antisemitischen Grenzziehungen sichtbar: Nationalisierte Klassifikationsmuster des Antisemitismus kategorisieren Jüd*innen durch ihre (vermeintliche) Zugehörigkeit zu einer »jüdischen« Nation als ungleichwertige »Fremdgruppe« und hypostasieren sie häufig als machtvolle Bedrohung. Typen der ethnisierten Grenzziehung reproduzieren Klassifikationsmuster der »Kultur« oder »Religion«, wie sie durch muslimisch-migrantische Subjekte verwendet werden. Ethnisierte Klassifikationsrepertoires von Sprecher*innen mit muslimischer Identität aktivieren etwa situational religiöse oder kulturelle Identifikationsweisen, Symbole und Wertvorstellungen der »Eigengruppe« als legitime, gleichwohl schimärische Unterscheidungen zwischen einem »uns« und jüdischen »ihnen« oder nehmen die gesellschaftliche Lebensweise respektive den sozialen Zusammenhalt von Jüd*innen als Ausdruck einer separierten »Gesamtidentität« der »Judenheit« wahr (Jikeli 2015; 2018). Zuletzt werten Klassifikationsprozesse der Rassialisierung Jüd*innen aufgrund ihrer vermeintlichen biologischen Zugehörigkeit zu einem Kollektiv der »Juden« ab und schreiben ihnen irreduzible, wesenhaft negative Eigenschaften zu. In einem nächsten Schritt werden nun das lokal-historisch spezifische Klassifikationsmuster eines »muslimischen Antisemitismus«, seine Repertoires der Biologisierung eines jüdischen Wesens und der machtvollen Imagination des »Zionismus« als nationalisierte Bedrohung analysiert. Hierbei werden auch die darin enthaltenden Fremdzuschreibungen einer jüdischen »Minderwertigkeit« und »Unterlegenheit«, einer »zionistischen Macht« sowie israelischen »Grausamkeit« untersucht. Im Kontext der deutschlandweit stattgefundenen Demonstrationen gegen den Gaza-Einsatz des israelischen Militärs wurden etwa in Berlin durch Demonstrant*innen Kreuzungen von ethno-religiösen und rassialisierten Klassifikationsrepertoires reproduziert, die sich als Grenzziehungsstrategien eines »muslimischen Antisemitismus«5 verstehen lassen: »In Berlin skandierten Demonstranten ›Jude, Jude, 5

Um den Ausgangspunkt nochmals deutlich zu machen: Die Typisierung der Grenzziehungsstrategie eines »muslimischen Antisemitismus« meint keine Gleichsetzung von religiöser Zugehörigkeit zum Islam oder von einer (Selbst-)Identifikation als Muslim*in mit Judenfeindschaft, sondern eine

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feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein [ethno-rassial: religiös-biologisierende Differenz].‹« (Spiegel 2014b). Die abwertende Zuschreibung von Jüd*innen als »feige Schweine« und ihre antisemitische Anrufung als konkrete »Juden« folgt der Klassifikationslogik ethno-religiöser Grenzziehungen von »muslimisch« markierten Akteur*innen. In Kapitel 4.5 wurde herausgearbeitet, dass Bedeutungskomplexe eines sogenannten islamischen Antisemitismus auf tradierten Vorstellungen religiös artikulierter Judenfeindschaft beruhen, die Jüd*innen gegenüber Muslim*innen einen untergeordneten Status zugewiesen und sie mit Eigenschaften der »Schwäche« belegt haben. Diese religiös akzentuierte Bewertungskategorie liefert einen Hinweis auf die Kontingenz antisemitischer Klassifikationsstrategien, deren temporäre Fixierung als vorläufig stabilisierte Muster der Sinndeutung an dieser Stelle eine gewisse kulturelle »Pfadabhängigkeit« zum Ausdruck bringt. Denn im Gegensatz etwa zu Stereotypisierungen des christlichen Antijudaismus, die Jüd*innen als machtvolle »Christusmörder« imaginieren, rekurrieren religiöse Bedeutungskomponenten eines »islamischen« Antisemitismus auf Stigmatisierungen jüdischer »Unterlegenheit« und »Inferiorität« bei gleichzeitiger Selbstpositionierung der »Eigengruppe« als »überlegen« (Küntzel 2002; 2004; Schmidinger 2008). Diese symbolische Aneignung religiöser Codes wird demzufolge in dem Vorwurf jüdischer »Feigheit« aktualisiert und in einen veränderten kulturellen Kontext eingepasst. »Feigheit« spielt daher einerseits mit der ethnisierten Vorstellung einer jüdischen »Kultur der Ehrlosigkeit« zusammen. Andererseits findet eine Aneignung rassialisierter Klassifikationsrepertoires statt, die ein gruppenlogisches Wissen über das negative »Wesen« der »Juden« aufgrund ihrer konstruierten Zugehörigkeit zu einem imaginär-biologischen Kollektiv formuliert. Ergänzt wird dieses Abwertungswissen durch eine für den christlichen Antijudaismus und islamischen Antisemitismus gleichermaßen charakteristische Tiermetaphorik, die sich in dem Symbol des »jüdischen« Schweines ausdrückt. Eine andere, auf einer Gelsenkirchener Demonstration skandierte antisemitische Parole lässt sich ebenfalls als Überlagerung ethno-religiöser, rassialisierter und nationalisierter Klassifikationsmuster interpretieren, wenn es heißt: »Hamas! Hamas! Juden ins Gas« (Spiegel 2014a). Durch diesen Demonstrationsruf werden multiple Verknüpfungen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Klassifikationen, die Grenzziehungen zwischen einem, hier »muslimisch«, identifizierten »uns« gegenüber einem nicht-jüdischen »ihnen« herstellen. Als Zusammenspiel ethno-religiöser und z.T. auch nationalisierter Formen der mehrdimensional verschränkte Klassifikationsstrategie der kategorialen Abwertung von Jüd*innen, die sich auch auf religiöse Codes und Symbole als Identitätsmarker in Grenzziehungsprozessen beziehen kann. Anders formuliert: Im Sinne der Relationalität soziokultureller Grenzziehungsprozesse, dem Zusammenspiel idealisierender Selbstidentifikation und abwertender Fremdkategorisierungen, muss davon ausgegangen werden, dass die schimärische Aneignung einer »muslimischen« oder »muslimisch-arabischen« Gruppenidentität kontingente, d.h. spezifisch lokal-historisch kontextualisierbare, antisemitische Unterscheidungszeichen hervorbringt. Diese Unterscheidungspraktiken lassen sich, bei aller Gemeinsamkeiten und Überlagerungen antisemitischer Deutungstropen, von jenen Grenzziehungsstrategien differenzieren, in denen eine antisemitische Unterscheidung zwischen (deutscher) Mehrheitsgesellschaft und jüdischer Minderheit getroffen wird.

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Selbstidentifikation lässt sich der symbolische Bezug auf die islamistische Terrorgruppe »Hamas«6 bewerten. Einerseits repräsentiert der islamistisch-antisemitische Charakter der Hamas einen religiös-symbolischen Gemeinschaftscode, der entsprechend »muslimische« Zugehörigkeitskonstruktionen legitimieren kann. Andererseits stellt ihr Selbstverständnis als »nationale« Befreiungsbewegung gleichermaßen nationalisierte Subjektpositionen »arabischer« oder »palästinensischer« Akteur*innen bereit. Die Anrufung der »Hamas« lässt sich demzufolge als deutliche Selbstpositionierung in diesem hybriden Zugehörigkeitskontext verstehen. Hierzu scheint auch das in der medialen Berichterstattung häufig beschriebene Mitführen von Hamas-Flaggen auf diesen Demonstrationen einen vergleichbaren Mechanismus der kollektiven Selbstbeschreibung zu erfüllen (FAZ 2014b). Im Falle einer Hannoverischen Demonstration wurde das Mitführen von Hamas-Flaggen noch durch die verunglimpfende bildliche Darstellung eines durchgestrichenen Davidsterns ergänzt (ebd.). Auf diese Weise kann ein Typus ethno-nationaler Grenzziehung identifiziert werden, die sich durch das nationalisierte Verhältnis zwischen Selbstidealisierung – Hamas als Symbol ethno-nationaler Zugehörigkeiten – und Fremdabwertung – Davidstern als Symbol religiöser und nationaler Zugehörigkeiten von Jüd*innen – relationiert. Daneben findet mit dem Aufruf zur Vergasung von »Juden« auch im Fall der Berliner Demonstration eine offen rassialisierte Reduktion von Jüd*innen auf ihre biologisierte Zugehörigkeit zu einem vorgestellten Kollektiv der »Juden« statt. Zudem wird hier eine vergangenheitspolitische Aktualisierung des nationalsozialistischen Rassenantisemitismus und seiner Vernichtungspraxis symbolisch wirksam, indem das Ziel der kollektiven Vernichtung von Jüd*innen als »unwertes« Leben artikuliert wird. Ganz ähnlich wird auch von einer Demonstration am Brandenburger Tor berichtet, auf der Demonstrationsteilnehmer*innen offene Vernichtungsdrohungen gegenüber Jüd*innen prononciert haben, die als rassialisierte Form einer antisemitischen Klassifikationspraxis den Mord an Jüd*innen qua einer biologisch definierten Zugehörigkeit fordern: »Schlachtet die Juden ab!« (Spiegel 2014a). Es sind diese Überlagerungen von ethnisierten und speziell rassialisierten Antisemitismen, die Wandelbarkeit und Anpassungsfähigkeit antisemitischer Klassifikationsrepertoires sichtbar machen. Insofern Biologisierungen von Jüd*innen als Produkt des modernen Rassenantisemitismus ihren Ursprung in der europäischen Gesellschaftsgeschichte des 19 .Jahrhunderts besitzen, weisen religiös verwendete Zeichen und Codes auf muslimische Zugehörigkeitskonstruktionen hin, die sich im kulturellen Kontext des

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In dieser Arbeit wird sich, wie in Kapitel 4.5 diskutiert, von analytischen Zugängen abgegrenzt, die genuin »islamische« Anteile spezifischer Erscheinungsformen des Antisemitismus verneinen. Theorieimmanent werden Antisemitismen als Praktiken verstanden, die in lokal-historisch spezifischer, d.h. kontingenter, Form ein multiples Zusammenspiel heterogener – und damit auch islamisch-religiöser – Klassifikationsmuster hervorbringen, um Jüd*innen auszugrenzen, zu stigmatisieren und abzuwerten. Dementsprechend wird der Antisemitismus der Hamas als Zusammenspiel »islamischer« Codes und »nationaler« respektive ethnisierter Symboliken verstanden. Sowie das »Kreuz« als religiöses Symbol des Christentums gilt, Hakenkreuzfahnen eine Selbstpositionierung als Neo-Nazi sichtbar werden lassen, muss daher die symbolische Berufung auf die Hamas im Kontext des Nahostkonfliktes als strategische Entscheidung habitualisierter Akteur*innen für eine zumindest partielle symbolische Reproduktion von Zielen und Inhalten der antisemitischen Bewegung verstanden werden.

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deutschen Nahostdiskurses zu einer lokal-historisch spezifischen Klassifikationspraxis eines »muslimischen Antisemitismus« amalgamieren.7 Letztlich verweist dieses Zusammenspiel auf den situationalen Konstruktionscharakter von Grenzziehungen hin, in denen etwa islamisch-religiöse Mechanismen der Selbstidentifikation vor dem Bezugshorizont des nationalisiert-jüdischen Feindbildes Israel in rassialisierten Stereotypen situativ aktiviert werden können, um Jüd*innen auszugrenzen und abzuwerten. Diese Grenzüberschreitungen und Verletzungen anti-antisemitischer Diskurstabus durch strategisch handelnde Akteur*innen lassen sich im Sinne des Grenzziehungsparadigmas in zweierlei Hinsicht als Diskursstrategien in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen von Grenzziehungen verstehen. Zum einen wird von einer minoritären gesellschaftlichen Außenseiterposition aus die dominante Wertvorstellung der Mehrheitsgesellschaft infrage gestellt, indem das Kommunikationsverbot offen antisemitischer Äußerungen, das als hegemonialer Diskursrahmen Zugehörigkeiten vermittelt, durchbrochen wird. Zum anderen findet damit auch eine scharfe und erheblich abwertende Grenzziehung gegenüber der jüdischen Minderheit statt. Demzufolge enthält der Praxistyp der Grenzziehungen eines »muslimischen Antisemitismus« biologisierte Repertoires der rassialisierten Gruppenzuschreibung von Jüd*innen, die ein wesenhaftes Kollektiv der »Juden« konstruieren, das in einem eliminatorisch-antisemitischen Sinne als zu vernichtender Todfeind der minoritären ingroup kategorisiert wird. Diese Sinnkonstruktion eines biologisierten Abstammungskollektivs der »Juden« gelingt dabei durch den Bezugshorizont des Nahostkonfliktes (Israel als nationalisiertes Symbol des »Jüdischen«) und unter diffuser Anwendung ethno-religiöser Selbstidentifikationen. Von besonderer thematischer Referenz ist im Diskurs der Gaza-Demonstrationen das Ereignis der Al-Quds-Demonstrationen in Berlin, das hier auch als diskursiver Ort der Aktualisierung einer muslimischen Identifikation und ihrer Repräsentation im öffentlichen Raum analysiert wird. Demzufolge erscheint die Demonstration als kontingentes Symbol für die schimärische Aneignung religiöser Codes und Zeichen durch daran teilnehmende (islamistische) Organisationen und Aktivist*innen, um eine soziokulturelle Grenze zwischen einem als muslimisch identifizierten »uns« gegenüber einem jüdischen »ihnen« herzustellen. In diesem Zusammenhang wirken die Wahrnehmungsund Bewertungskategorien eines ethno-nationalisierten Typus der Grenzziehung als dominante Unterscheidungszeichen, die Jüd*innen in der Verwendungspraxis sozialer Akteur*innen einerseits als »Fremdgruppe« der »Zionisten« nationalisieren (YuvalDavis 2011; Holz 2005) und andererseits durch das antisemitische Klassifikationsrepertoire der »zionistischen Macht und ihres Einflusses« klassifizieren. Dieser dichotomen Unterscheidungslogik zufolge werden Muslim*innen respektive Araber*innen oder Palästinenser*innen als ethno-religiös definiertes »Opferkollektiv« zionistischer Machen-

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In den einleitenden Kontextualisierungen der Demonstrationen wurde darauf hingewiesen, dass auf vielen dieser Demonstrationen das islamische »Takbir« oder das islamische Glaubensbekenntnis zum kommunikativen Standardrepertoire muslimischer Teilnehmer*innen der Kundgebungen gehört hat. Folgt man den taxonomischen Analysekategorien von soziokulturellen Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen müssen diese Glaubensbekundungen entsprechend der Relationalität von Grenzziehungen als situativ aktivierte Mechanismen der Selbstidentifikation vis-a-vis dem antisemitisch konstruierten Feindbild Israel verstanden werden.

10 Das Diskursereignis der Gaza-Demonstrationen

schaften imaginiert. So wurde in der Berichterstattung über den Demonstrationszug über entsprechende Aussagen und Ausrufe geschrieben: »Menschen riefen: ›Faschisten [sekundärantisemitisch: Täter-Opfer-Umkehrung]! Kindermörder Israel! [national: jüdische Grausamkeit]‹« (FAZ 2014c). An diese Sequenz lassen sich im Hinblick auf antisemitische Klassifizierungen zweierlei relevante Interpretationen anschließen: Zum einen kann die Abwertung Israels als Wiedergänger des Nationalsozialismus, was hier durch den Signifikanten »Faschist« zum Ausdruck gebracht wird, als sekundärantisemitische Klassifikationslogik einer nationalisierten Täter-Opfer-Umkehrung gedeutet werden. Jüd*innen, so die Lesart, repräsentiert durch den Staat Israel, begehen vermeintlich Verbrechen, die sie selbst erfahren haben. Zum andern ist die essentialisierende Fremdzuschreibung Israels als »Kindermörder« in nationalisierten Kollektivzuschreibungen des jüdischen Staates als manichäisches Stereotyp der »jüdischen« Grausamkeit zu verstehen. Relevant erscheint dabei, dass homogenisierende Typisierungen von »Israel« und dem »Zionismus« in der symbolischen Verwendungspraxis sozialer Akteur*innen einerseits abrufbares antisemitisches Wissen zur sinnhaften Deutung politischer Zusammenhänge des Nahostkonfliktes liefern. Andererseits stellt es aber auch ein flexibles, situativ zu aktivierendes Wahrnehmungsrepertoire bereit, um soziale Phänomene und Ereignisse in anderen räumlichen Kontexten antisemitisch erklärbar zu machen. Dementsprechend gibt ein Bericht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wieder, wie eine Redner*in Demonstrationsteilnehmer*innen vor Gesetzesübertretungen warnt, weil geheimnisvolle »zionistische« Mächte nur darauf warteten, den »legitimen« Protest zu unterdrücken: Zu Beginn der Demonstration auf dem Adenauerplatz brüllte ein Redner durch das Mikrofon, man solle sich benehmen, die Medien, selbstverständlich zionistisch kontrolliert [national: globale Macht d. Zionismus], würden nur darauf warten, dass man gegen die Regeln verstoße. (FAZ 2014c) Relativ eindeutig erscheint hier die wandelbare Anpassungsfähigkeit antisemitischer Narrative, wenn das Phantasma der grenzenlosen Macht des »Weltjudentums« in nationalisierter Form über den jüdischen Staat Israel re-artikuliert wird. Dabei wird das tradierte Stereotyp der »jüdischen« kontrollierten Medien, codiert durch den »Zionismus«, als bedrohliches negatives »Außen« der ethno-religiös definierten »Eigengruppe« formuliert. Denn nicht die fehlende Abgrenzung zu antisemitischen Positionen innerhalb der anti-israelischen Demonstrationen wird hier als öffentlichkeitswirksames Problem artikuliert. Vielmehr wird entsprechend der Weltausdeutungsfunktion antisemitischer Bewertungs- und Wahrnehmungsmuster die abstrakte und bösartige »jüdische« Macht »zionistisch« kontrollierter Medien als Ursache für das mediale Interesse an dem antisemitischen Charakter der Demonstrationen zur »Befreiung Jerusalems« beurteilt. In letzter Konsequenz werden Antisemitismen nicht als zu bekämpfendes Problem wahrgenommen, sondern erscheinen als »jüdisch« identifizierte Denk- und Sprechverbote, um Kritik an Israel zu tabuisieren, wie ein Plakat auf der Demonstration zum Ausdruck bringt, auf dem zu lesen war: »Israels Antisemitismuskeule [natio: Antisemitismus als Herrschaftsinstrument] brechen« (FAZ 2014c). In weiteren Sequenzen werden Äußerungen von Redner*innen der Demonstration und von Demonstrationsteilnehmer*innen dokumentiert, die entsprechend

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

dieser Kategorisierungs- und Unterscheidungslogik den unverhältnismäßigen Einfluss der nationalisierten »Fremdgruppe« jüdischer »Zionist*innen« betonen. Demzufolge sprachen Teilnehmer*innen und Redner*innen davon, dass der Berliner »Ku’damm« das »Zentrum des Zionismus [natio: globale Macht Zionismus]« (FAZ 2014c) sei oder die »Zionisten […] immer und überall geheim handel[ten] [natio: konspirativer Zionismus]«(FAZ 2014c). Kurzum wird das Feindbild »Zionismus« entsprechend der Konstruktionsweise nationalisierter Grenzziehungen des Antisemitismus mit abwertenden Gruppeneigenschaften einer verschwörerischen und wurzellosen Macht belegt. Es zeigt sich hier die kontingente Anpassungsfähigkeit antisemitischer Selbst- und Fremdbilder. Denn in dieser relationalen Artikulation von Gruppengrenzen zwischen »Innen« und »Außen« wird nicht, wie in rassenbiologistischen Antisemitismen, das verschwörerische Kollektiv der »Juden« der konkret vorgestellten Gemeinschaft eines »Volkes« gegenübergestellt (Holz), sondern der »Zionismus« als nationale Inkorporation des »Jüdischen« erscheint gegenüber der konkret-religiös identifizierten Gemeinschaft der »Muslime« als abstrakte Nicht-Identität. Anders: Der »Zionismus« wird als nationalisiertes Symbol für den bedrohlichen jüdischen »Anderen« des (diffus) ethno-religiös definierten »Eigenen« verwendet. Mit Blick auf den Staat Israel finden sich zudem in Slogans, Parolen und Plakaten der Al-Quds-Demonstration Artikulationen abwertender Bedeutungen der nationalen Bezeichnung Israels, die Stereotype einer »jüdischen« Künstlichkeit reproduzieren und Israel als »Unstaat« (FAZ 2014c) delegitimieren oder nach einem Boykott israelischer Waren und Produkte verlangen (FAZ 2014c). Insgesamt konnten durch die Betrachtung von Artikulationen sozialer Akteur*innen im Kontext der Gaza-Proteste Klassifikationsstrategien und Deutungsrepertoires eines als Analysekategorie verstandenen »muslimischen Antisemitismus« rekonstruiert werden. Die Aneignungspraxis mehrdimensional verschränkter ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Klassifikationsmuster konnte offen biologisierende antisemitische Kommunikationen sichtbar machen, die von minoritären Akteur*innen mit muslimischer und/oder migrantischer Gruppenidentität über den nationalisierten Bezugshorizont des Nahostkonfliktes geäußert wurden. Im Folgenden möchte ich nun die öffentliche Aufarbeitung der antisemitischen Ausschreitungen analysieren, in denen der »muslimische Antisemitismus« als ethno-nationale Praxiskategorie der Unterscheidung zwischen einem nationalen, nicht-antisemitischen »Wir« der Mehrheitsgesellschaft und einem »Antisemitismus der Anderen« kulturell bedeutsam wird.

10.3

Grenzen der »Willkommenskultur – Mechanismen der Invisibilisierung antisemitischer Überzeugungen der Mehrheitsgesellschaft in Prozessen der Grenzziehung

Im Verlauf des kommenden Abschnitts wird mit dem Klassifikationsrepertoire eines »Antisemitismus der Anderen« die diskursive Konstruktion eines ethnisierten Zugehörigkeitskonfliktes »muslimisch« markierter Subjekte in einer nationalen Zugehörigkeitsordnung sichtbar gemacht. Nachdem im öffentlichen Diskurs an die Stelle der Demonstrationen gegen den israelischen Militäreinsatz ein gesellschaftliches Räsonieren

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

dieser Kategorisierungs- und Unterscheidungslogik den unverhältnismäßigen Einfluss der nationalisierten »Fremdgruppe« jüdischer »Zionist*innen« betonen. Demzufolge sprachen Teilnehmer*innen und Redner*innen davon, dass der Berliner »Ku’damm« das »Zentrum des Zionismus [natio: globale Macht Zionismus]« (FAZ 2014c) sei oder die »Zionisten […] immer und überall geheim handel[ten] [natio: konspirativer Zionismus]«(FAZ 2014c). Kurzum wird das Feindbild »Zionismus« entsprechend der Konstruktionsweise nationalisierter Grenzziehungen des Antisemitismus mit abwertenden Gruppeneigenschaften einer verschwörerischen und wurzellosen Macht belegt. Es zeigt sich hier die kontingente Anpassungsfähigkeit antisemitischer Selbst- und Fremdbilder. Denn in dieser relationalen Artikulation von Gruppengrenzen zwischen »Innen« und »Außen« wird nicht, wie in rassenbiologistischen Antisemitismen, das verschwörerische Kollektiv der »Juden« der konkret vorgestellten Gemeinschaft eines »Volkes« gegenübergestellt (Holz), sondern der »Zionismus« als nationale Inkorporation des »Jüdischen« erscheint gegenüber der konkret-religiös identifizierten Gemeinschaft der »Muslime« als abstrakte Nicht-Identität. Anders: Der »Zionismus« wird als nationalisiertes Symbol für den bedrohlichen jüdischen »Anderen« des (diffus) ethno-religiös definierten »Eigenen« verwendet. Mit Blick auf den Staat Israel finden sich zudem in Slogans, Parolen und Plakaten der Al-Quds-Demonstration Artikulationen abwertender Bedeutungen der nationalen Bezeichnung Israels, die Stereotype einer »jüdischen« Künstlichkeit reproduzieren und Israel als »Unstaat« (FAZ 2014c) delegitimieren oder nach einem Boykott israelischer Waren und Produkte verlangen (FAZ 2014c). Insgesamt konnten durch die Betrachtung von Artikulationen sozialer Akteur*innen im Kontext der Gaza-Proteste Klassifikationsstrategien und Deutungsrepertoires eines als Analysekategorie verstandenen »muslimischen Antisemitismus« rekonstruiert werden. Die Aneignungspraxis mehrdimensional verschränkter ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Klassifikationsmuster konnte offen biologisierende antisemitische Kommunikationen sichtbar machen, die von minoritären Akteur*innen mit muslimischer und/oder migrantischer Gruppenidentität über den nationalisierten Bezugshorizont des Nahostkonfliktes geäußert wurden. Im Folgenden möchte ich nun die öffentliche Aufarbeitung der antisemitischen Ausschreitungen analysieren, in denen der »muslimische Antisemitismus« als ethno-nationale Praxiskategorie der Unterscheidung zwischen einem nationalen, nicht-antisemitischen »Wir« der Mehrheitsgesellschaft und einem »Antisemitismus der Anderen« kulturell bedeutsam wird.

10.3

Grenzen der »Willkommenskultur – Mechanismen der Invisibilisierung antisemitischer Überzeugungen der Mehrheitsgesellschaft in Prozessen der Grenzziehung

Im Verlauf des kommenden Abschnitts wird mit dem Klassifikationsrepertoire eines »Antisemitismus der Anderen« die diskursive Konstruktion eines ethnisierten Zugehörigkeitskonfliktes »muslimisch« markierter Subjekte in einer nationalen Zugehörigkeitsordnung sichtbar gemacht. Nachdem im öffentlichen Diskurs an die Stelle der Demonstrationen gegen den israelischen Militäreinsatz ein gesellschaftliches Räsonieren

10 Das Diskursereignis der Gaza-Demonstrationen

über die Gründe und Ursachen für den offenen Ausbruch antisemitischer Aggressionen im öffentlichen Raum getreten ist, lässt sich die diskursive Aufarbeitung der antiisraelischen Protestwelle als Modus der soziokulturellen Grenzziehung interpretieren. In diesem Zusammenhang wird schließlich das Kommunikationstabu des Antisemitismus als symbolische Grenzmarkierung (Armstrong 1982) zwischen einem nationalisierten »Wir« und einem »Außen« der muslimisch identifizierten Minderheit situativ bedeutsam. Mit der ethnisierenden Identifikation von Muslim*innen als homogenisierte Gruppe von Antisemit*innen wird damit im Hinblick auf die symbolischen Aushandlungen antisemitischer Grenzziehungen zweierlei geleistet: In Diskursen der nationalen Selbstverständigung einer postnazistischen Erinnerungsgemeinschaft stabilisiert die Fremdheitskonstruktion eines antisemitischen Nicht-»Wir« erstens die gemeinschaftliche Erzählung eines nationalen »Wir« im Angesicht einer kollektiven Verbrechensgeschichte. Das Klassifikationsmuster des »Anti-Antisemitismus« erscheint dabei in Aushandlungen kollektiver Erinnerung als symbolische Aneignung des negativen Holocaust-Gedenkens und beschreibt eine moralische Qualität der »nationalen« Selbsterzählung vor dem historischen Hintergrund einer schuldverstrickten Vergangenheit. Zweitens externalisiert die Praxiskategorie eines »muslimisch-migrantischen Antisemitismus« das Phänomen der Judenfeindschaft als ethnisiertes Merkmal kultureller Überzeugungen und Wertvorstellungen auf die Angehörigen migrantisch-muslimischer Minderheiten, wodurch die gesellschaftlich sedimentierte Virulenz antisemitischer Wahrnehmungsweisen der Mehrheitsgesellschaft invisibilisiert wird. Im Hinblick auf die gesellschaftliche Stellung von Jüd*innen erscheint diese Abspaltung eines Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft hoch problematisch, insofern sie auf einen prekären gesellschaftlichen Status von Jüd*innen aufmerksam macht. Denn die Fokussierung auf einen »Minderheiten-Antisemitismus« negiert die soziale Vielfalt pluraler Formen der antisemitischen Diskriminierung und Abwertung von Jüd*innen durch Angehörige der Mehrheitsgesellschaft. Durch die Engführung des Antisemitismus als eines Minderheitenproblems lassen sich schließlich Tendenzen einer situativen Gleichzeitigkeit von anti-antisemitischer In- und antisemitischer Exklusion feststellen. Ich werde im folgenden Kapitel versuchen, die Ambivalenzen dieser Repräsentationslogiken antisemitischer Grenzziehungen nachzuvollziehen.

10.3.1

»Erschrocken und irritiert suchen viele Deutsche […] nach den tieferen Gründen für die aggressive Stimmung.« – Ethnisierte Konstruktionsweisen eines »Antisemitismus der Anderen«

Im Zentrum der projektiven Betrachtung des Antisemitismus als kulturelle Eigenschaft der muslimischen »Anderen« steht die Wahrnehmung und Bewertung des Antisemitismus als Ausdruck eines aus dem Nahen Osten »importierten« Problems. So verwendet ein Bericht im SPIEGEL »Antisemitismus« als symbolisches Differenzzeichen in nationalisierten Grenzziehungsprozessen, das ungleiche Wertvorstellungen einer als »antisemitisch« essentialisierten muslimischen »Fremdgruppe« betont, wodurch ihnen die gesellschaftliche Anerkennung als Mitglieder der nationalen Zugehörigkeitsordnung entzogen wird:

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Aus welchen Quellen speist sich der neue, lautstarke Antisemitismus auf deutschen Straßen [ethn: Antisemitismus der Anderen]? Wie weit verbreitet sind antijüdische Ressentiments in den arabisch- und türkischstämmigen Bevölkerungsgruppen [ethnisiert: migrantisches Phänomen]? Erst viele Tage nach Beginn der israelischen Bodenoffensive im Gaza-Streifen startet hierzulande die Aufarbeitung eines aus dem Nahostkrieg abgeleiteten Konflikts [ethnisiert: importiertes Problem]. Erschrocken und irritiert suchen viele Deutsche [national: anti-antisemitisches »Wir«] – mit und ohne Migrationshintergrund – nach den tieferen Gründen für die aggressive Stimmung […].« (Spiegel 2014a) Sichtbar wird in dieser Sequenz eine Beschreibung der Demonstrationen, die als Bruch mit gesellschaftlichen Konventionen und Grundwerten wahrgenommen werden, was durch das artikulierte »Erschrecken« der »Deutschen« über »arabisch« oder »türkischstämmige« »Antisemiten« zum Ausdruck kommt. Das artikulierte Unbehagen gegenüber den antisemitischen Eruptionen stellt darüber hinaus symbolische Prozesse der kulturellen Vermittlung kollektiver Zugehörigkeiten her, die auf der Kulturalisierung einer sozialen Problemlage durch die negative Klassifikation des »antisemitischen Muslims« beruhen. Antisemitismusabwehr fungiert demzufolge als symbolpolitischer Gemeinschaftscode, der die Fremdheitskonstruktion des antisemitischen »Anderen« der nationalen Zugehörigkeitsordnung begründet. In diesem Vorgang der Invisibilisierung antisemitischer Positionen und Überzeugungen der Mehrheitsgesellschaft wird die Ethnisierung von Antisemitismen zu einem herkunftsbezogenen Unterscheidungszeichen zwischen »Innen« und muslimisch-migrantischem »Außen«. Ausführlich reproduziert eine Sprecher*in in der FAZ ethnisierte Bewertungskategorien eines »Antisemitismus der Anderen«, die zu einem scheinbar genealogisch begründeten Unterscheidungszeichen einer als »muslimisch« identifizierten »Kultur« von »Einwanderer« avancieren: Denn der frische Wind ist der Wind der »Willkommenskultur«, die das Heterogene auf wundersame neue Art zu homogenisieren weiß. Wer sie stört, ist fast schon ein Nestbeschmutzer. Zwangsheiraten, Ehrenmorde, Burka, Scharia, Parallelgesellschaft, Antisemitismus [ethnisiert: muslimische Rückständigkeit]? Das hören Integrationsbeauftragte gar nicht gern, denn es stört ihre Integration. Sollte sich die Willkommenskultur aber als Hammer erweisen, der immer niederfährt, wenn auf Missstände hingewiesen wird, machen sie sich zu Komplizen der Barbarei [ethnisiert: barbarische Migranten]. Die Antwort darauf kann nur heißen: Es gibt Einwanderer, die nicht willkommen sind [ethnisiert: Mitgliedschaftskriterium Grundwerte]. (FAZ 2014a) Antisemitismen werden hierbei als Merkmal eines vermeintlichen Integrationsdefizits der kollektiv als »rückständig« markierten Gruppe von muslimischen Einwander*innen kategorisiert und als »importiertes« Problem wahrgenommen. Zusätzlich wird das bedrohlich »Andere« des muslimischen »Fremden« durch bedeutungsgebende Symbole wie »Zwangsheirat«, »Ehrenmord« oder »Burka« verstärkt. Insofern diese Praktiken unisono als inkriminierende Symbole muslimischer »Rückständigkeit« in dominanzgesellschaftlichen Diskursen soziokultureller Abwertungen artikuliert werden, findet darüber hinaus eine ethnisierte Engführung von »Zuwanderung« und »Islam« statt.

10 Das Diskursereignis der Gaza-Demonstrationen

Diese der Gleichsetzung inhärente Binarität von »zugehörig« und »nicht-zugehörig« identifiziert Muslime sui generis als »Einwander*innen«. Damit werden »Einwanderer*innen« respektive »Muslim*innen« als »nicht-deutsch« abgewertet, wodurch sich ein nationenbezogener Ausschluss dieser ethnisierten Gruppe begründet – unabhängig von der sozialen Vielfalt und Komplexität möglicher Identitätskonstruktionen, Migrationsgeschichten und Zugehörigkeiten in einer Migrationsgesellschaft. Bedeutsam erscheint in diesem Kontext der relationale Zusammenhang von Selbst- und Fremdidentifikationen, insofern der »Anti-Antisemitismus« ein dominantes Repertoire politischer Wertvorstellungen bereitstellt, die für die ethnische Selbstidentifikation einer »deutschen« Nation maßgeblich sind. Folgende Sequenz zeigt, wie heterogene soziale Differenzlinien einer nationalen Gemeinschaft durch die Anrufung eines »integrationsdefizitären« nationalen »Anderen« vereinheitlicht werden: Die Parolen schockieren eine Gesellschaft, die eigentlich den Antisemitismus bekämpfen will [nat: Zugehörigkeitskategorie Anti-Antisemitismus] und sich damit rühmt, bei der Integration von Einwanderern zuletzt Fortschritte gemacht zu haben. Nun sieht es so aus, als rissen alte Gräben wieder auf [ethno-national: Integrationsdefizit Antisemitismus]. (Spiegel 2014a) Wird das Klassifikationsmuster des Anti-Antisemitismus als moralisches Selbstbild der nationalen »Wir«-Gruppe narrativiert, das als gesellschaftspolitische Wertvorstellung dominante kulturelle Prägungen der »Nation« signifizieren soll, erfüllen auslagernde Darstellungen des antisemitischen »Fremden«, Konstruktionsweisen nationaler Selbstlegitimation durch ethnisierte Vorstellungen einer vermeintlichen moralischen Überlegenheit der »Eigengruppe«. Entsprechend dieser Repräsentationslogik eines »importierten Antisemitismusproblems« wird der Bezug zum soziohistorischen Kontext des europäischen Antisemitismus vollständig gelöst und die antisemitischen Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster »muslimisch« identifizierter Subjekte einzig auf verwandtschaftliche Beziehungen, biographische Hintergründe, Sozialisationskontexte muslimischer und/oder arabischer communities respektive auf die Nutzung entsprechender Medieninhalte zurückgeführt, die einen unidirektionalen, transnationalen Bezug zum »arabischen Raum« herstellen sollen. In diesem Sinne stellt ein Bericht im SPIEGEL das Phänomen des Antisemitismus von Angehörigen muslimischmigrantischer Minderheiten als Importprodukt aus dem Nahen Osten dar. Dabei wird eine – gegen jede Evidenz (Beyer 2015; Troschke 2015) – ausgewogene Nahostberichterstattung westlicher Medien als komplementäres Gegenbild zu einem »importierten« Antisemitismus gesetzt:8

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Wie im Abschnitt zuvor beschrieben, lassen sich diese Verflechtungen nicht ausschließlich als diskriminierendes Wissen über einen scheinbar wesenhaften »muslimischen Antisemitismus« begreifen. So besitzen sie entsprechend der taxonomischen Analysekategorien antisemitischer Grenzziehungen eine Relevanz, um die lokal-historisch spezifischen Grenzziehungspraktiken und Deutungsrepertoires muslimisch-arabisch sozialisierter Akteur*innen zu verstehen. Um es nochmals zu wiederholen: Für die Ausgangsthese spielt hierbei die Unterscheidung zwischen einem »muslimischen Antisemitismus« als Analysekategorie und einem »muslimischen Antisemitismus« als Praxiskategorie der Wissensproduktion über Muslim*innen als »Andere« eine Rolle.

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Junge Berliner, Hamburger oder Frankfurter mit Migrationshintergrund erleben damit regelmäßig zwei Wirklichkeiten, zwei grundverschiedene Sichtweisen auf den Dauerkonflikt im Nahen Osten: Freunde und Verwandte, die selbst aus Palästina geflohen sind, schildern die Lage in der Heimat in düsteren Bildern. Dazu kommen die Fernsehsender und Videos im Internet, Diskussionen in sozialen Netzwerken [ethnisiert: Antisemitismus-Import] – und auf der anderen Seite die Sichtweise in deutschen Medien [national: unsichtbarer Mehrheitsantisemitismus]. Wer die vermeintlich höhere Glaubwürdigkeit besitzt, ist mitunter schnell entschieden. »Wie viel Prozent Wahrheit steckt in den Medien?«, fragte vor wenigen Tagen der Interviewer eines YouTube-Kanals einen Gaza-Demonstranten in Hannover. »Null Prozent. Nee, sagen wir mal ein Prozent«, lautete die Antwort des jungen Mannes. (Spiegel 2014a) An anderer Stelle heißt es über den antisemitischen Charakter der Demonstrationen, dass die antisemitischen Parolen einen Judenhass reproduzieren würden, der die antizionistische Leugnung des israelischen Existenzrechtes in den »islamisch geprägten Nachbarländern« von Israel spiegele: »Eine Geisteshaltung, die in antiisraelischen Kundgebungen auf deutschen Straßen ihren Widerhall findet [ethnisiert: Antisemitismus-Import].« (Spiegel 2014b). In den öffentlichen Aushandlungen über die legitime Deutung der Geschehnisse im Kontext der Gaza-Demonstrationen wird »Antisemitismus« von Akteur*innen als abwertender Code für islamischen »Fanatismus« verwendet. Diese ethnisierte Wahrnehmung auf das Handeln muslimisch identifizierter Demonstrationsteilnehmer*innen findet sich in kulturalisierenden Zuschreibungen, die Antisemitismen etwa als monokausalen Ausdruck eines »Migrationsextremismus« im »multikulturellen Deutschland« (FAZ 2014a), als infolge gescheiterter Integration »eingebürgert[e]« (ebd.) Zustände oder als Zeichen einer muslimischen Einwanderer-»Kultur« der »Barbarei« (ebd.) begreifen. An anderer Stelle lassen sich schließlich Äußerungen rekonstruieren, die das stereotype Bild des triebgesteuerten »Wilden« nachzeichnen, etwa wenn es über Teilnehmer*innen der Al-Quds-Demo heißt, dass die Atmosphäre »Wut« geatmet habe (FAZ 2014c) oder von der enthemmten Masse einer »hassende[n] Al-Quds-Wand […] mit ihren schreienden Durchdreh-Gesichtern« (ebd.) gesprochen wird. Wurden mit dem Klassifikationsrepertoire des »Antisemitismus der Anderen« ethnisierte Fremdzuschreibungen sichtbar gemacht, die »Antisemitismen« als gruppenlogisches Wissen über vermeintliche kulturelle und religiöse Wertvorstellungen einer homogenisierten Gruppe von »muslimisch« markierten Subjekten und ihrer »Integrationsfähigkeit« reproduzieren, steht im Folgenden die komplementäre Selbstidentifikation der kulturellen »Wir«-Einheit einer »geläuterten« Staatsnation im Mittelpunkt der Betrachtung.

10.3.2

»Wer Israel kritisiert, sollte genau darauf achten, was und in welchem Ton er es sagt – gerade als Deutscher.« – Moralische Qualitäten der nationalen Selbstbeschreibung

Entsprechend der Analysekategorien einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungen werden die vorübergehende Stabilisierung und Anerkennung einer nationalen Zu-

10 Das Diskursereignis der Gaza-Demonstrationen

gehörigkeitsordnung als abhängige Variablen des sozialen Klassifikationsmusters der kollektiven Erinnerung betrachtet. Die Legitimation eines Nationalisierungsprojektes hängt demzufolge von der nationalen Selbsterzählung (Bhabha 1990; 2011) einer linear diskursivierten Geschichte und ihrer Bewertungsmuster vergangener Ereignisse, Personen und Zusammenhänge ab. Mit Blick auf den Diskurs nationaler Selbstverständigung, wie er von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft unter Bezugnahme auf das relationale Klassifikationsmuster eines »Anti-Antisemitismus« geführt wurde, lassen sich bedeutungsoffene Tendenzen eines negativen Gedenkens an die schuldverstrickte Vergangenheit des Nationalsozialismus rekonstruieren. Das negative Gedenken bringt dabei einen Bedeutungswandel der kollektiven Erinnerung des Holocaust zum Ausdruck, indem das Gedenken der Shoa, im Gegensatz etwa zu dem erinnerungsabwehrenden Schlussstrichdiskurs der Walser-Bubis-Debatte, als moralische Qualität der nationalen Selbsterzählung narrativiert wird. Mehr noch markiert die positive Wiederaneignung der gemeinschaftlichen Vergangenheit die Konstitution einer politischen Erinnerungsund Schicksalsgemeinschaft, deren zivil-liberalen Gemeinschaftswerte bereits in der Beschneidungsdebatte als Klassifikationen der Exklusion verwendet wurden und nun als Merkmal der Kontinuität und des Wandels von Grenzziehungen und Zugehörigkeiten verstanden werden können. »Anti-Antisemitismus« ist daher als erinnerungspolitisches Klassifikationsmuster zu verstehen, das politische Werte des gesellschaftlichen Zusammenlebens einer »geläuterten« Nation betont und damit als Gemeinschaftscode ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl durch die kollektive Erinnerung an eine schuldverstrickte Vergangenheit konstruiert. Ich möchte nun nachzeichnen, wie sich durch die Aneignungspraxis des »Anti-Antisemitismus« Mechanismen der nationalen Identifikation rekonstruieren lassen, die sich auf das interrelationale Klassifikationsrepertoire der »Sakralisierung des Holocaustgedenkens« stützt. Mit diesen Praxiskategorien wird ein wechselseitiges Zusammenspiel ethnisierter – durch den genealogischen Bezug auf die schuldverstrickte Vergangenheit einer »deutschen« Kerngruppe – und nationalisierter – durch die Konstruktion einer politischen Schicksals- und Erinnerungsgemeinschaft – Klassifikationsmuster zum Vorschein gebracht. Damit werden erstens Differenzsetzungen sichtbar, die ambivalente Repräsentationen jüdischer (Nicht-)Zugehörigkeit produzieren. Zweitens werden ethno-nationale Bewertungskategorien von Grenzziehungen gegenüber dem muslimischen »Anderen« begründet und drittens Klassifikationspraktiken der Infragestellung dieser Grenzen durch »muslimisch« identifizierte Akteur*innen, die auf den symbolisch umkämpften Charakter dieser Deutungsrepertoires aufmerksam machen, herausgestellt. Das negative Erbe des Holocaust wird in den Grenzziehungsprozessen des Diskurses über die Gaza-Demonstrationen zu einer Praxiskategorie positiver Sinnstiftung, das die Verbrechensgeschichte des Nationalsozialismus zu einem genealogischen Zugehörigkeitsmerkmal einer ethnisch definierten Kerngruppe der »deutschen« Nation artikuliert. So werden kollektive Zugehörigkeiten für ethnisch »deutsche« Angehörige der Mehrheitsgesellschaft vermittelt, die sich durch das negative Gedenken an die Vorstellung einer gemeinsamen, schuldverstrickten Vergangenheit herstellt. Wie sich eine deutsche Verantwortung und Anerkennung für die NS-Verbrechen als Wertperspektive und mythologische Leiterzählung nationaler Selbstbeschreibung in Prozessen kollekti-

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ver Erinnerung artikulieren, macht eine Sprecher*in in der FAZ deutlich, die feststellt, dass: […] man als Deutscher nicht das Erbe Beethovens und Büchners annehmen, die Erblast Hitlers aber irgendwo auf der Strecke liegen lassen kann, bloß weil inzwischen 69 Jahre vergangen sind [kollektives Gedächtnis: negatives Erbe]. Der Satz aber, dass Goethe ohne Goebbels nicht zu haben sei [nat: belastete Vergangenheit], hat eine ganz andere Verbindlichkeit für jene, deren Groß- und Urgroßeltern tatsächlich involviert waren [ethno-nat: genealogische Schuld]. (FAZ 2014c) Bedeutsam erscheint hierbei, dass zwar »Verantwortung« für das historische Erbe von Hitler und Goebbels als besondere Legitimationsbasis des politischen Loyalitäts- und Solidaritätsverbunds der »Nation« konstruiert wird, aber diese »Verantwortung« von der »Schuld« an der Shoa gelöst wird. Dieses auf den ersten Blick inklusiv scheinende Zusammengehörigkeitsgefühl der nationalen Gemeinschaft, das sich auf die Vorstellung einer kollektiven »Verantwortung« für die NS-Verbrechen gründet, lässt sich allerdings auch als schuldabwehrendes Klassifikationsrepertoire nationaler Erinnerung rekonstruieren, indem »Schuld« für die Verbrechen als symbolischer Code nationaler Selbstverständigung ausgeschlossen wird. Dementsprechend findet mit Blick auf das Erbe des Nationalsozialismus eine Differenzierung zwischen »Schuld« als ethnisierter Abstammungskategorie (Abstammungsnation), wie sie etwa auch für Diskurse des »Nationalen« in der Walser-Bubis-Kontroverse charakteristisch war, und »Verantwortung« als politischem Gemeinschaftswert (Staatsnation) statt. So heißt es in diesem Bedeutungszusammenhang der »Schuld« als vermeintlich exkludierende Kategorie ungleichwertiger Erinnerung zwischen ethnisch definierten »Herkunftsdeutschen« und »Migrationsdeutschen« weiter: Man kann einen Deutschen, dessen Großvater in Anatolien lebte oder im Industal, nur darauf verpflichten, dass er sich zur deutschen Verantwortung bekenne [natio: politische Gemeinschaftserinnerung]. Nicht aber zur deutschen Schuld, die womöglich das größte Integrationshindernis ist [ethno-natio: Schuldabwehr]. (FAZ 2014c) Diese, sich inklusiv darstellenden Mechanismen der Schuldabwehr in nationalisierten Grenzziehungsprozessen des Antisemitismus lassen sich als symbolische Bedeutungszuweisungen der »Sakralisierung« begreifen, die auf ambivalenten Formen der Aussonderungen des »Jüdischen« durch die gruppistische Konstruktion einer scheinbar fremdartigen »kulturellen Mentalität« von Jüd*innen beruhen.9 Sakralisierung meint hierbei einen Prozess allosemitischer Konstruktionsweisen antisemitischer Grenzziehungen

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Sakralisierung ist hier nicht in einem revisionistischen oder neu-rechten Sinne zu verstehen, die von dem Holocaust abwertend als »Ersatzreligion« spricht, sondern als Modus der »Besonderung« von Jüd*innen, die auf eine ambivalente Gleichzeitigkeit ihrer In- und Exklusion hinweist. Zugehörigkeit vermittelt die gesellschaftliche Anerkennung des jüdischen Opfernarrativs. NichtZugehörigkeit wird durch die entzeitlichte Überzeichnung des jüdischen Leidens und durch die Exzeptionalisierung jüdischen Lebens vermittelt, die eine manipulative Instrumentalisierung jüdischer Lebenswelten zum Zweck der nationalen Selbstverständigung im Postnazismus hervorbringt.

10 Das Diskursereignis der Gaza-Demonstrationen

und reflektiert ein ethnisiertes Extrem der Wahrnehmung auf die vermeintliche Besonderheit von Jüd*innen (Bauman 1995; Ben-Rafael 2014). Allosemitische Wissensvorräte kategorisieren Jüd*innen, hier die »jüdische« Geschichtserfahrung des Holocaust, als radikal Verschiedenes und exzeptionalisieren ihre Stellung im öffentlichen Diskurs. Gerade in gesellschaftlichen Debatten über den Nahostkonflikt werden diese allosemitischen Mechanismen der Sakralisierung jüdischer Opfererfahrung und Leidensgeschichten reproduziert, insofern Diskussionen über den jüdischen Staat mit Diskursen der nationalen Selbstverständigung verflochten werden. Die sinnhafte Aneignung des historischen Erbes einer kollektiven Verbrechensgeschichte als nationaler »Schicksalskategorie« produziert dabei ein Wahrnehmungsextrem auf das »Jüdische«, das sich hier jedoch nicht über das Stereotyp eines exzeptionalisierten Antisemitismus äußert. Denn während durch die Deutung eines exzeptionalisierten Antisemitismus häufig die Rede von einem vermeintlichen Kritikverbot an Israel ist, stellt sich die Sakralisierung hier als gesellschaftliche Leitvorstellung der »Antisemitismusabwehr« dar. Folgende Sequenz zeigt, wie durch den Bezugshorizont des Nahostkonfliktes ein nationales »Wir« angerufen wird, das sich symbolisch durch das Postulat der »Diskurssensibilität« gegenüber Jüd*innen und Israel auf das negative »deutsche« Erbe des Holocaust bezieht: Wer Israel kritisiert, sollte genau darauf achten, was und in welchem Ton er es sagt – gerade als Deutscher [national: sakrales Symbol »Israel«]. Allein aufgrund seiner Vergangenheit ist Deutschland in diesem Konflikt keine neutrale dritte Partei [national: kollektive Geschichte] – und dürfte von vielen Nachfahren der Holocaustüberlebenden auch nicht als solche wahrgenommen werden. (Spiegel 2014b) Allosemitische Wissensvorräte kategorisieren jüdische Lebenswelten als radikal Verschiedenes und begründen daher anti-antisemitische Sprechverbote im bundesdeutschen Kontext von Nahostdiskursen mit der Singularität des Menschheitsverbrechens der Shoa. Nicht die Schnittstellen zwischen Nahostdiskursen und antisemitischen Kommunikationen werden dabei als Gegenstand der sachlichen Reflexion über die Grenzen zwischen legitimer Israel-Kritik und antisemitischem Anti-Israelismus betrachtet, sondern es wird eine besondere Zurückhaltung aufgrund des »sakralisierten« nationalen Selbstverständigungskontextes der »deutsch-jüdischen« Geschichte des Holocaust angemahnt. Implizit reproduziert ein Kommentar in der FAZ diese Perspektive auf die antisemitischen Ausschreitungen der Gaza-Demonstrationen unter Bezugnahme auf den symbolischen Referenzrahmen nationaler Zugehörigkeit durch das negative Erbe des Holocaust: Auch in Deutschland flogen jetzt Steine auf Synagogen und antisemitische Parolen hinterher, die sich nicht mit der üblichen nahöstlichen Kriegslüsternheit entschuldigen lassen. Es ist offener Rassismus, und jeder Deutsche, der »integriert« ist [ethnonational: Anti-Antisemitismus], weiß das und versteht, warum der israelische Bot-

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schafter sich an das Jahr 1938 erinnert fühlt10 [national: sakrale Verbrechensgeschichte]. (FAZ 2014a) Mit Blick auf die symbolische Konstruktion der Grenzen einer nationalen Zugehörigkeitsordnung wird durch das ethno-nationale Klassifikationsmuster des »AntiAntisemitismus« und seines Deutungsrepertoires der »Sakralisierung des HolocaustGedenkens« also zweierlei geleistet: Zum einen werden durch die zentrale Stellung des »Holocaust-Gedenken« im kollektiven Gedächtnis der deutschen »Nation« Identifikationsangebote für ethnisch »Deutsche« geliefert, die moralische Qualitäten der nationalen Zugehörigkeit aus dem gemeinsamen Glauben an eine schuldverstrickte Vergangenheit gewinnen. Anders formuliert wird nationale Identifikation durch die Wertvorstellung der »Antisemitismusabwehr« als symbolpolitische »Schicksalskategorie« einer »geläuterten« Nation begriffen, die von sich behauptet, die richtigen Lehren aus der Vergangenheit gezogen zu haben. »Anti-Antisemitismus« fungiert demzufolge zum anderen als politische Leit- und Wertvorstellung, die durch das nationale Narrativ der kollektiven Verbrechensgeschichte des Nationalsozialismus die Kontinuitätsfiktion eines gemeinschaftlichen politischen Schicksals der Nation begründet. In einer Stellungnahme des damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck wird deutlich, wie sich in Form des negativen Gedenkens eine legitime Aneignung der NS-Vergangenheit beobachten lässt, die zugleich eine Maxime für politisches Handeln in der Gegenwart formuliert: Für Deutschland sei es eine Freude, dass es jüdische Gemeinden gebe und Nachkommen von Menschen hier lebten, die andere hätten vom Erdboden tilgen wollen [national: negatives Gedenken]. »Aus diesem Grund möchte ich alle Deutschen auffordern und alle Menschen, die hier leben, auffordern, immer dann ihre Stimme zu erheben, wenn es einen Antisemitismus gibt, der sich auf den Straßen brüstet [national: Zugehörigkeitsmerkmal Anti-Antisemitismus].« (FAZ 2014b) Allerdings zeigen sich nationalisierte Klassifikationspraktiken der »Sakralisierung« auch in Grenzziehungsstrategien von Akteur*innen mit muslimischer und/oder migrantischer Identität. Dabei lässt sich diese Aneignung des Klassifikationsmusters kollektiver Erinnerung durch migrantische Akteur*innen als Verwendungspraxis eines ethnisierten Abgrenzungsrepertoires der »Opferkonkurrenz« interpretieren, das den vermeintlich benachteiligten sozialen Status nicht-jüdischer Minderheiten gegenüber Jüd*innen reflektiert. Folglich beschreibt eine deutsch-palästinensische Sprecher*in die Stellung des Holocaust als dominantes Narrativ im kollektiven Gedächtnis der »deutschen« Nation innerhalb des Deutungshorizontes des Repertoires der »Sakralisierung«. Demzufolge werden aufgrund der so gedeuteten, privilegierten Stellung jüdischer Opfererfahrung Erzählungen anderer Minderheiten aus dem nationalen Geschichtskanon ausgeschlossen:

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Der damalige israelische Botschafter in Berlin, Yakov Hadas-Handelsman, hatte in einem Zeitungsinterview davon gesprochen, dass ihn die antisemitischen Eruptionen im öffentlichen Raum an die Gewalttaten der Reichspogromnacht 1938 erinnert hätten (Rybak 2015: 184).

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Schon an der Schule habe sie das Gefühl gehabt, nicht gehört zu werden [ethn: symbolischer Ausschluss]. Vom Leid der Juden während der Nazizeit habe sie dort das erste Mal gehört. […] Doch ihre Versuche, auch ihre eigene Familiengeschichte in den Unterricht einzubringen, hätten nicht nicht [sic!] weit geführt, sagt sie: Was nach 1945 kam, wurde in der Schule nicht besprochen [ethno-nat: sakrales Symbol Holocaust]. Und wenn es um aktuelle Konflikte wie in Gaza ging, sei das dortige Leid stets relativiert worden [ethn: Opferkonkurrenz]. Das habe sie frustriert. (Taz 2014b) Es zeigt sich hierbei, wie der Holocaust als sakrales Symbol hypostasiert wird, wodurch sich die eigene Identitätsbildung als benachteiligte, »ungehörte« Minderheit infolge der ethnisierten Unterscheidung von einem scheinbar privilegierten »jüdischen« Opfernarrativ stabilisiert und sich auf die Wahrnehmung eines besonderen gesellschaftlichen Status von Jüd*innen stützt. Gleichzeitig findet eine Gleichsetzung jüdischer und palästinensischer »Leiden« statt, die sich zudem in dem ethno-nationalen Bewertungsrepertoire der »Opferkonkurrenz« durch eine vermeintliche Ignoranz der Öffentlichkeit gegenüber dem »Leiden« der Palästinenser*innen in Gaza artikuliert. Aufgrund ihrer als exzeptionell wahrgenommenen Stellung im öffentlichen Diskurs invisibilisiert die Dominanz der jüdischen Erinnerungskultur das durch Jüd*innen verursachte Leid der Palästinenser*innen: In der deutschen Erinnerungskultur werde die deutsche Zeit zwischen 1933 und 1945 als Zivilisationsbruch und Ausnahme von der Regel gesehen [national: sakrales NSGedenken], sagt Younes. […] Und darum sei es in Deutschland beinahe unmöglich, am Kampf der Palästinenser gegen die israelische Besatzung deren antikoloniale [sic!] und antirassistische [sic!] Anteile zu sehen [national: Israel ist rassistisch/kolonialistisch]. Ein Grund, warum sich hierzulande fast nur Einwanderer aus muslimischen Ländern offen mit den Palästinensern solidarisieren würden [ethn: Opferkonkurrenz]. (Taz 2014b) An diesen ethnisierten Deutungstopos der allosemitischen Sakralisierung jüdischer Opfererfahrungen lassen sich auch nationalisierte Formen der Täter-Opfer-Umkehrung anschließen. So reproduziert eine Sprecher*in abwertende Mechanismen der Exzeptionalisierung, wenn sie an den jüdischen Staat Israel besondere moralische Erwartungen formuliert. Dieser übersteigerte moralische Maßstab erscheint als kollektive Lehre aus dem Holocaust und imaginiert die jüdischen Holocaustopfer zugleich als Täter*innen, die mit den Nationalsozialisten verglichen werden: Das habe sie sehr berührt und Fragen aufgeworfen: Wie kann man das Leid der Palästinenser in Kauf nehmen [national: jüdische Täter], wenn man selbst einmal so großes Leid erfahren hat [nat: Täter-Opfer-Umkehrung]? (Taz 2014b) Die Ambivalenz dieser Grenzziehungsstrategien zeigt sich insbesondere im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit den lokal-historisch spezifischen, antisemitischen Wissensbeständen innerhalb muslimischer communities. Denn, wie bereits erläutert, enthält der Diskurs über einen »muslimischen Antisemitismus« als ethnisierte Praxiskategorie der Differenzsetzung zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten einerseits Elemente eines Kollektivvorwurfes. Als Generalvorwurf bringt die

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Klassifizierung »muslimischer Antisemitismus« demnach abwertende Zuschreibungen einer homogenisierten, antisemitischen Gruppenidentität »der« Muslim*innen hervor. Andererseits lassen sich in den Artikulationen muslimischer Sprecher*innen schuldabwehrende Tendenzen der Sinngebung erkennen, die mit dem Bedürfnis nach Herstellung eines unproblematischen, nicht-antisemitischen »Selbstbildes« einhergehen. Infolgedessen erscheinen antisemitische Positionen und Haltungen von Akteur*innen der »Eigengruppe« externalisiert, indem sie lediglich in Gestalt eines kulturalisierenden Stigmas wahrgenommen werden. Eine Sprecher*in verdeutlicht diese minoritäre Entlastungsstrategie der ethnisierten Selbstidentifikation als »Opfer« von ausgrenzenden »Antisemitismusvorwürfen«: Die Debatte über einen spezifisch muslimischen Antisemitismus habe sich in den letzten zehn Jahren zugespitzt, findet die 31-jährige Wissenschaftlerin Anna Esther Younes. Antisemitismus würde dabei immer mehr als ein rein muslimisches Problem beschrieben [ethnisiert: Antisemitismusvorwurf]. (Taz 2014b) Die Wahrnehmung des »Antisemitismus als Herrschaftsinstrument« und ihrer relationalen Selbstidentifikation eines reinen »Opferstatus« besitzt dabei situativ wirksame Anschlusspotenziale für die praktische Verwendung deutlich antisemitischer Bewertungs- und Unterscheidungskategorien durch muslimische Sprecher*innen. Sichtbar wird diese Anschlussfähigkeit im Kontext der öffentlichen Debatten über die Gaza-Demonstrationen durch ihr Zusammenspiel mit dem ethno-nationalen Repertoire der Imagination von »zionistischer Macht und jüdischem Einfluss«. Dementsprechend wird der Diskurs über einen »muslimischen Antisemitismus« als Ausübung einer zionistischen Meinungsmacht begriffen, um »Muslime« zu stigmatisieren und ein vermeintliches Kritikverbot an Israel durchzusetzen. Im Zentrum der binären Zuordnungspraxis kategorialer Auf- und Abwertungen steht die dichotome Gegenüberstellung von jüdischem »Täter« und muslimischem »Opfer«. In diesem Sinne lässt sich ein offener Brief von Yavuz Özogus, des Betreibers der islamistischen Internetplattform »Muslim-Markt«, interpretieren, den er an den damaligen Innenminister Thomas de Maizière adressierte: »Abschließend drücke ich Ihnen meine Verachtung auch dafür aus, dass Sie in der Arroganz der Macht offensichtlich jedes Mitgefühl für Menschen verloren haben«, schrieb er an den Minister. Muslime wagten kaum noch öffentliche Kritik an Israel [ehno-nat: muslimische Opferidentität], agitierte Yavuz Özoguz, »weil Machthaber wie Sie die Meinungsfreiheit in diesem Land im Sinne eines radikal-zionistischen Gedankenguts einschränken [natio: zionistisches Diskurstabu]«. (Spiegel 2014a) Besonders signifikant zeigt sich hier der für antisemitische Differenzkonstruktionen zentrale Topos der Täter-Opfer-Unterscheidung. Die diskursive Anpassung erfolgt hierbei durch die Verschränkung ethnisierter – über die religiöse Selbstidentifikation als »muslimisches« Opfer von Sprechverboten – und nationalisierter – der »Zionismus« als nationalisiertes Symbol für die Vorstellung eines besonderen »jüdischen Einflusses« – Kategorisierungsprozesse. Durch das ethno-nationalisierte Klassifikationsrepertoire der »Sakralisierung des Holocaustgedenkens« haben sich insgesamt moralische Qualitäten der nationalen

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Selbstlegitimation ergeben, die auf allosemitischen Formen der ethnisierten Grenzziehungen gegenüber jüdischen »Anderen« beruhen. Zugleich wurde mit dem ethnisierten Klassifikationsrepertoire der muslimisch-jüdischen »Opferkonkurrenz« auf den symbolisch umkämpften Charakter des negativen Erbes des Holocaust aufmerksam gemacht, wodurch die kulturelle Bedeutsamkeit der abwertenden Unterscheidungen zwischen einem muslimischen »uns« und jüdischen »ihnen« sichtbar wurde. In einem nächsten Schritt werden nun die mehrdimensionalen Praxiskategorien einer »Musealisierung des Antisemitismus« betrachtet, die eine prekäre Stellung von Jüd*innen innerhalb der dominanten gesellschaftlichen Zugehörigkeitsordnung hervorbringen.

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»Der Holocaust ist so lange her. Ich verstehe nicht, warum Kritik an der Politik Israels immer mit Antisemitismus verwechselt wird.« – Ambivalente Gleichzeitigkeiten der soziokulturellen In- und Exklusion von Jüd*innen

Im vorangegangenen Abschnitt wurden mit dem Klassifikationsrepertoire der »Sakralisierung des Holocaust-Gedenkens« Praxiskategorien der Grenzziehung diskutiert, die durch die ethnisierte Exzeptionalisierung jüdischer Geschichtserfahrung auf die ambivalente Stellung von Jüd*innen innerhalb hegemonialer Strukturen der nationalen Zugehörigkeitsordnung hinweisen. Deutungsrepertoires der »Musealisierung« reproduzieren nun ethnisierte – durch die Delegitimierung der heterogenen Vielfalt jüdischer Opfererfahrungen – und nationalisierte – durch das Klassifikationsmuster der kollektiven Erinnerung an eine schuldverstrickte Vergangenheit – Mechanismen der Grenzziehung zwischen nicht-jüdischer ingroup gegenüber der jüdischen outgroup . Im Zusammenspiel mit dem ethno-nationalen Klassifikationsrepertoire der »Sakralisierung« kann die diskursive Praxis der »Musealisierung« explizieren, wie das »negative Gedenken« an die Shoa eine bestimmte gesellschaftliche Wahrnehmung des vermeintlichen Verschwindens des Antisemitismus hervorbringt. So werden Virulenz, Bedrohungspotenzial und Ausprägungsformen der Judenfeindschaft vor dem sakralisierten Maßstab des rassenbiologistischen Antisemitismus der Nationalsozialisten beurteilt. Anders: Eine Handlung, Aussage oder Praxis wird erst dann als antisemitisch wahrgenommen, wenn sie der völkischen Ideologie des nationalsozialistischen Rassenantisemitismus gleicht. Ich werde darauf aufbauend soziokulturelle Konstruktionsweisen von Grenzziehungen in den Blick nehmen, die über den Staat Israel vermittelte jüdische Zugehörigkeitskonstruktionen und die Vielfalt jüdischer Diskriminierungserfahrungen infrage stellen. Anschließend soll gezeigt werden, wie diese Praxis der »Historisierung des Antisemitismus« zeitgenössische Erscheinungsformen des Antisemitismus bagatellisiert und den öffentlichen Diskurs für stereotype Fremdzuschreibungen von Jüd*innen als nationalisierter »Fremdgruppe« über den Bedeutungshorizont des jüdischen Staates Israel öffnet. Im Zentrum der Aneignungspraxis des Repertoires der »Musealisierung« steht ein Verständnis von Antisemitismen, das antisemitische Artikulationsweisen historisiert, indem sie einzig auf ihre Erscheinungsform des NS-Rassenantisemitismus und damit zu einem singulären Symbol des Nationalsozialismus verkürzt wird. Im Gegensatz dazu erscheinen antisemitische Zeichen und Codes, die sich an veränderte soziokul-

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turelle Kontextbedingungen angepasst haben und etwa in Form einer vermeintlichen Kritik über den Umweg Israel kommuniziert werden, als nicht-antisemitisch. In diesem Sinne gibt eine Sprecher*in in der FAZ eine schuldentlastende Sentenz wieder, die sie bei einem Gespräch mit Freunden erfahren haben will und die letztlich auf das Imaginativ einer tabuisierten Kritik an der Politik Israels hinausläuft: »Der Holocaust ist so lange her. Ich verstehe nicht, warum Kritik an der Politik Israels immer mit Antisemitismus verwechselt wird [ethno-national: Musealisierung Antisemitismus]« (FAZ 2014c). Besonders deutlich erscheinen diese Reproduktionsmechanismen von Praxiskategorien der »Musealisierung« in sekundärantisemitischen Konstruktionsprozessen antisemitischer Grenzziehungen, wenn sich in schuldabwehrender Form einer Auseinandersetzung mit israelbezogenen Antisemitismen verweigert wird. Diese Position gibt ein Eintrag in dem sozialen Netzwerk Facebook über eine Aktion der Bild-Zeitung wieder, die gemeinsam mit Personen des öffentlichen Lebens ein Zeichen gegen Antisemitismus setzen wollte: mit dieser pro juden aktion stärkt ihr nur die sympatie für palestina [ethnonat: Weltjudentum], und der judenhass wird immer größer [ethn: Selbst-SchuldAntisemitismus]! weil die menschen sich jetzt endlich trauen mit ihrer geschichte und verantwortung gegen den holocaust abzuschließen [nat: Schlusstrich]. (FAZ 2014c) Signifikant zeigt das kontingente Deutungsrepertoire der »Musealisierung« hier, wie ethnisierte und nationalisierte Formen der kategorialen Abwertung von Jüd*innen zusammenwirken, wenn die Sichtbarmachung von Antisemitismus als manipulative Instrumentalisierung der Öffentlichkeit zugunsten der Politik Israels verstanden wird. Während Israel demnach Jüd*innen als nationale »Fremdgruppe« repräsentiert, wird in ethnisierter Form ein grenzübergreifender Zusammenhalt eines »Weltjudentums« imaginiert. Indem Jüd*innen durch die Konstruktion eines globalen Gesamtkollektivs der »Juden« mit dem Handeln des jüdischen Staates homogenisiert werden, wird es ermöglicht, ihnen aufgrund ihres vermeintlich provokativen Verhaltens in stereotyper Form eine Mitschuld an antisemitischen Angriffen zuzuschreiben. Eine Klassifikationsstrategie, die nicht zuletzt auch mit dem nationalisierten Bedürfnis nach Schuldentlastung durch das Einfordern eines »Schlussstriches« zusammenspielt. Mit Blick auf die Klassifikationspraxis sozialer Akteur*innen lässt sich demnach konstatieren, dass die Art und Weise wie der Gegenstand des Antisemitismus verhandelt wird, Rückschlüsse auf die ambivalente gesellschaftliche Positionierung von Jüd*innen in ethnisierten oder nationalisierten Zugehörigkeitsordnungen zulässt. In diesem Sinne, obgleich weniger exkulpierend und offen artikuliert, lassen sich innerhalb der öffentlichen Diskussionen über die Gaza-Demonstrationen Äußerungen von Sprecher*innen finden, die darauf ausgerichtet sind, den Bezug zwischen Israel, Judentum und Antisemitismus als kulturell anerkannte Praxis der symbolischen Abwertung und Ausgrenzung von Jüd*innen zu verschleiern. Damit wird das Ziel verfolgt, Kritik am jüdischen Staat gegenüber einem bedrohlichen Ächtungsvorwurf des »Antisemitismus« zu immunisieren. Diese Klassifikationsstrategien, die intendieren, die Grenzen des Israel-Diskurses zu erweitern, artikulieren sich etwa, wenn eine Sprecher*in behauptet, »sehr gut zwischen israelischer Politik und Judentum unterschei-

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den« zu können (Taz 2014b), an anderer Stelle die nationale Selbstbezogenheit in der Frage, »ob, und wie Deutsche Israel kritisieren« dürfen, beklagt wird (Taz 2014c) oder eine Sprecher*in beim Anblick von Israelfahnen auf Kundgebungen gegen Antisemitismus unmissverständlich postuliert: Wer auf Demonstrationen gegen Antisemitismus israelische Fahnen mit sich trägt, nährt den Verdacht, dass es ihm eher um eine bedingungslose Solidarität mit Israel [national: Antisemitismus-Instrumentalisierung] als mit deutschen Juden geht [ethno-nat: Israel ≠ Judentum]. (Taz 2014a) Entscheidend ist hierbei, dass der Staat Israel nicht als institutionalisierter Ausdruck jüdisch-nationaler Selbstbestimmung verstanden wird. Solidarisierungen mit Israel werden demnach im Kontext des gesellschaftlich dominierenden Paradigmas des Anti-Antisemitismus als politische Manipulation des Ausgrenzungsphänomens Antisemitismus für die Interessen des jüdischen Staates wahrgenommen. Demzufolge delegitimieren Angehörige der Mehrheitsgesellschaft antisemitische Diskriminierungserfahrungen, die sich über den nationalen Bezugshorizont Israel äußern, und machen damit einen prekären und marginalisierten gesellschaftlichen Status von Jüd*innen sichtbar. Folgende Sequenz aus einem Kommentar im SPIEGEL exemplifiziert diese Ausübung von Definitionsmacht, die darüber bestimmt, wann Israelkritik in Antisemitismus umschlägt: Es ist ein historisches Paradox, dass sich das Vorurteil der modernen Antisemiten mit dem Postulat so mancher vorgeblicher Israel-Freunde deckt: Die Politik der israelischen Regierung wird mit dem Staat Israel gleichgesetzt [nat: unzulässiger Antisemitismusvorwurf]. Und der Staat Israel mit dem Judentum. Aber das ist falsch. Man kann Premier Benjamin Netanjahu kritisieren, ohne Israel infrage zu stellen, und man kann über Israel sprechen, ohne das Judentum zu meinen. Die logische Verknüpfung dieser drei Begriffe – Regierungspolitik, Israel, Juden – ist unzulässig [nat: Israel ≠ Jüd*inne]. (Spiegel 2014c) Deutlich wird hierbei, dass die Pluralität jüdischer Identifikationsweisen, Wechselwirkungen und Zugehörigkeiten, die sich sowohl in der Diaspora durch ein positives Verhältnis zu Israel ausdrücken können als auch in dem nationalen Selbstverständnis einer »jüdischen« Nation zum Vorschein kommen, infrage gestellt werden. Davon ausgehend erscheinen auch Stellungnahmen von Vertreter*innen des Staates Israel, die sich zu dem Problemkomplex des Antisemitismus äußern, als unzulässige Einflussnahme. Wie Sprecher*innenpositionen von Repräsentant*innen des jüdischen Staates ausgeschlossen werden, zeigt sich, wenn in einem Kommentar des SPIEGEL gegen die Kritik des israelischen Botschafters an den Grenzübertretungen der Gaza-Demonstrationen protestiert wird: Handelsman zeigt sich über all diese Aktionen entsetzt. Sie sind aber kein israelisches Problem, sondern ein deutsches [nat: Gemeinschaftscode Anti-Antisemitismus]. Es hat in Deutschland – womöglich gut gemeint – Tradition, wann immer es um Antisemitismus geht, die Vertreter Israels zu befragen. Doch die Juden sind nicht die

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Israelis, Deutsche jüdischer Konfession nicht nur »Mitbürger«, sondern ganz einfach Deutsche [ethno-nat: Jüd*innen ≠ Israel]. (Spiegel 2014b) Während also einerseits eine Trennung zwischen »Israel« als Zentrum des jüdischen Lebens und der jüdischen Diaspora vollzogen wird, »Antisemitismusabwehr« lediglich als begriffsentleerter nationaler Gemeinschaftscode fungiert und Jüd*innen als zugehörige Gemeinschaftsmitglieder der deutschen »Nation« anerkannt scheinen, zeigt sich die Ambivalenz dieser letztlich prekären Positionierung von Jüd*innen auch, wenn es um die gesellschaftliche Anerkennung eines israelbezogenen Antisemitismus geht. So reproduziert sich dieser Mechanismus einer »Musealisierung des Antisemitismus« in einer Stellungnahme in der FAZ, indem eine Sprecher*in die öffentliche Skandalisierung des anti-israelischen Antisemitismus im Kontext der Gaza-Demonstrationen als politisch motivierte Instrumentalisierung eines Antisemitismusvorwurfes rationalisiert, die von nachvollziehbaren Gründen der Ablehnung des israelischen Handelns ablenkten: Der frühere Direktor des Zentrums für Antisemitismusforschung sagte, dass »die Stimmung gegenüber dem Staate Israel immer schlechter« werde. Das habe aber seine Gründe. »Das ist kein Antisemitismus«, so Benz. »Das wird aber von Aktivisten auf diesem Gebiet sehr gerne so dargestellt [nat: Instrumentalisierung].« (FAZ 2014b) Damit soll nicht gesagt werden, dass es im öffentlichen Streiten über den Nahostkonflikt nicht auch zu unberechtigten Instrumentalisierungen von Antisemitismusvorwürfen kommen kann und kommt, jedoch ist auffällig, dass dem Phänomen eines sichtbaren Antisemitismus im Rahmen der Anti-Israel-Demonstrationen überwiegend in Form von Klassifikationsstrategien der Abwehr, Bagatellisierung und Entlastung begegnet wird. Können diese Klassifikationsweisen des Antisemitismus demzufolge als Verwendungspraxis des ethno-nationalen Repertoires der »Musealisierung« interpretiert werden, die den Facettenreichtum antisemitischer Zeichen und Codes innerhalb öffentlicher Nahostdiskurse unsichtbar macht, sprechen wir im Anschluss an die Taxonomie von Analysekategorien antisemitischer Grenzziehungen von ethnisierten Ausschließungen, die jüdische Positionen, Sichtweisen und Betroffenheiten im öffentlichen Raum marginalisieren. Als mögliche Lesart dieser Klassifikationsstrategie, die sich als kontinuierliche Form der anpassungsfähigen Ausschließung von Jüd*innen in dem hier analysierten, diachronen Zeitverlauf interpretieren lässt, könnte eine gruppistische Wahrnehmungsperspektive der Sprecher*innen angeführt werden, die von einem weitestgehend diskriminierungsfreien sozialen Status der ethnisch konstruierten Gruppe der Jüd*innen ausgeht. Im Anschluss an das Repertoire der »Musealisierung« lassen sich zwei Diskursstränge differenzieren, die eine Folge der historisierenden Betrachtung antisemitischer Kommunikationen darstellen. Zum einen sind das diskursive Zeichen- und Bedeutungsketten, die sich als Fremdzuschreibungen darstellen und eine Rationalisierung von Antisemitismen artikulieren. Zum anderen sind das stereotypisierende Formen der Grenzziehung, die ein spezifisches Wissen über den Staat Israel als nationalisierte jüdische »Fremdgruppe« hervorbringen. Zunächst können Klassifikationsweisen der Rationalisierung als ethnisierte Grenzziehungsstrategien interpretiert werden, die

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judenfeindliche Praktiken und Sprechweisen durch vermeintliches oder tatsächliches Handeln von Jüd*innen nationalisieren respektive Verständnis für das Handeln von Antisemit*innen evozieren. So werden insbesondere antisemitische Grenzziehungspraktiken von muslimisch identifizierten Akteur*innen als Ausdruck sozialer Diskriminierungserfahrungen einer benachteiligten, Bevölkerungsgruppe kausal erklärbar gemacht. Dementsprechend werden die antisemitischen Ausschreitungen gegenüber Jüd*innen in Deutschland etwa in den Worten des damaligen Fraktionsvorsitzenden im Berliner Abgeordnetenhaus, Raed Saleh, damit begründet, dass sich für manchen Demonstranten, die »Hoffnungslosigkeit der eigenen Situation in der Ausweglosigkeit der ewigen Gewaltspirale in Nahost gut spiegel[e]« (Spiegel 2014a). Dabei geselle sich »[z]u den Bildern aus Gaza […] gerade bei manchen Einwanderern das Gefühl, in Deutschland ebenfalls ein Opfer zu sein« (Spiegel 2014a), wie es ganz allgemein formuliert wird. Ganz ähnlich heißt es an anderer Stelle über die Teilnehmer*innen der Al-Quds- Demonstrationen, dass sich dort »das Gefühl am Rand zu stehen und nicht dazuzugehören« entladen hätte, »ein Gefühl, das jetzt auf Israel umgeleitet« werden würde (FAZ 2014c). Ein anderes Beispiel der Rationalisierung zeigt sich, wenn ein in der Jugendbildung tätiger Sprecher indirekt mit den Worten zitiert wird, dass »antijüdische Ressentiments bei Jugendlichen mit muslimischen Migrationshintergrund« auch »auf deren eigene Ausgrenzungserfahrungen« zurückgeführt werden können, die meistens jedoch kein »ideologisch gefestigter Antisemitismus« seien (Taz 2014b). Prozesse der »Musealisierung« zeigen sich hierbei durch die Art und Weise der instrumentellen öffentlichen Aushandlung des Bedeutungskomplexes der Judenfeindschaft. Instrumentell bedeutet in diesem Zusammenhang die Verwendung eines entkernten Begriffes des Antisemitismus, der sich in das gesellschaftliche Leitmotiv des symbolischen Anti-Antisemitismus einfügt und sozialen Akteur*innen dazu dient, soziale Konflikte und Problemlagen – etwa Empfindungen von Diskriminierung und Ungleichbehandlung durch Angehörige muslimisch-arabischer communities – erklärbar zu machen. Dieses apologetische Verständnis für das Handeln antisemitischer Täter*innen begründet daher eine ethnisierte Grenzziehungspraxis, die einen prekären, weil schutzlosen gesellschaftlichen Status der von Antisemitismus bedrohten Jüd*innen zum Vorschein bringt, indem Ursachen und Funktionen antisemitischer Klassifikationsrepertoires bagatellisiert werden. Neben Formen der Rationalisierung antisemitischer Ressentiments und Handlungen lassen sich dem Repertoire der »Musealisierung« Fremdzuschreibungen zuordnen, die negative Klassifikationen von Jüd*innen als nationalisierte, durch den Staat Israel repräsentierte, »Fremdgruppe« beinhalten. Entsprechend der Taxonomie von Analysekategorien antisemitischer Grenzziehungen zeigt sich hierbei die situative Wirksamkeit ethnisierter, nationalisierter oder rassialisierter Differenzkonstruktionen einer nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft gegenüber der jüdischen Minderheit. Demzufolge lehnen Akteur*innen zwar im Sinne des hegemonialen Deutungstopos eines AntiAntisemitismus rassistische Artikulationsweisen des Antisemitismus ab, bringen aber gleichzeitig eine stereotype und dichotome Sichtweise auf den Nahostkonflikt hervor, die auf nationalisierten Unterscheidungszeichen beruht. Besonders sichtbar wird dieses Zusammentreffen in folgender Sequenz, die die Simultanität einer vorgeblich antiantisemitischen Positionierung der Sprecher*in bei gleichzeitig abwertender Chiffrie-

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rung des israelischen Militäreinsatzes durch das Feindbild des »kriegstreibenden Juden« wiedergibt: Aber gleichzeitig verfangen sich manche Kommentatoren in der Falle des »Ja, aber …«: Ja, wir verurteilen die antisemitischen Parolen auf deutschen Straßen. Aber wir sollten nicht ihren Ursprung im maßlosen Krieg Israels gegen Gaza [nat: kriegstreibende »Juden«] vergessen. Diese Argumentation geht fehl. (Spiegel 2014c) Darüber hinaus werden nationalisierte Fremdkategorisierungen des »Jüdischen« im diskursiven Bezugshorizont des Nahostkonfliktes artikuliert, indem Israel einseitig als »konspirativ« und »gnadenlos« agierender Täter symbolisiert wird, dessen Handeln als alleinige Ursache eine friedliche Lösung des komplexen Konfliktzusammenhanges im Nahen Osten blockiert. Diese antisemitischen Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster des Nahostkonfliktes werden etwa von Akteur*innen reproduziert, die einseitig nach Sanktionen für Israel verlangen (Taz 2014c) und dem jüdischen Staat unterstellen, durch den Krieg gegen die Hamas »jede Aussicht auf Friedensverhandlungen« (ebd.) planvoll zerstören zu wollen, halsstarrig, »die Zweistaatenlösung und das Ende der Besatzung« (ebd.) zu verhindern oder einen Genozid in Gaza zu verüben (Taz 2014b). Besonders ist bei der nationalisierten Grenzziehungsstrategie zwischen einer als »friedliebend« und moralisch überlegen identifizierten ingroup gegenüber dem »jüdischen« Staat das Bedürfnis, sich gegenüber dem Vorwurf des Antisemitismus immunisieren zu wollen. Entsprechend des tradierten antisemitischen Schemas der Unterscheidung zwischen »guten« und »schlechten« Jüd*innen, werden jüdische Sprecher*innen als Feigenblatt für den strikten Manichäismus einer dekontextualisierenden Unterscheidung zwischen »bösen« israelischen Täter*innen und »unschuldigen« palästinensischen »Opfern« israelischer Unterdrückung instrumentalisiert. So wird beispielsweise ein israelischer Psychologe angeführt, der die Behauptung belegen soll, die israelische Gesellschaft sei in ihrer großen Mehrheit friedensunwillig (Spiegel 2014c), und ein israelischer Schriftsteller, der die These stützen soll, »dass Israel sich bereitwillig der Verzweiflung des Krieges erg[ebe], und jede Hoffnung auf Frieden ha[be] fahren lassen« (ebd.). Zuletzt können auch solche verschwörungstheoretischen Klassifikationen rekonstruiert werden, die Israel als machtvollen Strippenzieher hinter der öffentlich geführten Antisemitismus-Debatte bewerten. Der jüdische Staat versuche demzufolge die öffentliche Debatte über den Gaza-Krieg zu beeinflussen, um sein vermeintlich verbrecherisches Handeln zu verschleiern. Ein Statement des damaligen Vorsitzenden der Linkspartei in Nordrhein-Westfalen reproduziert diese Repräsentationslogik einer jüdischisraelischen Diskursmanipulation, indem er »die hysterischen Warnungen vor einem neuen Antisemitismus in Deutschland« für einen taktischen Versuch pro-zionistischer Kräfte hält, »vom Gaza-Krieg abzulenken« (Taz 2014c). Mehr noch wird der israelischen Regierung in einer weiteren Sequenz vorgeworfen, dass sie ein Interesse daran habe, »dass jede Kritik an ihren Handlungen als Antisemitismus verstanden werde [nat: Herrschaftsinstrument Antisemitismus]« (FAZ 2014b). Insgesamt konnten durch das Klassifikationsrepertoire der »Musealisierung des Antisemitismus« mehrdimensional verschränkte Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen rekonstruiert werden, die ethnisierte, durch die Delegitimierung jüdischer Marginalisierungserfahrungen produzierte, ambivalente Formen

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der Ein- und Ausschließungen von Jüd*innen innerhalb eines nationalen Selbstverständigungskontextes hervorbringen. Einerseits konnte damit auf einen prekären Status der ethnisierten Gruppe der Jüd*innen hingewiesen werden. Andererseits konnte die Anschlussfähigkeit des Repertoires der »Musealisierung« an die nationalisierten Fremdheitskonstruktionen des »Jüdischen« durch negative Gruppenrepräsentationen des jüdischen Staates Israel sichtbar gemacht werden. In einem letzten Schritt möchte ich nun nachzeichnen, welche bedeutungsgenerierenden Perspektiven auf das jüdische Leben in Deutschland durch die öffentlichen Aushandlungen der Ereignisse der Gaza-Demonstrationen eröffnet werden.

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»wenn sich der Zentralrat der Juden in Deutschland nicht ganz so rückhaltlos hinter die Politik der israelischen Regierung stellen würde« – Ethno-nationale Zuschreibungen einer besonderen Lebensweis  der jüdischen »Fremdgruppe«

Im Verlauf des folgenden Abschnitts werden im Hinblick auf die Stellungnahmen jüdischer Sprecher*innen innerhalb der gesellschaftlichen Diskussionen über den Antisemitismus der Anti-Gaza-Demonstrationen spezifische Mechanismen der Grenzziehung sichtbar, die Jüd*innen als »nicht-zugehörig« identifizieren. Kategoriale Abwertungen der jüdischen »Fremdgruppe« werden dabei durch das Zusammenspiel ethnisierter – durch den konstruierten Bezug auf die besondere soziale Lebensweise von Jüd*innen – und nationalisierter – durch die Konstruktion von Jüd*innen als nationale »Fremdgruppe« in Form des Staates Israel – Klassifikationsprozesse hergestellt. Die Praxiskategorien der soziokulturellen Ausschließung von Jüd*innen enthalten antisemitische Fremdzuschreibungen, die einerseits eine »doppelte Loyalität« des jüdischen »Fremden« imaginieren und andererseits Klassifikationen eines »jüdischen Alarmismus« reproduzieren. Klassifikationsstrategien, die antisemitisches Wissen über scheinbare Mehrfachund damit Nicht-Zugehörigkeiten von in Deutschland lebenden Jüd*innen artikulieren, reproduzieren dabei ethnisierte Unterscheidungszeichen, die, ausgehend von der gesellschaftlichen Unsichtbarkeit der Jüd*innen, Vorstellungen eines separierenden globalen Gesamtkollektivs von »wurzel-« wie »heimatlosen« Jüd*innen hervorbringen. Israel als Feindbildkonstruktion in nationalisierten Grenzziehungsprozessen des Antisemitismus wird im Sinne des Phantasmas einer identitären Gesamtheit der »Juden« mit der jüdischen Minderheit in Deutschland homogenisiert. Manifestiert wird das interrelationale Zusammenspiel ethnisierter und nationalisierter Formen der Ausschließung dann, wenn Jüd*innen oder jüdische Institutionen aufgrund ihrer ethnischen Zuordnung zum Judentum als legitime Angriffsziele gelten, um Hass gegen den jüdischen Staat in die Tat umsetzen zu können. Diese Handlungsweisen antisemitischer Praxis wurden im Kontext der Gaza-Demonstrationen etwa durch einen Brandanschlag auf eine Synagoge in Wuppertal (Spiegel 2014b), durch Angriffe auf eine vermeintlich jüdisch geführte Imbisskette (Spiegel 2014a) und durch gewaltsame Übergriffe auf Jüd*innen (Taz 2014a) vollzogen oder werden allgemein durch die Angst jüdischer Gemeinden vor Übergriffen zum Ausdruck gebracht (Spiegel 2014a), weil sie in antisemitischen Wahrnehmungsmustern mit dem Staat Israel kollektiviert werden.

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Es zeigt sich dabei, wie die ethnisierte Klassifikation eines grenzüberschreitenden Zusammenhaltes der jüdischen »Fremdgruppe« eine legitime Form der Wahrnehmung auf das Handeln von Jüd*innen hervorbringt, die als homogenes und wurzelloses Kollektiv räumlich entgrenzt werden. Das ethno-nationale Klassifikationsrepertoire eines besonderen sozialen Zusammenhaltes der Jüd*innen wird schließlich auch in solchen Grenzziehungsstrategien aktualisiert und angeeignet, in denen wegen der Parteinahme für den jüdischen Staat eine Demarkationslinie zwischen nicht-jüdischem »Innen« gegenüber jüdischem »Außen« gezogen wird. Israel als nationalisiertes Kollektivsymbol eines projektiv-abwertenden Bildes des »Jüdischen« wird demzufolge zu einem ethnisch definierten Gradmesser einer akzeptablen jüdischen Differenz (Scherr und Schäuble 2007). Wie Solidaritäten zwischen Israel und der jüdischen Diaspora als Merkmal einer ethnischen Differenz von Jüd*innen durch ihre zugeschriebene »doppelte Loyalität« gegenüber der jüdischen Nation gedeutet werden, zeigt sich in folgender Sequenz: Um es manchen schlichter gestrickten Menschen etwas einfacher zu machen, zwischen Juden und dem israelischen Staat zu unterscheiden, würde es allerdings helfen, wenn sich der Zentralrat der Juden in Deutschland nicht ganz so rückhaltlos hinter die Politik der israelischen Regierung stellen würde [ethno-nat: besonderer Zusammenhalt], wie er das derzeit tut [ethno-nat: Selbst-Schuld-Antisemitismus]. (Taz 2014a) Entscheidend ist hierbei die für antisemitische Grenzziehungen charakteristische Perspektive auf das jüdische Leben, die von einem besonderen Zusammenhalt der Judenheit ausgeht und hier durch den Vorwurf konstruiert wird, dass der Zentralrat als Agentur der israelischen Regierungspolitik agiere. Zugleich aktualisieren sich hier tradierte antisemitische Tropen, die Jüd*innen vorwerfen, durch ihr vermeintlich falsches oder schädliches Handeln Antisemitismus zu provozieren, mithin also selbst schuld daran zu sein, antisemitisch angegriffen zu werden. Die Perspektive der Mehrheitsgesellschaft auf die Ambivalenz jüdischer (Nicht-)Zugehörigkeit zeigt sich demnach durch die Aufforderung an den Zentralrat der Juden in Deutschland, eine Distanzierung von dem als illegitim betrachteten Handeln des jüdischen Staates vorzunehmen. Ein wiederkehrendes Motiv in soziokulturellen Aushandlungen von Grenzziehungen zwischen nicht-jüdischer ingroup gegenüber der jüdischen outgroup lässt sich im lokal-historisch spezifischen Kontext der Debatte über die GazaDemonstrationen durch eine häufig vorzufindende, dominanzkulturelle Reaktion auf jüdische Marginalisierungs- und Diskriminierungserfahrungen feststellen. Durch die ethnisierende Klassifikation eines jüdischen »Alarmismus« wird dabei eine Perspektivendivergenz sichtbar, die eine Problematisierung von Antisemitismen durch jüdische Akteur*innen abwerten soll. Diese Bedrohungsinszenierung einer »AntisemitismusHysterie« korrespondiert mit dem kontingenten Klassifikationsrepertoire der »Musealisierung des Antisemitismus« und delegitimiert jüdische Sprecher*innenpositionen durch die Ausübung von Definitionsmacht darüber zu entscheiden, wann Jüd*innen von Antisemitismus betroffen sein können. Beispielhaft zeigt sich die Zuschreibung eines »Alarmismus« in einem Kommentar in der Tageszeitung, der die Äußerungen des damaligen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden, Dieter Graumann, als Übertreibungen delegitimiert:

10 Das Diskursereignis der Gaza-Demonstrationen

Der Präsident des Zentralrates der Juden Dieter Graumann hat die Situation von Juden in Europa, auch in Deutschland, mit 1938 assoziiert. Das ist falsch [ethn: Delegitimierung jüd. Betroffenheitserfahrung]. Es schließt den Beginn der staatlich organisierten Ausrottungspolitik der Nazis mit Pöbeleien und Bösartigkeiten kurz. (Taz 2014c) Unabhängig von der Frage, inwiefern diese Beschreibung Graumanns den Tatsachen entspricht, reproduziert diese explizite Zurückweisung die Repräsentationslogik eines jüdischen »Alarmismus«, der Ausmaß und Auswirkung des Antisemitismus in der Gesellschaft übertreibt. An anderer Stelle zeigen sich diese Mechanismen der Marginalisierung in dem Statement eines Historikers in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, das Kritik an dem antisemitischen Charakter vieler Demonstrationen als hysterische Überzeichnung bagatellisiert und diffus bleibende Interessengruppen dafür verantwortlich macht: Auch seien am Rande einer antiisraelischen Demonstration antisemitische Parolen gerufen worden. Deshalb von antisemitischen Ausschreitungen in Deutschland zu sprechen, »halte ich für übertrieben«, so Benz. »Seltsame Leute« haben laut Benz »blödsinnige Parolen« gerufen. »Das wird von Interessenten mit großem Medienhall als Wiederaufflammen des Antisemitismus dargestellt, als sei es so schlimm wie nie zu vor [ethn: verschwörerisch Hysterie].« (FAZ 2014b) Zuletzt finden sich Warnungen vor einer »Antisemitismus-Hysterie« auch in der Erzählung eines Sprechers in der Tageszeitung. Demzufolge wurden die Personalien des Sprechers aufgenommen und Ermittlungen wegen Volksverhetzung eingeleitet, nachdem er auf einem Konzert über einen Genozid in Gaza gesprochen habe. Das Verhalten der Polizei wird nicht als Resultat der eigenen Ausdrucksform einer dämonisierten Israel-Feindschaft begriffen, sondern als Resultat eines angeblichen gesellschaftlichen Klimas des Antisemitismusverdachts gedeutet: »Sogar die Polizei ist verunsichert, glaubt er. Auch weil ihr vorgeworfen wurde, nicht hart genug gegen antisemitische Parolen vorgegangen zu sein, habe sie hier überreagiert.« (Taz 2014a) Insgesamt konnte durch das ethno-nationalisierte Klassifikationsrepertoire der »besonderen« jüdischen Lebensweise eine ethnisierte Prekarität des gesellschaftlichen Status von Jüd*innen sichtbar gemacht werden, indem Jüd*innen als separiertes globales Gesamtkollektiv mit doppelter Loyalität abgewertet werden oder ihnen eine »alarmistische« Übertreibung von Antisemitismen zugeschrieben wird.

10.4

Taxonomie der Analyseebene von Grenzziehungsstrategien: Eine Übersicht über antisemitische Kategorien der Praxis in dem öffentlichen Diskurs über die Gaza-Demonstrationen

Auch für die Wissenssoziologische Diskursanalyse der letzten Fallstudie über gesellschaftliche Aushandlungen antisemitischer Grenzziehungen in den öffentlichen Diskussionen der Gaza-Demonstrationen konnten heuristisch fruchtbare Ergebnisse herausgearbeitet werden, die Einsichten in die Plausibilität und Konsistenz des deduktiv entwickelten, taxonomischen Analysemodells der soziokulturellen Konstruktionsme-

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10 Das Diskursereignis der Gaza-Demonstrationen

Der Präsident des Zentralrates der Juden Dieter Graumann hat die Situation von Juden in Europa, auch in Deutschland, mit 1938 assoziiert. Das ist falsch [ethn: Delegitimierung jüd. Betroffenheitserfahrung]. Es schließt den Beginn der staatlich organisierten Ausrottungspolitik der Nazis mit Pöbeleien und Bösartigkeiten kurz. (Taz 2014c) Unabhängig von der Frage, inwiefern diese Beschreibung Graumanns den Tatsachen entspricht, reproduziert diese explizite Zurückweisung die Repräsentationslogik eines jüdischen »Alarmismus«, der Ausmaß und Auswirkung des Antisemitismus in der Gesellschaft übertreibt. An anderer Stelle zeigen sich diese Mechanismen der Marginalisierung in dem Statement eines Historikers in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, das Kritik an dem antisemitischen Charakter vieler Demonstrationen als hysterische Überzeichnung bagatellisiert und diffus bleibende Interessengruppen dafür verantwortlich macht: Auch seien am Rande einer antiisraelischen Demonstration antisemitische Parolen gerufen worden. Deshalb von antisemitischen Ausschreitungen in Deutschland zu sprechen, »halte ich für übertrieben«, so Benz. »Seltsame Leute« haben laut Benz »blödsinnige Parolen« gerufen. »Das wird von Interessenten mit großem Medienhall als Wiederaufflammen des Antisemitismus dargestellt, als sei es so schlimm wie nie zu vor [ethn: verschwörerisch Hysterie].« (FAZ 2014b) Zuletzt finden sich Warnungen vor einer »Antisemitismus-Hysterie« auch in der Erzählung eines Sprechers in der Tageszeitung. Demzufolge wurden die Personalien des Sprechers aufgenommen und Ermittlungen wegen Volksverhetzung eingeleitet, nachdem er auf einem Konzert über einen Genozid in Gaza gesprochen habe. Das Verhalten der Polizei wird nicht als Resultat der eigenen Ausdrucksform einer dämonisierten Israel-Feindschaft begriffen, sondern als Resultat eines angeblichen gesellschaftlichen Klimas des Antisemitismusverdachts gedeutet: »Sogar die Polizei ist verunsichert, glaubt er. Auch weil ihr vorgeworfen wurde, nicht hart genug gegen antisemitische Parolen vorgegangen zu sein, habe sie hier überreagiert.« (Taz 2014a) Insgesamt konnte durch das ethno-nationalisierte Klassifikationsrepertoire der »besonderen« jüdischen Lebensweise eine ethnisierte Prekarität des gesellschaftlichen Status von Jüd*innen sichtbar gemacht werden, indem Jüd*innen als separiertes globales Gesamtkollektiv mit doppelter Loyalität abgewertet werden oder ihnen eine »alarmistische« Übertreibung von Antisemitismen zugeschrieben wird.

10.4

Taxonomie der Analyseebene von Grenzziehungsstrategien: Eine Übersicht über antisemitische Kategorien der Praxis in dem öffentlichen Diskurs über die Gaza-Demonstrationen

Auch für die Wissenssoziologische Diskursanalyse der letzten Fallstudie über gesellschaftliche Aushandlungen antisemitischer Grenzziehungen in den öffentlichen Diskussionen der Gaza-Demonstrationen konnten heuristisch fruchtbare Ergebnisse herausgearbeitet werden, die Einsichten in die Plausibilität und Konsistenz des deduktiv entwickelten, taxonomischen Analysemodells der soziokulturellen Konstruktionsme-

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

chanismen antisemitischer Grenzziehungen geliefert haben. So wurde empirisch offen nach den multiplen Formen der Überlagerungen und Wechselwirkungen ethnisierter, nationalisierter und rassialisierter Differenzlinien in ungleichheitsbezogenen Klassifikationsprozessen der relationalen Unterscheidung zwischen jüdischer »Fremdgruppe« und nicht-jüdischer/-n »Eigengruppe(n)« gefragt. Die Besonderheit des Diskursereignisses der Gaza-Demonstrationen liegt nun darin begründet, dass lokal-historisch spezifisches Wissen über den jüdischen »Anderen« von zwei gesellschaftlichen Positionen aus produziert wurde. Einerseits wird dieses Wissen in Klassifikationen von Grenzziehungsstrategien von »muslimisch« identifizierten Angehörigen einer gesellschaftlichen Minderheit (re-)produziert und andererseits in Klassifizierungen von Mitglieder*innen einer sich ethnisch »deutsch« identifizierenden, nationalen Mehrheitsgesellschaft. Dementsprechend wurde das mehrdimensionale Klassifikationsmuster eines »muslimischen Antisemitismus« sowohl als Analysekategorie zur Betrachtung antisemitischer Klassifikationspraktiken muslimischer Akteur*innen als auch als Praxiskategorie der soziokulturellen Ausschließung von »muslimisch« markierten Subjekten durch das Klassifikationsrepertoire eines »Antisemitismus der Anderen« interpretiert. Davon ausgehend konnte festgestellt werden, dass sich in den gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen kulturell legitimierter Bewertungs- und Unterscheidungsmuster im Kontext der Gaza-Demonstrationen mit der Differenzkategorie »Nation« eine dominante Achse der Ungleichheit herausgebildet hat. Denn zum einen artikulieren Grenzziehungspraktiken sozialer Akteur*innen Teilungsprinzipien zwischen nicht-jüdischen »Eigenen« gegenüber dem jüdischen »Fremden« vor dem Hintergrund des nationalisierten Bezugshorizontes des Nahostkonfliktes, der Jüd*innen symbolisch als nationalisierte »Fremdgruppe« konstruiert. Zum anderen bewegen sich Klassifikationspraktiken, die sich mit dem Phänomenbereich des Antisemitismus beschäftigen, in einem diskursiven Feld der nationalen Selbstverständigung und ihrer kollektiven Sinnstiftung durch das negative Gedenken einer schuldverstrickten Vergangenheit. Zunächst konnte dabei rekonstruiert werden, wie die multipel zusammenspielenden Praxiskategorien des Klassifikationsmusters eines »muslimischen Antisemitismus« durch die Feindbildkonstruktion einer machtvollen »jüdischen« Nation (Grenzziehungstyp der Nationalisierung) hervorgebracht wurden, die im Anschluss an Tropen des modernen (europäischen) Antisemitismus als biologisiertes, wesenhaft minderwertiges »jüdisches« Kollektiv vorgestellt wird (Grenzziehungstyp der Rassialisierung) und sich in relationaler Differenz zu einer religiös definierten Gemeinschaft des »Eigenen« (Grenzziehungstyp der Ethnisierung) bedeutungsgenerierend hergestellt hat. Daneben wurde mit dem Klassifikationsmuster des »Anti-Antisemitismus« ein Praxistyp der Grenzziehung sichtbar gemacht, das politische Wertvorstellungen der »Antisemitismusabwehr« durch die allosemitische Sakralisierung jüdischer Opfererfahrung (Grenzziehungstyp der Ethnisierung) artikuliert, um moralische Qualitäten der nationalen Schicksals- und Erinnerungsgemeinschaft (Grenzziehungstyp der Nationalisierung) legitimieren zu können. Auch im Hinblick auf die Verschränkung von Kontinuität und Wandelbarkeit antisemitischer Klassifizierungen konnte die Fallstudie zeigen, wie sich die Theorie antisemitischer Differenzierungsprozesse und die Empirie diskursiver Wirklichkeitskonstruktionen wechselseitig ergänzen, insofern die Verwendungspraxis antisemitischer Grenzziehungsstrategien einen Bedeutungswandel von Grenzziehungen angezeigt hat. Wurden für die

10 Das Diskursereignis der Gaza-Demonstrationen

Beschneidungsdebatte mit den scheinbar inklusiven Codes der »Liberalität« und »Säkularität« noch politische Gemeinschaftswerte herausgestellt, die Grenzen zwischen nicht-jüdischer Mehrheit gegenüber der jüdischen Minderheit hergestellt haben, zeigt sich mit Blick auf die positive Wiederaneignung der kollektiven Vergangenheit einer gemeinschaftlichen Verbrechensgeschichte, eine Kontinuität im Wandel, die ein verändertes Selbstverständnis der nationalen Schicksals- und Erinnerungsgemeinschaft hervorgebracht hat. Folgende Tabelle veranschaulicht die kulturelle Sinngebungspraxis des Diskurses über die Gaza-Demonstrationen und fasst das mehrdimensionale Zusammenspiel ethnisierter, nationalisierter und rassialisierter Differenzlinien in dem boundary work sozialer Akteur*innen zusammen: Zwei wesentliche Besonderheiten des Diskurses über die Gaza-Demonstrationen haben sich dabei herausgestellt: Erstens zeigen sich die Verflochtenheit und Wechselwirkungen antisemitischer Kategorisierungsprozesse etwa durch die Anschlussfähigkeit anti-israelischer Stereotype, die als Differenzmodus von Grenzziehungen sowohl für das Klassifikationsmuster eines »muslimischen Antisemitismus« als auch für den Praxistypen der Grenzziehungen eines »Anti-Antisemitismus« konstatiert werden konnte. So enthalten beide Muster der Grenzziehungen Repertoires nationalisierender Zuschreibungen von Jüd*innen, die sich über den Staat Israel verständigen und belegen, dass kulturelle Sinnhorizonte des Antisemitismus nicht essentialisierend auf spezifische Trägergruppen reduziert werden können. Zweitens stellen die unvermittelt geäußerten Antisemitismen im Rahmen der Demonstrationen eine Durchbrechung der strafrechtlich sanktionierten gesellschaftlichen Kommunikationsverbote eines offenen Antisemitismus dar. Nachdem ich nun die Praxisebene der soziokulturellen Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen im diskursiven Kontext der Gaza-Demonstrationen analysiert habe, möchte ich in einem nächsten Schritt rekonstruieren, welche Strategien der Grenzverwischung (boundary blurring) von sozialen Akteur*innen angeeignet werden, um antisemitisches Wissen infrage zu stellen.

10.5

Boundary Blurring: Strategien der Grenzverwischung in der öffentlichen Debatte über die Gaza-Demonstrationen

In den gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen soziokultureller Grenzziehungen des Antisemitismus, die den öffentlichen Diskurs über die antisemitischen Ausschreitungen der Gaza-Demonstrationen begleitet haben, lassen sich vielfältige Konstruktionsweisen der Grenzverwischung feststellen, die sich als Strategien der Angleichung oder Gleichstellung (equalization strategies) zwischen jüdischer outgroup und nicht-jüdischer ingroup darstellen. Bedeutsam erscheint in diesem Zusammenhang eine Feststellung, die bereits für die Analyse der Praxistypen antisemitischer Grenzziehungen getroffen wurde. Demnach werden anti-antisemitische Klassifikationsstrategien von Akteur*innen zwar häufig angeeignet und reproduziert, um den antisemitischen Kontext der Gaza-Demonstrationen zu problematisieren, Jüd*innen erfahren auf diese Weise aber eine ambivalente Positionierung als »Fremde« in soziokulturellen Ordnungen der In-

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10 Das Diskursereignis der Gaza-Demonstrationen

Beschneidungsdebatte mit den scheinbar inklusiven Codes der »Liberalität« und »Säkularität« noch politische Gemeinschaftswerte herausgestellt, die Grenzen zwischen nicht-jüdischer Mehrheit gegenüber der jüdischen Minderheit hergestellt haben, zeigt sich mit Blick auf die positive Wiederaneignung der kollektiven Vergangenheit einer gemeinschaftlichen Verbrechensgeschichte, eine Kontinuität im Wandel, die ein verändertes Selbstverständnis der nationalen Schicksals- und Erinnerungsgemeinschaft hervorgebracht hat. Folgende Tabelle veranschaulicht die kulturelle Sinngebungspraxis des Diskurses über die Gaza-Demonstrationen und fasst das mehrdimensionale Zusammenspiel ethnisierter, nationalisierter und rassialisierter Differenzlinien in dem boundary work sozialer Akteur*innen zusammen: Zwei wesentliche Besonderheiten des Diskurses über die Gaza-Demonstrationen haben sich dabei herausgestellt: Erstens zeigen sich die Verflochtenheit und Wechselwirkungen antisemitischer Kategorisierungsprozesse etwa durch die Anschlussfähigkeit anti-israelischer Stereotype, die als Differenzmodus von Grenzziehungen sowohl für das Klassifikationsmuster eines »muslimischen Antisemitismus« als auch für den Praxistypen der Grenzziehungen eines »Anti-Antisemitismus« konstatiert werden konnte. So enthalten beide Muster der Grenzziehungen Repertoires nationalisierender Zuschreibungen von Jüd*innen, die sich über den Staat Israel verständigen und belegen, dass kulturelle Sinnhorizonte des Antisemitismus nicht essentialisierend auf spezifische Trägergruppen reduziert werden können. Zweitens stellen die unvermittelt geäußerten Antisemitismen im Rahmen der Demonstrationen eine Durchbrechung der strafrechtlich sanktionierten gesellschaftlichen Kommunikationsverbote eines offenen Antisemitismus dar. Nachdem ich nun die Praxisebene der soziokulturellen Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen im diskursiven Kontext der Gaza-Demonstrationen analysiert habe, möchte ich in einem nächsten Schritt rekonstruieren, welche Strategien der Grenzverwischung (boundary blurring) von sozialen Akteur*innen angeeignet werden, um antisemitisches Wissen infrage zu stellen.

10.5

Boundary Blurring: Strategien der Grenzverwischung in der öffentlichen Debatte über die Gaza-Demonstrationen

In den gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen soziokultureller Grenzziehungen des Antisemitismus, die den öffentlichen Diskurs über die antisemitischen Ausschreitungen der Gaza-Demonstrationen begleitet haben, lassen sich vielfältige Konstruktionsweisen der Grenzverwischung feststellen, die sich als Strategien der Angleichung oder Gleichstellung (equalization strategies) zwischen jüdischer outgroup und nicht-jüdischer ingroup darstellen. Bedeutsam erscheint in diesem Zusammenhang eine Feststellung, die bereits für die Analyse der Praxistypen antisemitischer Grenzziehungen getroffen wurde. Demnach werden anti-antisemitische Klassifikationsstrategien von Akteur*innen zwar häufig angeeignet und reproduziert, um den antisemitischen Kontext der Gaza-Demonstrationen zu problematisieren, Jüd*innen erfahren auf diese Weise aber eine ambivalente Positionierung als »Fremde« in soziokulturellen Ordnungen der In-

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Mehrdimensional verschränkte Grenzziehungen eines »muslimischen Antisemitismus« artikulieren Israel als nationalisierte Chiffre für ein biologisch vorgestelltes Kollektiv der »Juden« als Feindbild einer ethno-religiös definierten Kerngruppe der »Muslime«.

Klassifikationsmuster eines »muslimischen Antisemitismus« biologisieren ein zu vernichtendes Wesen der »Juden«, imaginieren einen privilegierten gesellschaftlichen Status von Jüd*innen durch ein sakrales Opfernarrativ und signifizieren den Zionismus als machtvolle nationale Bedrohung.

Biologisiertes jüdisches Kollektiv: »Juden« sind minderwertig, unterlegen, feige, müssen vernichtet werden. »Opferkonkurrenz«: »Juden« besitzen einzigartige Stellung im öffentlichen Diskurs, nicht-jüdische Geschichten und Leiden werden ausgeschlossen, »jüdische« Täterrollen werden ignoriert. nationale Bedrohung: »Zionisten« kontrollieren Medien, beherrschen das Land, tabuisieren Kritik, manipulieren Öffentlichkeit, handeln geheim, unterdrücken Muslime; Israel ermordet Kinder, ist Unstaat, faschistisch, muss bekämpft werden.

Typen der Grenzziehung

Klassifikationsrepertoires

(Selbst-)und Fremdzuschreibungen

Antisemitismus der Anderen: Antisemitismus ist importiertes Problem, ist Ausdruck eines islamischen Fanatismus, Migrationsextremismus, Integrationsdefizit. Sakralisierung: »Juden« besitzen exzeptionelle Stellung im öffentlichen Raum, sind besondere »Opfergruppe«, bestätigen moralische Läuterung der Nation. Musealisierung: jüdischer Israel-Bezug wird infrage gestellt; »Juden«/ Israel instrumentalisieren Antisemitismusvorwürfe, tabuisieren Kritik an Israel; Israel ist schuld am Nahostkonflikt, kriegstreiberisch, will Frieden verhindern, verübt Genozid. Prekäre Stellung: »Juden« handeln als Agenten Israels; »Juden« sind grenzüberschreitend handelndes Kollektiv, besitzen doppelte Loyalität, sind selbst schuld an Antisemitismus, übertreiben Antisemitismus.

Ethno-nationale Klassifikationsmuster externalisieren Antisemitismen als kulturelle Überzeugungen des muslimischen »Anderen«, exzeptionalisieren Jüd*innen als Träger*innen einer ungleichartigen Erinnerungsdifferenz durch eine »Sakralisierung des Holocaustgedenkens«, marginalisieren jüdische Opfererfahrungen durch eine entlastende Historisierung des Antisemitismus und begründen einen prekären sozialen Status durch eine »besondere« jüdische Lebensweise.

Ethno-nationale Grenzziehungen begründen gesellschaftliche Wertvorstellungen des »Anti-Antisemitismus« als moralische Qualitäten der politischen Selbstlegitimation einer nationalen Erinnerungs- und Schicksalsgemeinschaft durch das negative Gedenken an den Holocaust.

Verwendete Klassifikationsmuster sind Nationalisierungen durch den politischen Selbstverständigungskontext und die Nationalisierung von Jüd*innen als »Fremdgruppe«; Ethnisierungen durch den Bezug auf Religion und jüdische Wertvorstellungen und Rassialisierungen durch Prozesse der Biologisierung.

Kategorien der Analyse

Kategorien der sozialen Praxis

Tabelle 11: Taxonomie der Analyseebene antisemitischer Grenzziehungsstrategien in dem Diskurs über die Gaza-Proteste 2014, Quelle: Eigene Darstellung.

312 Wandelbarkeiten des Antisemitismus

10 Das Diskursereignis der Gaza-Demonstrationen

und Exklusion. Die Ambivalenz liegt nun darin begründet, dass Jüd*innen zwar als »zugehörig« klassifiziert werden, wenn vor einem Antisemitismus der muslimischen »Anderen« gewarnt wird, aber etwa als »nicht-zugehörig« gelten, wenn Akteur*innen eine ungleichartige »jüdische« Erinnerungsdifferenz ausmachen oder antisemitisches Wissen über den Staat Israel verbreiten. Ich werde daher im Folgenden zunächst Angleichungsstrategien von jüdisch identifizierten Sprecher*innen durch die Verwendung des Klassifikationsrepertoires der »Antisemitismus-Sensibilisierung« rekonstruieren, die primär Prozesse der antisemitischen Exklusion infrage stellen. Anschließend wird die Grenzverwischungsstrategie des »Eliten-Blurring« analysiert, die sich primär auf Prozesse der Inklusion von Jüd*innen richtet.

10.5.1

»Es hat eine Qualität, die uns einfach nicht ruhen lässt« – »Antisemitismus-Sensibilisierung« als Klassifikationsrepertoire der Infragestellung von Grenzen

Das Klassifikationsrepertoire der »Antisemitismus-Sensibilisierung« wird als Grenzverwischungsstrategie von »jüdisch« identifizierten Sprecher*innen angeeignet, um bestehende Grenzziehungen zwischen nicht-jüdischer ingroup gegenüber der jüdischen outgroup infrage zu stellen. Durch die Verwendungspraxis der »AntisemitismusSensibilisierung« versuchen jüdische Sprecher*innen den gesellschaftlich legitimen Deutungshorizont für die vielfältigen Erscheinungsformen des Antisemitismus zu erweitern. Damit werden Kriterien der Angleichung formuliert, die nach einer gleichberechtigten Anerkennung jüdischer Wahrnehmungen von Stigmatisierung und Diskriminierung verlangen. Wenn also Sprecher*innen auf israel-bezogene Antisemitismen aufmerksam machen, stellen Jüd*innen symbolische Formen der Grenzziehung infrage, die über den Bezugshorizont des Nahostkonfliktes nationalisierte Grenzen artikulieren, um Jüd*innen als (ethnische) Gruppe abzuwerten. In diesem Sinne lässt sich ein Statement eines Vertreters des American Jewish Committee (AJC) verstehen, der zur Qualität der gesellschaftlichen Sichtbarkeit von Antisemitismus bemerkt hat: »Es hat eine Qualität, die uns einfach nicht ruhen lässt, dazusitzen, als wenn nichts passiert wäre«, sagte Kramer im NDR Info. Kritik an Israel dürfe sein, ebenso Demonstrationen, aber beides dürfe nicht in Hasstiraden und Antisemitismus umschlagen [blurring: anti-antisemitische Perspektiverweiterung]. (FAZ 2014b) Auf diese Weise verlangen jüdische Akteur*innen nach einer klaren Grenzziehung zwischen legitimer Israel-Kritik und Antisemitismus, um Jüd*innen vor antisemitischen Angriffen schützen zu können, womit gesellschaftliche Zugehörigkeiten vermittelt werden, die auf einer Anerkennung jüdischer Perspektiven beruhen. An einer anderen Stelle kritisiert die ehemalige Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, vehement die gesellschaftliche Verbreitung antisemitischer Kommunikationen, die sich über die nationalisierte Repräsentationsfläche Israel äußern. Dabei beantwortet sie die Frage, ob sich im öffentlichen Sprechen über den Nahostkonflikt etwas enttabuisiert habe, folgendermaßen:

313

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

»Tabu ist Antisemitismus längst nicht mehr«, erklärt sie. »Unter dem Deckmäntelchen des Antizionismus gelten solche Tiraden bereits als salonfähig und sozial adäquat – als Mainstream [blurring: anti-antisemitische Perspektiverweiterung]. Für sich betrachtet ist das alles nicht neu. Aber es offenbart sich gegenwärtig in verheerender Kumulation, in erschreckender Radikalität und mit beängstigender Gewaltbereitschaft.« (FAZ 2014c) Ähnliche Klassifikationsstrategien der Grenzverwischung werden auch von dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden, Dieter Graumann, verwendet. So wehrt sich Graumann gegen Mechanismen der antisemitischen Ausgrenzung, die aufgrund der Ereignisse im Nahen Osten deutsche Jüd*innen für die Politik des Staates Israel verantwortlich machen. Dementsprechend heißt es in einer indirekten Wiedergabe des Graumann-Zitates in der Tageszeitung zustimmend: Es darf einfach nicht sein, dass Juden in Deutschland für die Politik Israels verantwortlich gemacht oder gar deswegen angegriffen werden [blurring: anti-antisemitische Perspektiverweiterung]. Da hat Dieter Graumann vom Zentralrat der Juden in Deutschland völlig recht. (Taz 2014a) Insbesondere wehren sich jüdische Sprecher*innen gegen die Vorwürfe einiger IsraelKritiker*innen, dass es ein umfassendes Kritik-Tabu gegenüber der Politik des jüdischen Staates gäbe und betonen sowohl die Notwendigkeit einer unvoreingenommenen Kritik an dem Handeln Israels als auch die Grenzen einer Kritik, die im Antisemitismus begründet liegt. Folgende Sequenz zeigt in diesem Zusammenhang, wie die jüdische Sprecher*in Charlotte Knobloch eine realistische Einordnung der tatsächlichen Quantität der politisch, medial und öffentlich geäußerten Kritik an Israel fordert: »Ich werde nicht müde zu betonen, dass nicht jede Kritik an Israel antisemitisch ist«, antwortet Charlotte Knobloch. »Niemand hat das je ernsthaft behauptet. Vielmehr entspringt bereits dieses unterstellte Kritiktabu einer paranoiden Phantasie [blurring: anti-antisemitische Perspektiverweiterung]. Tatsächlich wird doch über kaum ein Land medial und öffentlich so ausgiebig und kritisch diskutiert.« (FAZ 2014c) Insofern die Klassifikationsstrategien der Grenzverwischung darüber hinaus auch von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft angeeignet werden, kann zuletzt demonstriert werden, dass die Infragestellung nationenbezogener Grenzziehungen des Antisemitismus durch das Repertoire der »Antisemitismus-Sensibilisierung« eine tendenzielle Durchlässigkeit der ethnisierten Grenzen zwischen jüdischer outgroup und nicht-jüdischer ingroup zeigt. So erkennen Akteur*innen, die als Mitglieder der gesellschaftlichen Mehrheit identifiziert werden, antisemitische Stigmatisierungen, die sich über den Umweg Israel äußern, an und beweisen eine differenzierte Sichtweise auf die Bedrohungslage des jüdischen Staates (Spiegel 2014b); sie erkennen in der »Beschreibung des Juden als Kindermörder« (ebd.) antisemitische Tradierungen und erklären die Gleichsetzung von Jüd*innen, Israelis und israelischer Regierungspolitik für problematische Homogenisierungen (ebd.). Insgesamt macht das Grenzverwischungsrepertoire der »AntisemitismusSensibilisierung« Prozesse der Exklusion sichtbar, die sich auf nationenbezogene,

10 Das Diskursereignis der Gaza-Demonstrationen

über den Staat Israel artikulierte Ausschlüsse beziehen, und versucht eine gleichberechtigte Anerkennung von multiplen Zugehörigkeiten von Jüd*innen durchzusetzen.

10.5.2

»Das können und werden wir nicht hinnehmen« – Strategien der Grenzverwischung durch »Eliten-Blurring«

Neben dem Grenzverwischungsrepertoire der »Antisemitismus-Sensibilisierung« wird mit dem Repertoire des »Eliten-Blurring« eine Angleichungsstrategie der Infragestellung von Grenzziehung rekonstruiert, die tendenziell auf Prozesse der Inklusion von Jüd*innen zielt. So werden in den kulturellen Aushandlungen der Bedeutung antisemitischer Grenzziehungen (nationale) Zugehörigkeiten von Jüd*innen durch politische Eliten vermittelt. Indem also dominante Akteur*innen, die über gesellschaftliche Definitionsmacht verfügen, den Schutz von Jüd*innen vor antisemitischen Angriffen als leitmotivisches Handeln einer Gesellschaft formulieren, werden Angehörige der jüdischen community im Hinblick auf die Abwehr eines »muslimischen Antisemitismus« als Mitglieder*innen der nationalen Zugehörigkeitsordnung positioniert. Zugleich reproduziert dieses Repertoire der Gleichstellung Uneindeutigkeiten der gesellschaftlichen Stellung von Jüd*innen, insofern das Klassifikationsmuster des »Anti-Antisemitismus«, wie in Kapitel 4.3 beschrieben, moralische Qualitäten der nationalen »Eigengruppe« durch die Exzeptionalisierung des »Jüdischen« zum Ausdruck zu bringen. Letztlich zeigt sich in dieser Hinsicht die Situationalität und Flexibilität der Konstruktionsweisen antisemitischer Grenzziehung und der damit einhergehenden, gleichermaßen widersprüchlichen wie prekären Stellung von Jüd*innen in soziokulturellen Prozessen der In- und Exklusion. Der unspezifisch definierte, politische Kampf gegen Antisemitismus wird im Kontext der Gaza-Demonstrationen von zentralen staatlichen Eliten gefordert und geführt. So verurteilt ein stellvertretender Regierungssprecher im Namen der Bundeskanzlerin und der Bundesregierung die antisemitische Durchbrechung der Kommunikationslatenz folgendermaßen: Die Gewaltausbrüche und antisemitischen Äußerungen bei pro-palästinensischen und anti-israelischen Demonstrationen seien »ein Angriff auf Freiheit und Toleranz [blurring: Gemeinschaftscode Anti-Antisemitismus]«, sagte der stellvertretende Regierungssprecher Georg Streiter am Mittwoch in Berlin. Zudem handele es sich um den Versuch, »unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung zu erschüttern [blurring: Gemeinschaftscode Anti-Antisemitismus]«. Die Bundeskanzlerin und die gesamte Regierung verurteilten die Vorkommnisse aufs Schärfste [blurring: Anerkennung durch Eliten]. »Dies können und werden wir nicht hinnehmen«, sagte Streiter. (FAZ 2014b) Auch ein Gespräch zwischen dem damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck und dem Zentralratsvorsitzenden, das in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wiedergegeben wird, zeigt, wie staatliche Eliten Klassifikationsstrategien der Angleichung verwenden, um antisemitische Stigmatisierung, entsprechend des öffentlich sanktionierten Kommunikationsverbotes, als gesellschaftlich inakzeptabel zu markieren:

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Gauck hatte am Vormittag wegen der Vorfälle mit dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, telefoniert. Dabei habe er erfahren, dass die Stimmung in den jüdischen Gemeinden schlecht sei. Dies habe ihn erschreckt. In dem Telefongespräch versicherte Gauck dem Präsidenten des Zentralrats seine Solidarität. Wie Graumann am Mittwoch mitteilte, hat das Staatsoberhaupt in einem Telefonat deutlich gemacht, dass er die Sorge der Juden in Deutschland sehr ernst nehme. (FAZ 2014b) In diesem Zusammenhang lässt sich konstatieren, dass mit der Autorität staatlicher Entscheidungsträger*innen und Eliten eine Anerkennung jüdischer Positionen, Betroffenheiten und Diskriminierungserfahrungen artikuliert wird, die Zugehörigkeitskonstruktionen hervorbringt, in denen Jüd*innen als Gesellschaftsmitglieder*innen betrachtet werden. Zudem kann in den Angleichungsstrategien des »Eliten-Blurring« herausgearbeitet werden, wie sich auch jüdische Sprecher*innen des Repertoires der Gleichstellung zwischen statusungleichen Gruppen bedienen, um ihre »Zugehörigkeit« zu demonstrieren. Folgende Sequenz exemplifiziert die Anschlussfähigkeit des Grenzverwischungsrepertoires für jüdische Sprecher*innen, wenn sich der Zentralratsvorsitzende Dieter Graumann die Äußerungen des Bundespräsidenten aneignet, um damit auf Prozesse der soziokulturellen Inklusion von Jüd*innen hinzuwirken: Graumann bedankte sich für diese Geste des Präsidenten: »Wir Juden sind hier willkommen und mit unseren Sorgen nicht alleine. Das sind wichtige Signale, die uns Mut machen.« [blurring: jüdische Zugehörigkeit] Graumann ergänzte, viele Gemeindemitglieder seien im Moment »sehr verunsichert, besorgt und absolut schockiert angesichts der übelsten judenfeindlichen Parolen.« (FAZ 2014b) Dass nicht nur staatliche, sondern auch kulturelle und gesellschaftliche Eliten Kriterien der Angleichung formulieren, wird zuletzt in einem Brief des damaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Nikolaus Schneider signifiziert. Damit machen solche Vertreter*innen von Eliten auf die Vielfalt antisemitischer Wahrnehmungsformen aufmerksam und klassifizieren etwa israelbezogenen Antisemitismus gleichermaßen als Ausdrucksform eines »menschenverachtenden« Antisemitismus, um diese Bandbreite antisemitischer Differenzierungen aus dem Raum des legitim Sagbaren auszuschließen: Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Nikolaus Schneider, nannte es »entlarvend, wenn Proteste gegen das aktuelle Vorgehen der Armee Israels im Gazastreifen mit menschenverachtender Judenfeindschaft verbunden werden.« Das sei beschämend [blurring: Antisemitismus-Tabu], so Schneider in einem am Mittwoch veröffentlichten Schreiben an Graumann. (FAZ 2014b) Zusammenfassend verwenden soziale Akteur*innen die Angleichungsstrategie des »Eliten-Blurring« um durch die gemeinsame Wertvorstellung des »Anti-Antisemitismus« (ambivalente) gesellschaftliche Zugehörigkeiten von Jüd*innen zu artikulieren.

10 Das Diskursereignis der Gaza-Demonstrationen

10.6

Taxonomie der Analyseebene von Mechanismen des boundary blurring: Eine Übersicht über Strategien der Grenzverwischung in dem öffentlichen Diskurs über die Gaza-Demonstrationen

Insgesamt konnte in dem vorangegangenen Kapitel über die Klassifikationsstrategien des boundary blurring sichtbar gemacht werden, wie Akteur*innen in den öffentlichen Debatten der Gaza-Demonstrationen ausschließende Formen der Grenzziehung zwischen nicht-jüdischer ingroup gegenüber der jüdischen outgroup infrage stellen. Dabei wurden mit den Grenzverwischungsrepertoires der »Antisemitismus-Sensibilisierung« und des »Eliten-Blurring« zwei dominante Klassifikationstypen der Gleichstellung von ungleich positionierten sozialen Gruppen – Jüd*innen einerseits und Nicht-Jüd*innen andererseits – rekonstruiert. Während »Antisemitismus-Sensibilisierung« auf die gleichberechtigte Anerkennung jüdischer Diskriminierungswahrnehmungen durch bestehende Grenzen und damit tendenziell auf Prozesse der (antisemitischen) Exklusion gerichtet ist, liegt der Fokus des Repertoires des »Eliten-Blurring« auf Prozessen der Inklusion, die eine Verwischung der Grenzen zwischen »Innen« und »Außen« durch die Anerkennung jüdischer Positionen durch hegemoniale Akteur*innen hervorbringt und damit jüdische Zugehörigkeiten konstruiert. Folgendes Schaubild illustriert die symbolischen Klassifikationspraktiken der Grenzverwischung in der öffentlichen Debatte über die Gaza-Demonstrationen: Tabelle 12: Taxonomie der Analyseebene von Grenzverwischungsstrategien in dem Diskurs über die Gaza-Proteste 2014, Quelle: Eigene Darstellung. Kategorien der sozialen Praxis Typus der Grenzverwischung

Klassifikationsstrategien der Angleichung begegnen symbolischen Ausgrenzungen in der öffentlichen Debatte über die Gaza-Demonstrationen durch die Anerkennung multipler Zugehörigkeiten.

Klassifikationsrepertoires

Klassifikationsmuster der Gleichstellung zielen auf Prozesse der Exklusion und fordern eine gleichberechtigte Anerkennung jüdischer Diskriminierungswahrnehmungen.

Klassifikationsmuster der Gleichstellung zielen auf Prozesse der Inklusion und konstruieren gesellschaftliche Zugehörigkeiten von Jüd*innen durch Sprecher*innen mit Definitionsmacht.

Klassifikationen

Sensibilisierung: Israel-Bezug kann antisemitisch sein, Grenzen legitimer IsraelKritik müssen anerkannt werden; Jüd*innen dürfen nicht für israelische Politik haftbar gemacht werden.

Anti-Antisemitismus: Gesellschaftliches Tabu Antisemitismus, jüdische Sorgen werden ernst genommen, Kampf gegen Antisemitismus besitzt Priorität; Jüd*innen erfahren Solidarität.

Abschließend kann aus dem vorangegangenen Kapitel resümiert werden, dass sich soziale Akteur*innen im symbolisch umkämpften Kontext der Gaza-Proteste ethnisierte, rassialisierte und nationalisierte Klassifikationsmuster aneignen, um durch das simultane Zusammenspiel dieser Ungleichheitskategorien mehrdimensionale Grenzen zwischen einer nicht-jüdischen ingroup gegenüber einer jüdischen outgroup auszuhan-

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318

Wandelbarkeiten des Antisemitismus

deln und herzustellen. Dabei wurden im öffentlichen Diskurs der Gaza-Proteste zwei spezifische Praxistypen der Grenzziehung herausgearbeitet, die einerseits minoritäre Klassifikationsstrategien muslimisch identifizierter Akteur*innen im Handlungskontext der Demonstrationen abbilden und andererseits hegemoniale Wahrnehmungsund Bewertungskategorien von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft enthalten, die das Thema des Antisemitismus der Demonstrationen unter Bezugnahme auf exkludierende Abwertungsstrategien gegenüber Jüd*innen referenzialisieren. Zuletzt konnte mit Anfechtungsstrategien der Grenzverwischung sichtbar gemacht werden, wie ethnisierte, nationalisierte und rassialisierte Antisemitismen durch jüdische Akteur*innen infrage gestellt werden und darüber hinaus jüdische Zugehörigkeiten durch eine inklusive Zugehörigkeitskonstruktion gesellschaftlicher Eliten stabilisiert werden sollen. Im Anschluss an die empirische Auswertung der einzelnen Fallstudien über die Walser-Bubis-Kontroverse, Beschneidungsdebatte und Gaza-Proteste werde ich nun versuchen, ein systematisches Fazit der Untersuchungsergebnisse zu ziehen. Dabei werde ich den Fokus insbesondere auf die Frage nach den prozessualen Wandelbarkeiten antisemitischer Grenzziehungen in dem hier analysierten Zeitverlauf richten.

11 Zusammenfassende Schlussbetrachtung Analytische Potenziale und Anschlussfähigkeiten einer Taxonomie antisemitischer Grenzziehungsprozesse

In dem zweiten, empirischen Teil dieser Arbeit (Kapitel 8 bis 10) wurde eine diskursanalytische Längsschnittstudie von drei ausgewählten Diskursereignissen durchgeführt, als deren Untersuchungsziel ich ein zweigeteiltes empirisches Erkenntnisinteresse formuliert habe. Einerseits sollten Plausibilität, Glaubwürdigkeit und Konsistenz des von mir entwickelten analytischen Werkzeugkastens einer konzeptuellen Taxonomie von Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen am empirischen Material überprüft werden. Andererseits wurde durch die Analyse versucht, Antworten auf die übergeordnete Fragestellung nach (Dis-)Kontinuitäten und Formwandel antisemitischer Differenzierungen zu finden, die sich in dem Zeitverlauf der hier untersuchten Diskursereignisse herausarbeiten ließen. Durch die Konzeptualisierung einer Taxonomie antisemitischer Differenzierungen wurde in dieser Hinsicht also ein produktives Zusammenspiel von Theorie und Empirie angelegt. Insofern haben die Ergebnisse der interpretativen Analyse öffentlicher Diskurse Kategorien der sozialen Praxis antisemitischer Grenzziehungen sichtbar gemacht, die das Wechselspiel einer engen Verzahnung von Theorie und Empirie innerhalb der Taxonomie illustrieren. Wie im Folgenden resümierend verdeutlicht wird, fügt die Systematisierung von antisemitischen Kategorien der sozialen Praxis dem analytischen Werkzeugkasten der Theoriearchitektur (Kapitel 6) neue Facetten in Form von wandelbaren Prozesskategorien der Grenzziehung hinzu. Ausgehend von einer metatheoretischen Betrachtung des relationalen Beziehungsgeflechtes von Kontinuität und Bedeutungswandel der Mechanismen der Grenzziehungen und Grenzverwischung möchte ich nun abschließend den spezifischen Mehrwert meiner Taxonomie ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Typen der Grenzziehung bewerten.

320

Wandelbarkeiten des Antisemitismus

11.1

Der Kulturelle Bedeutungswandel antisemitischer Grenzziehungen im Wandel der Zeit: Über das Zusammenspiel von Theorie und Empirie innerhalb der Taxonomie

Um das dynamische Zusammenspiel von (Dis-)Kontinuität und Bedeutungswandel antisemitischer Klassifikationen untersuchen zu können, wurde eine programmatische Synthese aus multi-paradigmatischen Zugängen und Konzepten gebildet, die sich als fruchtbarer theoretischer Bezugsrahmen für das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit erwiesen hat. Vor dem Hintergrund der Grenzziehungsperspektive (Kapitel 2.2 bis 2.4) und des Intersektionalitätsansatzes (Kapitel 2.5) handelt es sich dabei im Wesentlichen um eine Kombination aus sozialkonstruktivistischen und kultursoziologischen Zugängen der Ethnizitäts- (Kapitel 4), Rassismus- (Kapitel 3) und Nationalismusforschung (Kapitel 5) einerseits und um theoretische Modelle der Antisemitismusforschung (2.1) andererseits. Durch die Systematisierung und Synthetisierung theoretischer Merkmale, das sind die Prozessualität, Wechselwirkungen, Relationalität, Situationalität, temporäre Stabilisierung und Machtdimension, antisemitischer Grenzziehungen wurde im Sinne der forschungsleitenden Programmatik ein prozessorientiertes Verständnis der kontingenten Herstellungsdynamik antisemitischer Ausschlüsse ermöglicht. Aus diesen unterschiedlichen Theorievokabularen und -perspektiven wurde schließlich ein analytischer Werkzeugkasten zusammengesetzt, der die soziohistorische Wandlungsfähigkeit antisemitischer Klassifikationen im empirischen Teil dieser Arbeit analysierbar gemacht hat (Kapitel 5). Von der Überzeugung geleitet, dass es nicht den »einen« invarianten Antisemitismus, sondern eine plurale Erscheinungsvielfalt situationsabhängiger und soziohistorisch wandelbarer Antisemitismen gibt, macht der Perspektivwechsel auf den Gegenstandsbereich Antisemitismus in nuce deutlich, was hierbei auf dem Spiel steht: Es geht dabei um ein prozessuales Verständnis von Antisemitismen als Klassifikationsprozesse, in denen Akteur*innen sich soziale Kategorien der Ungleichheit kontextspezifisch aneignen, um die soziale Welt zu interpretieren. Demzufolge beruhen symbolische Herstellung, Reproduktion und Transformation antisemitischer Kategorien der sozialen Praxis, wie in Kapitel 2 dargestellt, auf Prozessen der gesellschaftlichen Aushandlung soziokultureller Grenzziehungen zwischen einer sozialen Kerngruppe gegenüber einem als »jüdisch« identifizierten »Außen«. Diese Kategorien der sozialen Praxis werden in Konstruktionsprozessen antisemitischer Grenzen durch die simultanen Wechselwirkungen rassialisierter, ethnisierter und nationalisierter Klassifikationsmuster hervorgebracht. Dabei enthalten diese Klassifikationen multidimensionale und soziohistorisch kontingente, d.h. veränderbare, Bedeutungen von antisemitischen Grenzen der sozialen In- und Exklusion. Entscheidend für die Einsicht in den konstitutiv instabilen Bedeutungsgehalt antisemitischer Zuschreibungen ist das theoretisch präsupponierte Wechselspiel von Bedeutungswandel und vorläufiger Stabilisierung antisemitischer Differenzierungen, das durch die Taxonomie durchdrungen werden kann. Einerseits kann dadurch demonstriert werden, wie antisemitische Kategorien der Wahrnehmung und Bewertung infolge der Interaktionsdynamik symbolischer Klassifikationskämpfe einem destabilisierenden Prozess der fortlaufenden Veränderung un-

11 Zusammenfassende Schlussbetrachtung

terworfen werden. Andererseits lassen sich spezifische Klassifikationen antisemitischer Grenzen als hegemonial begreifen, d.h. als Bedeutungen, die sich vorläufig in einem räumlich und zeitlich eingrenzbaren Kontext stabilisieren (Strategien der Grenzziehung) und schließlich auch wieder infrage gestellt werden (Strategien der Grenzverwischung) können. Mit anderen Worten ist die soziale Geltung antisemitischer Klassifikationen also gleichermaßen einer sozialen und historischen Relativität unterworfen, die sich aber in einem gegebenen kulturellen Kontext als Kategorien der sozialen Ungleichheit von Jüd*innen temporär stabilisieren können. Die genealogische Analyse öffentlicher Diskurse in Kapitel 8 bis 10 konnte nun diesen besonderen Mehrwert des taxonomischen Konzeptes in fünffacher Hinsicht plausibilisieren, der darin begründet liegt, die konfliktuellen Interaktionsdynamiken von Genese und Wandel antisemitischer Grenzziehungen reflektieren zu können. So ließen sich mithilfe des taxonomischen Konzeptes erstens Prozesskategorien antisemitischer Grenzziehungen rekonstruieren, die (Dis-)Kontinuitäten und Bedeutungswandel der ungleichheitsrelevanten Unterscheidung von Nicht-Jüd*innen gegenüber Jüd*innen enthalten. Die Beurteilung von (Dis-)Kontinuität und Wandel soziokultureller Grenzziehungsmechanismen im Zeitverlauf erfolgte dabei unter der Prämisse einer vorsichtigen Generalisierbarkeit der Ergebnisse des diskursanalytischen Vorgehens. Das einschränkende Adjektiv »vorsichtig« wird hier in dem Bewusstsein darüber verwendet, dass eine Verallgemeinerung von Analyseresultaten auf der Grundlage von lediglich drei Diskursereignissen erfolgt. Mit der gebotenen Vorsicht erlaubt es die empirische Rekonstruktion spezifischer Praxistypen der Grenzziehung dennoch zweitens, generalisierbare Aussagen über das Wechselspiel der kontinuierlichen Wandelbarkeit aber auch der wandelbaren Kontinuität eines gruppenlogischen, antisemitischen Wissens über Jüd*innen zu treffen.1 Die Tabelle 13 zeigt nun, wie sich die soziokulturellen Konstruktionsweisen antisemitischer Grenzen und die Strategien der Grenzverwischung im zeitlich-historischen Verlauf verändern, und verdeutlicht damit die Kontingenz der Bedeutung von Grenzen der In- und Exklusion: Die Ergebnisse der Diskursanalyse im Zeitverlauf der hier untersuchten Diskursereignisse (Kapitel 8, 9, 10) reflektieren exemplarisch, wie sich die Grenzen gesellschaftlicher Zugehörigkeitsordnung infolge von Klassifikationskämpfen um die Bedeutungsfixierung des »Nationalen« verändern – und damit auch die kategorialen Zuschreibungen von Jüd*innen. Insbesondere ließ sich empirisch plausibel rekonstruieren, dass der Formwandel nationaler Zugehörigkeitskategorien eine Veränderung des nationalen Selbstverständnisses der deutschen Mehrheitsgesellschaft hervorgebracht hat, das Ausdruck einer neuen, Kontinuität stiftenden nationalen Leiterzählung ist. Ein besonderer Mehrwert des analytischen Werkzeugkastens der Taxonomie liegt also darin begründet,

1

An dieser Stelle soll es nicht darum gehen, alle im Diskurs rekonstruierten Kontinuitäten und Veränderungen von Klassifikationspraktiken der In- und Exklusion darzustellen. Vielmehr zielt die systematisierende Zusammenfassung darauf, in pointierter Form, wesentliche inhaltliche Merkmale des genealogischen Wandels von Grenzziehungen in dem hier analysierten Zeitverlauf herauszuarbeiten.

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Walser-Bubis-Debatte (Kapitel 8)

Nationale Schicksals- und Erinnerungsgemeinschaft wird primär schuldabwehrend durch kollektive Erinnerung an Holocaustschuld als mythologische Leiterzählung und Kontinuitätsfiktion einer ethnisch-genealogisch definierten Kerngruppe hergestellt.   Zusammenspiel ethnisierender und rassialisierender Klassifikationsmuster konstruieren eine jüdische Erinnerungsdifferenz und biologisieren ein unnachgiebiges jüdisches Leidensgedächtnis.

Infragestellung der ethno-nationalen Selbstlegitimation wird durch Grenzverwischungsstrategien angezeigt, die universellere Zugehörigkeiten durch inklusive, zivil-republikanische Gemeinschaftswerte artikulieren.

Diskursereignisse

Kontinuitäten und Diskontinuitäten von Strategien der Grenzziehung

Kontinuitäten und Diskontinuitäten von Strategien der Grenzverwischung

Kontinuität der Grenzverwischungsstrategien zeigt sich durch inklusive Tendenzen, die machtasymmetrische Positionierungen von Jüd*innen sichtbar machen und Zugehörigkeiten auf der Grundlage rechtebasierter, liberaler Nationenkonzepte vermitteln.

Bedeutungswandel des nationalen Selbstverständnisses wird durch Selbstlegitimation republikanisch-ziviler Gemeinschaftswerte (»Liberalität«, »Säkularität«) signifiziert.   Formwandel der Grenzziehungsstrategie verändert antisemitische Klassifizierungen: Jüdisch-kulturelle Lebensweisen werden als ethnisch »fremd« abgewertet und als Gegenstand eines nationalen Zugehörigkeits- und Loyalitätskonfliktes markiert.

Beschneidungsdebatte (Kapitel 9)

Grenzverwischungsstrategien reflektieren Ambivalenz jüdischer Ein- und Ausschließung durch Anerkennung multipler Zugehörigkeiten (Anti-Antisemitismus).

Formwandel kollektiver Erinnerung: Historische Schuld des Holocaust als Quelle der Selbstlegitimation einer nationalen Schicksalsgemeinschaft durch negatives Gedenken; Anti-Antisemitismus als gesellschaftliche Leitvorstellung.   Bedeutungswandel nationaler Selbstverständigung generiert veränderte antisemitische Differenzierung durch ethnisierte Besonderung jüdischer Geschichtserfahrung und Marginalisierung/Historisierung jüdischer Diskriminierungswahrnehmungen.

Gaza-Proteste (Kapitel 10)

Tabelle 13: Kontinuitäten und Diskontinuitäten von Strategien der Grenzziehung und Grenzverwischung im zeitlich-historischen Verlauf, Quelle: Eigene Darstellung.

322 Wandelbarkeiten des Antisemitismus

11 Zusammenfassende Schlussbetrachtung

zeigen zu können, wie sich die Bedeutungsfixierungen nationaler Identitätskonstruktionen und ihre hegemonialen Narrative in umkämpften gesellschaftlichen Konfliktfeldern verändert haben und (vorläufig) stillgestellt werden konnten. Es ließ sich außerdem zeigen, wie sich Strategien der Grenzverwischung (Abb. 9, Kapitel 8) im hier untersuchten Zeitverlauf zu Klassifikationsstrategien der Grenzziehungen transformierten (Beschneidung) und als Klassifikationsmodus der Ausgrenzung von Jüd*innen stabilisierten (Kapitel 10). Diese Formen der Gruppenbildung haben sich jedoch nicht als ausschließlich »nationale« Kategorisierungen dargestellt, sondern es konnte mithilfe des analytischen Rüstzeuges der Taxonomie die situative Wirksamkeit unterschiedlicher Identitätskategorien (»Ethnizität«, »Rasse«, »Nation«) differenziert werden. Dieses Verständnis der soziokulturellen Anpassungsfähigkeit antisemitischer Klassifizierungen wurde gleichwohl drittens durch den relationalen Analysefokus auf Prozesse der Selbst- und Fremdkategorisierung ermöglicht. Dementsprechend wird davon ausgegangen, dass mit Zugehörigkeitskonstruktionen der sozialen Kerngruppe kategorial abwertende Klassifikationen der jüdischen »Fremdgruppe« korrespondieren, die sie als bedrohlich »anders« markieren. Wesentlich für ein Verständnis der Wandelbarkeit dieser Zuschreibungen des jüdischen »Anderen« war die empirische Offenheit der intersektionalen Forschungsheuristik, wie sie durch die theoretische Grundlegung der Taxonomie betont wird. Durch diese Sensibilität gegenüber den kontingenten historischen und räumlichen Kontexten, in denen Akteur*innen die Bedeutung negativer Klassifikationen von Jüd*innen aushandeln, konnten Aktualisierungen, Transformationen und vorläufige Stabilisierungen kontextspezifischer Differenzkonstruktionen von Jüd*innen rekapituliert werden. Darauf aufbauend ließen sich viertens die komplexen Wechselbeziehungen unterschiedlicher Klassifikationssysteme in der Verwendungspraxis sozialer Akteur*innen präzise herausarbeiten. Durch den hier verfolgten Analyseansatz einer antisemitischen Grenzziehungstheorie konnte also plausibel und konsistent erklärt werden, auf welche Art und Weise Kreuzungen rassialisierter, ethnisierter und nationalisierter Exklusionen im Feld einer mehrdimensionalen Konstruktion antisemitischer Ausschlüsse als Resultate soziokultureller Praktiken der Grenzziehung hervorgebracht wurden. Im Verlauf der empirischen Untersuchung wurde daher eine heterogene Vielfalt antisemitischer Klassifikationsrepertoires rekonstruiert, die sich entlang der Intersektionen rassialisierter – etwa durch die Biologisierung und Phänotypisierung negativer Wesensqualitäten von Jüd*innen – ethnisierter – etwa durch die Fremdheitskonstruktion kultureller, religiöser und historischer Lebensweisen und Erfahrungen von Jüd*innen – oder nationalisierter – etwa durch die Bezugnahme auf politisch-gemeinschaftliche Vorstellungen gemeinsamer Abstammung, Kultur, Traditionen und Geschichte – Klassifikationsmuster ausgebildet haben. Gerade weil das Konzept einer Taxonomie also die prozessuale Logik der Herstellung antisemitischer Grenzziehungen und ihrer multiplen Wechselwirkungen als analytischen Ausgangspunkt für die Untersuchung antisemitischer Diskurse setzt, prätendiert es eben nicht essentialistisch die Existenz einer homogen abgrenzbaren Gruppe der »Juden«. Vielmehr zwingt es die Forschung zu einem analytischen Perspektivwechsel, der die kulturellen Signifikationsprozesse in den Blick nimmt, in deren Folge vielschichtige, lokal-historisch spezifische und damit veränderbare Formen der Abwertung

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324

Wandelbarkeiten des Antisemitismus

und Ausgrenzung von Jüd*innen sichtbar gemacht wurden. Im Anschluss an die Analysehaltung, die die Taxonomie antisemitischer Grenzziehungsprozesse voraussetzt, sollte schließlich fünftens die Frage nach dem Wie der soziokulturellen Herstellungsweisen von Jüd*innen als unterscheidbarem Kollektiv in den Mittelpunkt jeder Analyse antisemitischer Diskurse gerückt werden, womit eine De-Essentialisierung des Forschungsfeldes gewährleistet werden kann. Zusammengefasst konnte die abschließende Systematisierung der Ergebnisse der wissenssoziologischen Untersuchung auf einen besonderen Mehrwert der Taxonomie antisemitischer Grenzziehungsprozesse aufmerksam machen, der in einer speziellen Verzahnung von Theorie und Empirie innerhalb der Taxonomie begründet liegt. In der empirischen Auswertung wurde diese Verschränkung durch die Rekonstruktion der Wandelbarkeiten antisemitischer Unterscheidungslinien demonstriert, insofern die diskursive Analyse des Bedeutungswandels der theoretisch konstruierten Ebene von Analysekategorien antisemitischer Grenzziehungen neue Facetten antisemitischer Prozesskategorien hinzugefügt hat. Damit zeigt das Konzept der Taxonomie nicht zuletzt, wie sich die Fluidität antisemitischer Klassifikationen und ihrer kontextabhängigen Wirkungsweise als flexible Wahrnehmungsressource jüdischer Differenz in angemessener Form reflektieren lässt. In einem letzten Schritt möchte ich nun den Mehrwert meiner Arbeit für die weitere Forschung über Antisemitismus im Besonderen diskutieren und dabei insbesondere unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten herausstellen, warum ich davon ausgehe, dass der spezifische Vorteil des taxonomischen Konzeptes in seiner metatheoretischen Konstruktion eines analytischen Werkzeugkastens begründet liegt, der aufgrund seiner reflexiven Struktur der Komplexität des Forschungsgegenstandes gerecht werden kann.

11.2

Ein Plädoyer für Kontingenz – Warum ein reflexiv-ethischer Werkzeugkasten zur Analyse antisemitischer Grenzziehung der Komplexität des Phänomens gerecht werden kann

Die der Entwicklung des deduktiv konzeptualisierten taxonomischen Analysemodells antisemitischer Grenzziehungen zugrunde liegende Theoriesynthese grenzt sich ihrem Anspruch nach explizit von dem zwangsläufig scheiternden Versuch der Herstellung von einer Theorieeinheit mit universalem Geltungsanspruch (grand theory) ab (Reckwitz 2005; auch Kneer und Schroer 2009). Denn die »Formulierung von soziologischen Synthesevokabularen produziert keine theoretische Einheit, sondern wirkt genau umgekehrt als Differenzgenerator« (Reckwitz 2005: 67).2 Stattdessen begreife ich die de2

So sind auch die in der vorliegenden Arbeit getroffenen Annahmen, verwendeten Perspektiven und paradigmatischen Zusammenführungen Gegenstand einer »agonalen Dynamik der Theorieentwicklung« (Reckwitz 2005: 66), d.h. Teil eines konfliktuellen Ringens um legitime Deutungen und Vokabulare der Herstellung von wissenschaftlichem Konsens und (theoretischer) Schließung, aber auch um das Zusammenspiel und die Konvergenz »neuer« und »alter« Ansätze in diesen wissenschaftlichen Aushandlungen. In dem Bewusstsein über die Mehrdeutigkeit des wissenschaftlichen Diskurses formulieren die von mir ausgearbeiteten Merkmale einer prozessorientierten

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

und Ausgrenzung von Jüd*innen sichtbar gemacht wurden. Im Anschluss an die Analysehaltung, die die Taxonomie antisemitischer Grenzziehungsprozesse voraussetzt, sollte schließlich fünftens die Frage nach dem Wie der soziokulturellen Herstellungsweisen von Jüd*innen als unterscheidbarem Kollektiv in den Mittelpunkt jeder Analyse antisemitischer Diskurse gerückt werden, womit eine De-Essentialisierung des Forschungsfeldes gewährleistet werden kann. Zusammengefasst konnte die abschließende Systematisierung der Ergebnisse der wissenssoziologischen Untersuchung auf einen besonderen Mehrwert der Taxonomie antisemitischer Grenzziehungsprozesse aufmerksam machen, der in einer speziellen Verzahnung von Theorie und Empirie innerhalb der Taxonomie begründet liegt. In der empirischen Auswertung wurde diese Verschränkung durch die Rekonstruktion der Wandelbarkeiten antisemitischer Unterscheidungslinien demonstriert, insofern die diskursive Analyse des Bedeutungswandels der theoretisch konstruierten Ebene von Analysekategorien antisemitischer Grenzziehungen neue Facetten antisemitischer Prozesskategorien hinzugefügt hat. Damit zeigt das Konzept der Taxonomie nicht zuletzt, wie sich die Fluidität antisemitischer Klassifikationen und ihrer kontextabhängigen Wirkungsweise als flexible Wahrnehmungsressource jüdischer Differenz in angemessener Form reflektieren lässt. In einem letzten Schritt möchte ich nun den Mehrwert meiner Arbeit für die weitere Forschung über Antisemitismus im Besonderen diskutieren und dabei insbesondere unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten herausstellen, warum ich davon ausgehe, dass der spezifische Vorteil des taxonomischen Konzeptes in seiner metatheoretischen Konstruktion eines analytischen Werkzeugkastens begründet liegt, der aufgrund seiner reflexiven Struktur der Komplexität des Forschungsgegenstandes gerecht werden kann.

11.2

Ein Plädoyer für Kontingenz – Warum ein reflexiv-ethischer Werkzeugkasten zur Analyse antisemitischer Grenzziehung der Komplexität des Phänomens gerecht werden kann

Die der Entwicklung des deduktiv konzeptualisierten taxonomischen Analysemodells antisemitischer Grenzziehungen zugrunde liegende Theoriesynthese grenzt sich ihrem Anspruch nach explizit von dem zwangsläufig scheiternden Versuch der Herstellung von einer Theorieeinheit mit universalem Geltungsanspruch (grand theory) ab (Reckwitz 2005; auch Kneer und Schroer 2009). Denn die »Formulierung von soziologischen Synthesevokabularen produziert keine theoretische Einheit, sondern wirkt genau umgekehrt als Differenzgenerator« (Reckwitz 2005: 67).2 Stattdessen begreife ich die de2

So sind auch die in der vorliegenden Arbeit getroffenen Annahmen, verwendeten Perspektiven und paradigmatischen Zusammenführungen Gegenstand einer »agonalen Dynamik der Theorieentwicklung« (Reckwitz 2005: 66), d.h. Teil eines konfliktuellen Ringens um legitime Deutungen und Vokabulare der Herstellung von wissenschaftlichem Konsens und (theoretischer) Schließung, aber auch um das Zusammenspiel und die Konvergenz »neuer« und »alter« Ansätze in diesen wissenschaftlichen Aushandlungen. In dem Bewusstsein über die Mehrdeutigkeit des wissenschaftlichen Diskurses formulieren die von mir ausgearbeiteten Merkmale einer prozessorientierten

11 Zusammenfassende Schlussbetrachtung

duktive Entwicklung eines theoretischen Analysevokabulars soziokultureller Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen als eine Art soziologischen Werkzeugkasten (Schimank 2000; Münch 2002), der die Komplexität des Phänomens und damit einhergehende Forschungsprobleme theoretisch modellieren und für weitere Forschung anschlussfähig machen kann. Warum ist das aber so? Mit der Beantwortung dieser Frage ist auf einer wissenssoziologischen Ebene eine Positionierung verbunden, die den Theorieentwurf als gleichermaßen reflexives wie ethisches Unterfangen begreift (Reckwitz 2001), was ich im Folgenden gerne näher erläutern möchte. Kultursoziologisch betrachtet handelt es sich bei dem taxonomischen Modell und seinen theoretischen Elementen, von einer Beobachterposition (Reckwitz 2005: 66f.) aus sprechend, um einen kontingenzbehafteten Rahmen von Analysekategorien. Dabei sind die Theorieinstrumentarien und -vokabulare der Taxonomie einer meta-theoretischen Ebene, entsprechend der symbol- und bedeutungsorientierten Grundlegung des Theoriemodells, als lokal-historisch spezifisch kontextualisierbare symbolische Codes zu verstehen. Diese Form der Kontextualisierung soziologischen Wissens lässt sich als selbst-reflexive Bezugnahme auf das kulturspezifische Gewordensein einer eigenen, begrifflichen, paradigmatischen und theoretischen Voraussetzung begreifen, die sich ihrer Verortung im Spannungsfeld von Kontingenz und Ambivalenz bewusst ist (Reckwitz 2012: 22ff.). Diese Einsicht in den kontingenten Charakter von Theorieentwicklung sowie ihrer paradigmatischen Konzeptionen, Erklärungen und Begriffe lässt sich insbesondere am Forschungsgegenstand »Antisemitismen« veranschaulichen. Denn gerade Artikulationsformen von Antisemitismen haben sich einerseits als extrem langlebige Stereotype erwiesen, die sich als temporär legitim erscheinende Deutungsangebote der sozialen Wirklichkeit darstellen, sich aber andererseits fortwährend an verändernde soziohistorische Kontextbedingungen – transformierende, historische, soziale, politische, kulturelle oder ökonomische Verhältnisse – anpassen können. Der Bedeutungsträger »Jude« repräsentiert in antisemitischen Denk- und Wahrnehmungsweisen, entsprechend seiner Funktionsweise eines gleichermaßen chronisch unterbestimmten wie überdeterminierten leeren Signifikanten, ein wandelbares Element der kategorialen Abwertung. Eine Theorie, die nun versucht, einen facheinheitlichen, d.h. umfassend geltenden, Wahrheitsanspruch zu formulieren, um das als »Antisemitismus« definierte Phänomen beschreiben zu können, muss aufgrund der kontingenten Begrenztheit ihrer wissenschaftlichen Aussagen, Perspektiven und Urteile zwangsläufig scheitern. Anders

Theorie antisemitischer Grenzziehungen ex negativo keinen Universalitätsanspruch. Stattdessen handelt es sich um einen Differenzgenerator im Reckwitz’schen Sinne, der die Produktion alternativer Zugänge, Modelle und Ansätze auslösen kann. Allerdings muss ergänzt werden, dass die hier beschriebene Konfliktlogik nicht als ausschließliches Konkurrenzunternehmen angelegt ist, sondern sich Theorieentwicklung auch sehr wohl als arbeitsteiliges Vorgehen vollzieht. So werden etwa unterschiedliche theoretische Ansätze kombiniert, wodurch sich die weitere Forschung produktiv befruchten lässt, oder indem die Anwendung theoretischer Perspektiven zu Modifizierungen, Präzisierungen, Anpassungen, mithin also zu Verbesserungen führen kann (Kneer und Schroer 2009: 11f.).

325

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

formuliert kann das, was in einem Kontext als gültige, wissenschaftlich fundierte Bewertung judenfeindlicher Klassifikations- und Grenzziehungspraxis bedeutsam wird, in einem anderen Zusammenhang von der emergenten Dynamik sozialen Wandels und sozialer Prozesse überholt oder inadäquat sein, d.h. als spezifische Repräsentation der sozialen Welt und sich transformierenden Problemlagen nicht länger haltbar erscheinen. Vor diesem Hintergrund beruhte der multi-paradigmatische Zugriff auf den sozialen Gegenstandsbereich »Antisemitismen« auf der Einsicht, dass die Analyse seiner vielschichtigen und multiplen Struktur eine mehrdimensionale Theorielogik erforderlich macht. Von diesen wissenschaftstheoretischen Überlegungen über die Reflexivität der theoretischen Elemente einer prozessorientierten Taxonomie ausgehend bleibt auch die ethische Haltung sozialwissenschaftlicher Forschung nicht unberücksichtigt, insofern Moral und Ethik letztlich auch – und hier gleichen sie wissenschaftlichen Begriffssystemen – als kulturelle Codes in historisch kontingenten Repräsentationssystemen zu verstehen sind (Reckwitz 2001: 208). Eine reflexive Soziologie betrachtet nun menschliches Zusammenleben und seine zugrundeliegenden kulturellen Sinnsysteme unter der kulturspezifischen Prämisse einer relationalen Ethik des »guten Lebens«, die das »Gute« oder »Erstrebenswerte« als leitende Wertidee eines soziologisch begründeten und ethisch motivierten Interesses an gelingender Identitätsbildung und an einer subjektiv als »wertvoll« empfundenen Lebensführung (ebd.: 214-219) statuiert. Damit einhergehen muss ein sensibilisierendes Verständnis der Soziologie für moralische Konflikte und Problemkonstruktionen, die kontextspezifische Identitätsprobleme und Irritationen der »guten Lebensführung« in modernen Gegenwartsgesellschaften hervorbringen (ebd.: 219). Eine antisemitismuskritische Forschung, die sich der hier entwickelten, kultursoziologisch begründeten Wertidee der »guten Lebensführung« verpflichtet fühlt, versteht sich als a priori ethisch, weil sie sich gegenüber Identitätskonflikten und Lebensführungsproblematiken von Jüd*innen emphatisch zeigt. Auf eine Formel gebracht lässt sich das normativ-ethische Moment der antisemitismuskritischen Soziologie in einem Aphorismus Adornos wiederfinden, der darin fordert, »den besseren Zustand aber denken als den, in dem man ohne Angst verschieden sein kann« (Adorno 2003c: 116). Um vor diesem reflexiv-ethischen Hintergrund des Forschungsvorhabens der Komplexität der vielfältigen Erscheinungsformen, Ursachen und Bedingungen antisemitischer Mechanismen der Grenzziehung analytisch gerecht zu werden, hatte ich mich daher für ein komplementäres Vorgehen entschieden. Durch den systematischen Vergleich dominanter paradigmatischer Zugänge der Ethnizitäts-, Rassismus-, Nationalismus- und Antisemitismusforschung (Kapitel 3-5) wurden, ausgehend von dem Grenzziehungsparadigma und dem aus der Gender-Forschung stammenden Intersektionalitätsansatz, einzelne Zugänge dieser Forschungsfelder im Sinne eines soziologischen Werkzeugkastens zusammengesetzt und neu kombiniert. Gleichzeitig gehe ich davon aus, dass die deduktiv konzeptualisierte Taxonomie soziokultureller Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen ihrerseits als eine Art Werkzeugkasten dienen kann. So stellt der Werkzeugkasten des taxonomischen Modells je nach Forschungsfrage und Forschungskontext geeignete Analyseinstrumente zur Verfügung, die problemadäquat für die soziologische Untersuchung der hetero-

11 Zusammenfassende Schlussbetrachtung

genen Erscheinungsvielfalt antisemitischer Stereotypisierungen eingesetzt werden können, ohne dass damit jedoch ein paradigmatischer Monopolanspruch eingefordert werden soll. Vielmehr können diese Untersuchungswerkzeuge mit anderen Paradigmen, Theorien und Forschungsfeldern kombiniert und ergänzt werden, um daran anschließende Forschungsfragen zu elaborieren oder andere Aspekte des Gegenstandsbereichs zu beleuchten. Ich möchte daher abschließend auf drei zentrale Defizite oder Lücken hinweisen, die im Sinne der hier eingenommenen »Komplementaritätsperspektive« (Kneer und Schroers 2009: 11) auf die diskutierten Forschungsfelder geschlossen werden können.

11.3

Wie profitiert die Antisemitismusforschung von dem analytischen Werkzeugkasten?

Die vorliegende Studie hat vor dem Hintergrund eines Methoden- und Theoriedefizits in der sozialwissenschaftlichen Antisemitismusforschung (Bergmann 2004b: 222; Holz 2001: 21) auf den Mangel soziologischer Theorieentwicklung und theoretischer Analysevokabulare durch die Ausarbeitung einer prozessorientierten Theorie der Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen reagiert. Durch die Ausrichtung an dem cultural turn, dem symbol- und bedeutungszentrierten Leitfaden der Sozial- und Kulturwissenschaften, wird eine Perspektive eröffnet, die sich auf eine soziokulturelle Herstellungsdynamik multidimensionaler antisemitischer Differenzen fokussiert und Antisemitismen damit als wandelbares Resultat von Klassifikationsund Grenzziehungskämpfen sozialer Akteur*innen analysierbar machen soll. Die Kombination kultursoziologischer, sozialkonstruktivistischer und intersektionaler Forschungsansätze liefert damit gleichermaßen Beschreibungsformen, die antisemitische Klassifikationsprozesse im ungleichheitsrelevanten Kontext von Macht/Wissen reflektieren. Das Konzept soziokultureller Grenzziehungen verspricht hierbei einen besonderen Mehrwert, insofern antisemitische Ressentiments und Stereotype nicht als Produkt individuell-motivationaler Einstellungen, sondern als sozial folgenreiche Klassifikationsrepertoires betrachtet werden, die für Jüd*innen ungleiche Lebensbedingungen, Lebenschancen und Zugänge zu gesellschaftlichen Ressourcen hervorbringen. Diese gesellschaftsstrukturelle Ebene der Theoriearchitektur eröffnet damit reflexive Anschlusspotenziale des Werkzeugkastens, die das Phänomen »Antisemitismen« explizit in den multiparadigmatischen Gegenstandsbereich der soziologischen Ungleichheitsforschung aufnehmen. Zuletzt verspricht der multivariable Werkzeugkasten des taxonomischen Modells auch die zunehmend geforderte Einbeziehung intersektionaler Perspektiven, das als »Antisemitismus« definierte Phänomen angemessen zu berücksichtigen. Damit ermöglicht es die intersektional ausgerichtete Grenzziehungsperspektive der Analyseheuristik, für die graduelle Vielfalt antisemitischer Formen der soziokulturellen Ausschließung in der sozialen Klassifikationspraxis von Akteur*innen zu sensibilisieren. Auf diese Weise liefert die deduktive Konzeptualisierung ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Typen der antisemitischen Grenzziehung ein antisemitismuskritisches Analysepotenzial, das explizit jüdische Be-

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genen Erscheinungsvielfalt antisemitischer Stereotypisierungen eingesetzt werden können, ohne dass damit jedoch ein paradigmatischer Monopolanspruch eingefordert werden soll. Vielmehr können diese Untersuchungswerkzeuge mit anderen Paradigmen, Theorien und Forschungsfeldern kombiniert und ergänzt werden, um daran anschließende Forschungsfragen zu elaborieren oder andere Aspekte des Gegenstandsbereichs zu beleuchten. Ich möchte daher abschließend auf drei zentrale Defizite oder Lücken hinweisen, die im Sinne der hier eingenommenen »Komplementaritätsperspektive« (Kneer und Schroers 2009: 11) auf die diskutierten Forschungsfelder geschlossen werden können.

11.3

Wie profitiert die Antisemitismusforschung von dem analytischen Werkzeugkasten?

Die vorliegende Studie hat vor dem Hintergrund eines Methoden- und Theoriedefizits in der sozialwissenschaftlichen Antisemitismusforschung (Bergmann 2004b: 222; Holz 2001: 21) auf den Mangel soziologischer Theorieentwicklung und theoretischer Analysevokabulare durch die Ausarbeitung einer prozessorientierten Theorie der Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen reagiert. Durch die Ausrichtung an dem cultural turn, dem symbol- und bedeutungszentrierten Leitfaden der Sozial- und Kulturwissenschaften, wird eine Perspektive eröffnet, die sich auf eine soziokulturelle Herstellungsdynamik multidimensionaler antisemitischer Differenzen fokussiert und Antisemitismen damit als wandelbares Resultat von Klassifikationsund Grenzziehungskämpfen sozialer Akteur*innen analysierbar machen soll. Die Kombination kultursoziologischer, sozialkonstruktivistischer und intersektionaler Forschungsansätze liefert damit gleichermaßen Beschreibungsformen, die antisemitische Klassifikationsprozesse im ungleichheitsrelevanten Kontext von Macht/Wissen reflektieren. Das Konzept soziokultureller Grenzziehungen verspricht hierbei einen besonderen Mehrwert, insofern antisemitische Ressentiments und Stereotype nicht als Produkt individuell-motivationaler Einstellungen, sondern als sozial folgenreiche Klassifikationsrepertoires betrachtet werden, die für Jüd*innen ungleiche Lebensbedingungen, Lebenschancen und Zugänge zu gesellschaftlichen Ressourcen hervorbringen. Diese gesellschaftsstrukturelle Ebene der Theoriearchitektur eröffnet damit reflexive Anschlusspotenziale des Werkzeugkastens, die das Phänomen »Antisemitismen« explizit in den multiparadigmatischen Gegenstandsbereich der soziologischen Ungleichheitsforschung aufnehmen. Zuletzt verspricht der multivariable Werkzeugkasten des taxonomischen Modells auch die zunehmend geforderte Einbeziehung intersektionaler Perspektiven, das als »Antisemitismus« definierte Phänomen angemessen zu berücksichtigen. Damit ermöglicht es die intersektional ausgerichtete Grenzziehungsperspektive der Analyseheuristik, für die graduelle Vielfalt antisemitischer Formen der soziokulturellen Ausschließung in der sozialen Klassifikationspraxis von Akteur*innen zu sensibilisieren. Auf diese Weise liefert die deduktive Konzeptualisierung ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Typen der antisemitischen Grenzziehung ein antisemitismuskritisches Analysepotenzial, das explizit jüdische Be-

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Wandelbarkeiten des Antisemitismus

troffenenperspektiven, Erfahrungsdimensionen von antisemitischer Diskriminierung und Wahrnehmungen von Marginalisierung stärken kann.

11.4

Wie profitieren die Forschungsfelder der Ethnizitäts-, Rassismus-, Nationalismus- und Antisemitismusforschung von dem analytischen Werkzeugkasten?

Der hier entwickelte soziologische Werkzeugkasten einer Taxonomie der Konstruktionsformen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Grenzziehungen des Antisemitismus hat, ausgehend von der theoretischen Grundlegung des Grenzziehungsparadigmas und der Intersektionalitätsforschung, zentrale Leerstellen dieser Forschungsfelder schließen können. Eine dieser Leerstellen besteht in einer theoretischen wie methodologischen Spaltung der Forschungsbereiche »Ethnizität«, »Rasse« und »Nation« einerseits sowie Antisemitismus andererseits und wurde in unterschiedlich ausgeprägter Qualität erkennbar. Wie die paradigmatische Diskussion von Rassismus- (Kapitel 4), Ethnizitäts- (Kapitel 5) und Nationalismusforschung (Kapitel 6) deutlich gemacht hat, kann durch die systematische Synthetisierung dominanter Ansätze und Theoriemodelle der Forschungsfelder zu einem taxonomischen Werkzeugkasten der Analyse antisemitischer Grenzziehungsprozesse eine Re-Integration der Antisemitismusforschung in die Analytik dieser sozialwissenschaftlichen Themenbereiche vollzogen werden. Damit wird die heterogene Erscheinungsvielfalt, Multivariabilität und Fluidität symbolischer Codes des Antisemitismus unter Bezugnahme auf Fragestellungen der Untersuchung ethnischer, rassialisierter und nationalisierter Ungleichheiten sowie ihrer kategorialen Verflechtungen analysierbar, ohne die differentia specifica antisemitischer Weltwahrnehmung zu negieren.

11.5

Wie profitieren Zugänge und Modelle im Anschluss an das Grenzziehungsparadigma von dem analytischen Werkzeugkasten?

Zuletzt ließe sich durch die Synthetisierung eines analytischen Werkzeugkastens zur Untersuchung antisemitischer Grenzziehungsprozesse eine weitere Leerstelle schließen, die in der theoretischen und methodologischen Separiertheit der sozialen (Analyse-)Kategorien »Ethnizität«, »Rasse« und »Nation« besteht. So liefert die intersektional ausgerichtete Grenzziehungsperspektive auf die multivariable Konstruktionsdynamik von antisemitischen Typen der Grenzziehung ein konzeptualisiertes Verständnis von »Ethnizität«, »Rasse« und »Nation«, das gleichermaßen nahelegt, diese Dimensionen der sozialen Ungleichheit nicht als separate, wenngleich aber typologisch distinkte Untersuchungsfelder zu interpretieren, sondern als Kategorien der Praxis in ihrer mehrdimensionalen Verschränktheit zu erfassen. Damit löst die in der vorliegenden Arbeit entwickelte Taxonomie antisemitischer Grenzziehungsprozesse eine speziell von Andreas Wimmer (2013: 213) geforderte, und bislang noch unterrepräsentierte, theoretisch wie empirisch zu vollziehende Integration des Intersektionalitätsansatzes in den Analyserahmen des Grenzziehungsparadigmas

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troffenenperspektiven, Erfahrungsdimensionen von antisemitischer Diskriminierung und Wahrnehmungen von Marginalisierung stärken kann.

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Wie profitieren die Forschungsfelder der Ethnizitäts-, Rassismus-, Nationalismus- und Antisemitismusforschung von dem analytischen Werkzeugkasten?

Der hier entwickelte soziologische Werkzeugkasten einer Taxonomie der Konstruktionsformen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Grenzziehungen des Antisemitismus hat, ausgehend von der theoretischen Grundlegung des Grenzziehungsparadigmas und der Intersektionalitätsforschung, zentrale Leerstellen dieser Forschungsfelder schließen können. Eine dieser Leerstellen besteht in einer theoretischen wie methodologischen Spaltung der Forschungsbereiche »Ethnizität«, »Rasse« und »Nation« einerseits sowie Antisemitismus andererseits und wurde in unterschiedlich ausgeprägter Qualität erkennbar. Wie die paradigmatische Diskussion von Rassismus- (Kapitel 4), Ethnizitäts- (Kapitel 5) und Nationalismusforschung (Kapitel 6) deutlich gemacht hat, kann durch die systematische Synthetisierung dominanter Ansätze und Theoriemodelle der Forschungsfelder zu einem taxonomischen Werkzeugkasten der Analyse antisemitischer Grenzziehungsprozesse eine Re-Integration der Antisemitismusforschung in die Analytik dieser sozialwissenschaftlichen Themenbereiche vollzogen werden. Damit wird die heterogene Erscheinungsvielfalt, Multivariabilität und Fluidität symbolischer Codes des Antisemitismus unter Bezugnahme auf Fragestellungen der Untersuchung ethnischer, rassialisierter und nationalisierter Ungleichheiten sowie ihrer kategorialen Verflechtungen analysierbar, ohne die differentia specifica antisemitischer Weltwahrnehmung zu negieren.

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Wie profitieren Zugänge und Modelle im Anschluss an das Grenzziehungsparadigma von dem analytischen Werkzeugkasten?

Zuletzt ließe sich durch die Synthetisierung eines analytischen Werkzeugkastens zur Untersuchung antisemitischer Grenzziehungsprozesse eine weitere Leerstelle schließen, die in der theoretischen und methodologischen Separiertheit der sozialen (Analyse-)Kategorien »Ethnizität«, »Rasse« und »Nation« besteht. So liefert die intersektional ausgerichtete Grenzziehungsperspektive auf die multivariable Konstruktionsdynamik von antisemitischen Typen der Grenzziehung ein konzeptualisiertes Verständnis von »Ethnizität«, »Rasse« und »Nation«, das gleichermaßen nahelegt, diese Dimensionen der sozialen Ungleichheit nicht als separate, wenngleich aber typologisch distinkte Untersuchungsfelder zu interpretieren, sondern als Kategorien der Praxis in ihrer mehrdimensionalen Verschränktheit zu erfassen. Damit löst die in der vorliegenden Arbeit entwickelte Taxonomie antisemitischer Grenzziehungsprozesse eine speziell von Andreas Wimmer (2013: 213) geforderte, und bislang noch unterrepräsentierte, theoretisch wie empirisch zu vollziehende Integration des Intersektionalitätsansatzes in den Analyserahmen des Grenzziehungsparadigmas

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troffenenperspektiven, Erfahrungsdimensionen von antisemitischer Diskriminierung und Wahrnehmungen von Marginalisierung stärken kann.

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Wie profitieren die Forschungsfelder der Ethnizitäts-, Rassismus-, Nationalismus- und Antisemitismusforschung von dem analytischen Werkzeugkasten?

Der hier entwickelte soziologische Werkzeugkasten einer Taxonomie der Konstruktionsformen ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Grenzziehungen des Antisemitismus hat, ausgehend von der theoretischen Grundlegung des Grenzziehungsparadigmas und der Intersektionalitätsforschung, zentrale Leerstellen dieser Forschungsfelder schließen können. Eine dieser Leerstellen besteht in einer theoretischen wie methodologischen Spaltung der Forschungsbereiche »Ethnizität«, »Rasse« und »Nation« einerseits sowie Antisemitismus andererseits und wurde in unterschiedlich ausgeprägter Qualität erkennbar. Wie die paradigmatische Diskussion von Rassismus- (Kapitel 4), Ethnizitäts- (Kapitel 5) und Nationalismusforschung (Kapitel 6) deutlich gemacht hat, kann durch die systematische Synthetisierung dominanter Ansätze und Theoriemodelle der Forschungsfelder zu einem taxonomischen Werkzeugkasten der Analyse antisemitischer Grenzziehungsprozesse eine Re-Integration der Antisemitismusforschung in die Analytik dieser sozialwissenschaftlichen Themenbereiche vollzogen werden. Damit wird die heterogene Erscheinungsvielfalt, Multivariabilität und Fluidität symbolischer Codes des Antisemitismus unter Bezugnahme auf Fragestellungen der Untersuchung ethnischer, rassialisierter und nationalisierter Ungleichheiten sowie ihrer kategorialen Verflechtungen analysierbar, ohne die differentia specifica antisemitischer Weltwahrnehmung zu negieren.

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Wie profitieren Zugänge und Modelle im Anschluss an das Grenzziehungsparadigma von dem analytischen Werkzeugkasten?

Zuletzt ließe sich durch die Synthetisierung eines analytischen Werkzeugkastens zur Untersuchung antisemitischer Grenzziehungsprozesse eine weitere Leerstelle schließen, die in der theoretischen und methodologischen Separiertheit der sozialen (Analyse-)Kategorien »Ethnizität«, »Rasse« und »Nation« besteht. So liefert die intersektional ausgerichtete Grenzziehungsperspektive auf die multivariable Konstruktionsdynamik von antisemitischen Typen der Grenzziehung ein konzeptualisiertes Verständnis von »Ethnizität«, »Rasse« und »Nation«, das gleichermaßen nahelegt, diese Dimensionen der sozialen Ungleichheit nicht als separate, wenngleich aber typologisch distinkte Untersuchungsfelder zu interpretieren, sondern als Kategorien der Praxis in ihrer mehrdimensionalen Verschränktheit zu erfassen. Damit löst die in der vorliegenden Arbeit entwickelte Taxonomie antisemitischer Grenzziehungsprozesse eine speziell von Andreas Wimmer (2013: 213) geforderte, und bislang noch unterrepräsentierte, theoretisch wie empirisch zu vollziehende Integration des Intersektionalitätsansatzes in den Analyserahmen des Grenzziehungsparadigmas

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ein. So fragt Wimmer ausgehend von der methodologisch angelegten, empirischen Offenheit der Analyseheuristik: »Doesn’t this already imply that we should perhaps no longer define ethnicity, race, and nationalism as a separate field of inquiry?« (ebd.). Daran anschließend erweitert der analytische Werkzeugkasten des taxonomischen Modells ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Typen der antisemitischen Grenzziehung den Blick der Grenzziehungsperspektive dezidiert auf Prozesse des multiplen und wechselseitigen Zusammenspieles sozialer Ungleichheitsrelationen in den Grenzziehungs- und Klassifikationspraktiken sozialer Akteur*innen. Auf diese Weise gehe ich erstens davon aus, dass die Differenzkategorien »Rasse«, »Ethnizität« und »Nation« auf der bedeutungskonstituierenden Ebene sozialer Praxis nicht isoliert voneinander untersucht werden können. Dabei lehne ich zweitens die Idee ab, im Analyseprozess ein epistemologisches Primat einer spezifischen Achse der Ungleichheit zu hypostasieren, wie es beispielsweise im Fall der »Rasse«-Zentriertheit in den Race Studies noch zutreffend ist. Vielmehr plädiere ich dafür, das Beziehungsgefüge dieser Unterscheidungslinien ergebnisoffen als Prozess der wechselseitigen kategorialen Verschränktheit zu untersuchen. Dieser analytische Fokus auf die Interaktionsdynamiken symbolischer Klassifikationskämpfe ergänzt drittens die eher institutionalistische Perspektive auf Grenzziehungsprozesse in der Theoriearchitektur Andreas Wimmers. Daneben kann viertens auf ein spezifisches Anschlusspotenzial der intersektionalen Grenzziehungsperspektive für die weitere Erforschung antisemitisch vermittelter Dimensionen der Ungleichheit aufmerksam gemacht werden. So lassen sich aufgrund der methodologischen Offenheit des taxonomischen Modells noch weitere ungleichheitsrelevante Klassifikationen wie »Geschlecht«, »Raum« oder »Klasse« in den Werkzeugkasten aufnehmen. Diese könnten hinsichtlich der Erforschung des vielschichtigen Phänomens des »Antisemitismus« – etwa im Hinblick auf effeminierte Judenbilder oder mit Blick auf die gruppistische Wahrnehmung eines eingebildeten oder tatsächlich einflussreichen ökonomischen und sozialen Status von Jüd*innen – eine besondere Rolle spielen und daher zu einem differenzierten Verständnis seiner Komplexität beitragen. Dabei ist es die forschungsimmanente Sensibilität und Offenheit gegenüber der prinzipiell nicht-reduzierbaren Vielfalt von komplexen Mechanismen des Zusammenspiels heterogener Unterscheidungslinien, die den Werkzeugkasten als besonders geeignetes Instrumentarium zur Erforschung des Antisemitismus erscheinen lässt, gerade weil er einen dauerhaften Beitrag dazu leisten kann, die diffundierenden Qualitäten des Antisemitismus, d.h. seine spezifische Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit analytisch fassbar zu machen. Dieser analytische Schwerpunkt auf den Konstruktionslogik(en) antisemitischer Grenzziehungen fällt schließlich in eins mit einer normativ wie ethisch begründeten Forschungshaltung, die Theodor W. Adorno in seinem Vortrag« über die »Erziehung nach Auschwitz« (Adorno 2012) einmal folgendermaßen beschrieben hat: Man muß die Mechanismen erkennen, die die Menschen so machen, daß sie solcher Taten fähig werden, muß ihnen selbst diese Mechanismen aufzeigen und zu verhindern trachten, daß sie abermals so werden, indem man ein allgemeines Bewußtsein jener Mechanismen erweckt. (126)

329

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pertenrat Antisemitismus. Studienbericht Bielefeld: Universität Bielefeld, Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung. Ziege, Eva-Maria. 2004. »Vorwort.« In Das »bewegliche« Vorurteil. Aspekte des internationalen Antisemitismus, von Christina von Braun und Eva-Maria Ziege, 7-10. Würzburg: Königshausen und Neumann. Ziemann, Benjamin. 2005. «Linguistische Wende« und »kultureller Code« in der Geschichtsschreibung zum modernen Antisemitismus.« In Jahrbuch für Antisemitismusforschung 14, von Wolfgang Benz, 301-322. Berlin: Metropol Verlag. Zifonun, Dariuš. 2004. Gedenken und Identität. Der deutsche Erinnerungsdiskurs. Frankfurt a.M. (u.a.): Campus Verlag. Žižek, Slavoj. 2011. Living in the End Times. London (u.a.): Verso. Zolberg, Aristide R. und Long Litt Woon. 1999. »Why Islam is like Spanish: Cultural Incorporation in Europe and the United States.« Politics & Society 27, 5-38. Zukier, Henri. 1996. »The Essential »Other« and the Jew: From Antisemitism to Genocide. » Social Research 63, 1110-1154.

369

13 Anhang

13.1

Dokumentenverzeichnis: Analysierte Dokumente (Feinanalyse)

  Bernard, Andreas, Anna Prizkau, Antonia Baum, Julia Encke, Stefan Niggemeier, Tobias Rüther, Claudius Seidl und Antonia Baum. 27.07.2014. »Die bösen Worte.« Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29-30 (zitiert als: FAZ 2014c). Walser, Martin. 12.10.1998. »Die Banalität des Guten.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15 (zitiert als: FAZ 1998a). Magenau, Jörg. 14.10.1998. »Moralkeule, Pflichtübung etc.: Notizen zur Meinungsabwurfstelle.« die Tageszeitung, 14 (zitiert als: Taz 1998b). Brumlik, Micha. 15.10.1998. »Vom Alptraum nationalen Glücks.« die Tageszeitung, 12 (zitiert als: Taz 1998a). Raulff, Ulrich. 10.11.1998. »Das geteilte Gedächtnis.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 43 (zitiert als: FAZ 1998c). von Dohnanyi, Klaus. 14.11.1998. »Eine Friedensrede.« Frankfurt Allgemeine Zeitung, 33 (zitiert als: FAZ 1998b). Reinecke, Stefan. 28.11.1998. »Die Zukunft der Vergangenheit.« die Tageszeitung, 12 (zitiert als: Taz 1998c). Augstein, Rudolf. 30.11.1998. »›Wir sind alle verletzbar‹.« DER SPIEGEL, 32-33 (zitiert als: Spiegel 1998b). Broder, Henryk M. und Reinhard Mohr. 07.12.1998. »Ein befreiender Streit?« DER SPIEGEL, 230-232 (zitiert als: Spiegel 1998a). Klafke, Kathi-Gesa. 28.12.1998. »›Also doch Erbsünde?‹.« DER SPIEGEL, 148-149 (zitiert als Spiegel 1998c. Charim, Isolde. 28.06.2012. »Zurück zum Fleischhauer.« die Tageszeitung, 12 (zitiert als: Taz 2012b). Hefty, Georg Paul. 28.06.2012. »Strafbare Beschneidung.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1 (zitiert als: FAZ 2012c). Franz, Matthias. 09.07.2012. »Ritual, Trauma, Kindeswohl.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7 (zitiert als: FAZ 2012a).

372

Wandelbarkeiten des Antisemitismus

Röhl, Bettina. 20.07.2012. »Das Wohl des Kindes geht vor.« SPIEGEL ONLINE. Zugriff am 01.07.2017. https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/beschneidung-ein-plae doyer-fuer-das-grundgesetz-von-bettina-roehl-a-845502.html (zitiert als: Spiegel 2012b). Stehr, Maximilian. 23.07.2012. »Unzumutbare Schmerzen.« DER SPIEGEL, 124 (zitiert als Spiegel 2012c). Trepp, Gunda. 27.07.2012. »Unter die Haut.« SPIEGEL ONLINE. Zugriff am 01.07.2017. https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/beschneidungen-im-ju dentum-kinderschutz-und-doppelmoral-a-846306.html (zitiert als: Spiegel 2012a). Oestreich, Heide und Daniel Bax. 09.09.2012. »Traum oder Recht auf Identität.« taz.de. Zugriff am 01.06.2017. https://taz.de/Streitgespraech-zur-Beschneidung/ !5084600/(zitiert als: Taz 2012a). Rath, Christian und Matthias Lohre. 13.10.2012. »Ist das neue Beschneidungsgesetz gut?« die Tageszeitung 10, (zitiert als: Taz 2012c). Kiliç, Memet. 22.11.2012. »Freiheit ist wichtiger als Tradition.« FAZ.NET. Zugriff am 1.07.2017. https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/gastbeitrag-zur-beschneidun g-freiheit-ist-wichtiger-als-tradition-11967472.html (zitiert als: FAZ 2012b). von Altenbockum, Jasper. 22.07.2014.«Grenzen der Willkommenskultur.« FAZ.NET. 22.07.2014. Zugriff am 01.07.2018. https://www.faz.net/aktuell/politik/harte-brette r/antisemitismus-grenzen-der-willkommenskultur-13059368.html (zitiert als: FAZ 2014a). FAZ.NET und mit epd/KNA. 23.07.2014. «Wir wollen das nicht länger hinnehmen«.« FAZ.NET. Zugriff am 15.10.2018. https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/gauck -gegen-antisemitismus-wir-wollen-das-nicht-laenger-hinnehmen-13060455-p2.ht ml (zitiert als: FAZ 2014c). Hammelehe, Sebastian. 23.07.2014. »Ein deutsches Problem.« SPIEGEL ONLINE. Zugriff am 22.02.2017. https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/gaza-krieg-an tisemitismus-und-israel-kritik-in-deutschland-a-982245.html (zitiert als Spiegel 2014b). Augstein, Jakob. 28.07.2014. »Historisches Paradox.« DER SPIEGEL, 13 (zitiert als: Spiegel 2014c). Becker, Sven. 28.07.2014. »›Wir löschen das Feuer‹.« DER SPIEGEL, 24 (zitiert als: Spiegel 2014a). Bax, Daniel. 04.08.2014. »Besser ohne Israel-Fahnen.« die Tageszeitung, 12 (zitiert als: Taz 2014a). Reinecke, Stefan. 16.08.2014. »Feigheit vor dem Freund.« die Tageszeitung, 12 (zitiert als: Taz 2014c) Biermann, Sybille. 11.09.2014. »Vom Straßenlärm übertönt.« die Tageszeitung, 7 (zitiert als: Taz 2014c).

13 Anhang

13.2

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Taxonomisches Modell der Konstruktionsmechanismen antisemitischer Grenzziehungen, Quelle: Eigene Darstellung, S. 167 Tabelle 1: Analysekategorien rassialisierter Typen antisemitischer Grenzziehungen, Quelle: Eigene Darstellung, S. 81 Tabelle 2: Analysekategorien ethnisierter Typen antisemitischer Grenzziehungen, Quelle: Eigene Darstellung, S. 113 Tabelle 3: Analysekategorien nationalisierter Typen antisemitischer Grenzziehungen, Quelle: Eigene Darstellung, S. 146 Tabelle 4: Merkmale einer prozessorientierten Theorie antisemitischer Grenzziehungen, Quelle: Eigene Darstellung, S. 151 Tabelle 5: Taxonomie der Analysekategorien ethnisierter, rassialisierter und nationalisierter Typen antisemitischer Grenzziehungen, Quelle: Eigene Darstellung, S. 169 Tabelle 6: Beispiel Stereotyp der »jüdischen Wurzellosigkeit«, Quelle: Eigene Darstellung, S. 173 Tabelle 7: Taxonomie der Analyseebene antisemitischer Grenzziehungsstrategien in der Walser-Bubis-Debatte, Quelle: Eigene Darstellung, S. 233 Tabelle 8: Taxonomie der Analyseebene von Grenzverwischungsstrategien in der Walser-Bubis-Debatte, Quelle: Eigene Darstellung, S. 239 Tabelle 9: Taxonomie der Analyseebene antisemitischer Grenzziehungsstrategien in der Beschneidungsdebatte, Quelle: Eigene Darstellung, S. 271 Tabelle 10: Taxonomie der Analyseebene von Grenzverwischungsstrategien in der Beschneidungsdebatte, Quelle: Eigene Darstellung, S. 277 Tabelle 11: Taxonomie der Analyseebene antisemitischer Grenzziehungsstrategien in dem Diskurs über die Gaza-Proteste 2014, Quelle: Eigene Darstellung, S. 312 Tabelle 12: Taxonomie der Analyseebene von Grenzverwischungsstrategien in dem Diskurs über die Gaza-Proteste 2014, Quelle: Eigene Darstellung, S. 317 Tabelle 13: Kontinuitäten und Diskontinuitäten von Strategien der Grenzziehung und Grenzverwischung im zeitlich-historischen Verlauf, Quelle: Eigene Darstellung, S. 322

373

Soziologie Michael Volkmer, Karin Werner (Hg.)

Die Corona-Gesellschaft Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft 2020, 432 S., kart., 2 SW-Abbildungen 24,50 € (DE), 978-3-8376-5432-5 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5432-9 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5432-5

Kerstin Jürgens

Mit Soziologie in den Beruf Eine Handreichung September 2021, 160 S., kart. 18,00 € (DE), 978-3-8376-5934-4 E-Book: PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5934-8

Gabriele Winker

Solidarische Care-Ökonomie Revolutionäre Realpolitik für Care und Klima März 2021, 216 S., kart. 15,00 € (DE), 978-3-8376-5463-9 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5463-3

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Soziologie Wolfgang Bonß, Oliver Dimbath, Andrea Maurer, Helga Pelizäus, Michael Schmid

Gesellschaftstheorie Eine Einführung Januar 2021, 344 S., kart. 25,00 € (DE), 978-3-8376-4028-1 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4028-5

Bernd Kortmann, Günther G. Schulze (Hg.)

Jenseits von Corona Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der Wissenschaft 2020, 320 S., Klappbroschur, 1 SW-Abbildung 22,50 € (DE), 978-3-8376-5517-9 E-Book: PDF: 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5517-3 EPUB: 19,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5517-9

Detlef Pollack

Das unzufriedene Volk Protest und Ressentiment in Ostdeutschland von der friedlichen Revolution bis heute 2020, 232 S., Klappbroschur, 6 SW-Abbildungen 20,00 € (DE), 978-3-8376-5238-3 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5238-7 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5238-3

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